Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Walter
Riester, der am 27. September seinen 60. Geburtstag beging, im Namen des Hauses nachträglich recht herzlich.
({0})
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass die Kollegin
Helga Kühn-Mengel als stellvertretendes Mitglied aus
dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Klaus Brandner vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Brandner als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:
1 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zum Eingeständnis des
Bundesfinanzministers, dass er 2003 für den Bund mit
über 40 Milliarden Euro die höchsten Schulden in der Geschichte der Bundesrepublik aufnehmen wird
2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1})
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf Grundlage der Resolution 1386 ({2})
vom 20. Dezember 2001, 1413 ({3}) vom 23. Mai
2002, 1444 ({4}) vom 27. November 2002 und 1510
({5}) vom 13. Oktober 2003 des Sicherheitsrats der
Vereinten Nationen
- Drucksache 15/1700 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Sicherheit von technischen Arbeitsmitteln und Verbraucherprodukten
- Drucksache 15/1620 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
13. Januar 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sonderverwaltungsregion Hongkong der Volksrepublik
China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von
Schifffahrtsunternehmen auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 15/1644 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Weg für Investitionen und Innovationen durch den
Abbau bürokratischer Hemmnisse freimachen
- Drucksache 15/1707 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Redetext
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/1687 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto
({11}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Transparenz für den Hauptstadtkulturfonds
- Drucksache 15/1708 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({12})
Ausschuss für Tourismus
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Des Weiteren ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 7 b - es handelt sich um die Beratung des
Antrags der CDU/CSU-Fraktion „Klinische Prüfung in
Deutschland entbürokratisieren“ - heute als letzten
Punkt der Tagesordnung aufzurufen.
Die Tagesordnungspunkte 13 - Entschädigungsrechtsänderungsgesetz -, 17 - ERP-Wirtschaftsplangesetz 2004 - und 25 - Gesetz zur Förderung Schwerbehinderter - sollen abgesetzt werden.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierudng zur Modernisierung der Justiz ({13})
- Drucksache 15/1508 überwiesen:
Rechtsausschuss ({14})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Einsetzung einer gemeinsamen Kommission
von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung
- Drucksache 15/1685 Es liegt ein Änderungsantrag der fraktionslosen Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Reden der Präsidenten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates
zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat zunächst der Präsident des Deutschen
Bundestages, Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich über den Konsens zwischen Bundestag und Bundesrat und zwischen den Fraktionen dieses
Hauses, heute hier im Bundestag und morgen im Bundesrat eine gemeinsame Kommission mit der Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung zu beauftragen.
Ich möchte dazu ermuntern und ermutigen, im Sinne
dieses gemeinsamen Problembewusstseins, das im Einsetzungsantrag zum Ausdruck kommt, auch gemeinsame
Wege zur Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund
und Ländern einzuschlagen, nicht zuletzt auch mit Blick
auf die Europäische Union.
Über Länder- und Parteigrenzen hinweg hat sich die
Einsicht durchgesetzt, dass das föderale Gleichgewicht
neu justiert werden muss. Ich halte es nicht für eine
Übertreibung, wenn in der medialen Kommentierung davon die Rede ist, dass diese Kommission wahrlich eine
Herkulesaufgabe vor sich habe. Wir wissen doch: Je größer die Aufgabe, desto größer auch die öffentlichen Erwartungen und umso größer die Gefahr eines Scheiterns.
Ein häufig gebrauchtes Bild ist hier durchaus angebracht: Es darf für diese Kommission nicht gelten, dass
der Berg kreißt, um schließlich ein Mäuslein zu gebären.
({0})
Ich will die Schwierigkeiten zu Beginn dieser Debatte
benennen. Sie liegen zum einen in der Sache selbst. Unsere bundesstaatliche Ordnung, die im Kommissionsauftrag richtigerweise in den Mittelpunkt gerückt wird, ist
in eine bedrohliche Schieflage geraten. So leicht uns
nämlich der Begriff der parlamentarischen Demokratie
für unsere Verfassungsordnung über die Lippen geht, so
offensichtlich ist zugleich doch geworden, dass sich der
Gesetzgebungsprozess auf vielfältige Weise in die Strukturen eines Beteiligungsföderalismus verlagert hat. Wir
haben nicht mehr und nicht weniger als die Aufgabe vor
uns, an der Wiederherstellung eines transparenten parlamentarischen Entscheidungssystems mit klaren Verantwortlichkeiten zu arbeiten, also an einer im eigentlichen
Sinne klassischen Demokratie- und Staatsreform.
Sie alle kennen die Zahlen, mit denen dieser Missstand seit Monaten illustriert wird: Bis etwa 1970 waren
30 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig. Heute ist
die Zahl der Gesetze, bei denen die Zustimmung des
Bundesrates zwingend erforderlich ist, auf gut 60 Prozent gestiegen. Allerdings sollten wir uns davor hüten,
die Verantwortung dafür auf die Länderseite, auf den
Bundesrat, zu schieben. Wir, der Deutsche Bundestag,
der Gesetzgeber, sind selbst für eine Entwicklung verantwortlich, in der der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung immer mehr Kompetenzen mit
Präsident Wolfgang Thierse
einer Regelungsdichte bis in die kleinsten Verästelungen
hinein an sich gezogen hat.
Wir sind die Hauptverantwortlichen für das, was unsere Verfassung seit einiger Zeit „Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern“ nennt - ein Konstrukt, das
unseren Verfassungsmüttern und Verfassungsvätern
fremd war, das uns heute aber mehr Schwierigkeiten als
Freude bereitet.
({1})
Denn dahinter verbergen sich Intransparenz und Unklarheit in Sachen Verantwortlichkeit, insbesondere die der
verwirrenden Finanzierungs- und Besteuerungsstrukturen.
Die Herausforderungen für die einzusetzende Kommission werden nicht kleiner, wenn wir sie mit dem
großartigen Projekt einer europäischen Verfassung zusammendenken. Dennoch plädiere ich dafür, dass wir
uns dieser Aufgabe nicht kleinlich und beckmesserisch,
sondern mit Freude und dem Bewusstsein widmen, welche großen Chancen darin liegen. Wer von uns hätte vor
15 Jahren davon zu träumen gewagt, dass wir in den
Jahren 2003/2004 ganz praktisch über Zuständigkeitsfragen eines europäischen Unionsprojektes verhandeln
und streiten, das nicht mehr nur von Rom bis Stockholm,
sondern auch von Lissabon bis Tallinn reicht?
Wer diesen einzigartigen Vorgang richtig bewerten
und einordnen will, der wird nicht umhinkommen, nach
kleineren historischen Vergleichsprojekten zu suchen.
Was wir dabei feststellen können, ist eine fast unabweisbare Bewegung der Abgabe von Zuständigkeiten nach
oben. Dies war Ende des 19. Jahrhunderts der Fall, als
die Wiederbegründung des Deutschen Reiches gelang
und die zersplitterten Teilstaaten Kompetenzen an die
Zentralgewalt abgeben mussten. Dies findet sich im Prozess der Neugründung der Bundesrepublik Deutschland durch die bereits früher gebildeten Länder wieder.
Dies erleben wir seit Jahren als Deutscher Bundestag,
der Kompetenzen an die europäischen Entscheidungsstrukturen abzugeben hat.
Dieser Prozess ist bislang schleichend und eher unkoordiniert erfolgt. Deshalb, meine ich, macht es Sinn, dass
wir gewissermaßen im Nachgang zur Arbeit des europäischen Verfassungskonvents unsere eigenen föderalen
Entscheidungsstrukturen einer Überprüfung unterziehen.
({2})
Es mag für manchen unter uns in diesem Hause
schmerzlich erscheinen, aber mir scheint es unabweisbar
zu sein, dass die Verlagerung von nationalstaatlichen
Kompetenzen nach Brüssel und Straßburg auch die
Frage nach einer binnenstaatlichen Neujustierung der
Zuständigkeit aufwirft, und zwar aus einem besonderen
Grund: Alles, was wir in diesem Zusammenhang tun, hat
von den Interessen der Bürgerinnen und Bürger auszugehen. Je weiter die politischen Entscheidungsvorgänge
von ihnen wegdelegiert werden, umso unpersönlicher
und undurchschaubarer wird die Politik für die Bürger.
({3})
Die Aufgabe der Kommission wird es sein müssen,
all die politischen Komplexe in die Verantwortung der
regionalen Ebene, das heißt die der Länder, zu geben, die
dort entschieden werden können. Es geht um Politikfelder, in denen regionale Vielfalt einen Gewinn darstellt
und nicht zu einem Verlust an Rechtssicherheit und zu
Schwierigkeiten mit der gerade aus ostdeutscher Sicht
weiter wünschenswerten Angleichung von Lebensverhältnissen führt.
({4})
Ich vermute, in dieser abstrakten Form werden mir
die meisten in meiner Problembeschreibung folgen. Wie
schwer dies im Detail umzusetzen sein wird, will ich an
zwei kleinen Beispielen illustrieren.
Der saarländische Ministerpräsident hat neulich in einem Interview zu Recht auf die Überregulierung aufmerksam gemacht, die darin liegt, dass der Bund den Taxen elfenbeinfarbige Lackierung vorschreibt. Ich habe
wie er nichts dagegen, wenn Taxen aller Farben durch
Saarbrücken fahren können.
Schwieriger wird es in einem anderen Fall. Gerade
hat die Kultusministerkonferenz der Länder ihren ersten Bildungsbericht verabschiedet. Neben anderen Besorgnis erregenden Befunden stellt der Bericht fest, dass
sich Deutschland einen weltweit einmaligen Wirrwarr
von weit mehr als 2 500 Lehrplänen für unsere Schulen
leistet. Die Lehrplandatenbank weist sogar über
4 400 Eintragungen auf. Die Kommission wird die Frage
zu beantworten haben, ob wir gemeinsam die Kraft aufbringen, diesen Wirrwarr im Interesse der Schülerinnen
und Schüler wie der Eltern zu beenden. Denn immerhin
erwarten wir von den Menschen Flexibilität und muten
Familien auch Ortswechsel zur Arbeitsaufnahme zu.
Aber das dürfen doch nicht die Kinder in schlecht aufeinander abgestimmten Schulsystemen auszubaden haben!
({5})
Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass die
Schwierigkeiten für diese große Aufgabe schon in der
Sache selbst liegen. Sie liegen aber zum anderen in gleicher Weise in der großen Vielfalt der beteiligten
Akteure, deren Interessen berührt sind und die im Meinungsfindungsprozess der Kommission mit zu entscheiden haben. Wir haben hier den Deutschen Bundestag mit
seinen vier Fraktionen und einer Regierungs- und einer
Oppositionsseite; wir haben den Bundesrat mit ganz unterschiedlichen Koalitionen bei den Landesregierungen,
mit der A- und B-Länder-Koordination. Innerhalb des
Bundesrates gibt es verständlicherweise Interessendivergenzen zwischen den armen und den reichen, den kleinen und den großen Ländern. Bereits im Prozess der
Kommissionszusammensetzung wurde deutlich, dass
Präsident Wolfgang Thierse
sich auch die Länderparlamente nicht immer durch ihre
Landesregierung voll vertreten fühlen.
Schließlich haben wir die Interessen unserer Kommunen zu achten, ohne deren aktive Mitwirkung am demokratischen Prozess unsere Demokratie von unten her
ausgetrocknet würde. Deswegen dürfen wir sie auch
finanziell nicht austrocknen.
({6})
Aus dieser Interessenvielfalt ergibt sich zwingend
zweierlei: Erstens darf es in der Kommission zu keiner
Polarisierung entlang der Parteigrenzen bzw. der beiden
aktuell großen „politischen Lager“ kommen. Diese
Kommission wurde und wird nicht eingerichtet, um bestimmten politischen Projekten aus der Bredouille der
Blockade zwischen Bundestag und Bundesrat zu helfen.
Sie dient vielmehr der Entwicklung von Vorschlägen
zum besseren Funktionieren unserer parlamentarischen
Demokratie im Interesse aller Beteiligten. Wenn ich „aller Beteiligten“ sage, dann habe ich dabei vor allem die
Bürgerinnen und Bürger im Auge. Sie haben einen Anspruch auf Transparenz in der Demokratie.
({7})
Sie müssen erleben und sie müssen wissen können, wer
für bestimmte Entscheidungen die Verantwortung trägt,
sei es die Mehrheit des Deutschen Bundestages, sei es
die Mehrheit eines Landesparlaments. Ein quasi permanent tagender Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat verwischt genau diese Transparenz
und verunmöglicht es den Bürgern, die Verantwortlichkeiten zu erkennen.
({8})
Demokratie aber - darin sind wir doch alle einig lebt gerade von dieser Transparenz, davon, dass erkennbar unterschiedliche Konzepte und Lösungen vorgelegt
werden und wählbar sind und dass der Streit darum öffentlich und nicht hinter verschlossenen Türen ausgetragen wird.
Zweitens. Sobald es in der Kommission zu einer Polarisierung entlang der Linie Bundestag gegen Bundesrat
bzw. Länder kommt, werden wir ebenfalls unsere Aufgabe verfehlen. Hier hilft nur die Einsicht auf beiden
Seiten, dass eine klarere Trennung von Aufgaben und
Zuständigkeiten letztlich allen beteiligten Akteuren
nützlich sein wird. Diese Warnung heißt allerdings nicht,
dass wir nicht hier, im eigenen Hause, bereits bei der
Konsenssuche beginnen müssten.
Ich glaube, dass wir guten Grund haben, an dieser
Stelle optimistisch zu sein. Anlass dafür gibt nicht nur
der konstruktive und trotz allem zügige Prozess, innerhalb dessen die Struktur dieser heute vorgeschlagenen
Kommission entwickelt wurde. Ich glaube, dass dies
auch für die Möglichkeiten einer Konsensfindung in der
Sache selbst gilt.
Da ich von Ihnen selten öffentliches Lob gewohnt
bin, will ich umgekehrt mit gutem Beispiel vorangehen
und einige Eckpunkte positiv herausstellen, die der Kollege Kauder
({9})
bereits im Juni in einem Interview in die Debatte gebracht hat. Innerhalb einer neuen, klaren Verteilung der
Kompetenzen und Finanzstrukturen zwischen Bund und
Ländern befürwortet Kollege Kauder, dass dies zu einer
Stärkung der Länderkompetenzen bei der Gesetzgebung führen müsse. Zugleich aber bedeute dies, dass
der Bund bei den verbleibenden Kompetenzen wiederum
mehr eigenständige Entscheidungskraft erhalten müsse.
Denn, so der Kollege Kauder wörtlich,
der Bundesrat hat nach der grundgesetzlichen Ordnung nicht die Funktion eines ständigen Veto-Organs.
({10})
Mit einer Erweiterung der Länderrechte wäre deshalb im Gegenzug der Anteil der im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetze deutlich zu senken.
Das betrifft auch den Vermittlungsausschuss. Das
Grundgesetz hat ihm die Rolle eines Sonderorgans
zur Kompromisssuche gegeben. Inzwischen aber
hat der Vermittlungsausschuss nahezu die Funktion
eines Ersatzparlaments bekommen.
Diese Beobachtungen und Eckdaten, so meine ich,
dürften im Hause breite Zustimmung finden können.
Aber - wir wissen es - wie immer steckt der Teufel im
Detail, wird es Streit bei und in jedem Politikbereich geben. Doch wenn wir uns mit den anderen Beteiligten auf
eine solche Linie verständigen können, dann wird die
Arbeit der Kommission nicht ohne konkrete Ergebnisse
bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nicht
schließen, ohne der Kommission ein mir besonders am
Herzen liegendes Problem mit auf den Weg zu geben,
nämlich das unserer Hauptstadt Berlin. Mit guten
Gründen wird sich die Kommission sicherlich nicht
mit einem Neuzuschnitt der Länder befassen. Die
nächste Entscheidung darüber haben die Bürgerinnen
und Bürger von Berlin und Brandenburg zu fällen. Sie
wird auch nicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen der Finanzverfassung Berlins
im Verhältnis zum Bund vorwegnehmen können und
wollen.
Aber jenseits der im Rahmen unseres Kulturföderalismus immer neu auftauchenden Detailfragen einer
Bundeskulturförderung unserer gemeinsamen Hauptstadt werden auch die Länder darüber mitzubefinden
haben, was es heißt, dass Berlin die Hauptstadt dieser
Republik geworden ist und wie sich dies dort ausdrücken soll und muss, wo nicht die Rolle eines normales
Bundeslandes, sondern die Hauptstadtfunktion gefragt
ist. Denn Berlin ist nicht nur eine Angelegenheit der
Berliner und des Bundes allein, sondern aller DeutPräsident Wolfgang Thierse
schen und also aller Länder der Bundesrepublik
Deutschland.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, Professor Dr. Wolfgang Böhmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich darf auch meinerseits für den Bundesrat mit
Freude feststellen, dass über die grundsätzliche Notwendigkeit der Einsetzung einer Föderalismuskommission
zwischen uns ein breiter, parteiübergreifender Konsens
besteht. Das gilt auch für die allgemeine Zielsetzung, bei
einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung zu einer
klareren Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen
von Bund und Ländern und zu einer Neuordnung auch
der Mischfinanzierungen zu gelangen.
Bei den jeweiligen Schwerpunktsetzungen gibt es allerdings je nach Interessenlage gravierende Unterschiede, über die Sie andeutungsweise schon gesprochen
haben und über die wir auch in der Kommission ausführlich sprechen werden müssen.
Für den Bund hat eine Reduzierung der Bundesratsmitwirkung durch die Verringerung der Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze Vorrang. Das ist verständlich. Die Länder fordern mehrheitlich mehr eigene
Gestaltungsmöglichkeiten bei der Gesetzgebung und
eine Zusammenführung von Aufgaben- und Ausgabenkompetenz durch eine Entflechtung von Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierungen. Für die Vertreter der
Wirtschaft ist das umständliche und langwierige Zusammenspiel von Bundes- und EU-Ebene sowie den einzelnen Ländern zumindest aus ihrer Sicht ein Standortnachteil. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und des
internationalen Konkurrenzdrucks fordern sie schnelle
Entscheidungen vor Ort. Für die Bürgerinnen und Bürger - hier kann ich Ihnen, Herr Präsident Thierse, nur zustimmen - muss nachvollziehbar sein, welche Entscheidungen an welcher Stelle verantwortet werden. Für sie
sollten Entscheidungen so bürgernah wie möglich getroffen werden.
Es ist deshalb eine ausgesprochen anspruchsvolle
Aufgabe für die zu bildende gemeinsame Föderalismuskommission, die unterschiedlichen Interessenlagen zu
einem Gesamtkonzept zusammenzuführen. Angesichts
der gegenwärtigen Rahmenbedingungen - stagnierendes Wirtschaftswachstum, internationaler Wettbewerbsdruck und hohe Arbeitslosigkeit - sind Reformen für
Deutschland - ich denke, darin können mir alle zustimmen - notwendiger denn je.
({0})
Es könnte sein, dass einige zurzeit diskutierte Reformanliegen nur eine Chance auf eine erfolgreiche Umsetzung
haben, wenn auch die Föderalismusreform gelingt.
In seiner derzeitigen Ausgestaltung ist der deutsche
Föderalismus an eigene Grenzen gestoßen. Das ist im
Bundesrat schon früh erkannt worden. Bereits 1998 hat
einer meiner Vorgänger im Amt des Bundesratspräsidenten, der heutige Bundesfinanzminister Eichel, die Einsetzung einer Reformkommission angeregt, wie wir sie
jetzt schaffen wollen.
({1})
Die Ministerpräsidenten der Länder sind bereits im Oktober 2001 übereingekommen, Verhandlungen mit dem
Bund über die Modernisierung der bundesstaatlichen
Ordnung aufzunehmen. Im Dezember 2001 haben sich
die Regierungschefs von Bund und Ländern über die
Notwendigkeit einer Überprüfung der bundesstaatlichen
Ordnung im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung und die Zuordnung der politischen Verantwortlichkeiten verständigt.
Die im Wesentlichen gemeinsamen Positionen der
Länder zielen darauf ab, die politische Handlungs- und
Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu stärken sowie eine klare Zuordnung politischer Entscheidungen zu den staatlichen Ebenen zu erreichen. Dies
setzt aus Sicht der Länder insbesondere voraus, dass die
Gesetzgebungsbefugnisse der Länder dort gestärkt werden, wo die Länder mehr Gestaltungsrechte als bisher
benötigen, um spezifischen regionalen Bedürfnissen
durch die Landesgesetzgebung gerecht werden zu können. Zu diesem Zweck sollten Gesetzgebungsbereiche
wie zum Beispiel die Förderung der wissenschaftlichen
Forschung oder das Wohnungswesen aus der Zuständigkeit des Bundes an die Länder übertragen und den Ländern durch verfassungsrechtliche Zugriffsrechte und
Öffnungsklauseln Möglichkeiten eröffnet werden, von
vorhandenen bundesrechtlichen Regelungen abzuweichen.
Die Rahmengesetzgebung soll nach Vorstellung der
Länder aufgelockert werden, da sich die Verflechtung
von bundesrechtlichen Rahmenbedingungen und ausfüllendem Landesrecht nicht immer bewährt hat. Stattdessen sollten Gegenstände der Rahmengesetzgebung, zum
Beispiel das Hochschulrecht, im Wesentlichen der Bundesgesetzgebung mit verfassungsrechtlich gesicherten
Zugriffsrechten für die Landesgesetzgebung zugewiesen werden. Auf diese Weise würden Gesetzgebungsverfahren vereinfacht und beschleunigt. Dieser Entflechtungsschritt wäre auch deshalb sinnvoll, weil
Rahmenregelungen heute zunehmend auf der europäischen Ebene getroffen werden. Die Auflösung der Rahmengesetzgebung bei gleichzeitiger Öffnung der jeweiligen Bereiche für eine Länderkompetenz könnte die
Umsetzung von europarechtlichen Vorgaben erleichtern.
({2})
Die Zahl zustimmungsbedürftiger Bundesgesetze
sollte verringert werden. Das ist auch die einhellige Meinung der Länder. Im Gegenzug könnte den Ländern ein
Präsident des Bundesrates Dr. Wolfgang Böhmer
Zugriff auf bundesgesetzliche Organisations- und Verfahrensregelungen eingeräumt werden. Die Zustimmungspflicht muss allerdings nach Ansicht der Länder
für Gesetze gelten und erhalten bleiben, die den Ländern
besondere Belastungen aufbürden, zum Beispiel Kosten
für Verfahren, oder durch die Einfluss auf die jeweilige
Infrastruktur genommen wird.
Im Bereich der Mischfinanzierungen sollte die Eigenständigkeit der Länder gestärkt werden. Die bestehenden Mischfinanzierungstatbestände sind unter diesem Gesichtspunkt auf der Grundlage der bisherigen
Beschlüsse zu überprüfen und möglichst zu vermindern,
wir sagen nicht: abzuschaffen.
({3})
Die in der gegenwärtigen Finanzverfassung begründeten Mischfinanzierungen engen die haushaltspolitischen Gestaltungsspielräume der Länder in einem beträchtlichen Maße ein. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel
werden allein durch die Bund-Länder-Mischfinanzierungskonditionen circa 42 Prozent des Investitionshaushaltes faktisch festgelegt. Die Entscheidungen über die
Prioritäten der Landesinvestitionspolitik werden also in
der politischen Wirklichkeit ganz wesentlich auch auf
der Bundesebene getroffen. Ein solidarischer Ausgleich
von gesamtstaatlich nicht hinnehmbaren strukturellen
Unterschieden muss allerdings auch künftig gewährleistet bleiben.
({4})
Das ist nicht nur für die neuen Bundesländer wichtig.
Deswegen halten wir diese Aussage für mindestens
ebenso bedeutsam. Ich will auch auf das Gegenteil noch
zu sprechen kommen.
Bei der Neuordnung der Finanzverflechtung zwischen Bund und Ländern geht es mittel- bis langfristig
darum, größere Freiheiten bei der Verfügbarkeit der Mittel innerhalb der Gemeinschaftsaufgaben zu erlangen.
Für die neuen Länder stehen diese Verhandlungen
grundsätzlich unter dem Vorbehalt, dass die für sie bislang eingesetzten Mittel bis zum Jahr 2019 vollständig
und dauerhaft als freie Mittel zur Verfügung gestellt werden. Durch die Reform darf kein Land finanziell
schlechter gestellt werden als bisher; sonst werden wir
keine Zustimmung erlangen können.
Auch Fragen der Steuererhebungspraxis sind mit dem
Ziel einer Modernisierung und der Steigerung der Effizienz der Steuerverwaltung einer kritischen Überprüfung
zu unterziehen. In den Verhandlungen zur bundesstaatlichen Modernisierung sollten Regelungskompetenzen für
Steuern, deren Ertrag vollständig den Ländern bzw. den
Kommunen zufließt, im Hinblick auf eine mögliche
Stärkung der Steuergesetzgebungskompetenzen der Länder überprüft werden. Eine reale Erfolgschance haben
diese Absichten aber vermutlich nur im zeitlichen Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Steuerreform.
Im Rahmen der Reformüberlegungen ist auch die
Europakompatibilität von Grundgesetz und bundesstaatlicher Ordnung besonders zu berücksichtigen. Dieser
Aspekt ist nicht nur für uns von besonderer Bedeutung.
Die Modernisierung in Deutschland wird auch von anderen Staaten in Europa mit Interesse beobachtet. Die Europäische Union hat im jetzt auslaufenden Jahr der Bundesratspräsidentschaft Sachsen-Anhalts auf diesem
Gebiet deutliche Fortschritte gemacht. Der europäische
Konvent hat den Entwurf eines Vertrages für eine europäische Verfassung vorgelegt. Die Verträge über die Erweiterung der Europäischen Union um zunächst zehn
neue Mitglieder wurden ratifiziert.
Zukünftig wird auf EU-Ebene verstärkt über Themen
entschieden werden, die Zuständigkeiten der Länder
unmittelbar berühren. Die im Verfassungsentwurf verankerte Kompetenzabgrenzung und Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips machen nur Sinn, wenn die verfassungsmäßige Ausübung dieser Rechte innerstaatlich
entsprechend gesichert ist. Der Bundesrat ist sich dabei
der Tatsache bewusst, dass in Europa verschiedene Konstruktionen zweiter Kammern bestehen und unterschiedliche Lösungswege vorhanden sind. Wir sollten deshalb
bei der Modernisierung unserer Verfassungsordnung den
Blick über die Grenzen zu unseren Nachbarn nicht vernachlässigen.
Das Leitbild des Grundgesetzes ist der so genannte
kooperative Föderalismus. Oberstes Ziel der Finanzverfassung soll es bleiben, alle Länder und den Bund
finanziell so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden können. In der Reformdebatte wird schon
bisher gelegentlich die Auffassung vertreten, dass ein
mehr autonomieorientierter Systemwechsel hin zu einem
so genannten Wettbewerbsföderalismus unabdingbar sei.
Der Begriff des Wettbewerbsföderalismus wurde, meine
ich, in der letzten Zeit sehr strapaziert. Diesen Begriff
brauchen jedoch auch die wirtschaftlich schwächeren
Länder dann - aber eben nur dann - nicht zu fürchten,
wenn man sich auf die Selbstverständlichkeit verständigt, dass hierzu Chancengleichheit bei den Startbedingungen gehört. Davon sind wir noch weit entfernt.
({5})
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass die heute
zu beschließende gemeinsame Föderalismuskommission
im Hinblick auf den Handlungsbedarf Reformvorschläge
vorlegen wird, die es ermöglichen, das System der bundesstaatlichen Ordnung auf eine neue, zukunftsfähige
Grundlage, und zwar auch im europäischen Kontext, zu
stellen.
Ich glaube, dass die Regelungen des Einsetzungsbeschlusses eine ausreichende Grundlage dafür sind, diese
schwierige Aufgabe erfolgreich in Angriff zu nehmen.
Die vorgesehene Beteiligung der Landtage und der kommunalen Spitzenverbände halten wir für angemessen.
Ich möchte Herrn Bundestagspräsidenten Thierse an
dieser Stelle für die konstruktive Zusammenarbeit danken, die es ermöglicht hat, dass offene Punkte kurzfristig
geklärt werden konnten und heute der Beschlussvorschlag in der Ihnen bekannten Form vorgelegt werden
kann. Auch der Bundesrat betrachtet die vereinbarte Föderalismuskommission als Chance, die wir gemeinsam
Präsident des Bundesrates Dr. Wolfgang Böhmer
nutzen sollten. Deshalb erbitten auch wir Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({6})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Franz Müntefering, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie
hat Bedingungen, inhaltliche und praktische; sie hat
Werte und Regeln als Voraussetzung für ihr Gelingen.
Bei uns in Deutschland sind diese Werte und diese
Regeln im Grundgesetz niedergeschrieben. Das Grundgesetz ist in einer Zeit tiefster Schmach Deutschlands
entstanden: nach Nationalsozialismus, nach Verirrungen
und Verbrechen, nach Krieg, in einem zerstörten Land.
Das Grundgesetz hat sich als eine verlässliche und weitsichtige Grundlage für diese deutsche Demokratie erwiesen. Unser Grundgesetz ist ein großer Erfolg in der deutschen Geschichte. Wir sind und bleiben stolz auf dieses
Grundgesetz.
({0})
Darin wurden vor gut 54 Jahren in Bonn Maximen
formuliert und Sätze geprägt, die Leitlinien für unsere
Politik waren und auch heute sind. Zu den Menschenrechten heißt es in Art. 1:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Zu Bund und Ländern heißt es in Art. 20:
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Die Herausforderung, ein demokratischer und sozialer Staat sein zu wollen, begleitet uns, die Abgeordneten
des Bundestages, in unseren tagtäglichen politischen Bemühungen, gerade in dieser Zeit großer Neuerungen, in
der es um wichtige Entscheidungen geht.
Die Frage, die damit verbunden ist, lautet: Ist die Ordnung dieses Bundesstaates in vollem Umfang zeitgemäß? Dieser Frage haben wir uns heute im Bundestag,
morgen im Bundesrat und dann in der Kommission, die
wir gemeinsam einrichten wollen, zu stellen. Werden die
Regeln, nach denen wir funktionieren und nach denen
unsere Demokratie organisiert ist, unserem Anspruch gerecht, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu
garantieren sowie ein sozialer und demokratischer Bundesstaat zu sein? - Das klingt technisch; aber es geht um
die Handlungsfähigkeit der Politik und ganz konkret um
die Praxis der Demokratie.
Heute debattieren wir über die Modernisierung der
bundesstaatlichen Ordnung. Mit einem Antrag aller
Fraktionen des Deutschen Bundestages wollen wir Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates beauftragen, im Verlauf des kommenden Jahres Vorschläge für
die Fortentwicklung dieser bundesstaatlichen Ordnung
zu machen. Es ist ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen
mitmachen und der Bundesrat morgen einen Einsetzungsbeschluss treffen will, der wortgleich mit dem des
Bundestages ist.
({1})
Ich bedanke mich beim Präsidenten des Deutschen
Bundestages, Wolfgang Thierse, und in gleicher Weise
beim Präsidenten des Bundesrates, Professor
Dr. Wolfgang Böhmer, dafür, dass sie mit ihren heutigen
Beiträgen Zeichen gesetzt und den Willen zum gemeinsamen Handeln von Bundestag und Bundesrat sichtbar
gemacht haben.
({2})
Was ist Ausgangslage für unsere Debatte?
In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist es Zug um
Zug zu einer Verlagerung von Zuständigkeiten, insbesondere bei den Gesetzgebungskompetenzen, auf den Bund
gekommen. Dabei ging es meist um einheitliche Regelungen in allen Ländern oder - sagen wir es ehrlich auch um Geld. Es ging um Geld, das der Bund hatte und
das er für sinnvolle Zwecke, zum Beispiel für den Hochschulbau, einsetzen wollte, ohne dafür die Kompetenz zu
haben. Per Verfassungsänderung sind dafür quasi zum
Ausgleich die Rechte der Länder zur Mitwirkung an der
Gesetzgebung ausgebaut worden. Das hat zusammen mit
der sehr länderfreundlichen Auslegung von Art. 84
Grundgesetz durch das Bundesverfassungsgericht dazu
geführt, dass heute über 60 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig sind. Es waren einmal viel, viel weniger.
So haben es sich die Mütter und Väter unserer Verfassung damals jedenfalls nicht vorgestellt. Sie gingen im
Jahr 1949 davon aus, dass die Länder nur dann an der
Bundesgesetzgebung entscheidend mitwirken, wenn die
Länderinteressen besonders stark - besonders stark! berührt werden. 1949 gab es im Grundgesetz nur in
12 Artikeln zustimmungspflichtige Tatbestände; heute
ist das in 35 Artikeln der Fall.
Man kann jetzt lange darüber lamentieren, wer für
diese Entwicklung verantwortlich ist, ob nicht auch die
Länder Machtzuwachs gewollt haben, ob nicht auch sie
diese Entwicklung befördert haben. Man kann parteipolitische Motive ins Feld führen. Aber alles das hilft
nicht weiter. Die Realität ist jedenfalls, dass der Bundesrat mit seiner jeweiligen Mehrheit wesentliche politische Initiativen des Bundes blockieren und so maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung des Bundes ausüben
kann. Der Bundesrat hat faktisch die Funktion eines permanenten Vetoorgans. Er übt sie längst nicht immer aus,
aber auch nicht selten. Im Parlamentarischen Rat damals
war das so sicherlich nicht gemeint. Diese Entwicklung
bedeutet andererseits, dass die Länder Souveränität aufgeben, ungenutzt lassen, sich bundeseinheitlichen Regeln unterwerfen.
Deutlich sind hier die Worte eines Ministerpräsidenten:
Die Bundesregierung ist in wesentlichen Teilen ihrer Aktivitäten der intensiven Kontrolle und der
rechtlichen Mitentscheidung des Bundesrates unterworfen. Man kann sogar sagen, dass der Bundesrat
für die Bundesregierung ein schwierigerer Partner
als der Deutsche Bundestag ist, da sie mit der
Mehrheit des Bundestages in parteipolitischer Identität steht.
Man spricht in unserer Gesellschaft - wir tun es auch öffentlich von der zweiten Kammer und meint, Bundestag und Bundesrat seien bei der Gesetzgebung gleichberechtigt, was, wie wir alle wissen, so nicht ist. Im Grundgesetz steht:
Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit.
Sie wirken mit!
Mit der skizzierten Entwicklung ist die Bedeutung
des Vermittlungsausschusses gestiegen. Er ist in die
Rolle eines Ersatzparlaments gerutscht, in dem Kompromisse gebastelt werden. Er ist ein Gremium, das nicht
öffentlich in weitgehender Intransparenz, in kleinster
Runde, mit oft widerstrebenden Motiven aus vorliegenden Gesetzentwürfen Gesetze macht, die dann in Bundestag und Bundesrat gebilligt werden - oder auch nicht.
Der Vermittlungsausschuss als Organ der Bündelung,
als Konzentrat unserer parlamentarischen Demokratie ist
etwas, was schon für uns hier schwer zu verstehen und
zu akzeptieren ist; noch viel mehr gilt das für die Bürgerinnen und Bürger im Land. Wohlgemerkt: Es geht nicht
um die Qualität der Gesetze, die da entstehen. Das ist
kein Vorwurf an die Kolleginnen und Kollegen, die im
Vermittlungsausschuss die Arbeit tun. Aber für das
Funktionieren von Demokratie und für die Transparenz
von Demokratie ist das, was sich eingebürgert hat, nicht
gut.
({3})
Wir wollen die Rolle des Parlaments stärken. Wir Parlamentarier wollen die Auseinandersetzung um die besten
Ideen im Parlament öffentlich führen und hier - hier! über Gesetze entscheiden.
Die Entstehungsgeschichte der jüngsten Gesundheitsreform wirkte eher ungewöhnlich, war aber parlamentsnäher und eher grundgesetzkonform als viele Entscheidungsprozesse im Vermittlungsausschuss. Die Debatte,
die dazu in der politischen Öffentlichkeit geführt worden
ist, war schon verwunderlich.
Die Zeit, die eine Demokratie für Entscheidungen
braucht, ist eine andere wichtige Größe. Sorgfältige Arbeit erfordert ihre Zeit. Die Frage ist aber, ob es eingefahrene oder auch eingerostete Mechanismen gibt, die
dazu führen, dass die Dinge immer wieder verschleppt
werden. Wenn wir als Nation erfolgreich sein wollen,
darf der Föderalismus keine Bremse sein, dürfen sich
Bund, Länder und Gemeinden nicht gegenseitig blockieren. Als Beispiel nenne ich die bessere Vereinbarkeit von
Familie, Kindern und Beruf. Diese wichtige gesellschaftliche Innovation soll in diesem Jahrzehnt in
Deutschland gelingen. Sie kann aber nur gelingen, und
zwar bald, wenn Bund, Länder und Gemeinden dafür das
nötige zielgerichtete, abgestimmte Engagement zeigen,
({4})
wenn sie sich nicht in Zuständigkeitsfragen und stark unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlieren.
Als Bund geben wir in dieser Legislaturperiode
8,5 Milliarden Euro an die Kommunen, damit dort die
Möglichkeiten von Ganztagsbetreuung verbessert werden. Wer die Debatten über die Umsetzung miterlebt hat,
hat erfahren, dass das manchmal sehr schwierig ist. Nach
wenigen Minuten war man nicht mehr bei der Frage von
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern bei der
Frage, wer denn eigentlich zu entscheiden hat. Es hieß,
dass sich der andere bitte schön nicht einmischen soll
und dass die Frage das Geld betreffend ganz einfach zu
beantworten ist: Wenn das Geld gegeben wird, dann
wird das schon irgendwo gemacht werden.
Unklarheit über die Zuständigkeiten ist eine Bremse
für das, was wir wollen. Wir müssen uns darüber klar
sein, dass große gesellschaftliche Innovationen, die wir
vor uns haben, nur funktionieren werden, wenn wir ein
Einvernehmen darüber herstellen, dass Bund, Länder
und Gemeinden sich solchen Aufgaben gemeinsam stellen und sie gemeinsam realisieren müssen.
({5})
Die massive Verflechtung und Unübersichtlichkeit
hat einen gefährlichen Nebeneffekt: Die Bürgerinnen
und Bürger sehen nicht mehr, wer für was zuständig und
verantwortlich ist. Hier ist auch eine der Ursachen für
die wachsende Entfremdung zwischen der Bevölkerung
und der handelnden Politik. Es muss klar sein, wofür der
Bund zuständig ist und wofür jedes einzelne Land zuständig ist. Wahlen verlieren ihren Reiz und sogar teilweise ihren Sinn, wenn auch nach Wahlen nicht klar ist,
wer Verantwortung bekommen hat und sie wahrnehmen
kann und muss. Das Problem ist klar: Es muss entwirrt
werden, bei den Zuständigkeiten, den Gesetzgebungskompetenzen und den Gesetzgebungsmodalitäten.
Eine diskussionsbedürftige Problematik sind dabei
die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern.
Sie werden sicher ein wichtiges Thema in der Kommission sein, deren Einsetzung wir heute beschließen wollen. Manche sagen, die Länder seien Gewinner dieser
Entwicklung. Schließlich könnten die Länder bei entsprechenden Mehrheiten im Bundesrat viele Gesetze
aufhalten.
In Wahrheit ist es viel differenzierter. Die gesetzgeberische Gestaltungsmöglichkeit der Länderparlamente ist
fast gänzlich verloren gegangen. Gewonnen haben die
Landesregierungen. Der Exekutivföderalismus, den wir
in Deutschland faktisch haben, hat dazu geführt, dass die
Länderparlamente uns - auch in der Vorbereitung auf
diese Kommission - fragen: Was ist unsere Rolle?
Ich weiß nicht, ob wir ihnen in der Debatte, die wir zu
führen haben, helfen können. Wir müssen uns trotzdem
schlichtweg dieser Wahrheit stellen. Wer spricht da miteinander? Es spricht der Bundestag, das Gesetzgebungsorgan unserer Demokratie, mit den Exekutiven der Länder. Die Länderparlamente sind, wenn überhaupt, nicht
unmittelbar an dem beteiligt, was da „zwischen Bund
und Ländern“, wie wir schnell sagen, besprochen wird.
Ich kann das nicht auflösen und will das auch nicht mal
eben versuchen. Ich sage nur: Darüber wird zu sprechen
sein. Es wird um die Frage gehen, ob wir die Möglichkeit haben, den Parlamenten neues Gewicht zu geben.
Die Länder haben kaum noch die Möglichkeit, zu regional unterschiedlichen Regelungen zu gelangen, weil
der Bund überall seine Hand mit im Spiel hat. Bei seiner
Rahmengesetzgebung ist - wie der Bundespräsident
gesagt hat - der Rahmen oft so groß, dass man das Bild
nicht mehr sieht. Ob der Bund dabei seine Kompetenzen
überzieht oder ob die Länder gar kein Bild entwerfen
wollen, ist eine zweite Frage, der wir uns stellen müssen.
Jedenfalls hat sich bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland eine Rahmengesetzgebung herausgebildet,
die den Ländern keine Möglichkeit mehr lässt, diesen
Rahmen auszufüllen. Vielleicht wollen die Länder das
sehr oft gar nicht. Vielleicht tauchen sie vor der Verantwortung weg und blicken auf den Bund - in der Erwartung, dass er die Probleme löst.
Nein, diese Vernetzung und Vermischung von Zuständigkeiten muss ein Ende haben. Gesetzgebungsverfahren sind zu umständlich, zu langwierig und viel zu kompliziert geworden. Wir brauchen und wollen keine neue
Verfassung. Wir wollen keine Revision des Grundgesetzes. Wir brauchen eine Reföderalisierung, eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Aufgaben von Bund
und Ländern, klare Regeln und klare Verantwortlichkeiten.
({6})
Diese Aufgabe steht im Vordergrund der Arbeit der
Kommission.
Das bedeutet im Einzelnen eine Sicherung der Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern, eine Stärkung der
Rolle der Landtage in der Gesetzgebung, eine Reduzierung der Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze Einspruchsgesetze als Regelfall, zustimmungsbedürftige Gesetze als Ausnahme.
Ich will noch einmal auf die Gesundheitsreform zurückkommen. Es mag manchem parteipolitisch scheinen, aber mir leuchtete nicht ein, dass der Bundesrat in
der Gesetzgebung zur Gesundheitsreform ein Vetorecht
hatte. Er hatte es, weil die Länder für die Finanzierung
der Krankenhäuser zuständig sind. Das ist es aber auch.
Dass in einer solchen Situation Länder aufgrund ihres
Vetorechtes darüber wesentlich mitentscheiden können,
wie eine Gesundheitsreform auf Bundesebene gestaltet
wird, ist ein Zustand, der diskussionsbedürftig ist und,
wie ich finde, so nicht bleiben darf.
({7})
Es geht deshalb um eine Neujustierung der Rahmengesetzgebung des Bundes. Es geht darum, Raum für
Subsidiarität, Eigenverantwortung, mehr Vernetzung,
weniger Hierarchie und mehr Bürgernähe zu schaffen.
Diesem Ziel dienten auch die Erörterungen der Konferenz der Landtagspräsidenten in Lübeck, die wir mit in
unsere weiter gehenden Beratungen einbeziehen wollen.
Auch die europäische Verfassung ist ein Anlass dafür, dass wir diese Debatte zu führen haben, und bringt
wichtige Aspekte ein. Welche Rolle spielen die Bundesländer in einem Europa der Regionen? Europa selbst gibt
sich eine Verfassung und justiert seine Institutionen neu.
Nationale Aufgabe ist es dabei festzulegen, welche Aufgabe die Länder in einem föderalen Staat wie Deutschland haben. Die Wechselwirkungen zwischen Brüssel,
der Bundes- und der Länderebene werden zunehmen und
die Beziehungen müssen klar geordnet werden. Für
Deutschland steht in Europa viel auf dem Spiel. Deshalb
müssen wir in Europa mit einer Stimme und nicht mit
16 Stimmen sprechen. Die Gefahr, die sich sonst ergibt,
ist groß; an vielen Stellen merkt und hört man es. Es
nützt aber nicht den Interessen unseres eigenen Landes.
Andere Länder haben andere Ausgangsbedingungen.
Deshalb wird das Thema Europafestigkeit unserer Institutionen - so möchte ich es einmal nennen - eine Rolle
spielen müssen in der Diskussion, die wir führen.
({8})
In vergangenen Legislaturperioden beschäftigten nur
sehr wenige Vorgaben aus Europa den Bundestag; so in
der dritten und vierten Wahlperiode jeweils 15. In der
letzten Legislaturperiode waren es irgendwo zwischen
2 500 und 3 000. Wer von uns könnte denn ehrlich von
sich behaupten, dass er die Übersicht hat? Wer von uns
würde denn von sich behaupten, dass er Einblick hat in
das, was sich da entwickelt, und er rechtzeitig Einfluss
auf das nehmen kann, was da vorbereitet wird? So bleibt
ihm zum Schluss nur übrig, zuzustimmen bzw. die Beschlüsse zu akzeptieren. Das ist nicht gut für das Selbstverständnis dieses nationalen Parlaments im Verhältnis
zu Europa. Deshalb muss auch dieses offen und ehrlich
angesprochen werden.
({9})
Zu einigen Fragen, die kommen werden, nur einige
kurze Anmerkungen, ohne das heute vollständig zu beantworten. Zwei Komplexe werden nicht Gegenstand
der Beratungen der Kommission sein: der Zuschnitt der
Bundesländer und die Frage, ob stärkere plebiszitäre
Elemente auf nationaler Ebene vorgesehen werden sollen. Für den ersten Bereich sind einzig und allein die
Länder selbst zuständig. Mit dem zweiten Thema wird
sich der Deutsche Bundestag in absehbarer Zeit separat
befassen. Wir befinden uns hier in den Vorbereitungen.
Das Stichwort Wettbewerbsföderalismus ist gefallen. Wir werden uns damit auseinander zu setzen haben.
Es gehört zu dem Grundsatz der Souveränität der Länder
im Bundesstaat, der im Grundgesetz verankert ist, dass
die Länder auch im Wettbewerb untereinander stehen.
Wir dürfen die Idee des Wettbewerbs, hinter dem ja auch
die Idee des Avantgarde-sein-Könnens steckt, nicht verdunkeln.
({10})
Es müssen nur die Ausgangsbedingungen, von denen
aus die Länder antreten, vergleichbar sein. Wir von unserer Seite werden jedenfalls nicht der Idee entgegenstehen, den Ländern in unserem Bundesstaat Platz und
Raum für eigene Ideen und eigenes Handeln zu geben.
Es muss nur abgestimmt und geklärt sein, wem welche
Zuständigkeiten zukommen.
Nicht wenige haben abgeraten, überhaupt an das
Thema der bundesstaatlichen Ordnung heranzugehen.
Viele haben gesagt: zu komplex, zu zäh, undankbar. Wir versuchen es trotzdem. Wir haben bei uns im Lande
schon Leute genug, die resigniert haben oder uns besserwisserisch Ratschläge geben. Wir wissen alle miteinander in Bund und Ländern, dass wir gut beraten sind,
wenn wir uns die Mechanismen der Organisation der
Demokratie anschauen und versuchen, sie auf die Höhe
der Zeit zu bringen. Wir versuchen das mit Zuversicht.
Alle, die Mut haben, können dabei mitmachen. Wir gehen ohne Hektik, aber zügig vor. Ich denke, dass sich im
Verlauf des Jahres 2004 herausstellen muss und herausstellen wird, ob wir in der Lage sind, gemeinsam zielführende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Als Grundlage für Beschlüsse in der Kommission haben wir ja die
Zweidrittelmehrheit vereinbart. Es täte der Demokratie
in Deutschland gut, wenn wir uns nicht nur bewusst wären, dass wir manche wichtige Inhalte erneuern müssen,
sondern auch, dass - nach 50 Jahren Erfolgsgeschichte vieles verändert werden muss. Wir müssen das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundesrat, aber auch die
Rolle der Kommunen und das Verhältnis Deutschlands
und seiner Bundesländer zu Europa klarstellen und uns
auf die Erfordernisse unserer Zeit einstellen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tribüne hat
soeben der algerische Parlamentspräsident Younès
mit einer Delegation des algerischen Parlaments Platz
genommen. Wir begrüßen Sie sehr herzlich.
({0})
Ihr Besuch, Herr Präsident, ist Ausdruck der guten Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Wir wissen, dass Algerien ein besonders wichtiger Nachbar an
der Südgrenze der Europäischen Union ist. Wir hoffen,
dass Sie in diesen Tagen einen aufschlussreichen Eindruck von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen
können. Für Ihren Aufenthalt heute in unserem Hause
und für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten
Sie unsere besten Wünsche.
({1})
Ich erteile nun Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alexander
der Große wusste sich zu helfen, auch ohne eine Kommission: Ein einziger Schlag genügte - Problem gelöst.
Zugegeben: König Gordios hatte sich die Form der Problemlösung wahrscheinlich anders vorgestellt. Aber immerhin - der Gordische Knoten war entzwei.
Eine so einfache Lösung wird es diesmal wohl nicht
geben. Aber die Aufgabenstellung der Kommission zur
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung erinnert schon ein wenig an den Versuch, einen unentwirrbaren Knoten zu lösen, einen Knoten, den diesmal allerdings nicht fremde Mächte geknüpft haben, sondern
Bundestag und Bundesrat gemeinsam in den vergangenen Jahrzehnten; natürlich nicht in der Absicht, besonders komplizierte verfassungsrechtliche Regelungen zu
erfinden, nicht, um klare Zuständigkeiten zu verschleiern, sondern in dem Bemühen, sich wechselseitig ein hohes Maß an Einflussnahme auf die jeweils andere Seite
zu sichern.
Solange die Interessen und die politischen Ziele der
unterschiedlichen staatlichen Ebenen deckungsgleich
sind, kann das funktionieren. Ganz anders ist die Lage
jedoch bei grundlegend unterschiedlichen politischen
Auffassungen, bei Interessen- und Zielkonflikten. Dann
heißt es oft: Nichts geht mehr. Dann werden wortreich
Stillstand und Blockade beklagt. Dann entsteht beim
Bürger der Verdacht, dass es den Parteien und Fraktionen nicht in erster Linie um die Sache gehe, um die Lösung von Problemen, sondern um das eigene politische
Interesse, dass also Eigennutz mit Gemeinwohl verwechselt werde.
Der Begriff Föderalismusreform elektrisiert nicht jeden. Er kommt spröde daher. Wenn wir ihn dann noch
garnieren mit Begriffen wie Rahmengesetzgebung, Konnexitätsprinzip, Vorranggesetzgebung, Gemeinschaftsaufgaben und Mischfinanzierung, geraten Staatsrechtler
und Politologen vielleicht ins Schwärmen, aber viele im
Publikum werden sich fragen: Was hat das mit mir zu
tun? Was bedeutet das eigentlich ganz konkret für die
alltägliche politische Praxis? Was soll sich wie ändern?
Formal geht es darum, unsere verfassungsmäßige
Ordnung so zu ändern, dass die Gewichte im Bundesstaat neu justiert werden; einerseits in horizontaler Richtung - beim Bund und in den Ländern zwischen den Verfassungsorganen und Institutionen -, andererseits in
vertikaler Richtung - im Verhältnis zwischen Bund,
Ländern und Gemeinden. So kompliziert die verfassungsrechtlichen Details im Einzelnen sein mögen - die
Probleme, die wir lösen wollen, sind von großer Bedeutung für die Praxis.
Erstens. Wir wollen die Mischzuständigkeiten zwischen Bund und Ländern entflechten.
({0})
Dabei geht es um die höchst praktische Frage, welche
staatliche Ebene für welche Aufgaben zuständig, dann
aber auch verantwortlich sein soll - nicht ein bisschen
verantwortlich, nicht mitverantwortlich, sondern allein
verantwortlich.
Klare Zuständigkeiten stärken die Handlungskraft der
politischen Akteure. Wenn Verantwortung nicht mehr
klar erkannt werden kann, ist eine Reform vonnöten.
Wenn die Zuständigkeiten unklar sind, führt das zu organisierter Unverantwortlichkeit. Das wollen wir alle gemeinsam ändern.
({1})
Wir wollen, dass die Bürger klar erkennen können, wer
auf welchen Politikfeldern für sie handelt und wer die
Verantwortung trägt, die Verantwortung für Erfolg, aber
auch für Scheitern. Wir wollen mehr Transparenz in den
politischen Entscheidungsprozessen. Das stärkt unsere
Demokratie.
Zweitens. Wir wollen die Zusammenführung von
Sachverantwortung und Finanzverantwortung. Deswegen kann eine Neuordnung der staatlichen Kompetenz- und Aufgabenverteilung nicht ohne eine Entflechtung und eine Neuordnung der finanzwirtschaftlichen
Vermengungen erfolgen.
Das Grundgesetz ist ursprünglich von einem Trennsystem ausgegangen. Im Laufe der Jahre wurde jedoch,
immer gut gemeint und fachlich überzeugend begründet,
ein höchst komplizierter Verschiebebahnhof errichtet. Er
ist mit seinen horizontalen und vertikalen Einnahme-,
Ausgabe- und Ausgleichsmechanismen so perfekt, dass
kaum noch jemand in der Lage sein dürfte, die horizontalen und vertikalen Finanzbeziehungen in allen Verästelungen zu durchschauen. Deswegen wollen wir die Aufgabenkompetenz einerseits sowie die Einnahmen- und
Ausgabenkompetenz andererseits in eine Hand legen.
Drittens. Wir wollen eine stärkere Beachtung des
Konnexitätsprinzips. Obwohl es - anders als in einem
Zentralstaat - in einem föderalen Aufbau mit drei unterschiedlichen Ebenen - Staat, Länder und Gemeinden schwieriger ist, dieses Prinzip einzuhalten, muss zukünftig gelten: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen.
({2})
Es darf nicht sein, dass der Bund durch seine Gesetzgebung zusätzliche Vollzugsaufgaben der Länder und
der Kommunen begründet, ohne die zur Aufgabenerfüllung notwendigen Finanzmittel gleich mitzuliefern. Dies
beklagen insbesondere die Städte und Gemeinden, die
gerade in den letzten Jahren mit neuen Aufgaben und mit
neuen Belastungen befrachtet wurden und die gleichzeitig mit wegbrechenden Einnahmen zu kämpfen haben.
Beispiel Integration. Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, aber wir haben einen erkennbaren Mangel
an Integration. Nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr
Integration ist daher das Gebot der Stunde. Deshalb ist
es richtig und notwendig, dass wir mehr tun für eine bessere Integration, auch für die nachholende.
Die Integrationsangebote und -leistungen können nur
ortsnah erfolgen, also in den Städten und Gemeinden.
Das darf im Umkehrschluss jedoch nicht bedeuten, dass
die Städte und Gemeinden mit den dadurch entstehenden
Kosten belastet werden. Wenn der Bund Rechtsansprüche auf Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen
gewährt oder wenn er sogar Teilnahmeverpflichtungen
festschreibt, dann muss er auch die Kosten tragen. Unsere Kommunen können wir jedenfalls nicht mit zusätzlichen Kosten belasten.
({3})
Viertens. Wir wollen die Länder und die Landesparlamente stärken. Die Stichworte lauten hier: Reduzierung oder gar Abschaffung der Rahmengesetzgebung,
Öffnungs- und Experimentierklauseln, Vorranggesetzgebung und Wettbewerbsföderalismus. Das bedeutet dann
allerdings auch einen Wettbewerb zwischen Ländern, die
sich im Hinblick auf Größe, Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft ganz erheblich voneinander unterscheiden.
Sie werden deshalb mit ganz unterschiedlichen Bedingungen an den Start gehen. Das dürfen wir nicht vergessen.
Dieses Kapitel verdeutlicht, dass es Zielkonflikte
gibt, die wir nicht verschweigen sollten. Auf der einen
Seite wollen wir mehr Vielfalt durch föderalen Wettbewerb; das ist auch ein Wettbewerb um die besseren politischen Konzepte und Ideen. Auf der anderen Seite beklagen wir eine wahre Flut von Vorschriften auf allen
staatlichen Ebenen. Ein undurchdringbares Dickicht von
Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften lähmt unser Land. Stattdessen müssten wir ihm
neuen Schwung verleihen.
Der Verzicht auf bundeseinheitliche Regelungen
stärkt zwar die Kompetenz der Länder, wird aber gleichzeitig die Anzahl der Gesetze und Paragraphen nicht verringern, sondern erhöhen. Beide Ziele - mehr Vielfalt
auf der einen Seite und eine geringere Regelungsdichte
auf der anderen Seite - gleichzeitig zu erreichen dürfte
nicht einfach sein. Vermutlich ist es sogar unmöglich.
({4})
Wir werden weiter zu untersuchen haben, wo Vielfalt zu
mehr Wettbewerb und zum Ringen um bessere Lösungen führt, aber auch zu neuen Problemen führen kann.
Vor wenigen Tagen wurde vonseiten der Länder
dezent, aber deutlich darauf hingewiesen, dass eigentlich
sie die Bundesrepublik gegründet hätten - Überschrift:
„Im Anfang waren die Länder“. Die Frage, ob es
wirklich die Länder waren, die die Bundesrepublik gegründet haben, oder ob es nach dem Krieg und dem
Zusammenbruch noch immer den Staat Deutschland
gab, ist nicht nur für Historiker und die politische Wissenschaft von Interesse.
Mit dieser Thematik verbindet sich nämlich eine andere Frage, die für uns wie für die Kommission von Bedeutung ist: Wie viel Vielfalt und wie viel Einheit wollen
wir in Deutschland? Was wollen wir eigentlich sein,
diese Bundesrepublik Deutschland oder doch eher ein
Bund deutscher Länder? Das Grundgesetz verlangt zwar
nicht identische Lebensverhältnisse in allen Ländern,
aber gleichwertige. Daher dürfte richtig sein: so viel
Vielfalt wie möglich, so viel Einheit wie nötig.
Welches Verständnis haben wir eigentlich von unserer
eigenen politischen Arbeit hier im Deutschen Bundestag? Was wollen wir selber noch regeln? Wofür wollen
wir noch die politische Verantwortung tragen? Wir leben
in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite zieht die
Europäische Union tagtäglich mehr Kompetenzen an
sich - die EU ist längst auf dem Wege, die Regelungsdichte in unserem Land zu überbieten -, auf der anderen
Seite stehen die Bundesländer, die für sich mehr Freiheiten, mehr Emanzipation und mehr Kompetenzen vom
Bund fordern. Daneben gibt es die dritte Kammer namens Vermittlungsausschuss und eine wahre Kommissionitis. Für jeden Bundestagsabgeordneten stellt sich die
natürliche Frage: Wofür ist er eigentlich noch zuständig?
Welche Kompetenz hat er? Was wollen wir zukünftig
selber und abschließend regeln?
({5})
Diese Fragen sollten wir nicht nur in der Kommission erörtern und beantworten. Auch der Deutsche Bundestag
sollte diese Frage für sich selbst beantworten. Diese Debatte müssen wir hier in diesem Hause führen.
Eine nur scheinbar andere Thematik gehört untrennbar zu dem Thema „Reform der bundesstaatlichen Ordnung“. Die Stichworte lauten hier: Deregulierung und
Entbürokratisierung. Wir werden über dieses Thema
heute noch eine gesonderte Debatte führen. Aber vor der
Frage, welche staatliche Ebene welche Kompetenzen haben und wer welche Aufgaben erfüllen soll, müsste eigentlich die Frage stehen, ob der Staat - ganz gleich an
welcher Stelle - tatsächlich all das regeln und verwalten
muss, was er in den letzten Jahren und Jahrzehnten an
staatlichen Aufgaben zuerst definiert, dann an sich gezogen und schließlich bis in das kleinste Detail geregelt
hat.
({6})
Die allseits beklagte Zunahme der Zahl von Gesetzen,
Verordnungen und Verwaltungsvorschriften geht im Gegensatz zu dem, was immer behauptet wird, auf Bundesebene munter weiter. Im Herbst 1998 hieß es in der rotgrünen Koalitionsvereinbarung: Wir werden die hemmende Bürokratie rasch beseitigen. Dabei werden wir
überflüssige Vorschriften streichen und auf diese Weise
die Regelungsdichte vermindern.
Seitdem sind knapp fünf Jahre vergangen. Es besteht
also Gelegenheit für eine kurze Zwischenbilanz. Tatsächlich hat es die rot-grüne Koalition in diesem Zeitraum geschafft, 89 Gesetze und 446 Rechtsverordnungen abzuschaffen. - Das ist die gute Nachricht.
Jetzt kommt die schlechte. Allerdings ist es derselben
Regierung im gleichen Zeitraum gelungen, 518 neue Gesetze und 1 832 neue Rechtsverordnungen zu erlassen.
Im Klartext: Es gibt heute rund 1 800 Gesetze und
Rechtsverordnungen mehr als zu dem Zeitpunkt, zu dem
diese Regierung an den Start gegangen ist. Das ist der
weltweit einzigartige Versuch, durch 1 800 Gesetze und
Verordnungen die Regelungsdichte in unserem Staat zu
vermindern und Bürokratie abzubauen.
({7})
Dieser etwas kuriose Versuch wird fortgesetzt. Vor
genau drei Wochen hat eine Kollegin der SPD-Fraktion
von dieser Stelle aus ein Heimtierschutzgesetz gefordert, mit der Begründung, es gebe in Deutschland zwar
rund 90 Millionen Heimtiere, aber wie sie lebten und
wie sie gehalten würden, das wisse der Staat nicht. Deshalb brauche man klare Regelungen auf Bundes- und
Landesebene für die Zucht, die Ausbildung, die Haltung
und den Handel von Heimtieren.
({8})
Diese Forderung ist nicht nur deshalb bemerkenswert,
weil durch sie der völlig falsche Eindruck erweckt wird,
als gelte das Tierschutzgesetz nicht für Haustiere, sondern auch, weil jetzt offenbar wieder einmal geplant
wird, ein neues Gesetzespaket auf den Weg zu bringen
und staatlichen Behörden neue Aufgaben zuzuweisen und dies ausschließlich zu dem Zweck, in Millionen von
Haushalten zu kontrollieren, ob dort Goldfische, Meerschweinchen, Katzen, Hunde und Co. nach noch näher
zu definierenden Vorschriften für die Haltung von Haustieren einquartiert sind. So geht es nicht weiter! Ich befürchte nämlich, dass diese Forderung auch noch ernst
gemeint ist.
({9})
Wir können doch nicht einerseits einen viel zu großen
öffentlichen Dienst beklagen - immer versehen mit dem
Hinweis, Anfang der 50er-Jahre gab es 2 Millionen öffentlich Bedienstete, heute sind es knapp 5 Millionen ({10})
und andererseits immer neue staatliche Aufgaben erfinden und diese den Behörden und damit den dort tätigen
Mitarbeitern übertragen. Wir müssen den umgekehrten
Weg gehen: Wir müssen jede staatliche Aufgabe dahin
gehend überprüfen, ob sie erstens tatsächlich noch notwendig ist, ob sie zweitens zwingend von staatlichen Instanzen erfüllt werden muss und drittens, wenn ja, auf
welcher Ebene sie zweckmäßigerweise erledigt werden
soll.
Wenn sich der Staat vornimmt, all das, was theoretisch geregelt werden könnte, auch tatsächlich gesetzlich
zu regeln, wenn der Staat sich vornimmt, jedes einzelne
Problem, das im Leben auftreten kann, von Amts wegen
zu lösen, dann wird dieser Staat selber zu einem Problem.
({11})
Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schily?
Ja.
Herr Kollege Bosbach, Sie haben von der Zahl der
Beschäftigten im öffentlichen Dienst gesprochen und dabei offenbar beklagt, dass diese Zahl zu groß sei.
({0})
Nein, das habe ich nicht beklagt.
Sie haben das nicht getan? - Ich möchte Sie fragen,
ob Ihnen bekannt ist, dass beim Bund die Zahl der öffentlich Bediensteten niedriger ist als nach der Wiedervereinigung.
Ich weiß, sie ist geringer als nach der Wiedervereinigung.
Ist Ihnen auch bekannt, dass die Zahl für ganz
Deutschland gilt?
Ja.
Dann möchte ich nur noch einmal hervorheben, dass
wir die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst
zurückgeführt haben.
({0})
Herr Kollege Schily, Sie haben bestimmt wichtige
Regierungsgeschäfte erledigt und nicht die Muße gehabt, mir wörtlich zuzuhören. Ich habe gesagt, wir können nicht beklagen, dass der öffentliche Dienst zu aufgebläht ist und es zu viele so genannte Bürokraten gibt,
und gleichzeitig den Behörden ständig neue Aufgaben
übertragen, das heißt, einer geringer werdenden Zahl
von Beamten immer mehr Aufgaben übertragen.
({0})
Anfang der 50er-Jahre gab es 2 Millionen öffentlich
Bedienstete, jetzt gibt es knapp 5 Millionen. Ich möchte
ein Beispiel aus meinem Heimatland, aus NordrheinWestfalen, anführen. Dort gab es Mitte der 60er-Jahre
für etwa 16 Millionen Einwohner 200 000 Beschäftigte
im öffentlichen Dienst, jetzt gibt es dort für knapp
18 Millionen Einwohner 416 000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst.
Nur dann, wenn wir uns auf unsere Kernaufgaben
konzentrieren und nicht alles regeln, was wir regeln
könnten, sondern nur das, was dringend geregelt werden
muss, kann es uns gelingen, Bürokratie abzubauen, die
Staatsquote zu senken und Freiheiten zurückzugeben.
Dann dürfte auch die beliebte Pauschalkritik am öffentlichen Dienst im Allgemeinen und an Beamten im
Speziellen nicht ständig neue Nahrung bekommen.
Demjenigen, der sich an dieser Pauschalkritik beteiligt, sei Folgendes gesagt: Die Zahl der Beamten wächst
nicht von selber, kein Beamter sitzt auf einer Planstelle,
die er selber geschaffen hat; nicht Beamte, sondern Politiker beschließen Gesetze und übertragen Aufgaben auf
Behörden und die dort tätigen Mitarbeiter.
In diesem Bereich wie auch für die Arbeit der Kommission sollte gelten: Wir müssen uns bescheiden. Die
Qualität unserer Arbeit sollte am Ende einer
Wahlperiode nicht daran gemessen werden, wie viele
Gesetze wir erlassen und - das gilt für die Regierung, die
Exekutive - wie viele Rechtsverordnungen wir in Gang
gesetzt haben, sondern daran, ob wir als Gesetzgeber
auch den Mut hatten, einmal Gesetznehmer zu sein.
Wir wollen unseren Bundesstaat erhalten und die
Länder stärken. Das ist kein Widerspruch. Klare Zuständigkeiten stärken Bund und Länder in gleicher Weise.
Klare Zuständigkeiten nützen dem Staat und vor allen
Dingen den Bürgern.
Danke fürs Zuhören.
({1})
Ich erteile der Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rotgrüne Regierungskoalition hat sich in diesem Jahr sehr
ehrgeizige Reformprojekte vorgenommen und sie auch
schnell auf den Weg gebracht. Dass unsere bundesstaatliche Ordnung nicht gerade dazu beiträgt, dass wir bei
diesen Reformprojekten schnell vorankommen, haben in
den letzten Monaten viele gemerkt. Ich glaube, das ist
auch unumstritten. Wir wollen nicht jammern und sind
auch nicht verdrießlich, sondern gehen weiter energisch
ans Werk.
Wenn inzwischen in diesem Land Konsens herrscht,
dass dieses Land dringend Strukturreformen braucht,
dann ist es in der Tat richtig und wichtig, dass wir gemeinsam einen Blick auf unsere bundesstaatliche Ordnung werfen und uns fragen, welcher Reformbedarf dort
besteht. Hier ist die Politik richtig gefordert. Deswegen
begrüßen wir es, dass die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung heute eingesetzt
wird.
Insbesondere die internationalen Herausforderungen, die sich uns stellen, haben sich geändert. Der für die
Rechtsgebung maßgebliche Wirtschaftsraum ist nicht
mehr der nationale Wirtschaftsraum. Es geht nicht mehr
nur um nationales Einheitsrecht für den nationalen Wirtschaftsraum. Der für uns maßgebliche Wirtschaftsraum
ist zunehmend das integrierte Europa, wo auch zunehmend die entsprechende Rechtssetzung stattfindet.
Gleichzeitig ist es offenkundig, dass die Globalisierung den Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften
um die besten Lösungen für ähnliche Probleme verstärkt, aber auch beschleunigt hat. Gerade die kleinen
Volkswirtschaften machen uns da zum Teil heute etwas
vor. Unsere bundesstaatliche Ordnung muss also in Bezug auf die Frage, ob sie europatauglich und unter diesen
veränderten Herausforderungen noch effizient ist, auf
den Prüfstand. Hier müssen wir als Politiker ran.
({0})
Es geht aber nicht nur um die Effizienz, sondern auch
um die Demokratiedefizite. Die Bürgerinnen und Bürger merken, dass die gestiegenen Anforderungen an Effizienz, Transparenz und Schnelligkeit einerseits und die
realen Möglichkeiten unseres Systems andererseits zunehmend auseinander driften. Es ist deutlich, dass die
Bürgerinnen und Bürger dieses Auseinanderdriften der
Politik insgesamt anlasten. Natürlich lasten sie diese Defizite der Regierung immer ein bisschen mehr an als der
Opposition. Das ist auch in Ordnung.
Aber ich war viele Jahre Oppositionspolitikerin und
bin mir ziemlich sicher, dass heute auch das Geschäft der
Opposition schwieriger geworden ist. Früher konnte
man als Oppositionspolitikerin sagen: Hurra, ich bin der
Held, wir haben etwas verhindert. Heute aber merken die
Bürgerinnen und Bürger sehr genau, dass mit Aufhalten,
Verhindern und Blockieren kein Problem in unserem
Land gelöst wird. Deswegen reicht das auch für die Opposition nicht.
({1})
Wir wollen uns hier nicht gegenseitig etwas vorwerfen. Wenn die Mehrheit im Bundesrat eine andere ist als
die Mehrheit im Bundestag, dann wird es immer die
Tendenz geben - egal, ob schwarz-gelb in Bonn regiert
wurde oder ob heute rot-grün in Berlin regiert wird -,
dass die Länderkammer für das Durchsetzen parteipolitischer Oppositionsinteressen genutzt wird.
({2})
Dabei werden die eigentlichen Länderinteressen in den
Hintergrund und an den Rand gedrängt, ganz zu schweigen von den kommunalen Interessen, die dabei gar nicht
berücksichtigt sind, und davon, dass die Landtage als
Landesgesetzgeber marginalisiert worden sind.
Was daraus erwächst, hat mit Effizienz wenig zu tun.
Es hat übrigens auch nichts mit Effizienz zu tun, dass
wir in einer nationalen Wahlperiode 16 verschiedene
Landtagswahlen haben und vor jeder Landtagswahl
nichts Wichtiges mehr entschieden werden darf. Die
Bürgerinnen und Bürger merken, dass das mit Demokratieeffizienz nichts zu tun hat.
Das, was darauf folgt, nämlich Tauschgeschäfte und
Verhandlungen, empfinden die Bürgerinnen und Bürger als intransparent; das wurde hier schon mehrfach zu
Recht gesagt. Die Leute fragen sich, wer für Entscheidungen überhaupt verantwortlich ist, wer verantwortlich
ist, wenn es in bestimmten Bereichen nicht vorangeht.
Ihnen ist nicht klar, welche Teile eines Gesetzes, das verabschiedet wurde, wem zuzuschreiben sind. Das ist ein
Demokratiedefizit, das nicht nur der Politik schadet, sondern auch dem Ansehen der Demokratie insgesamt. Zu
Recht haben die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck,
dass man sich in den Gesetzgebungsprozessen zu vielen
Fragen, ob das der Subventionsabbau oder die Gesundheitsreform ist, am Ende nicht auf die notwendigen Änderungen einigt, sondern nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Der kleinste gemeinsame Nenner reicht
heutzutage aber einfach nicht mehr aus.
({3})
Ich will unser föderatives System nicht schlechtreden.
Es hat eine Menge Vorteile: Bürgernähe, innovative
Vielfalt. Verhandlungsdemokratien gibt es auch in anderen Ländern, allerdings nicht unbedingt solche, in denen
die Landesregierungen der Teilstaaten das nationale Parlament aushebeln können. Dieses System an sich ist
nicht schlecht, wir wollen es auch nicht als Ganzes auf
den Kopf stellen. Wir wollen aber realistische Schritte
machen. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes
sind davon ausgegangen, dass 10 Prozent der Gesetze
zustimmungspflichtig sein sollten; heute stellen wir dagegen fest, dass 60 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig sind. Dieser Prozentsatz ist einfach zu hoch und
ist nicht angemessen angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen.
({4})
Es geht nicht nur darum, Demokratiedefizite zu beseitigen, sondern auch darum, die Problemlösungsfähigkeit in unserer bundesstaatlichen Ordnung zu erhöhen.
Ob wir in der Lage sind, beim Verbraucherschutz dafür
zu sorgen, dass die Bürger überall gleich gut, gleich
schnell und gleich effizient vor Krankheiten wie BSE geKrista Sager
schützt werden, ob wir in der Lage sind, EU-Umweltrichtlinien schnell, zuverlässig und unbürokratisch umzusetzen, ob wir im internationalen Wettbewerb und in der
Bildungs- und Forschungspolitik - dazu gehören Themen
wie Kinderbetreuung und Ganztagsschulen - strategieund handlungsfähig sind, das sind Fragen, bei denen unser jetziges Politiksystem auf dem Prüfstand steht.
Ich will ganz deutlich sagen: Verbesserung der Problemlösungsfähigkeit ist nicht gleich entfesselter Standortwettbewerb. Ein entfesselter Standortwettbewerb
führt teilweise auch zur Ausweitung staatlichen Handelns:
mehr indirekte Subventionen, mehr verbeamtete Lehrer.
Er führt andererseits auch zu einem Verzicht auf Einnahmen - was einer nachhaltigen Infrastrukturpolitik schadet - und setzt eine Abwärtsspirale bei Schutzrechten in
Gang. Das kann nicht die Lösung sein. Mit einem entfesselten Standortwettbewerb wird man nicht nur einen Politikstreit auslösen, sondern auch die Länder spalten. Die
Länder haben nämlich kein Interesse daran, dass die Autonomie der Starken entfesselt wird und die Schwachen
abgehängt werden. Solche Vorstellungen werden uns deshalb in der Kommission sicherlich nicht voranbringen.
Es wird uns aber voranbringen, wenn wir uns ernsthaft mit dem Thema auseinander setzen, wie Aufgaben
besser und effektiver wahrgenommen werden können
und wie wir den Wettbewerb der Länder verbessern und
eine Benchmark der Länder in Gang setzen können. Wir
müssen uns ernsthaft mit Modellen befassen - solche
sind in der Diskussion -, die Experimentier- und Öffnungsklauseln zum Inhalt haben. Es gibt verschiedene
Vorstellungen darüber, wie man diese Prozesse durch
Befristung, Zustimmungs- und durch Vetorechte begleiten kann. Eine pauschale Rückübertragung von großen
Komplexen an Gesetzgebungskompetenz an die Länder
halte ich nicht unbedingt für den richtigen Weg.
Meine Damen und Herren, es wird auch viel die Frage
diskutiert, ob wir nicht eine Neugliederung unseres
Bundesstaates brauchen. Das halte ich im Prinzip für
eine wünschenswerte Überlegung. Ich sage als Hamburgerin ganz offen: Ich bin für einen Nordstaat. Aber das
kann man nicht von oben verordnen. Wenn wir solche
Überlegungen an den Anfang stellen, dann werden wir
in der Kommission scheitern. Darin sind wir uns, glaube
ich, einig.
({5})
Worüber wir uns aber Gedanken machen sollten, ist,
wie wir Anreize für eine Kooperation der Länder schaffen können, gerade auch beim Lastenausgleich. Das
kann durchaus ein Thema für die Kommission sein.
Ich möchte noch eine Frage aufgreifen, die der Bundestagspräsident hier gestellt hat: Wie sehen wir die
Aufgabe und die Situation unserer gemeinsamen Hauptstadt in der Zukunft? Ein sozialer, fairer Wettbewerbsföderalismus und auch die Neugliederungsdiskussion werden uns diese Frage nicht beantworten. Ich weiß, dass
gerade hier in Berlin viele Menschen darauf hoffen, dass
die Kommission eine Antwort darauf gibt, wie wir in der
Zukunft Berlin als unsere gemeinsame Hauptstadt gestalten wollen. Ich glaube, deswegen wäre es gut, sich
dieser Frage anzunehmen.
Wir werden in der Kommission nicht alle Fragen beantworten können. Ich glaube aber: Wenn wir uns im
Kopf ein Stück weit davon befreien, immer nur zu bedenken, wer gerade wo die Mehrheit hat, und immer nur die
Querelen des Tagesgeschäftes im Blick zu haben, und
wirklich rollenübergreifend in die Zukunft schauen, dann
können wir in dieser Kommission die notwendigen,
wichtigen Schritte gemeinsam tun. Das ist für das Land
und das Ansehen der Politik in der Zukunft auch nötig.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Gerhardt,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der FDP wird, wie es auf dem Antrag ja auch steht
- sie ist eine der Antragstellerinnen -, der Vorlage zustimmen, mit der wir uns an die Arbeit begeben wollen,
ein Stück mehr Transparenz in das Gefüge der politischen Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland zu
bringen; darum geht es.
Ich glaube, dass wir das auch können, weil jeder von
uns - egal wo er seinen politischen Standort hat - spürt,
dass man nicht mehr ausreichend vermitteln kann, für
was man selbst die politische Verantwortung trägt, was
man hat entscheiden können und was nicht und wo die
übrigen Positionen lagen. Mit Blick auf die spätere
Wahlbeteiligung und die politische Wachsamkeit sowie
das politische Interesse der Bevölkerung haben wir alle
ein massives Interesse daran, dass diese Sachverhalte in
der Öffentlichkeit klarer werden, als sie heute sind.
({0})
Der Kollege Müntefering hat zu Recht gesagt, dass
das Grundgesetz überhaupt nicht zur Disposition steht.
Das Grundgesetz ist eine äußerst kluge Verfassung, seine
Mütter und Väter bewiesen große Klugheit angesichts
der historischen Erfahrung. Durch das Grundgesetz wird
die einzigartige Chance eröffnet, zur Balance of Power,
zu einem Machtgleichgewicht, zu Machtkontrolle und
Kontrollmechanismen in einem demokratischen Staat zu
kommen. Trotz dieser Verfassung wird aber niemandem
in Deutschland mehr klar, wie diese ausgeübt werden. Es
ist wahr, dass wir herausgefordert sind, das wieder deutlicher zu machen.
({1})
Das bedeutet zuallererst, dass wir den einzelnen staatlichen Ebenen wieder die Fähigkeit geben müssen, einen
größeren Teil ihrer eigenen Angelegenheiten selbst zu
regeln - das muss auch öffentlich deutlich werden -,
({2})
und zwar beginnend von unten. Das heißt: Hier im Bundestag ist in absehbarer Zeit die Entscheidung unumgänglich, das - auch wenn dieses Fremdwort schwer zu
vermitteln ist - Konnexitätsprinzip zum Prinzip der politischen Entscheidung zu machen. Wenn es nach der
Fraktion der FDP ginge, müsste dies im Grundgesetz
klar und eindeutig an hervorragender Stelle verankert
werden.
({3})
Wir können nicht immer nur über die Eigenständigkeit der Gemeinden reden, ohne dass wir das im Grundgesetz fein formulieren, was der Kollege Bosbach mit
dem verständlichen Ausdruck „Wer die Musik bestellt,
bezahlt sie auch“ umschrieben hat. Ein Kommunalvertreter kann für die Wähler nur dann glaubwürdig eintreten, wenn er auch Verantwortung übernehmen kann. Aus
welchen politischen Gründen auch immer - die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland war in der Wirklichkeit nun einmal so - sind die Länder heute sowohl
bezüglich ihrer Finanzierungsgrundlagen als auch bezüglich ihrer tatsächlichen eigenen Fähigkeiten - ich
denke an das, was ein Landtag heute wirklich noch entscheiden kann - ernsthaft in Bedrängnis geraten.
Es wird hier beklagt, dass die Länder über den Vermittlungsausschuss immer mehr in die Position geraten,
Entscheidungen dieses Parlaments zu verzögern und zu
beeinträchtigen. Sie selbst sind aber auch in keiner beneidenswerten Lage. Unsere Kolleginnen und Kollegen
in den Landtagen würden uns hier wahrscheinlich einen
Vortrag darüber halten, dass man sich die Frage stellen
muss, was außer den Fragen bezüglich der Begleitung
des Verwaltungshandelns in den Ländern tatsächlich
noch zu entscheiden ist. Die Länder müssen ein Interesse
daran haben, sich Spielraum zu verschaffen. Wenn sie
diesen Spielraum nutzen wollen, dann können sie sich
nicht ausschließlich auf die Begleitung der Bundesgesetzgebung konzentrieren, um sich dort politisch zu profilieren. Sie müssen zur Ausgestaltung ihres Wirkungskreises politisch konzeptionell arbeiten können. Einen
solchen Wettbewerbsföderalismus streben wir an.
Wir wollen keinen entfesselten Wettbewerb. Die Regeln der Fairness müssen eingehalten werden. Auch in
einem Wettbewerbsföderalismus - Professor Böhmer hat
es zum Ausdruck gebracht - muss Chancengleichheit
gelten. Man kann den ostdeutschen Bundesländern heute
nicht ausschließlich Wettbewerbsföderalismus predigen,
wenn die politisch Verantwortlichen nicht einmal die
Chance haben, von der gleichen Linie aus zu starten, um
am Wettbewerb teilzunehmen. Das ist völlig klar.
({4})
Hier wären Sonderzuweisungen des Bundes begründet. Allerdings darf das nicht auf Kosten politischer Führungsfähigkeit in den westdeutschen Bundesländern gehen. Das Budget des Saarlands beispielsweise deckt
ohne Zuweisungen des Bundes noch nicht einmal die
Kosten der eigenen Verwaltung. Deshalb ist ein Stück
Courage notwendig, um die Finanzierungsgeflechte aufzulösen.
Wahr ist, dass uns zwei erkennbare Schwächen an der
Umsetzung solcher Entscheidungen hindern. Die eine
Seite ist unsere eigene mangelnde Courage zu wirklicher
politischer Führung. Die andere Seite - auch das ist
wahr - ist, dass wir uns ein Geflecht von politischen Beteiligungsmechanismen, das sich in unseren Gesetzen
widerspiegelt, aufgebaut haben, das nichts mehr mit der
Balance of Power zu tun hat, die die Verfasser des
Grundgesetzes diesem Land geben wollten.
({5})
Das müssen wir ändern. Deshalb ist die Einsetzung
dieser Kommission richtig. Herr Kollege Müntefering,
ich will mich nicht wiederholen, aber auf Folgendes hinweisen: Nach unserer Überzeugung wäre es besser gewesen, diese Aufgabe in einem Konvent zu verhandeln.
Ich bin nämlich der Auffassung, dass wir keine abgestimmte Ausübung der Stimmrechte brauchen. Auch die
Gemeinde- und Landtagsvertreter hätten wie wir Stimmrecht bekommen sollen. Ein Konvent hätte mehr politischen Druck als eine Kommission gemacht. Aber sei es
drum! Sich überhaupt an diese Arbeit zu machen war für
uns wichtiger.
Frau Kollegin Sager, Sie haben vom Profil der Länder
gesprochen. Es geht nicht darum, dass mit einem Wettbewerbsföderalismus nun ein riesiger Standortwettbewerb einsetzt. Aber es ist doch legitim, dass ein Land
seine Chancen zu nutzen sucht. Wenn jemand in einem
Land Verantwortung trägt, ist es doch vernünftig, dass er
sich in einen Wettbewerb begibt, dass er auf dem Arbeitsmarkt, bei der Investitionsvergabe, bei Standortentscheidungen, bei der Infrastruktur und beim Bildungswesen eine bessere Politik zu machen versucht als ein
benachbartes Bundesland. Das ist legitim und auch
Wählerauftrag. Es geht nicht um einen ruinösen Wettbewerb, sondern es geht darum, eine gute politische Leistung zu erbringen und dafür die Früchte zu ernten.
({6})
Eine solche gute politische Leistung kann heute nicht
mehr erbracht werden; denn durch den jetzigen Finanzausgleich besteht mehr und mehr die Gefahr, dass erfolgreiche Politik bestraft wird: Über die Transfers kann
so manches erfolgreiche Land an die Grenze der Überforderung gebracht werden. Das ist keine Chancengleichheit; denn zur Chancengleichheit gehört auch
Chancengerechtigkeit. Einem Land, das in einem wettbewerblichen System mit überzeugender Politik erkennbar erfolgreicher als ein anderes ist, muss aus Gründen
der Chancengerechtigkeit eine Belohnung für diese gute
politische Leistung zuteil werden können. Dies aber ist
nicht mehr sichergestellt. Das muss erörtert werden.
Wir wollen nicht die Verfassung auf den Kopf stellen
oder das Grundgesetz ändern. Wir wollen - das ist die
Absicht der Fraktion der FDP und der Vertreter, die wir
entsenden - der föderalen Ebene ein Stück Entscheidungskraft zurückgeben, was nach unserem Verständnis
so in unserem Grundgesetz vorgesehen war, als unsere
bundesstaatliche Ordnung nach 1945 geschaffen wurde.
Wenn man den Ländern Möglichkeiten zu Entdeckungsverfahren geben will, was eine Notwendigkeit ist, Frau
Kollegin Sager - das ist von Ihnen ausgedrückt worden
und entspricht auch meiner Haltung; wir wollen ihnen
Möglichkeiten zu Entdeckungsverfahren geben -, dann
muss man das auch glaubwürdig durchhalten. Dann gilt
das auch für viele Bereiche der Gestaltung des sozialen
Lebensumfeldes und nicht nur der wirtschaftlichen Entwicklung. Wenn sich Lösungen in Entdeckungsverfahren bewähren, dann muss man sie den Ländern auch
ermöglichen, auch wenn sie nicht der politischen Mehrheitsmeinung derer entsprechen, die auf Bundesebene
demokratisch legitimiert für bestimmte Zeit Verantwortung haben.
({7})
Wenn ein Land zum Beispiel das Umfeld von Sozialhilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Arbeitslosenhilfe mit
anderen Mechanismen anders als die Mehrheit hier regeln möchte - und zwar ohne Mindeststandards zu unterschreiten -, dann muss man die Courage haben, dieses
Land das auch machen zu lassen. Wettbewerbsföderalismus heißt, dass von einigen bessere Ergebnisse als
von denen erzielt werden können, die alles überall gleich
regeln wollen.
({8})
Wenn Hochschulen miteinander im Wettbewerb stehen, dann muss man es der Autonomie der Länder und
der Hochschulen überlassen, ob sie Studiengebühren erheben oder nicht, und dann darf der Bundesgesetzgeber
nicht Studiengebühren verbieten.
({9})
Dann werden wir sehen, welche Hochschulen aufgesucht werden und welche nicht.
Wenn man ein Bundesgesetz macht, dann sollte man
Experimentierklauseln für die Länder einführen, weil
in den Ländern Kolleginnen und Kollegen von uns, wie
auch immer die Mehrheiten sind, in politischer Verantwortung sind, die nicht nach dem Schlimmen trachten,
sondern sich vielleicht durch eine individuell andere Lösung nicht nur selbst im Wettbewerb besser behaupten
wollen, sondern auch glauben, damit einen Beitrag zur
Lösungskompetenz des Gesamtstaates zu leisten.
({10})
Zum Abschluss, meine Damen und Herren: Es macht
sich niemand etwas vor; es ist offen, ob wir einen großen
Sprung schaffen. Das ist eine mühselige Arbeit. Aber
egal, wo unser politischer Standort ist: Wir müssen ein
massives Interesse daran haben, dass die Öffentlichkeit
wieder erkennen kann, wer welche politischen Ziele vertritt, wer sie wie begründet und wer wofür Verantwortung hat. Man kann unterliegen oder man kann Wahlen
gewinnen, aber es muss wieder Klarheit herrschen.
Ich habe die Hoffnung, dass wir ein Ergebnis zustande bringen, das es uns erlaubt, in den jeweiligen parteipolitischen Vorhaben das besser zu begründen, als wir
es heute bei Wahlen und in der Öffentlichkeit transparent
begründen können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile das Wort Bundesministerin Brigitte
Zypries.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt es
sehr, dass Sie heute über alle Fraktionsgrenzen hinweg
die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von
Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung einsetzen wollen. Morgen wird
ein vergleichbarer Beschluss im Bundesrat gefasst werden. Beide Institutionen sind sich darin einig, dass unsere bundesstaatliche Ordnung modernisiert werden
muss.
Diese Erkenntnis teilt die Bundesregierung. Wir haben deshalb schon vor gut einem Jahr auf Initiative des
Bundeskanzlers eine Arbeitsgruppe eingesetzt, geleitet
vom Bundeskanzleramt, die Vertreter der Ministerien
und der Staats- und Senatskanzleien der Länder umfasst,
in der wir uns mit eben diesem Thema befasst haben, das
Sie sich vorgenommen haben.
Wir haben auch den Befund zur Kenntnis nehmen
müssen, dass, wie Herr Gerhardt gerade sagte, für die
Bürgerinnen und Bürger offenbarer werden muss, wer in
diesem Lande eigentlich wofür zuständig ist, wer die politische Verantwortung trägt und wen demzufolge Bürgerinnen und Bürger bei der nächsten Wahl, sei es die
Bundestagswahl oder eine Landtagswahl, wieder abwählen können, weil er nicht das gemacht hat, was sie sich
vorgestellt haben.
Diese Wahrnehmung ist heute nicht mehr möglich.
Denken Sie an die großen Verfahren. Das letzte war das
Zuwanderungsgesetz. Es ist nicht mehr klar, wer eigentlich die politische Verantwortung trägt. Das muss wieder
geändert werden. Das muss aber im Rahmen dieses Systems geändert werden, denn der Föderalismus hat sich
im Grundsatz in Deutschland bewährt. Dagegen wird
man sicherlich nichts sagen können. Insofern, glaube
ich, ist der Begriff Konvent, Herr Gerhardt, eher mit
einer grundsätzlichen Reform der Verfassung oder mit
einer Neuschaffung von Verfassung belegt. Das ist
etwas, was wir nicht brauchen. Wir brauchen bestimmte
Korrekturen an Stellschrauben, und zwar im Blick auf
Probleme, die noch nicht einmal vom Grundgesetz selber verursacht worden sind, sondern im Wesentlichen
von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der
letzten 50 Jahre. Diese Korrekturen sind notwendig,
nicht aber grundsätzlich neue Überlegungen im Sinne eines Konvents. Von daher halte ich es für richtig, dass Sie
sich auf die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung beschränkt haben und sich damit
ausdrücklich auf die bestehende bundesstaatliche Ordnung beziehen.
Wenn wir feststellen, dass wir den Föderalismus zukunftsfähig gestalten und mehr Handlungsfähigkeit für
Bund und Länder erreichen müssen, dann würde ich
- das sehen Sie mir sicherlich nach - darauf Wert legen,
dass auch der Bund mehr Zuständigkeiten bekommt. Es
kann nicht nur darum gehen, dass die Länder mehr Gesetzgebungskompetenzen und Verantwortung bekommen, sondern auch für den Bund ist dies notwendig.
Denn viele der Veränderungen beziehen sich auf eine
verminderte Verantwortung des Bundes. Ich denke in
diesem Zusammenhang an Art. 84 Grundgesetz und die
Frage der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen.
({0})
Die Bundesregierung geht davon aus, dass wir mit der
angestrebten Reform drei Ziele verwirklichen müssen.
Wir brauchen mehr Klarheit und Wahrheit bei der Aufgabenverteilung - das erwähnte ich bereits -, straffere
Entscheidungsprozesse und vor allen Dingen einen europatauglichen Bundesstaat.
({1})
Das heißt, wir brauchen eine Form der Gesetzgebung,
die auch auf die Anforderungen reagieren kann, die aus
Europa auf uns zukommen.
Zum Thema Gesetzgebungskompetenzen - ich habe
das eben schon angedeutet - bestand in der Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern auf der Ebene der
Staats- und Senatskanzleien und des Kanzleramtes bereits in einem Punkt grundsätzlich Einigkeit, nämlich
dass die Rahmengesetzgebung - das heißt, die Kompetenzverteilung, nach der zunächst der Bund einen Rahmen setzt, innerhalb dessen den Ländern die Ausführung
obliegt - abgeschafft werden sollte.
Diese Form der Gesetzgebung führt dazu, dass Verantwortlichkeiten verschwimmen. Sie führt aber auch
dazu, dass wir EU-Vorgaben nicht in der von der EU
vorgesehenen Zeit umsetzen können. Der Bund hat in
der Vergangenheit schon häufiger erhebliche Strafen
zahlen müssen, weil einzelne Länder bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt haben. Wir meinen, das geht zukünftig nicht mehr an. In diesem Bereich müssen wir
insgesamt schneller tätig werden.
Wir sind in dieser Debatte sehr offen in der Frage, inwieweit den Ländern Kompetenzen übertragen werden
bzw. inwieweit sie vollständig dem Bund übertragen
werden sollten. Das muss man im Einzelfall prüfen, um
dann zu einer Entscheidung zu kommen.
Man muss sich aber auch über eines im Klaren sein:
Der Bundesgesetzgeber wird sich nicht einfach aus Bereichen zurückziehen können, in denen er bisher bundeseinheitliche Regelungen geschaffen hat. Das heißt,
es muss im Einzelfall geprüft werden, wo im Sinne der
Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit in Deutschland oder auch zur Wahrung der gleichwertigen Lebensverhältnisse einheitliche Regelungen notwendig sind.
Johannes Rau hat einmal festgestellt, wir hätten keinen
föderalen Bundesstaat beschlossen, damit alle Länder
möglichst heftig gegeneinander kämpfen und abweichende Regelungen schaffen; vielmehr sei das Ziel eines
solchen Staates, im Grundsatz die gleiche Richtung einzuschlagen. Ich glaube, wir sollten diese sehr einleuchtende Erkenntnis, die nur unterstrichen werden kann,
auch in dieser Debatte zur Kenntnis nehmen. Es kann
nicht darum gehen, dass wir die Vielfalt um der Vielfalt
willen propagieren. Ansatzpunkt sollten vielmehr die Interessen der Menschen sein, die in diesem Staat leben,
und die Frage, wie die Zuständigkeiten in deren Interesse formuliert werden sollten.
({2})
Das bedeutet auch, dass wir einheitliche umweltrechtliche und soziale Schutzstandards bewahren müssen. Es
geht nicht an, dass Sozialgefälle von Ost nach West oder
von Nord nach Süd entstehen.
({3})
- Nein, mich verlässt keineswegs der Mut. Die Frage ist,
wen irgendwann der Mut verlässt, weil das nämlich auch
heißt, dass man Kompetenzen abgeben muss. Das wird
in dieser Debatte gerade für die Länder nicht einfach
werden. Denn der wesentliche Punkt im Zusammenhang
mit der Verantwortungsteilung nach Art. 84 wird von
den Ländern sehr viel Mut erfordern.
({4})
Das Grundgesetz sieht in Art. 84 das Erfordernis einer Zustimmung der Länder eigentlich nur dort vor, wo
es um Verwaltungsverfahren und die Einrichtung der Behörden geht. Die enorme Menge von Zustimmungsgesetzen, die hier schon mehrfach beklagt worden ist, geht
auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
zurück.
Im Grunde muss eine Norm gefunden werden, aus der
hervorgeht, dass die Verfassungsgeber das Grundgesetz
nicht so gemeint haben, wie es das Bundesverfassungsgericht auslegt, sondern so, wie es in der Verfassung
steht.
({5})
Eine solche Norm zu formulieren wird schon schwierig
genug sein.
Wir können allerdings insofern entspannt reagieren, als
die Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts erkennen
lässt, dass inzwischen auch die Bundesverfassungsrichter der Meinung sind, dass ihre bisherige Auslegung
nicht mehr zeitgemäß ist. Es gibt erste Bewegungen, die
vermuten lassen, dass das Bundesverfassungsgericht selber Art. 84 des Grundgesetzes wieder anders auslegen
wird. Wir müssen das auf jeden Fall auf die ursprüngliche Formulierung zurückführen. Das wird von den Ländern erheblichen Mut erfordern; denn das bedeutet natürlich, dass die Ministerpräsidenten nicht mehr in der
bisherigen Weise über den Bundesrat bei Themen mitregieren können, für die sie nicht gewählt sind. Zu welBundesministerin Brigitte Zypries
chem Ergebnis die Kommission à la longue kommen
wird, ist für meine Begriffe noch nicht geklärt. Allein die
Tatsache, dass die Landesparlamente dafür mehr Kompetenzen erhalten werden, wird die Ministerpräsidenten
im Zweifel nicht entschädigen. Die Frage nach dem Mut
muss also auch auf der Seite der Länder beantwortet
werden.
Lassen Sie mich noch einen Gesichtspunkt erwähnen,
den ich schon eben angesprochen habe. Die föderale
Ordnung muss auch europatauglich werden. Wir müssen also sehen, dass in den Kompetenzbereichen wie
zum Beispiel dem Umweltrecht ein übergreifender Ansatz besteht. Es interessiert in Europa niemanden, wie
wir unser innerstaatliches Rechtssystem, zum Beispiel
die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern,
organisiert haben. Es wird vielmehr verlangt, dass wir
insgesamt reagieren. Es wird in Brüssel nicht wahrgenommen, dass wir bei den Gesetzgebungskompetenzen
jeweils nach Luft, Wasser und Boden unterscheiden und
dementsprechend differenziert handeln müssen. Es kann
außerdem nicht sein - das sagte ich bereits -, dass wir in
Brüssel Strafen dafür zahlen müssen, dass einzelne Länder ihre Hausaufgaben nicht machen und das, was beschlossen worden ist, nicht rechtzeitig umsetzen. Deshalb brauchen wir auch im Hinblick auf Europa eine
Straffung der Kompetenzen und eine deutlichere Zuordnung der Zuständigkeiten.
Wenn die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Erfolg haben soll, dann - so
meine ich - sollte sie sich zunächst auf das beschränken,
was unter den ersten beiden Spiegelstrichen im Einsetzungsantrag behandelt ist, nämlich auf die Beantwortung
der Frage nach der bundesstaatlichen Ordnung. Das, was
unter dem letzten Spiegelstrich aufgeführt ist - hier geht
es um die Finanzverfassung -, sollte erst dann behandelt
werden, wenn man hinter die ersten beiden Spiegelstriche einen Haken machen kann.
({6})
Es besteht - so meine ich wenigstens - eine erhebliche Gefahr, dass das eintritt, was der Bundestagspräsident heute Morgen in seiner Rede sagte, nämlich dass
der Berg kreißt und ein Mäuschen gebiert. Das kann geschehen, wenn man zu viele Themen auf einmal anpackt
und sich in der zur Verfügung stehenden Zeit - das ist
die laufende Legislaturperiode - nicht darauf verständigen kann, alles zum Abschluss zu bringen. Die Probleme
der Welt, die heute Morgen teilweise als Probleme des
Bundes, der Länder und der Kommunen diagnostiziert
wurden - hinzu kommt noch die europäische Verfassung -,
wird die Kommission sicherlich nicht lösen können.
Deshalb meine ich, dass wir schon eine Menge geschafft
hätten, wenn es uns gelingen sollte, die Zuständigkeiten
im Zusammenhang mit der Rahmengesetzgebung, mit
Art. 84 und in anderen Punkten wirklich zu reformieren.
Im Interesse eines solchen Ergebnisses sollte man also
bei der Wahl der Aufgaben bescheiden bleiben. Man
sollte zunächst mit einfachen Schritten beginnen und die
von mir angesprochenen Themen abarbeiten. Erst dann
sollte man sich an den finanzverfassungsrechtlichen Teil
heranwagen.
Ich jedenfalls wünsche allen Mitgliedern der Kommission eine glückliche Hand und den erforderlichen
Mut. Die Bundesregierung wird die Arbeit der Kommission unterstützen, wo immer sie es kann.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Deutsche Bundestag und - morgen - der
Bundesrat machen sich an eine gewaltige Aufgabe, eine
Aufgabe, die, wie Wolfgang Bosbach gesagt hat, spröde
wirkt und bei der viele Menschen gar nicht verstehen
können, worum es dabei eigentlich geht. Deswegen
wünsche ich mir, dass die Vorsitzenden, aber auch alle
Mitglieder der Kommission über die Kommissionsarbeit
in einer Art und Weise berichten, dass die Menschen erkennen, dass es hier nicht um irgendeine Formalie zwischen Bund, Bundesländern und Bundesrat sowie zwischen Ministerien und verschiedenen Behörden geht,
sondern um etwas, was die Menschen in ihrem täglichen
Leben betrifft.
({0})
Dies wird dann auch die notwendige Beteiligung weit
über den Bundestag und den Bundesrat hinaus ermöglichen.
Mein Wunsch, Herr Kollege Gerhardt, könnte nun
dahin gehend interpretiert werden, dass genau der Konventsgedanke, den Sie angesprochen haben, dies befördern könnte. Ich habe diese Idee aber in einem Beitrag
in einem Magazin beleuchtet und bin zu dem Ergebnis
gekommen, dass die Zusammensetzung eines Konventes die Aufgaben nicht erleichtert, weil danach im Deutschen Bundestag und im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden muss. Deswegen haben
wir - zwar nicht als Verpflichtung, aber am Rande unseres Einsetzungsbeschlusses - den Wunsch formuliert,
dass auch alle Beschlüsse in der gemeinsamen Kommission mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden; denn
dann haben sie die größte Chance, umgesetzt zu werden.
Worum geht es ganz konkret? Es geht nicht, wie
manche meinen, um eine Verfassungskommission, die
viele Punkte regeln soll. Es geht im Kern um eine zentrale politische Frage in der Demokratie: Wer ist für
was zuständig und wer trägt Verantwortung für Entscheidungen? Nur dann, wenn diese Frage beantwortet
wird, ist es den Bürgerinnen und Bürgern in einer
Demokratie möglich, bei Wahlen ihr Urteil darüber
abzugeben, ob die Entscheidungen richtig gefallen sind
oder nicht.
({1})
Wenn ich in Veranstaltungen bin, bin ich immer wieder beunruhigt, wenn wir, wie beispielsweise morgen
- um ein ganz konkretes Beispiel anzusprechen -, über
Arbeitsmarkt und Bundesanstalt für Arbeit sprechen und
entscheiden werden. Dann berichten die Medien darüber, wie die Bundesanstalt für Arbeit in Zukunft organisiert wird, wie Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aussehen werden und in welcher Größenordnung
Arbeitslosengeld bezahlt wird. Dann beginnt eine Diskussion darüber, was der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Drei bis sechs Wochen später erleben die Menschen auf einmal, dass ein ganz anderes Ergebnis
herausgekommen ist. Derjenige, der sich nicht jeden Tag
mit Politik beschäftigt, versteht überhaupt nicht, was
passiert ist, und denkt: Am Freitag, dem 17. Oktober, hat
der Bundestag entschieden, wie das aussehen soll, und
sechs Wochen später, am 26. November, beschließt er etwas ganz anderes - die in Berlin müssen irre sein. Dieser
Zustand muss geändert werden. Wir müssen klare Zuständigkeiten haben und dürfen nicht eine verwirrende
Botschaft an die Menschen in unserem Land aussenden.
({2})
Ich habe die große Ehre und Freude, im Vermittlungsausschuss tätig zu sein - eine Tätigkeit, die viel
Zeit kostet. Der Vermittlungsausschuss ist eine Einrichtung, in der gestaltet werden kann. Aber genau das, was
vielfach von Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen im Deutschen Bundestag gefordert wird, nämlich
dass wir mehr an der Entscheidung über Gesetze beteiligt sein müssen, findet im Vermittlungsausschuss nicht
mehr statt. Ein Gesetz kommt ganz anders aus dem Vermittlungsausschuss heraus, als es hineingekommen ist.
Dann kann ich meiner Fraktion oder kann der Kollege
Schmidt seiner Fraktion am Freitagmorgen nur sagen:
Leute, gestern Nacht war Vermittlungsausschuss, ihr
könnt mit Ja oder Nein stimmen; mehr ist nicht mehr zu
machen. Mancher fragt sich dann: Wer hat unser Gesetz
so zerstört? Deswegen muss die Aufgabe des Vermittlungsausschusses so definiert werden, dass sie eine Ausnahme und nicht der Regelfall ist. Herr Kollege
Müntefering hat darauf ganz entschieden hingewiesen.
({3})
Damit keine Missverständnisse entstehen, will ich gleich
dazusagen: Solange die Kompetenzen so verteilt sind
wie jetzt, werden wir natürlich unsere Einflussmöglichkeiten im Interesse des Landes, um für die Menschen
bessere Gesetze zu bekommen, nutzen müssen. Wir werden sie auch nutzen.
({4})
Im Rahmen der Vorbereitung dieser Kommission sind
immer wieder folgende Fragen gestellt worden: Entmachtet sich der Bundestag selbst? Welche Aufgaben
bleiben für ihn noch übrig, wenn auf der einen Seite das
Europäische Parlament und auf der anderen Seite die
Landesparlamente stehen? Was haben wir eigentlich
noch zu tun? Diese Fragen ängstigen mich überhaupt
nicht. Vor dem Hintergrund mancher Debatte und mancher Initiative der Fraktionen meine ich, wir könnten
angesichts der Größe der Aufgaben des Deutschen Bundestages noch manches konzentrieren. Zur Regierungskoalition gewandt, möchte ich fragen: Wäre es nicht,
wenn wir uns von einigen Aufgaben trennten, wieder
eher möglich, mehr im Deutschen Bundestag miteinander zu besprechen?
Wir hätten dann wieder mehr Zeit und es müssten, vor
allem aufseiten der Regierung, nicht so viele Kommissionen eingesetzt werden. Dies wäre ein schöner Gewinn.
Der Herr Präsident hat heute darauf hingewiesen, dass
ich gefordert habe, den Ländern mehr Kompetenz und
mehr Macht zukommen zu lassen. Herr Präsident, Sie
haben das völlig richtig wiedergegeben. Ich werde
gleich zwei konkrete Fragen stellen, durch die verständlich wird, was in dieser Kommission passiert oder passieren könnte. Heute, mehr als zehn Jahre nach der deutschen Einheit, sind die Lebensverhältnisse in den
neuen und in den alten Bundesländern noch immer
unterschiedlich; dennoch haben wir hier, im Deutschen
Bundestag, Sachverhalte zu regeln, die wir weitgehend
nur einheitlich regeln können. Warum muss aber über
die Sozialhilfe und ihre Höhe hier im Deutschen Bundestag, also zentral, entschieden werden? Könnten dies
die Länder unter Berücksichtigung ihrer besonderen Situation nicht viel besser machen?
({5})
Die Länder könnten zielgenauer reagieren.
Morgen werden wir im Deutschen Bundestag über
„Hartz IV“ diskutieren. Für die Menschen ist überhaupt
nicht erkennbar, was sich dahinter verbirgt. Es geht um
die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer neuen Form von Hilfe mit einer einheitlichen Höhe. Wir, die wir aus den alten Bundesländern
kommen, müssen erkennen, dass sich die Situation in
den neuen Bundesländern - die Arbeitslosigkeit liegt
dort teilweise bei 25, 27 oder 28 Prozent; der Mittelstand
ist dort noch nicht so ausgebaut wie im Westen, weswegen man dort weniger Möglichkeiten hat - anders als in
den alten Bundesländern darstellt, wo die Arbeitslosigkeit teilweise bei 5, 6, 7 oder 8 Prozent liegt. Deswegen
liegt es im Interesse der Menschen - es geht gar nicht
um die Interessen der Länder oder des Bundes -, dass
die Politik näher an ihre Lebenswirklichkeit herankommt. Das können die Länder in vielen Bereichen besser als der Deutsche Bundestag.
({6})
Frau Kollegin Sager, ich trete leidenschaftlich für den
Wettbewerbsföderalismus ein. Es geht dabei nicht
- der Kollege Gerhardt hat das richtig dargestellt - um
einen Wettbewerb, der isoliert in jedem einzelnen Land
und ohne Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt stattfindet. Wir wissen sehr genau, dass es einen
Länderfinanzausgleich geben muss. Er wird durch die
Arbeit dieser Kommission überhaupt nicht zur Disposition gestellt. Aber wer Wettbewerb will - jeder, der den
Föderalismus stärken will, muss Wettbewerb wollen; da
sollten wir uns nicht in die Tasche lügen -, muss den am
Wettbewerb Teilnehmenden die Chance geben, durch die
bessere Erfüllung von Aufgaben für sein Land mehr zu
erreichen. Mehr Föderalismus und mehr Wettbewerb
heißt, dass die einzelnen Länder trotz des Länderfinanzausgleichs mehr von den Erträgen ihrer Arbeit behalten.
({7})
Ein in diesem Sinne verstandener Wettbewerbsföderalismus findet in den Ländern schon in ganz anderer Art
und Weise statt, und zwar mit großem Erfolg. In den
Ländern, aber auch in der ganzen Republik stehen die
Städte und Gemeinden im Wettbewerb. Es geht darum,
wie eine Kommune Aufgaben besser erfüllen kann als
die Nachbarkommune. Es geht darum, ob sie sich für
diese oder für jene Investition entscheidet. Genau dieser
Wettbewerb hat uns auf kommunaler Ebene enorm vorangebracht. Es sind neue Ideen entstanden.
Ich nenne wieder ein Beispiel aus dem Bereich, über
den wir morgen sprechen wollen. Warum meinen wir im
Bundestag, besser zu wissen, wie in einer Stadt mit
20 000 Einwohnern Arbeitsvermittlung stattfinden
sollte, und trauen der Kommune nicht zu, das selbst zu
entscheiden? Warum wollen wir das zentral steuern?
({8})
Damit bin ich wieder bei meinem Thema. Es geht
ganz entscheidend darum, den Menschen zu vermitteln:
Hier sitzen nicht zwei große Gremien der Demokratie,
Bundestag und Bundesrat, zusammen, um über die Aufgabenverteilung und darüber, wer was kann, zu streiten.
Vielmehr haben wir hier das Ziel, eine Verbesserung
der Entscheidungsstrukturen zu erreichen, um mit unseren Entscheidungen, den Entscheidungen von Bund
und Ländern, näher bei den Menschen zu sein. Auf diesem Weg wünsche ich viel Erfolg und viel Glück. Herr
Präsident, Sie haben mich zitiert. Jawohl, wir sind bereit,
dazu beizutragen. Wir wollen, dass dieses große Vorhaben im Interesse der Menschen zum Erfolg geführt wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen
in dieser Legislaturperiode vor einer ganz entscheidenden Weichenstellung. Es geht um nicht weniger als um
die Reformierbarkeit der politischen Entscheidungsstrukturen unserer Republik. Die Demokratie - Herr
Kauder hat das beschrieben - hat eine Vertrauenskrise,
weil viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen,
wer welche Entscheidungen zu verantworten hat, warum
bestimmte Reformen sozusagen halbiert aus dem Vermittlungsausschuss herauskommen und warum die Bundestagsmehrheit, die einen demokratischen Gestaltungsauftrag bekommen hat, an bestimmten Punkten durch
den Bundesrat gehindert ist, den Auftrag der Wählerinnen und Wähler auch so umzusetzen, wie sie ihn umsetzen will. Die Verfassungsreform, die 1994 gescheitert ist,
muss jetzt gelingen. Es stehen an eine Neuaufstellung der
staatlichen Ebenen und eine Reform der Institutionen,
des Institutionengefüges dieser Republik.
Als Frankreichs vierte Republik 1958 feststellte, dass
ihre Institutionen nicht mehr in der Lage waren, die Herausforderungen der Zeit zu bewältigen, hat man sich
dort dafür entschieden, das verfassungsrechtliche Gefüge grundsätzlich zu reformieren. Wir sprechen heute
von der fünften Republik in Frankreich.
Gelingt mehr als eine redaktionelle Überarbeitung des
Grundgesetzes, nämlich, wie es in dieser Debatte anklang, eine grundsätzliche Reform der Gesetzgebungskompetenzen sowie der Finanzverteilung und der Finanzströme, dann wird man in Deutschland von einer
dritten deutschen Republik sprechen können. Das erste
Kapitel dieser Republik wäre am Ende dieses Reformprozesses aufgeschlagen.
Frankreich hat zu seiner Verfassung am Ende jenes
Prozesses damals eine Volksabstimmung durchgeführt.
Volksabstimmungen zu ermöglichen und unsere Verfassung endlich auch dem deutschen Volk vorzulegen
wäre, meine ich, ein Thema, über das wir in diesem Zusammenhang ebenfalls diskutieren sollten.
({0})
Die anstehende Föderalismusreform bietet in erster
Linie neue Chancen für unsere Demokratie. Sie bietet
die Möglichkeit, Verantwortung erkennbar zu machen
und auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich zu
machen, welche Akteure, welche Parteien politisch die
Verantwortung für Gesetzgebungsvorhaben oder für die
Verhinderung solcher Vorhaben tragen. Der Wahldemokratie laufen heute die Wählerinnen und Wähler weg.
Wir können mit der Föderalismusreform dafür sorgen,
die Demokratinnen und Demokraten wieder zurückzugewinnen, und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass es sich lohnt, mitzumachen.
Unser Föderalismus ist kein starres Gebilde, sondern
muss als dynamisches System fortentwickelt und an
aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Die Institutionen haben sich in 50 Jahren Verfassungsgeschichte
immer weiter ineinander verkantet.
({1})
Das Ergebnis ist allzu oft Stillstand.
Volker Beck ({2})
Uns wird diese Föderalismusreform nur gelingen,
wenn es zu einem fairen Geben und Nehmen zwischen
Bund und Ländern bei Gesetzgebungskompetenzen und
Zuständigkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen
kommt. Dabei müssen wir uns von einer Philosophie leiten lassen, die allen Ebenen - Bund, Ländern und Kommunen - mehr Gestaltungsfreiheit und mehr eigenständige Kompetenzen zuweist. Auf welchem Wege sich die
Gesetzgebungsautonomie der Länder stärken lässt, darüber wird die Kommission ausführlich beraten müssen.
In der Wissenschaft wird, frei von politischen Rahmenbedingungen, häufig die Meinung vertreten, wir
bräuchten acht leistungsfähige, starke Länder. Ich
glaube, wer die Hürde für das Gelingen der Föderalismusreform so hoch legt, wird daran scheitern. Aber wir
müssen darüber diskutieren, dass die Länder unterschiedlich leistungsfähig sind. Damit die Zuweisung
neuer Kompetenzen und neuer Gestaltungsspielräume
im Rahmen des fairen Gebens und Nehmens glücken
kann, müssen wir wahrscheinlich auch neue Formen der
Kooperation zwischen den kleineren und schwächeren
Ländern unterhalb der Fusionsebene finden.
Hier wurde viel von Wettbewerbsföderalismus geredet. Wir müssen ganz klar darauf achten, dass es keine
Rechtszersplitterung geben darf. Der Bund muss in
Kernbereichen immer die Möglichkeit haben, für gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen.
({3})
Zum Beispiel in Fragen der Existenzsicherung, beim
Wohngeld, bei der Sozialhilfe, bei der Daseinsvorsorge
und in der Wohnraumversorgung ist dies unerlässlich.
Im Hinblick auf Hartz III und IV bin ich sehr dafür,
dass die Kommunen, die in diesem Bereich sehr gute Arbeit leisten - meine Heimatstadt gehört dazu -, in den
Vermittlungsprozess aktiv einbezogen werden. Köln hat
schon heute ein Jobcenter beim Sozialamt. Warum sollte
man diese Kompetenz nicht nutzen? Aber wir können
auch nicht darüber hinwegschauen, dass andere Kommunen eine solche Arbeit nicht leisten können und auch
gar nicht wollen. Wir müssen darauf achten, dass der Arbeitslose keine Niete zieht, wenn er in der falschen Stadt
lebt. Der Bund hat die Aufgabe, für einheitliche Vermittlungsanstrengungen zu sorgen.
({4})
Darüber hinaus wird es darum gehen, bereits vorhandene Zuständigkeiten des Bundes präziser auszugestalten und die Entwicklungen auf EU-Ebene, zum Beispiel
im Umweltschutz, in unserer verfassungsrechtlichen
Ordnung zu reflektieren. Beim Umweltschutz brauchen
wir einen medienübergreifenden Ansatz. Wir haben
heute einen Sektorenansatz, der noch dazu in einzelnen
Bereichen Rahmengesetzgebung und in anderen Bereichen konkurrierende Gesetzgebung vorsieht. Alles ist
schön unübersichtlich zersplittert. Wir schaffen es regelmäßig nicht, sinnvoll oder gar zeitgerecht die Vorgaben
der Europäischen Union umzusetzen. Hier müssen wir
entrümpeln.
Die Union hat gesagt, sie sei in diesem Zusammenhang bereit, die Rahmengesetzgebung abzuschaffen. Das
ist richtig. Von den Ländern habe ich noch wenig gehört
und in ihren Papieren wenig darüber gelesen, wie sie die
Gestaltungsfähigkeit des Bundes sichern und die Blockadeposition des Bundesrates aufbrechen wollen. Ich
glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wir müssen - die Justizministerin hat es angesprochen - von der
Zustimmungsbedürftigkeit zahlreicher Gesetzesmaterien
herunter. Es kann nicht sein, dass Gesetze allein wegen
des Verwaltungsaspektes zustimmungsbedürftig werden.
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Zum Schluss: Wir müssen auch darüber reden, wie
weit die Rechte der Länder, in die Gesetzgebung einzuwirken, gehen sollen. Wir hatten gestern im Vermittlungsausschuss einen exemplarischen Fall. Da hatten die
Länder doch in der Tat den Vermittlungsausschuss angerufen
Das können Sie nun nicht mehr im Einzelnen darstellen.
- mein letzter Satz -, um in die Ressortzuständigkeiten eines Bundesministeriums einzugreifen. Sie haben
sich Sorgen darüber gemacht, in welcher Bundesbehörde
die Mitarbeiter arbeiten. Es hat schon wundersame Blüten getrieben.
Manche Beiträge in dieser Debatte könnte man sich
schon jetzt hinter die Ohren schreiben, damit wir uns auf
die wesentlichen Fragen konzentrieren können und nicht
jeder Quatsch im Rahmen der Verfahrensmöglichkeiten,
die die Verfassung heute noch vorsieht und die wir überarbeiten müssen, auf den Tisch des Vermittlungsausschusses kommt.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ziele, die die Arbeit der FDP in der Föderalismuskommission bestimmen werden, lassen sich mit den Schlagworten Wettbewerb, Entscheidungsfähigkeit und Transparenz umschreiben. Die Reform des Föderalismus ist
für mich und für die FDP eine der ganz zentralen AufgaErnst Burgbacher
ben dieser Legislaturperiode. Darin sind wir uns alle,
wie ich glaube, einig.
Ich verkenne nicht, dass ich eine gewisse Skepsis bezüglich der Zusammensetzung dieser Kommission
hege - ich hoffe, dass sie überwunden wird -; denn neben 16 Bundestagsabgeordneten, die alle, wie ich der
Debatte entnehme, vom Willen beseelt sind, etwas zu erreichen, sind noch 16 Ministerpräsidenten Mitglieder
dieser Kommission. Ich hoffe wirklich, dass diese 16
nicht bei jedem Vorschlag mit dem Taschenrechner
nachrechnen, ob er ihnen schadet oder nützt. Wenn diese
Einstellung vorhanden sein sollte, dann wäre die Arbeit
der Kommission zum Scheitern verurteilt. Deshalb fordere ich gleich am Anfang alle Mitglieder auf, dieses
Denken zu überwinden und immer die Sache insgesamt
im Blick zu haben.
({0})
Die Kommission darf sich auch nicht nur vom dem
Motiv leiten lassen - das ist meine zweite Bemerkung -,
danach zu schauen, wo es Machtzuwachs und -verlust
gibt. Leitmotiv der Kommission muss es vielmehr
sein, dafür zu sorgen, dass unserem föderalen System
wieder mehr Entscheidungsfähigkeit zukommt, wie es
Wolfgang Gerhardt vorher ausgeführt hat, und die Entscheidungen transparenter werden, damit auch die Wählerinnen und Wähler erkennen können, wer für welche
Entscheidung zuständig ist und gegebenenfalls dafür
verantwortlich zu machen ist.
({1})
Im Verlaufe der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland hat man sich immer mehr dem Modell des
kooperativen Föderalismus zugewandt bzw. es selbst geschaffen. Ausgangspunkt war aber vielmehr das Modell
des Wettbewerbsföderalismus. Zu den Reformhindernissen gehört an erster Stelle - ich sage das auch noch
einmal in Ihre Richtung, Herr Beck - die Überbetonung
der Gleichwertigkeit und der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, die das Grundgesetz an zwei Stellen, nämlich in Art. 72 und in Art. 106, als Nebenbedingungen
erwähnt, aber nicht als Staatsziel proklamiert. Der Überinterpretation dieser Nebenbedingungen ist entschieden
entgegenzutreten.
({2})
Meine Damen und Herren, von der falschen und im
Kern für alle Beteiligten schädlichen Nivellierungsideologie muss endlich Abschied genommen werden und
Bürgern wie Politikern wieder bewusst gemacht werden,
dass Föderalismus nicht Gleichmacherei bedeutet, sondern exakt das Gegenteil davon, nämlich Länderautonomie, Wettbewerb und die Gewährleistung kultureller, sozialer, ökonomischer und politischer Vielfalt. Das
wollen wir doch in unserem Staat. Dafür müssen wir
auch jetzt Sorge tragen.
({3})
Dass dabei die Situation der neuen Länder besonders berücksichtigt werden muss, versteht sich von selbst. Darüber hat ja auch Wolfgang Gerhardt bereits gesprochen.
Die Diskussion um eine Föderalismusreform läuft in
der FDP seit vielen Jahren. Es war vor allen Dingen die
Friedrich-Naumann-Stiftung, die dabei wesentliche Vorarbeiten geleistet hat. Unter Leitung von Otto Graf
Lambsdorff wurden fünf Föderalismusmanifeste verabschiedet. Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen,
die in der Kommission mitarbeiten, diese Manifeste einmal sehr genau zu lesen. Ich glaube, sie stellen eine gute
Grundlage für unsere Arbeit dar.
Nun gibt es verschiedene Felder, über die teilweise ja
schon geredet wird. Ich will zunächst der Bundesjustizministerin - sie ist jetzt leider nicht mehr hier - ganz entschieden widersprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Reform der bundesstaatlichen Ordnung ohne
Modernisierung der Finanzbeziehungen zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden ist für uns nicht denkbar.
({4})
Deshalb müssen wir hier sogar die Vorgehensweise ändern: Wir müssen zuerst die Finanzverfassung modernisieren; erst danach können wir uns der Lösung der anderen Probleme wirklich zuwenden.
Weiterhin muss im Vordergrund eine klar strukturierte
Trennung und Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenz stehen. Im Augenblick neigen ich und meine Fraktion dazu - das sage ich Ihnen ganz offen -, die Rahmengesetzgebung weitgehend abzuschaffen. Wir neigen
auch dazu, den Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung sehr stark zu beschneiden. Auf diese Weise wollen
wir Gesetzgebungskompetenzen wieder klarer dem
Bund oder den Ländern zuordnen. Dabei darf nicht der
jeweilige Ehrgeiz eine Rolle spielen, sondern der
Aspekt, auf welche Ebene sie eher gehören. Ich denke,
in der Kommission werden wir uns den Katalog vorknöpfen und Punkt für Punkt diskutieren müssen, wo der
Bund besser alleine zuständig sein sollte und was wir in
die Zuständigkeit der Länder zurückverlagern sollten.
Das wird ganz wesentlich sein.
Liebe Kollegin Sager, an dieser Stelle stört mich ein
Begriff, den Sie, wie ich glaube, zweimal gebraucht haben, und zwar der Begriff der Öffnungsklausel. Eine
Öffnungsklausel ist eigentlich ein fauler Kompromiss.
Ich will keine Öffnungsklauseln, sondern eine klare Zuweisung der Zuständigkeiten. Wohin es führt, wenn man
Öffnungsklauseln einführt, sehen wir im Übrigen im Augenblick bei der Beamtenbesoldung. Sobald man beginnt, Öffnungsklauseln einzuführen, ist das Scheitern
eigentlich schon vorgezeichnet. Nein, lassen Sie uns den
Mut haben, jetzt klare Entscheidungen zu treffen, was
wohin gehört!
Im Rahmen dieser Zuordnung weise ich auf einen
Punkt hin, der heute noch keine Rolle gespielt hat: Die
Entflechtung der Aufgabenzuständigkeiten im Interesse
einer klaren Zuordnung der Verantwortung verlangt
dann aber auch, dass sich die niedrigere Ebene - hier die
Länder - bei der höheren - hier dem Bund - nicht über
Gebühr in die dortige Aufgabenwahrnehmung einmischt. Deshalb rege ich an, Art. 23 des Grundgesetzes
zu überdenken. Viele wissen noch, wie der Artikel damals neu aufgenommen wurde. Wenn wir eine klare
Aufgabentrennung wollen, muss auch die Kompetenz
des Bundes bei der EU wieder klarer geregelt sein.
({5})
Die Europakompatibilität wurde einige Male angesprochen. Ich halte sie für maßgeblich. Uns als Bundesrepublik Deutschland ist daran gelegen, unsere Interessen bei der Europäischen Union zu vertreten. Eine
Aufgabe der Kommission muss darin bestehen, uns in
die Lage dazu zu versetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 7. November
dieses Jahres wird die Kommission zum ersten Mal tagen. Wir haben eine große Aufgabe. Ich freue mich auf
diese Aufgabe. Meine Fraktion ist entschlossen, alles dafür zu tun, dass wir diese Aufgabe erfolgreich bewältigen. Ich fordere alle Mitglieder der Kommission auf,
auch die Mitglieder der Länderseite, nicht eigene Interessen, sondern das Wohl unseres Landes, die größere
Effizienz und Transparenz unseres Systems in den Vordergrund zu stellen und endlich mehr Wettbewerb zwischen den Ländern, aber auch zwischen den Kommunen
zuzulassen und zu fördern.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Föderalismus gehört zu den Säulen der Bundesrepublik.
Als Prinzip hat er sich bewährt. Mit ihm wird geregelt,
was der Bund soll und darf, was allein Ländersache und
was Angelegenheit der Kommunen ist. Die PDS bejaht
dieses Prinzip. Gleichzeitig verweisen wir seit Jahren
auf Mängel und Schieflagen in der Praxis. Diese gehen
im Übrigen überwiegend zulasten der Länder und Kommunen. Sie drohen das Prinzip auszuhöhlen. Deshalb teilen wir die zunehmenden Klagen und Forderungen des
Städte- und Gemeindetages. Es ist löblich, wenn Städte
und Kommunen möglichst viel in eigener Sache entscheiden können, aber es ist tödlich für sie, wenn ihnen
die Ressourcen und das Geld dazu durch eine falsche
Steuerpolitik immer mehr entzogen werden.
Ein aktuelles Beispiel: Würde die Steuerreform vorgezogen, wie von Rot-Grün geplant, verlöre das Land
Berlin Einnahmen von circa 400 Millionen Euro. Käme
dagegen die Vermögensteuer, wie die PDS sie fordert,
flössen rund 400 Millionen Euro mehr in die Landeskassen.
({0})
Die Differenz beträgt fast 1 Milliarde Euro. Diese Rechnung trifft - in unterschiedlicher Höhe - auf fast alle
Länder zu. Im richtigen Leben geht es dabei um Tausende Kitas, Hunderte Schwimmbäder, zig Theater und
vieles mehr.
Die EU und ihre Erweiterung sind ein weiterer Grund,
das Prinzip des Föderalismus einem aktuellen Praxistest
zu unterziehen. Immer mehr Entscheidungen werden auf
EU-Ebene getroffen oder dorthin delegiert. Für viele ist
das undurchsichtig und oft auch uneinsichtig. Politik im
Nebel ist aber das Gegenteil von Transparenz und Demokratie. Das ist ein zusätzlicher Grund, uns darüber
klar zu werden, wie wir unser föderales System weiter
ausgestalten können.
Hinzu kommt ein grundsätzlicher Streit; denn Föderalismus ist nicht gleich Föderalismus. Auch das haben wir
heute Vormittag schon mehrfach gehört. Die einen wollen einen solidarischen, kooperativen Föderalismus - die
PDS gehört dazu -,
({1})
andere wollen einen Wettbewerbsföderalismus, bei dem
die starken Länder gewinnen und die ohnehin schwachen weiter verlieren. Die PDS im Bundestag will dies
nicht.
Schließlich gibt es noch einen weiteren Konflikt. Er
betrifft das Verhältnis von Exekutive und Legislative,
also von Regierung und Parlament. Das Gewicht des
Parlaments wird immer geringer und der Einfluss der
Regierung immer stärker. Der Versuch, ein Entsendegesetz zu verabschieden, nach dem künftig nicht mehr der
Bundestag, sondern eine elitäre Untergruppe des Parlaments über Auslandseinsätze der Bundeswehr entscheiden soll, ist dafür nur ein aktueller Beleg. Wider das
Grundgesetz ist er außerdem.
Heute geht es um eine gemeinsame Kommission von
Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, also um ein Gremium, das sich
mit den von mir aufgeworfenen Fragen und vielen anderen Punkten befassen soll. Gerade deshalb sollten wir einen Konstruktionsfehler gleich von Anfang an vermeiden. Sie wissen es - wenn nicht, dann sage ich es Ihnen -:
Es gibt seit geraumer Zeit einen Konvent deutscher Landesparlamente. Er befasst sich mit der Frage, wie den
Landesparlamenten die ursächlichen Rechte wiedergegeben werden können und wie das Recht der Parlamentarier gegenüber den Regierenden gestärkt werden kann.
Dieser Konvent hat am 31. März dieses Jahres
Repräsentanten bestimmt. Sie sollen die Interessen der
Landesparlamente gegenüber dem Bund, aber auch gegenüber den Landesregierungen vertreten. In der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat, die
heute zur Debatte steht, findet sich das berechtigte Anliegen der Landesparlamente allerdings überhaupt nicht
wieder. Damit setzt sie sich über den erklärten Willen von
rund 2 000 Landesparlamentariern hinweg. Ich finde, das
ist kein Fehlstart, sondern schlichtweg ein Foul.
({2})
Ich kann auch nicht mit dem Argument des Bundestagspräsidenten von heute Morgen leben, dass die Landesregierungen die Interessen der Landesparlamente in dieser
Kommission besser vertreten würden.
Mit der Reform des Föderalismus geht es auch um die
Zukunft des Ostens. In den neuen Bundesländern arbeiten 144 Parlamentarier der PDS. Die PDS aber - und
damit rund 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler wird durch die vorgeschlagene Zusammensetzung der
Kommission schlicht ausgegrenzt - nicht zufällig, sondern wohl wissend; denn es gab Vorschläge - im Übrigen nicht nur Vorschläge der PDS, sondern Vorschläge
quer aus allen Landesparlamenten -, diesen Fehler zu
korrigieren. Professor Lothar Bisky hat dies als PDSVorsitzender in einem Brief an den Parlamentspräsidenten Thierse und an den Präsidenten des Bundesrates angemahnt. Bisher gab es keine Resonanz. Diese Ignoranz
werden wir nicht hinnehmen.
({3})
Die PDS im Bundestag bedauert, dass damit ein großes und wichtiges Thema von Anfang an durch kleinlichen Egoismus belastet wird. Wir haben mehrere Änderungen beantragt. Unter anderem wird verlangt, die elf
Mitglieder der Verhandlungskommission des Föderalismuskonvents der Landesparlamente in unsere Kommission gleichberechtigt aufzunehmen.
Danke schön.
({4})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege
Wilhelm Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
stehe sozusagen mit dem Grundgesetz unterm Arm am
Rednerpult. Ich will damit verdeutlichen, an welcher
Stelle der Debatte wir uns befinden. Wir müssen an unserem Grundgesetz, mit dem die Politik unseres Landes
gestaltet wird, etwas verändern, damit die Menschen
draußen im Lande spüren, dass wir ihre Sorgen ernst
nehmen, wenn es um ihre Lebensverhältnisse geht. Wir
müssen versuchen, mit der Entflechtung von Gesetzgebungsüberschneidungen voranzukommen und mit dem
Gesetzgebungswirrwarr aufzuräumen, und zwar gemeinschaftlich.
Ich fühle mich von dem Auftakt dieser Debatte heute
Morgen und von allen Vorrednerinnen und -rednern ermutigt, wenngleich man feststellen muss, dass es doch
den einen oder anderen Unterschied gibt. Das will ich
nicht verhehlen; ich komme darauf gleich zurück.
Wenn aber in den letzten Tagen und Wochen in der
Öffentlichkeit zum Beispiel mit Schlagzeilen wie „Augiasstall ausmisten“ oder „Einen elenden Kuhhandel rückabwickeln“ operiert wurde, dann ist das, wie ich finde,
eine Übertreibung. Wir haben ein gutes Grundgesetz;
das ist zu Recht betont worden. Es haben sich aber im
Laufe der Jahrzehnte einige Verwerfungen entwickelt,
an denen wir alle übrigens partei-, fraktions- und institutionenübergreifend beteiligt gewesen sind. Es kann deswegen keine Schuldzuweisungen geben; das hat auch
niemand getan.
Das Entscheidende aber ist: Wir stehen vor diesem
Hintergrund unter großem Druck. Denn die Veränderungen, die wir herbeiführen wollen und müssen, wie wir
alle betont haben, sind von großer Bedeutung und von
maßgeblichem Umfang.
Neben dieser schwierigen Aufgabe stehen wir aber
auch vor einer großen Chance: vor der Möglichkeit, wieder mehr als bisher demokratisch-parlamentarische
Strukturen zu beleben und wiederzugewinnen und damit
dafür zu sorgen, dass die Menschen dem Parlamentarismus wieder mehr Vertrauen entgegenbringen. Das ist nötig.
({0})
Wir wollen Berufsskeptiker wie Robert Leicht von
der „Zeit“ widerlegen; diesen Willen habe ich mit wirklich großem Genuss von allen Seiten des Hauses gespürt.
Aber wir müssen dann auch sehr intensiv arbeiten, um
die vor uns liegenden Aufgaben zu bewältigen.
Die Zurückhaltung, die Bundesministerin Zypries an
den Tag gelegt hat, entspringt - wie ich finde, zu Recht der Stellung der Bundesregierung in diesem Prozess. Sie
soll uns begleiten, helfen und unterstützen; das ist zugesagt worden. Zurückhaltung ist aber deswegen geboten,
weil die Bundesregierung nicht direkt am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist. Dass die Bundesregierung
aber eine wichtige Rolle spielen muss, ist einheitliche
Auffassung.
Wer sich das Ausmaß der Verflechtungen gerade in
der Gesetzgebung, aber auch in den Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern konkret vor Augen führt,
der wird spüren, dass Veränderungen wirklich nötig sind.
Herr Kauder hat vorhin kurz aus unserer gemeinsamen
Tätigkeit im Vermittlungsausschuss - auch viele andere
daran Beteiligte sind hier - berichtet. Ich muss zugeben:
Als wir gestern Abend im Vermittlungsausschuss relativ
zügig mit zwei Ablehnungen und einer Vertagung zu
Ende gekommen waren, konnte man auf der einen Seite
damit nicht zufrieden sein. Auf der anderen Seite sagte
mir ein Mitglied des Bundesrates hinter vorgehaltener
Hand: Ich muss bekennen, auch ich weiß nicht, warum
wir im Bundesrat das Gentechnikgesetz zu behandeln
haben. Denn es geht da wirklich nur, wie Herr Beck mit
Recht betont hat, um Veränderungen in den Abläufen
und Zuständigkeiten innerhalb von Bundesressorts und
nachgeordneten Behörden des Bundes. Das Verhältnis
zwischen Bundestag und Bundesrat treibt manchmal unglaubliche Blüten.
Ich will mit Blick auf Art. 84 des Grundgesetzes, den
ich in unserer Debatte als einen ganz zentralen Punkt
empfinde, darauf hinweisen, dass es auch in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von Entwicklungen gibt, die uns
Wilhelm Schmidt ({1})
nicht einerlei sein können. Nehmen Sie nur - Finanzminister Eichel ist ja hier ({2})
das Förderbankenneustrukturierungsgesetz. Was spielte
sich da vor der Sommerpause ab? Es war ursprünglich
nicht zustimmungspflichtig. Aufgrund des Drucks der
Länder und der Tatsache, dass wir das Ganze nicht verzögern wollten, haben wir für den im Rahmen dieses
neuen Förderbankeninstrumentariums vorgesehenen
Mittelstandsrat drei Vertreter der Länder zugelassen. Von
diesem Augenblick an war das Gesetz in vollem Umfange zustimmungspflichtig. Man fragt sich wirklich,
welchen Unsinn wir uns ab und zu selber zumuten.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heiderich?
Gerne.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben eben das Problem
der Behandlung des Gentechnikgesetzes im Bundesrat
angesprochen. Können Sie sich vorstellen, dass Ihrem
Problem durch eine Rückfrage bei fachkundigen Kollegen abgeholfen werden und man Sie darüber informieren
könnte, welchen Sinn es hat, dieses Gesetz im Bundesrat
zu behandeln?
Die Frage ist, was man, wenn ein solches Gesetz nach
unserer grundgesetzlichen Basis dem Bundesrat zugewiesen werden muss, verhindern kann. Das liegt dann in
der Hand des Bundesrates. Wenn man trotz des hinter
den Kulissen formulierten guten Willens das Gegenteil
in der Praxis erlebt, wird man etwas skeptisch. Deshalb
kann ich nur an alle Beteiligten appellieren. Darin wird
der Sinn unserer Kommissionsarbeit in Zukunft liegen.
({0})
Ich möchte für unsere Seite sagen, dass wir die Arbeit
sehr konsequent und zugleich pragmatisch angehen wollen. Wir wollen ganz bewusst nicht mit Vorfestlegungen
im Detail operieren, weil wir auf alle, auch auf die Länder als Beteiligte, zugehen wollen. Es war jedoch
wichtig, dass der SPD-Fraktionsvorsitzende, Franz
Müntefering, schon im Juni den Beginn der Debatte im
Deutschen Bundestag ausgelöst hat. Entscheidend ist,
dass wir das, was wir geplant haben, konsequent umsetzen. Deshalb wird Herr Müntefering einer der alternierenden Vorsitzenden des Gremiums werden. Das ist ein
wichtiges Zeichen dafür, dass meine Fraktion und wir
alle dieses Thema besonders ernst nehmen.
({1})
Bezüglich der Analysen haben wir vieles gehört, was
uns miteinander verbindet. Ich möchte Ihnen etwas aus
den Thesen zur Föderalismusreform von Herrn Koch
und Herrn Rüttgers - beide sind immerhin CDU-Präsidiumsmitglieder - vortragen.
Die unklaren Zuständigkeiten von Bund und Ländern haben zu einem System der organisierten Unverantwortlichkeit geführt.
Wie wahr! Daneben werden eine gerechte Aufgabenverteilung und klare Zuständigkeiten angemahnt. Es heißt
weiter:
Der ursprüngliche Gestaltungsföderalismus hat sich
zu einem bloßen Beteiligungsföderalismus dezimiert.
Die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, können
wir zu Beginn der Debatte meiner Meinung nach nicht
einfach stehen lassen. In diesem Zusammenhang komme
ich auch auf Sie, Herr Burgbacher und Herr Gerhardt, zu
sprechen. Auch Sie haben in ähnlicher Weise Ihre Zielsetzungen formuliert. Manchmal handelt es sich dabei
um, wie ich finde, ungehemmten Wettbewerbsföderalismus.
Wir müssen die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in diesem Lande mehr im Blick haben.
Herr Burgbacher, dies steht, mit Verlaub gesagt, nicht als
Nebenabrede im Grundgesetz, sondern es geht dabei um
eine zentrale Aufgabe, der wir uns in den letzten Jahren
immer wieder zugewandt haben.
({2})
Ich fand die Formulierung von Herrn Burgbacher schon
kritikwürdig; deshalb wollte ich noch einmal darauf eingehen. So etwas darf sich erst gar nicht einschleifen;
denn das könnte auch zu falschen Zielsetzungen in der
Kommissionsarbeit führen.
Wir wollen, dass die Mitwirkungsrechte der Länder
zurückgeführt werden. Wir wollen klare Verlagerungen
auf Bund und Länder, ohne dass man sich gegenseitig
Schwierigkeiten machen kann. Ich habe das Grundgesetz deshalb mitgebracht, damit wir ab und zu hineinschauen können. Ich möchte auch Ihnen empfehlen, das
ab und zu zu tun. Ich weiß, diejenigen, die hier sind, sind
so engagiert, dass sie das Grundgesetz fast auswendig
können. Der interessierten Öffentlichkeit sei gesagt, dass
zum Beispiel die konkurrierende Gesetzgebung, die im
Grundgesetz verankert ist, 26 verschiedene Elemente
mit zum Teil vielen Untergruppen enthält. Hier könnte es
durchaus zu einem konkreten Ergebnis kommen, sodass
wir eine Entflechtung herbeiführen können. Die Rahmengesetzgebung des Bundes mit sieben Einzelpunkten
unterliegt genau der gleichen Bewertung.
Wir hören jetzt aber schon wieder die Reaktionen von
Interessengruppen, die nicht möchten, dass wir die Rahmengesetzgebung beim Hochschulrecht oder an anderer
Stelle aufgeben. Sie befürchten nämlich, dass bundesweit große Komplikationen eintreten könnten, wenn wir
den Rahmen des Bundes nicht mehr setzen. So könnten
sich zum Beispiel in den Ländern ganz unterschiedliche
Wilhelm Schmidt ({3})
Verhältnisse an den Hochschulen entwickeln. Diese
Skepsis sollten wir ernst nehmen, ohne deswegen das
Ziel der Entflechtung auch bei der Rahmengesetzgebung
zu vernachlässigen.
Art. 84 des Grundgesetzes ist schon angesprochen
worden. Wir müssen bei allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht, das uns vor fast 30 Jahren etwas eingebrockt hat, eine Klarstellung herbeiführen. Deswegen
wird es eine wichtige Aufgabe sein, Art. 84 des Grundgesetzes in seinen ursprünglichen Sinn zurückzuführen.
Ich hoffe, dass wir uns darüber schnell einigen können.
Auf diese Weise könnten wir uns von dem Monstrum der
Beteiligungsrechte, die wir alle nicht wollen, verabschieden.
Ich will auf die Frage der Föderalismuswirkung mit
Blick auf die neuen Länder eingehen. Ich glaube nämlich, sie sind in der Gesamtdebatte ein wenig vernachlässigt worden. Die neuen Länder haben sich nach der deutschen Einheit im Föderalismus gut eingerichtet. Sie
haben auch unglaublich davon profitiert. Daran erkennt
man den grundsätzlichen positiven Wert der föderalistischen Bestimmungen und Strukturen in diesem Land.
Die unterschiedlichen Lebensbedingungen - wenn wir
sie in einer Weise aufarbeiten wollen, wie es unser grundgesetzlicher Auftrag ist - erfordern aber nicht, dass wir
zum Beispiel die in ihren Strukturen und in ihrer Finanzkraft immer noch schwächeren ostdeutschen Bundesländer in einen Wettbewerb zu den westdeutschen Bundesländern setzen, die - jedenfalls im Grundsatz - besser
gestellt sind. Unsere Aufgabe, Herr Burgbacher von der
FDP und viele andere von der CDU/CSU, ist es, das in
besonderer Weise zu berücksichtigen. Wir haben dem
mit der Verlängerung der Geltung des Solidarpakts II
und der damit verbundenen Sicherung der notwendigen
Ressourcen bis zum Jahre 2019 Rechnung getragen. Ich
glaube, das ist eine wichtige Grundlage.
({4})
Zum Antrag der beiden fraktionslosen Abgeordneten,
der hier vorliegt, will ich ganz kurz Stellung nehmen:
Wir können Ihren Antrag nicht unterstützen, weil wir die
Beteiligungsrechte der Landtage nicht von hier aus regeln können und von Anfang an im Einvernehmen mit
allen Beteiligten bei den Vorabsprachen auch nicht regeln wollten. Wir haben jedoch nach einigem Hin und
Her Folgendes getan: Es gibt sechs beratende Mitglieder
aus den Landtagen sowie sechs Stellvertreter für diese.
Die Auswahl organisieren wir nicht selber. Das tut der
zitierte Konvent, wie ich finde, zu Recht, Frau Pau.
Ich will alle Beteiligten auf eines hinweisen: Diejenigen, die mit der Konventsidee gespielt haben - so zum
Beispiel die FDP, aber auch andere -, bekommen indirekt fast so etwas wie einen Konvent. Die Kommission
wird 32 ordentliche Mitglieder sowie zusätzlich 70 weitere Beteiligte, beratende Mitglieder und Sachverständige, haben. Das wird sehr schwer zu handhaben sein.
Dabei wird es sehr auf die beiden Vorsitzenden sowie
das Sekretariat ankommen, damit die Organisation
stimmt.
Wir haben uns dies übrigens vom Justizministerium
rechtlich absichern lassen. Es wird nicht anders gehen.
Ich glaube aber, die Beteiligung der Länder ist über den
Bundesrat ebenso wie die der Landtage auf diesem Wege
durchaus gewährleistet.
({5})
- Ich glaube, Herr Präsident, der Kollege Beck möchte
mir eine Zwischenfrage stellen.
({6})
Da der Redner damit offensichtlich einverstanden ist,
erteile ich Kollegen Beck das Wort zu einer Zwischenfrage.
Ich möchte den Kollegen Schmidt fragen, ob er bereit
ist, sich zu erinnern, dass wir uns in dieser Frage zwar so
geeinigt haben, wie er es gerade dargestellt hat, das Ergebnis aber nicht die einhellige Auffassung aller Fraktionen widerspiegelt. Wir konnten uns durchaus vorstellen,
dem Anliegen einer breiteren Repräsentanz der Landtage
stattzugeben.
Ich bestätige, dass es bei der Fraktion der Grünen in
den Vorgesprächen eine solche Tendenz gab. Ich habe
aber hier über die Ergebnisse und nicht darüber zu sprechen, was im Vorfeld alles stattgefunden hat, Herr Kollege Beck. Ich bitte dafür um Nachsicht.
({0})
Ich will noch etwas sagen, was der Ehrlichkeit halber
auch dazugehört: Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier
sollten keine Stellvertreterkriege ausgetragen werden:
nicht hier und jetzt zwischen uns - das sowieso nicht -,
aber auch nicht in der Sache zu Punkten, die wir mit der
Kommission nicht regulieren können. Das gilt zum Beispiel für das Innenverhältnis zwischen den Landesregierungen, die von der Mehrheit der jeweiligen Landtage
gewählt worden sind, und ihren jeweiligen Landtagen.
Das sollen diese bitte schön untereinander austragen.
Das Gleiche gilt für das Innenverhältnis des Konvents
und seine Arbeit. Sie ist ohnehin informell genug. Wir
haben uns auf eine Institution verständigt, die aus 32 Mitgliedern besteht. Das ganze Drumherum hat eher informellen Charakter.
Ich will zum Schluss noch etwas zu den Kommunen
sagen, weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir die
kommunalen Spitzenvertreter mit am Tisch haben, und
zwar in einer Weise, die ihnen nach meiner Überzeugung
das Gespür vermittelt, dass wir es mit ihnen ernst meinen. Dass wir als Koalition es mit den Kommunen ernst
meinen, wird sich noch einmal morgen in der Debatte
Wilhelm Schmidt ({1})
zeigen, wenn wir den Entwurf einer kommunalen Finanzreform beraten,
({2})
von der wir hoffen, dass die Opposition sie unterstützen
wird.
({3})
Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir alle Ebenen berücksichtigen, auch die europäische Ebene. Das ist bereits angeklungen; Fraktionsvorsitzender Müntefering
hat das, wie ich finde, zu Recht in seiner Rede thematisiert.
Wir sind auf einem schwierigen, aber auch interessanten Weg, der sicherlich viele Chancen bietet. Heute Morgen ist mit guten Zeichen und guten Ansätzen begonnen
worden. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich dieses
Klima im Laufe der Debatte und der Kommissionsarbeit
aufrechterhalten ließe.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Nach den umfangreichen lichtvollen
Ausführungen meiner zahlreichen Vorredner bleiben mir
nur einige wenige Gebiete für meine Anmerkungen. Gestatten Sie mir, dass ich zunächst kurz auf den Dialog
zwischen dem Kollegen Beck und dem Kollegen
Schmidt eingehe. Wir als Parlamentarier dieses Hauses
sollten es begrüßen, dass die Landtage in der Kommission vertreten sind, ob beratend oder stimmberechtigt ist
nicht entscheidend. Parlamentarier müssen darauf achten, dass das parlamentarische Element, wo immer und
auf welchen Ebenen es in Rede steht, zur Geltung
kommt. Deswegen finde ich diese Diskussion richtig.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine beispiellose Aushöhlung der parlamentarischen Rechte erlebt. Der Generalangriff gegen die parlamentarischen
Rechte findet sicherlich auf europäischer Ebene statt.
Die Aushöhlung der faktischen Einflussmöglichkeiten
der nationalen Parlamente gegenüber ihren nationalen
Regierungen in Europaangelegenheiten hat dazu geführt,
dass sich die starken Bürokratien der Nationalstaaten in
Brüssel eine Überbürokratie installiert haben. Es ist deswegen kein Wunder, dass wir beim EU-Verfassungsvertrag, der diskutiert wird, in eine Situation gekommen
sind, in der es ausschließlich darum geht, was die Regierungen sagen, und nicht um Willensbildungsprozesse der
Parlamente. Das halte ich für falsch und bedauere es.
Das sage ich an dieser Stelle ausdrücklich.
({0})
Die zweite Ebene des Angriffs gegen den Parlamentarismus wird seit einigen Jahren besonders hier in Berlin
deutlich. Durch die Vielzahl von Sachverständigengremien soll die parlamentarische Arbeit verdrängt oder ersetzt werden. Dass Professoren gescheite Leute sind,
muss nicht bewiesen werden; das bestreitet niemand.
Dass Professoren aber die besseren Politiker sind, ist
schwer zu beweisen, zumindest schwerer als das Gegenteil. Damit spreche ich ausdrücklich nicht gegen die
Sachverständigen, die in diese Kommission berufen
werden, die wir einsetzen werden. Ich bin allerdings
froh, dass es nicht 32 Sachverständige sind, wodurch
quasi jedes Mitglied seinen eigenen Professor neben sich
bekommen hätte, sondern dass wir mit weniger auskommen.
Wir erfinden das Rad schließlich nicht neu; das ist
heute von der Frau Ministerin schon gesagt worden. Wir
haben ein Grundgesetz. Es geht darum, notwendige Modernisierungen und Korrekturen vorzunehmen. Wir
knüpfen erstens an einen Dialog zwischen Bund und
Ländern an, der seit vielen Jahren geführt wird und der
nicht frei von Sachverstand ist, sondern der, im Gegenteil, von Professoren, Wissenschaftlern und Experten begleitet wird. Zweitens gibt es eine Reihe von Vorschlägen nicht nur in der Literatur, sondern auch im
politischen Raum, von Ideen und Überlegungen. Es
muss dieser Kommission darum gehen, all diese Vorschläge zu einer praktikablen verfassungsrechtlichen
Änderung zusammenzuführen.
Allein die Tatsache, dass wir in dem Einsetzungsbeschluss festgelegt haben, dass alle inhaltlichen Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit zu entscheiden sind,
garantiert, dass wir - ich sage es auf Neudeutsch - eine
Win-win-Situation für beide Seiten, für Bund und Länder, bekommen: Der Bund hat Interesse an der Funktionsfähigkeit der Länder. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips müssen sie in der Lage sein, ihre eigenen
Angelegenheiten in die Hand zu nehmen und zur Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger zu regeln. Umgekehrt haben aber auch die Länder ein Interesse an der
Handlungsfähigkeit des Bundes.
Das Stichwort „Europatauglichkeit“ ist heute mehrfach bemüht worden. Es geht in der Tat auch darum, die
Vorgaben, die aus Europa kommen, möglichst rasch und
ohne ein kompliziertes, langwieriges und manchmal
auch wenig praktikables Verfahren umzusetzen. Es muss
aber möglich sein, dass der Bund bei allen neuen Kompetenzzuweisungen und allem, was man hier diskutieren
mag, auch in Zukunft Querschnittsaufgaben wahrnimmt.
Auch das ist schon gesagt worden.
Es darf nicht passieren, dass wir Zuständigkeiten neu
zuweisen und dann plötzlich feststellen, dass bei bestimmten Querschnittsaufgaben eine Gesetzgebungszuständigkeit der Länder begründet worden ist, sodass wir
erst auf die Gesetzgebungstätigkeit der Länder warten
müssen, um diese Querschnittsaufgaben befriedigend löDr. Hans-Peter Friedrich ({1})
sen zu können. Das wäre mit Sicherheit noch unbefriedigender als das momentane Zustimmungsverfahren im
Bundesrat.
Ich warne vor Illusionen: Wir werden damit leben
müssen, dass der Bundesrat dort, wo es Verflechtungen
zwischen Bund und Ländern gibt, nach wie vor Zustimmungsrechte haben wird. Die Kommission wird alle
Grenzen ausloten; das ist sicher. Dort, wo die Länder
substanziell betroffen sind, werden sie im Bundesrat
aber weiter mitreden. Das ist für die Regierenden und
damit momentan für Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, lästig. Ich denke aber - vorhin wurde entsprechend appelliert -, dass man das über die Zeit, während der es die momentane Konstellation gibt, hinaus sehen muss.
Bundesratspräsident Böhmer hat hier Wichtiges zur
Mischfinanzierung gesagt. Es ist nicht akzeptabel, dass
sich der Bund oder die Länder einseitig aus der Mischfinanzierung und der Finanzverantwortung herausstehlen.
Auch das wird man in dieser Kommission sicher ausführlich beraten müssen.
Ein gewichtiges Problem wird mit Sicherheit auch die
unterschiedliche Größe und Leistungsfähigkeit der
Bundesländer sein. Je nach Größe wird der Wunsch,
mehr eigene Zuständigkeiten zu erhalten, die dann auch
ausgefüllt werden müssen, unterschiedlich ausgeprägt
sein. Ich will nicht bestreiten, dass es die Idealsituation
wäre, wenn wir gleich große und starke Länder hätten.
Ich wage hier allerdings nicht die Prognose, dass eine
künftige Neugliederung der Länder zügig, also in absehbarer Zeit, vonstatten gehen wird. Deswegen müssen wir
in dieser Kommission nach einer Kompetenzverteilung
suchen, die sowohl den Interessen der großen Länder als
auch den Interessen der kleineren Länder angemessen
ist. Grundprinzip des Föderalismus ist natürlich, dass jedes Land die Chance haben muss, in diesem Gefüge in
angemessener Weise berücksichtigt zu werden.
Die Bundesstaatskommission - so möchte ich sie
nennen - kommt nicht umhin - das haben wir heute in
den Redebeiträgen gehört -, vielleicht ganz am Anfang
auch über die Grundphilosophie und die Grundeinstellung zum Föderalismus zu reden. Frau Sager hat heute
gesagt, dass das föderative System an sich nicht schlecht
ist.
({2})
Wenn ich das so sagen darf, liebe Frau Sager: Das ist
schon sehr halbherzig.
({3})
Das föderative System - lassen Sie mich das sagen - ist
die Kernsubstanz unseres Staates. Deswegen denke ich,
dass die Einschränkung, es sei an sich nicht schlecht,
nicht notwendig ist. Wenn man über die Modernisierung
der bundesstaatlichen Ordnung redet, dann muss man
auch über die Veränderung von Kompetenzen reden. Die
Kernsubstanz der staatlichen Ordnung, der Föderalismus, darf aber nicht angetastet werden.
({4})
Ich muss sagen: Die Diskussion über den Wettbewerbsföderalismus hat mich etwas irritiert. Dass wir im
Jahre 2003 die Spannungen zwischen Freiheit und
Gleichheit in diesen Fragen immer noch aufrechterhalten, finde ich merkwürdig. Wir sollten uns darin einig
sein, dass es beim Wettbewerb, beim Ringen um die besten Lösungen, immer darum geht, dass es am Ende allen
besser geht und dass es überall besser funktioniert. Ich
denke, die Art und Weise, wie die Europäische Union
Kompetenzen an sich reißt und wie mit den Mitgliedstaaten umgegangen wird, sollten wir uns im Bund-Länder-Verhältnis nicht zu Eigen machen.
({5})
Maßstab ist vielmehr das Bewusstsein, dass die Verflechtung, Vermischung und Verwischung politischer
Kompetenzen die föderative Ordnung und Substanz
nicht stärken, sondern schwächen. Jede Intransparenz ist
ein Stück Demokratiedefizit, weil der Bürger nicht mehr
begreifen kann, wo er wen oder was wählt. Auch das ist
heute an vielen Beispielen plastisch ausgeführt worden.
Eine funktionsfähige und tatkräftige föderale Struktur ist auch im Angesicht der ökonomischen Herausforderungen als Antwort auf die Globalisierung von
entscheidender Bedeutung. Wenn es heute um Standortentscheidungen von Unternehmen geht, dann stehen weniger ganze Nationalstaaten, aber immer mehr einzelne
Regionen im Vordergrund. Wenn man in ein Land Investitionen holen will, dann bedeutet das, dass man eine bestimmte Region individuell, flexibel, innovativ und
strukturangemessen als Wirtschaftsstandort aufbereiten
muss. Ich bin überzeugt, dass dafür die föderale Struktur
unseres Gemeinwesens viel besser geeignet ist und in
der Zukunft viel bessere Möglichkeiten haben wird als
die Entscheidungsmechanismen zentralistischer Staaten.
Aber auch und gerade angesichts dieser ökonomischen Herausforderungen ist es wichtig, dass die Funktionsfähigkeit der bundesstaatlichen Ordnung durch eine
Modernisierung in der Zukunft gesteigert werden kann.
Dadurch wird es möglich, in einem Staat unterschiedliche Konzepte, wo nötig mit unterschiedlichen gesetzlichen Bedingungen, zur Auswahl zu stellen. Vielleicht
ist dies ein Beitrag zur Entbürokratisierung, wenn ein
Land den anderen Ländern beweisen kann, dass es mit
weniger oder sogar ganz ohne Vorschriften in einem Bereich auskommt.
({6})
Die Frau Ministerin hat ausgeführt, dass der Zeitrahmen sehr eng gesteckt sei und wir uns nicht zu viel vornehmen sollten. Ich möchte ihr in diesem Punkt widersprechen; denn es darf nicht dazu kommen, dass wir
Dr. Hans-Peter Friedrich ({7})
nicht die Gelegenheit nutzen, Perspektiven aufzugreifen,
die vielleicht über die geplante Zielsetzung 2004/2005
hinausreichen. Damit will ich nicht den Zeitrahmen erweitern; denn auch für die Modernisierung des Bundesstaates gilt: Ein schneller Erfolg ist ein guter Erfolg.
Auch verdammt dicke Bretter sollten nicht dazu führen, sie liegen zu lassen - möglicherweise ist eine Zweidrittelmehrheit in einigen Bereichen nicht auf Anhieb zu
erreichen -, sondern wir müssen wenigstens versuchen,
sie zu durchbohren. In der einen oder anderen Frage
kann ein Konsens möglicherweise schneller erreicht
werden, als wir uns das vorstellen können. Ganz konkret
nenne ich das Thema Steuerautonomie der Länder, das
ein sehr komplexes Thema ist. Aber auch das muss angesprochen werden. Man muss sich darauf einigen, wie
sehr man dieses Thema vertiefen will.
Lassen Sie mich abschließend etwas zu den Kommunen - der Kollege Schmidt hat dieses Thema zu Recht
angesprochen - sagen. Wir sollten froh sein, dass wir die
Kommunen bei der Verfassungskommission in dieser
Weise mit berücksichtigen; denn die Kommunen, Städte
und Gemeinden fühlen sich gerade in der aktuellen politischen Debatte oft nicht mehr verstanden. Kollege
Schmidt, es ist ein wichtiges und deutliches Signal an
unsere Bürgermeister, Gemeinde- und Stadträte, dass
ihre Interessen bei der Arbeit der Kommission stärker in
den Fokus gestellt werden, gerade weil sie oft das Gefühl haben, bei der Gesetzgebung der Länder und des
Bundes vergessen zu werden. Wenn es jetzt darum geht,
das Grundgesetz neu zu justieren, dann sollen ihre Vertreter dabei sein. Diese Vertreter von Städten und Gemeinden sollen sehen, dass wir ihre Belange im Blick
haben. Das ist in dieser Zeit das richtige Signal. In diesem Sinne freue ich mich auf eine gute Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/1685 zur
Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der fraktionslosen
Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau auf
Drucksache 15/1721 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer für den interfraktionellen Antrag auf Einsetzung
der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat auf Drucksache 15/1685 stimmt, den bitte ich um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der deutschen Einheit 2003
- Drucksache 15/1550 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Manfred Stolpe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wann ist die deutsche Einheit vollendet, wann
muss ein Bericht dieser Art nicht mehr vorgelegt werden, und wann verliert die jeweilige Opposition die
Chance, der jeweiligen Regierung vorzuhalten, welche
teilungsbedingten Nachteile im Osten noch vorhanden
sind?
Helmut Schmidt hat den von uns im Solidarpakt II angedachten Termin, den Silvesterabend 2019, an dem die
deutsche Einheit vollendet sein könnte, als sehr optimistisch bezeichnet. Henning Voscherau prophezeite im
Jahr 1990, dass die Vollendung der deutschen Einheit
40 Jahre dauern würde, also bis zum Jahr 2030. Ich sehe
das ein bisschen anders.
Es spielen viele Momente mit hinein, die ökonomischen, die sozialen und die mentalen. Viele mentale Unterschiede werden schon deshalb bleiben, weil sie auch
landsmannschaftlich bedingt sind. Der Sachse wird nicht
zum Bayern und der Mecklenburger wird nicht zum Holsteiner, auch wenn sie sich in manchen Dingen durchaus
ähnlicher werden.
Die gegenwärtige Ostalgiewelle, oft von Selbstironie
und Spott begleitet, zeigt mir vor allem eines: Es ist das
Selbstbewusstsein im Osten gewachsen. Man muss nicht
mehr so tun, als ob man erst am 3. Oktober 1990 geboren sei. Man kann offen und freimütig auch über die davor liegende Zeit reden. Das Selbstbewusstsein wächst
und das haben meine Landsleute im Osten nötig. Das
wird auch für die Vollendung der deutschen Einheit hilfreich sein.
({0})
Die mentale Ost-West-Lage ist wichtig, mir aber geht
es heute vor allem um die ökonomischen und die soziaBundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
len Unterschiede. Wir haben Ihnen den Jahresbericht
zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt als eine Bilanz, als ein Programm der ökonomischen, sozialen und
gesellschaftlichen Dimensionen für das, was man so locker „Aufbau Ost“ nennt. Mir war wichtig, dass der Bericht ungeschminkt in der Bestandsaufnahme, klar in den
Zielen, effektiv bei den Instrumenten und auch redlich
im Gesamturteil ausfällt.
Ungeschminkt in der Bestandsaufnahme heißt: Wesentliche teilungsbedingte Strukturprobleme bestehen
noch. Es gibt im Osten kein ausreichendes Arbeitsplatzangebot. Die Arbeitslosigkeit ist unser Hauptproblem.
Trotz des leichten Rückgangs im September dieses Jahres
ist die Arbeitslosigkeit im Osten mehr als doppelt so hoch
wie im Westen. Die Zahl wäre übrigens noch höher, wenn
nicht täglich 350 000 Menschen aus den Ostländern in
den Westen pendeln würden. Diese Sonderbelastung, die
die Leute auf sich nehmen und die der deutschen Wirtschaft hilfreich ist, sollte nicht mit einschneidenden Kürzungen der Entfernungspauschale bestraft werden.
Nach wie vor schlägt die hohe Arbeitslosigkeit in der
Bauwirtschaft dramatisch zu Buche. 160 000 ostdeutsche Bauarbeiter sind arbeitslos. Ich hoffe, dass die
heute Nacht geschlossene Vereinbarung zur Tarifflexibilisierung hierbei etwas Abhilfe schaffen kann.
Auch die Herausforderungen der Globalisierung und
der neuen technologischen Entwicklungen machen vor
Ostdeutschland nicht Halt. Die darin liegenden Chancen
werden zwar genutzt, doch zunächst einmal kostet diese
Entwicklung Arbeitsplätze. In den wettbewerbsfähigen
und leistungsstarken ostdeutschen Standorten der Energiewirtschaft, der Stahlindustrie, der chemischen Industrie, des Maschinenbaus und auch in der Landwirtschaft
erledigt heute eine Arbeitskraft die Arbeit, die früher sieben oder acht Menschen verrichtet haben.
Der Verlust von Arbeitsplätzen löst Abwanderung
aus. Seit der ersten starken Abwanderungswelle 1989/90
verlassen weiterhin mehr Menschen Ostdeutschland, als
neu hinzukommen. Ostdeutschland hat seit 1991 etwa
620 000 Bürgerinnen und Bürger verloren. Es gehen vor
allem die jungen und gut qualifizierten Menschen, die
beim weiteren Aufbauprozess fehlen werden. Zwei Drittel davon sind Frauen. Das freut mich zwar für die Männer im Westen,
({1})
aber uns fehlen die Mütter von morgen.
Hinzu kommt der demographische Wandel in ganz
Deutschland, der in den neuen Ländern durch eine sehr
niedrige Geburtenrate weiter verschärft wird. Unsere
Gesellschaft wird älter, weil die Kinder fehlen. Kindertagesstätten und Schulen müssen geschlossen werden. Wir
können bereits absehen, dass in den nächsten Jahren
deutlich weniger Auszubildende zur Verfügung stehen
werden als gebraucht werden. Diese Lösung des Ausbildungsproblems brauchen wir nicht!
Nach wie vor gibt es viele strukturschwache Regionen in den neuen Ländern mit sehr hohen Arbeitslosenzahlen. Einige strukturschwache Regionen gibt es durchaus auch im Westen Deutschlands. Sie aber haben starke
Wachstumszentren in der Nähe. Dagegen sind die drei
großen Wachstumsregionen im Osten Deutschlands um
Dresden, Leipzig und Potsdam - das haben alle Nachforschungen ergeben - noch nicht stark genug, um genügend Menschen aus schwachen Regionen Arbeit zu bieten. Die Westdrift hält an.
({2})
Dies ist kein Klagelied. Das sind Fakten, aber es ist
nur die halbe Wahrheit.
({3})
Zur Wahrheit gehören auch diese Fakten: Im vergangenen Jahrzehnt konnten 520 000 Unternehmen mit mehr
als 3 Millionen Arbeitsplätzen geschaffen werden. Die
Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe ist positiv. Die
Wachstumsraten lagen in den letzten sieben Jahren im
Schnitt zwischen 5 und 6 Prozent und auch im ersten
Halbjahr dieses Jahres ist das verarbeitende Gewerbe in
Ostdeutschland um 5,5 Prozent gewachsen.
Mit industriellen Neuansiedlungen im Automobilund Maschinenbau, in der chemischen Industrie, der
Hochtechnologie, aber auch in der Energiewirtschaft
wurden nicht nur zukunftssichere Arbeitsplätze, sondern
auch die Voraussetzung für die Ansiedlung von Dienstleistungs- und Zulieferunternehmen geschaffen.
({4})
Auch im Dienstleistungsbereich werden ermutigende
Fortschritte erzielt. Die Tourismusbranche ist dafür ein
gutes Beispiel. Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise hat seit Jahren die höchsten Wachstumsraten in
dieser Branche.
Mit der Entwicklung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind in Ostdeutschland moderne
Kompetenzzentren entstanden, die sehr eng - vorbildlich
eng - mit der Wirtschaft zusammenarbeiten und dabei
noch zusätzliche Impulse liefern.
({5})
Meine Damen und Herren, der Jahresbericht zum
Stand der deutschen Einheit zeigt Schatten und Licht.
Vor allem aber ist er ein Auftrag zum Handeln. Die Bundesregierung verfolgt folgende Hauptziele:
Erstens. Wir müssen die Grundlagen für mehr und sichere Beschäftigung durch eine Stärkung und Entfaltung
der wirtschaftlichen Kräfte schaffen. Dazu gehört die
Stärkung des Mittelstandes durch verbesserte Finanzierungsangebote und die Verbesserung der Eigenkapitalquote.
Zweitens. Ostdeutschland muss seine eigenen Standortvorteile, Kompetenzen und Qualitäten noch stärker
nutzen. Entsprechende Regierungsprogramme müssen
fortgesetzt werden.
({6})
Drittens. Bei all den notwendigen Veränderungen
müssen wir das soziale Gleichgewicht im Blick behalten. Vor allem junge Familien müssen die Möglichkeit
haben, ihre Zukunft in Ostdeutschland zu finden.
({7})
Aus der Bestandsaufnahme und aus der Zielbeschreibung folgen aber auch die Aktionsfelder und die Instrumente. Schwerpunkte unseres Regierungshandelns für
Ostdeutschland sind:
Erstens. Investitionen müssen weiter gefördert werden. Noch hat Ostdeutschland ein erhebliches industrielles Defizit in Folge der Deindustrialisierung der 90erJahre. Jede Chance einer Industrieansiedlung muss genutzt werden. Das gilt auch für die Chipfabrik in
Frankfurt ({8}). Für Industrieansiedlungen haben wir
den Vertrag mit der Agentur zur Anwerbung ausländischer Investoren, IIC, bis 2008 verlängert, um weltweit Partner darauf aufmerksam zu machen, dass Ostdeutschland ein idealer Investitionsstandort ist.
Deshalb müssen die Möglichkeiten für Investitionszuschüsse erhalten bleiben. Die beiden Fördermöglichkeiten, die Investitionszulage und die Zuweisungen aus
den europäischen Strukturfonds, müssen verlängert
werden.
({9})
Zweitens. Innovationen im Osten müssen weiter unterstützt werden. Neue Forschungseinrichtungen und andere Bundeseinrichtungen müssen, wie vorgesehen, auf
absehbare Zeit vorrangig im Osten Deutschlands angesiedelt werden. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen.
Vor wenigen Tagen hat sich ein winziges Institut mit gerade einmal 70 Mitarbeitern auf dem Beeskower Landrücken - das ist eine sehr strukturschwache Region - angesiedelt. Sie ahnen gar nicht, was das für die Belebung
der Wirtschaft bedeutet und welch eine Ermutigung das
für die dort lebenden Menschen ist!
Drittens. Die Infrastruktur im Osten muss weiter gestärkt werden. Ich meine damit die Verkehrswege, die
kommunale Infrastruktur und den Stadtumbau.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?
Hinterher gerne. - Wie gesagt, wir müssen die Infrastruktur im Osten weiter stärken. In dieser Legislaturperiode darf hier nicht nachgelassen werden.
({0})
Viertens. Auf absehbare Zeit muss eine aktive Arbeitsmarktpolitik für strukturschwache Regionen mit hoher
Arbeitslosigkeit fortgesetzt werden, so wie das schon die
jetzigen Regelungen vorsehen. Das Programm für
100 000 Langzeitarbeitslose und das Sonderprogramm
des Bundes für 100 000 jugendliche Sozialhilfeempfänger sind Maßnahmen, die gebraucht werden, und zwar
auch in Zukunft.
Fünftens. In ganz Deutschland müssen die Finanzen
der Kommunen gestärkt werden. Die Kommunen
könnten größter Auftraggeber für Investitionen sein,
wenn ihre Finanzkraft gestärkt würde oder wenn ihnen
zumindest bedienbare Kredite angeboten würden, wie
wir das mit dem erfolgreichen Milliardenprogramm seit
April dieses Jahres praktizieren.
Sechstens. Wir müssen schließlich die vielen Chancen, die sich mit der EU-Osterweiterung verbinden,
konsequent nutzen. Hier ist es auch wichtig, dass vor allem die Grenzregionen eine flankierende Unterstützung
bekommen, wie sie die Europäische Union in Aussicht
gestellt hat.
({1})
Auch die Umsetzung der anstehenden Reformen kann
dem Osten helfen. Ich kann Ihnen versichern, dass die
Ostdeutschen reformbereit sind. Sie erwarten allerdings,
dass die Reformen gerecht durchgeführt werden, dass
also die Armen nicht noch ärmer werden.
({2})
Gezielt Politik für Ostdeutschland zu machen bleibt
eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Innenpolitik.
({3})
Mit dem Solidarpakt II haben wir Vereinbarungen bis
zum 31. Dezember 2019 getroffen, die insgesamt für einen Zeitraum von 30 Jahren gelten. In knapp der Hälfte
dieser Zeit haben wir deutlich mehr als die Hälfte des
Weges geschafft. Die Weichen sind in die richtige Richtung gestellt.
Ich möchte zum Schluss die Gelegenheit nutzen, allen in diesem Haus für das Mitdenken und auch die Bereitschaft für die Unterstützung wichtiger Maßnahmen
zu danken. Ich bitte Sie um Ihre weitere konstruktive,
aber auch kritische Begleitung des großen Projektes
deutsche Einheit. Es wird gelingen; das ist meine Überzeugung.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Kretschmer.
Herr Bundesminister, mit Verlaub, aber gerade für die
junge Generation aus den neuen Ländern war Ihr Vortrag
deprimierend, sowohl wegen der lustlosen und gleichMichael Kretschmer
gültigen Art, wie Sie vorgetragen haben, als auch wegen
des Inhalts.
({0})
Wir wünschen uns eine Zukunftsperspektive für die
neuen Ländern. Wir brauchen - ich habe das schon vor
einem Jahr gesagt; ich weiß es noch heute - ein Konzept.
Was ist denn das Ziel der Regierung?
({1})
Wie schaffen wir den Aufbau Ost?
Ich will nur ein paar Details nennen. Sie haben Forschung und Entwicklung angesprochen. 1,6 Milliarden
Euro, Herr Bundesminister, hat Frau Bulmahn Anfang
des Jahres für Großforschungseinrichtungen zugesagt.
Von 1,6 Milliarden Euro sind 12,4 Millionen Euro für
das Forschungszentrum Rossendorf in Dresden vorgesehen, alles andere geht in die alten Länder. Ist das eine
Schwerpunktsetzung für die neuen Länder? In einer
Ausarbeitung des BMBF über die Haushaltsentwicklung
von 2002 bis 2004 wird auf die Auswirkungen der Kürzungen in den neuen Länder hingewiesen: Die Mittel für
optische Technologien sinken von 15 auf 14 Millionen
Euro, die Mittel für Mobilität und Verkehr von 11 Millionen auf 8,4 Millionen Euro. Im Hochschulbau haben
wir ganz massive Einschnitte. Ich frage Sie, wie das, was
Sie uns vorgetragen haben - Schwerpunkt Innovation,
Schwerpunkt Aufbau Ost -, mit den Zahlen, die ich gerade vorgetragen habe, zusammenhängt.
({2})
Zur Erwiderung, Herr Minister Stolpe.
Herr Präsident! Das war eine bemerkenswerte Anfrage. Ich denke aber, es wäre wichtiger, dass wir konkret an diesen Themen arbeiten. Sie wissen, dass das
Material in die Ausschüsse überwiesen wird. Ich bin gespannt, welche handfesten Vorschläge zu Maßnahmen
Sie dann machen können, mit denen man wirklich etwas
erreichen kann.
({0})
Ich bitte um Nachsicht, dass wir jetzt nicht jenseits
der vereinbarten Wortmeldungen eine spontane Debatte
durch kurzfristige Wortmeldungen herbeiführen wollen;
denn es ist natürlich absehbar, dass das dann nicht auf
die eine Seite beschränkt bliebe, sondern sich quer durch
alle Fraktionen verteilen würde. Deswegen bemühen wir
uns zunächst einmal um die Abarbeitung der vereinbarten Redeliste.
Ich erteile nun das Wort dem Innenminister des Landes Brandenburg, Herrn Dr. Schönbohm.
Jörg Schönbohm, Minister ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, den
ich persönlich schätze, hat mit seinem Unwort von der
Weinerlichkeit der Ostdeutschen manches gefördert,
aber auf gar keinen Fall die deutsche Einheit. Ich bedauere dies.
({1})
Seine Kennzeichnung ist unzutreffend, verletzend und
töricht. Sie zeugt von Unkenntnis. Die Menschen in Ostdeutschland haben in den zurückliegenden Jahren
Herausforderungen gemeistert, von denen viele in unserem Land nicht einmal vom Hörensagen Kenntnisse
haben. Wenn man über die neuen Bundesländer spricht,
kann man von Hoffnung oder Enttäuschung, von Aufbruch oder Resignation sprechen - ja, es gibt alles nebeneinander. Die neuen Bundesländer sind wie ein Vexierbild: Je nachdem, wie oder mit welchem Vorurteil
Sie hineinschauen, sehen Sie das Bild, das Sie erwarten.
Darum müssen wir von den Menschen sprechen, die
in den neuen Bundesländern leben, von den Menschen,
die in Regionen mit mehr als 20 Prozent Arbeitslosigkeit
Arbeit suchen, oder von denen, die zum vierten oder
fünften Mal den Arbeitsplatz verloren haben, sich haben
umschulen lassen und wieder vor dem Nichts stehen. Ich
möchte das sehr konkret an einem Beispiel deutlich machen. Eine junge Frau war zum Ende der DDR Fleischfachverkäuferin. Der Beruf fiel weg. Sie hat umgeschult,
ist Bürokauffrau geworden und hat bei einem Immobilienunternehmen gearbeitet. Das Immobilienunternehmen ging Pleite. Sie ist zum nächsten Unternehmen gegangen. Auch dieses ging Pleite. Dann hat sie als allein
erziehende Frau mit einem Kind bei einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet und hat sich so bewährt, dass sie einen
festen Arbeitsplatz bekommen hat. Dieses kleine Beispiel steht für den Alltag, mit dem wir uns in den neuen
Bundesländern auseinander setzen müssen.
Wir müssen auch von den Tausenden von Existenzgründern sprechen, die gescheitert sind, weil sie keine
Eigenkapitaldecke hatten, weil die Zahlungsmoral
schlecht ist oder weil sie sich am Markt nicht durchsetzen können. Darum, Herr Kollege Stolpe, finde ich es
gut, dass Sie sagen, Sie wollen die Eigenkapitaldecke
verbessern. Das wollen wir seit langer Zeit; wir haben
damit nach wie vor ein Problem.
Wir müssen auch von den Jugendlichen sprechen, die
keinen heimatnahen Ausbildungsplatz bekommen, weil
es in ihrer Heimat keine Betriebe mehr gibt. Wir müssen
auch von den Eltern sprechen, die Sorge haben, dass ihre
Kinder von zu Hause weggehen, weil sie zu Hause keine
Zukunft sehen. Wir müssen auch von den Jugendlichen
sprechen, die an den Universitäten fleißig studieren, danach im heimatnahen Bereich keine Arbeit bekommen
und woanders hingehen. Wir müssen an die fehlende
Minister Jörg Schönbohm ({2})
Verkehrsinfrastruktur in ländlichen Gebieten erinnern,
die das Leben täglich so schwer macht.
Wir müssen aber auch an die Erfolgreichen erinnern,
die sich am Markt durchgesetzt haben. Sie haben nicht
resigniert, sondern sie sind tatkräftig, durch Eigeninitiative, der Arbeitslosigkeit entronnen. Wir müssen von
den jungen Unternehmern sprechen, die in ihrer Heimat
bestehen. Sie haben mutige Entscheidungen getroffen
und ein großes Risiko auf sich genommen. Sie stellen ihr
persönliches Vermögen, zum Beispiel den Grundbesitz,
den sie von ihren Eltern bekommen haben, zur Verfügung und setzen sich in konjunkturell schwierigen Zeiten in einem strukturell schwierigen Landstrich durch.
Diese Menschen gibt es auch - Gott sei Dank. Es handelt
sich um junge Handwerksmeister mit eigenen Handwerksbetrieben und um andere Personen, die in der gewerblichen Wirtschaft tätig sind.
In Brandenburg gibt es zum Beispiel, wie in anderen
Bundesländern, erfolgreiche Industrieansiedlungen. Ich
möchte nur an die Luft- und Raumfahrtindustrie oder an
die chemische Industrie erinnern. Wir alle schauen jetzt
mit großer Spannung nach Frankfurt an der Oder, wo
eine Chipfabrik gebaut werden soll. Es geht um 1 300
Arbeitsplätze. Hunderte von Familien warten auf den
Bau dieser Fabrik. Man wartet darauf, dass man an eine
in der DDR große und erfolgreiche Tradition, nämlich an
die eines Halbleiterwerks - dort wurden viele Männer
und Frauen ausgebildet; sie waren sehr qualifiziert -, anknüpfen kann. Dieses Bangen überschattet im Augenblick alles, was in dieser Region geschieht.
Wenn Sie sich mit Unternehmern unterhalten, die Betriebe in Ost- und in Westdeutschland haben, dann werden Sie immer wieder eines hören: das Lob für den Fleiß
und die Flexibilität der Arbeitnehmer in Ostdeutschland,
das Lob für ihre Zuverlässigkeit und für ihre Bereitschaft, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen der Markt
vorgibt. Auch ich möchte den Arbeitnehmern in Ostdeutschland einmal dafür danken.
({3})
Enttäuschung und Resignation sind da besonders verbreitet, wo Versprechungen, Hoffnungen und die Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Das ist unser Problem.
Ich denke an Menschen, die noch immer fühlen, dass sie
mit ihren Sorgen und Problemen nicht für voll genommen werden. Es ist völlig klar: Wir in den neuen Ländern brauchen auch in Zukunft Geld und wir bekommen
auch viel Geld. Ich möchte hier ausdrücklich all denjenigen danken, die uns dieses Geld zur Verfügung gestellt
haben, seien es die Bundesländer, sei es die Europäische
Union oder die Bundesregierung. Wir Deutsche haben
insgesamt eine großartige Gemeinschaftsleistung vollbracht. Das müssen wir auch einmal dankend anerkennen.
({4})
Solange der Gedanke im Vordergrund steht, dass das
Geld in den Osten fließt, und nicht der Gedanke, dass
wir Deutschland gemeinsam wieder aufbauen, und zwar
in all seinen Teilen, werden wir der Einheit nicht wirklich näher kommen. Beim Hochwasser hatten wir diese
hohe Emotionalität der Gemeinsamkeit. Wir müssen uns
dazu bekennen, dass wir diese Aufgabe als Nation, also
gemeinsam, schultern und nicht als Westen oder als Osten oder als Westen gegen den Osten. Für mich gehören
das Bekenntnis zur Nation und die deutsche Einheit zusammen.
Bisweilen reden die Menschen im Westen über den
Osten so, wie sie nie über die Saarländer, die Holsteiner,
die Bayern oder die Niedersachsen geredet haben. Die
Menschen im Osten reden über den Westen häufig so,
wie sie es früher wahrgenommen oder mittlerweile erlebt haben - mit Vor- und Nachteilen. Häufig herrschen
Sprach- und Interessenlosigkeit, von den Vorwürfen der
Weinerlichkeit und der Arroganz einmal abgesehen. Wir
sollten mehr miteinander reden, mehr voneinander lernen und wissen. Sich lediglich einmal gemeinsam fotografieren zu lassen und das Foto zu veröffentlichen fördert diesen Dialog nicht.
Die Oberfläche des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit ist glatt. Dieser
Bericht liest sich gefällig und gut. Alles scheint gut zu
sein. Vieles ist erreicht, ja. Wir brauchen Investitionen,
ja. Wir müssen die Investitionsbereitschaft und auch die
Innovationen fördern, natürlich. Mittelstand und Handwerk müssten gefördert werden, ja. Die Stabilisierung
im Bausektor müsste unterstützt werden, ja. Das alles ist
richtig. Die Frage ist aber: Welche Impulse werden gegeben, um dies umzusetzen?
In diesem Bericht ist von Netzwerken und von innovativen Impulsen für die Region, von Bildung und Forschung sowie vom Ausbau der Verkehrsinfrastruktur die
Rede. Es ist richtig: Das alles muss geschehen. Aber angesichts der Realitäten bleibt dies ein Katalog von Formulierungen. Der Bericht mag weitgehend zutreffend
sein. Aber täuscht er wegen der verwendeten Allgemeinplätze und der zum Teil sozusagen ewigen Wahrheiten,
die seit zehn Jahren wahr sind und auch noch in zehn
Jahren wahr sein werden, nicht über den gelebten Alltag
hinweg? Wirklichkeit und Bericht, meine ich, klaffen
auseinander.
({5})
Von dem statistischen Teil abgesehen, vermittelt der
Bericht einen Eindruck, der mit der allgemeinen Wahrnehmung offenkundig nicht in Einklang steht. Ich
möchte zwei Beispiele für solche semantischen Luxusverpackungen zitieren. Auf Seite 30 - das ist noch unter
der Überschrift „Stabilisierung im Bausektor unterstützen“ - findet sich als Zusammenfassung folgende Formulierung:
Mit dem beispielhaft aufgeführten Maßnahmenbündel
- Public Private Partnership, Kontrolle illegaler Beschäftigung usw. werden trotz des unverminderten Zwangs zur Haushaltskonsolidierung auch von öffentlichen InvestiMinister Jörg Schönbohm ({6})
tionen Impulse für eine Verstetigung der Bautätigkeit ausgehen, die eine wichtige Voraussetzung für
mehr Wachstum und Beschäftigung insbesondere in
den neuen Ländern ist.
Richtig! Nur: Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Bei uns gibt es eine Verstetigung auf niedrigem Niveau. Um es ganz einfach auszudrücken: Uns steht das
Wasser bis zum Hals. Wir können den Kopf nicht mehr
hängen lassen; wir wollen es auch nicht.
Die brandenburgischen Kommunen haben im ersten
Halbjahr wegen Einnahmeverlusten von 30 Millionen
Euro bei der Einkommensteuer, 17 Millionen Euro bei
der Gewerbesteuer und wegen einer Steigerung der Ausgaben für die Sozialhilfe um 30 Millionen Euro ihre Investitionsausgaben um 50 Millionen Euro reduzieren
müssen, weil sie an der Verschuldungsgrenze waren. Investitionen in die kommunale Infrastruktur sind solche
für das örtliche Handwerk, für Hoch- und Tiefbau, für
alle anderen Gewerke. Darum brauchen die Kommunen
Hilfe und darum ist es wichtig, dass Sie hier im Bundestag zu einer Entscheidung über eine kommunale Finanzausstattung kommen, die es ermöglicht, das umzusetzen,
was wir gemeinsam wollen.
({7})
Wir wollen das gemeinsam machen - ich hoffe das - und
wir müssen es wohl auch gemeinsam machen, Herr Kollege Hilsberg, weil es in Bundesrat und Bundestag unterschiedliche Mehrheiten gibt. Seien wir doch froh darüber, dass wir in diesem Punkt einen Zwang zur
Gemeinsamkeit haben! Sie gehen nicht auf die Probleme
ein, die die Menschen vor Ort erleben. Das müssen Sie
genauso gut wissen wie ich; denn Sie kennen die Wirklichkeit.
Die Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik der Bundesregierung hat dazu geführt, dass die Bundesländer
und die Kommunen erheblich weniger Einnahmen haben
als bisher. Im Bericht sucht man das vergeblich. Da heißt
es nur:
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren mit
nachhaltigen Reformen die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Wirtschaftsstandortes Deutschland deutlich verbessert.
Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen und das ist unser Problem; Kollege Stolpe hat darauf deutlich hingewiesen.
Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den
neuen Ländern - so heißt es sinngemäß in dem Bericht - ging um 0,2 Prozent zurück und blieb hinter der
Entwicklung in den alten Ländern zurück. Man könnte
es auch einfach ausdrücken: Die Schere zwischen Ost
und West öffnet sich wieder. Das ist unser großes Problem und damit müssen wir uns auseinander setzen.
({8})
Zur Wahrheit gehört, dass man dies anspricht.
({9})
Ich habe keine Patentlösung, aber wir müssen die Wirklichkeit doch so wahrnehmen, wie sie ist, Herr Meckel;
Sie wissen das genauso gut wie ich. Fahren Sie einmal
durch die Uckermark! Wir haben doch gemeinsame Vorstellungen von den Dingen.
Im Teil A des Berichts findet sich lediglich eine halbe
Seite zum Thema Arbeitsmarktpolitik, obwohl der Arbeitsmarkt unser großes Problem ist. Die Lage in den
neuen Ländern ist unterschiedlich. Sie finden Aufbruchstimmung und Resignation, je nachdem, wie Sie
schauen. Manche - ja, auch die gibt es - mögen der allumfassenden Daseinsfürsorge nachtrauern. Aber die
Mehrheit möchte selbst Hand anlegen, möchte etwas
schaffen, möchte aus eigener Kraft das Leben und die
Zukunft gestalten, möchte etwas leisten, vorankommen,
dafür sorgen, dass es ihren Kindern einmal besser geht,
möchte eine Chance bekommen, wenn nicht für sich,
dann für ihre Kinder, wenn nicht bei uns zu Hause, dann
woanders. Darum bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit das Hauptthema. Im Bericht ist dargelegt, dass
rund 9 Milliarden Euro für den Arbeitsmarkt ausgegeben
werden. Dafür bedanken wir uns, weil es eine wichtige
Hilfe ist, aber unser Problem lösen wir durch die anderen
Dinge, die ich vorher angesprochen habe.
Es geht um die Zukunftsgestaltung von 16 Millionen Mitbürgern. Sie wollen eine faire Chance bekommen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Viele von
ihnen treibt die Sorge um das Hier und Heute. Helfen
wir ihnen, die Zukunft entschlossen anzugehen! Wir haben viel erreicht - das ist richtig -, aber unsere Mitbürger wollen Verlässlichkeit und eine Perspektive. Der Bericht weckt Hoffnung, aber das reicht nicht. Zu viele
Hoffnungen sind enttäuscht worden. Es müssen konkrete
Entscheidungen folgen. Die Zeit ist reif. Die Menschen
wissen es. Enttäuschen wir sie nicht und versuchen wir,
gemeinsam zu handeln!
Herzlichen Dank.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 17. September stellte Bundesminister
Manfred Stolpe den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit vor und erklärte dabei auch, dass der
Traum von einer schnellen Angleichung zwischen Ost
und West endgültig beerdigt werden müsse. Wenige
Tage später fragte mich ein Journalist, in welchem Zeitraum ich mir eine Angleichung vorstellen könne.
Ich persönlich habe nie den Traum geträumt, dass
eine Angleichung innerhalb von zehn oder fünf Jahren
möglich sei. Denn aus meiner persönlichen Erfahrung
und den Erlebnissen in Sachsen war mir schon Anfang
der 90er-Jahre bewusst und bekannt, welche riesigen
Aufgaben mit der Wiedervereinigung bewältigt werden
mussten. Für mich galt daher schon frühzeitig, dass wir
eine Generation - das sind für mich 30 Jahre - brauchen
würden, um eine ungefähre Angleichung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West zu erreichen.
Mir fiel in diesem Interview als Schlüsseljahr spontan
das Jahr 2019 ein. Denn 2019 werden wir des 30. Jahrestages der friedlichen Revolution gedenken. Aber in jenem Jahr wird auch der Solidarpakt II auslaufen, der den
ostdeutschen Bundesländern in den kommenden 15 Jahren nochmals erhebliche Transferleistungen zur Verfügung stellt.
Wie ist es nun mit dem Stand der deutschen Einheit?
Der Vollzug der wirtschaftlichen Einheit lässt sich an Parametern wie Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosigkeit
und Lohnniveau dokumentieren. Aber was ist mit der
Einheit in den Köpfen? Woran lässt sich diese festmachen? Woran können wir eine Angleichung zwischen
Ost und West erkennen?
Auch wenn manche es anders sehen werden: Für
mich persönlich haben wir hier in den letzten fünf Jahren
große Fortschritte gemacht. Denn alles braucht seine
Zeit. Vieles lässt sich eben nicht mit Transferleistungen
regeln. Wir haben in den letzten Jahren lernen müssen,
dass wir einander fremder waren, als unsere - zumindest
zum größten Teil - gemeinsame Sprache und Geschichte
glauben macht. Ich finde, dass sich daraus ein ganz
neuer und spannender Prozess eines zweiten Kennenlernens entwickelt hat.
Viele Menschen haben den Film „Good bye, Lenin!“
gesehen, gelacht und vielleicht auch einige Tränen vergossen. Dieser Film war nicht nur im Osten, sondern
auch im Westen ein Erfolg. Ich erinnere mich auch noch
sehr gut an den Film „Sonnenallee“, der im Osten alle
Kassenrekorde brach. Als ich ihn in Köln anschaute, befand ich mich in der Gesellschaft von etwa fünf Cineasten, von denen drei vorzeitig das Kino verließen, da sie
offensichtlich überhaupt nichts mit dem Thema anfangen konnten. Dazwischen liegen wenige Jahre. Aber in
diesem Zeitraum hat sich nach meiner Beobachtung einiges deutlich verändert. Ich bin der Meinung, dass wir
einander anders, besser und bewusster wahrnehmen, gelassener miteinander umgehen und bereit sind, uns erneut näher kennen zu lernen.
Gerade die Ostdeutschen haben in den letzten Jahren
erkannt, dass Geschichte und Vergangenheit nicht einfach in Müllcontainern und auf Mülldeponien landen
können und dürfen. Ein gesundes und differenziertes
Verhalten zur eigenen Geschichte ist zur Identitätsstiftung unerlässlich. Daher sehe ich persönlich die Inflation
von Ostalgieveranstaltungen eher gelassen und weniger
aufgeregt, auch wenn ich das Niveau mancher Veranstaltung lieber in den Mantel des Schweigens hüllen
möchte.
({0})
Dennoch bleibt ohne eine Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse die Einheit unbalanciert und
unvollständig. Die hohe Arbeitslosigkeit im Verhältnis
zu den wenigen offenen Stellen und das deutlich niedrigere Einkommensniveau bleiben die wesentlichen Herausforderungen für die nächsten Jahre.
Wir können uns darüber streiten, wie wir diese Ziele
am besten und am schnellsten erreichen können. Aber
ich darf wohl den Konsens in diesem Hause voraussetzen, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse kommen muss, und zwar je eher, desto besser.
({1})
Ich will aber daran erinnern, dass wir auch dann noch regionale, aber vertretbare Disparitäten haben werden. Das
war schon immer so, auch im Westen. Das ist auch gut
so; denn dabei handelt es sich um einen ganz natürlichen
Vorgang.
Für meine Fraktion will ich klarstellen, dass wir zu
den Vereinbarungen des Solidarpaktes II stehen und uns
für eine sinnvolle Verlängerung der Investitionszulage
und den Erhalt der EU-Strukturförderung engagiert einsetzen werden. Wir müssen uns aber der Verantwortung
dafür bewusst sein, dass diese Fördermittel bestmöglich
eingesetzt werden. Die Kritik an falscher Allokation von
Fördermitteln müssen wir ernst nehmen. Lassen Sie uns
darüber diskutieren, wie wir es schaffen, diese erheblichen Finanzmittel zielführender und erfolgreicher einzusetzen.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal
kurz auf die so genannte Neiddebatte eingehen, die unser Spätsommerloch anfüllte. Wir negieren nicht die Tatsache, dass es auch im Westen strukturschwache Regionen gibt, die unsere Solidarität benötigen. Aber es hat
mich schon sehr geärgert, dass suggeriert wurde, der Osten greife zum Beispiel im Bereich der Städtebauförderung zu Lasten der westdeutschen Kommunen alles ab.
Für mich ist das insofern besonders unverständlich, als
es zum Beispiel beim Stadtumbau Ost länderübergreifenden Konsens gab. Das lässt sich damit dokumentieren, dass die entsprechende Verwaltungsvereinbarung
von allen 16 Bundesländern unterschrieben wurde. Wie
auch bei anderen Fördermaßnahmen können wir uns
gerne darüber verständigen, was besser gemacht werden
kann. Aber für mich gilt auch hier: pacta sunt servanda Verträge bzw. Vereinbarungen sind zu erfüllen.
Ich möchte zum Schluss meiner Rede auf die Auswirkungen der Agenda 2010 und insbesondere der so
genannten Hartz-Gesetze auf die ostdeutschen Bundesländer eingehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II betrifft den Osten sehr viel stärker, da hier der Anteil der
Arbeitslosenhilfeempfänger mit über 1 Million Menschen sehr hoch ist und die finanzielle Entlastung der
Kommunen bei der Sozialhilfe deutlich niedriger ausfällt. Die Festlegung der Höhe des Arbeitslosengeldes II
auf das Sozialhilfeniveau macht mich alles andere als
glücklich. Die verschärfte Anrechnung von Partnereinkommen führt gerade bei Frauen im Osten zu harten
Einschnitten.
(Zuruf von der CDU/CSU: Warum tun Sie es
denn dann?
- Warten Sie einmal ab! - Wir haben uns in unserer
Fraktion an vielen Stellen gemeinsam für eine Entschärfung und Verbesserung der Gesetze eingesetzt und dabei
auch vieles erreicht.
({2})
Mehr war angesichts der schwierigen Haushaltslage einfach nicht möglich.
Es ist aber auch sichergestellt, dass in Zukunft Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit in veränderter
Form als ABM neu oder BSI einen Marktersatz für fehlende Arbeitsplätze darstellen werden. Wir wissen, dass
dies keine Dauerlösung sein kann. Die eigentlichen Arbeitsplätze müssen nämlich am ersten Arbeitsmarkt entstehen. Wir brauchen aber den zweiten Arbeitsmarkt, um
eine gewisse Stabilisierung der sozialen Verhältnisse zu
gewährleisten; deshalb ist er unersetzlich.
Ich habe aus Gesprächen mit Vertretern der Bundesanstalt für Arbeit, aber auch der Landesarbeitsämter den
positiven Eindruck mitgenommen, dass die Reformen
auf diesem Gebiet wirklich zu einer Verbesserung führen
werden. Es gibt das ehrliche Bemühen und die Zusage,
die Fördermaßnahmen auch in 2004 in beinahe unveränderter Höhe fortzuführen. Oberstes Ziel muss auch hier
sein, eine möglichst hohe Erfolgsquote zu erreichen, das
heißt letztlich die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt.
Hartz III und Hartz IV werden wir morgen in zweiter
und dritter Lesung verabschieden, wohl wissend, dass es
zu einem Vermittlungsverfahren kommen wird. Liebe
Kolleginnen und Kollegen der CDU, dann werden wir
auch über das unsägliche Existenzgrundlagengesetz des
Ministerpräsidenten Koch und über die Androhungen Ihres Parlamentarischen Geschäftsführers, Volker Kauder,
diskutieren müssen, die angeblich sozialen Wohltaten,
zum Beispiel bei der Zumutbarkeitsregelung oder bei der
Höhe des Arbeitslosengeldes II, zurückfahren zu wollen.
Machen Sie Ihren Kollegen einmal klar, wozu das im
Osten führen wird! Was versprechen Sie sich davon außer der Lufthoheit über den Stammtischen?
({3})
Es liegt auch in Ihrer Verantwortung, die an sich schon
harten Einschnitte durch die Reformgesetze so zu gestalten, dass sie noch sozial vertretbar sind. Aus dieser Verantwortung werden wir Sie, aber auch die ostdeutschen
Ministerpräsidenten nicht entlassen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegen von der Regierungskoalition können ja kaum erwarten, dass ich anfange zu reden.
({0})
- Ich weiß, dass Sie sich freuen.
Das Thema deutsche Einheit ist der FDP-Fraktion viel
zu wichtig, als dass es ihr ausreichte, über rein ökonomische Daten zu reden. Für uns ist die deutsche Einheit
auch 13 Jahre danach keine Selbstverständlichkeit. Es
waren die Grundpfeiler unserer Gesellschaft - Grundrechte, Freiheit und Demokratie -, die uns die deutsche
Einheit ermöglicht haben. Dank der Kraft, die aus diesen
Werten unserer Gesellschaft kommt, konnten wir die
deutsche Einheit vollenden. Ich will auch noch einmal an
das anknüpfen, was Minister Schönbohm hier zum Ausdruck gebracht hat: Es geht einfach nicht an, dass Politiker aus den Landesregierungen, aber auch aus dem Bund
die deutsche Einheit mit ihren Worten diffamieren. Wir
sagen ganz deutlich, dass die deutsche Einheit die Leistung der Menschen selbst gewesen ist,
({1})
dass die Ostdeutschen mit der selbst errungenen Freiheit
und die Westdeutschen mit einer gut funktionierenden
Marktwirtschaft diese deutsche Einheit politisch vollendet haben. Es soll nicht aus den Augen verloren werden, dass wir auf diese Weise eine gute Grundlage für
die Zukunft geschaffen haben.
Meine Damen und Herren, mich haben die Worte des
Altbundeskanzlers Schmidt, die Ostdeutschen, vor allem
die Rentner, sollten endlich aufhören zu jammern, sehr
enttäuscht, und zwar deswegen, weil hier alte Vorurteile
geprägt und die Lebensleistungen gerade älterer Menschen im Osten infrage gestellt werden.
({2})
Es waren doch die Menschen in den neuen Ländern, die
in der aktuellen Reformdebatte die Kugel ins Rollen gebracht haben. Was hätten wir denn gemacht, wenn die
Leipziger und Hallenser damals in der Leipziger Bahnhofspassage nicht mit den Füßen abgestimmt hätten?
Dann hätten wir bis heute nicht die Liberalisierung des
Ladenschlussgesetzes. Wir hätten bis heute keine Betriebsbündnisse zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern und keine Arbeitsplätze gesichert, wenn die Ostdeutschen nicht die entsprechende Einsicht gezeigt
hätten. Wir hätten bis heute keine Debatte über moderne
Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland.
Im Osten gibt es mehr Kreativität und Wachstumspotenzial als im gesamtdeutschen Durchschnitt. Die Bereitschaft zur Veränderung, selbst zu sozialen Einschnitten,
ist weitaus größer. Vieles, was im Osten gelebte Praxis
ist, ist für Gesamtdeutschland noch blanke Theorie.
Denken Sie an die Aufhebung des Tarifzwangs, an die
Streichung der Arbeitsplatzsubvention im Braunkohlebergbau - im Gegensatz zum Steinkohlebergbau! Denken Sie an die kürzeren Ausbildungs- und Studienzeiten,
aber auch an die hohe Mobilität der jungen Menschen im
Osten Deutschlands!
({3})
Aber genau Letzteres ist das Problem. Das kommt
auch in dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zum Ausdruck. Von 1989 bis 2002 hat eine Abwanderung von 1,45 Millionen Menschen aus dem Osten
stattgefunden. Allein im Jahr 2002 ist die Bevölkerung
einer Stadt in der Größenordnung Jenas von der Bildfläche verschwunden. Deswegen muss es das Ziel dieser
Bundesregierung sein, für Wachstum zu sorgen und die
Menschen in den neuen Ländern mit Zuversicht zu erfüllen. Aber ich erlebe, dass - insbesondere in den Ländern von Politikern der Regierungskoalition im Prozess der
deutschen Einheit mehr Zwietracht gesät wird.
({4})
Es war Herr Vesper von den Grünen, der gefordert hat,
die Fördermittel für den Wohnungsbau zu streichen. Es
war Herr Steinbrück, der die Investitionszuschüsse für
die neuen Länder infrage gestellt hat.
Ich bin Liberale. Ich will, dass strukturschwache Regionen in allen Ländern gefördert werden. Aber trotzdem halte ich diese Diskussion für nicht gerechtfertigt.
({5})
Die Menschen dort brauchen Arbeit. Jeder Fünfte im Osten Deutschlands ist arbeitslos. Das ist die eigentliche
politische Herausforderung, auch für die Bundesregierung. Die Bundesregierung hat versäumt - wir wissen,
Herr Stolpe, dass die Industriebasis nicht stark genug ist,
um den nötigen Beschäftigungszuwachs zu befördern -,
gerade für den Mittelstand, die Freiberufler und das
kleine Gewerbe die Grundlagen für die Entstehung von
Arbeitsplätzen zu schaffen. Dazu gehört für uns zuallererst ein Niedrigsteuergebiet mit einem Dreistufentarif
für ganz Deutschland.
({6})
Dazu gehört auch die Senkung der Lohnzusatzkosten.
Wir wollen sie auf 35 Prozent reduzieren. Gerade im
Hinblick auf die EU-Osterweiterung ist doch klar, dass
der Druck auf die Unternehmen, was die Löhne und Gehälter anbelangt, auch in Ostdeutschland viel größer
wird. Deswegen brauchen wir schnell Entscheidungen;
wir brauchen den großen Wurf und nicht kleine Trippelschritte in Reformpaketen.
Während im Westen trotz Konjunkturschwäche 2002
ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent
zu verzeichnen war, haben wir im Osten erstmals seit
zehn Jahren ein Minuswachstum von 0,2 Prozent. Das ist
auch ein Ergebnis falscher Weichenstellungen Ihrer Politik für den Aufbau Ost, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung.
({7})
Trotz des Lichtblicks der Zuwachsraten in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe, die in diesen Branchen zu einem Beschäftigungszuwachs beigetragen
haben, fehlt es an großen, wertschöpfungsstarken Betrieben. Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten beträgt
in Ostdeutschland lediglich 68 Prozent des Westniveaus.
Die Gründungsquote im Osten nimmt seit 1998 radikal
ab. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle gab Mitte
September bekannt, im Osten fehlten nach wie vor rund
100 000 Unternehmen. Da müssen wir den Hebel ansetzen. Niedrigere Steuern und niedrigere Sozialabgaben
müssen das Ziel für Gesamtdeutschland, aber insbesondere für die neuen Bundesländer sein.
({8})
Frau Pieper, denken Sie bitte an die Redezeit!
Der Anteil der Industrieforschung im Osten beträgt
nur noch 5 Prozent. Das ist zu wenig. Auch in diesem
Bereich setzt die Bundesregierung keine Prioritäten. Die
Bundesforschungsministerin hat gerade einmal 1 Prozent der Mittel, die für Großgeräte zur Verfügung standen, in die neuen Bundesländer fließen lassen. Das ist
nicht die richtige Weichenstellung.
Ich erwarte auch, dass die Bundesregierung das
nächste größere europäische Forschungsvorhaben, nämlich die Neutronenspallationsquelle, unterstützt und
sich für einen Standort in Deutschland, möglichst in den
neuen Bundesländern, einsetzt. Das wäre eine richtige
Weichenstellung.
({0})
Aber Sie vernachlässigen dieses Gebiet schon seit längerem.
Frau Kollegin, ich muss Sie nun wirklich bitten, auf
die Redezeit zu achten.
Ja, Herr Präsident. - Was Sie tun, hat nur Alibifunktion. Wir haben daher nur wenig Hoffnung, dass für die
Bundesregierung der Aufbau Ost Herzenssache ist.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der
PDS. - In dieser Debatte haben sich schon alle über AltDr. Gesine Lötzsch
kanzler Helmut Schmidt empört. Ich will ihn in Schutz
nehmen. Natürlich gibt es Weinerlichkeit, in Ost und in
West; auch ich finde sie nicht gut. Mir sind die
5 000 Rentnerinnen und Rentner lieber - das ist eine andere Reaktion -, die am Montag dieser Woche auf den
Straßen Berlins gegen die Rentenpläne der Bundesregierung demonstriert haben. Ich hoffe, es werden in den
nächsten Wochen und Monaten noch mehr Menschen
gegen Sozialabbau auf die Straße gehen.
({0})
Ich finde es wirklich nicht erträglich, wenn von der
Bundesregierung immer wieder argumentiert wird, dass
es den Rentnern gut gehe. Viele Rentnerinnen und Rentner haben 40 Jahre und länger gearbeitet und müssen
nun mit Minirenten auskommen. Sie empfinden es als
ungerecht, wenn sie nach einem langen Arbeitsleben zu
Bedürftigen degradiert werden sollen. Altkanzler
Schmidt ist wirklich schlecht informiert, wenn er in der
Rentenfrage behauptet, es werde über manches geklagt,
was nicht beklagenswert sei.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Die ehemaligen
Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn haben in der
DDR Ansprüche auf eine Altersversorgung erworben,
die ihnen der Bund nicht gewähren will. Obwohl die
Bahnen und das entsprechende Vermögen zusammengeführt wurden, erhielten nur die Bundesbahner Besitzschutz für ihre Altersversorgung. Für die Hunderttausend Reichsbahner wurde bis heute keine Regelung
gefunden. Es geht also nicht um Weinerlichkeit, sondern
es geht um berechtigte Forderungen, denen die Bundesregierung endlich nachkommen muss. Da helfen auch
schöne Sonntagsreden, wie wir sie heute gehört haben,
nicht.
({1})
Altkanzler Schmidt hat in dem Interview mit der
„Sächsischen Zeitung“ auch viel Richtiges gesagt, was
in der allgemeinen Hysterie leider untergegangen ist. Er
hat festgestellt, dass der Aufholprozess im Osten schon
1996 unterbrochen wurde und dass in Ostberlin und
Bonn ökonomische Dilettanten am Werk waren. Einen
dieser laut Altkanzler Schmidt ökonomischen Dilettanten, Herrn Schäuble, will die CDU nun zum Bundespräsidenten wählen. Ein wahrlich schlechter Vorschlag!
Der Osten kippt. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist
doppelt so hoch wie im Westen. Die Investitionen sinken
und die Jugend wandert aus dem Osten in den Westen
ab. Natürlich wurde viel Geld in den Osten transferiert.
Aber offensichtlich haben diese Transfers ihre Wirkung
nicht erzielt. Ist es nicht verwunderlich, dass unsere östlichen Nachbarn ein beachtliches Wirtschaftswachstum
haben, obwohl sie über weniger Geld verfügen und ihre
wirtschaftliche Ausgangslage schlechter ist als die im
Osten Deutschlands? Es ist eben so, dass es offensichtlich nicht reicht, nur viel Geld auszugeben. Man muss
manchmal auch ganz neue und ungewöhnliche Maßnahmen und Methoden anwenden, um etwas nach vorne zu
bringen. Doch dazu fehlt es Ihnen an Mut und Ideen.
Es ist wirklich schlimm, dass die Bundesregierung die
Besonderheiten des Ostens in ihrer Gesetzgebung nur
unzureichend berücksichtigt. Ein Beispiel sind die
Hartz-Gesetze; der Kollege von den Grünen hat es klar
erkannt. Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit in
Ostdeutschland von 20 Prozent ist es absurd und menschenverachtend, den Druck auf die Arbeitslosen ständig
zu erhöhen, ohne ihnen Arbeitsplätze anzubieten. Die
Gesetze, die morgen verabschiedet werden sollen, machen deutlich, dass es in diesem Bundestag ein dramatisches Defizit an Ostkompetenz gibt.
({2})
Hier haben Ost-SPD und Ost-CDU völlig versagt. In der
morgigen Abstimmung über die Hartz-Gesetze haben
Sie Gelegenheit, diesen Eindruck zu korrigieren. Dazu
fordere ich Sie auf.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mir geht es heute wie im vorigen Jahr: Angesichts
des zuvor Gesagten kann man die vorbereitete Rede nur
beiseite legen. Insbesondere das, was Sie, Frau Pieper,
ausgeführt haben, ist blanke Theorie und entbehrt jeder
Tatsache. Die Situation ist schon sehr schwierig.
Ich darf Ihnen einmal ein Zitat von Ministerpräsident
Böhmer - ich gehe einmal davon aus, dass Sie den Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt unterstützen; Kollege Ludwig Stiegler und ich waren zwei Tage nach der
Feier in Magdeburg in Sachsen-Anhalt unterwegs - aus
„Innovative Verwaltung“, Heft 10 des Jahres 2003, vorlesen:
Heute haben sich an zahlreichen Standorten, die mit
hohem finanziellen Aufwand saniert wurden, wieder zukunftsträchtige Unternehmen angesiedelt.
Dieser Strukturwandel läuft permanent weiter.
Denken Sie, dass sich diese Unternehmen erst seit dem
Zeitpunkt angesiedelt haben, seit dem Ministerpräsident
Böhmer die Regierung übernommen hat? Das ist vielmehr ein Prozess, den die rot-grüne Regierung seit 1998
mit ihren Clusters in Gang gesetzt hat.
({0})
Frau Pieper, wir haben Unternehmen besucht. Wir haben uns nicht nur in der Staatskanzlei mit dem Finanzstaatssekretär bzw. mit Kollegen des Landtages unterhalten. Wir waren auch bei Unternehmern in Staßfurt und
Barleben. Die haben uns händeringend darum gebeten,
in der Förderpolitik, aber insbesondere auch in der Steuerpolitik nicht nachzulassen und Einfluss auf die Länder
zu nehmen, damit steuerliche Entlastungen zustande
kommen und unsere Förderung weiter fließt.
Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege Scheffler, Sie hatten mich direkt angesprochen. Deswegen eine Rückfrage von mir: Ist Ihnen
bekannt, dass es SPD-Ministerpräsidenten und -Minister
sind, die Investitionszuschüsse und -zulagen für die
neuen Länder infrage stellen? Diese sind ja mehreren
Gutachten gemäß die Ursache dafür, dass es überhaupt
Anreize für Investitionen und Industrieansiedlungen
gibt. Ist Ihnen bekannt, dass das Bundesland SachsenAnhalt eine Bundesratsinitiative gestartet hat - sie hat
dem Bundesrat vorgelegen -, Modellregionen im Hinblick auf den Bürokratieabbau zu schaffen, und dass die
Bundesregierung bis heute nicht gehandelt hat und, wie
ich gehört habe, plant, nur in strukturschwachen Regionen in den alten Bundesländern Modellregionen zuzulassen?
Ich möchte darauf jetzt nicht direkt eingehen, weil ich
im Laufe meiner Rede den Masterplan Bürokratieabbau
konkret ansprechen werde. Ich werde die Probleme am
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz deutlich
machen.
({0})
Auf die I-Zulage und auf weitere Dinge werde ich dann
in diesem Zusammenhang zu sprechen kommen.
Insofern kann ich Sie nur ermuntern, auf die Ministerpräsidenten über die Parteigrenzen hinaus einzuwirken
- das betrifft nicht nur Herrn Steinbrück, sondern auch
Ministerpräsident Koch; hier sind die verschiedenen Parteifarben verantwortlich -, dass für die neuen Bundesländer letztendlich eine entsprechende Entlastung zustande kommt. Insofern stimme ich Ihnen zu und kann
Sie nur ermuntern, diese Bundesratsinitiative zu unterstützen.
Herr Minister Schönbohm, der Bericht, den Minister
Stolpe für die Bundesregierung heute vorgestellt hat, ist
überhaupt nicht glatt. Wer ihn intensiv gelesen hat,
kommt zu der Meinung, dass das der erste Bericht ist,
({1})
in dem die Probleme in aller Deutlichkeit aufgezeigt
werden. Ganz wichtig ist - das ist in den vorherigen Debattenbeiträgen und auch in dem von Frau Pieper überhaupt nicht zum Ausdruck gekommen -, dass auch konstruktive Vorschläge vorgetragen werden.
({2})
Es wird das dargestellt, was im Grunde genommen in
den alten Bundesländern bemängelt wird. Sie gehen nur
auf die Problemregionen ein. Natürlich haben wir solche
Problemregionen; das kehren wir nicht unter den Tisch.
Aber bei einer Redezeit von zwölf Minuten kann weder
der Minister noch ich all das ansprechen.
Auf konstruktive Dinge sollte man eingehen, zum
Beispiel auf das Konzept des Ministerpräsidenten
Milbradt - er ist Ihr Kollege ({3})
für den Aufbau Ost, das er in einigen Monaten vorlegen
will. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn der Bericht
in den Ausschuss überwiesen wird, wird die Landesgruppe Ost gemeinsam mit unserem Koalitionspartner
einen eigenen Antrag vortragen, und nicht erst in Monaten. Darin werden die Dinge konstruktiv angesprochen,
die wir in Abstimmung mit der Bundesregierung erarbeitet haben.
({4})
Den Kollegen, die dazwischenrufen, möchte ich sagen:
({5})
Der Einigungsprozess muss mit Blick auf die aktuelle
Steuersituation und unter Berücksichtigung der weltweiten Entwicklung, aber insbesondere unter Berücksichtigung der europäischen Entwicklung, fortgeschrieben
werden. Es wäre doch schlimm, wenn wir bei den Konzepten der alten Regierung stehen bleiben würden. Die
Welt hat sich weiterentwickelt.
({6})
Auch hinsichtlich der EU-Osterweiterung mussten bestimmte Maßnahmen ergriffen werden.
({7})
Auf den Solidarpakt II möchte ich jetzt nicht weiter
eingehen. Gestatten Sie aber auch mir als Landesgruppensprecher Ost in der SPD-Fraktion, die Menschen in
den neuen Bundesländern direkt anzusprechen; einige
Kollegen haben das bereits getan. Trotz aller Transferleistungen, die wir über die Parteigrenzen hinaus anerkennen, haben die Bürgerinnen und Bürger in den neuen
Ländern einen unvergleichlichen Härtetest bestanden
und müssen ihn wahrscheinlich noch einige Jahre lang
bestehen. Die übergroße Mehrheit der Menschen hat ihn
mit Bravour bestanden. In diesem Zusammenhang weise
ich den Vorwurf der Weinerlichkeit in den neuen Bundesländern zurück.
({8})
Auch schließe ich mich über die Parteigrenze hinweg
den Worten von Minister Schönbohm an. Er hat ausgeführt, dass auch dann, wenn die Parteifarben wechseln,
nicht weniger Geld für den Aufbauprozess zur Verfügung gestellt werden dürfe. Ja, auch wir fordern das. Ich
füge hinzu: Wer weiß, ob das Selbstvertrauen der Menschen in den neuen Ländern, das durch diese Erfahrung
gewachsen ist, nicht noch einmal zu einem wichtigen
Kapital für ganz Deutschland wird, nämlich dann, wenn
wir die anstehenden Reformen - hier wird sich noch so
mancher aus den alten Bundesländern wundern - umsetzen werden.
Wir haben heute schon vom überproportionalen
Wachstum im verarbeitenden Gewerbe gehört. In Brandenburg gibt es international wettbewerbsfähige Zentren. Das gilt auch für Berlin; in meinem Wahlkreis gibt
es unter anderem den Wissenschafts-, Wirtschafts- und
Medienstandort Adlershof. Diese Zentren gibt es auch in
der chemischen Industrie und im Automobilbau. Aber
- das wurde weder von Minister Stolpe noch von der
Bundesregierung beschönigt - Fakt ist, dass Jahr für Jahr
einhunderttausend zumeist gut ausgebildete und qualifizierte junge Leute unsere strukturschwachen Regionen
verlassen. Bei unserer Reise durch Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere durch den Landkreis UeckerRandow - der Kollege Meckel wurde bereits erwähnt -,
konnten wir uns davon überzeugen.
Wir verkennen nicht, dass hier besondere Anstrengungen notwendig sind; der Kollege Hettlich hat das
Hartz-IV-Paket bereits angesprochen. Aufgrund der Finanzsituation des Bundes ist es manchmal aber nicht
möglich, die Situation besser zu meistern. Wir dürfen in
diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass wir
Arbeitsplätze nicht auf dem zweiten, dem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt schaffen wollen, sondern auf
dem ersten. Wir wollen den ersten Arbeitsmarkt beleben,
dort wollen wir die Arbeitsplätze schaffen. Aber auch im
Jahr 2004 und darüber hinaus müssen wir den Menschen
auf dem zweiten Arbeitsmarkt durch Anstrengungen der
Bundesanstalt für Arbeit bzw. der Bundesagentur für Arbeit, wie sie nach den Hartz-III-Vorstellungen heißen
wird, helfen. Auch ABM, SAM und Wiedereingliederungshilfen müssen in der Bilanz berücksichtigt werden.
Diese Hilfen werden uns immer wieder bei Veranstaltungen in den alten Bundesländern vorgeworfen, wenn es
um den Vergleich von neuen Bundesländern und strukturschwachen Regionen in den alten Bundesländern
geht. Ich erkenne durchaus an, dass es zum Beispiel in
der Oberpfalz und im Ruhrgebiet durchaus Regionen
gibt, in denen die Arbeitslosenquote wie bei uns bei über
20 Prozent liegt. Aber an die alten Bundesländer - das
hat Minister Stolpe hier angeführt - grenzen wirtschaftlich sehr viel stärkere Regionen an, im Gegensatz zu den
neuen Bundesländern.
Hinzu kommt ein spezielles ostdeutsches Problem bei
der demographischen Entwicklung. Das ist der so genannte Wendeknick. Dieser wird in einigen Jahren Auswirkungen auf die Ausbildungsplatzsituation in den
neuen Bundesländern haben. Dann werden dort junge
Menschen fehlen, die von den Unternehmen gesucht werden. Das wird auch gravierende Folgen für die Transferleistungen in die Sozialsysteme haben, wie es die Debatte
zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz gezeigt hat.
Minister Schönbohm, Sie haben die kommunalen Finanzen angesprochen. Anfang des Jahres hätten wir hier
über das Steuervergünstigungsabbaugesetz Einigkeit erzielen können. Wenn uns das gelungen wäre, wäre die
Finanzkraft der Kommunen in den neuen und alten Bundesländern jetzt wesentlich stärker.
({9})
Aber die unionsregierten Länder haben uns hier auflaufen lassen. Ich gebe zu, wir haben uns hier eine Watschen, wie Herr Stiegler sagen würde, abgeholt. Den
Kommunen haben Sie damit aber überhaupt nicht geholfen. Es gibt gravierende Probleme und ich hoffe, dass
wir im Rahmen der Verhandlungen von Bundestag und
Bundesrat zu den anstehenden Reformen eine Einigung
erzielen und die Finanzkraft der Kommunen in den
neuen und den alten Bundesländern stärken.
({10})
Ich halte das integrative Aufbaukonzept der Bundesregierung für richtig. Natürlich ist dann, wenn man mehr
Geld hat, alles verbesserungsbedürftig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Wir können gern
einmal die Leistungen unserer Bundesregierung für Bildung und Forschung mit den finanziellen Leistungen in
diesem Bereich unter Ihrem damaligen Superminister
Rüttgers bis 1998 vergleichen. Die Mittel für diesen Bereich waren rückläufig. BAföG und Meister-BAföG
müssen finanziert werden, und zwar vor dem Hintergrund der Konsolidierung des Haushalts. Ich bitte Sie
wirklich, einmal ganz ehrlich Bilanz zu ziehen und das
entsprechend zu berücksichtigen.
Zur Ehrlichkeit gehört - Minister Stolpe, hier würde
ich Sie stellvertretend für die Regierung bitten; vorhin
war noch Minister Schily hier - auch, den Goldenen
Plan Ost und die Förderung der Kultur in den neuen
Ländern anzusprechen.
({11})
Ich glaube schon, dass mit dem Goldenen Plan Ost in
den Ländern und Kommunen Investitionen angeschoben
werden können.
({12})
Vor allen Dingen würde es der Innenminister an seiner
Kriminalitätsstatistik merken, wenn es gelingt, das ehrenamtliche Engagement zu stärken und in den Vereinen
etwas für junge Leute aufzubauen, das nicht hinterher
wieder weggenommen wird. Das wäre ebenso wichtig
wie die Förderung der Kultur in den neuen Ländern.
Im Zusammenhang mit dem Sanierungsprogramm
„Dach und Fach“ könnte ich die Wohnungsbau- und
Stadtentwicklungspolitik der Bundesregierung beim
Namen nennen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es bis
1998 so etwas wie unsere Programme Soziale Stadt,
Stadtumbau Ost und Denkmalschutz in der gegenwärtigen Höhe gegeben hätte. Das betrifft Brandenburg
ebenso wie Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. Wir Berliner profitieren vor dem Hintergrund der
schwierigen Haushaltslage in erheblichem Maße davon,
dass hier Mittel bereitgestellt werden. Ich behaupte, Ihre
Bauminister hätten davon noch nicht einmal geträumt.
({13})
Das Gleiche gilt für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, Minister
Schönbohm, dass Sie dieses Thema hier so negativ dargestellt haben.
({14})
Wenn ich über die Lande in Brandenburg fahre, also
dort, wo der Bund Verantwortung für die Verkehrsinfrastruktur trägt und auch schon unter der alten Bundesregierung Verantwortung getragen hat,
Herr Kollege Scheffler, denken Sie freundlicherweise
an die Überschreitung der Redezeit, sodass die Schilderung der Eindrücke aus den Fahrten über Land etwas
knapper ausfallen muss.
({0})
- dann kann ich schon eine gut ausgebaute Infrastruktur erkennen.
Ich komme zum Schluss. Ich kann Minister Stolpe
nur ermuntern, dass er in den Beratungen des Kabinetts
und wir als Parlament in den Haushaltsberatungen bzw.
in den Sitzungen, in denen es um Haushaltsbereinigung
geht, über die Bereiche Bürokratieabbau, Verkehrsinfrastruktur und insbesondere Innovationen in Forschung
und Bildung eine Verstetigung der Mittel erreichen, sodass hier wie bisher das hohe Niveau gehalten werden
kann.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Werner Kuhn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller
Nüchternheit der Zahlen, die wir in diesem Jahresbericht
zum Stand der deutschen Einheit nachlesen können, dürfen wir nicht verkennen, dass wir uns in Europa insgesamt in einem gesellschaftlichen Umwälzungsprozess
befinden, der schon epochalen Charakter hat.
In diesem Kontext muss man den 16. Oktober 1978
erwähnen, an dem ein Mann in ein wichtiges Amt gewählt wurde. Aus diesem Grund wurde an den Unis in
der DDR im wissenschaftlichen Kommunismus seinerzeit die Botschaft verkündet, in dieser Nacht sei ein Anschlag des Imperialismus auf die sozialistische Staatengemeinschaft verübt worden, ein Pole sei zum
Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt worden.
Das war ein ganz wichtiges Ereignis, das die Bürgerbewegung in Polen, in Europa insgesamt befördert hat und
das dazu beigetragen hat, dass der Eiserne Vorhang letztlich gefallen ist. Diesem Mann möchte ich zu Beginn
meiner Rede zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum die
Reverenz erweisen.
({0})
Ich möchte nun auf meinen Kollegen Scheffler eingehen. Er hat hier auf interessante Weise dargestellt, wie in
Ostdeutschland Investitionen gerade im Bereich der weichen Standortfaktoren weiter befördert werden, und hat
den Goldenen Plan Ost angesprochen. Wenn ich meinen Kollegen Riegert richtig verstanden habe, so sind in
den Haushaltsberatungen die Mittel im Goldenen Plan
Ost auf null gefahren worden. Im Goldenen Plan Ost
sind für die neuen Bundesländer überhaupt keine Investitionen mehr vorgesehen. Das halte ich für sehr besorgniserregend.
({1})
Weiterhin ist besorgniserregend - Herr Stolpe, das
können Sie tagtäglich aus den Zeitungen erfahren -, dass
die Einnahmen aus der Maut fehlen, die für die Infrastruktur verwendet werden sollten. Wir können uns
heute nicht hier hinstellen und verkünden, wir würden in
den neuen Bundesländern die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit zu Ende bringen und zusätzliche Straßen
bauen. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Im Vermittlungsausschuss ist vereinbart worden, dass über
1 Milliarde Euro für die Infrastruktur im Straßenbau zur
Verfügung gestellt werden. Was ist das Ende vom Lied?
Der Haushaltsansatz wurde gekürzt. Es wurden nur noch
200 Millionen Euro draufgelegt. Das wird alte und neue
Bundesländer gemeinsam treffen. Gegen diesen Dilettantismus, der von der Bundesregierung hinsichtlich
Maut und Verkehrsinfrastruktur zurzeit betrieben wird,
müssen wir uns wehren.
({2})
- Lassen Sie Herrn Mangold in Ruhe! Schauen Sie sich
besser die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in
den neuen Bundesländern im letzten Jahr an! Es ist erstmals seit 1991 auf 60 Prozent des Niveaus in den alten
Bundesländern geschrumpft.
({3})
Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts beschreibt
die Lage insgesamt: Wir haben im Osten eine Arbeitslosigkeit von 20 Prozent. Sie ist doppelt so hoch wie im
Werner Kuhn ({4})
Westen. Die gut ausgebildeten, mobilen jungen Menschen verlassen unser Land; das wurde heute in dieser
Debatte immer wieder angebracht.
({5})
Das ist besorgniserregend. Diese Menschen stehen uns
nämlich nicht nur als Humanressourcen nicht mehr zur
Verfügung, sondern auch als zukünftige Existenzgründer, als unsere Köpfe für die kleinen und mittelständischen Unternehmen.
({6})
Deshalb ist das sehr problematisch.
Von der Bundesregierung muss etwas unternommen
werden. Uns steht noch kein Aufbauplan Ost, aufgeschrieben von dieser Bundesregierung, federführend
Herr Stolpe, zur Verfügung, über den wir debattieren
könnten. Eine Stunde wird uns gerade einmal für ein so
wichtiges wirtschaftspolitisches Thema zur Verfügung
gestellt.
({7})
Man könnte drei Stunden darüber diskutieren. Ministerpräsident Milbradt hat das ganz eindeutig gesagt. Es
muss viel mehr Zeit investiert werden. Wir dürfen das
Thema Aufbau Ost nicht nonchalant einem Minister anvertrauen, der die meiste Osterfahrung hat, bei dem aber
nichts passiert.
({8})
Herr Scheffler, jetzt wartet eure Fraktion darauf, dass
Ministerpräsident Milbradt einen Aktionsplan vorlegt,
den ihr dann abschreiben könnt, sodass ihr euch in diesem Bereich wieder gut verkaufen und positionieren
könnt.
({9})
So spielen wir nicht. Hier werden Sie unseren erbitterten
Widerstand spüren.
Die Menschen in den neuen Ländern fallen in eine gewisse Mutlosigkeit und Resignation; das muss man so
sagen.
({10})
Für die Eltern und Großeltern ist es sehr bedauerlich,
wenn die jungen Leuten fortgehen. Das sollten sie natürlich auch sagen. Sie werden aber auch von der Bundesregierung verlassen, die ihnen seinerzeit große Versprechungen gemacht hat. Die Bundesregierung ist in den
neuen Bundesländern mit über 40 Prozent wieder in dieses Amt gewählt worden. Hier helfen Ihnen keinesfalls
die platten Parolen - Sie sagten: „Lieber mit Schröder in
der Arbeitslosigkeit als mit Stoiber im Krieg“ -, die Sie
über die Marktplätze getragen haben. Sie wollen die
erste Androhung doch nicht etwa tatsächlich wahrmachen!
({11})
Hier muss endlich ein Aktionsplan in Angriff genommen
werden, damit Sie mehr Arbeit in die neuen Bundesländer bringen. Als allererstes muss hier eine Industriepolitik gestartet werden, die ihren Namen verdient.
({12})
Es gibt gerade im verarbeitenden Gewerbe etliche
hoffnungsvolle Ansätze. Früher haben wir immer darüber diskutiert, dass die Lohnstückkosten in Deutschland
zu hoch sind, dass es keine vernünftige Auslastung gibt,
dass die Maschinenlaufzeiten zu gering sind usw. Mittlerweile haben sich im verarbeitenden Gewerbe sehr
gute Unternehmen herausgebildet, die eine Wettbewerbsposition erreicht haben. Das gilt besonders in den
Ländern Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, in denen die Landesregierungen für eine Kofinanzierung und
-förderung sorgen. Das muss man einmal positiv erwähnen.
Die Konjunktur insgesamt befindet sich in einer absolut desolaten Lage. Sie müssen erst einmal dafür Sorge
tragen, dass die Binnenkonjunktur wieder in Gang
kommt. Die privaten Haushalte sind mit ihren Investitionen sehr zögerlich, weil sie nicht wissen, welche private
Vorsorge in der Renten- und Krankenversicherung in
Zukunft für sie erforderlich ist. Dies alles ist Teil einer
strukturellen Krise. Hier müssen die Reformen möglichst
schnell zu Ende gebracht werden, damit jeder genau weiß,
welche Vorsorge für sich persönlich in Zukunft notwendig
ist. Dann wird auch die Binnenkonjunktur wieder anspringen.
Im Moment bleiben die öffentlichen Aufträge aus.
Die Haushalte der Gemeinden, Städte und Landkreise
sind am absolut unteren Niveau angekommen.
({13})
Sie können leider keine Investitionen mehr tätigen. Deshalb ist es notwendig, dass die Gemeindefinanzreform
so schnell wie möglich greift.
Es fehlt ein schlüssiges Konzept der Bundesregierung.
Herr Kollege Kuhn, würden Sie zur Verlängerung Ihrer Redezeit nun eine Zwischenfrage des Kollegen
Scheffler zulassen?
Ich warte schon sehr darauf. Ich hoffe nicht, dass er
enttäuscht sein wird.
({0})
Lieber Werner Kuhn, Sie kommen ja aus Mecklenburg-Vorpommern, das in diesem Jahr wahrscheinlich
Tourismusland Nummer eins ist und sich im Jahre 2002
mit Bayern um diesen Platz gestritten hat.
({0})
Ich bin in Mecklenburg-Vorpommern sehr viel unterwegs. Stimmen Sie mir zu, dass das, was dort bei der
Verkehrsinfrastruktur, der Wohnungsbauförderung, den
Existenzgründungen und durch entsprechende Förderprogramme insbesondere in den vergangenen Jahren - ich
gebe zu: auch schon seit 1992 - durch die rot-grüne
Bundesregierung geschehen ist, dazu beigetragen hat,
dass Mecklenburg-Vorpommern zum Tourismusland
Nummer eins in Deutschland werden konnte?
Da ich dort oft unterwegs bin und die Unternehmen
und Bauernhöfe besuche - ich kenne sehr viele Höfe
dort -, weiß ich, dass der Bericht, den Sie hier der Öffentlichkeit vorgetragen haben, in keinster Weise zutrifft.
Verehrter Herr Kollege Scheffler, dieser Bericht trifft
natürlich schon zu. Wir dürfen uns nämlich nicht einfach
nur fragen, wie wir das Dienstleistungsgewerbe, die Serviceunternehmen und was weiß ich noch alles in
Deutschland fördern, und dabei unser „core business“,
unsere Kernkompetenzen, total vernachlässigen. In unserer Industrielandschaft gibt es eine Entvölkerung. Hier
ist aber eine größere Wertschöpfung möglich. Daher
muss man so arbeiten, dass man Kapital dort generiert
und Leute dort in Arbeit bringt. Alles andere hat nur einen sehr kurzen Bestand.
Wir haben schließlich bis 1998 die Regierungsverantwortung gehabt und das Erreichte ist nicht einfach vom
Himmel gefallen.
({0})
Im Bezug auf die Infrastruktur in unseren Städten und
Gemeinden haben wir mit der Städtebauförderung viel
geleistet.
({1})
Die kommunale Wohnungsverwaltung der DDR hat
doch den Slogan gehabt: Ruinen schaffen ohne Waffen.
Wohnblocks wurden einfach auf die grüne Wiese gesetzt
und die Infrastruktur wurde vernachlässigt. Schauen Sie
sich unsere Städte genau an. Dann wissen Sie, dass die
Transferleistungen richtig angelegt sind.
Ich war mit meiner Rede noch gar nicht fertig.
({2})
Lieber Siegfried Scheffler, wir müssen uns darauf konzentrieren, wie wir den Osten tatsächlich nach vorne
bringen können. Dies kann nicht mit Minijobs oder mit
der Förderung des Dienstleistungs- und Tourismusgewerbes erreicht werden, sondern wir müssen Industriepolitik machen. Diese Industriepolitik vermisse ich.
({3})
In der Rede des Bundesfinanzministers bei der Haushaltseinbringung tauchten nur Marginalien wie Entfernungspauschale und eine mögliche Änderung der Eigenheimzulage auf. Daher muss ich schon sagen, dass dies
sehr verwunderlich ist. Der erste Kaufmann unserer Nation muss doch erst einmal die Einnahmeseite vernünftig
erklären und deutlich machen, welche Steuer zu Einnahmen in welcher Höhe führt. Er muss andererseits aufzeigen, welche Kosten auf uns zukommen. Danach wird
eine Gewinn- und Verlustrechnung aufgemacht, wobei
ein riesiger Verlust herauskommt. Dieser Verlust muss
entweder durch Kredite oder durch einen Liquiditätskredit ausgeglichen werden.
Diese betriebswirtschaftliche Analyse muss für die
Deutschland AG, die Bundesrepublik, gemacht werden.
Dabei wird sich herausstellen, dass dieser Liquiditätskredit möglichst in zwei oder zweieinhalb Jahren abgebaut werden muss. Danach kommt der Break-evenPoint. Durch das wirtschaftliche Wachstum sind dann
höhere Steuereinnahmen zu erwarten. - Das, was Sie erzählen, ist doch nur blauer Dunst. Davon lässt sich nichts
verwirklichen.
({4})
Mit dem Thema Bürokratieabbau beschäftigen wir uns
immer wieder. In den neuen Bundesländern sollte als Erstes
ein Pilotprojekt zum Bürokratieabbau starten. Denn die
Bürokratie hat eher zu- als abgenommen. In der letzten
Wahlperiode sind 24 Änderungsgesetze zum Einkommensteuergesetz eingebracht worden. Durch 118 Gesetze und 87 Verordnungen muss sich jeder quälen, der
ein Unternehmen neu gründen oder den Bestand erhalten
will. Ein Unternehmer beschäftigt sich Dreiviertel des
Tages nur mit diesen Regelungen und um sein eigentliches Geschäft kann er sich nicht kümmern. Das kann so
nicht weitergehen. Hier muss aufgeräumt werden.
Genauso ist es beim Arbeitsrecht. Das trifft für die
neuen wie für die alten Bundesländer zu. Das alte bundesrepublikanische Rechtssystem mit allen Verordnungen und Vorschriften für die Wirtschaft hat - das müssen
wir einfach konstatieren - die Herausforderungen des
Aufbaus Ost nicht bestehen können. Die Bundesregierung ist gefordert, entsprechende Änderungen auf den
Weg zu bringen. Dazu ist die Opposition auf jeden Fall
bereit. Wir sind immer
({5})
in der Lage, diese Initiativen aufzugreifen.
Wichtig ist aber auch, dass die ostdeutschen Regionen
unbedingt die Ziel-1-Förderung bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ behalten. Die neuen Bundesländer dürfen nicht zwischen die Mühlsteine der reichen Regionen im Westen
und der Billiglohnländer im Osten geraten. Wenn der
Europäischen Union noch mehr Länder mit einem niedrigen Bruttoinlandsprodukt beitreten, dann wird das Niveau weiter gesenkt und die neuen Länder werden möglicherweise zu einem Ziel-3-Gebiet.
({6})
Werner Kuhn ({7})
Dagegen müssen wir gemeinsam kämpfen. Das trifft
übrigens auch auf die Förderung in den alten Bundesländern zu. Das sind Tatsachen. Die Investitionszulage
muss umgebaut werden. So, wie sie jetzt gestaltet ist,
führt sie nicht zum Ziel. Ich sage Ihnen: Sie müssen die
Industriepolitik verbessern. Synergieeffekte und Investitionen, durch die Arbeitsplätze geschaffen werden, müssen kombiniert werden. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt unseres Spitzenreiters Sachsen in den
neuen Bundesländern liegt bei 17 358 Euro pro Kopf.
Die rote Laterne in den alten Bundesländern hat Nordrhein-Westfalen; dass muss ich leider so sagen. In NRW
liegt das Bruttoinlandsprodukt aber bei 22 957 Euro pro
Kopf. Das zeigt, dass die Schere zu weit auseinander
klafft und wir diese besondere Förderung brauchen.
Für die gegenwärtige desolate Wirtschafts- und Haushaltslage in der Bundesrepublik Deutschland wird alles
Mögliche verantwortlich gemacht. Der 11. September,
die schwache Binnenkonjunktur und die allgemeine
weltwirtschaftliche Lage werden als Argumente angeführt. Aber Herr Eichel hat es auf den Punkt gebracht
- für ihn ist die Lage klar -: Hauptgrund für die düstere
Misere sind die Folgen der deutschen Einheit mit ihren
hohen Transfers. Dies sind die Ursachen für die Wachstumsschwäche.
({8})
Hier wird immer nur über die Transferleistungen gesprochen. Dabei wird offensichtlich vergessen, dass wir
in Ostdeutschland mit 16 Millionen Einwohnern ein interessanter Markt sind, und zwar auch für Unternehmen
aus den alten Bundesländern. Eine gesamtwirtschaftliche Bilanz würde die Situation aufhellen. Nur so können
wir das Werk der deutschen Einheit wieder gemeinsam
in Angriff nehmen. Aber ich erwarte auch ein Umdenken von der Bundesregierung. Das muss ich ganz eindeutig sagen.
({9})
Wir sind letztendlich nicht nur mit einer Stunde Debattenzeit über dieses wichtige Thema bedient, sondern wir
sind auch mit einem Minister bedient, der sozusagen mit
der Maut total überfordert ist
({10})
und überhaupt keine Aktivitäten mehr in den Aufbau Ost
einbringen kann. Hier muss sich etwas ändern. Da müssen sich möglicherweise auch Köpfe ändern.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Jahresbericht
auf Drucksache 15/1550 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Ver-
braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu über-
weisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dirk Fischer ({0}), Eduard Oswald, Georg
Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Aktuelle Eisenbahnpolitik in der 15. Wahl-
periode
- Drucksachen 15/234, 15/1106 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({1}), Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Zurückdrehen der Bahnreform stoppen
- Drucksache 15/1591 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Horst Friedrich ({3}),
Rainer Brüderle, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Einsetzung einer Kommission der Bundesregierung zur Fortsetzung der Bahnreform
- Drucksachen 15/66, 15/1294 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Klaus Lippold.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben in der letzten Zeit sehr viel über das
Thema Straße und das Thema Maut diskutiert und festgestellt, dass die Bundesregierung völlig dabei versagt
hat, das anstehende Problem zu lösen. Das hat davon abgelenkt, dass wir einen weiteren wesentlichen Bereich in
der Verkehrsinfrastrukturpolitik haben, nämlich die
Bahnpolitik. Hier kommen wir genauso zu der Feststellung, dass die Bundesregierung und insbesondere das
Verkehrsministerium unter Führung von Minister Stolpe
das Ziel eindeutig verfehlt hat.
Wir diskutieren im Moment über den Börsengang;
aber das eigentliche Versagen liegt darin, dass die beiden
Ziele, die mit der Bahnreform verbunden waren, nämlich
auf der einen Seite mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen und auf der anderen Seite die Bahnreform zu
vollenden, eindeutig verfehlt worden sind.
Dr. Klaus W. Lippold ({0})
Ich halte das für mehr als falsch. Wir müssen feststellen, dass im Personenverkehr die Verkehrsleistung im
vergangenen Jahr um mehr als 6 Prozent zurückgegangen
ist. Im Güterverkehr ist sie um 3 Prozent geschrumpft.
Dieser Trend setzt sich fort, und das trotz der immensen
Steuermittel, die wir für die Bahn aufbringen. Seit Beginn der Bahnreform haben die Steuerzahler 94 Milliarden Euro in den Konzern gesteckt und für das Eisenbahnwesen insgesamt 170 Milliarden Euro ausgegeben.
Wenn ich jetzt die Effizienz dessen betrachte, dann
stelle ich fest, dass die Verkehrsleistungen sowohl auf
der Schiene als auch die Leistungen in anderen Bereichen rückläufig sind. Das ist eine eindeutige Verfehlung.
Hier hätte Bahnpolitik ansetzen müssen.
Wir wissen, dass wir mit der EU-Osterweiterung
noch dringender eine Entlastung der Straßen vom Verkehr brauchen. Also brauchen wir die Schiene umso
mehr. Trotzdem ist in dieser Frage nichts erreicht worden.
Des Weiteren müssen wir monieren, dass eine konsequente Umsetzung des Wettbewerbsprinzips nicht erreicht wurde und dass es keine stabilen Wettbewerbsbedingungen in Form eines diskriminierungsfreien
Zugangs auch anderer Unternehmen als der DB AG zum
Schienennetz gibt. Eine weitere zentrale Forderung von
uns ist die dezentrale Organisationsform, der Wegfall der
Holding, die Privatisierung der Einzelgesellschaften und
damit die Realisierung der dritten Stufe der Bahnreform.
Ich halte noch einmal fest: Das alles ist nicht erreicht.
Die Straßen wurden nicht entlastet, die DB AG verschuldet sich immer mehr, Mehdorn setzt statt auf Dezentralisierung auf Zentralisierung durch Stärkung der
Holdingstrukturen und erklärt damit de facto die Bahnreform für beendet. Der Börsengang steht durch
schlechte Unternehmensbilanzen infrage.
Ich will hier eines noch einmal deutlich machen: Ich
glaube, dass es nicht gut war, dass die Bundesregierung
diese Frage offen strittig diskutiert hat, dass die einen
den Börsengang haben laufen lassen und die anderen,
wie zum Beispiel Frau Wolf deutlich gemacht hat, der
Meinung waren, dass der Börsengang umgehend realisiert werden soll. So kann man in der Sache nicht vorgehen. Das ist völlig daneben und schadet der Bahn.
Die Diskussion dieser Frage in der Öffentlichkeit hat
zur Folge, dass ein ähnlicher Eindruck durchaus entsteht
wie bei der Einführung der Maut: Die einen reden so, die
anderen so; es gibt kein klares Konzept. Ich meine, das
muss endgültig ein Ende haben.
({1})
Ich gehe davon aus, dass der Börsengang nicht nur an
der fehlenden Kapitalmarktfähigkeit auf absehbare Zeit
scheitern wird, sondern dass er de facto nicht in Frage
kommt, solange keine Trennung von Netz und Betrieb
erfolgt. Aus Insiderkreisen - insbesondere aus Bankenkreisen - wird das zunehmend kritisch beurteilt. Ich
meine, hierzu sollte die Bundesregierung Vorstellungen
entwickeln,
({2})
die das, was der frühere Bundesverkehrsminister einmal
auf einem grünen Parteikongress zum Ausdruck gebracht hat, entsprechend umsetzen.
Aber offensichtlich wird die Bahnpolitik nicht mehr
von dieser Bundesregierung gestaltet. Vielmehr hat Herr
Mehdorn einen völlig unangemessenen Handlungsspielraum, sodass sich die Frage stellt, wer eigentlich regiert:
Stolpe oder Mehdorn? Früher habe ich diese Frage nicht
beantworten wollen, weil Herr Stolpe erst seit kurzem
im Amt war. Aber inzwischen ist eindeutig erkennbar,
dass sich Herr Stolpe ähnlich wie Herr Bodewig in diesen entscheidenden Fragen nicht durchsetzen kann und
dass die Dinge deshalb völlig falsch laufen.
({3})
Wir müssen nach wie vor auch in Erinnerung rufen,
dass, um ein Funktionieren der Bahn sicherzustellen die
Wettbewerbsbedingungen in Deutschland mit den Bedingungen gleichgestellt werden müssen, die für die
Bahnen in anderen europäischen Ländern gelten.
({4})
Notwendig ist eine Harmonisierung der fiskalischen Belastungen.
({5})
Diese ist bislang nicht erfolgt. Keine andere Bahn in Europa wird mit dem vollen Mineralölsteuersatz belastet.
An dieser Stelle besteht Korrekturbedarf. Die Schienenverkehrsunternehmen in Deutschland sind im Gegensatz
zu der überwiegenden Zahl der anderen EU-Mitgliedstaaten mehrwertsteuerpflichtig.
({6})
Ich meine, wenn wir uns schon konsequent für die
Bahn einsetzen wollen, die wir auch brauchen, dann
müssen klare und faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden. Diese sehe ich aber zurzeit nicht.
Wenn es um die Frage geht, wie die Bundesregierung
ihre Verantwortung für ein leistungsfähiges Schienennetz wahrnimmt, wird darauf verwiesen, dass sie dies
unter Einbeziehung der Mittel aus den künftigen Mauteinnahmen macht. Ich will an dieser Stelle verdeutlichen: Wer in Antworten auf unsere Anfragen auf die
Einnahmen aus der Maut verweist, liegt ja wohl völlig
falsch. Denn bisher konnte noch kein einziger Cent fließen und die Termine 1. Januar und, nach Meinung vieler,
auch der 1. April können ebenfalls nicht eingehalten
werden. Vielmehr wird die Einführung der Maut bis weit
in das kommende Jahr verschoben werden müssen. Obwohl Sie also in absehbarer Zeit keine Einnahmen aus
der Maut erzielen, verweisen Sie darauf. Das ist unhaltbar. Sie sollten endlich zu soliden Ausführungen zurückkehren, die deutlich machen, dass Sie auf eichelschen
Druck die Mittel für die Verkehrsinfrastruktur im Bundeshaushalt nicht reduzieren, sondern dass Sie diese
Mittel mindestens im bisherigen Umfang erhalten, und
dass die Mauteinnahmen nicht dazu gedacht sind, die
sinkenden Haushaltsansätze zu kompensieren. Das ist
auch die klare und deutliche Linie der EU.
Dr. Klaus W. Lippold ({7})
Sie verfehlen die EU-Zielsetzungen, die deutlich besagen, dass Mittel wie die Mauteinnahmen nicht dazu
gedacht sind, Haushaltslöcher zu stopfen. Kehren Sie
deshalb endlich wieder zu den notwendigen Vorgehensweisen zurück! Sofern Mauteinnahmen in einer derzeit
noch nicht absehbaren Zeitspanne fließen, sollten diese
zur schnelleren Realisierung von Verkehrsprojekten dem
Haushalt additiv zugute kommen. Ich glaube, dass das
der richtige Weg ist, den wir beschreiten sollten.
Ich möchte angesichts des öffentlichen Erscheinungsbildes der Deutschen Bundesbahn noch eines
ausführen: Wir sollten auch deutlich machen, dass Führung gefordert ist. Die misslungene Preisreform hat viel
Lärm um nichts erzeugt. Aber derjenige, der sie zu verantworten hatte, wurde mit ein paar Bauernopfern gerettet
und gleichzeitig - obwohl er diesen Mist gebaut hatte noch durch eine vorzeitige Vertragsverlängerung gefördert. Auch diesen Fehler hat das Ministerium begangen.
So etwas sollte künftig nicht mehr passieren.
({8})
Sie sollten Ihre Kontrollaufgaben auch wahrnehmen,
wenn es um die schnellere Beseitigung von Zugdefekten
und Kostensteigerungen bei Prestigeobjekten geht, indem Sie ein besseres Controlling einführen. Sie haben
das erforderliche Controlling bei der Mauteinführung
nicht geleistet. Wie wir feststellen müssen, leisten Sie es
auch nicht in der Bahnpolitik.
({9})
Alles in allem - von der Verfehlung der Ziele der Bahnreform bis hin zu der Verfehlung des Ziels, Verkehr von
der Straße auf die Schiene zu bringen - betreiben Sie
eine falsche Bahnpolitik, weil Sie die Dinge laufen lassen und nicht konsequent und entschieden handeln und
weil Sie vor allen Dingen Ihrer Kontrollaufgabe gegenüber der Deutschen Bahn nicht im notwendigen Umfang
gerecht werden.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Lippold, Sie sprachen gerade
von der „Deutschen Bundesbahn“. Ich denke, das war so
etwas wie ein freudscher Versprecher. Es kann auch nur
ein Versprecher gewesen sein.
({0})
Ich möchte lediglich auf zwei Sachverhalte hinweisen.
Der eine ist: Der jetzige Verkehrshaushalt liegt 1,5 Milliarden Euro über dem, was Sie 1998 eingestellt hatten.
({1})
Der andere ist: Nicht das Ministerium verlängert die Verträge mit Herrn Mehdorn. Vielleicht erkundigen Sie sich
einmal, wer dafür zuständig ist. Das Ministerium ist es
jedenfalls nicht.
1994 ist die Bahnreform mit großer Einigkeit verabschiedet worden. Man war sich über die Ziele einig. Es
handelt sich übrigens nicht um zwei, sondern um vier
Ziele. Das erste Ziel war die Umwandlung der Sondervermögen „Deutsche Bundesbahn“ und „Deutsche
Reichsbahn“ in ein privatrechtlich geführtes, gewinnorientiertes Wirtschaftsunternehmen. Das zweite Ziel
war die Entlastung der Steuerzahler. Das dritte Ziel war
die Verhinderung weiterer Marktanteilsverluste der Bahn
im Personen- und im Güterverkehr. Das vierte Ziel war
die Öffnung des DB-Netzes für andere Eisenbahnunternehmen zu diskriminierungsfreien Bedingungen.
Letztlich ist das ein Beschluss gewesen, um den Niedergang der Bahn bzw. der Bahnen zu stoppen. Das ist
kein deutsches Phänomen. Aber wir haben mit der Bahnreform, denke ich, sehr konsequent und richtig darauf
reagiert. Jedenfalls geben uns die Ergebnisse und die
Produktivität Recht; denn beide haben sich positiv entwickelt.
({2})
Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben, Herr
Lippold. Aber seit der Bahnreform weisen der Personenverkehr ein Plus von 11 Prozent und der Güterverkehr ein
Plus von 13 Prozent auf. Ich möchte auch die Arbeitsproduktivität besonders herausstellen, die um ungefähr
150 Prozent gestiegen ist. Deshalb sollte man großen Respekt vor den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern haben.
({3})
Nennen Sie mir nur ein Unternehmen, das so etwas in
dieser kurzen Zeit geschafft hat!
Die Verkehrsleistungen sind im Personenverkehr gestiegen. Im Güterverkehr ist die Entwicklung allerdings
hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben. Das liegt
an der besonderen Konkurrenzsituation in diesem Bereich. Aber auch hier bewegt sich einiges. Schauen Sie
sich einmal genau an, was es in diesem Bereich außer
der DB noch alles gibt! Besonders die so genannten Privaten sind hier im Kommen. Auch im Bereich des kombinierten Verkehrs kann sich das, was sich im Moment
entwickelt, sehen lassen. Es ist auch ein Ergebnis der
Umsetzung der vier Ziele, dass wir die Voraussetzungen
für den Wettbewerb auf der Schiene geschaffen haben.
Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Nennen Sie mir
nur ein Land in Europa, das mehr Verkehrsunternehmen
im Netzbereich vorzuweisen hat! Ich glaube, dass Sie
keines finden werden.
({4})
Die parlamentarische, aber auch die außerparlamentarische Auseinandersetzung mit der Bahn lässt den Verdacht aufkommen, dass die Vaterschaft bzw. die Mutterschaft der Bahnreform infrage gestellt werden und dass
die Debatte immer kleinkarierter wird. Ich möchte nichts
beschönigen. Die Bahn muss in der Tat besser werden.
Man ist sich logischerweise des Beifalls der Öffentlichkeit sicher, wenn man über seine Erlebnisse mit der
Bahn bzw. den Bahnen berichtet. Ich ärgere mich genauso. Vom Kunden kann man nicht erwarten, dass er
hier differenziert. Aber wir können das sehr wohl und
sollten es auch tun.
({5})
Eigentlich sollte es völlig egal sein, um welchen Verkehrsträger es geht, ob um das Flugzeug, die Bahn oder
den Bus. Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass
wir das, was im Luftverkehr schief geht, in der Regel
sehr viel gelassener hinnehmen.
Fachleute hingegen können unterscheiden: Liegt es am
Material, sind es Kapazitätsengpässe, sind es Reparaturen, ist es die DFS oder ist es die DB Netz AG, ist es ein
Managementfehler oder ist es einfach nur Schlamperei?
Schnell, bequem, kostengünstig und zuverlässig: Das
sind die Ansprüche, die an das Transportmittel Bahn gestellt werden. Diese Ansprüche zu erfüllen ist auch das
Ziel, dem die Bahn näher kommen muss. Kein Transportmittel wird jemals perfekt funktionieren, das wissen
wir; dazu gibt es viel zu viele äußere Einflüsse.
Wir haben auf die Anfrage der CDU/CSU umfassend
geantwortet. Wir haben unsere Karten im Sinne der
Bahnreform auf den Tisch gelegt.
({6})
Wir wollen, dass die DB AG zu einem erfolgreichen
europäischen Mobilitäts- und Logistikdienstleister
wird. Dazu gehört als nächster Schritt auch die Kapitalmarktfähigkeit. Ob Sie das wollen, wird - auch nach Ihrem Beitrag - immer unklarer.
Ich kann nur sagen: Kein französischer Politiker
käme auf die Idee, die SNCF so runterzureden, wie Sie
das zurzeit bei der Bahn tun.
({7})
Das, was Sie machen, hat auch mit konstruktiver Kritik
wenig zu tun.
Zum FDP-Antrag will ich gerne noch sagen: Die Führungsorganisation des Unternehmensbereiches Personenverkehr ist eine Reaktion auf die Anforderungen des
Marktes. Die FDP ist doch angeblich eine Wirtschaftspartei; das sollte für Sie also eigentlich nichts Neues
sein. Sie können ganz beruhigt sein, die organisatorische
und die rechnerische Trennung der Unternehmensbereiche nach § 25 Bahngründungsgesetz sind in keiner
Weise verletzt.
Opposition ist bekanntlich jener erkenntnisfördernde
Zustand, in dem eine Partei zu der Einsicht kommt, dass
Missstände, die während ihrer eigenen Regierungszeit
zu klein und unbedeutend waren, nun wirklich überhand
nehmen.
({8})
Herr Lippold, Sie haben die Harmonisierung in der fiskalischen Belastung angesprochen. Als Sie an der Regierung waren, hatten Sie wirklich genügend Zeit, das zu
ändern.
({9})
Es ist natürlich Ihr gutes Recht, als Opposition so zu reagieren. Ich kann nur sagen: Sie sollten in Ihrem eigenen
Interesse den Anschluss - vor allen Dingen den europäischen Anschluss -, was die Bahn angeht, nicht verlieren.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer kurzen persönlichen
Erklärung beginnen. Sie haben vielleicht mit verfolgt,
dass jemand versucht hat, Mitglieder des Parlamentes
vor Gericht an bestimmten Aussagen zu hindern. Dank
Ihrer Unterstützung und auch Dank der Unterstützung
des Bundestagspräsidenten, für die ich mich ganz ausdrücklich bedanke, hat die Bahn die Klage mittlerweile
zurückgenommen. Ich darf also weiterhin sagen, was ich
will, hier sowieso und auch draußen. Nochmals herzlichen Dank für Ihre Unterstützung in jederlei Hinsicht!
({0})
Das war es jetzt allerdings mit der Freundlichkeit,
sehr verehrte Frau Staatssekretärin; denn das, was Sie
hier vor dem Hintergrund einer Evaluierung nach zehn
Jahren Bahnreform geboten haben, war eigentlich nichts
anderes als Pfeifen im Walde. Sie haben nichts dazu gesagt, was die Bundesregierung vorhat. Das erinnert einen
doch ziemlich signifikant an das Verhalten, das Sie bei
der Maut dargeboten haben. Auch da sind wir von Ihnen
beschimpft worden, wir sollten doch das Mautsystem
nicht schlechtreden und die Firmen um Gottes Willen
nicht madig machen. Und was haben wir jetzt für ein
Problem? Jetzt, nachdem es zu spät ist und das Kind in
den Brunnen gefallen ist, fangen Sie an, uns vorzuwerfen, wir würden die Bahn - bei der es ähnlich läuft schlechtreden. Wie blauäugig sind Sie eigentlich in Ihrem Regierungsturm, sehr verehrte Frau StaatssekretäHorst Friedrich ({1})
rin, dass Sie sich trauen, so etwas hier im Bundestag zu
erklären?
({2})
Meine Damen und Herren, es ist doch richtig, jetzt,
nach zehn Jahren, Bilanz zu ziehen und zu hinterfragen:
Was wollte man mit der Bahnreform erreichen? Wo stehen wir? Was hat der Steuerzahler bisher gezahlt, was ist
die Aufgabe der Bundesregierung und was ist die Aufgabe des Parlamentes? Als Erstes kann man sicherlich
feststellen, dass die Bundesregierung vorrangig nicht die
Aufgabe hat, auf die Schalmeienklänge aus dem Bahntower vom Potsdamer Platz hereinzufallen; denn sonst
erlebt sie das Gleiche wie bei der Maut.
({3})
Wenn man aber selbst nicht weiß, was man will, dann ist
man ja vielleicht froh, wenn man wie beim Rattenfänger
von Hameln - ihm sind die Kinder auch hinterhergelaufen, ohne zu wissen, was sie machen - Schalmeienklängen folgen kann.
Fakt ist: Der deutsche Steuerzahler hat für die Bahnreform seit ihrem Beginn 177 Milliarden Euro bezahlt.
Davon sind dem Unternehmen Deutsche Bahn circa
100 Milliarden Euro im Wesentlichen für die Erreichung
von zwei Zielen zur Verfügung gestellt worden, nämlich
erstens mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen und
zweitens die Belastung für den Haushalt zu reduzieren. Keines von den beiden Zielen ist erreicht worden.
Frau Mertens, wenn Sie unseren Verkehrszahlen nicht
glauben, dann empfehle ich Ihnen, in Ihr Buch „Verkehr
in Zahlen 2001/2002“ zu schauen. Das haben Sie ja veröffentlicht. Darin steht etwas anderes als das, was Sie
hier vorgetragen haben. Die Belastung für den Haushalt
ist auf der historischen Höhe - bezogen auf die Zeit, seit
die Bahn im Haushalt aufgeführt wird - von 18,6 Milliarden Euro angelangt. Das ist zwar nicht alles der Bahn
zuzurechnen; aber es ist eine Belastung für den Steuerzahler. Das muss einmal deutlich gesagt werden: Das
zweite Ziel ist auch nicht erreicht worden.
Deswegen ist es jetzt wichtig, zu sagen, was wir brauchen. Zuallererst muss allen Entscheidungen - auch bei
den Träumen über den Börsengang - die Einsicht zugrunde liegen, dass das von Gesetzes wegen Notwendige
ohne die rechtzeitige Mitwirkung des Bundestages gar
nicht auf den Weg gebracht werden kann; denn sonst
passiert Ihnen das gleiche Desaster wie bei der Maut.
Hinsichtlich der Bahnreform muss zunächst einmal
auch als Voraussetzung für vernünftiges Controlling eine schonungslose Bilanz vorgenommen werden. Das
heißt, Sie können nicht die Zahlen von Herrn Sack,
Herrn Mehdorn oder von wem auch immer kritiklos entgegennehmen. Es müssen andere Institutionen - etwa
eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft - mit diesen Zahlen arbeiten, um dann sagen zu können, wie sich die Situation tatsächlich darstellt.
Es muss für uns klar sein, dass die Bahnreform auf
eine Trennung des Transportbereiches vom Infrastrukturbereich angelegt war. Das Ziel ist also, dass der
Transportbereich - das ist keine staatliche Aufgabe - an
den Markt gebracht wird. Ein bisschen Privatisierung
führt hier mit Sicherheit nicht weiter.
Sehr verehrte Frau Staatssekretärin, ein Börsengang
der Deutschen Bahn inklusive Netz AG würde voraussetzen, dass der Bund eventuellen Privatinvestoren für
einen Zeitraum von schätzungsweise 15 Jahren garantieren müsste, jährlich Investitionen in Höhe von 4 bis
5 Milliarden Euro zu übernehmen. Ich glaube nicht, dass
Sie dazu in der Lage sind, eine entsprechende verbindliche Erklärung abzugeben. Das macht signifikant deutlich, wie unsinnig ein Börsengang der DB inklusive Netz
AG ist.
({4})
Das heißt im Umkehrschluss: Es ist notwendig, den
verbleibenden DB-Konzern auf das Netz und diejenigen
Einrichtungen zu reduzieren, die für Wettbewerber notwendig sind, damit sie diskriminierungsfrei das Netz
nutzen können, sodass Wettbewerb stattfinden kann.
Wettbewerb findet nicht statt, indem man die Zahl der
möglichen Wettbewerber nennt, sondern indem man das
Marktpotenzial, das sie bisher abdecken, betrachtet.
Dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es muss damit
Schluss sein, dass die Netz AG ihren Auftrag mit „diskriminierungsfreiem Warten auf Trassenkunden“ erfüllt
und das vorhandene Netz nicht aktiv und intensiv vermarktet.
Die DB Netz AG muss europäisch ausgerichtet sein,
damit das „Verhinderungswarten“ an den Grenzen ein
Ende hat und ein Durchbruch auf europäischer Ebene erfolgen kann. Der Transportbereich - das muss man noch
einmal deutlich sagen - muss mittelfristig materiell privatisiert werden. Nur dann wird die ganze Sache rund.
Das ist ein Ziel unserer Bahnpolitik.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, Sie wären gut beraten, wenn Sie dieses Mal - mit der Opposition - rechtzeitig den richtigen Pfad einschlagen. Seien Sie bezüglich der Bahn bereit - Sie haben ja bei der Maut
bewiesen, dass Sie es nicht können -, auf uns zuzugehen. Ansonsten müssen wir Sie genauso wie bei der
Maut vorführen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ali Schmidt.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Fast zehn Jahre nach der Bahnreform wird es
in der Tat allmählich Zeit, sich ernsthaft mit einer Zwischenbilanz zu beschäftigen. Dies sollte ohne Polemik
geschehen; ich will auch sagen, warum.
({0})
Albert Schmidt ({1})
- Das sind Sie von mir vielleicht nicht gewöhnt, aber ich
kann auch so; lieber Kollege, Sie werden sich wundern.
({2})
Die Bahnreform wurde 1993/94 - ich war damals
noch nicht Mitglied dieses Hauses, aber viele der Anwesenden werden es noch aus eigenem Erleben wissen - als
konsensuales Projekt betrieben und beschlossen. Das hat
sich bewährt. Eine grundlegende Reform eines Bundesunternehmens in dieser Größenordnung kann eigentlich
nur im Konsens umgesetzt werden, ja, sie muss so umgesetzt werden.
({3})
Das schließt eine kritische Diskussion nicht aus.
Die heutige Diskussion im Bundestag anlässlich der
Großen Anfrage der Unionsfraktionen und der Anträge
der FDP-Fraktion kann eigentlich nur ein Auftakt zu der
Zwischenbilanz sein, die wir im Parlament brauchen.
Wir brauchen eine vertiefte Diskussion, aber auch eine
externe Evaluation dessen - der Kollege Horst Friedrich
hat es schon kurz angesprochen -, was das Unternehmen
aus unternehmerischer Sicht bisher geschafft hat, was
noch nicht, was verbesserungsbedürftig ist, woran das
liegt usw.
Ich möchte den Einstieg in diese Diskussion heute
nutzen, um wenigstens kurz auf die aktuellen Kernfragen einzugehen. Was von Frau Staatssekretärin Mertens
gesagt worden ist und von Ihnen, Kollege Friedrich, im
Grunde bestätigt worden ist, ist völlig richtig: Vorrangiges Ziel der Bahnreform 1993/94 war, ist und bleibt es,
mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Der Fortgang
der Bahnreform ist nach der geltenden Rechtslage vom
Eigentümer Bund, von den zuständigen Gremien, vom
Parlament zu gestalten. Hier hat aus meiner Sicht ganz
klar das Primat der Verkehrspolitik zu gelten. Wir sollten
den weiteren Fortgang der Bahnreform nicht ausschließlich unter fiskalischen oder sonst irgendwelchen Erwägungen, sondern gezielt auch unter verkehrspolitischen
Erwägungen und Zielsetzungen diskutieren.
({4})
Das gilt meines Erachtens auch für die Frage einer
möglichen Privatisierung oder Teilprivatisierung des
Konzerns, in welcher Konstruktion auch immer. Wir
sollten uns von niemandem Zeitpläne diktieren lassen.
Wir sollten uns von niemandem Zielvorgaben machen
lassen, denen wir als Parlament dann gleichsam hinterherzuhecheln haben.
({5})
So etwas sollten wir aus Gründen der Selbstachtung,
aber auch aus sachlichen Gründen nicht mitmachen. Die
Bahn als Unternehmen, aber auch der Schienenverkehr
generell haben nur dann eine aussichtsreiche Chance,
wenn die Wettbewerbsbedingungen stimmen. Herr Kollege Lippold, es ist schon richtig gesagt worden - das ist
überhaupt keine Frage -: Es ist noch viel nachzuholen.
Ich möchte auch gar nicht darüber streiten, wer das jeweils verursacht hat, was Sie versäumt haben oder was
auch wir noch nicht geschafft haben.
Eine Randbemerkung kann ich mir heute aber nicht
verkneifen. Ich sage sie in allem Ernst und richte sie
fraktionsübergreifend an alle. Schauen Sie sich das, was
zwei Herren unter der Überschrift Koch/SteinbrückPapier über den Schienenverkehr, über die Bahn insbesondere, aber auch über den straßengebundenen ÖPNV
haben aufschreiben lassen, bitte ganz genau und auch
vorurteilsfrei an! Da kann man nicht davon sprechen,
dass man mit einem Rasenmäher drübergegangen ist; da
ist die Axt an die Wurzeln des öffentlichen Verkehrs in
Deutschland gelegt worden. Nach der Vorstellung der
beiden Herren sollen von 15,8 Milliarden Euro, die über
drei Jahre eingespart werden sollen, allein 4,4 Milliarden
Euro aus dem Bereich öffentlicher Verkehr, aus Regionalisierungsmitteln, aus Zuschüssen für den ÖPNV, aus
Investivmitteln für den Schienenbau kommen. Das sind
überhaupt keine Investitionen;
({6})
das ist der Schienenbautitel. Da könnten wir genauso gut
fordern, den Straßenbautitel zu kürzen, um Subventionen - in Anführungszeichen - einzusparen. Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen,
das kann niemals Grundlage unserer gemeinsamen verkehrspolitischen Überzeugung werden; denn sonst können wir uns hier verabschieden und können unser Programm gleich bei den „Finanzern“ abgeben nach dem
Motto: Verkehrspolitik findet nicht mehr statt, es sei
denn, als Sparschwein der Nation. - Ich wäre strikt dagegen.
({7})
Nach dieser Randbemerkung möchte ich auf den
Punkt zu sprechen kommen, um den es in diesen Tagen
und Wochen eigentlich geht und um den es sicherlich
auch in den nächsten Monaten noch gehen wird, nämlich
die Zukunft des Unternehmens, die Frage, wie es aufgestellt werden soll. In den zuständigen Gremien in unserer
Fraktion haben wir in diesen Tagen eine Art Grundsatzbeschluss gefasst, den ich hier für meine Fraktion vortragen möchte. Was auch immer im Fortgang der Entwicklung mit der Bahn als Unternehmen geschieht, muss
nach unserer Auffassung dem Grundsatz folgen, der in
Art. 87 e Grundgesetz festgelegt ist und der auch im Koalitionsvertrag so festgehalten ist, nämlich dass das Eigentum am Streckennetz beim Bund, in der öffentlichen
Hand, zu verbleiben hat.
({8})
Das ist keine Frage der Ideologie oder der Grundüberzeugung, sondern eine Frage nüchterner Analyse. Wenn
Albert Schmidt ({9})
das Streckennetz materiell privatisiert würde, wenn es
also verkauft oder in welcher Konstruktion auch immer
den Eigentümer wechseln würde, und sei es nur teilweise, dann hätten wir nicht nur die merkwürdige Konstruktion, dass der Staat dem Shareholder über Jahre mit
Steuermilliarden eine Rendite garantieren würde - das
nur am Rande -, sondern auch die Diskussion darüber,
welches Netz sich private Shareholder überhaupt leisten
wollen. Ich sage Ihnen voraus, was dann passieren
würde: Dann würde das Streckennetz Kilometer für Kilometer verschwinden; denn unrentable Strecken würden
sofort stillgelegt, der Rest nach und nach.
Die öffentliche Infrastruktur Schiene eignet sich
nicht als Renditeobjekt, genauso wenig wie die Infrastruktur Straße. Das zu missachten war der Kernfehler
der misslungenen britischen Bahnreform, die den britischen Steuerzahler nun teuer zu stehen kommt, nachdem
der Staat das Netz zurückkaufen musste und jetzt die unterbliebenen Investitionen abarbeiten muss.
({10})
Diesen britischen Fehler, in welcher Variante auch immer, sollten wir in Deutschland nicht wiederholen.
({11})
Deswegen geht es für mich unter der Überschrift
„Börsengang“ weder um eine Volksaktie à la Telekom
- das ist sowieso ein großes Missverständnis - noch darum, einen Anteil von 10, 15, 20 oder 25 Prozent des
Konzerns zu veräußern. Kapitalmarktfähigkeit ist etwas
anderes als ein schierer Notverkauf. Kapitalmarktfähigkeit verlangt bestimmte Voraussetzungen im Hinblick
auf das Verhältnis des Eigenkapitals zum Fremdkapital,
auf ROCE und EBITDA - man kennt die Stichworte aus
der Bilanzsprache. Keine dieser Voraussetzungen ist bisher erfüllt. Das Ergebnis wären zu wenig Reinvestitionen ins Netz und letztlich eine Vernachlässigung des
grundgesetzlichen Auftrags, für eine gemeinwohlorientierte Schieneninfrastruktur zu sorgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Auftrag
an uns, nicht an das Unternehmen. Das Unternehmen hat
keinen Gemeinwohlauftrag. Aber wir als Eigentümer,
als Politik haben diesen Auftrag. Wir sollten ihn auch in
Zukunft gemeinsam ernst nehmen.
({12})
Ich komme auch schon zum Schluss. Wenn das Streckennetz nicht privatisiert werden soll, dann bleiben für
die durchaus sinnvolle und aus meiner Sicht sogar erwünschte Hereinnahme privaten Kapitals in das Unternehmen im Grunde nur die Transportgesellschaften übrig, in welcher Form auch immer. Ich bitte Sie, ernsthaft
zu prüfen - lassen Sie uns das in den nächsten Wochen
und Monaten in einer ideologiefreien Debatte vertiefen -, ob vorstellbar ist, dass der Bund seine Eigentümerschaft für das Netz und die Infrastruktur im Rahmen
einer entsprechenden Gesellschaft wahrnimmt - sie
muss gar nicht groß sein -, den Job der Bewirtschaftung,
Entwicklung, Vorhaltung und Modernisierung dieses
Netzes aber denen überträgt, die etwas davon verstehen,
nämlich zum Beispiel der DB Netz AG.
({13})
- Das muss nicht sein, aber das könnte man in einem
Vertrag tun. Dann hätte man ein klares Verhältnis zwischen Eigentümer und Auftragnehmer, wie wir es von
der Verkehrsbestellung im Rahmen der Regionalisierung
kennen.
({14})
Dann ist klar, wer zu sagen hat, wie das Netz aussieht,
wie groß es ist und
Herr Kollege, Sie wollten zum Schluss kommen.
- ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin - wie
viel Geld uns das jedes Jahr wert ist. Dann können wir
über Verträge reden, ohne den technisch-operativen Zusammenhang zwischen Netz und Betrieb infrage stellen
zu müssen.
Wir sind am Anfang der Diskussion. Ich bin überzeugt, dass wir hier mehr Übereinstimmung als Dissens
haben werden.
({0})
Deshalb freue ich mich auf den Fortgang dieser konstruktiven Debatte.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Lintner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schmidt, ich stelle mit wohlwollendem Erstaunen fest, dass Sie mit Ihren bahnpolitischen Vorstellungen mittlerweile zu hundert Prozent bei der Union angekommen sind. Diesen Erkenntnisprozess kann man
natürlich nur begrüßen.
({0})
Dennoch muss die Eisenbahnpolitik dieser Bundesregierung als ein folgenschweres Trauerspiel bezeichnet
werden. Was 1994 unter dem Stichwort „Bahnreform“
gemeinsam auf den Weg gebracht worden ist, droht nun,
Frau Staatssekretärin, endgültig zum Fiasko zu werden.
Ich kann mich immer noch nicht darüber beruhigen, dass
Sie es gewagt haben, solche Zahlen in den Raum zu stellen. Es müsste eigentlich von jemandem aus dem Verkehrsministerium verlangt werden können, dass er hier
echte und belastbare Angaben macht und sich beispielsweise an die Erkenntnisse in Bezug auf Verkehrsanteile
und -entwicklung bei der Schiene hält, die sein Ministerium uns selbst mitgeteilt hat. Sich einfach hier hinzustellen und flapsig zu sagen, es sei alles in Butter und
habe sich bestens entwickelt, ist einfach zu wenig.
Wenn Sie bei der Klausurtagung Ihrer eigenen Fraktion dabei gewesen wären und etwa das Eckpunktepapier
der entsprechenden SPD-Arbeitsgruppe noch einmal zur
Hand genommen hätten, dann hätten Sie hier eine solche
inkompetente Aussage nicht machen dürfen. Da werden
nämlich die ganzen Defizite der Bahnpolitik aufgelistet;
ich will sie jetzt nicht im Einzelnen vorlesen, sondern
nur darauf verweisen, dass dort zwischen den Zeilen in
einer etwas gewundenen und umständlichen Form eingeräumt wird, dass die Gestaltung der Bahnpolitik an den
Vorstand der Deutschen Bahn abgegeben worden ist.
Denn in der „DVZ“ findet sich in der Darstellung der
Forderungen der SPD-Arbeitsgruppe die Überschrift:
„DB-Börsenpläne müssen sich der Politik unterordnen“.
Dahinter steckt doch wohl die Erkenntnis, dass die entsprechenden Kompetenzen mittlerweile vom Ministerium zur Bahn gewandert sind und jetzt erst wieder mühsam zurückgewonnen werden sollen.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die Hauptziele der Bahnreform leider bis heute nicht erreicht worden sind. Es stellt nach
wie vor ein ungelöstes Problem dar, wie die Zielsetzung,
mehr Personen- und Güterverkehr auf die Schiene zu
bringen, erreicht werden kann. Der Kollege Lippold hat
die derzeitige Situation schon mit genauen Zahlen exakt
dargestellt. Ich möchte es aber aufgrund des Zahlenwerks, das Sie dargeboten haben, noch einmal für das
Protokoll erwähnen: Wir haben beispielsweise zu beklagen, dass der Anteil des Verkehrsträgers Schiene am
Güterverkehr seit der Bahnreform von 17 auf 14 Prozent
zurückgegangen ist. Diese Erkenntnis liegt sicher auch
in Ihrem Haus vor.
Fatal ist an dieser ganzen Entwicklung insbesondere,
dass damit Perspektiven für die Bahn verloren gehen.
Die Bahn geht ja davon aus, dass sie bis 2007 ein jährliches Durchschnittswachstum von 4,9 Prozent erreichen
könne. Für dieses Jahr hatte sie sogar ein Wachstum von
9,9 Prozent
({2})
- im Personenfernverkehr - erwartet. Nur, das ist jetzt
leider nicht eingetreten, warum auch immer. Die Folge
davon ist aber, dass wir von dem Ziel Börsengang weiter weg sind denn je, eher bewegen wir uns genau in die
entgegengesetzte Richtung. Deshalb ist eigentlich die
Diskussion um Börsenpläne und dergleichen eine Phantomdiskussion, die mit der Wirklichkeit in unserem
Lande und dem wirklichen Zustand der DB AG überhaupt nichts zu tun hat.
({3})
Ich möchte auch davor warnen, zu glauben, dass der
für 2004 vorausgesagte Gewinn - ob er denn kommt,
warten wir einmal ab - das entscheidende Kriterium für
die Börsenfähigkeit der Bahn sei. Das ist vielleicht ein
Hinweis, ein Punkt in einem Katalog weiterer Erwartungen und Anforderungen. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass sich private Investoren davon täuschen lassen, dass
2004 ein Gewinn erzielt wird, der dadurch zustande
kommt, dass vorweg schon einige andere Dinge gemacht
worden sind. Vielmehr werden eine verlässliche positive
Entwicklung und eine effektive Verzinsung des eingesetzten Kapitals auf Jahre hin erwartet und nicht nur irgendwelche kurzlebigen Effekte. Da hat die Bahn - das
ist auch schon mehrfach betont worden - leider wenig
Positives zu bieten.
Unsere Aufgabe hier ist es aber nun - deshalb will ich
mich nun nicht zu sehr mit der Bahn bzw. ihrem Vorstandsvorsitzenden beschäftigen -, daran zu erinnern,
dass letztlich der Bund sowohl unter verkehrspolitischen
Gesichtspunkten als auch als Alleineigentümer diese fatale Entwicklung zu verantworten hat. Sie hätten rechtzeitig einschreiten und Vorgaben machen müssen. Sie
hätten sich durchsetzen müssen und bei dieser Entwicklung nicht einfach zuschauen dürfen.
Da liegt der eigentliche politische Skandal in dieser
Situation. Dass Herr Mehdorn mit Händen und Füßen
für seine Sache kämpft, steht ihm zu und ist im Grunde
genommen sogar seine Aufgabe. Aber dass die Bundesregierung die verkehrspolitischen Zielsetzungen aus dem
Auge verloren und nichts getan hat, um diese Dinge in
die richtige Richtung zu lenken, das haben wir zu kritisieren.
({4})
In einem Punkt kann ich Herrn Schmidt nur Recht geben: Solange Betrieb und Netz nicht getrennt sind, wird
sich die Bahn sehr schwer tun, ihren Börsengang zu organisieren.
({5})
- Der Kollege Friedrich hat es auch gesagt.
({6})
Denn welcher private Investor lacht sich ein Netz an,
bei dem von vornherein feststeht, dass außer einem ständigen Zuschuss in der Größenordnung von 4 oder 5 Milliarden Euro pro Jahr nichts zu erwarten ist?
Ich weise auch auf Folgendes hin - gestern gab es im
Zusammenhang mit Toll Collect eine analoge Diskussion -: Die Bundesregierung sollte sich nicht täuschen;
sie ist nicht in der Lage, über Jahre Finanzzusagen in
dieser Größenordnung zu machen. Falls Sie damit liebäugeln sollten, Investoren 4 oder 5 Milliarden Euro jährlich zu versprechen, kann ich nur sagen: Eine solche ZuEduard Lintner
sage können Sie schon rein haushaltsrechtlich nicht
machen; denn Sie können das Parlament nicht in seiner
Entscheidungsfreiheit binden.
({7})
Deshalb bitte ich Sie, gar nicht erst mit diesem Gedanken zu spielen, wie es gelegentlich zu lesen war.
In jedem Fall habe ich den Eindruck, dass uns die
Bahnreform noch viele Jahre begleiten wird. Von einem
Abschluss der Bahnreform, von dem man aus DB-Kreisen hört, kann überhaupt keine Rede sein. Ich glaube,
wir tun alle gut daran und tun auch der Sache einen Gefallen, wenn wir jetzt eine Art Zwischenbilanz durch unabhängige Sachverständige ziehen lassen und uns dann
auf der Basis dieser Erkenntnisse mit dieser Frage seriös
und ohne Polemik beschäftigen. Das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin RehbockZureich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lintner, ich greife Ihren letzten Satz auf. Wenn Sie
sagen, dass wir uns „seriös und ohne Polemik“ mit der
Sache beschäftigen sollten, dann haben Sie damit sicher
nicht Ihre heutige Rede oder die Anmerkungen vieler Ihrer Kollegen gemeint. Ich bin schon der Meinung, dass
wir uns seriös und ohne Polemik mit der Weiterführung
der Bahnreform beschäftigen und Bilanz ziehen sollten.
Aber das, was Sie heute hier geboten haben, ist von einer
seriösen Bewertung weit entfernt.
Sie sagen - das ist ein Punkt, auf dem wir aufbauen
sollten -, unser gemeinsames wichtigstes Ziel bei der
Bahnreform sei, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.
({0})
Sie aber haben dieses Ziel in den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit völlig vernachlässigt.
({1})
Die Investitionsmittel, die Sie zur Verfügung gestellt haben, waren in keiner Weise ausreichend, um diesem Ziel
näher zu kommen. Auch wenn es für Sie lästig ist, hier
immer wieder daran erinnert zu werden, ist es eine Tatsache: Erst seit 1998 haben wir eine verlässliche Finanzausstattung.
({2})
Trotz der schwierigen Lage werden wir im Haushalt
2004 und in den Folgejahren Investitionsmittel für die
Bahn bereitstellen. Im Jahr 2004 sind es 4 Milliarden
Euro.
Wir sind tatsächlich an einem Punkt, an dem wir uns
gemeinsam Gedanken machen müssen. Sie müssen sich
dazu äußern, ob Sie den Verkehrsträger Schiene in der
Zukunft als einen wichtigen Verkehrsträger in dieser Republik wollen. Wenn das so ist, dann müssen Sie gewisse
Dinge mit uns gemeinsam auf den Weg bringen.
({3})
Wenn Sie sich aber in der Diskussion über die Maut dahin gehend äußern, dass Sie die dadurch aufkommenden
Mittel am liebsten ausschließlich in den Verkehrsträger
Straße zurückfließen lassen würden, dann habe ich die
allergrößten Bedenken, ob Sie in Zukunft wirklich ernsthaft über den Verkehrsträger Schiene reden wollen.
({4})
Wenn wir schon über gemeinsame Grundlagen reden,
dann müssen auch faire Wettbewerbsbedingungen auf
dem Schienennetz, die diskriminierungsfrei zu garantieren sind, angesprochen werden. Wir haben die Weiterentwicklung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes auf
den Weg gebracht, um für alle Mitbewerber auf der
Schiene diese fairen Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten.
Im Übrigen gibt es auf dem deutschen Schienennetz
im Bereich Güterverkehr schon 250 private Unternehmen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren
Besuch in Frankreich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition. Da ist ganz deutlich geworden, dass
wir, was die Netzöffnung angeht, in Europa am weitesten sind.
({5})
Dies kann aber keine Einbahnstraße bleiben. Wir müssen
vielmehr dafür sorgen, dass die Netzöffnung in ganz
Europa vorangetrieben wird.
Eine ausreichende finanzielle Ausstattung der
Schiene vonseiten des Bundes bedeutet aber nicht, dass
keine Investitionsmittel vonseiten der DB AG selbst fließen müssen. Es kann nämlich nicht sein, dass der Bund
als Erster zu Hilfe gerufen wird, wenn sich die DB AG
in einer schwierigen Lage befindet.
({6})
Ich möchte nun auf die Diskussion der vergangenen
Wochen eingehen. Ziel muss es sein, mehr Verkehr auf
die Schiene zu bringen. Wir brauchen also auch in Zukunft ein flächendeckendes Schienennetz. Dazu sind
Transparenz und Netzöffnung nötig. Aus meiner Sicht
sind wir weit von einem Börsengang entfernt - das
sollte man in zukünftigen Diskussionen beachten -, solange die Kapitalmarktfähigkeit der DB AG nicht ausreichend ist. Vor einem Börsengang müssen wichtige Voraussetzungen erfüllt sein.
Wir sollten in den kommenden Monaten eine Bilanz
der Bahnreform ziehen und eine Weiterentwicklung dieser Reform ernsthaft diskutieren. Ich verweise in diesem
Zusammenhang auf Art. 87 e des Grundgesetzes. Dort
sind Festlegungen getroffen, die Auswirkungen auf die
Größe und auf die Standards des Netzes der Zukunft haben. Auch nach einem Börsengang muss gewährleistet
sein, dass der Bund zumindest mittelbar Eigentümer des
Schienennetzes bleibt. Die Verantwortung des Bundes
für dieses Schienennetz muss also bestehen bleiben.
({7})
Ich möchte die alte Diskussion über die Trennung von
Netz und Betrieb, die es in den vergangenen zwei Jahren
gab und die - ich es will einmal so sagen - teilweise
fundamentalistisch geführt wurde, nicht neu beginnen.
({8})
Ich möchte daran erinnern, dass es in England inzwischen als ein Fehler gesehen wird, das Netz vom Betrieb
getrennt zu haben.
({9})
Wir sollten diese Fehler nicht wiederholen und die Trennung von Netz und Betrieb nicht durchführen.
({10})
Bevor wir über einen möglichen Börsengang diskutieren, muss der Konzern DB AG schwarze Zahlen
schreiben, und zwar nachhaltig. Ein einziges positives
Bilanzergebnis ist nicht ausreichend, wenn man einem
Börsengang näher treten will. Es muss eine nachhaltige
und sichere Finanzgrundlage geben, bevor ein Börsengang erfolgreich auf den Weg gebracht werden kann.
Messlatte für uns alle muss bei aller Weiterentwicklung der Bahnreform dieses verkehrspolitische Ziel sein.
Mehr Verkehr auf die Schiene muss die Messlatte und
der Schwerpunkt in der Diskussion sein. Lassen Sie uns
in die Weiterentwicklung der Bahnreform einsteigen!
Denn wir benötigen den Verkehrsträger Schiene. Er
muss in der Zukunft gleichwertig zur Straße sein. Ansonsten fahren wir die Mobilität an die Wand.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bundesminister Stolpe hat nicht nur das Problem
der Maut, sondern auch das Problem der Bahn: rote Bilanzen, ein Rekordverschuldungstempo, das seit 1994
zweieinhalbmal so hoch ist wie in den 32 Jahren vor der
Bahnreform, und Verluste an Marktanteilen. Vor diesem
Hintergrund ist das Ziel des Börsengangs im Jahr 2005
illusorisch. Der wünschenswerte starke ordnungspolitische Arm des Bundesministers Stolpe ist nicht sichtbar,
die verantwortliche Rolle als Alleineigentümer schon
gar nicht. Der Deutsche Bundestag hat nicht nur das
Recht, sondern sogar die Pflicht, das bundeseigene Unternehmen DB AG kritisch zu begleiten, insbesondere in
einer so dramatischen Lage.
({0})
Die zukünftige Marktstellung des Verkehrsträgers
Schiene insgesamt wird von marktfähigen Angeboten zu
wettbewerbsfähigen Preisen abhängig sein. Die Union
will ausdrücklich mehr, besseren und steigenden Schienenverkehr.
({1})
Sie will, um das zu erreichen, einen größeren Wettbewerb mehrerer starker Marktpartner statt den Fortbestand faktischer Monopolstrukturen. Sie will Investitions- und Ertragsdynamik sowie mehr Arbeitsplätze im
Schienenverkehr. Aber sie will keinen Dirigismus und
keine Dauersubventionitis.
({2})
Verehrte Kollegen von der Regierungskoalition, es ist
doch ein absolut propagandistisches Wunschdenken,
dass die Verkehrsleistung Schienenpersonenverkehr bis
2015 um 32 Prozent und die Verkehrsleistung Schienengüterverkehr sogar um 103 Prozent steigen wird. So
steht es im Verkehrsbericht 2000 der Bundesregierung.
So ist es im Vorspann des Bundesverkehrswegeplanes
2003 wiederholt worden.
({3})
Sie haben diese Prognose sogar dem Bundesverkehrswegeplan unterlegt. Da diese Prognose absolut illusorisch
ist, ist der Bundesverkehrswegeplan in einem KernbeDirk Fischer ({4})
stand nicht sachgerecht und illusionär. Das ist doch dramatisch.
({5})
Die Realität sieht völlig anders aus. Seit 2000 kommt
es im Güterverkehr zu einem Rückgang. Seit Beginn der
Bahnreform, Frau Kollegin Mertens, ist, wie Modal-SplitUntersuchungen im Bereich des Güterverkehrsmarktes
zeigen, ein Rückgang des Schienengüterverkehrs von
17 auf 14 Prozent, aber ein Anstieg des Straßengüterverkehrs zu verzeichnen. Das haben wir uns eigentlich anders
vorgestellt. Sie kennen doch die Zahlen. Sie können doch
hier nicht mit Zahlen eines insgesamt steigenden Güterverkehrsmarktes antreten und in diesem Zusammenhang
beklagen, dass die Zuwächse des Schienengüterverkehrs
unzureichend sind. Es wäre ja noch schlimmer, wenn der
Schienengüterverkehr bei einem insgesamt dynamisch
wachsenden Güterverkehrsmarkt, absolut gesehen, zurückfallen würde. Das wäre die totale Katastrophe. Ich
bitte aber, zu bedenken, dass wir im Vergleich zu anderen
Verkehrsträgern beim Schienengüterverkehr keinen Zuwachs erreicht haben. Das sollten wir beklagen.
({6})
Die DB AG hat im Personenfernverkehr Marktanteile
von 99,5 Prozent und im Nahverkehr von 91,5 Prozent.
Ohne die Regionalisierungsmittel und die Bestellerfunktion der Länder würde auch der Nahverkehr bei über
99 Prozent liegen. Im Güterverkehr haben wir einen
Marktanteil von 97,2 Prozent. Das heißt, es gibt de jure
kein Monopol, aber angesichts der Anteile des Schienenverkehrsmarktes absolut monopolistische Strukturen.
Das ist nach meiner Auffassung eine Belastung für das
gesamte System Schiene. Denn privates Kapital wird bei
monopolistischen Strukturen nicht investiert. Das ist viel
zu riskant.
Deswegen haben wir leider Gottes seit drei Jahren
eine kontinuierlich sinkende Verkehrsleistung: im Schienenpersonenverkehr im Jahr 2002 minus 6,2 Prozent, im
Schienengüterverkehr im Jahr 2002 minus 3 Prozent.
Wir haben aber seit Beginn der Bahnreform eine dramatisch steigende Verschuldung zu verzeichnen. In
32 Jahren, seit 1961, sind 34,3 Milliarden Euro aufgelaufen, diese wurden vom Bundeshaushalt übernommen. Das
Unternehmen ist ohne jede Verschuldung gestartet. Ende
2002 beliefen sich die Schulden auf 24,5 Milliarden Euro
und werden Ende des Jahres bei deutlich über 26 Milliarden Euro liegen. Ich sage Ihnen voraus: In kürzester Zeit
werden wir bei über 30 Milliarden Euro sein. Dann sind
wir innerhalb von zehn bis zwölf Jahren dort angelangt,
wo wir ursprünglich einmal nach 32 Jahren waren.
Der Bund haftet für diese Schulden natürlich nicht im
juristischen Sinne - man kann Herrn Mehdorn sagen:
„Geh doch zum Insolvenzverwalter!“ -, wohl aber im
politischen Sinne.
({7})
Herr Eichel schweigt dazu.
({8})
Man gewinnt den Eindruck, dass ihm diese Schulden die
Sprache verschlagen haben. Das ist für den Bundeshaushalt - man muss es laut aussprechen - eine einzige Katastrophe. Das muss endlich von der deutschen Öffentlichkeit und vom Parlament wahrgenommen und
entsprechend behandelt werden. Hier besteht Handlungsbedarf.
({9})
Horst Friedrich hat die Zahlen genannt. Seit Beginn
der Bahnreform hat der Schienenverkehrsträger 177 Milliarden Euro erhalten, die DB AG deutlich über 95 Milliarden Euro. Aber trotz regelmäßiger Preiserhöhungen
und Zukäufe - ich lasse Stinnes außen vor - verzeichnen
wir seit 1998 stagnierende Umsätze in Höhe von 15 Milliarden Euro. Da bewegt sich nichts.
Es gibt heute eine Finanzierungslücke bei der mittelfristigen Planung bis 2007 von 5 Milliarden Euro. Das
wird die Sondersitzung des Aufsichtsrates der DB AG am
23. Oktober zutage bringen. Somit werden neue Projekte
und Instandhaltungsmaßnahmen fallen gelassen. Offenbar will man Instandhaltung weiter zurückfahren, damit
das Netz so marode wird, dass der Bund einen Neubau
finanzieren muss. Das ist die Strategie, die dahinter steckt.
Das sind Verhältnisse, die wir nicht akzeptieren dürfen. Die Bahn ist nicht börsenfähig. Der Marktwert des
Eigenkapitals muss nämlich zum Zeitpunkt des Börsengangs grundsätzlich dem Buchwert des Eigenkapitals
entsprechen. Dies soll anhand des Vielfachen des EBIT
mithilfe von Zahlungsströmen und einer ausgewogenen
Verschuldung ermittelt werden. Wir bräuchten bei der
DB AG ein EBIT in Höhe von 1,6 Milliarden Euro, Fakt
waren Ende 2002 37 Millionen Euro.
Der Free Cashflow müsste - das ist die Mindestanforderung - bei 1,4 Milliarden Euro liegen. Diese Zahl hatten wir Ende 2002 bei der DB AG, leider mit einem Minus davor. Für ein Rating A brauchen wir eine
Tilgungsdeckung von 30 Prozent; die DB AG erreichte
Ende 2002 nur 11,1 Prozent. Bei Vergleichsunternehmen
ist das Verhältnis von Verschuldung zu Eigenkapital
1 : 1, bei der DB AG war es 2,7 : 1. - Ein Börsengang ist
also doch wirklich illusionär.
Frau Mertens, Ihnen werfe ich vor: Die Bundesregierung kennt die Zahlen und verschweigt sie dem deutschen Parlament und der Öffentlichkeit. Sie müssen endlich ehrlich mit uns umgehen und uns die nötigen
Informationen geben, die das deutsche Parlament von
der Regierung erwarten kann.
({10})
Dann sehen wir uns auch nicht veranlasst, sie uns auf andere Weise zu beschaffen. Seien Sie aufrichtig!
({11})
Dirk Fischer ({12})
Wenn Sie das Unternehmen materiell privatisieren,
dann verlieren Sie auch den Zinsvorteil durch implizierte
Bundesgarantie. Diese hat der DB AG im Jahre 2002 einen Zinsvorteil in Höhe von 333 Millionen Euro verschafft. Auch dieser Betrag muss geschultert werden.
Wir wollen eine kundenfreundliche Bahn, einen fairen Wettbewerb, den diskriminierungsfreien Zugang unterschiedlicher Unternehmen zum Schienennetz und
operative Unabhängigkeit von Netz und Transport. Wir
lehnen die materielle Privatisierung des Netzes ab. Ein
Netz, das vom Steuerzahler hoch subventioniert wird,
kann nicht zum Renditeobjekt gemacht werden. Wir
wollen eine staatlich verantwortete Infrastruktur, auf der
möglichst viele leistungsfähige Wettbewerber zunehmenden Schienenverkehr abwickeln.
Dazu müssen schnellstens die Task-Force-Ergebnisse
umgesetzt werden. Damit sind Sie ein Jahr im Rückstand. Danach muss dringend die Evaluierung unternehmensexterner Kräfte stattfinden, damit das Parlament einen objektiven Bericht erhält. Wir brauchen, wie bei der
Bahnreform als Option vorgesehen, die Verselbstständigung der Einzelgesellschaften bei gleichzeitiger Auflösung der Holding.
Die Redezeit ist jetzt deutlich überschritten.
Ich komme zum Schluss. Gestatten Sie mir noch einen Satz: Ich glaube, ohne diese Voraussetzung kann im
Haupttransitland Europas keine hervorragende Verkehrspolitik geleistet werden.
Der Schauspieler Carlo Nell hat einmal gesagt:
Die sicherste Art, einen Zug zu erreichen, besteht
darin, den vorangegangenen zu versäumen.
Wenn Herr Stolpe weiterhin nach diesem Motto handelt,
wird es für die Verkehrsträger immer schlimmer
Herr Kollege, jetzt ist der letzte Satz aber reichlich
ausgefüllt.
- und für die Steuerzahler immer teurer.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz Paula.
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Große Anfrage scheint große Lautstärke zu bedeuten, dafür aber weniger Inhalte.
({0})
Das mag man zwar als weiteres Zeichen der Schwäche
der Opposition durchgehen lassen können, aber, Kolleginnen und Kollegen, eines lassen wir Ihnen nicht durchgehen: dieses permanente Schlechtreden der Bahn.
({1})
Wir wissen ganz genau, dass dort Zehntausende von
Mitarbeitern einen guten Job machen.
({2})
Diese haben es nicht verdient, dass ihre Bahn permanent
mies gemacht wird.
({3})
Ein zentrales Anliegen der Regierungskoalition ist es,
eine moderne Verkehrspolitik zu gestalten, die mit Innovationen die Infrastruktur leistungsfähiger und das Verkehrssystem effizienter macht, die Mobilität im
21. Jahrhundert nachhaltig sichert und somit den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt stärkt.
In einem am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierten
integrierten Verkehrssystem kommt der Schiene eine
wichtige Rolle zu. Mit der im Dezember 1993 beschlossenen Bahnreform wurden entscheidende Rahmenbedingungen für ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz in
Deutschland gestellt. Ziel der Bahnreform war und ist es,
das ständig steigende Bedürfnis nach Mobilität in umweltgerechter Weise abzusichern, in allen Transportbereichen mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen und
mittels Wettbewerb zu erreichen, dass die Bahn effizienter - markt- und kundenorientiert - wirtschaftet, damit
sie finanziell aus eigener Kraft lebensfähig ist
({4})
und damit letztendlich auch der Bund, der Steuerzahler,
entlastet wird.
Eine Zwischenbilanz ist erforderlich. Bei dieser Zwischenbilanz gilt es, einen Blick auf das Schienennetz,
auf die Infrastruktur zu werfen; denn Züge rollen zügig
nur auf intakten Gleisen. Bei einem Blick zurück werden
wir feststellen, dass die damalige Bundesregierung trotz
des Wissens um den horrenden Investitionsbedarf die
entsprechenden Mittel deutlich zusammengestrichen hat.
({5})
1998 zum Beispiel konnten nur noch weniger als
3 Milliarden Euro für den Bau von Schienenwegen ausgegeben werden.
({6})
Herr Fischer, ich bitte Sie, jetzt genau zuzuhören:
Darüber hinaus besteht das Problem, dass neben dem
Rückbau im investiven Bereich die ohnehin immer
knapper werdenden Mittel vor allem für sehr schöngerechnete Großprojekte verwendet worden sind. Kollege
Oswald, wir beide wissen ganz genau, wie verheerend
die damalige Fehlentscheidung der Bayerischen Staatsregierung für den gesamten bayerischen Raum war, die
ICE-Strecke von München nach Nürnberg nicht über
Augsburg, sondern über Ingolstadt zu führen.
({7})
Geplant waren 3,5 Milliarden D-Mark, nach dem jetzigen Stand sind es 3,5 Milliarden Euro - auf einer nach
oben offenen Skala.
({8})
Kollege Oswald, hier bekommen wir weitere Probleme,
nämlich wenn es darum geht, Mittel für den dringend benötigten Ausbau der Verbindung von Frankreich über
Augsburg und München nach Osteuropa bereitzustellen.
Für diese Fehler haben Sie geradezustehen.
({9})
Mit dem Regierungswechsel 1998 wurden die Schieneninvestitionen deutlich angehoben.
({10})
Auf hohem Niveau wurden und werden jährlich die
Haushaltsmittel für den Aus- und Neubau der Schienenwege bereitgestellt. Kollege Fischer, wie Sie darauf kommen, von einem maroden Schienennetz zu sprechen und
dies mit einem entsprechenden Vorwurf an die Bundesregierung zu verknüpfen, lasse ich einmal dahingestellt.
Denn gerade auf die Sanierung des Schienennetzes haben
wir unser Hauptaugenmerk gerichtet. Sie wissen: Mit zusätzlichen Mitteln aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm haben wir in den letzten drei Jahren insgesamt
13,5 Milliarden Euro in diesen Bereich investiert. Wenn
Sie in Ihrer Regierungszeit nur annähernd so viel gemacht hätten, hätten wir heute eine Reihe von Problemen
weniger.
({11})
Kollege Friedrich, wir haben bei den Investitionen ein
hohes Niveau erreicht. Das kann ich so festhalten. Wir
müssen nun alle Hebel in Bewegung setzen - Kollege
Albert Schmidt, ich gebe Ihnen vollkommen Recht -,
dass die Überlegungen der Herren Koch und Steinbrück
nicht Wirklichkeit werden. Denn das wäre auf unserem
Weg, zu einem vernünftigen Schienennetz zu kommen,
mehr als hinderlich.
Kolleginnen und Kollegen, an den wenigen Beispielen und Zahlen sehen Sie, dass die Regierungskoalition
ihre Verantwortung wahrnimmt und eine klare Weichenstellung für ein leistungsfähiges Schienennetz als entscheidende Voraussetzung für die Steigerung der Verkehrsleistung und der Wettbewerbsfähigkeit der Bahn
vorgenommen hat. Wir stehen durch eine Reihe von
Maßgaben mit an der Spitze. Ich darf in Anbetracht der
Kürze der Zeit nur an die Regionalisierungsmittel in
Höhe von 6,84 Milliarden Euro und die Mittel aus dem
GVFG-Bundesprogramm in Höhe von rund 1,7 Milliarden Euro erinnern.
({12})
Wir setzen neue Schwerpunkte auch im Bereich der
Gleisanschlüsse. Ich könnte noch mehr Beispiele nennen.
({13})
Bezüglich der internationalen strukturellen Rahmenbedingungen möchte ich unterstreichen, dass unter
anderem mit der Umsetzung des ersten Eisenbahninfrastrukturpaktes der EU und der Ergebnisse der TaskForce die Bedingungen für einen diskriminierungsfreien
Netzzugang und damit für einen fairen Wettbewerb auf
der Schiene weiter verbessert werden. Viele Probleme
bei der Harmonisierung des Wettbewerbs der Verkehrsträger lassen sich jedoch nur gesamteuropäisch lösen,
wie zum Beispiel die Harmonisierung der Leit- und Sicherungstechnik bei den europäischen Bahnen, was zu
einer wesentlichen Verkürzung der Transportzeiten im
grenzüberschreitenden Verkehr führen wird, oder die
Einführung einer Steuer auf Flugbenzin, die der Bahn
gerade auf Langstrecken neue Möglichkeiten zur attraktiven Angebotsgestaltung eröffnen wird.
Ein kurzes Wort zur Fortführung der Bahnreform, in
der wir uns befinden. Die Bahnreform hat die Entscheidung über einen späteren Wegfall der Holding bewusst
offen gelassen. Die künftige Gestaltung und Organisationsstruktur des Schienenverkehrs kann deshalb ohne Tabus, Vorurteile und Zeitdruck behandelt werden. Maßstab
für die anstehenden Entscheidungen ist die Erhöhung des
Schienenverkehrs. Deshalb erwarten wir von der DB AG
eine weiterhin konsequente Rationalisierungs- und Modernisierungspolitik. Wir erwarten, dass sie die Herausforderungen des Marktes annimmt und durch innovative
und kundengerechte Produkte eine Angebotsoffensive
eröffnet. Der Kunde braucht Sicherheit und Verlässlichkeit über das künftige Bahnangebot.
({14})
An dieser Stelle sei es noch einmal ausdrücklich gesagt:
Die Bahn steckt in dem schwierigen Wandel hin zu einer
modernen, offensiven Bahn. An dieser Stelle sollten wir
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn, die Enormes geleistet haben - das muss in aller Deutlichkeit anerkannt werden -, ein Dankeschön aussprechen.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die
Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen der Schiene im Verhältnis zu den anderen Verkehrsträgern auf nationaler und auf europäischer Ebene
fortführen und die Bahnreform kontinuierlich fortsetzen.
Einen Rückschritt, wie Sie befürchten, Kollege
Friedrich, wird es mit Sicherheit nicht geben. Ich bitte
Sie dringend - in Zukunft werden Sie ja keine Probleme
mehr haben, anwesend sein zu können -, dass wir diesen
Prozess nicht über die zwanzigste Kommission begleiten, sondern dass wir als Parlamentarier unsere ureigene
Aufgabe im Parlament wahrnehmen und diesen Prozess
entsprechend vorantreiben.
Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit.
({16})
Auch wir danken Ihnen und gratulieren Ihnen zu Ihrer
ersten Rede in diesem Hause.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1591 an den Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen vorgeschlagen. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag
der Fraktion der FDP zur Einsetzung einer Kommission
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Bahnreform.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 r sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verkehrsstatistik
- Drucksachen 15/1666, 15/1706 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Zusatzprotokoll Nr. 7 vom 27. November 2002
zu der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom
17. Oktober 1868
- Drucksache 15/1649 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur
Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten
- Drucksache 15/1653 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Zustimmung zur Änderung der Satzung des
Europäischen Systems der Zentralbanken und
der Europäischen Zentralbank
- Drucksache 15/1654 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 2. Juli 2001 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und der Republik Ös-
terreich über den Verlauf der gemeinsamen
Staatsgrenze im Grenzabschnitt „Salzach“
und in den Sektionen I und II des Grenzab-
schnitts „Scheibelberg-Bodensee“ sowie in Tei-
len des Grenzabschnitts „Innwinkel“
- Drucksache 15/1655 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die Verarbeitung und Beseitigung von
nicht für den menschlichen Verzehr bestimmten tierischen Nebenprodukten
- Drucksache 15/1667 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/1645 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Verfütterungsverbotsgesetzes
- Drucksache 15/1668 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Deutschen Richtergesetzes
- Drucksache 15/1471 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung
- Drucksache 15/1497 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Asylverfahrensgesetzes und zur Änderung des
Ausländergesetzes
- Drucksache 15/903 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
m)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 17. Oktober 2000 über
die Anwendung des Artikels 65 des Übereinkommens über die Erteilung europäische Patente
- Drucksache 15/1647 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über internationale Patentübereinkommen
- Drucksache 15/1646 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
o) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz
des olympischen Emblems und der olympischen Bezeichnungen ({9})
- Drucksache 15/1669 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Sportausschuss
p) Erste Beratung des von den Fraktion der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Bundesverfassungsgerichtsge-
setzes
- Drucksache 15/1686 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Ulrich Heinrich, Horst Friedrich ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ausnahmeregelung für Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung für landwirtschaftliche
Nutzfahrzeuge erhalten
- Drucksache 15/759 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Horst Friedrich ({13}), Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Lärmschutz an der Anhalter Bahn - Folgen
der Teilung Berlins überwinden
- Drucksache 15/1115 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem
Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({15}) vom 20. Dezember 2001, 1413 ({16}) vom 23. Mai 2002,
1444 ({17}) vom 27. November 2002 und 1510
({18}) vom 13. Oktober 2003 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/1700 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Sicherheit von technischen Arbeitsmitteln und Verbraucherprodukten
- Drucksache 15/1620 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({20})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 13. Januar 2003 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sonderverwaltungsregion Hongkong der Volksrepublik
China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Schifffahrtsunternehmen auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 15/1644 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({21})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verkehrsstatistik liegt inzwischen
auf Drucksache 15/1706 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor,
die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 27 a bis
27 g. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. April 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem
Königreich der Niederlande über die Durchführung der Flugverkehrskontrolle durch die Bundesrepublik Deutschland über niederländischem
Hoheitsgebiet und die Auswirkungen des zivilen Betriebes des Flughafens Niederrhein auf das
Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande
({22})
- Drucksachen 15/1522, 15/1651 ({23})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({24})
- Drucksache 15/1697 Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Königshofen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Also wurde der Gesetzentwurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 27 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 58 zu Petitionen
- Drucksache 15/1536 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 58 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten
Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 60 zu Petitionen
- Drucksache 15/1569 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 60 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 61 zu Petitionen
- Drucksache 15/1570 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 61 wurde einstimmig zugestimmt.
Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 62 zu Petitionen
- Drucksache 15/1571 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 62 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
- Drucksache 15/1572 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Einstimmige Zustimmung.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 64 zu Petitionen
- Drucksache 15/1573 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Sammelübersicht 64 ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stim-
men von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a, 7 c und 7 d so-
wie Zusatzpunkt 3 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Fuchs, Karl-Josef Laumann, Dagmar
Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Freiheit wagen - Bürokratie abbauen
- Drucksache 15/1330 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({31})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Rainer Brüderle, Daniel Bahr
({32}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Anreize zum Bürokratieabbau setzen - Bürokratiekosten-TÜV einrichten
- Drucksache 15/1006 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({33})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({34}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Rainer Brüderle, Dirk Niebel, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Abbau von Bürokratie sofort einleiten
- Drucksachen 15/65, 15/1183 Berichterstattung:
Abgeordneter Fritz Kuhn
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Weg für Investition und Innovation durch
den Abbau bürokratischer Hemmnisse freimachen
- Drucksache 15/1707 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({35})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Michael Fuchs.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen
Sie mich diese Debatte mit einem Zitat Otto von Bismarcks beginnen,
({0})
der seinerzeit schon beklagte: „Die Bürokratie ist es, an
der wir überall kranken“.
({1})
Herr Kuhn, das war schon damals richtig. Die Bundesregierung hat das auch erkannt. Die Folge daraus haben wir im Oktober 2002 ja verspürt, nämlich die Großankündigung des berühmten Masterplans durch den
Bundesminister für Wirtschaft, Wolfgang Clement.
({2})
Am 26. Februar dieses Jahres - die Ankündigungen
kommen immer sehr früh, aber die Umsetzung erfolgt
erst ein halbes Jahr später - wurde das Eckwertepapier
dieses Masterplans herausgebracht. Am 9. Juli wurde
das Gesamtkonzept der Initiative Bürokratieabbau
vorgestellt.
({3})
Ergebnis - Herr Kuhn, jetzt wird es spannend -: Von den
54 Punkten, die Sie angekündigt haben,
({4})
haben Sie bis heute vier realisiert. Das sind noch nicht
einmal 10 Prozent. 200 Prozent werden immer angekündigt und noch nicht einmal 10 Prozent umgesetzt.
Realisiert haben Sie eine Anhebung bei den Buchführungsgrenzen, einige Regelungen beim Kriegsdienstverweigerungsrecht und bei der Ausbildereignungsverordnung - ganz nebenbei: das war sehr vernünftig - sowie
die Reform der Arbeitsstättenverordnung; darauf komme
ich noch zurück. Das, was Sie machen, ist kein Masterplan, sondern ein Armutszeugnis.
({5})
Mittlerweile ist es so weit, dass sogar Juso-Chef Annen
sagt - ihn kann ich ganz unverblümt zitieren -: Clement
ist ein Ankündigungsweltmeister. Mehr kommt nicht dabei heraus.
Zurück zur Arbeitsstättenreform. Auch diese Reform
- ich habe mir die Sache einmal angesehen - ist enttäuschend. Der Verordnungstext ist zwar erheblich geschrumpft, nämlich von 58 auf zehn Paragraphen. Aber
was haben Sie gemacht? Sie haben schlicht und einfach
die Details aus diesen 58 Paragraphen in den Anhang
verschoben. Das ist nichts anderes als eine Umbuchung.
Geholfen hat das der Wirtschaft und den betroffenen Unternehmen mit Sicherheit nicht.
({6})
Fast ein Jahr ist nun schon die clementsche Offensive
her und Deutschland erstickt im rot-grünen Demokratiewust. Lassen Sie mich noch einen Herrn zitieren:
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter machen, und wir werden hemmende Bürokratie
rasch beseitigen … Dabei werden wir überflüssige
Vorschriften streichen …
Wissen Sie, wer das gesagt hat? - Das war der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung von 1998.
({7})
Was ist daraus geworden? Warum tun Sie denn nichts?
Die Bürokratieschraube dreht sich immer schneller. Der
Wust von neuen Regelungen wird immer größer.
Ich will nur einmal an die Ämter erinnern, die Sie
eingerichtet haben. Das Zulagenamt für die Verwaltung
der Riester-Rente hat mittlerweile 600 Mitarbeiter. Die
Finanzagentur für öffentliche Schuldenverwaltung - bei
den vielen Schulden, die Sie machen, brauchen Sie diese
Agentur tatsächlich; das kann ich verstehen - beschäftigt
schon 100 Mitarbeiter. Die Privatisierungsgesellschaft
der Bundeswehr, die GEBB, die bis heute auf dem Liegenschaftssektor noch keine Einnahmen verzeichnet, hat
mittlerweile 200 Mitarbeiter. Bürokratie zu schaffen ist
für Sie ganz einfach. Ich bin überzeugt, bei der Umsetzung von Hartz III und IV werden wir in Kürze ähnliche
Verhältnisse haben.
({8})
Also, Ihr Erfindungsreichtum ist wirklich großartig.
({9})
Ich will dies anhand einiger Zahlen belegen, die Sie,
Herr Kuhn, nicht wegdiskutieren können: Seit der letzten Bundestagswahl - das ist noch nicht so lange her haben Sie schon 52 neue Gesetze und 442 Rechtsverordnungen geschaffen.
({10})
Ich möchte an uns alle appellieren: Diese Verordnungen sehen wir im Parlament nicht. Wir beschließen
Verordnungsermächtigungen. Die Verordnungen selber,
in denen dann die Details festgelegt werden - bekanntermaßen steckt der Teufel im Detail -, sehen wir nicht. Sie
sind für mich parlamentarisch nicht ordnungsgemäß legitimiert. Mit diesem Thema müssen wir uns einmal gemeinsam auseinander setzen; denn da steckt die meiste
Bürokratie. Vieles, was vielleicht gut gemeint ist, wird
übertrieben umgesetzt. An diesen Punkt müssen wir gemeinsam herangehen.
Die IHK des Saarlandes hat geschätzt, dass die deutsche Wirtschaft mittlerweile 30 Milliarden Euro pro Jahr
für Bürokratiedienste ausgeben muss. Die Kosten dieses
Wirrwarrs bei der umfangreichen Änderung der Steuergesetze von 1999, die 2000 noch einmal korrigiert und
2001 wieder neu gefasst wurden, sind dabei noch gar
nicht berücksichtigt. Es ist doch ein Treppenwitz, dass in
Deutschland 70 Prozent der Weltsteuerliteratur produziert wird, bei 3 Prozent des Weltsteueraufkommens.
Das muss uns allen zu denken geben. An dieses Monster
müssen wir herangehen.
Noch etwas - Herr Kuhn, hier muss ich Sie ansprechen, weil das Ihr liebstes Kind ist -: die Ökosteuer. In
den Hauptzollämtern sind die Beamten mit nur einem
einzigen Antrag auf Mineralölsteuererstattung bis zu
fünf Stunden beschäftigt. Bürokratischer kann man das
nun wirklich nicht machen.
({11})
Der Ausstoß der rot-grünen Bürokratieformulierungsmaschinerie hat ein Tempo erreicht, das wahrscheinlich
schon die Erfinder selbst schwindlig macht. Sie sind auf
dem Weg, bei den Gesetzen nur noch Masse zu produzieren, aber keine Klasse. Auch dazu habe ich einige
Beispiele.
Ankündigungsminister Clement wird für mich zum
Eichel der Wirtschaftspolitik. Er häuft mittlerweile so
viel Bürokratie auf, wie Hans Eichel Schulden macht.
({12})
Diese Seuche von Bürokratie haben Sie in die anderen
Ministerien übertragen. Nehmen Sie nur einmal das Dosenpfand oder gar die Maut. Mich hat eine Bürgermeisterin aus dem schönen Eifelörtchen Polch, Frau Moesta,
angeschrieben und mir mitgeteilt, dass Sie wieder etwas
ganz Neues erfunden haben. Denn bei Toll Collect muss
man jetzt jedes Feuerwehrfahrzeug von der Mautpflicht
befreien lassen. Aber, Herr Hoffmann, es ist nicht so,
dass das für immer gilt und Feuerwehrfahrzeug gleich
Feuerwehrfahrzeug ist; nein, das muss man jedes Jahr
wieder neu beantragen. Das ist ein riesiger bürokratischer Aufwand. Stellen Sie sich die Tausende von Fahrzeugen vor. Warum man nicht eine generelle Befreiung
für solche Fahrzeuge einführt, ist für mich absolut unverständlich.
({13})
Ähnliches erleben wir bei unseren Soldaten in Afghanistan mit ihren Bundeswehrfahrzeugen, die keine Abgassonderuntersuchung haben. Die dürfen dann damit
nicht fahren. Der Verteidigungsminister hat damit seine
Probleme in Afghanistan gehabt. Solche bürokratischen
Monster - ich glaube, in Afghanistan gibt es mehr Autos, die gar keinen Auspuff haben, als solche mit Auspuff - sollten möglichst abgeschafft werden. Das sind
Lachnummern. Damit machen wir uns in der Welt lächerlich.
({14})
Ich habe wirklich das Gefühl, dass die Bürokratieliebe bei vielen von Ihnen eher dazu führt, dass Sie den
Masterplan falsch verstanden haben und ihn nicht zu einem Abbauprogramm, sondern zu einem Aufbauprogramm machen. Wir sollten endlich beginnen, die
unnützen Verordnungen - da will ich nur zwei kleine
Beispiele nennen - radikal abzubauen. Das haben zwei
Bundesländer hervorragend gemacht. Im Saarland hat
man mittlerweile über 50 Prozent der Verordnungen gestrichen und man stelle sich vor: Das hat kaum jemand
gemerkt. In Hessen ist man auf dem gleichen Weg. Warum tun wir nicht etwas Ähnliches? Denn eine Vorschrift
wie „Halsorden sind an einem Band um den Hals zu tragen“ oder die Anweisung in einer Zentralen Dienstvorschrift der Bundeswehr „Ab 1,25 m Wassertiefe hat der
Soldat mit Schwimmbewegungen zu beginnen“ finde ich
relativ überflüssig.
({15})
Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass ein solcher
Blödsinn möglichst schnell verschwindet.
Man hat sich in Deutschland leider daran gewöhnt, beinahe bei jedem Lebensbereich auf eine passende Vorschrift zurückgreifen zu können. Auf eigenes Risiko - da
werde ich jetzt sehr ernst - und ohne Rückendeckung,
ohne Regelungen zu handeln, ist unüblich und vielfach
unmöglich geworden. Ernsthafter Bürokratieabbau bedeutet aber mehr Risiko, mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung. Diese Wandlung kann für mich nur durch
ein geändertes Bewusstsein vollzogen werden. Der
Schlüssel hierzu liegt im Subsidiaritätsprinzip.
Was immer im engeren Lebenskreis getan werden kann,
muss und soll dort verantwortet werden. Subsidiarität,
konsequent und modern praktiziert, verhindert letztendlich, dass Deutschland an zu viel Staat erstickt. Was wir
brauchen, ist ein systematisches Großkonzept, um uns
selbst aus diesem Bürokratiesumpf - da meine ich uns
alle - herauszuziehen. Ein solches Konzept liegt mit unserem Antrag „Freiheit wagen - Bürokratie abbauen“
auf dem Tisch. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam dieses
Masterkonzept umsetzen und wollen grundsätzliche
Maßnahmen und Instrumente haben, mit denen wir endlich aus der schwierigen Situation herauskommen.
Das muss auch eine Selbstverpflichtung des Parlamentes sein. Wir müssen nicht nur Gesetzgeber sein,
sondern auch Gesetznehmer werden. Wir wollen Vorschläge haben, wie die Verordnungen wegkommen. Es
muss bei über 40 000 Verordnungen möglich sein, zwei
abzuschaffen, wenn eine neue geschaffen wird. Wir
müssen radikal herangehen. Anders werden wir diesen
Wust nie in den Griff bekommen. Bei den vielen Verwaltungsvorschriften kann und sollte das möglich sein.
Wir haben uns darum zu kümmern, dass mehr Entscheidungsfreiheit für die Bürger da ist. Es muss darum
gehen, nicht mehr Staat, sondern weniger Staat zu schaffen. Da sind wir alle gefordert.
({16})
Wenn wir das gemeinsam angehen, sind wir auf dem
richtigen Weg.
Die Ausrichtung des Bürokratieabbaus muss sich
meiner Ansicht nach streng an das Subsidiaritätsprinzip
halten. Das halte ich für die einzige Lösung, um aus dieser Misere herauszukommen.
Wir haben unsere Vorschläge mit den Wirtschaftsverbänden diskutiert, bei denen wir großes Verständnis gefunden haben.
({17})
Man hat uns gesagt, genau das sei in Deutschland notwendig, um so schnell wie möglich aus der Misere herauszukommen.
In vielen Bereichen des Bürokratieabbaus ist es - das
sollte man wissen - ähnlich wie bei den Subventionen.
Grundsätzlich wollen alle Bürokratieabbau, wenn es
dann aber um spezifische Bereiche geht, ist die Bereitschaft dazu nicht mehr besonders groß.
({18})
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erläutert,
was ich von der Arbeit der Bundesregierung halte. Im
Bereich Bürokratieabbau war das bisher nicht allzu viel.
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie unsere Vorschläge zum
Bürokratieabbau an, werden Sie Ihren eigenen Wahlversprechen - ich habe eben den Bundeskanzler zitiert - gerecht und machen Sie der flächendeckenden Bürokratie
den Garaus! Das würde einen erheblichen Schwung in
unser Land bringen, den wir auch brauchen.
„Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen,
ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.“ Diesen Ausspruch Montesquieus sollten wir gemeinsam beherzigen.
Ich glaube, damit sind wir auf dem richtigen Weg. Ich
wünsche mir auch, dass wir das gemeinsam in die Wege
leiten.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael
Bürsch.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An das letzte Zitat des Kollegen Fuchs kann ich nahtlos
anknüpfen. „Weniger ist mehr“ gilt sicherlich für die Gesetzgebung. Aber - wenn wir einmal die Polemik weglassen, Herr Fuchs ({0})
wenn man die vorgelegten Entwürfe vergleicht, lässt
sich fraktions- und parteiübergreifend eines feststellen:
In Deutschland herrscht in der Tat kein Mangel an
Rechtsvorschriften. Es gibt vielmehr eine deutliche Tendenz zur Überregulierung.
({1})
Das ist aber nicht neu; es ist nicht das Ergebnis der vergangenen fünf Jahre. Die 86 000 Paragraphen auf Bundesebene sind bereits in den letzten 50 Jahren entstanden. An dem Bestand hat sich nicht viel geändert.
Die Wurzeln der Regulierungsdichte liegen wohl in
einer deutschen Liebe zum Detail oder, wie manche sagen, in einer Kultur des Misstrauens. Im Unterschied zu
angelsächsischen Traditionen erscheint es uns offenbar
notwendig, alles bis ins Kleinste zu normieren und zu
überwachen. Ein ganz engmaschig geknüpftes Netz von
Vorschriften allein ist jedoch kein Garant für eine entwickelte Streit- oder Entscheidungskultur. Dies wird immer
dann deutlich, wenn langwierige Verwaltungsverfahren - die
wir genauso beklagen wie Sie - über alltägliche Begebenheiten durchlaufen werden oder Bagatellkonflikte über Jahre einer abschließenden Entscheidung harren.
Die Vereinfachung der Entscheidungsprozesse im
Verwaltungsverfahren - oder kurz: Bürokratieabbau - ist
ein wünschenswertes und parteiübergreifendes Ziel. Darin sind wir uns völlig einig. Es lässt sich allerdings nicht
isoliert verfolgen, sondern es ist in einem Spannungsverhältnis mit anderen Zielen zu sehen. Ich glaube, das
muss bei allen populistischen Forderungen nach Bürokratieabbau im Blick behalten werden. Die anderen
Ziele sind nämlich Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit.
Fest steht eines: Regelungsdichte vermittelt im Einzelfall sicherlich gerechtere Entscheidungen, als es pauschale Lösungen können. Die Regierung geht mit gutem
Beispiel voran. Morgen wird das neue Sozialhilfegesetz
verabschiedet. Die Einzelabrechnungen, die es bisher für
einzelne Leistungen gab, sind sicherlich im Einzelfall
gerechter, werden aber durch pauschalierte Leistungen
zur Abdeckung des Regelbedarfs ersetzt, durch die alles
abgedeckt ist. Das ist eine Vereinfachung, bei der aber
auch in Kauf genommen wird, dass der Einzelfall vielleicht nicht bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma
gerecht geregelt wird.
Wir müssen insofern alles, was wir mit dem Bürokratieabbau erreichen wollen, in dieses Spannungsverhältnis setzen. Jetzt kommt die positive Botschaft: Genau
das macht der erwähnte Masterplan der Bundesregierung.
({2})
Er setzt nämlich genau an der Stelle an, das Spannungsverhältnis zwischen Vereinfachung und Rechtssicherheit
sachgerecht aufzulösen. Verfahren und Antragserfordernisse sollen so weit abgebaut werden, wie sie Hemmnisse für Innovationen oder Investitionen darstellen.
Alle beklagen die Bürokratie. Wir fragen uns aber
auch, wo sie überhaupt entsteht. Ein genauer Blick zeigt,
dass wahrhaftig nicht nur die Gesetze für den hohen Bürokratieaufwand sorgen. Es liegt vielmehr auch an Folgendem: Im Gesundheits- und Sozialversicherungsbereich registrieren wir jährlich 700 Millionen Kassenrezepte mit
mehr als 900 Millionen Verordnungen, 113 Millionen
Meldungen der Arbeitgeber an die Einzugsstellen für Sozialversicherungsbeiträge sowie 120 Millionen Beitragsnachweise, im Steuer- und Kfz-Bereich 34 Millionen
Lohnsteuerkarten, 29 Millionen Einkommensteuererklärungen und 15 Millionen Kfz-Neuzulassungen sowie im
Meldewesen 14 Millionen Anträge auf Personalausweise
und Reisepässe bei den Meldestellen, 6,5 Millionen
Wohnungsan- und -abmeldungen und 750 000 Geburtsanzeigen bei den Standesämtern. Hier erlaube ich mir einen kleinen Hinweis grundsätzlicher Art. Es gibt Länder
wie zum Beispiel Frankreich und die USA, die überhaupt kein zentrales nationales Meldewesen haben.
Wir in Deutschland - luxuriös wie wir sind - leisten uns
gleich zwei, nämlich Standesämter und Einwohnermeldeämter. Ich möchte gerne, dass wir parteiübergreifend
darüber nachdenken, ob wir uns das weiterhin leisten
können oder ob wir nicht eine gemeinsame Initiative ergreifen sollten, um diese beiden Meldebehörden zusammenzulegen. Vergleichbares gelingt uns jetzt ja auch bei
der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe.
({3})
Wichtig sind die Lösungsansätze. Hier möchte ich ein
paar Stichworte nennen. Das haben Sie, Herr Fuchs, unterlassen. Sie haben nur eine breite Polemik geboten und
danach eine allgemeine Philosophie vorgetragen, die ich
voll unterstütze. Welches sind die Handlungsfelder?
Ganz wichtig ist der Arbeitsmarkt. Insbesondere die
Hemmnisse für Existenzgründungen und Selbstständigkeit müssen wir identifizieren und abbauen. Auch im
Bereich der Sozialverwaltung - ich habe ein Beispiel genannt - lassen sich durchaus Ansatzpunkte feststellen.
Mit dem Hartz-Konzept, das zum Beispiel den Übergang
auf pauschalierte Sätze vorsieht, unternimmt die BunDr. Michael Bürsch
desregierung durchaus einen sinnvollen Versuch der Arbeitserleichterung.
Ein weiteres Stichwort ist „Staat-Bürger-Verhältnis“. Es gibt viele öffentlich wahrgenommene Aufgaben, die den Staat an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit
bringen. Wenn wir im Sinne einer Bürgergesellschaft über
ein neues Verhältnis, eine neue Verantwortungsverteilung zwischen Staat und Gesellschaft nachdenken, wenn
wir also die Bürger wieder zu mehr Selbstorganisation
und Selbstverantwortung bringen wollen
({4})
- das will die SPD mindestens genauso wie die CDU/
CSU und viel mehr als die FDP -, dann müssen wir für
Erleichterungen sorgen und Bürokratie vermeiden, wo es
möglich ist.
({5})
Das betrifft zum Beispiel den Bereich, für den ich mich
besonders einsetze, nämlich Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement. Ich bin sehr dafür, dass wir
den Organisationen, für die Menschen ehrenamtlich tätig
sind, die Wahrnehmung der Meldepflicht erleichtern. Im
Moment müssen solche Organisationen den Sozialversicherungen monatlich melden, wer bei ihnen ehrenamtlich tätig ist. Das betrifft auch die Aufwandsentschädigungen. Hier kann man zum Beispiel durch eine
Verlängerung der Meldefristen für Erleichterung sorgen.
Auch die Abrechnungsmodalitäten für die Mittelverwendung können vereinfacht werden. Es gibt hier einige
Möglichkeiten.
Mein letztes Stichwort ist „E-Government“, also - zu
Deutsch - die elektronische Wahrnehmung von
öffentlichen Aufgaben.
({6})
Ich sehe darin ein gewaltiges Feld. Es wäre wünschenswert, wenn wir das, was sich der Bund in seinem Programm „Deutschland-Online“ vorgenommen hat, im Bereich des elektronischen Regierungshandelns bzw. des
öffentlichen Handelns umsetzten, wenn wir vereinfachte
und für alle verständliche Regelungen fänden und wenn
wir dafür sorgten, dass sich daran möglichst viele Menschen beteiligen. Es darf keine Trennung zwischen Internetnutzern und denjenigen geben, die über keinen Zugang zum Internet verfügen. Wir sind dafür, dass dieses
Programm bis 2005 in großem Stil verwirklicht wird.
Wir sollten uns aber - das mahne ich an - darauf verständigen, dass es keine isolierte Lösung des Bundes geben darf. Länder wie Bremen und Schleswig-Holstein
sind bei der Einrichtung von elektronischem Regierungshandeln, von E-Government, schon weit voraus.
Wir müssen, wenn wir wollen, dass das ein Projekt wird,
das auch national funktioniert, einen gemeinsamen Ansatz finden, und zwar sowohl auf der Bundesebene als
auch auf der Länderebene und auch auf der kommunalen
Ebene. Das halte ich für sehr wichtig.
Zum Schluss noch einen Hinweis: Bürokratieabbau,
mit dem ich mich als Verwaltungsreformer die letzten
zehn Jahre intensiv beschäftigt habe, ist, wie schon eingangs erwähnt, ein Langzeitthema. Solange es Vorschriften gibt, wird über Bürokratie geklagt werden. Wir müssen uns dem trotzdem stellen. Aber Bürokratieabbau
darf keine isolierte Maßnahme sein. Wer an eine Verwaltungsreform denkt, kommt nicht an dem bekannten
Gesetz von Murphy vorbei. Herr Fuchs, für den Bereich
von Bürokratieabbau und Verwaltung bedeutet Murphy’s
Gesetz dreierlei: Erstens. Nichts ist so leicht, wie es aussieht. Zweitens. Jede Lösung bringt neue Probleme.
Drittens. Wenn das Problem nicht mehr besteht, bleiben
immer noch Leute, die an der Lösung arbeiten.
Das sollte keine Erinnerung an die Arbeit im Bundestag sein. Gemeint war damit: Bürokratieabbau erfordert
auch die Einsicht von Murphy.
Vielen Dank.
({7})
Gut, dass Murphy so kurz war, daher haben Sie den
letzten Satz zeitlich noch hinbekommen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben heute erneut eine Debatte zum Thema Bürokratieabbau. Wenn man den Reden hier Glauben schenken soll, dann sind wir uns offensichtlich in dem Ziel einig. Das ist eine gute Voraussetzung, um etwas zu
erreichen. Ich frage mich aber, warum wir dann so wenig
zustande bringen. Warum bringen Sie von der Regierungskoalition bei diesem Thema so wenig zustande?
({0})
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Sie mit dem Bürokratieabbau - ich zitiere - „die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit … und die spürbare Entlastung von Bürgerinnen und Bürgern“ erreichen wollen.
({1})
Damit könnten wir anfangen. Wir haben morgen im
Deutschen Bundestag einige Entscheidungen auf der Tagesordnung, die tatsächlich zu einer Entlastung führen
könnten.
({2})
Zum Beispiel geht es morgen im Zusammenhang mit
dem Haushaltsbegleitgesetz auch um das Vorziehen der
Steuerreform. Sie wollen das aber über Schulden finanzieren und dadurch, dass Sie den Bürgern zusätzliche
Lasten aufbürden, die hinterher alles, was an Entlastungen hätte kommen sollen, auffressen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mir gut
überlegen, was ich in Anträge hineinschreibe!
Wir werden hier einen Gesetzentwurf zum Thema
Steuerreform vorlegen, der eine Vereinfachung vorsieht
und der Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gibt,
wieder zu verstehen, was sie beim Finanzamt abliefern
müssen.
({4})
- Das werden Sie noch sehen; dem können Sie dann zustimmen.
Sie schreiben auch von Meilensteinen auf dem Weg
zu weniger Bürokratie und davon, dass Sie mehr unternehmerische Freiheit erreichen wollen - und das bei einer Last von 30 Milliarden Euro Bürokratiekosten im
Jahr bei den Betrieben, das heißt, pro Arbeitsplatz bei einem kleinen Betrieb ungefähr 3 600 Euro und bei einem
Großbetrieb ungefähr 150 Euro Belastung. Insbesondere
für die kleinen und mittleren Betriebe ist das eine unglaubliche finanzielle Belastung, die sie durch Mehrarbeit aufbringen müssen. Durch das, was Sie in den letzten Jahren entschieden haben, ist diese Last noch größer
geworden.
({5})
Sie werden sich in der nächsten Woche damit auseinander setzen müssen, weil es dazu ein neues Gutachten
gibt. Das wird Ihnen die Zahlen vor Augen führen und
dann werden wir uns hier wieder sehen. Ich hoffe, dass
wir dann weiterkommen.
Jetzt komme ich zu den wunderbaren Kabinettsbeschlüssen, die Sie in Ihrem Antrag anpreisen: nichts als
Gerede!
({6})
Da heißt es, man wolle ergebnisorientiert vorgehen,
Hemmnisse abbauen und Ressourcen konzentrieren. In
dem Zusammenhang reden Sie von elf Projekten. Die
Arbeitsstättenverordnung - das wurde gerade schon
angesprochen - soll von 58 auf 10 Paragraphen reduziert
werden. Das ist aber eine Mogelpackung, weil Sie eine
Anlage mit sage und schreibe 30 Unterpunkten gemacht
haben, die im Wesentlichen aus den Detailregelungen
der alten Verordnung besteht.
({7})
Dann steht in § 3 Abs. 1: Und dieser Anhang gilt auch.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, das,
was Sie da machen, ist mitnichten Bürokratieabbau; es
ist vielmehr Bürokratieaufbau. Das zeigt sich auch daran, dass Sie einen neuen Ausschuss einsetzen wollen
bzw. vorgesehen haben, bestehend aus Vertretern der privaten und der öffentlichen Arbeitgeber, der Länderbehörden, der Gewerkschaften und der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung,
({9})
die zukünftig definieren sollen, welche Regelungen der
Arbeitsstättenverordnung auf einen Betrieb anzuwenden
sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann Sie nur
auffordern: Ziehen Sie diesen Unsinn zurück, anstatt ihn
auch noch anzupreisen, und legen Sie eine wirkliche Deregulierung vor!
({10})
Das Problem ist aber, dass Ihnen der Mut fehlt; denn
Deregulierung würde ja bedeuten, dass man bestimmte
Regelungen abschaffen müsste. Das wäre doch das Ziel.
Es gibt in dieser glorreichen Arbeitsstättenverordnung
Regelungen zur Beschaffenheit der Abfallbehälter, zur
Mindestbreite von Laderampen, zur Mindestgrundfläche
von Büros, zur Beschaffenheit der Oberlichter, zur Mindestraumtemperatur, zur Beleuchtung und zur Selbstbeleuchtung der Lichtschalter. Wenn Ihnen selbst bei so
popeligen Dingen - ich sage das einmal ganz deutlich der Mut fehlt, etwas abzuschaffen, und Sie stattdessen
die Regelungen von einem Paragraphen in den Anhang
verschieben, dann sind Sie zum Regieren nicht in der
Lage.
({11})
Nun komme ich auf das Thema Innovationsregionen
zu sprechen. Wir von der FDP haben bereits am 13. November 2002, also kurz nach der Bundestagswahl, einen
Antrag vorgelegt, in dem wir detailliert aufgeführt haben, welche Regelungen am Arbeitsmarkt zu großen
Problemen führen und Arbeitsplätze kosten. Wir haben
dort dargestellt, wo wir, ohne dass es etwas kosten
würde, deregulieren müssten, um weitere Arbeitsplätze
zu schaffen.
({12})
Ich denke zum Beispiel an die Teilzeitregelung oder an
Regelungen im Betriebsverfassungsgesetz. Ich denke
auch daran, mehr Vereinbarungen zwischen den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern in den Betrieben vor Ort
zuzulassen.
Diesen Antrag werden Sie heute ablehnen.
({13})
Ich frage Sie: Warum?
({14})
Sie tun das, weil Sie nicht den Mut haben, zu sagen, dass
an diesen Stellen Regelungen abgeschafft werden müsBirgit Homburger
sen, um wieder mehr Beweglichkeit, mehr Freiheit für
unternehmerische Tätigkeit zu schaffen.
({15})
Das ist der Punkt.
Da Sie nicht in der Lage sind, die notwendigen Veränderungen herbeizuführen, wollen Sie jetzt Innovationsregionen einführen. Das begrüßen wir sehr. Über Öffnungsklauseln könnte in bestimmten Regionen sofort
ausprobiert werden, wie es wirkt, wenn bestimmte Regelungen ausgesetzt werden. Mit anderen Worten: Es ginge
darum, zu klären, ob die Aussetzung bestimmter Regelungen tatsächlich dazu führt, dass neue Arbeitsplätze
geschaffen werden.
Was aber machen Sie? Der Bundeswirtschaftsminister
hat mehrfach - im Oktober oder im November letzten
Jahres erstmals - die Schaffung von Innovationsregionen
angekündigt. Danach wurde darüber diskutiert, ob Innovationsregionen verfassungsrechtlich überhaupt möglich
sind. Im Januar folgte eine erneute Ankündigung. Später
folgte ein Kabinettsbeschluss. Heute liegt ein Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
vor.
Ich frage mich: Schämen Sie sich eigentlich nicht?
({16})
In diesem Antrag wird tatsächlich begrüßt, dass drei
Testregionen für Modellregionen eingeführt werden.
Wenn Sie in diesem Tempo weitermachen, dann wird
man am Ende dieser Legislaturperiode keine Erfahrungen gemacht haben, auf denen man aufbauen kann, sondern dann wird man Bestimmungen haben, nach denen
die Testregionen prüfen können, ob man Modellregionen
in Deutschland schaffen kann. So geht es jedenfalls
nicht.
({17})
Wir debattieren hier unter anderem über einen Antrag
der FDP-Bundestagsfraktion zum Thema Bürokratiekosten-TÜV.
({18})
Wir wollen, dass der Bürokratiekosten-TÜV wieder eingeführt wird, damit mehr Kostentransparenz geschaffen
wird. Das gab es in der Geschäftsordnung der Bundesregierung bereits. Es hat sich bewährt, dass die Verwaltungsarbeiten systematisch erfasst und in den Gesetzesblättern aufgeführt wurden. Das hat dazu geführt, dass
bestimmte Dinge aus Kostengründen einfach nicht gemacht worden sind.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Da wollen wir wieder hin. Ich frage mich, warum Sie
das abgeschafft haben.
({0})
Wir fordern Sie auf, solche Strukturen wieder einzuführen, um beim Bürokratieabbau endlich voranzukommen.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Rezzo Schlauch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie immer bei Diskussionen um Bürokratieabbau erlebt man
heute Folgendes: Alle sind sich im Ziel einig - das ist eigentlich ein guter Ausgangspunkt -; der Schlachtruf aller lautet „Bürokratieabbau“ bzw. „Entbürokratisierung“. Schaut man einmal näher hin, Herr Kollege Fuchs
- dieses Phänomen stelle ich in allen Diskussionen zu
diesem Thema fest -, macht man die Erfahrung: Je einiger man sich ist, desto weniger kommt man voran.
Das ist nicht nur beim Bürokratieabbau, sondern - das
wurde richtigerweise gesagt - auch beim Subventionsabbau so.
({0})
Die Diskutanten - das haben wir erlebt, als Sie, Herr
Fuchs, und Sie, Frau Kollegin Homburger, gesprochen
haben - überschlagen sich in Radikalität, in Lautstärke
und in weitestgehenden Forderungen. Beispielsweise die
Forderung eines Ex-Bundespräsidenten nach einem
Ruck war noch vergleichsweise moderat. Dieser ehemalige Bundespräsident hat jetzt seine liebe Not, seine Forderung nach einem Ruck umzusetzen, und zwar im eigenen politischen Lager.
Deshalb sollte man da etwas zurückhaltender sein.
({1})
Solche Diskussionen nützen irgendwie nur uns selbst.
Wir klopfen uns auf die Schulter und sagen: Wir haben
jetzt wieder etwas für den Bürokratieabbau getan. - Dabei haben wir nur geredet.
({2})
Wenden wir uns also den konkreten Projekten zu!
({3})
An dieser Stelle möchte ich einmal Folgendes deutlich machen: Bürokratie ist nicht per se schlecht. Bürokratie ist, wenn sie richtig eingesetzt wird, zum Wohle
der Bürger. Bürokratie ist im Grunde genommen Grundpfeiler einer guten Demokratie. Ich nenne Ihnen zwei
Beispiele: Erstens. Wir haben eine neue Institution mit
Personal zum Managen der 400-Euro-Jobs geschaffen.
Das haben Sie als Aufbau von Bürokratie diskreditiert.
Zweitens. Um die Dinge im Zusammenhang mit der
Hartz-Gesetzgebung effizienter zu machen, wollen wir
den Schlüssel „Arbeitsvermittler zu Arbeitslosen“ von
1 : 350 auf 1 : 75 ändern. Sie diskreditieren das als Bürokratieaufbau. Ich aber kann nur sagen: Das ist Bürokratie
zum Wohle der Bürger. Man kann also nicht immer nur
behaupten, Bürokratie sei schlecht und von Übel,
({4})
sondern es ist notwendig, da zu unterscheiden.
Wo sind die konkreten Projekte und Ihre Positionen
dazu? Sie haben die Arbeitsstättenverordnung zitiert.
Haben Sie eigentlich etwas dagegen, dass man beispielsweise die Gestaltung von Pausen-, Bereitschafts-, Liege-,
Sanitär- und Sanitätsräumen nicht mehr in vielfältigen
Details regelt? Haben Sie etwas dagegen, dass man davon Abstand nimmt, Raumtemperatur etc. zu regeln? Sie haben nichts dagegen. Dann ist das doch okay.
Wir haben die Arbeitsstättenverordnung reformiert.
Wir haben das Verwaltungsdatenverwendungsgesetz auf
den Weg gebracht. Wir haben die Handwerkszählung
verschoben. Wir haben das Rohstoffstatistikgesetz verschlankt. Wir wollen ein schlankes Geräte- und Produktsicherheitsgesetz. Das sind konkrete Projekte, die die
Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand von Pflichten entlastet.
({5})
Das ist konkretes Vorgehen.
Sie dagegen bleiben bei der großen Geste: Bürokratieabbau, Bürokratieabbau, der große Wurf, die tiefen
Einschnitte. Wenn es aber darum geht, die tiefen Einschnitte vorzunehmen - dafür gibt es viele Beispiele, die
Sie auch genau kennen; das sind Ihre Schwachpunkte,
beispielsweise die Handwerksordnung;
({6})
da ist zu fragen, wo denn da Ihr Wille zum Bürokratieabbau ist -, ergehen Sie sich in übelstem, antiquiertestem
Klientelismus, so wie wir es von Ihnen gewohnt sind, ist
Bürokratieabbau, ist das Senken von Zugangshemmnissen von Ihnen überhaupt nicht gewollt. Im Gegenteil: Da
bauen Sie die Zäune um Ihre Klientel - Handwerker,
Apotheker, Ärzte - noch höher.
({7})
Gucken Sie sich doch einmal die Ergebnisse der Gesundheitsreform an! Da ist Ihre Klientel geschont worden! Wir haben versucht, mehr Wettbewerb und mehr
Konkurrenz in die Systeme zu bringen,
({8})
und Sie haben das alte Spiel des Schützens Ihrer Klientel
gespielt. So wird Ihr Ansatz zum Bürokratieabbau nicht
glaubwürdig. Fangen Sie endlich an, sich zu den konkreten Projekten, die die Bundesregierung auf den Tisch
legt, zu verhalten. Morgen haben Sie die Gelegenheit
dazu.
Morgen stellen wir zur Abstimmung, die zwei Systeme der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zusammenzuführen. Das ist ein riesiger Sieg gegen überflüssige Bürokratie.
({9})
- Die FDP ist immer dann gut, wenn es darum geht, das
Maul aufzumachen. Wenn es darum geht, zu konkretisieren,
({10})
dann fallen Sie in alten Klientelismus zurück.
({11})
Herr Westerwelle hat das doch selber zugegeben. Haben
Sie die Diskussion der letzten Tage verschlafen? Oder
wo leben Sie?
({12})
Morgen steht unter anderem auch die Neuordnung der
Sozialhilfe zur Diskussion. Auch in ihr ist ganz erheblicher Bürokratieabbau enthalten. Dann haben Sie die Gelegenheit, Ihren großen Worten von heute Taten folgen
zu lassen. Ich bin gespannt, wie Sie da abstimmen. Ich
hoffe, dass Sie Ihre eigenen Vorgaben erfüllen.
Danke schön.
({13})
Das Wort gebe ich zu einer Kurzintervention der Kollegin Gönner.
Herr Staatssekretär, es ist für mich hochinteressant
und nicht nachvollziehbar, wie Sie auf die Idee kommen,
die Änderung der Handwerksordnung habe etwas mit
Bürokratieabbau zu tun. Das hat sich mir während der
ganzen Diskussion nicht erschlossen. Insofern würde ich
mich freuen, wenn Sie das einmal erklären könnten.
Sie haben gesagt, Handwerker und Apotheker seien
unsere Klientel. Weil sie nicht Ihre Klientel sind, ändern
Sie die Handwerksordnung. Aber Sie sind nicht bereit,
im Tarifvertrags- und Arbeitszeitrecht einiges an Bürokratie abzubauen - im Übrigen im Interesse der WirtTanja Gönner
schaft, die Sie als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium zu vertreten hätten.
({0})
Dort sind Sie nicht in der Lage, für Entlastung zu sorgen.
Vielmehr sind Sie dort bereit, Verwaltung aufzubauen
und Stellen zu schaffen. Vielleicht sollten Sie ab und zu
einmal zur Wirtschaft gehen und sie fragen, wie sie sich
freut, wenn die Verwaltung aufgebläht wird. Anschließend muss sich nämlich die Wirtschaft mit den Verwaltungsbeamten herumschlagen.
Sie sollten sich einmal überlegen, was zu tun ist, damit sich Wirtschaft entwickeln kann. Gehen Sie an die
Tarifverträge und an die Arbeitszeit - das betrifft Ihre
Klientel -,
({1})
anstatt - völlig daneben - eine Handwerksordnung zu
ändern, die mit Bürokratie in diesem Sinne überhaupt
nichts zu tun hat!
({2})
Werte Frau Kollegin, die schlimmste Überbürokratisierung liegt vor, wenn Menschen von der Umsetzung
ihrer Motivation und ihres Bedürfnisses, sich selbstständig zu machen, durch gesetzliche Regelungen ausgeschlossen werden. Die Handwerksordnung enthält in
vielen Gewerken - nicht bei allen; wir wollen ja nicht
alle ändern - unnötige Zugangsbeschränkungen für
Menschen, die sich selbstständig machen wollen. Eine
schlimmere Bürokratie gibt es nicht. Denn die Handwerksordnung schließt Menschen von der Partizipation
aus. Da müssen Sie ein absolut falsches Bild haben.
Bei der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure besteht die Bürokratieabbau-FDP auf staatlich garantierten Preisen. Was hat das mit einem freien Beruf zu
tun?
({0})
Wenn Sie vor allen diesen Dingen und auch vor der
Kassenärztlichen Vereinigung zurückschrecken und die
bestehenden Verhältnisse erhalten wollen, dann sind alle
Ihre Reden, die Sie hier mit großspurigen Forderungen
untermalen, jedenfalls für meine Begriffe nicht glaubwürdig. Das wird Ihnen nicht nur hier im Bundestag,
sondern auch in allen Diskussionen mit der Wirtschaft,
mit dem Mittelstand, mit den Industrie- und Handelskammern gesagt. Offensichtlich sind Sie da wenig zu
Hause.
({1})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf den so genannten Masterplan
Bürokratieabbau der rot-grünen Bundesregierung trifft
meines Erachtens ein Wort Erich Kästners bestens zu: Es
gibt nichts Gutes, außer man tut es. Die Ankündigungen
sind zwar vollmundig und ehrgeizig, aber das Resultat
mehr als dürftig und beschämend. Selbst der verheißungsvolle Titel des Masterplans „Mittelstand fördern - Beschäftigung schaffen - Bürgergesellschaft stärken“ kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass gerade im letzten Jahr
durch die rot-grüne Bundesregierung in allen Bereichen
zusätzliche bürokratische Hemmnisse und Hürden aufgebaut wurden.
({0})
Wer intensiv über eine Ausbildungszwangsabgabe
diskutiert, eine LKW-Maut einführen will, die das Speditionsgewerbe vor unüberbrückbare Probleme in der
praktischen Umsetzung stellt, die Landwirtschaft mit bürokratischen Auflagen knechtet, sodass der Landwirt
letztendlich mehr Zeit im Büro als im Stall verbringt,
wohin er eigentlich gehört, dem kann nicht ernsthaft an
einem wirklichen Abbau von Bürokratie und Überregulierung in der Wirtschaft und in der Verwaltung gelegen
sein.
Wenn nicht alle staatlichen Ebenen schnellstens die
Zeichen der Zeit erkennen und einen mutigen und deutlichen Schritt in Richtung weniger Staat und weniger Reglementierung gehen, fährt der Wirtschaftsstandort
Deutschland sehenden Auges in den Abgrund. Wir können dann aber immer noch behaupten, für den Bau von
Schweinemastställen ein immissionsschutzrechtliches
Genehmigungsverfahren vorzuschreiben, eine Arbeitsstättenverordnung zu besitzen, die Mindesttemperaturen
auf Toiletten vorschreibt und Mindestgrundflächen für
Sanitär- und Umkleideräume definiert. Nobel geht die
Welt zugrunde, kann man dazu nur sagen.
Herr Staatssekretär, ich möchte Ihnen ganz klar antworten: Ich bin gegen diese Mindestvorschriften in der
Arbeitsstättenverordnung. Bei uns, bei der CDU/CSU,
laufen Sie wirklich offene Türen ein, wenn Sie Initiativen zur Vereinfachung vorbringen. Nur, Sie haben es in
der Hand, Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung
({1})
und haben nichts erreicht.
Herr Kollege Bürsch, Sie haben vorher erwähnt, wir
sollten in Sachen E-Government Fortschritte machen und
Initiativen starten. Sie sind seit fünf Jahren am Ruder. Was
ist das Resultat? Wir nehmen unter allen westeuropäischen
Ländern gemäß einer Studie, in der überprüft wurde, wie
weit die Länder schon in Sachen E-Government sind, den
Stephan Mayer ({2})
glorreichen 17. Platz, den drittletzten Platz, ein - à la
bonne heure!
({3})
Wir von der CDU/CSU sind bereit, diesen mutigen
Schritt zu gehen. So sind wir der Auffassung, dass sich
dieses Hohe Haus in vermehrtem Maße nicht als Gesetzgeber, sondern auch als Gesetznehmer verstehen sollte.
Schon im Vorfeld des Erlasses von neuen Gesetzen sollte
eine effiziente Gesetzesfolgenabschätzung erfolgen,
({4})
bei der untersucht wird, welche Kosten und welcher zeitliche Aufwand den Bürgern, der Wirtschaft und den
Kommunen bei der Anwendung des Gesetzes entstehen.
({5})
Gesetze und Verordnungen sollten unserer Auffassung
nach in stärkerem Maße befristet werden und nach Ablauf der Befristung daraufhin überprüft werden, ob sie
sich bewährt haben, und nur für den Fall weiter in Kraft
bleiben, falls das mit ihnen verfolgte Ziel tatsächlich eingetreten ist.
({6})
Wir brauchen endlich deutlich kürzere Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren. Es kann nicht angehen, dass ein Unternehmer im Einzelfall vor der Betriebsgründung bis zu zehn einzelne Genehmigungen
einholen muss und dabei von Pontius zu Pilatus rennen
darf. Unser konkreter Vorschlag - Sie haben ja bemängelt, wir hätten keine Vorschläge; wir haben sie sehr
wohl - lautet: Eine Behörde wird federführend mit dem
Genehmigungsverfahren betraut und alle anderen zu beteiligenden Institutionen werden aufgefordert, sich innerhalb bestimmter Fristen zu dem Investitionsvorhaben
zu äußern. Falls dann von einer Behörde innerhalb von
sechs Wochen keine Stellungnahme abgegeben wird, gilt
die Genehmigung automatisch als erteilt.
Als vorbildlich ist in diesem Zusammenhang das
bayerische Vorhaben anzuführen, das Widerspruchsverfahren abzuschaffen. Denn gerade die überlangen Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren in Deutschland
tragen stark dazu bei, dass viele Unternehmer in der heutigen Zeit davor zurückschrecken, in Deutschland zu investieren. Laut einer Befragung des Ifo-Instituts für
Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2002 würden bei einer umfassenden Entbürokratisierung 45 Prozent aller
Unternehmen mehr investieren und 38 Prozent zusätzliches Personal einstellen. Nur 28 Prozent sehen bei einer
Entbürokratisierung keine Auswirkungen auf Investitionen und Arbeitsplätze.
Neben den hohen Lohnnebenkosten und dem in der
Praxis nicht mehr zu handhabenden Steuerrecht gehören
die durch die überbordende Bürokratie ausgelösten Ausgaben mit Sicherheit zu den Hauptinvestionshemmnissen, die wir in Deutschland haben - ganz abgesehen von
der rot-grünen Bundesregierung selbst. Während die Umsatzrendite für Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern nach Angaben der Bundesbank zwischen 1,5 und
2,5 Prozent liegt, belaufen sich die Bürokratiekosten für
diese Unternehmensgruppe nach verschiedenen Schätzungen je nach Größe auf 1,5 bis 7 Prozent.
Nach unserer Auffassung sollte nicht nur ein eigener
Kabinettsausschuss auf der Ebene des Bundeskabinetts
mit dem Auftrag, der Bürokratie und Überreglementierung Herr zu werden, eingesetzt werden, sondern zusätzlich ein eigener Bundestagsausschuss. Ein deutlicher
und spürbarer Schritt in Richtung weniger Staat und weniger Vorschriften kann nur dann gelingen, wenn dieses
Ziel auf allen staatlichen Ebenen von den politischen
Entscheidungsträgern nachhaltig und unnachgiebig verfolgt wird.
Auch im Bereich des Richterrechts sind Reformen
notwendig. In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat
sich die Tendenz verstärkt, dass die Justiz die Funktion
eines Ersatzgesetzgebers übernimmt. Gerade bei Großinvestitionsvorhaben und bei technisch und naturwissenschaftlich geprägten Genehmigungsverfahren sind die
Handlungsspielräume der Behörden sehr eng geworden,
da sie in zunehmendem Maße durch den Einfluss der
Rechtsprechung dominiert werden. Im Ergebnis sollte
bei verwaltungsrechtlichen Abwägungs-, Prognose- oder
Beurteilungsentscheidungen der Maßstab der gerichtlichen Anfechtbarkeit auf eine prinzipielle Evidenz- und
Willkürkontrolle beschränkt werden.
Wir brauchen mehr Mut und mehr Entschlusskraft,
um diese nationale Aufgabe der Entbürokratisierung,
Deregulierung und Verwaltungsvereinfachung endlich
anzupacken. Deshalb bitte ich Sie alle um Zustimmung
zu unserem Antrag - in der Hoffnung, dass der Zustand,
den Kurt Tucholsky beschrieben hat, nämlich dass es das
deutsche Schicksal sei, vor einem Schalter zu stehen,
und das deutsche Ideal, hinter einem Schalter zu sitzen,
endlich der Vergangenheit angehört.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ute Vogt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Weniges ist so populär wie, sich gegen Bürokratie und überbordende Vorschriften zu wehren. Das
war für Sie allerdings 16 Jahre lang kein allzu populäres
Thema.
({0})
Ich kann verstehen, dass Sie jetzt die Gelegenheit nutzen, zumal es nicht mehr darum geht, dass Sie selbst
Konkretes vorzeigen müssten. Aber ich rate Ihnen, über
den Bundestag hinaus, insbesondere in den Ländern, in
denen Sie die Verantwortung haben, genau hinzuschauen.
({1})
- Da Sie gerade einige Beispiele nennen: Es wäre dringend nötig, dass auch Sie beispielsweise in BadenWürttemberg zum Bürokratieabbau beitragen.
Die Kunst liegt nämlich darin, dass wir uns in Selbstbeschränkung üben. Wer fordert, dass die Zahl der Gesetze, Vorschriften und Vorgaben reduziert wird, muss
bei sich selbst anfangen. Fangen Sie dort an, wo Sie
nicht in der Opposition sind, aber fangen Sie auch als
Opposition an: Die Opposition hat seit 1998 sage und
schreibe 219 Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, die sie gerne verabschiedet gewusst hätte.
({2})
137 weitere Gesetzentwürfe haben uns über den Bundesrat erreicht.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchs?
Bitte schön, Herr Fuchs.
Frau Staatssekretärin, sind Ihnen die Bürokratieabbauprogramme des Saarlandes und von Hessen bekannt?
Mir ist bekannt, dass im Saarland schon der Kollege
Heiko Maas als Umweltminister begonnen hatte, überflüssige Vorschriften in seinem Ressort zu reduzieren.
Ich halte das für etwas Positives. Aber Sie müssen eingestehen, dass viele Bundesländer, auch die Mehrzahl der
CDU-regierten, solche Maßnahmen nicht eingeleitet haben. Unbekannt ist es mir nicht, aber es ist, jedenfalls
was das Saarland anbetrifft, mitnichten neu, sondern damit wurde schon lange vor der Regierungszeit des Ministerpräsidenten Müller angefangen.
({0})
- Eben habe ich doch gesagt, dass ich es kenne. Zuhören
gehört auch dazu, wenn man differenziert diskutieren
will.
Ich will Ihnen noch einmal darstellen - auch wenn Sie
es zuweilen nicht bemerken mögen -, dass wir anders arbeiten. Die 54 Projekte, die von Ihnen häufig zitiert wurden, sind alle in Arbeit. Ein Teil ist bereits umgesetzt,
Teile werden noch bearbeitet. Elf Entwürfe werden derzeit im parlamentarischen Verfahren beraten; zumindest
diese dürften Ihnen bekannt sein.
Ich will ein Beispiel aufgreifen, das der Kollege
Bürsch schon erwähnt hat, elektronische Organisation
der Gesundheitskarte: 700 Millionen Rezepte,
900 Millionen Verordnungen. Die Einführungskosten
werden sich nach den ersten beiden Jahren amortisiert
haben. Zum Schluss ist eine jährliche Einsparung in
Höhe von 1 Milliarde Euro zu erwarten. Dies ist nicht
wenig. Ich bitte Sie zur Kenntnis zu nehmen, dass dieses
eines von 54 Projekten ist, das wir alle gemeinsam mit
Freude vorantreiben.
Es entgeht Ihnen manches, was schon vor längerer
Zeit auf den Weg gebracht worden ist. Allein in der letzten Legislaturperiode haben wir 92 Behörden des Bundes geschlossen. Uns ergeht es so, wie es ein Redner
vorhin geschildert hat: Es werden Regelungen außer
Kraft gesetzt und keiner merkt es. Wie gesagt:
92 Behörden des Bundes, die es noch gab, als wir die
Regierung übernommen haben, wurden geschlossen.
Sie müssen auch zugeben, dass es kaum eine Kollegin
oder einen Kollegen gibt, die bzw. der nicht massiv dafür
gekämpft hat, dass selbst die kleinste Außenstelle einer
Behörde in seinem Wahlkreis erhalten bleibt. Wenn wir
über Bürokratieabbau reden, dann sollten wir also auch
darüber reden, dass wir uns auch dort beschränken müssen - Herr Kollege Schlauch hat vorhin einige Beispiele
angeführt -, wo Menschen betroffen sind, die wir vertreten.
Es gibt aus meiner Sicht auch die Notwendigkeit, den
Bürgerinnen und Bürgern zu sagen: Allein der Ruf nach
Abschaffung von Gesetzen reicht nicht aus. Ich will ein
kleines Beispiel aus dem Bereich des Sports, der bekanntermaßen zur Innenpolitik gehört, nennen. Es gibt
ein Gesetz zum rechtlichen Schutz der olympischen
Ringe, ein Gesetz, von dem die meisten Bürgerinnen und
Bürger sagen würden, dass man es nicht benötigt. Dieses
Gesetz ist aber Grundvoraussetzung dafür, dass Leipzig
der Austragungsort der Olympischen Spiele werden
kann. Man braucht also manchmal auch Gesetze und
Verordnungen, die auf den ersten Blick nicht sinnvoll erscheinen.
Manchmal werden auch die Rahmenbedingungen so
gesetzt, dass neue Gesetze notwendig werden. Ein aktuelles Beispiel ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Kopftuchstreit. Es hat entschieden, dass die
Länder in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich
selbst regeln sollen, ob eine Lehrerin ein Kopftuch im
Unterricht tragen darf oder nicht. Im ungünstigsten Fall
bedeutet dies, dass es 16 unterschiedliche Regelungen
gibt, wenn sich die 16 Länder nicht einigen können. Sie
dürfen also nicht von vornherein fordern, Gesetze einfach abzuschaffen.
Zu einem ernsthaften Umgang mit Bürokratieabbau
und zu einer ernsthaften Debatte darüber, wie wir uns als
Staat und als demokratische Gemeinschaft verstehen, gehört auch die Erkenntnis, dass manche Gesetze durchaus
ihren Sinn haben und notwendig sind. Wir müssen uns
darüber verständigen, in welchen Bereichen wir auf Gesetze verzichten können.
Es geht um ein effektives Arbeiten. „Bund online“
ist ein Beispiel dafür, dass man zu Einsparungen kommen kann. Es gibt etwa 400 Dienstleistungen des Bundes in über 100 Bundesbehörden. Mehr als die Hälfte
dieser Dienstleistungen werden bereits online bereitgestellt. Diese Möglichkeiten gab es in früheren Zeiten
aufgrund der fehlenden Technik nicht.
Wir haben das Thema E-Government nachdrücklich
vorangetrieben. Entgegen der Informationen des Kollegen Mayer kann ich sagen: Wir sind inzwischen unter
den Top Ten der E-Government-Länder. Wir haben in
diesem Bereich große Erfolge und werden bis 2005 das
Ziel, alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundesverwaltung im Internet bereitzustellen, auch erreichen.
Die entsprechenden Einsparungen betragen 5 bis 10 Prozent des Beschaffungsvolumens. Würden alle, also
Bund, Länder und Gemeinden, deren jährliches Auftragsvolumen insgesamt etwa 250 Milliarden Euro beträgt, am gleichen Strang ziehen und so wie der Bund
E-Government einsetzen, könnten wir 25 Milliarden
Euro einsparen. Das sind einige eindrucksvolle Beispiele.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf folgenden
Punkt hinweisen. Entscheidend ist nicht allein die Zahl
der Gesetze und Verordnungen, die wir außer Kraft setzen. Entscheidend ist vielmehr, ob es uns gelingt, bei
diesem Thema ein anderes Bewusstsein zu schaffen, Beamtinnen und Beamten mehr Ermessensspielräume zu
geben, deutlich zu machen, dass sie Verantwortung tragen sollen, und den Bürgerinnen und Bürgern klar zu
machen, dass nicht bei jedem Streit nach dem Staat gerufen werden kann.
Gerne würde ich auf Regelungen verzichten, die
Grenzabstände bestimmen oder im Bereich des Baurechts festlegen, wer was wohin bauen darf. Aber dies
würde voraussetzen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger untereinander einigen und dass sich ein anderes Bewusstsein entwickelt. Das erreicht man nicht durch
Streichungsrufe, sondern nur dann, wenn man den Menschen deutlich macht: Bürokratie abbauen heißt auch,
Verantwortung gerade dort zu übernehmen, wo es Konflikte gibt und Schwierigkeiten bestehen.
Wir sind dazu bereit. Es wäre schön, wenn wir in diesem Sinne bewusstseinsbildend an einem Strang ziehen
könnten.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin
Homburger das Wort.
({0})
Frau Staatssekretärin, ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, weil Sie uns aufgefordert haben, in
den Bereichen, in denen wir dazu in der Lage sind, zu
handeln. Ich möchte Ihnen deutlich machen, dass sich
die FDP in den Landesregierungen, in denen sie vertreten ist, das Thema Bürokratieabbau nicht nur auf die
Fahnen geschrieben, sondern auch umgesetzt hat. Während Sie in der letzten Legislaturperiode über 400 neue
Gesetze und 1 000 neue Verordnungen beschlossen haben, haben wir Verordnungen und Rechtsvorschriften in
den Ländern, in denen wir mitregieren, abgebaut.
({0})
Ich möchte Ihnen einige Zahlen nennen, um das deutlich zu machen. In Baden-Württemberg wurden im Jahr
2000 1 127 Vorschriften von insgesamt 4 303 Vorschriften, also 26 Prozent, abgebaut. Im Jahr 2001 wurden
noch einmal 11 Prozent abgebaut. In der Zeit, in der es in
Hessen eine Regierungskoalition von CDU und FDP
gab, haben wir 39 Prozent der Verordnungen und 15 Prozent der weiteren Rechtsvorschriften, insgesamt
3 500 Vorschriften und 1 400 allgemeine Verfügungen,
abgeschafft.
({1})
Im Rahmen des Rechtsbereinigungsgesetzes in Rheinland-Pfalz - das immer wieder, wie Sie, Frau Staatssekretärin, wissen sollten, zu Überprüfungen führt - wurden
im September 2000 unter Regierungsbeteiligung der
FDP 53 Rechtsverordnungen abgeschafft.
Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache. Da, wo wir
die Möglichkeit haben, etwas zu tun, da tun wir dies. Sie
haben die Möglichkeit, den Anträgen und Entwürfen
von Gesetzen zum Bürokratieabbau, die die FDP in den
Deutschen Bundestag eingebracht hat, zuzustimmen.
Dann tut sich auch auf Bundesebene etwas.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Andrea Voßhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Schlauch, Sie haben ein bemerkenswertes Verständnis von Bürokratieabbau. Die Abschaffung des Meisterbriefes mit Bürokratieabbau gleichzusetzen halte ich für sehr kühn. Die Abschaffung des
Meisterbriefes bedeutet Abbau von Qualität und von
Qualifizierung und ist kein Abbau von Bürokratie.
({0})
Frau Staatssekretärin Vogt, Sie haben die 16 Jahre unser Regierungszeit erwähnt. Ich nenne Ihnen einmal ein
paar Zahlen, die Sie nachdenklich stimmen sollten. In
den 50er-Jahren umfasste das Bundesgesetzblatt jährlich
circa 1 000 Seiten. In den 70er-Jahren waren es schon
2 700. Rot-Grün hat es im Durchschnitt der Jahre 2000
bis 2002 auf stolze 3 700 Seiten pro Jahr gebracht. Sie
haben damit sogar den im Zuge der Wiedervereinigung
notwendigen Regelungsumfang Anfang der 90er-Jahre
getoppt, Frau Vogt.
In der vergangenen Legislaturperiode hat Rot-Grün
pro Kalendertag, also auch an Sonn- und Feiertagen,
durchschnittlich 1,2 neue Gesetze oder Verordnungen
verabschiedet. Tag für Tag, ob der Bürger abends von
der Arbeit oder am Sonntagabend von einem Tagesausflug mit der Familie nach Hause kam, hat sich Rot-Grün
mit einer neuen Regelung mit durchschnittlich
20 Einzelvorschriften in sein Leben eingemischt. Eine
Bundesregierung sollte beim Regieren Spitze sein und
nicht beim Regulieren.
({1})
Die Bilanz Ihrer bisherigen Regierungszeit lässt sich
daher ganz einfach beschreiben: bei der Bürokratie vorn,
beim Wirtschaftswachstum hinten. In einer Studie zum
Bürokratieabbau kommt das Institut der deutschen Wirtschaft zu dem Ergebnis: Je höher die Regulierungsintensität, umso weniger gelingt es einem Land, sein Beschäftigungspotenzial auszuschöpfen. Bestes Beispiel dafür
ist die Politik von Rot-Grün. Bei der Frage, wer am wenigsten reguliert, belegen wir nach einer OECD-Studie
den traurigen 14. Platz von 20 Industrieländern.
Wir alle kennen die Fakten, wir alle kennen Beispiele,
bei denen der Amtsschimmel wiehert. Wir wissen, wie
oft und wie viel Klage über die Bürokratie in Deutschland geführt wird. Natürlich sind die Ursachen vielschichtig; ich will Sie nicht allein in die Haftung dafür
nehmen.
({2})
Ich will die EU-Bürokratie ebenso wenig ausblenden
wie die Landesgesetze und deren Folgen, ganz zu
schweigen von den auf Bundes- und Landesebene lastenden Verordnungen und Verwaltungsvorschriften.
Wenn ich die Antwort der Bundesregierung auf eine
Anfrage der FDP richtig gelesen haben, gibt es im steuerlichen Bereich 79 000 steuerliche Verwaltungsvorschriften. Kommissionen, Institutionen, Ratschläge und
Vorschläge dazu, was getan werden müsste, kennen wir
zur Genüge. Wie aber bekämpft man Bürokratie wirksam und nachhaltig? Ich glaube, dass unser Vorschlag einen guten Ansatz bietet.
Der Weg zu dauerhaft weniger Bürokratie - hier sollten wir alle sehr selbstkritisch mit uns umgehen - muss
in den Parlamenten beginnen, also auch bei uns in diesem Hause. Der Gesetzgeber muss - das hat heute Morgen der Kollege Bosbach gesagt - vom Gesetzgeber wieder zum Gesetznehmer werden.
Wir haben uns eine weitere Frage gestellt: Wie kann
es gelingen, einerseits den Bestand an Regelungen zu
durchforsten und andererseits Instrumente zu entwickeln, mit denen bürokratische Hemmnisse künftig verhindert werden können? Ich will das mit einem Bild vergleichen, das das Institut der deutschen Wirtschaft in
seiner Studie gewählt hat: Bildlich gesprochen muss
nicht nur die Badewanne geleert, sondern auch der Zulauf eingedämmt werden.
Lassen Sie uns heute über die Rezepte streiten, aber
seien wir uns in dem Anspruch einig, es auch tun zu wollen. Dazu gehört auch, dass wir uns mit den bürokratischen Folgen eines Gesetzes künftig intensiver auf parlamentarischer Ebene befassen, als wir es bisher getan
haben.
Bei Medikamenten hören wir immer wieder: Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage
oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Wie halten
wir es denn mit dem Studium der „Packungsbeilage“ bei
Gesetzesinitiativen? Wie werden sie überhaupt erstellt?
({3})
Was lesen wir denn dazu in den Gesetzesinitiativen? „Alternativen: keine“. Gerade hier sollte das Parlament
die Frage stellen, warum der Staat eine Regelung treffen
muss. Beim Stichwort Kosten heißt es in der Regel:
keine. Manchmal werden sie aber auch so schöngeredet,
dass das politische Ziel entscheidet. Zu den sonstigen
Kosten, nämlich zu den Belastungen für die Unternehmer, steht oftmals: keine. Manchmal gibt es den Hinweis: nicht bezifferbar.
Ich denke, mit diesen dürftigen „Packungsbeilagen“
bei Gesetzesinitiativen zur Abschätzung der Gesetzesfolgen sollten wir Schluss machen. Wir brauchen mehr
Transparenz in der Bewertung der bürokratischen und
- das möchte ich ergänzen - der gesamtgesellschaftlichen Gesetzesfolgenabschätzung.
({4})
Wir brauchen das nicht nur in den Fachministerien, sondern auch in diesem Hause im Rahmen einer parlamentarischen Diskussion, wenn es um die Beratung der Gesetzentwürfe geht.
({5})
Wenn es uns allen mit dem Abbau von Bürokratie
ernst ist, sollten wir auch die Prüfung der Gesetzesfolgenabschätzung in das Parlament einführen. Was wäre
dazu besser geeignet, als einen entsprechenden Bundestagsausschuss einzusetzen?
({6})
Kritische Stimmen sagen dazu: Das ist wieder neue Bürokratie. Ich meine aber, es geht um unser Selbstverständnis und um unseren Anspruch, mit dem wir uns an
die Wähler wenden. Hier müssen wir Ernst machen.
({7})
Prüfen wir künftig in einem solchen Ausschuss - wie
zum Beispiel im Haushaltsausschuss, der die finanziellen Belastungen der öffentlichen Haushalte bei allen Gesetzen als mitberatender Ausschuss zu prüfen hat -, wie
bürokratisch ein Gesetzentwurf ist und ob es vielleicht
nicht auch anders möglich ist.
Ich appelliere an unser Selbstverständnis und unseren
Anspruch als Parlamentarier. Folgen Sie unserem Vorschlag. Er ist gut und wird endlich Bürokratie abbauen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Stephan Mayer.
Frau Staatssekretärin Vogt, Sie haben gerade behauptet, Deutschland -
Herr Kollege, eine Kurzintervention ist nur in Bezug
auf den vorhergehenden Redner möglich.
({0})
Ich kann Ihre Kurzintervention nicht zulassen, wenn sie
sich auf Frau Vogt bezieht.
Dann melde ich sie zum nächsten Redner an!
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Walter
Hoffmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch alle
Debattenbeiträge wurde klar, dass Bürokratieabbau ein
permanenter Prozess ist, der nicht mit einem Masterplan
beginnt und endet, sondern alle Schritte unserer politischen Arbeit kontinuierlich begleiten muss.
Ich möchte von einem persönlichen Aha-Erlebnis mit
Bürokratie, das ich bei einem Workshop von Arbeitsvermittlern vor circa drei Jahren hatte, erzählen. Eine
Gruppe von circa 15 Arbeitsvermittlern kam zusammen.
Sie unterhielten sich über das Thema Arbeit. Sie listeten
auf, was sie an Tätigkeiten zu machen hatten. Heraus
kam - ich habe das zusammengestellt; man kann das im
Detail nachlesen -, dass jeder Vermittler insgesamt acht
originäre Vermittlertätigkeiten hatte. Hinzu kamen insgesamt 21 Zusatzaufgaben.
Wenn man das Mengenproblem berücksichtigt - der
Staatssekretär hat vorhin darauf hingewiesen, dass es in
vielen Regionen einen Betreuungsschlüssel von 1 : 400,
1 : 600, sogar von 1 : 800 im Osten gibt -, wird einem
klar, dass der einzelne Vermittler sich eigentlich gar
nicht um den konkreten Fall kümmern kann, selbst wenn
er das will. Beim besten Willen ist das nicht möglich.
Für alle Zusatzaufgaben und die originären Vermittlungsaufgaben gibt es unterschiedliche gesetzliche Regelungskreise: eine Fülle von Bürokratie, welche im
Grunde genommen eine effektive und wirkungsvolle Arbeit verhindert.
Herr Fuchs, auch deshalb - nicht nur deshalb - haben
wir Hartz III und Hartz IV gemacht. Ich wiederhole
das, was meine Vorredner gesagt haben: Morgen können
Sie sich für ein Stück Bürokratieabbau aussprechen.
Der Kollege Kuhn und ich hatten in einer kleineren
Arbeitsgruppe die Gelegenheit, an den Eckpunkten mitzuarbeiten. Wir haben sehr genau darauf geachtet, dass
endlich Regelungen aufgenommen werden, die sich auf
den Bürokratieabbau effektiv auswirken und den Arbeitsvermittlern mehr Zeit geben, damit sie sich um die
Interessen der Arbeitssuchenden kümmern können. Im
Leistungsrecht haben wir eine Fülle von Vereinfachungen vorgenommen. Zahlreiche Regelungen haben auf
diesem Gebiet bisher einen erheblichen Verwaltungsaufwand erzeugt und das ganze Arbeitsförderungsrecht unübersichtlich gemacht.
Lassen Sie mich das an zwei kleinen, wenig spektakulären, aber wie ich finde, eindrucksvollen Beispielen
verdeutlichen:
Erstens. Bisher gab es sieben verschiedene Eingliederungszuschüsse. Im Einzelfall musste geprüft werden,
ob die Voraussetzungen für den jeweiligen Zuschuss zutreffen. Es gab verschiedene Zuschüsse für Ältere,
schwer Vermittelbare, Jugendliche, Schwerbehinderte
usw. In Zukunft wird es nur noch zwei Zuschussarten
geben: zum einen für Personen mit Vermittlungshemmnissen und zum anderen für behinderte und schwerbehinderte Menschen. Das ist vielleicht wenig spektakulär,
bedeutet für die Verwaltung aber eine enorme Vereinfachung. Das wird Luft und Raum schaffen, damit sich die
Sachbearbeiter um die wirklichen Problemfälle kümmern können.
({0})
Wie lange und in welchem Umfang jemand Geld bekommt, soll der Sachbearbeiter vor Ort entscheiden. Das
liegt in seinem Ermessensspielraum, weil er das am besten beurteilen kann. Das spiegelt im Kleinen wider, was
wir mit „mehr Eigenverantwortung“ meinen: nicht reglementieren, nicht alles in einer Verordnung aufgliedern
und von vorne bis hinten genau beschreiben. Nein, hier
hat der Sachbearbeiter einen eigenen Ermessensspielraum, er kann im konkreten Fall entscheiden.
Zweiter Punkt: Weiterbildungsmaßnahmen. Sie
werden sich vielleicht daran erinnern, dass es früher üblich war, dass während einer Weiterbildungsmaßnahme
Unterhaltsgeld gezahlt wurde. Zunächst bekam ein TeilWalter Hoffmann ({1})
nehmer Arbeitslosengeld und dann Unterhaltsgeld. Wir
haben uns gefragt, ob es nötig ist, dass die Voraussetzungen für das Unterhaltsgeld neu geprüft werden. Muss das
ganze bürokratische Spiel noch einmal durchgezogen
werden? Wir haben entschieden: Nein, wir streichen das
Unterhaltsgeld. In Zukunft wird während der Weiterbildungsmaßnahme das Arbeitslosengeld weiter gezahlt. Es
gibt kein neues Antragsverfahren, sondern einen nahtlosen Übergang. Die Höhe des Betrages ist in etwa gleich.
Das ist eine große verwaltungsmäßige Vereinfachung,
die das Ziel hat zu entbürokratisieren.
Wenn in Zukunft zwischen der Bundesanstalt für Arbeit - sprich: Bundesagentur für Arbeit - und der Politik
Zielvereinbarungen getroffen werden, dann bedeuten
diese Zielvereinbarungen auch einen Rückzug des Staates aus diesem Bereich und eine Übertragung von mehr
Eigenverantwortung auf die Bundesagentur und damit
eine Übertragung von mehr Eigenverantwortung auf den
einzelnen Sachbearbeiter. Wir werden sehen, wie Sie
sich morgen in der Abstimmung über Hartz III und
Hartz IV entscheiden. Das ist auch eine Entscheidung
über mehr oder weniger Bürokratie in der Arbeitsverwaltung.
({2})
Ich spreche hier als ein Vertreter des Bereichs Wirtschaft und Arbeit. Von den 52 Maßnahmen zum Bürokratieabbau betreffen allein 25 Maßnahmen diesen Bereich. Wir haben im Grunde genommen drei Pakete
geschnürt: Das erste Paket betrifft die Reduktion der Statistikbelastung für Unternehmen, wie zum Beispiel die
Verschiebung der Handwerkszählung, die Einführung
elektronischer Verdienstbescheinigungen, einheitliche
Formulare bei den Krankenkassen, gemeinsame Nutzung von Datenbeständen zwischen Arbeits- und Finanzverwaltung und vieles andere mehr. Ich will Sie hier
nicht mit Einzelheiten langweilen; aber man kann doch
nicht behaupten, dass nichts geschehen sei.
Das zweite Paket enthält Gesetze, die Arbeitnehmer
und Unternehmen direkt betreffen. Auch hier hat sich in
den letzten Wochen und Monaten eine Menge Positives
getan. Ich nenne nur die Änderung des Rabattgesetzes,
des Ladenschlussgesetzes und des Gesetzes gegen den
unlauteren Wettbewerb. Wir trauen uns jetzt sogar an die
Vereinfachung der Lohn- und Einkommensteuerverfahren heran und an viele andere Dinge mehr.
Beim dritten großen Paket geht es um Erleichterungen beim Marktzugang für Unternehmen. Hierzu zählen
die Zulassung des Arzneimittelversandhandels und Erleichterungen für Existenzgründer. Vieles davon ist bereits angesprochen worden.
Ich bin davon überzeugt - das sage ich ganz deutlich -,
dass sich diese Maßnahmen mittelfristig positiv auswirken werden. Sie wirken nicht von heute auf morgen, sondern verändern die Kultur und die Mentalität; die Staatssekretärin hat das bereits gesagt. Mittelfristig werden
diese Maßnahmen im wirtschaftlichen Bereich zu mehr
Wachstum und Beschäftigung führen. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
Lassen Sie mich nun ein paar Sätze zu dem Antrag
der FDP zur Arbeitsstättenverordnung sagen. Es ist
richtig: Bisher gab es 58 Paragraphen, die jetzt auf zehn
reduziert werden. In der Anlage gibt es 30 Punkte, in denen wir Mindestanforderungen definieren. Ich finde es
gut, dass wir nun nicht mehr alles vorgeben und zum
Beispiel die Temperatur auf Betriebstoiletten regeln, die
Höhe der Räume vorgeben und die Mindestpersonenzahl
vorschreiben, ab der es geschlechtergetrennte Toiletten
zu geben hat. Es ist meiner Meinung nach positiv, dass
es dabei Erleichterungen gibt.
Ich komme auf diesen Punkt deshalb zu sprechen,
weil man sich vorhin über die Quadratmeterzahl, die für
Büroräume vorgeschrieben wird, mokiert hat. In meinem
beruflichen Leben habe ich einmal einen heftigen Arbeitsrechtsprozess über die Größe eines Büroraumes
führen müssen. An diesem konkreten Fall habe ich gemerkt, dass es wichtig ist, bestimmte Dinge klar und eindeutig zu regeln. In vielen Punkten handelt es sich um
Schutzbestimmungen. Da wir über dieses Thema
manchmal etwas populistisch sprechen und es etwas ins
Witzige oder Lächerliche ziehen, möchte ich Sie eindringlich daran erinnern, dass viele Regelungen, die für
den einen oder anderen Bürokratie bedeuten, für viele
Menschen Schutzregelungen sind. Diese brauchen wir
dringend, gerade auch im Interesse der betroffenen Personen.
Ein letzter Punkt.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
Damit komme ich zum Schluss. Ich bin davon überzeugt: Wenn es Ihnen gelingt, die gesellschaftspolitischen Forderungen von den Forderungen zur Entbürokratisierung systematisch zu trennen - diese vermischen
Sie immer wieder -, dann werden wir gemeinsam vernünftige Lösungen finden. Der Vorsitzende von General
Electric hat einmal gesagt: Wir werden die Befreiung
von den Fesseln der Bürokratie durch alle Hierarchiestufen treiben. - Das versuchen wir im Moment. Schließen
Sie sich doch einfach uns an.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Stephan Mayer.
Der geschätzte Vorredner, Herr Hoffmann, hat in seiner Rede vergessen, auf die Aussage der Staatssekretärin
Vogt einzugehen.
({0})
Sie hat gesagt, dass Deutschland mit dem Modell „Bund
online“ und der Förderung des E-Governments, der elektronischen Verwaltung, unter den ersten zehn Ländern
rangieren würde. Ich bitte Sie, diese Aussage zu reflektieren.
({1})
- Das ist gar nicht lustig. - Ausweislich eines Artikels des
„Handelsblatts“ vom 7. Februar 2003 rangiert Deutschland
nämlich auf dem drittletzten, dem 16. Platz. Ausweislich einer Studie der Firma Cap Gemini Ernst & Young, die von
der EU-Kommission in Auftrag gegeben wurde, liegt
Deutschland auf dem 16. Platz.
({2})
Platz 1 belegt Schweden. Der letzte Platz wird von Luxemburg, der vorletzte Platz von Belgien und der drittletzte Platz von Deutschland eingenommen.
Frau Staatssekretärin, ich hätte Ihre Anregung, eine
schriftliche Anfrage an die Bundesregierung zu stellen,
natürlich gerne aufnehmen können.
({3})
Dies würde aber genau das bedeuten, weswegen wir
heute hier diskutiert haben, nämlich Bürokratie. Ich
würde eine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung
stellen, die natürlich von einem Mitarbeiter Ihres Hauses
bearbeitet werden müsste. Genau dadurch entsteht mehr
Bürokratie. Diese wollen wir vonseiten der CDU/CSU
abschaffen.
({4})
Herr Kollege Hoffmann, Sie können antworten.
Wäre ich Frau Vogt,
({0})
würde ich Ihnen vielleicht so oder ähnlich antworten: Ich
habe keinen Grund, an den Aussagen der Kollegin Vogt
über das Ranking bezüglich des E-Governments zu
zweifeln. Aufgrund meiner Erfahrungen - wohlgemerkt:
ich bin nicht in dem Bereich tätig - weiß ich, dass man
wirklich versucht, beim E-Government enorme Schritte
zu unternehmen, um dieses Anliegen innerhalb der Administration zügig voranzutreiben.
Da Sie große Zweifel an diesen Rankinglisten haben,
empfehle ich Ihnen, Ihre Anfrage schriftlich zu stellen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung dann
überprüfen wird, - wäre ich Frau Vogt, würde ich das
auch tun -,
({1})
ob diese Rankingliste, die meines Wissens nach relativ
alt ist, in der Tat stimmt.
({2})
Meine Damen und Herren, Spaß beiseite: Es ist in der
Tat ein dringendes sachliches Problem. Die Regierung
greift das auf. E-Government ist einer der zentralen
Schwerpunkte bei der Entbürokratisierung. Ich denke,
das ist das Entscheidende. Wir müssen auf das Gaspedal
drücken, damit wir schneller vorankommen. Ich denke,
diesbezüglich haben wir hier eine große Einigkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1330 und 15/1006 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Abweichend von der Tagesordnung sollen die Vorlagen
federführend im Innenausschuss beraten werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 7 d. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/1183 zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Abbau
von Bürokratie sofort einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/65 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 15/1707 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Protokoll von Cartagena vom 29. Januar 2000 über die biologische Sicherheit zum
Übereinkommen über die biologische Vielfalt
- Drucksachen 15/1519, 15/1652 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
({1})
- Drucksache 15/1737 Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias Weisheit
Abgeordneter Helmut Heiderich
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Abgeordnete Ulrike Höfken
Abgeordnete Dr. Christel Happach-Kasan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Der Kabinettsbeschluss vom Juli für die Vorbereitung der Ratifikation des Cartagena-Protokolls war
überfällig. Es war absehbar, dass das Protokoll im September in Kraft treten würde. Zwischen unserer Ratifikation und der Vollmitgliedschaft haben wir eine
dreimonatige Karenzzeit. Im Februar nächsten Jahres
findet die 1. Vertragsstaatenkonferenz statt. Damit wir
dort das volle Stimmrecht haben, müssen wir uns mit der
Ratifikation beeilen.
Das Cartagena-Protokoll über die biologische Sicherheit zur Biodiversitätskonvention ist in mindestens vier
Hinsichten einzigartig:
Erstens. Es ist die erste in Kraft getretene Konkretisierung der beiden großen Konventionen des Erdgipfels
von Rio de Janeiro.
Zweitens. Es ist wohl das erste Umweltabkommen,
bei dem die Entwicklungsländer die treibende Kraft waren. In Cartagena Ende 1999 und dann in Montreal im
Januar 2000 kam es zu einer für die Weltpolitik sehr bedeutsamen Koalition zwischen einem Großteil der Entwicklungsländer auf der einen Seite und uns Europäern
auf der anderen Seite, während die US-Amerikaner, die
während der Verhandlungen ständig blockiert haben, am
Ende ziemlich isoliert dastanden.
Drittens. Das Cartagena-Protokoll ist das erste weltweite Umweltabkommen, in dem das Vorsorgeprinzip
verbindlich verankert und nicht den internationalen Handelsregeln untergeordnet ist.
Viertens. Während die meisten internationalen Abkommen für die Vertragsstaaten auf einen Souveränitätsverzicht hinauslaufen, verleiht das Cartagena-Protokoll
den Staaten eine neue Souveränität. Das gefällt insbesondere den Entwicklungsländern.
Worum geht es inhaltlich? Es geht um die Souveränität der Vertragsstaaten, die Einfuhr von lebenden, gentechnisch veränderten Organismen von einer Beurteilung der ökologischen und gesundheitlichen Risiken
abhängig zu machen. Die staatliche Entscheidung auf
der Basis dieser Risikoabwägung geschieht nach dem
Vorsorgeprinzip.
Nach Art. 20 des Protokolls wird eine Informationsstelle für biologische Sicherheit, ein Biosafety Clearing
House, eingerichtet. Dadurch wird sichergestellt, dass
das in den unterschiedlichsten Ländern anfallende Wissen über Auswirkungen von Freisetzungen, über nationale Zulassungen und über Gesetzgebungen gesammelt
wird. Das Wissen steht den Vertragsstaaten rasch und bequem zur Verfügung. Das schafft Rechtssicherheit und
erschwert das Unterlaufen von Sicherheitsvorschriften
durch Exporteure.
Das Wissen von den ökologischen Langzeitwirkungen der grünen Gentechnik hat sich seit dem CartagenaProtokoll erheblich fortentwickelt. Das heißt, es steht
nicht still. Wir brauchen dieses Clearing House über das
abrufbare Wissen. Wir haben gesehen, dass springende
Gene mit Resistenzfaktoren von Kulturpflanzen tatsächlich auf Wildkräuter übergehen können. Was das langfristig ökologisch bedeutet, ist sehr schwer abschätzbar.
Im Laufe der ersten vier Jahre nach der 1. Vertragsstaatenkonferenz soll nach Art. 27 des Protokolls ein
Verfahren für Schadenshaftung und Wiedergutmachung etabliert werden. Das heißt, das Verursacherprinzip kann greifen. Wenn Versicherungskonzerne das Haftungsrisiko übernehmen sollen, dann bekommt das
Risiko einen im Markt sichtbaren Preis für die Verursacher. Nach Art. 26 des Protokolls sollen die Staaten auch
eine sozioökonomische Kosten-Nutzen-Abwägung
vornehmen. Damit dürfte dann wohl die grüne Gentechnik aus dem Status der angeblichen Wunderwaffe gegen
Not und Hunger auf das Normalmaß einer technischen
Innovation zurückgeführt werden, die sich mit den existierenden und bewährten Anbautechniken und lokal angepasstem Saatgut messen muss.
Ich war vor 14 Tagen in Indien und habe dort die
große Frustration der Inder im Staat Andhra Pradesh mit
gentechnisch veränderter Baumwolle erlebt. Mit großem
Trara ist der Anbau von gentechnisch verändertem
Baumwollsaatgut angekündigt worden, das nunmehr gegen den am häufigsten auftretenden Baumwollschädling
resistent ist. Das Saatgut war zwar viermal so teuer. Der
Mehrpreis sollte aber durch einen entsprechend verminderten Pestizideinsatz eingespart werden. Tatsächlich ist
das Gegenteil passiert. Es wurden eher noch mehr Pestizide gebraucht, weil es eben noch viele andere Schädlinge gab. Im Übrigen waren die Ernteerträge geringer.
Insgesamt waren die Bauern, die gentechnisch verändertes Baumwollsaatgut benutzt hatten, die Betrogenen.
Art. 22 des Protokolls regelt den Aufbau der Kapazität, insbesondere der Entwicklungsländer, mit der neuen
Technologie und der Risikobewertung umzugehen.
Hier kann man sagen, dass sich das deutsche Entwicklungsministerium besondere Verdienste erworben hat
und hohes Ansehen bei den afrikanischen und anderen
Ländern genießt, was den Umgang mit der Gentechnik
und die Einfuhr von gentechnisch verändertem Saatgut
betrifft.
({0})
Es gibt zweifellos noch viele offene Fragen, die nun
durch eine Serie von Vertragsstaatenkonferenzen geklärt
werden müssen. Wenn zum Beispiel auf einem Getreidesack, dessen Inhalt zum Verzehr bestimmt ist, klein
gedruckt steht, dass der Sack gentechnisch veränderte
Organismen enthalten kann und dass deshalb die Körner
nicht zur Aussaat bestimmt sind, dann ist das alles
andere als ein sicherer Schutz vor womöglich gravierenden Veränderungen der ländlichen Biodiversität.
Wenn es durch unachtsame Vertragsstaatenbeschlüsse
dazu käme - in diese Richtung gibt es Bemühungen -,
dass beträchtliche Beimischungen von mehr als 1 Prozent von gentechnisch veränderten Körnern im Sack toleriert werden, ohne dass das kenntlich gemacht wird,
dann würde die Kennzeichnungspflicht völlig zur Farce.
({1})
Wir haben hier in Europa im Zusammenhang mit der
Saatgutkennzeichnung einen Streit. Ich erinnere an die
Save-our-Seeds-Kampagne.
Das Protokoll ist gleichwohl ein Meilenstein der internationalen Umweltpolitik. Es muss noch viel bekannter werden. Alle kennen das Kioto-Protokoll, das leider
immer noch nicht in Kraft ist und das bezüglich des Vorsorgeprinzips viel zahmer ist als das Cartagena-Protokoll. Es lohnt sich also, dieses Protokoll weiter bekannt
zu machen. Deutschland kann stolz darauf sein, dass es
bei den Verhandlungen in Cartagena und in Montreal am
Ende eine sehr positive Rolle gespielt hat, übrigens nach
jahrelangem Bremsen in den Jahren vor 1999. Deutschland sollte bei der weiteren Ausgestaltung des Protokolls
weiterhin eine solche führende Rolle spielen und dabei
die, wie ich gesagt habe, weltpolitisch sehr wichtige
Einigkeit zwischen Europäern und Entwicklungsländern
über das Vorsorgeprinzip in der Umweltpolitik und der
Landwirtschaft fortsetzen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Helmut Heiderich, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Interessierte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf der
Bundesregierung zum Themenfeld der Biotechnologie,
der geradezu topaktuell ist; denn vor rund einem Monat
ist das Cartagena-Protokoll in Kraft getreten, nachdem
es inzwischen 57 Staaten ratifiziert haben.
Das Cartagena-Protokoll ist eine der ersten Regelungen für die weltweite Nutzung und Fortentwicklung
der grünen Biotechnologie. Mit ihm werden Prinzipien
festgeschrieben, die inzwischen international als Standard etabliert sind. Ich will einige der wichtigsten davon
nennen: das Vorsorgeprinzip - eben schon angesprochen - zum Schutz menschlicher Gesundheit und biologischer Vielfalt, die Festlegung eines angemessenen
Schutzniveaus, die Anerkennung der großen Chancen
für die menschliche Zukunft durch moderne Biotechnologie, die gegenseitige internationale Abstimmung von
Regelungen und Verfahren sowie die streng wissenschaftliche Beurteilung eventuell möglicher Risiken.
Besondere Bedeutung gewinnen diese Grundsätze
durch ihre Anerkennung als gleichrangiges internationales Recht. Damit haben wir eine erste internationale Regelung zum grenzüberschreitenden Handel mit lebenden, gentechnisch modifizierten Organismen. Ich meine,
das passt genau in eine Zeit mit einer starken globalen
Aufwärtsentwicklung der Biotechnologie, insbesondere
auch im Pflanzenbau. Auch wenn an der einen oder anderen Stelle noch Dinge geprüft werden müssen: Immer
mehr Länder nutzen die Chancen der grünen Biotechnologie, ganz aktuell zum Beispiel Brasilien, das gerade
diese Entscheidung getroffen hat.
Die weltweite Weiterentwicklung der Pflanzenbiotechnik - in starkem Maße auch in den Schwellenländern - erfordert insbesondere die gegenseitige Anerkennung von Zulassungen, Prüfungsverfahren und Risikobeurteilungen. Dabei geht es insbesondere um den Informationsaustausch und die Verstärkung der Transparenz beim
Handel mit pflanzlichen Biotechnikprodukten zwischen
den Mitgliedstaaten sowie um die Unterstützung der Länder - das sind in der Regel die Entwicklungsländer -, die
noch nicht über entsprechende rechtliche oder wissenschaftliche Systeme verfügen.
Wenn wir diese Grundsätze und Vereinbarungen
heute übereinstimmend begrüßen und gemeinsam beschließen, muss ich doch auch darauf hinweisen, wie widersprüchlich die Bundesregierung - insbesondere das
zuständige Bundesministerium und die zuständige Bundesministerin - demgegenüber auf nationaler Ebene
agiert. Das zeigen beispielsweise die massiven politischen Eingriffe in die Zulassung biotechnischen Saatgutes, die wir in den vergangenen Jahren mehrfach erlebt
haben, die politische Einflussnahme auf die Zentrale
Kommission für die Biologische Sicherheit, die wir hier
mehrfach diskutiert haben, und die völlige Zielumkehr
im Gentechnikrecht, die von Ministerin Künast in den
bekannt gewordenen Entwürfen offensichtlich beabsichtigt ist.
Wenn wir auf internationaler Ebene Verträge unterzeichnen, die wir als großen Erfolg begrüßen, und wenn
wir international festlegen, dass Risikobeurteilungen
streng wissenschaftlich durchzuführen sind, dann müssen wir uns aber, wie ich meine, auch im eigenen Land
daran halten. Das geht jedenfalls nicht mit dem geplanten
Gentechnikgesetz zusammen, in dem die wissenschaftlichen Beurteilungen immer weiter zurückgedrängt und
durch gesellschafts-, sozial- und allgemeinpolitische
Ziele ersetzt werden sollen.
({0})
Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir heute gemeinsam beschließen wollen.
Wer unterschreibt, dass er die Öffentlichkeit besser
über die grüne Gentechnik informieren will, kann sich
nicht auf nationaler Ebene mit Greenpeace, einer Organisation, die gerade mit einer Kampagne gegen Gift und
Gentechnik - man höre sich das einmal an! - das GegenHelmut Heiderich
teil von Verbraucheraufklärung betreibt, in gemeinsame
Werbesendungen begeben und dort verbrauchertäuschende Versprechungen abgeben.
Demgegenüber muss festgestellt werden, dass seit
Jahren jährlich rund 40 Millionen Tonnen Futtermittel
auf GVO-Basis nach Europa und entsprechend nach
Deutschland importiert werden, wo sie auch verbraucht
werden. Dabei hat die Bundesregierung interessanterweise auf meine Kleine Anfrage hin selber zugestanden,
dass sie nicht in der Lage ist, eindeutig festzustellen,
wann Gentechnik eingesetzt wird und wann nicht. Als
ich sie nach einer Beurteilung des Imports von Sojaprodukten aus Brasilien gefragt habe, lautete die Antwort:
Es liegen keine Daten über den Import gentechnisch veränderter Soja aus Brasilien vor. Wir haben weder belastbare Zahlen über das Ausmaß des Anbaus noch über
mögliche Exporte nach Deutschland. Dann folgte der
Hinweis, die Zollbehörden würden aufgrund der Lieferdokumente regelmäßig überprüfen, ob in äußerlich erkennbarer Weise die Angaben auf den Dokumenten mit
dem Inhalt übereinstimmten.
Dazu kann ich nur feststellen: Wer auf dieser Basis
gemeinsam mit Greenpeace Versprechen wie die Garantie von nicht gentechnisch produziertem Schweinefleisch gibt, der täuscht die Verbraucher und macht nicht
das, was wir mit dem internationalen Vertrag unterzeichnen und verlangen.
({1})
Wer außerdem - das will ich auch wiederholen; ich
habe es schon mehrfach ausgeführt - ungerührt zusieht,
wenn Organisationen wie Greenpeace selbst solche Versuchsfelder zerstören, die vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung direkt gefördert werden, der
handelt ebenfalls den Intentionen dieses internationalen
Vertragswerks direkt zuwider.
Erlauben Sie mir noch einen Hinweis zum Thema
Forschung. Wie groß die Unterschiede zwischen den
Entwicklungen in Deutschland und anderswo sind, zeigt
eine aktuelle Nachricht. In den USA hat die NSF, die
National Science Foundation, gerade veröffentlicht, dass
sie die Genomforschung im Pflanzenbereich an den Universitäten und Instituten erneut mit 100 Millionen Dollar
unterstützen wird. Bei uns dagegen werden die Mittel für
das Projekt GABI, mit dem wir einmal an der Spitze dabei waren, im nächsten Haushalt in erheblichem Maße
zusammengestrichen.
Wer - um noch einen anderen Punkt zu nennen - im
Zusammenhang mit dem Cartagena-Vertragswerk unterstreicht, dass die moderne Biotechnik ein großes Potenzial für die Menschheit bei angemessenen Sicherheitsmaßnahmen hat, darf nicht im eigenen Land, so meine
ich, mit immer neuen bürokratische Hürden, mit immer
weiter ausgreifenden Regelungsmechanismen und dadurch immer höheren Kosten genau dieses Potenzial der
Biotechnik wieder infrage stellen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass ich Unterstützer für
meine Forderungen gefunden habe, und zwar dort, wo
ich es gar nicht vermutet habe. Im „Handelsblatt“ haben
meinen Argumenten nicht nur der Bundesminister für
Wirtschaft und Arbeit, sondern auch der forschungspolitische Sprecher der SPD inhaltlich zugestimmt.
Wer das Cartagena-Protokoll heute beschließt und somit für das eigene Land in Kraft setzt, der muss sich, so
meine ich, auch an dessen Intentionen orientieren. Viel
wird dabei von der Folgekonferenz im kommenden Februar abhängen, auf der konkretere Anwendungsregeln festgelegt werden müssen. Ich bedauere deshalb,
dass die Bundesregierung, wie sie gestern im zuständigen Ausschuss explizit ausgeführt hat, bisher weder Vorstellungen noch Konzepte hat, mit denen sie in diese internationale Konferenz gehen will. Eines ist nach meiner
Ansicht jedoch unverkennbar: Die grüne Biotechnologie
gewinnt gerade in den Schwellen- und den Entwicklungsländern zunehmend an Bedeutung. Deshalb müssen wir uns auch bald mit gentechnisch verbesserten
Produkten
({2})
- das geht natürlich auch - wie beispielsweise Reis, Papaya oder Bananen vertraut machen, die nicht in Europa
entwickelt, geprüft und zugelassen sind und die trotzdem
in absehbarer Zeit auf unsere Märkte kommen werden.
Wer vor diesem Hintergrund - der einzelne Abgeordnete, wie auch immer sein Gusto sein mag, wird nicht
bestimmen können, wohin die Entwicklung geht; aber
wir können das mit dem vorliegenden Vertragswerk regeln - die kleinkarierten Verhinderungsstrategien in
Deutschland weiter betreibt, hat die Perspektiven des
vorliegenden Vertragswerkes in keiner Weise begriffen.
Wer die zügige Weiterentwicklung insbesondere in den
asiatischen Ländern mitbestimmen will, darf sich nicht
durch ein kleinkariertes Regelwerk ausschließen, sondern muss dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft in den
internationalen Entwicklungen vorne dabei sein können.
Hier liegt meines Erachtens unsere politische Aufgabe,
wenn ich das Protokoll von Cartagena richtig verstehe.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Matthias Berninger.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege von Weizsäcker, ich bin Ihnen für die Einordnung des Cartagena-Protokolls in den langen Reigen anderer internationaler Abkommen außerordentlich dankbar. Ich teile Ihre Einschätzung, dass sich dieses
Protokoll tatsächlich sehen lassen kann und durchaus auf
einer Stufe mit dem Kioto-Protokoll steht, dass es aber
in der öffentlichen Diskussion häufig im Hintergrund
steht. Wenn jemand wie Sie, der sich mit internationalen
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Konferenzen sehr gut auskennt, eine solche Einordnung
vornimmt, dann gewinnt das zusätzlich an Gewicht.
Darüber hinaus freue ich mich sehr, dass sich nicht
nur alle Fraktionen im Deutschen Bundestag, sondern
auch der Bundesrat dazu haben durchringen können, den
Prozess der Inkraftsetzung dieses Protokolls zu beschleunigen und diesem Protokoll zuzustimmen. Ich erwähne das deshalb, weil das nicht immer der Fall war.
Vor dem Regierungswechsel 1998 waren die Verhandlungen über ein solches Protokoll in Deutschland von
einem anderen Geist getragen. Damals war die Bundesrepublik Deutschland eher im Bremserhäuschen und war
eher die gleiche Skepsis gegenüber solchen internationalen Vereinbarungen Bestandteil der offiziellen Regierungspolitik, wie das heute noch in den Vereinigten Staaten der Fall ist.
Ich erwähne das, Herr Kollege Heiderich, vor allem
aus einem Grund - er hört zwar nicht zu, aber vielleicht
will er das auch gar nicht hören -: Wenn Sie sagen, dass
das Protokoll sozusagen Ihren politischen Intentionen
des „Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit“ für Gentechnik entsprechend hilft, dann müssten die Amerikaner geradezu begeistert beitreten. Das tun sie aber nicht;
denn das Protokoll regelt etwas anderes. Es soll verhindern, dass sich die grüne Gentechnik global auf leisen
Sohlen verbreitet, ohne dass die Politik, dass die Staaten,
dass die Demokratie und dass die Menschen daran teilhaben können. Das können die Mitgliedstaaten dieses
Protokolls verhindern, indem ganz wesentliche Elemente einbezogen werden.
Ein ganz wesentliches Element ist das der Transparenz.
Ohne Transparenz wird es keine Wahlfreiheit im Bereich
der grünen Gentechnik geben. Künftig werden Staaten, in
die gentechnisch veränderte Organismen - seien es Nahrungsmittel, seien es lebende Organismen - exportiert
werden sollen, darüber informiert werden müssen, dass
es sich um solche handelt.
Ich freue mich, dass die Europäische Union schon
einen Schritt weiter ist. Sie möchte nicht nur den Informationsaustausch zwischen Staaten gewährleistet sehen.
Die Europäische Union will vielmehr auch, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher klare Kenntnis darüber
haben, ob es sich bei den Produkten, die sie kaufen, um
gentechnisch veränderte Lebensmittel handelt oder aber
um solche, die nicht gentechnisch verändert sind. Wir
haben mit einem Kraftakt auf europäischer Ebene diese
Wahlfreiheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher
sichergestellt. Ich glaube, das ist etwas, auf das wir in
Deutschland sehr stolz sein können.
({0})
Wenn der Kollege Heidereich auf eine kleine Anfrage
hinweist, nach der wir nicht ausreichende Informationen
darüber haben, wie sich die grüne Gentechnik in bestimmten Bereichen verbreitet hat, dann ist auch das ein
sehr gutes Argument dafür, hier im Rahmen des Cartagena-Protokolls zu Fortschritten zu kommen; denn in
dem Maße, in dem die Informationen verbessert werden,
können wir auch einen besseren Überblick bekommen.
Die Kleine Anfrage, auf die Sie hingewiesen haben,
belegt noch etwas anderes. Wenn bereits 40 Millionen
Tonnen gentechnisch veränderter Futtermittel auf den
deutschen Markt kommen, dann belegt das doch eindrücklich, in welchem Ausmaß die Industrie versucht,
ihre Interessen durchzusetzen und - ohne die Menschen
daran zu beteiligen - dieser Technologie zum Durchbruch zu verhelfen. Die Gewinne werden dabei privatisiert. Wir wissen aber, dass die Risiken einer solchen
Politik sozialisiert werden. Vorsorgender Verbraucherschutz setzt genau an dieser Stelle an und will über
klare Regeln, klare Kennzeichnung, die Sicherstellung
von Information und Wahlfreiheit dafür Sorge tragen,
dass Gefahren von den Bürgerinnen und Bürgern abgewendet werden.
Mich wundert nicht, dass das in Ihrer Rede überhaupt
keine Rolle gespielt hat, Herr Kollege Heiderich;
({1})
denn Sie haben dazu immer eine klare und eindeutige
Haltung. Ich glaube, Sie sind der Einzige im Parlament,
der genau weiß, dass die grüne Gentechnik alle Chancen
bietet und dass die Risiken bei Null sind.
Ich freue mich, dass eine Mehrheit im Deutschen
Bundestag und eine breite Mehrheit der Bevölkerung
hier skeptischer ist. Die Zeiten blinder Technikgläubigkeit sind vorbei. Sie sind vor allem dort vorbei, wo Prozesse irreversibel sind. Bei der grünen Gentechnik sind
diese Prozesse irreversibel. Deswegen freue ich mich,
dass wir in der Bundesregierung, gestützt auf einen sehr
klaren Koalitionsvertrag, zu der Erkenntnis gekommen
sind, dass der vorsorgende Verbraucherschutz das wesentliche Instrument ist, um Chancen und Risiken der
grünen Gentechnik zu bewerten. Wir werden das auch in
Zukunft tun, beispielsweise bei der Kennzeichnung von
Saatgut. Wir werden das aber gemeinsam mit unseren
europäischen Partnern tun, vor allem bei der ersten Vertragsstaatenkonferenz in Malaysia, in der Hoffnung, dass
wir als Europäer in der Allianz mit den Entwicklungsländern einigen multinationalen Konzernen etwas Wichtiges entgegensetzen, nämlich Demokratie.
Vielen Dank.
({2})
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Christel Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ziel des Cartagena-Protokolls ist es, die biologische
Vielfalt vor Risiken zu schützen, die von lebenden transgenen Organismen möglicherweise ausgehen. Wir als
FDP-Fraktion unterstützen diese Zielsetzung mit Nachdruck. Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist im Interesse unserer Gesellschaft, ist im Interesse künftiger Generationen.
Was heißt biologische Vielfalt? Finden nicht auch Sie
es traurig, dass unsere Kinder ihre Lehrer in der Schule
nicht mehr mit Maikäfern ärgern können, weil es einfach
keine mehr gibt? Das ist ein Verlust an biologischer Vielfalt.
({0})
Wir von der FDP haben sehr deutlich gemacht, dass
wir die Aufhebung des Zulassungsmoratoriums für
transgene Pflanzen wollen. Dies ist aus Sicht des Naturund Gesundheitsschutzes verantwortbar, zur Sicherung
von Arbeitsplätzen in Deutschland wirtschaftlich erforderlich und zur Verbesserung der Ernährungssituation in
den ärmsten Ländern der Erde ethisch geboten.
({1})
Wir wollen gleichzeitig sicherstellen, dass unsere Befürwortung der grünen Gentechnik die biologische Vielfalt
nicht gefährdet.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen
der grünen Gentechnik inzwischen sehr viel positiver als
vor Jahren gegenüberstehen. Dies ist das Ergebnis der
vom Bundespresseamt im Herbst 2001 in Auftrag gegebenen Umfrage.
Viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus erinnern sich noch - ich war damals noch nicht dabei - an den
TAB-Bericht „Gentechnik, Züchtung und Biodiversität“.
Der Bericht sagt aus, dass die gentechnisch unterstützte
Pflanzenzüchtung keinen nachweisbaren Einfluss, also
auch keinen negativen Einfluss, auf die Biodiversität hat.
Rot-Grün hat das Urteil der Wissenschaftler nicht gefallen. Ihre verzweifelten Versuche, das Ergebnis durch
einseitige und falsche Interpretation zu diskreditieren,
waren nicht überzeugend. Welchen Sinn macht es eigentlich, solche Berichte in Auftrag zu geben, wenn Sie deren
Ergebnisse bei Ihren Überlegungen nicht berücksichtigen,
wenn Sie gar nicht die Absicht haben, solche - Ihren Bestrebungen entgegenstehenden - Ergebnisse zu berücksichtigen?
({2})
Vor dem Hintergrund des Anbaus von 60 Millionen
Hektar transgener Kulturpflanzen in diesem Jahr entlarven sich Ihre Versuche, diese Innovation zu verhindern,
als ideologisch motiviert. Die Fläche nimmt von Jahr zu
Jahr zu. Gleichwohl ist es nicht zu Problemen gekommen, wie mir die Bundesregierung auf Anfrage bestätigt
hat. Diese Bilanz ist erfreulich. Sie rechtfertigt, dass wir
ein solches Protokoll mit einer solch anspruchsvollen
Zielsetzung unterschreiben können. Tatsächlich können
wir doch feststellen, dass ganz andere Prozesse die biologische Vielfalt in Deutschland gefährden: Flächenversiegelung, Schadstoffemissionen, sich ausbreitende Neophyten. Was tun Sie dagegen? Nichts!
({3})
Die Umsetzung des Protokolls durch die Bundesregierung lässt Schlimmes befürchten. Die biologische
Vielfalt ist ein ganz wichtiges Thema im Bereich des Naturschutzes. Dafür ist an und für sich der Umweltminister zuständig, das Bundesamt für Naturschutz ist die zuständige Behörde. Nach Auskunft von Staatssekretär
Berninger soll die Sicherung der biologischen Vielfalt
dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit übertragen werden, als ob dieses Bundesamt die Gefährdung von bittersüßem Nachtschatten
durch transgene Kartoffeln beurteilen könnte. Das kann
es nicht! Der Umweltminister zeigt kein Interesse an biologischer Vielfalt.
Offensichtlich hat dieser Unsinn Methode: Die
Zuständigkeiten für die Genehmigung von Freisetzungsversuchen wurden dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit übertragen, die
Zuständigkeit des Umweltbundesamtes dem Bundesamt
für Naturschutz. Das verstehe, wer will. Minus mal minus ergibt plus, aber falsch plus falsch ist doppelt falsch.
({4})
Diese Bundesregierung ist völlig unfähig, die notwendigerweise zu erfüllenden Aufgaben fachgerecht auf die
ihr zur Verfügung stehenden Behörden zu verteilen. Das
ist ein Armutszeugnis. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, den Verwaltungsaufwand angesichts der geringen Bedrohung der biologischen Vielfalt durch transgene
Organismen zu minimieren. Schade, dass die Beschlussfassung des Protokolls von Cartagena die von der Regierung eingestimmte negative Begleitmusik erhält.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll von Cartagena vom 29. Januar 2000 über die biologische Sicherheit zum Übereinkommen über die
biologische Vielfalt, Drucksachen 15/1519 und 15/1652.
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1737, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Helga Daub, Birgit
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wehrpflicht aussetzen
- Drucksache 15/1357 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Günther Nolting, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung hinkt in der Frage der Bundeswehrreform der Entwicklung unverändert dramatisch hinterher.
({0})
Die faktischen Veränderungen in der Frage der allgemeinen Wehrpflicht nimmt sie offensichtlich wahr; es fehlt ihr
aber die Kraft, entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Warum mutet die Bundesregierung den Angehörigen
der Bundeswehr Reförmchen auf Reförmchen zu, die
dann auch noch äußerst kurzlebig sind? Warum schafft
sie nicht endlich Planungssicherheit? Warum folgt sie
nicht der überwiegenden Mehrheit der NATO-Staaten
und -Beitrittskandidaten und gliedert die Bundeswehr in
eine Freiwilligenarmee um? Polen, Ungarn und Tschechien haben diesen Schritt angekündigt. Andere NATOBeitrittskandidaten werden diesen Weg gehen.
Studien der Stiftung für Wissenschaft und Politik, des
Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik, Hamburg,
und des BDI haben in den letzten Monaten die Abkehr
von der allgemeinen Wehrpflicht gefordert. Was setzt die
Bundesregierung den stichhaltigen Argumenten verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen entgegen? Man
mag es kaum glauben: 31 „Pro Wehrpflicht“-Thesen, gestrickt mit heißer Nadel! An diese Thesen glaubt im Verteidigungsministerium niemand.
Zur Krönung des ganzen Vorgangs veröffentlicht der
Verteidigungsminister im Heft 3 der „Information für die
Truppe“ auf Seite 7 den Text eines Vortrags, den er im
Mai an der Führungsakademie der Bundeswehr gehalten
hatte. Ich zitiere aus diesem Vortrag des Verteidigungsministers eine Kernaussage:
Wehrpflicht erhalten heißt für mich: Deutsche Soldaten werden nicht zu Söldnern!
Ich frage den Herrn Minister, woher er das Recht
nimmt, in einer derart üblen Form über die Wehrverfassung der Streitkräfte unserer Verbündeten zu urteilen.
({1})
Er bezeichnet damit alle amerikanischen, belgischen,
britischen, französischen, italienischen, niederländischen und spanischen Soldatinnen und Soldaten,
({2})
denen wir übrigens in einem nicht unerheblichen Maß
unsere staatliche Einheit zu verdanken haben, als Söldner. Streng genommen, Herr Kollege Erler, bezeichnet er
sogar alle länger dienenden Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr als Söldner. Das vergrößert den Skandal. Sie sollten sich solche Zwischenrufe sparen.
({3})
Es sind genau diese länger dienenden Soldatinnen und
Soldaten, die durch ihren vorbildlichen Dienst das Ansehen Deutschlands im Ausland mehren, mittlerweile
schon über viele Jahre.
Der weltweite Kampf gegen den internationalen Terrorismus steht im Mittelpunkt der militärischen Planung.
Die internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie die Unterstützung der Bündnispartner stehen im Vordergrund. Dies hat der Verteidigungsminister
in den Verteidigungspolitischen Richtlinien ausdrücklich
festgehalten. Das Hauptargument für den Erhalt der
Wehrpflicht, die Landesverteidigung, ist somit entfallen.
Wir alle haben erlebt, dass sich die sicherheitspolitische
Lage verbessert hat. Staaten des ehemaligen Warschauer
Paktes und der ehemaligen Sowjetunion sind Mitglieder
der NATO geworden bzw. werden Mitglieder der NATO
werden. Das Bündnis ist jedem potenziellen Gegner, wo
immer er auch stehen mag, um ein Vielfaches überlegen,
ohne auch nur einen einzigen Reservisten einziehen zu
müssen. Die Wehrpflicht als Krücke zur Möglichkeit der
Rekonstitution zu begründen, wie in den Verteidigungspolitischen Richtlinien geschehen, ist deshalb nicht tragfähig.
({4})
Die Fähigkeit der Bundeswehr zu einem schnellen Aufwuchs ist nicht mehr notwendig.
In den Verteidigungspolitischen Richtlinien und den
31 Thesen zur Beibehaltung der Wehrpflicht werden
auch die asymmetrische Bedrohung oder Angriffe von
außen als Argumente für die Wehrpflicht aufgeführt.
Wollen Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
wirklich Wehrpflichtige im Kampf gegen den Terrorismus einsetzen?
({5})
Das kann wohl nicht richtig sein. Wenn das so ist, dann
setzen Sie sich dafür ein, Herr Kollege, dass insoweit
eine Veränderung vorgenommen wird, und stimmen Sie
unserem Antrag zu, so wie Sie es draußen immer erzählen!
({6})
Aufgaben im Kampf gegen den Terrorismus und Auslandseinsätze lassen sich nur durch hoch motivierte, sehr
gut ausgebildete und mit modernster Bewaffnung ausgeGünther Friedrich Nolting
stattete Zeit- und Berufssoldaten erfüllen, die professionell handeln und flexibel einsetzbar sind.
Natürlich gibt es auch Gründe für die Wehrpflicht,
zum Beispiel Transparenz, Austausch mit der Gesellschaft, Rekrutierung. Aber diese Gründe legitimieren die
Wehrpflicht nicht. Die Wehrpflicht stellt einen so tiefen
Eingriff in die individuelle Freiheit der jungen Bürger
dar, dass sie von einem demokratischen Rechtsstaat nur
dann gefordert werden darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates gebietet. Sie ist nicht ewig gültig, sondern von der konkreten Sicherheitslage abhängig. Ihre
Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung sowie die
Dauer des Wehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden.
({7})
Das weitere Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht
ohne stichhaltige sicherheitspolitische Begründung ist
schlicht illegitim.
Bei einer intelligent angelegten Streitkräftestruktur,
wie sie die FDP-Bundestagsfraktion vorschlägt und fordert, muss überdies keiner der genannten Vorteile einer
Wehrpflichtarmee aufgegeben werden.
Problematisch erscheint zusätzlich, dass mittlerweile
mehr von Wehr- und Ersatzdienstwillkür denn von Wehrund Dienstgerechtigkeit gesprochen werden muss. In
den neuesten Planungen von Minister Struck werden weniger als 20 Prozent der Wehrpflichtigen zur Bundeswehr einberufen. Von Gerechtigkeit kann nicht einmal
mehr im Ansatz gesprochen werden.
Ich komme auf die „Information für die Truppe“ zurück. Hier erklärt der Sprecher der Grünen, Herr
Nachtwei, dass er und die Grünen insgesamt für eine
Freiwilligenarmee einträten. Ich bin gespannt, wie die
grüne Rednerin gleich begründen wird, warum Sie den
Antrag der FDP ablehnen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Einmal mehr befassen wir uns heute in diesem
Hause auf Antrag der FDP-Fraktion mit der Aussetzung
der Wehrpflicht,
({0})
offenbar einem Herzensanliegen der Liberalen. Denn bereits in der vergangenen Wahlperiode haben sie drei Anträge gleichen Inhalts in den Bundestag eingebracht.
Eine Mehrheit haben sie dafür nicht gefunden. Sie werden sie auch heute nicht erhalten. Unsere Position, die
Wehrpflicht beizubehalten, hat nichts von ihrer Richtigkeit verloren.
Viele Argumente tragen Sie nicht dagegen vor. Ganze
zehn Zeilen - Überschrift und Datum schon mitgezählt umfasst der Text Ihres Antrags: Sicherheitspolitisch sei
die Wehrpflicht nicht mehr erforderlich; mangelnde
Dienstgerechtigkeit entziehe ihr die gesellschaftliche
Akzeptanz.
({1})
Vielleicht fällt die Begründung Ihrer Forderung deshalb
so kurz aus, weil Sie sich selbst der Argumente für eine
Abschaffung der Wehrpflicht nicht so sicher sind.
({2})
Ich verstehe das, weil Ihre Ablehnung erst neueren Datums ist.
Sie haben in dieser Frage in den vergangenen Jahren
einen weiten Weg zurückgelegt. Wolfgang Gerhardt antwortete 1995 jenen, die nach dem Ende des Kalten Krieges die Wehrpflicht infrage stellten:
Die Verteidigung unserer Freiheit muss auch in Zukunft die Angelegenheit aller bleiben. Der Schutz
von Freiheit und Recht ist nicht ausschließlich als
Leistung von Berufssoldaten zu verstehen. Theodor
Heuss hat die Wehrpflicht deshalb zu Recht als legitimes Kind der Demokratie bezeichnet. Der frühere Bundespräsident hat sie als konstitutives
Merkmal unserer Streitkräfte genannt.
Wir sprechen uns für die Beibehaltung der Wehrpflicht aus. Sie ist Ausdruck des Willens einer Demokratie, die Verteidigung der Freiheit als ständige
Aufgabe in der gesamten Gesellschaft zu verankern. Wir werden den Gedanken der Wehrpflicht
nicht aufgeben, nur weil es schwieriger geworden
ist, eine Wehrpflichtarmee zu organisieren.
So Herr Gerhardt.
({3})
Ich sage: Richtig! Deshalb bleiben wir bei der Wehrpflicht und werden Ihren Antrag ablehnen.
({4})
Ihr Sinneswandel erfolgte im Sommer 2000. Er ging
sehr schnell. Noch kurz vor der parlamentarischen Sommerpause, am 7. Juni 2000, hat die FDP einen Entschließungsantrag ins Parlament eingebracht, in dem ihre
Fraktion sich für eine Reduzierung des Wehrdienstes auf
maximal sechs Monate aussprach. Von einem Ende der
Wehrpflicht war damals noch keine Rede.
Aber kaum war die Sommerpause vorüber, überraschten Sie uns am 11. Oktober mit einem neuen Antrag, in
dem nun die Aussetzung der Wehrpflicht gefordert wurde.
Dazwischen lag ein Parteitag, der - so kann man der Presseberichterstattung entnehmen - von der damals in Ihrer
Partei populären „Projekt 18“-Euphorie geprägt war.
({5})
Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte damals treffend,
dass gravierende inhaltliche Positionsveränderungen allerdings einen höheren Glaubwürdigkeitsgehalt erreichten, könnte man sie denn von dem Verdacht befreien, sie seien doch nur Revuenummern
in einer großen Profilierungsshow.
({6})
Wir Sozialdemokraten haben uns im Wahlprogramm
zur Bundestagswahl 2002 ausdrücklich für die Wehrpflicht ausgesprochen. Aber natürlich sehen wir, dass die
Welt und das sicherheitspolitische Umfeld sich gewandelt haben und weiter wandeln und dass dies nicht ohne
Folgen für die Bundeswehr bleiben kann. Deshalb ist es
richtig, die Wehrform immer wieder auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen, wie es im Koalitionsvertrag unserer
rot-grünen Regierung steht. Deshalb hat die Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt 1998 weit reichende
Reformen der Streitkräfte auf den Weg gebracht.
({7})
Das ist kein einfacher Prozess, der auch nicht in kurzer
Zeit jedes Problem löst, doch wir sind auf dem richtigen
Kurs. Die Reform muss übrigens bei voller Fahrt vorgenommen werden, denn parallel zum Umbau der Streitkräfte sind mehr als 8 000 Soldaten im Auslandseinsatz.
Seit Beginn unserer Regierungszeit sind Anforderungen an die Bundesrepublik Deutschland hinzugekommen, die sich vorher niemand hätte träumen lassen: Einsätze gegen den Terrorismus wie auch unsere
Beteiligung an der ISAF-Truppe in Afghanistan, weit
außerhalb des alten NATO-Gebiets - out of area, wie
man früher sagte. Natürlich leisten Wehrpflichtige und
auch Zeitsoldaten in Deutschland einen Beitrag zum
Kampf gegen den Terrorismus, wenn sie Kasernen unserer amerikanischen Verbündeten bewachen.
({8})
Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das ist nicht einfach ein Dienst, den man schlicht abschaffen kann.
Der Bundesminister der Verteidigung hat deshalb im
Mai neue Verteidigungspolitische Richtlinien mit Vorgaben für den künftigen Weg der Bundeswehr festgelegt.
({9})
Jetzt sind wir dabei, die Weiterentwicklung der Bundeswehr zu konkretisieren. Peter Struck hat in seinem
Hause die entsprechende Weisung erlassen. Er hat sich
in diesem Zusammenhang ausdrücklich dafür ausgesprochen, an der Wehrpflicht von neun Monaten festzuhalten, sie aber neu auszugestalten und den neuen Strukturen und Aufgaben der Bundeswehr anzupassen. Die
SPD-Fraktion begrüßt die Schritte, die der Minister beabsichtigt, auch sein Bekenntnis zur Wehrpflichtarmee.
({10})
Wir Verteidigungspolitiker der SPD-Fraktion haben
uns im Juli ebenfalls deutlich für die Beibehaltung der
Wehrpflicht ausgesprochen,
({11})
verbunden mit der Feststellung, dass der Wehrdienst sich
den veränderten politischen Rahmenbedingungen anpassen muss. Nur eine Wehrpflicht, die auf der Höhe der
Zeit ist, wird Bestand haben. Wichtig ist für uns: Die
Ausgestaltung des Dienstes, Ausbildung und Aufgaben
haben sich an den militärischen Erfordernissen zu orientieren.
Lassen Sie mich einige Worte zum verfassungsrechtlichen Rahmen sagen, weil in der öffentlichen Diskussion, auch von Ihnen, oft der falsche Eindruck erweckt
wird,
({12})
allein die sicherheitspolitische Notwendigkeit des Kalten
Krieges habe die Wehrpflicht begründen können.
Das Grundgesetz hat die Entscheidung zwischen
Wehrpflichtarmee und Freiwilligenheer ausdrücklich
dem Gesetzgeber überlassen. Wir in diesem Hause haben diese politische Entscheidung zu treffen. Selbst
wenn Ihre Prämisse richtig wäre, dass die sicherheitspolitische Lage keine Wehrpflicht mehr erfordere - was ich
bestreite, aber natürlich kann man darüber diskutieren -,
würde sich hieraus kein Automatismus für ihre Abschaffung ergeben.
({13})
- Das ist Ihnen unbenommen. Es ist mir immer wieder
eine Freude, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Ich bin
mir auch sicher, dass dies, nachdem Sie in der letzten
Legislaturperiode drei Anträge gestellt haben, nicht der
letzte gewesen sein wird.
Die Entscheidung für oder gegen die Wehrpflicht ist,
so das Verfassungsgericht, eine grundlegende staatspolitische Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des
staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und
bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen
Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische, wirtschaftsund gesellschaftspolitische Gründe zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat. Dazu sind wir verpflichtet.
Nach Abwägung aller Argumente sprechen nach unserer
Auffassung auch unter den geänderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen fast fünf Jahrzehnte nach ihrer Einführung gute Gründe für die Beibehaltung der
Wehrpflicht.
Die Wehrpflicht sichert die Professionalität der Bundeswehr. 40 bis 50 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten entschließen sich während des Grundwehrdienstes
für ein längerfristiges Engagement in den Streitkräften.
Gerade vor dem Hintergrund der teilweise erheblichen
Probleme zum Beispiel unserer NATO-Partner ohne
Wehrpflicht, neues und vor allem qualifiziertes Personal
zu gewinnen, ist dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil des Wehrdienstes.
Wehrpflichtige bringen ein großes Potenzial an allgemeiner und fachlicher Bildung mit. 30 Prozent der
Grundwehrdienstleistenden haben die mittlere Reife,
30 Prozent die Fachhochschulreife oder Abitur, fast
40 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung. Die
Wehrpflicht hat einen entscheidenden Anteil an der Professionalität unserer Bundeswehr.
Auch die Möglichkeit, kurzfristig im Inland auf eine
größere Zahl von Soldaten zurückgreifen zu können, hat
ihren Sinn keineswegs gänzlich verloren. Dies gilt für
denkbare Bedrohungen durch den Terrorismus ebenso
wie für Naturkatastrophen oder Unglücke.
Vielleicht ist es auch hilfreich, sich ein paar Zahlen zu
vergegenwärtigen: Mehr als 8 Millionen junge Männer
haben in der Bundeswehr seit ihrer Gründung gedient.
Die Wehrpflicht sorgt - auch heute - in jedem Jahr für
den stetigen Austausch von rund 100 000 jungen Soldaten; das ist ein gutes Drittel der gesamten Streitkräfte.
Dadurch bleibt die enge Verbundenheit von Bundeswehr und Gesellschaft gewahrt. Dies ist in Zeiten, in
denen unsere Soldaten weit über die Grenzen NATO-Europas hinaus einen schwierigen und gefährlichen Dienst
versehen, wichtiger als je zuvor.
Es besteht ja nicht nur die Gefahr, dass sich das Militär von der Gesellschaft abkapselt - das ist heute wirklich nicht unser Problem -, sondern auch, dass sich die
Gesellschaft von der Bundeswehr abwendet, dass das
Militärische dem Zivilen fremd wird. Dem beugt die
Wehrpflicht mit ihren Grundwehrdienstleistenden und
ihren FWDLern erfolgreich vor. Das haben auch Sie
wahrscheinlich einmal so gesehen, aber heute vertreten
Sie eine andere Position.
Das mag auch dazu beitragen, dass wir in Deutschland uns mit Auslandseinsätzen manchmal schwerer tun
und die Bevölkerung sich stärker damit beschäftigt als in
manchen anderen Ländern. Das ist kein Nachteil. Im Gegenteil, bei uns ist es mittlerweile eine gute, verfassungsfeste Tradition, dass Beschlüsse über Auslandseinsätze
vom Parlament gefasst werden. Das ist gut so und das
bleibt so.
Mit der Wehrpflicht stehen immer auch der Zivildienst und die Ersatzdienste bei freiwilligen Feuerwehren oder dem Technischen Hilfswerk zur Disposition.
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt bestätigt,
dass die Politik die Auswirkungen auf den Zivildienst in
Betracht ziehen darf. Aus meiner Sicht muss sie das
auch. Allerdings kann - das ist klar - der Zivildienst
nicht zur Legitimation der Wehrpflicht als solcher herangezogen werden.
({14})
- Das tut der Minister nicht.
({15})
- Natürlich muss das abgewogen werden. Auch das gehört in diesen Zusammenhang. Bei 34 Punkten ist 26 ja
eine gute Nummer. Das ist ein wichtiger Punkt. Deshalb
erwähne ich das auch hier.
({16})
Auch wenn es vielleicht in manchen Ohren etwas altmodisch klingen mag, möchte ich noch einen anderen
guten Aspekt der Wehrpflicht nennen: Jeder taugliche
Mann im entsprechenden Alter ist verpflichtet, Wehr-,
Zivil- oder Ersatzdienst zu leisten. Das ist bindend, eine
Pflicht, die vielleicht als überholt und nicht mehr zeitgemäß empfunden werden mag. In einer Zeit aber, in der
persönliche Interessen zunehmend über das Gemeinwohl gestellt werden, wäre es das falsche Signal, einen
verbindlichen und sinnvollen Dienst an der Gesellschaft
aufzukündigen.
Aus den Gründen, die ich genannt habe, werden wir
Sozialdemokraten die Wehrpflichtarmee nicht leichtfertig aufgeben. Auch 46 Jahre nach ihrer Einführung
spricht vieles für sie. Dass ihre Ausgestaltung den jeweiligen militärischen Erfordernissen angepasst werden
muss, ist nicht neu. So war es immer. Deswegen variierte, um ein Beispiel zu nennen, die Dauer des Grundwehrdienstes in Abhängigkeit von der sicherheitspolitischen Lage: Mal waren es zwölf, mal 18, zu meiner Zeit
15, mal zehn Monate; jetzt sind es neun Monate. Wir
bleiben mit der Wehrpflicht flexibel. Eine kurzfristige
Aussetzung
({17})
ohne Rücksicht auf die Auswirkungen, wie Sie in Ihrem
Antrag fordern, lehnen wir ab.
Schönen Dank.
({18})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anita Schäfer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der 11. September 2001 hat uns nicht nur den
Terrorismus als Bedrohung aufgezeigt. An diesem Tage
sind so gut wie alle Vorhersagen über die sicherheitspolitische Zukunft Deutschlands und seiner Verbündeten zusammengestürzt. Dies war auch für die Wehrpflicht und
ihre sachliche Notwendigkeit von nachhaltiger Bedeutung.
Bevor ich zu der angeblich fehlenden Dienstgerechtigkeit komme, möchte ich Ihnen daher einige Worte
über die sicherheitspolitische Sinnhaftigkeit der allgemeinen Wehrpflicht sagen.
Auslandseinsätze sind die große militärische Aufgabe
unserer Zeit, aber sie sind nicht alles. Nicht nur am
Hindukusch, auch in Heidelberg hat die Bundeswehr
Anita Schäfer ({0})
Aufträge zu erfüllen. Für beides brauchen wir die Wehrpflicht, aber eine Wehrpflicht, die sinnvoll gestaltet wird.
Die Debatte über den Sinn der Wehrpflicht wurde erst
richtig laut, als Rot-Grün den Wehrdienst auf neun Monate verkürzt hat. Diese neun Monate sind die Schmerzgrenze; für manche Einheiten ist sie damit sogar überschritten, weil der Verkürzung keine konsequente
Strukturreform folgte. Dauer und Inhalte müssen ein
Ganzes ergeben.
Aus den zahlreichen Gründen für eine Wehrpflicht
- etwa Nachwuchsgewinnung, Verankerung der Truppe
in der Bevölkerung, Aufwuchsfähigkeit der Truppe, bessere Qualifikation der Rekruten und besonders der
Mannschaften, bessere soziale Mischung der Soldaten in
der Bundeswehr - greife ich drei heraus: die Aufwuchsfähigkeit der Truppe, die Bedeutung der Wehrpflichtigen
auch für Auslandseinsätze und die soziale Mischung in
der Bundeswehr.
Im August habe ich die Bundesregierung gefragt, wie
viele zivile Infrastrukturobjekte mit militärischer Bedeutung von der Bundeswehr betreut werden. Es sind
etwa 3 500 zivile Objekte. Es geht hier also nicht um
Kasernen, Depots und Stützpunkte. Für diese 3 500 Objekte - darunter Bahnhöfe, Tankanlagen und Eisenbahnbrücken - sind nach Auskunft der Regierung immerhin
25 000 nicht aktive Soldaten der Heimatschutztruppe
vorgesehen.
({1})
- So würde ich das nicht bezeichnen. - Diese Zahl wirkt
imposant; aber rechnen wir nach: Das sind 7,1 Soldaten
pro Objekt. Damit kann vielleicht tagsüber eine Eisenbahnbrücke bewacht werden, aber kein Fernbahnhof und
kein großes Tanklager.
Warum habe ich Heidelberg erwähnt? In Heidelberg
bewacht die Bundeswehr eine US-Liegenschaft mit Soldaten, die aus der aktiven Truppe zusammengesucht
wurden. Hier und an anderen Standorten stehen von
Bootsbesatzungen der Marine bis zu Angehörigen der
Luftwaffe Soldaten, die in einem Spannungsfall andere
Aufgaben erfüllen müssen, also dann nicht mehr zur
Verfügung stehen. Nur die Wehrpflicht schafft hier Personalreserven, nur sie hat die wichtige Aufwuchsfähigkeit, die aktive Truppe zu entlasten.
Die Polizei ist heute auch ohne Krisen schon überlastet. Wir benötigen klare Rechtsgrundlagen und Zuständigkeiten, um in besonderen Gefährdungslagen den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen ihrer besonderen
Möglichkeiten ergänzend zu Polizei und Bundesgrenzschutz zu ermöglichen. Sie sehen also: Die schmalen
Ressourcen für diese wichtige Aufgabe ruhen auf den
Schultern unserer Wehrpflichtigen. Ohne Wehrpflicht
hätten wir diese Reserven nicht.
Die Zukunft der Wehrpflicht liegt daher auch in einem modernen Konzept für den Heimatschutz. Nicht
nur im Objektschutz: Wehrpflichtige können auch als
Sanitäter, Pioniere oder ABC-Abwehrsoldaten in einem
neu organisierten Heimatschutz wichtige Aufgaben
übernehmen. Ob Flutkatastrophe, Anschlag mit C-Waffen oder ein sonstiges Großenschadensereignis: Wir
müssen ruhende Strukturen aufrufen können.
Von Heidelberg wieder an den Hindukusch. Auslandseinsätze sind ohne Wehrpflichtige nicht zu leisten. Freiwillige Wehrpflichtige stellen hier über ein Drittel der
Mannschaften und sie erfüllen ihre Aufträge hervorragend. Viele Wehrpflichtige schließen Lücken, die in der
Truppe in der Heimat entstehen. Sie sehen also: Wehrpflichtige erfüllen auch hier sicherheitspolitisch wichtige
Aufgaben. Allein an diesen beiden Beispielen erkennen
Sie die sicherheitspolitische Notwendigkeit der Wehrpflicht.
Die Wehrpflicht ist aber auch notwendig, um die richtige Mischung an Personal für die Bundeswehr zu gewinnen. Eine Armee, die sich mit neuen jungen Wehrpflichtigen immer geistig jung hält, eine Armee, in der
sich Wehrpflichtige einbringen können, ist eine Armee,
wie sie für unsere Sicherheitsvorsorge sehr gut geeignet
ist. Abgesehen davon ist bei gleicher Truppenstärke eine
Berufsarmee immer viel teurer. In Ländern ohne Wehrpflicht muss mit enormen Summen um Rekruten geworben werden. Trotzdem melden sich nicht immer die Besten.
Es stellt sich aber die Frage, ob eine allgemeine
Wehrpflicht noch den Bedürfnissen der Gegenwart genügt. Neben dem militärischen Heimatschutz stehen
noch die Feuerwehren, das Technische Hilfswerk, die
Rettungsdienste und andere gesellschaftliche Einrichtungen, die im Notfall auf die Leistungsbereitschaft vieler
Menschen angewiesen sind. Ohne Vorbereitung und
Ausbildung geht das aber nicht. Wir müssen vielleicht
darüber nachdenken, von allen jungen Menschen einen
Beitrag für die Gemeinschaft zu fordern.
({2})
Viele junge Frauen leisten schon heute ein freiwilliges soziales Jahr, während junge Männer, die ausgemustert werden, keine gemeinnützige Aufgabe übernehmen
müssen. Aus einer Vielzahl von Gründen leistet heute
etwa ein Drittel eines wehrpflichtigen Jahrgangs überhaupt keinen Dienst. Etwa 30 Prozent eines Jahrgangs
verweigern den Wehrdienst; 20 Prozent werden aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert; 10 Prozent sind
Wehrdienstausnahmen. Aber über ein Drittel leistet seinen Wehrdienst. Nur etwa 2 Prozent der tauglich Gemusterten dienen nicht. Dieses Problem an den Wehrdienstleistenden und ihren Aufgaben festzumachen
verzerrt die Perspektive. Der Weg weist nicht in die Aussetzung der Wehrpflicht, sondern eher in die Erweiterung der Möglichkeit zu dienen. Das Prinzip „Für jeden
eine Aufgabe nach seinen Fähigkeiten“ sollte in diesem
Zusammenhang nicht vergessen werden.
Noch ein Wort zur Neuordnung der Kriegsdienstverweigerung durch Rot-Grün. Die Regierung hat die
Verweigerung des Wehrdienstes zu einer Formsache
gemacht, die nicht mehr den Anspruch einer Gewissensentscheidung erheben kann. Ich zolle daher jedem jungen Mann Respekt, der nicht der Verlockung, dass Verweigern so einfach wie noch nie ist, folgt und seinen
Wehrdienst antritt. Die Frage der Dienstgerechtigkeit beAnita Schäfer ({3})
trifft also nur eine geringe Anzahl von jungen Männern,
nicht aber die Bundeswehr. Hier muss ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz für den Dienst an der Gemeinschaft
gefunden werden. Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch notwendig und gesellschaftspolitisch akzeptabel.
Nach Abwägung aller Faktoren komme ich zu dem
Schluss, dass wir die allgemeine Wehrpflicht aus vielen
Gründen benötigen. Staatliche Sicherheitsvorsorge ist so
wichtig, dass wir sie immer über den Tag und das Jahr
hinaus betrachten müssen. Dem vorliegenden Antrag,
lieber Herr Nolting, können wir daher nicht zustimmen.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Tritz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage der Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht ist ein Abwägungsprozess. Deshalb, Herr
Nolting, können wir die Diskussion ganz unaufgeregt
und in aller Ruhe führen.
({0})
Das Hauptargument für den Erhalt der Wehrpflicht ist
die Nachwuchsrekrutierung. Wir holen pro Jahr circa
100 000 junge Männer aus ihrer Lebensplanung zum
Dienst an der Waffe, damit einige wenige Tausend übrig
bleiben, die sich nach dem Grundwehrdienst als Berufssoldaten verpflichten. Jedem einzelnen jungen Mann,
der zum Wehrdienst herangezogen wird, müssen wir erklären, warum ausgerechnet er zur Bundeswehr muss
und der gleichaltrige Freund von nebenan nicht, warum
er, wenn er verweigert, einen mehrmonatigen Ersatzdienst leisten muss, die Freunde aber gleich eine Berufsausbildung oder ihr Studium beginnen dürfen. Von Gerechtigkeit, von Wehrgerechtigkeit kann hier keine Rede
sein.
({1})
Es gibt genügend junge Menschen, die eine Karriere bei
den Streitkräften anstreben würden, wenn man ihnen
denn ein attraktives Angebot unterbreitet, aber freiwillig
und zu einer Zeit, die in ihren persönlichen Lebensentwurf passt.
Mit dem Ende des Kalten Krieges steht die klassische
Landesverteidigung nicht mehr im Vordergrund. Heute
haben wir es mit Bedrohungen zu tun, die anderer Art
sind. Der internationale Terrorismus, Regionalkonflikte,
neue asymmetrische Kriege usw. ergeben für die Streitkräfte gänzlich neue Aufträge, zum Beispiel Peacekeeping-Einsätze. Diese neuen Anforderungen an die
Bundeswehr erfordern eine moderne Ausstattung, eine
schnelle Einsatzbereitschaft und gut ausgebildete Spezialisten.
({2})
Ausgerechnet mit der antiquierten Wehrpflicht wollen
wir die Bundeswehr reformieren? Das ist fragwürdig.
Eine flexible, moderne Einsatzarmee, bestehend aus Soldaten, die wir zwangsverpflichten, ist nicht mehr zeitgemäß.
({3})
Unsere europäischen Nachbarn haben das längst erkannt; Sie haben es angesprochen. Frankreich, Spanien,
Belgien und die Niederlande haben keine Wehrpflicht
mehr. In Italien, Portugal, der Slowakei, in Slowenien,
Tschechien und Ungarn wird sie spätestens in drei Jahren ausgesetzt oder abgeschafft sein. Die USA, Kanada
und Großbritannien haben sowieso keine.
Wir können von unseren europäischen Partnern lernen, dass die positiven Erfahrungen bei der Umstellung
auf eine Berufsarmee überwiegen und welche Fehler
wir vermeiden können. Die Niederländer zum Beispiel
widerlegen die Bedenken gegen eine Abschaffung der
Wehrpflicht ganz deutlich. In den Niederlanden ist kein
Staat im Staate geschaffen worden.
({4})
Das Ansehen der Streitkräfte ist hoch. Die Berufssoldaten sind in der Gesellschaft stark verwurzelt. Das Rekrutieren von Nachwuchs gelingt mittlerweile durch ein
umfangreiches Maßnahmenpaket, mit dem das Bewerberaufkommen erhöht wurde. Die Armee wurde reformiert, effizienter und letztendlich kostengünstiger.
Wer behauptet, eine Berufsarmee könne sich zu einem Söldnerheer entwickeln, unterschätzt, dass deutsche
Soldaten zum Staatsbürger in Uniform ausgebildet werden
({5})
und dass wir seit Jahrzehnten viel Wert auf die innere
Führung legen, die selbstverständlich weiterentwickelt
werden muss. Auch unsere jetzigen Berufs- und Zeitsoldaten sind keine Rambos, sondern Menschen, die ihre
Aufgaben verantwortungsvoll ausüben.
({6})
Die Wehrpflicht hat keine Zukunft und es ist nur noch
eine Frage der Zeit, bis die Freiwilligenarmee kommt.
Im Zuge der weiteren Reformen der Bundeswehr ist es
von daher nur konsequent, jetzt den Ausstieg aus der
Wehrpflicht zu planen. Die Wehrpflicht ist ein Hemmschuh für Reformen, sie ist ein Auslaufmodell.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir begrüßen Ihr Engagement, schließlich greifen Sie eine
grüne Herzensangelegenheit auf. Wir haben aber noch
- jetzt verrate ich kein Geheimnis - Diskussionsbedarf
mit unserem Koalitionspartner.
({8})
Das halte ich bei der Tragweite dieser Entscheidung
auch für völlig in Ordnung. Wir brauchen dazu Zeit und
wir werden sie uns nehmen.
({9})
Ich sehe, dass Sie momentan Schwierigkeiten im eigenen Lager haben. Sie haben sich weitestgehend marginalisiert und brauchen natürlich dringend ein Thema, mit
dem Sie in der Öffentlichkeit wieder wahrgenommen
werden.
({10})
Das ist natürlich auch nachvollziehbar und ich kann verstehen, dass Sie die Regierungsfraktionen vor sich hertreiben wollen; uns ist das Thema aber zu wichtig dafür.
({11})
Schließlich geht es um die Zukunft der Bundeswehr.
Danke.
({12})
Frau Kollegin Tritz, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und
wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jürgen Herrmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Kollegin, auch ich beglückwünsche Sie zu Ihrer
ersten Rede und wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem
weiteren Weg in diesem Hohen Hause.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute diskutieren wir über die Aussetzung
der Wehrpflicht. Für meine Kolleginnen und Kollegen
der FDP ist das die Lösung schlechthin. Für mich bedeutet sie jedoch den Einstieg in den Ausstieg aus der Wehrpflicht.
Natürlich ist es legitim, die Wehrpflicht nach 50 Jahren auf den Prüfstand zu stellen. Es ist keine Frage, dass
wir es heute mit anderen sicherheitspolitischen Anforderungen zu tun haben. Das Freund-Feind-Bild hat sich
massiv verschoben. Nicht mehr die Bedrohung durch die
Staaten des ehemaligen Ostblocks steht im Fokus der
Armeen, sondern der Kampf gegen die asymmetrischen
Gefahren terroristischer Aktivitäten. Die daraus erwachsenden Bündnisverpflichtungen erfordern eine Armeestruktur, die flexibel, hoch qualifiziert und von einer
breiten Mehrheit der Menschen getragen wird.
Aus gesellschaftspolitischen Erwägungen können
wir es uns gar nicht leisten, die allgemeine Wehrpflicht
abzuschaffen. Das Image unserer Soldaten im Ausland
ist besser denn je. Sie sind Botschafter des Friedens für
Deutschland, das seit mehr als 50 Jahren auf eine stabile
demokratische Vergangenheit zurückblicken kann. Die
Soldaten helfen beim Aufbau friedlicher Strukturen in
Mazedonien, im Kosovo und in Afghanistan. Bei der Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe sind nicht nur freiwillig länger dienende Wehrpflichtige vor Ort beteiligt, sondern auch ihre wehrpflichtigen Kameraden in den
deutschen Standorten. Bei der Bewältigung von Katastrophen - ich erinnere hier insbesondere an das Elbeund Oderhochwasser - haben sie unermessliche Hilfeleistungen erbracht und wurden zu Helden unserer Nation.
Dafür steht die allgemeine Wehrpflicht. Sie steht aber
auch für eine Armee, die sich nicht nur als hoch leistungsfähig, sondern auch als gesellschaftlich akzeptiert
und demokratietauglich bewährt hat. Mit der Wehrpflicht werden die hohen Qualitätsansprüche an die Bewerberinnen und Bewerber gehalten. Die Verankerung
des oft zitierten, aber nach wie vor gültigen Etiketts des
Staatsbürgers in Uniform bürgt für eine breite Akzeptanz
in der Gesellschaft.
Ich komme zum Stichwort Nachwuchsgewinnung.
Diesem Argument wird meines Erachtens viel zu wenig
Bedeutung beigemessen. Über lange Jahre kam etwa die
Hälfte der freiwillig Dienst leistenden Soldaten aus den
Reihen der Grundwehrdienstleistenden. Unter anderem
fällt mir beispielsweise der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Gert Gudera, ein, der 1966 als Grundwehrdienstleistender bei der Bundeswehr eintrat. Meine
Frage lautet: Hätte er diese Position heute inne, wenn er
damals nicht gezogen worden wäre?
Welche Anstrengungen wären nötig, um dieses Potenzial durch Werbung und finanzielle Prämien zu gewinnen? Die Erfahrungen unserer Bündnispartner sind beispielhaft. Belgien hat jüngst auf einer Expertentagung
konstatiert, dass es seit der Abschaffung der Wehrpflicht
zu extremen Nachwuchsproblemen gekommen ist. Nur
durch eine drastische Gehaltserhöhung ist es gelungen,
neue Soldaten zu rekrutieren.
In Spanien werden inzwischen junge Männer eingestellt, deren IQ bei 85 liegt. Das ist Sonderschulniveau
und lässt nicht auf eine hoch qualifizierte Berufsarmee
schließen. Selbst Amerika - dort genoss die Berufsarmee lange Zeit ein hohes Ansehen - zahlt hohe Prämien,
um die Sollstärke zu gewährleisten.
Da wir gerade bei den Finanzen sind, möchte ich anmerken, dass eine Freiwilligenarmee wesentlich höhere
Kosten verursachen würde. Bei den heutigen und zukünftigen Verteidigungsetats in Höhe von circa
24,4 Milliarden Euro ist dies kaum aufzufangen, es sei
denn, die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten würde
massiv heruntergefahren. Hier schließt sich jedoch
gleich die Frage an, wie wir unseren Bündnisverpflichtungen und dem Auftrag der Landesverteidigung in Zukunft nachkommen sollen. Zusätzlich müssten - wie in
unseren Nachbarländern - wesentlich höhere finanzielle
Mittel für die Anwerbung, die Qualifizierung und die
notwendige Attraktivitätssteigerung zur Verfügung gestellt werden.
Manöverkritik muss sein. Dringend überholungsbedürftig ist die inhaltliche Ausgestaltung des Grundwehrdienstes. Das sind wir insbesondere den jungen
Soldaten schuldig. Nicht nur aus Überzeugung entscheiden sich immer mehr junge Leute, den Dienst an der
Waffe zu verweigern und statt dessen Zivildienst zu leisten. Die Sinnhaftigkeit des Wehrdienstes muss wieder in
den Vordergrund gestellt werden. Wir müssen wieder
deutlicher herausstellen, dass junge Männer mit dem
Wehrdienst staatsbürgerliche Verantwortung für unser
Land übernehmen.
Deshalb ist es höchste Zeit, das Weißbuch endlich neu
aufzulegen; das ist längst überfällig.
({0})
Das letzte Weißbuch wurde 1994 in Umlauf gebracht.
Das neue Weißbuch ist für 2005 angekündigt. Ich bin gespannt, ob es die Bundesregierung nach ihren vielen Ankündigungen schafft, diesen Zeitplan einzuhalten.
Stichwort Wehrgerechtigkeit. Darüber ist schon viel
gesagt worden. Deshalb mache ich nur noch eine kurze
Anmerkung. Neu gefasste Auswahlkriterien sind ein erster Ansatz. Es ist positiv zu sehen, dass familiären Verpflichtungen Rechnung getragen wird und eine Ausbildung zunächst abgeschlossen werden kann. Wir müssen
aber aufpassen, dass dies nicht in die falsche Richtung
geht. Eine Reduzierung der Anzahl an Wehrpflichtigen
und der Grundwehrdienstdauer wäre kontraproduktiv
und käme einer Aushöhlung gleich.
({1})
Das Verfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom
Frühjahr dieses Jahres grundsätzlich die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht ein weiteres Mal eindeutig
bestätigt. Es hat den gesellschaftspolitischen Aspekt hervorgehoben. Im Urteil ist unter anderem von „der Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses … nach … der politischen Klugheit“ die Rede.
Daraus ergibt sich für mich nur eine Bewertung: Wer
die Wehrpflicht allein aus Kostengründen abschaffen
will, ist einäugig. Wer sie aussetzen will und glaubt, sie
problemlos wieder einführen zu können, ist blauäugig.
Wer aber die Wehrpflicht erhält und damit gesellschaftlich akzeptierte Risikovorsorge langfristig betreibt, handelt weitsichtig.
Lassen Sie uns die Erfolgsgeschichte der allgemeinen
Wehrpflicht fortschreiben! Aus den genannten gesellschafts- und sicherheitspolitischen Gründen kann es keinen anderen Weg geben.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1357 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({0}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur wirksamen Bekämpfung organisierter Schleuserkriminalität ({1})
- Drucksache 15/1560 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! 16 426 Personenfahndungserfolge, die Aufdeckung von 6 789 unerlaubten Einreisen, von fast
50 000 Straftaten und circa 45 000 Ordnungswidrigkeiten. Was sagen uns diese Zahlen? - Dies ist die Erfolgsbilanz der lagebildabhängigen, also der erlaubten
verdachtsunabhängigen Kontrolle an Bahnhöfen, an
Flughäfen und in Zügen zwischen dem 1. Januar 1999
und dem 31. Dezember 2002, also innerhalb von vier
Jahren. Die BGS-Beamten sind berechtigt, dort Personen
zu befragen und Ausweise zu kontrollieren. Aufgrund
der guten Arbeit der Beamten hatte jede 20. Kontrolle,
die im Rahmen dieser Befugnis durchgeführt wurde,
eine Strafanzeige zur Folge. Durch die Befragung kam
es zu über 10 000 Aufenthaltsermittlungen. Diese erweiterte Befugnis in § 22 Abs. 1 a Bundesgrenzschutzgesetz
wurde 1998 jedoch zeitlich begrenzt und läuft zum Ende
dieses Jahres aus.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diese Erfolgsgeschichte der BGS-Beamten, die übrigens nur
durch die Initiative eines CDU-Bundesinnenministers
möglich wurde, durch die genannten Kontrollbefugnisse
des Bundesgrenzschutzes auch in Zukunft fortsetzen.
({0})
Das ist im Sinne einer effektiven Bekämpfung der illegalen Einreise geboten.
Es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeit der verdachtsunabhängigen Kontrollen erhebliche Vorteile mit
sich bringt. Die seit Bestehen der Regelung erzielten beachtlichen Erfolge basieren auf den verbesserten Überprüfungsmöglichkeiten. Solche Erfolge wären ohne eine
solche Regelung nicht möglich gewesen. Die verdachtsunabhängige Kontrolle ist darüber hinaus ein unverzichtbares Instrument zur Bekämpfung des internationalen
Terrorismus geworden.
Auch die Bekämpfung der menschenverachtenden
Schleuserkriminalität konnte durch die Regelung erheblich verbessert werden. Verbrechen an Frauen, die
nach Deutschland gebracht wurden, um zur Prostitution
gezwungen zu werden, konnten in erheblicher Zahl aufgedeckt und verhindert werden. Bedenken Sie, meine
Damen und Herren, dass die Bekämpfung der organisierten Kriminalität nicht nur an den europäischen Außengrenzen, sondern auch im Inland geführt werden
muss. Ein Wegfallen dieser Befugnis hätte fatale Folgen
für unsere innere Sicherheit.
({1})
Umso unverständlicher ist es, dass es diese Regierung
mit Innenminister Schily zunächst versäumt hat, eine
Verlängerung der Befugnis in Angriff zu nehmen. Erst
aufgrund des Antrags der CDU/CSU-Fraktion hat die
Bundesregierung ihr Versäumnis eingestanden und ist
selbst aktiv geworden.
({2})
Leider sind Sie in Ihrem Gesetzentwurf nicht unserem
Vorschlag gefolgt, die Frist um fünf Jahre zu verlängern.
Mit Ihrer dreieinhalbjährigen Verlängerung greifen Sie
zu kurz. Warum ausgerechnet dreieinhalb Jahre? Konnte
sich die Regierungskoalition wieder einmal nicht einigen? Es hört sich mal wieder wie ein fauler Kompromiss
zwischen Rot und Grün an.
({3})
Darüber hinaus folgen Sie nicht unserem Vorschlag, vor
Ablauf der neuen Frist einen Evaluierungsbericht zu
erstellen.
({4})
Übrigens, meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von der Fraktion der Grünen: Ich habe mich unheimlich
gefreut, als ich erfahren habe, dass Sie unserem Antrag
dem Grunde nach zustimmen werden, zumal sich in dem
Protokoll der ersten Lesung vor Einführung der Maßnahme folgende Aussage Ihres damaligen Fraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch finden lässt:
({5})
Diese Maßnahme ist einer Demokratie unwürdig.
Sie passt in einen Polizeistaat, nicht in die freiheitlichste Republik, die wir je auf deutschem Boden
hatten und die wir behalten wollen.
({6})
Liebe Kollegen von den Grünen: Herzlich willkommen
im 21. Jahrhundert!
({7})
Natürlich sind wir uns auch bewusst, dass diese verdachtsunabhängigen Kontrollen Eingriffe in die persönliche Freiheit des Kontrollierten bedeuten. Darüber
hinaus verursachen diese Überprüfungen natürlich auch
nicht zu vernachlässigende Kosten durch die BGS-Beamten. Wir denken jedoch, dass diese Einschnitte und
Kosten verhältnismäßig sind.
Meine Damen und Herren, wir verzeichnen eine
wachsende grenzüberschreitende Kriminalität und ein
Ansteigen der unerlaubten Zuwanderung mit negativen
Auswirkungen auf die innere Sicherheit. Daneben stehen
wir kurz vor der EU-Osterweiterung. Vor diesem Hintergrund muss der Bundesgrenzschutz in der Lage sein,
seine grenzpolizeilichen Aufgaben effektiv und effizient
zu erfüllen.
Die seit 1998 eröffneten erweiterten Möglichkeiten
für den Bundesgrenzschutz müssen erhalten bleiben.
Stimmen Sie deshalb gemeinsam mit uns unserem Antrag zu.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Kemper,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schröder, wenn man Ihre Rede hört,
({0})
dann muss man den Eindruck erhalten, wir seien hier
völlig unterschiedlicher Meinung. Sie versuchen, Gegensätze zu konstruieren, wo keine sind.
({1})
Worum geht es hier? Es geht darum, die Gültigkeitsdauer eines Gesetzes, bei dem wir inhaltlich übereinstimmen, zu verlängern. Dessen Gültigkeit würde ohne
unser Eingreifen zum Jahresende auslaufen. Unser Innenminister hat die Initiative sehr frühzeitig und vor allen Dingen rechtzeitig auf den Weg gebracht.
({2})
- Sie können die Urheberschaft gerne für sich mit beantragen. Da sind wir relativ großzügig.
({3})
Sie weisen darauf hin, dass die Initiative ursprünglich
von einem anderen Bundesinnenminister ausgegangen
ist; das ist genauso richtig. Allerdings haben Sie vergessen, zu erwähnen, dass sich dieser Bundesinnenminister,
der mit diesem Gesetz zur Bekämpfung der organisierten
Kriminalität sicherlich Gutes geleistet hat, anschließend
selbst im Dunstkreis der organisierten Kriminalität bewegt hat und dann gehen musste,
({4})
weil er Bilanzfälschungen und Steuerhinterziehungen
begangen und Geld gewaschen hat.
({5})
Das sollte man nicht vergessen. Wenn Sie den einen Teil
erwähnen, dann sollten Sie den anderen auch erwähnen.
({6})
Es ist richtig, dass das Bundesgrenzschutzgesetz im
August 1998 geändert worden ist. Die 30-KilometerGrenze wurde aufgehoben und die Befugnisse des Bundesgrenzschutzes sind auf Bahnanlagen und Verkehrsflughäfen erweitert worden. Das hat sich in zweierlei
Hinsicht bewährt: zum einen bei der Verhinderung und
Unterbindung der illegalen Einreise und zum anderen
insbesondere nach dem 11. September 2001 als wichtiges Fahndungsinstrument im Rahmen der Bekämpfung
des internationalen Terrorismus.
Es ist selbstverständlich, dass ein freiheitlicher Staat
mit offenen Grenzen wie Deutschland auf solche Instrumentarien nicht verzichten kann. Es gibt ein hohes Maß
an Reisetätigkeit. Die grenzüberschreitenden Reisen gehören zu unserem Lebensstandard und zur Lebensqualität. Man muss allerdings darauf reagieren. Ein Instrument ist die Grenzüberwachung in der Form, wie sie
durch den Bundesgrenzschutz jetzt durchgeführt wird.
Dieses Instrument verliert bei offenen Grenzen natürlich
zunehmend an Wirkung. Nach der Osterweiterung wird
es noch weiter an Wirkung verlieren. Deswegen ist es
richtig, dass dem Bundesgrenzschutz durch das Gesetz
lagebedingte Kontrollmöglichkeiten auf Flughäfen
und Bahnhöfen mit internationalen Verbindungen eingeräumt werden.
({7})
Es ist auch richtig, dass der Bundesgrenzschutz sehr
erfolgreich gearbeitet hat. Sie haben einige Zahlen genannt. Es gab über 30 000 Anzeigen wegen Verstoßes
gegen das Ausländergesetz, über 4 000 Anzeigen wegen
des Verstoßes gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz
sowie gegen das Betäubungsmittelgesetz, über
4 000 Festnahmen und über 10 000 erfolgreich abgeschlossene Aufenthaltsermittlungen. Das alles ist richtig.
Daneben hat es Aufgriffe gegeben. In vielen dieser Fälle
wurde Rauschgift transportiert oder es wurde Menschenhandel mit Frauen aus der Dominikanischen Republik,
die dem Rotlichtmilieu zugeführt werden sollten, betrieben. Dies alles konnte unterbunden werden. Das alles
waren hervorragende Leistungen.
Es ist aber auch wichtig, dass die Gültigkeit dieses
Gesetzes nicht ausläuft - das ist klar -; denn dieses Gesetz stellt eine Kompensation für den durch das Schengener Abkommen bedingten Wegfall der Grenzsicherung dar.
Ich will auf Ihre Hauptvorwürfe kurz eingehen. Sie
fordern mit großem Brimborium eine Verlängerung um
fünf Jahre, während wir nur eine Verlängerung um dreieinhalb Jahre wollen. Ich glaube nicht, dass bedingt
durch diesen zeitlichen Unterschied von anderthalb Jahren ein Sicherheitsleck entstehen kann. Es ist völlig
gleich, ob wir nun am Ende oder zur Mitte der nächsten
Legislaturperiode prüfen: Wie hat sich dieses Gesetz bewährt? Ist es richtig, die Befristung zu verlängern? Können wir es auslaufen lassen?
Unser Vorschlag entspricht im Übrigen auch Ihren
Forderungen nach Bürokratieabbau und der Befristung
von Gesetzen. Genau das machen wir hier. Wir kommen
damit Ihren Forderungen sehr entgegen. Wir brauchen
keine Gesetze für die Ewigkeit. Gesetze müssen immer
wieder an die Gegebenheiten der inneren Sicherheit angepasst werden.
({8})
Das tun wir. Deswegen wird der Frage der Entfristung
in der nächsten Legislaturperiode eine ausreichende
Evaluierung vorangehen, bei der aufgelistet wird, ob
eine Verlängerung sinnvoll ist oder nicht. Ich denke, wir
sind auf einem guten Weg. Ich bin sicher, dass wir uns
bis zur zweiten und dritten Lesung über diese zeitliche
Diskrepanz einigen werden;
({9})
denn inhaltlich haben Sie an diesem Gesetz nichts auszusetzen.
({10})
Ich denke, die Verlängerung der Befristung dieses Gesetzes um dreieinhalb Jahre ist ein wichtiger Beitrag für
den Bundesgrenzschutz und die innere Sicherheit. Der
Bundesgrenzschutz und die Länderpolizeien leisten im
Bereich der inneren Sicherheit hervorragende Arbeit.
Wir sind verpflichtet, ihnen dazu die nötigen Instrumente an die Hand zu geben. Dieses Gesetz ist eines dieser Instrumente. Ich kann Sie nur ermuntern: Machen
Sie mit, damit wir im Bereich der inneren Sicherheit
dem Bundesgrenzschutz und den Länderpolizeien gemeinsam helfen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Gesetz, über dessen Befristungsverlängerung heute diskutiert wird, ist 1998 auf Initiative des damaligen Innenministers Kanther gegen Ende der Legislaturperiode verabschiedet worden. Die FDP - damals
zusammen mit der CDU/CSU in der Regierung - hat
ihm im Wege eines Kompromisses zugestimmt, obwohl
es in unserer Fraktion gewisse Bedenken gegen die Einführung verdachtsunabhängiger Kontrollen gegeben hat.
({0})
Wir haben damals aber durchgesetzt, dass diese neue
Befugnis zunächst auf fünf Jahre beschränkt wird, weil
wir der Meinung waren, das sei der ausreichende Zeitrahmen, um zu klären, ob sich eine solche Neuregelung
in der Praxis bewährt. Die fünf Jahre sind übrigens bewusst gewählt worden, weil wir die Diskussion über eine
Verlängerung oder Beibehaltung der Regelung aus dem
Bundestagwahlkampf 2002 herausnehmen wollten.
({1})
Daher können wir heute sine ira et studio über die
Fortführung sprechen. Wir alle stellen fest, dass diese
verdachtsunabhängigen Kontrollen ohne Zweifel zu
Fahndungserfolgen geführt haben. Insofern wundere
ich mich sowohl über den Antrag der CDU/CSU als
auch über die Ausführungen der SPD, in denen Sie beide
für eine weitere Befristung eintreten, nachdem Sie in Ihren Redebeiträgen zum Ausdruck gebracht haben, dass
dies eine unverzichtbare Maßnahme sei. Ich kann nicht
verstehen, warum Sie nicht für eine Verlängerung
schlechthin eintreten.
Wir von der FDP können es uns allerdings nicht so
leicht machen, und zwar aus folgendem Grund.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koschyk?
Nein, ich möchte meinen Gedanken im Zusammenhang vortragen. - Nach wie vor gilt, dass verdachtsunabhängige Kontrollen ein Fremdkörper in unserem
Rechtssystem sind.
({0})
Für einen polizeilichen Eingriff musste vor der Befugniserweiterung ein konkreter Verdacht als Voraussetzung
vorliegen. Der Wegfall dieser Voraussetzung war neu.
Daher muss man schon genau fragen: Ist dies wirklich
notwendig? Wir hatten gestern ein Gespräch mit Praktikern des Bundesgrenzschutzes, die sehr wohl der Meinung waren, die Fahndungserfolge, die der Kollege
Schröder gerade genannt hat, wären auch auf der Basis
des früheren Rechtes möglich gewesen.
({1})
Darüber wollen wir uns im Ausschuss noch einmal präzise informieren.
Ich nenne noch ein Argument, das wir in den Ausschussberatungen bedenken sollten. Wir haben der Befugniserweiterung damals zugestimmt, weil wir nicht
wollten, dass es beim Wegfall der Grenzkontrollen eine
Sicherheitslücke gibt. Infolge dessen hat es eine Logik,
wenn im Grenzraum verdachtsunabhängig kontrolliert
wird. Wir haben dem Gesetz damals im Wege des Kompromisses zugestimmt. Der jetzige Gesetzentwurf geht
aber viel weiter und lässt diese verdachtsunabhängigen
Kontrollen praktisch im gesamten Bundesgebiet zu. Je
weiter die Kontrolle räumlich von einer Grenze entfernt
ist, umso mehr fehlen die Logik und die Rechtfertigung,
eine solche verdachtsunabhängige Kontrolle als Ersatz
für eine Grenzkontrolle einzuführen.
Aus diesem Grunde bitte ich um Verständnis dafür,
dass wir von der FDP uns heute noch nicht auf unser Votum festlegen, sondern dass wir zunächst im Innenausschuss in einem Fachgespräch - vor allem mit Praktikern - das Für und Wider erörtern möchten.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
denke, dass der Herr Abgeordnete Stadler in sehr charmanter und offener Weise noch einmal deutlich gemacht
hat, wie problematisch die Rolle der Opposition in der
Innenpolitik ist, wenn sie vorher an der Regierung beteiligt war. Das gilt insbesondere, wenn es sich um den
kleineren und bürgerrechtlich orientierten Partner handelt.
({0})
Ich habe noch einmal die Protokolle der Anhörung
gelesen, die 1998 im Zusammenhang mit der Schaffung
der Sonderbefugnis - Herr Stadler hat das hier noch
einmal deutlich gemacht - stattgefunden hat. Ich muss
mich nicht von Rezzo Schlauch distanzieren, weil das,
was er damals gesagt hat und was Sie nicht aufgenommen haben, im Kern nach wie vor richtig ist.
({1})
Wir sollten nicht so tun, als hätten wir nicht im Polizeirecht eine Sonderbefugnis geschaffen, die natürlich ein
sehr relevanter Eingriff in Grundrechte ist und die von
der in der Strafprozessordnung geltenden Unschuldsvermutung abweicht.
({2})
Wir haben die Ermächtigung geschaffen, Bürgerinnen
und Bürger verdachtsunabhängig und anlassunabhängig
zu kontrollieren. Wir haben den Begriff der Prävention
sehr weit gedehnt. Ich teile die damals geäußerte Kritik.
Ich mache mir allerdings auch keine Illusionen und
glaube nicht, dass wir uns jetzt, nachdem die Schleierfahndung in allen Landespolizeigesetzen verankert ist,
in einer Situation befinden, die es uns erlaubt, eine sachliche Diskussion darüber zu führen, ob tatsächlich die
Regelung in § 22 des BGS-Gesetzes zu den Fahndungserfolgen geführt hat, von denen der Erfahrungsbericht
spricht, oder ob nicht in vielen Fällen zumindest ein vager Anlass für eine Kontrolle bestanden hat.
Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir den Begriff
der „verdachtsunabhängigen Kontrolle“ durch „lagebildabhängige Kontrolle“ ersetzen, weil sich „verdachtsunabhängig“ so schlecht anhört. Tatsächlich ändert sich
nichts, denn die Lagebilder, die den Kontrollen zugrunde
liegen, ergänzt durch grenzpolizeiliche Erkenntnisse,
sind nicht dokumentiert und nicht definiert. Sie sind weder zeitlich noch räumlich begrenzt.
({3})
Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger haben de facto
nicht die Möglichkeit, den Klageweg zu beschreiten.
Die damals in der Anhörung geäußerten Kritikpunkte
sind im Bundesrat insbesondere von CDU/CSU-geführten Ländern geteilt worden. So wurden Zweifel an einer
grundgesetzkonformen Kompetenzabgrenzung geäußert. Darüber wurde 1998 - das ist noch nicht so lange
her - auch im Bundesrat eine intensive Debatte geführt.
Ich teile die Kritik; denn ich habe mich sehr intensiv mit
dem Erfahrungsbericht befasst und habe Zweifel an der
tatsächlichen Effektivität der Befugnisnorm. § 22 des
Bundesgrenzschutzgesetzes ist geschaffen worden, um
die grenzüberschreitende Kriminalität zu reduzieren. Die
im Bericht aufgeführten Zahlen stehen tatsächlich jedoch zu weniger als 1 Prozent mit einem illegalen
Grenzübergang im Zusammenhang. Ich erwarte insofern
keinen Erfahrungsbericht, sondern eine ehrliche und
wissenschaftliche Evaluation.
({4})
Ich habe nur noch wenig Redezeit, die ich dazu nutzen möchte, Ihnen unsere Position zu erläutern. Weil die
damals vom Parlament in Auftrag gegebene Evaluierung
nicht vorliegt,
({5})
es aber schon Erfahrungswerte gibt, wollen wir möglichst schnell - noch in dieser Legislaturperiode - einen
Evaluierungsbericht. Deswegen ist eine kürzere Fristsetzung notwendig. Nach dieser Evaluierung können wir
sehr schnell feststellen, welchen Handlungsbedarf es im
politischen Bereich insgesamt gibt. Wir werden im Innenausschuss intensiv über die einzelnen Punkte reden.
Dort verläuft die Diskussion meistens etwas ruhiger als
im Plenum.
({6})
Danke schön.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister des Innern, Otto Schily.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
schon froh, dass wir uns wenigstens grundsätzlich darüber einig sind, dass die Frist verlängert werden soll.
({0})
Dann kann auch jeder hier mit einem Lorbeerkranz auftreten. Herr Schröder hat festgestellt, seine Fraktion habe
das erreicht. Wissen Sie, Herr Kollege Schröder, das
Ganze erinnert mich etwas an meine Kindheit. Ich hatte
den Berufswunsch, Lokomotivführer zu werden, und rief
immer, wenn der Zug abfuhr, „Puff! Puff!“, zog an irgendwelchen Hebeln und meinte, dadurch setze sich der
Zug in Bewegung.
({1})
Wenn das Ihrer Vorstellung von Gesetzgebung entspricht, lasse ich sie Ihnen gerne. Sie ist aber eher eine
Illusion.
({2})
Sie können sich sicherlich vorstellen, dass jeder Bundesinnenminister, der die Erkenntnisse, die wir aufgrund
der Erfahrungen mit der neuen Vorschrift gewonnen haben, kennt, dafür eintreten muss, diese Befugnis des
Bundesgrenzschutzes - das heißt der Bundespolizei, wie
diese Polizeieinheit künftig heißen wird - beizubehalten.
Was die hinsichtlich der weiteren Befristung in der
Koalition durchaus bestehenden Meinungsunterschiede
angeht, muss ich sagen - darauf hat der Kollege Stadler
schon hingewiesen - dass es diese auch in der damaligen
Koalition gegeben hat. Das wollen wir doch nicht wegdiskutieren.
({3})
Allerdings dürfen wir die Fakten auch nicht durcheinander bringen, Frau Kollegin Stokar.
({4})
Sie haben die Strafprozessordnung erwähnt, die aber mit
dem heutigen Thema nichts zu tun hat.
({5})
Sie haben in Ihrem nächsten Satz selbst festgestellt, dass
es um polizeiliche Prävention geht. Es geht in der Tat
nur darum. Lassen Sie die Strafprozessordnung beiseite!
Die Opposition macht im Zusammenhang mit der Ausweisung und der Einreise immer wieder denselben Fehler. Diesen Fehler sollten Sie sich nicht aneignen.
({6})
- Es ist gut, dass Sie aufseiten der CDU/CSU klatschen,
wenn ich Ihnen Ihren Fehler vorhalte.
({7})
Ich glaube auch nicht, Frau Kollegin Stokar, dass wir
unbedingt immer Regelungen treffen sollten, durch die
möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern ein Klageweg eröffnet wird. Wir haben heute bereits über den Bürokratieabbau geredet. Manche sagen, unser Rechtsstaat
sei zu einem Rechtswegestaat verkommen. Seien wir lieber froh, wenn wir solche Verfahren nicht brauchen.
({8})
Wir haben im Übrigen eine Evaluierung vorgenommen, Frau Kollegin Stokar. Es gibt einen ausführlichen
Bericht des Bundesgrenzschutzes. Sie haben die Zahlen bereits gehört, wir müssen sie nicht wiederholen.
Herr Kollege Schröder hat sie aus der Antwort der Bundesregierung vorgetragen. Das ist auch in Ordnung. Das
ist - darauf möchte ich Sie aufmerksam machen - aber
nur ein Teil dieses Berichtes. Es gibt noch einen anderen.
Die damalige Befristung hatte auch den Sinn, zu überprüfen, ob eine solche Befugniserweiterung zu einer Belastung der Bevölkerung führt bzw. eine willkürliche
Amtsausübung zur Folge hat. Davor müsste man auf der
Hut sein. Deshalb halte ich an dem Ausdruck „lageabhängige Kontrolle“ fest. Es geht nicht darum, Willkür zu
etablieren, dass zum Beispiel ein Bundespolizeibeamter
aus Willkür oder aus Jux und Tollerei irgendjemanden
einer Kontrolle unterwirft. Ich ermahne auch meine
Bundespolizeibeamtinnen und Bundespolizeibeamten,
mit den neuen Befugnissen sehr sorgsam umzugehen
und den Menschen sehr freundlich gegenüberzutreten,
damit die Kontrollen nicht als Belastung empfunden
werden. Ich glaube, dass dies in der Regel auch der Fall
ist.
({9})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit die Beamtinnen
und Beamten dafür loben, dass sie ihre schwierigen Aufgaben mit großem Erfolg bewältigen. Wir sollten gemeinsam die Leistungen unserer Bundespolizei feiern.
({10})
Wenn Sie den Bericht genau studieren, dann werden Sie
auch die Feststellung entdecken, dass es keine nennenswerten Beschwerden gibt. Das sollten Sie zur Kenntnis
nehmen.
Bei allem Lob, das ich an alle Seiten verteilt habe,
muss ich einen Wunsch äußern - Herr Kollege Stadler
hat das schon erwähnt -, über den in den Ausschussberatungen diskutiert werden sollte. Nachdem wir eine vernünftige Evaluierung vorgenommen haben - darüber
gibt es, wie gesagt, einen ausführlichen Bericht -, sehe
ich keinen einzigen Grund, warum wir eine neue Befristung vornehmen sollten - ich finde, an dieser Stelle sollten wir konsequent sein -, es sei denn, jemand ist der
Ansicht, dass sich das geltende Gesetz nicht bewährt hat.
Dann muss man natürlich über eine weitere Befristung
nachdenken.
Ich meine, dass wir das Gesetz unbefristet gelten lassen sollten. Aufgrund der Sachlage sehe ich keinen einzigen Grund, das anders zu handhaben. Ich appelliere an
Sie alle, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbeiten.
({11})
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Baumann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Minister Schily, ich finde es gut, dass Sie
das geltende Gesetz heute sehr positiv darstellen. 1998
hatten Sie noch einige Vorbehalte gegen dieses Gesetz;
das kann man im Protokoll nachlesen.
Seit 1998 ist der Bundesgrenzschutz befugt, auch außerhalb des 30-Kilometer-Grenzgebietes den Reiseverkehr auf Bahnhöfen und Flughäfen zu kontrollieren.
Diese Befugnis hat der Gesetzgeber damals vorbehaltlich der EU-Osterweiterung aufgenommen. Er hat damit
für eine sicherheitspolitische Kompensation des künftigen Wegfalls der Binnengrenzen in der EU gesorgt.
Heute, nach fünf Jahren Probezeit, können wir diesem
Instrument im Kampf gegen die Schleuserkriminalität
ein gutes Zeugnis ausstellen. Es hat sich bewährt und gilt
inzwischen als unverzichtbar für die Reduzierung der
Zahl der unerlaubten Einreisen.
Vor allem haben sich auch die Beamtinnen und Beamten des Bundesgrenzschutzes bewährt. Sie haben für die
erfolgreiche Anwendung des Gesetzes in der Praxis gesorgt. An dieser Stelle muss auch gesagt werden: Das Gesetz und seine Anwendung werden von der Bevölkerung
sehr gut angenommen und finden breite Zustimmung.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, unseren Beamtinnen und Beamten vom Bundesgrenzschutz
für ihre Arbeit ganz herzlich zu danken, die sie jeden
Tag für uns alle und für unsere Sicherheit leisten.
({1})
Der aktuelle Erfahrungsbericht des Bundesinnenministers zeigt, dass diese Regelung von 1998 bis heute
viel Positives gebracht hat. Meine Vorredner haben in
diesem Zusammenhang bereits eine Reihe von Zahlen
genannt, die ich nicht wiederholen möchte. Die erweiterten Kontrollmöglichkeiten des BGS haben sich auch als
eine sinnvolle Verstärkung für die Arbeit von Zoll und
Landespolizeien erwiesen.
Die Frist für die verdachtsunabhängigen Personenkontrollen läuft aber Ende 2003 aus. Daher hat die CDU/
CSU-Fraktion - mein Kollege Schröder hat darauf bereits hingewiesen - im September dieses Jahres den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Frist um fünf
Jahre eingebracht. Herr Minister, Sie schlagen eine Verlängerung um dreieinhalb Jahre vor. So weit liegen wir
also nicht auseinander. Ich denke, man wird sich hier
vernünftig verständigen können.
Die Bundesregierung sollte aber nicht glauben - das
möchte ich deutlich sagen, Herr Minister -, dass sie damit ihre Aufgaben, ihr Soll auf dem Gebiet der Sicherheit im Grenzbereich vollkommen erfüllt hat. Deutschland ist für die Herausforderung der organisierten
Kriminalität und des grenzüberschreitenden Menschenhandels noch nicht ausreichend gerüstet. Wir kennen Statistiken, die belegen, dass Schleusergruppen allein mit dem Schmuggel von Menschen in Europa mehr
als 5 Milliarden Euro verdienen. Das organisierte Verbrechen floriert. Es ist gut ausgerüstet, verschiebt flexibel seine Marschrouten und nutzt zielstrebig Sicherheitslücken, die irgendwo in der EU auftreten.
In einem Bericht der EU-Kommission von 2003 heißt
es: Die Sicherheit der Bürger vor der organisierten Kriminalität und dem Schmuggel von Gefahrengütern hängt
derzeit davon ab, wo die Grenzen der EU passierbar
sind. Die Analyse kann für uns nur bedeuten: Auch nach
dem Beitritt von Polen und Tschechien werden wir noch
für längere Zeit im Grenzbereich zu diesen Ländern
hohe sicherheitspolitische Standards beibehalten müssen. Derart negative Beispiele, Herr Innenminister, wie
beim Digitalfunk können wir uns einfach nicht mehr
leisten. Ich denke, durch die starre Haltung bei der Finanzierung blockiert die Bundesregierung gegenwärtig
die Einführung eines modernen Digitalfunksystems, das
alle Sicherheitsdienste dringend benötigen.
Aufgrund meiner persönlichen Kenntnisse des BGS
vor Ort an der sächsisch-tschechischen Grenze muss ich
leider sagen, dass es auch in vielen anderen Punkten derzeit noch Sicherheitsdefizite gibt, zum Beispiel in der
Technik, in der persönlichen Ausstattung der Beamten,
der Qualifizierung der Fortbildung oder auch - das ist
ein offenes Problem - hinsichtlich der angedachten Reduzierung der Zollbeschäftigten zum 1. Mai nächsten
Jahres. Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, den sicherheitspolitischen Nachholbedarf anzuerkennen und zu handeln.
({2})
Wir haben als Fraktion einen weiteren Antrag mit dem
Titel „Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung
tauglich machen“ in den Bundestag eingebracht; bei der
Beratung dieses Antrages werden wir uns erneut mit dem
heutigen Thema beschäftigen müssen. Die CDU/CSU
wird sich auch weiterhin für die Verbesserung der Sicherheit in Deutschland und an seinen Grenzen einsetzen. Ich
bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete
Otto Schily das Wort.
Herr Kollege Baumann, Sie haben es für erforderlich
gehalten, das leidige Thema Digitalfunk anzusprechen,
und das kritisierend und im Zusammenhang mit dem
Bundesinnenminister. Das ist nicht gerechtfertigt.
({0})
Der Bundesinnenminister - das muss ich für ihn, der ja
normalerweise auf der Regierungsbank sitzt, in Anspruch
nehmen - ist der Einzige, der den Digitalfunk zum gegenwärtigen Zeitpunkt wirklich energisch vorantreibt.
({1})
Die Schwierigkeiten liegen in der Tat bei den Ländern,
vor allen Dingen bei denen, die aus den Kreisen Ihrer
Partei regiert werden. Das ist die Realität.
Es ist gerade ein Beschluss der Finanzminister der
Länder gefasst worden, in dem die provokante Forderung aufgestellt worden ist, 50 Prozent der Kosten des
Digitalfunks sollten vom Bund getragen werden. Wenn
Sie Bundestagsabgeordnete und nicht Landtagsabgeordnete sind, dann müssten Sie einem solchen Beschluss
entschieden widersprechen. Ich habe bisher keinen
Mucks von Ihnen dazu gehört, außer im stillen Kämmerlein. Verbreiten Sie also in dieser Frage keine falschen
Nachrichten, sondern bleiben Sie bei der Wahrheit und
unterstützen Sie das sehr wichtige und vernünftige Projekt Digitalfunk in einer Weise, dass auch wirklich etwas
zustande kommt. Das, was bisher stattgefunden hat,
kann man nur als ewiges Karussellfahren bezeichnen.
Anstatt nur über Finanzierungsfragen zu reden und sich
dann nicht einigen zu können, sollte man lieber das tun,
was ich jetzt tue, nämlich das Ausschreibungsverfahren
voranbringen, damit am Ende ein Angebot der Industrie
vorliegt, welches als Grundlage der Diskussion über Finanzierungsfragen dienen kann. Ich wäre Ihnen wirklich
dankbar, wenn Sie in diesem Zusammenhang einen konstruktiven Beitrag leisten und die Dinge derart verzerrt
darstellen würden.
({2})
Zur Erwiderung Herr Baumann, bitte schön.
Herr Abgeordneter Schily, ich möchte Ihnen etwas
entgegnen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die Sicherheitsdienste und die Hilfsdienste dringend Digitalfunk brauchen. Es gibt in Europa nur zwei Länder, die
mit derart veralteten Funksystemen arbeiten: Albanien
und Deutschland.
({0})
Seit Jahren beschäftigen wir uns damit, seit Jahren wird
dieses Thema im Innenausschuss behandelt und seit Jahren gibt es auch mit den Ländern keine Einigung.
({1})
Ich erwidere Ihnen: In den Bundeshaushalt für dieses
Jahr ist kein einziger Euro eingestellt, um dieses System
einzuführen.
({2})
Wenn es anders ist, dann berichtigen Sie mich bitte!
({3})
Herr Körper, ich gebe Ihnen das Wort. Bitte.
Herr Kollege Baumann, da Herr Abgeordneter Schily
Ihre Kurzintervention jetzt nicht mehr erwidern darf,
übernehme ich das gerne.
Erstens. Sie sollten hier keine falschen Zahlen und
Tendenzen verbreiten, insbesondere was die Entwicklung an unseren Grenzen, die illegale Migration und die
organisierte Kriminalität anbelangt. Die Zahlen zeigen,
dass wir in diesen Bereichen sehr erfolgreich arbeiten.
({0})
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({1})
Zweitens. Das, was Sie zum Digitalfunk gesagt haben, ist unverantwortlich. Das habe ich Ihnen schon
beim letzten Mal gesagt. Es gibt bei uns keine Grundlage
dafür, dass die Länder 50 Prozent fordern. Der Bund ist
gegenwärtig am Endgerätebereich - es handelt sich dabei um analogen Funk - mit 8,5 Prozent beteiligt.
({2})
Daran erkennen Sie, dass die Forderung nach einer
50-prozentigen Beteiligung der Länder nichts als eine
Blockade dieses Projekts darstellt.
({3})
Es ist notwendig, dies einmal deutlich zu machen.
Da wir diese technischen Möglichkeiten in der Tat
brauchen, appelliere ich auch an Sie, Ihren Beitrag dazu
zu leisten, dieses Projekt umzusetzen. Im Übrigen können Sie dem Haushaltsentwurf entnehmen, dass wir einen Einstieg in dieses Projekt mit 5 Millionen Euro planen. Das wird ausreichend sein. Ich weiß, dass es das ist,
was wir für das Jahr 2004 brauchen.
({4})
- Entschuldigung, auch dieser Zwischenruf macht deutlich, Herr Grindel, dass Sie von dieser Materie keine Ahnung haben. Das habe ich Ihnen schon beim letzten Mal
bestätigt.
({5})
Jetzt sind wir faktisch in eine kleine neue Debatte eingestiegen. Dazu sind Kurzinterventionen und Erwiderungen darauf eigentlich nicht da. Damit sie kurz reagieren können, werde ich den Kollegen Binninger und
Burgbacher das Wort erteilen. Weitere Kurzinterventionen werde ich nicht zulassen; dazu müsste man sich
nämlich am Ende der Debatte gemeldet haben. Damit
alle fair behandelt werden, kommen sie beide noch an
die Reihe.
Herr Binninger, bitte.
Herr Minister, Herr Staatssekretär, es wundert mich
schon, dass das Stichwort Digitalfunk ausreicht, damit
Sie beide förmlich an die Decke gehen.
({0})
Das scheint seinen Grund zu haben. „Getroffene Hunde
bellen“, so lautet ein Sprichwort.
({1})
Herr Minister, ich möchte auf einen Punkt hinweisen.
Sie sagen, der Bund sei am Endgerätebereich mit nur
etwa 8,5 Prozent beteiligt. Das trifft zu. Wenn die Rede
davon ist, dass sich alle 16 Länder und der Bund zusammentun, weil sie nicht mehr bezahlen wollen, dann geht
es nämlich nicht um die Endgeräte, sondern um die
Summe der Mittel für den Netzaufbau. Die Endgeräte
gehören gar nicht dazu. Vom Netzaufbau haben die Bundesbehörden einen noch größeren Vorteil. Sie werden
mir zustimmen müssen, wenn ich behaupte, dass da
10 Prozent zu wenig sind.
Ich habe Ihnen schon in der letzten Debatte gesagt:
Dieses Projekt wird scheitern, wenn der Bund nicht bereit ist - sicherlich müssen sich auch die Länder bewegen -, mehr als 10 Prozent beizusteuern. Wenn der Bund
dies nicht tut, dann nimmt er sehenden Auges das Scheitern dieses Projektes in Kauf. Dafür wären Sie verantwortlich. Es geht eben nicht um die Endgeräte, sondern
um den Aufbau des Netzes.
({2})
Herr Burgbacher, bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir hatten vor kurzer Zeit schon einmal eine heftige Debatte zu diesem Thema. Ich will deshalb nur noch auf
zwei Punkte abheben.
Erstens. Herr Körper, wenn Geld in den Haushalt eingestellt wird - Sie haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, gesagt: Warten Sie den Entwurf ab! -, dann
sollten wir bei dieser Diskussion darüber informiert werden. Der Stand meiner Information ist, dass nichts in den
Haushalt eingestellt ist.
({0})
Wenn das vorbereitet werden soll, dann - das wissen wir
alle - brauchen wir im Jahr 2004 auch Geld. Also: Informieren Sie uns doch bitte! So wäre diese Kontroverse
schon einmal aus der Welt.
({1})
Zweitens. Wir sind uns doch alle darüber einig, dass
der Aufbau dieses Systems eminent wichtig ist. Ich habe
in der Debatte konkrete Beispiele dafür genannt, dass
mit Digitalfunk Katastrophen hätten verhindert werden
können. Es nützt doch nichts, den schwarzen Peter ständig hin- und herzuschieben. Wir alle wollen das System.
Der Bund hat da eine Koordinationsfunktion. Er sollte
sie wahrnehmen und sie nicht auf andere abschieben,
also jetzt tätig werden, damit wir endlich einen Schritt
weiterkommen.
({2})
Der Herr Bundesminister Schily erhält jetzt noch einmal das Wort. Als Mitglied der Bundesregierung hat er
Recht auf jederzeitiges Gehör.
Nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist bekanntlich zulässig, dass ich jederzeit das Wort
ergreife.
({0})
- Wie bitte?
({1})
Sie vermissen die Koordination, Herr Kollege
Burgbacher. Sie wissen doch, dass der Bundeskanzler
und der Bundesinnenminister Ende Juni eine Vereinbarung mit den Ministerpräsidenten der Länder getroffen
haben, die sehr vernünftig ist. Auf der Basis arbeite ich.
Wir arbeiten an einer Dachvereinbarung, in der wir das
Verfahren unter uns klären. Aufgrund der Dachvereinbarung gehen wir in die Ausschreibung. Daran kann sich
jeder beteiligen. Dann wird es einen Rahmenvertrag geben. So wird es zu einer bestimmten zeitlichen Abfolge
kommen. Mir wäre es am liebsten, wenn alle Länder
mitmachen; möglicherweise machen aber einige Länder
nicht mit.
({2})
- Sie sind sehr ungeduldig, Herr Kollege.
({3})
- Ich verstehe es, Sie sind temperamentvoll. Bei mir rügen Sie das Temperament, aber Sie haben es auch; da begegnen wir uns vielleicht.
Der Kollege Körper hat schon erklärt, dass wir
5 Millionen Euro in den Haushalt einstellen. Sie sagen,
das reiche nicht. Da hätten Sie Recht, wenn es darum
ginge, damit schon den Digitalfunk als solchen zu finanzieren.
({4})
Diese 5 Millionen Euro dienen nur der Vorbereitung der
Ausschreibung. Eine Ausschreibung ist, wie Sie wissen,
eine teure Angelegenheit. Dafür also haben wir die Mittel in den Haushalt eingestellt.
Der Kollege Burgbacher vermisst eine Information
darüber. Ich erinnere Sie daran, dass wir kürzlich mit den
Berichterstattern, auch Ihrer Fraktion, über diese Frage
geredet haben. Wenn Herr Fricke Ihnen nicht darüber
berichtet, ist es nicht mein Verschulden. Bei der Gelegenheit ist die Zahl ausdrücklich genannt worden. Sie
müssen sich einmal erkundigen, wie die Informationskanäle bei Ihnen intern laufen.
({5})
Wenn man bei Ihnen nicht in der Lage ist, eine solche
Information weiterzugeben, dann kann ich Ihnen nicht
helfen. Aber vielleicht kann ich demnächst sicherstellen,
dass die Post von Herrn Fricke auch zu Herrn Kollegen
Burgbacher kommt.
Der Kollege von der CDU/CSU hat gesagt, man
könne sich nicht an den 8,5 Prozent für die Endgeräte
orientieren, sondern müsse den Netzaufbau zugrunde
legen. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Nach dem Eindruck, den ich gewonnen habe, werden wir angesichts
der leeren Kassen aller Finanzminister nicht erleben,
dass die Investition vom Bund oder von den Ländern getätigt wird. Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Es
ist eine Milliardeninvestition, für die weder Geld im
Bundeshaushalt noch in den Haushalten der Länder vorhanden ist.
Deshalb wird es nach meiner Einschätzung - es gibt
auch andere Auffassungen dazu - auf ein Betreibermodell hinauslaufen, bei dem die Betreiber dem Bund und
den Ländern eine bestimmte Benutzungsgebühr in Rechnung stellen. Die Investition tätigen die Betreiber.
Selbstverständlich gehen in die Berechnung einer solchen Benutzungsgebühr dann auch die Investitionskosten ein. Die Betreiber wollen ja einen Return on Investment erzielen. Ich habe den Ländern längst gesagt: Wir
müssen uns nicht, wie beim Telefonfestnetz, sklavisch
an der reinen Benutzung orientieren, sondern können
eine Grundgebühr festlegen, zumal es zwischen der Fläche und den Ballungsgebieten Unterschiede gibt; da sind
unterschiedliche Komponenten enthalten.
Wir müssen auch zwischen den Ländern Abgrenzungen vornehmen. Wenn eine Netzstation zum Beispiel in
Rheinland-Pfalz an der Grenze zum Saarland steht, dann
müssen sich Rheinland-Pfalz und das Saarland, das
ebenfalls davon profitiert, natürlich einigen. Das alles
haben wir erarbeitet; das ist nicht die Frage.
Einige Länder wollen aber leider das ganze Vorhaben
bremsen und sind nicht bereit, es voranzubringen, bevor
der Bund auf die Forderung eingeht, 50 Prozent der Kosten zu übernehmen. Darin kann ich nur einen Blockadewillen und keine konstruktive Politik erkennen. Darum
geht es mir. Wenn Sie das in Ihren Reihen verändern,
dann bin ich Ihnen dankbar.
Wir wollen doch alle diesen Digitalfunk. Der Analogfunk verfällt. Daher ist der Digitalfunk kein Luxus, den
wir uns leisten wollen, sondern dringend notwendig.
Denken Sie an die Flut-Katastrophe! Denken Sie an eine
Katastrophe, wie sie am 11. September in New York
stattgefunden hat!
({6})
Denken Sie an Probleme dieser Art! Wir sind, verdammt
noch einmal, alle in der Pflicht, dieses Projekt voranzubringen. Das Heckmeck, das hier heute veranstaltet worden ist,
({7})
sollten wir uns nicht leisten.
Deshalb bitte ich darum, dass jeder bei sich konstruktiv daran arbeitet, dass die Dinge vorankommen. An diesem Dialog sind durchaus auch einige sozialdemokratisch oder rot-grün regierte Länder beteiligt. Auch ich
muss da Arbeit leisten. Aber ich wäre Ihnen dankbar,
wenn Sie es wirklich ehrlich meinten und das auch in Ihren Reihen täten.
Vielen Dank.
({8})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1560 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({0})
- Drucksache 15/1662 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist eine halbe
Stunde für die Aussprache vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär
Gerald Thalheim.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Landwirtschafts-Altschuldengesetz wollen
wir das letzte teilungsbedingte Problem der ostdeutschen Landwirtschaft lösen. Landwirtschaftliche Altschulden gehen auf Kredite der ehemaligen LPGs zum
Beispiel für Stallanlagen, Wohnhäuser, Rohbraunkohlefeuerungsanlagen und selbst kommunale Einrichtungen
zurück. Sie wurden in Mark der DDR aufgenommen
und mussten nach der Wirtschafts- und Währungsunion
in D-Mark bedient werden.
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
Das war wie in der Industrie und im Wohnungsbau
nur schwer oder überhaupt nicht möglich. Um eine
Überschuldung der Unternehmen nach der Wirtschaftsund Währungsunion durch die 3,9 Milliarden Euro Altschulden zu verhindern, wurden folgende Maßnahmen
ergriffen: erstens die Entschuldung nach Art. 25 Abs. 3
Einigungsvertrag in Höhe von 0,7 Milliarden Euro,
zweitens die bilanzielle Entlastung durch so genannte
Rangrücktrittsvereinbarungen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro.
Die Rangrücktrittsvereinbarungen boten sehr
günstige Bedingungen; die Schulden mussten nur in
Höhe von 20 Prozent des Gewinns vor Steuern bedient
werden. Das war anfangs zweifellos sehr wichtig, um
Arbeitsplätze zu erhalten und den Betrieben Investitionen zu ermöglichen. Aber sie haben dazu geführt, dass
aus den 2 Milliarden Euro Altschulden zwischenzeitlich
rund 2,56 Milliarden Euro geworden sind, weil wegen
der niedrigen Gewinne die Zahlungen nicht einmal mehr
ausreichten, um die Zinsschuld zu bedienen. In der genannten Summe sind also aufgelaufene Zinsen in Höhe
von rund 1 Milliarde Euro enthalten.
Meine Damen und Herren, allein dieser Umstand
macht deutlich, dass hier Handeln angesagt ist, zumal
auch wissenschaftliche Untersuchungen belegt haben,
dass die Rangrücktrittsvereinbarungen sehr großzügig
gestaltet waren.
Aber Handlungsbedarf gibt es noch aus anderen
Gründen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner
Grundsatzentscheidung vom 8. April 1997 dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, zu prüfen:
ob die Entschuldung tatsächlich einen ausreichenden Entlastungseffekt hat, sodass die Altschulden
innerhalb eines angemessenen Zeitraums von der
Mehrzahl der betroffenen LPGs bei ordentlicher
Wirtschaftsführung abgetragen werden können.
Da letztendlich der Bund über den Erblastentilgungsfonds Gläubiger der Altschulden ist, hat die bisherige
Entwicklung - zumindest aus der Sicht des Bundes - zu
einer untragbaren Situation geführt, da die Forderungen
- wie ich ausgeführt habe - in den letzten Jahren gewachsen sind und nach wie vor wachsen.
Handeln ist aber auch im Interesse der Unternehmen
angezeigt. Denn eine ständig wachsende Schuldenbelastung ist aus der Sicht der Unternehmen ein unhaltbarer Zustand, zumal es wenig Motivation gibt, in solche
Unternehmen zu investieren. Es gab bisher auch keine
Motivation, die Schulden intensiver zurückzuzahlen, da
der Schuldenstand in vielen Betrieben so hoch war, dass
sich die Unternehmen selbst bei ordnungsgemäßer Wirtschaftsführung nicht in der Lage sahen, die Schulden abzulösen.
Ziel des Gesetzentwurfs ist es daher, eine beschleunigte Ablösung der Altschulden durch die Betriebe entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
- darauf liegt die Betonung - herbeizuführen. Im Detail
sieht der Gesetzentwurf vor, dass die Altschuldner gegen
einmalige Zahlung eines unternehmensindividuellen Ablösebetrages die Schuld vorzeitig zurückzahlen und dass
gleichzeitig die Rückzahlungsbedingungen angepasst
werden; zum einen durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, zum anderen durch die Erhöhung des
Abführungssatzes von bisher 20 Prozent auf künftig
65 Prozent. Mit dem Angebot einer einmaligen Zahlung
in Höhe des Barwertes der künftigen Zahlung geben wir
den rund 1 500 Betrieben die Möglichkeit, die Altschulden abzulösen. Die Betriebe gewinnen damit größere unternehmerische Handlungsfreiheit.
Zwangsläufig ruft dies Kritiker auf den Plan. Den einen ist der Gesetzesvorschlag zu weitgehend, die anderen fühlen sich überfordert. Denjenigen, denen die vorgeschlagene Lösung zu weit geht, sei entgegengehalten,
dass die Verfassung uns hierbei Grenzen setzt. Auch
wenn es sich um ein Gesetzgebungsverfahren handelt,
greifen wir in gewissem Rahmen rückwirkend in privatrechtliche Regelungen - darum handelt es sich bei den
Rangrücktrittsvereinbarungen - ein. Denen, die sich
überfordert fühlen, sei gesagt: Die Regelung stellt auf
die individuelle Leistungsfähigkeit der Unternehmen ab.
Es gilt der Grundsatz: Wer leistungsfähig ist, muss zurückzahlen und wer heute nicht zurückzahlen kann, der
muss das in der Zukunft tun.
Denn Sinn der Rangrücktrittsvereinbarung war es
nicht, Betriebe von der Zahlung zu entlasten, sondern es
war das Ziel, die Unternehmen und die Arbeitsplätze zu
erhalten. Aber das Ziel war auch, dass im Rahmen der
Leistungsfähigkeit ein Beitrag erbracht wird. Genau
das hat die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf vor.
Wir lösen hiermit ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen ein. Seit vielen Jahren befasst sich der Bundestag
- insbesondere meine Fraktion - mit der Altschuldenregelung.
Ich denke, jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der den
Bedürfnissen der Schuldner Rechnung trägt, aber am
Ende auch im Interesse des Bundes zu Einnahmen führen wird, die der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen
angemessen sein werden.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Jahr, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der Debatte über das Gesetz zur Änderung
der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher
Unternehmen diskutieren wir in diesem Hohen Hause
ein wenig über die aufregenden 90er-Jahre in den neuen
Bundesländern. Im Jahre 1990 waren die landwirtschaftlichen Unternehmen in der ehemaligen DDR mit
Krediten in Höhe von 3,9 Milliarden Euro belastet. Jeder, der mit dem Thema halbwegs vertraut war, wusste,
dass diese Kredite mit marktwirtschaftlichen Krediten
wenig zu tun hatten, dass die Werthaltigkeit der Kredite
sehr unterschiedlich war und dass eine sofortige Fälligstellung bzw. Umschuldung für viele landwirtschaftliche
Unternehmen das ungeordnete wirtschaftliche Aus bedeutet hätte.
Politisch hatte es damals zwei Lösungsansätze gegeben: Zum einen hätte man in jedem Einzelfall die Werthaltigkeit des Kredites überprüfen und eine Neufestlegung der Altschulden vornehmen können. Der Vorteil
dieses Verfahrens wäre gewesen, dass das Problem heute
nicht mehr erörtert werden müsste, weil es gelöst wäre.
Andererseits war Anfang der 90er-Jahre niemand in der
Lage, ein solches Vergleichsverfahren halbwegs nachvollziehbar und in einem überschaubaren Zeitraum zu
gestalten. Anfang der 90er-Jahre gab es in den neuen
Bundesländern keinen gefestigten Immobilienmarkt.
Viele Eigentumsverhältnisse waren ungeklärt. Es gab
riesige Umstrukturierungsprobleme.
Aus diesen Gründen entschied sich die damalige Bundesregierung zu Recht für einen anderen Weg: Sie half
sanierungsfähigen Unternehmen, die Altschulden hatten,
durch zwei Maßnahmen - der Staatssekretär hat es schon
erwähnt -: Zum einen übernahm die Treuhandanstalt auf
der Grundlage von Art. 25 Abs. 3 des Einigungsvertrages Altschulden in Höhe von 0,7 Milliarden Euro. Zum
anderen wurden mit Unternehmen, die sonst überschuldet wären und deren Fortbestand gefährdet gewesen
wäre, zivilrechtliche Rangrücktrittsvereinbarungen
getroffen. Immerhin wurden Altschulden in Höhe von
rund 2 Milliarden Euro in Form solcher Rangrücktrittsvereinbarungen abgelöst.
Die damit verbundenen Wirkungen waren sowohl für
das Unternehmen als auch für die Altschulden verwaltenden Banken sowie für den Bund durchaus positiv.
Unternehmen konnten die Altschulden der Rangrücktrittsvereinbarung nachrangig einordnen und als Eigenkapital ausweisen. Den Banken ging kein Geld verloren,
denn sie waren über den Erblastentilgungsfonds abgesichert. Die Banken konnten sogar, weil die Unternehmen
wieder kreditwürdig waren, neues Geld, neue Kredite
ausreichen. Der Bund konnte nicht nur mit Freude beobachten, wie sich eine Vielzahl von Unternehmen wirtschaftlich stabilisierte, sondern er konnte anfangs auch
hoffen, dass die Altschulden zum Großteil getilgt werden könnten.
Heute wissen wir: Die letzte Hoffnung hat sich nicht
erfüllt. Mit der Fortschreibung der geltenden Gesetzeslage wurde lediglich ein Barwert von circa 7 Prozent der
ursprünglichen Altschulden beglichen. Es ist richtigerweise festgestellt worden, dass, wenn die geltende Rangrücktrittsvereinbarung nicht zum Erfolg führt, der Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet ist. Nicht zuletzt
kann man diesen Handlungsauftrag auch aus einer
Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom April 1997 ableiten.
Vorab an dieser Stelle deshalb zwei zustimmende Bemerkungen zu dem vorliegenden Gesetzentwurf:
Erstens. Niemand wird ernsthaft die Notwendigkeit
einer Regelungsbedürftigkeit der Altschuldenfrage bezweifeln. Es ist also richtig und notwendig, dass die
Bundesregierung einen entsprechenden Entwurf vorlegt.
Zweitens. Die Grundphilosophie des Entwurfes, zunächst die Rangrücktrittsvereinbarung zu verschärfen,
dem Unternehmen aber in einem zweiten Schritt zu erlauben, sich von dieser neuen Verpflichtung freizukaufen, ist durchaus schlüssig.
Damit haben Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, immerhin zwei Ansätze mit der Union für die weitere Diskussion gemeinsam. Allerdings schwindet das
Maß unserer Zustimmung angesichts des konkreten Gesetzestextes erheblich. Mit dem konkreten Gesetzestext
hat die Union, habe ich noch eine Vielzahl von kleineren
und größeren bis hin zu schwerwiegenden Problemen.
An dieser Stelle ein paar Anmerkungen zu den Hauptkritikpunkten:
Der erste Kritikpunkt betrifft die Verschärfung der bestehenden Rangrücktrittsvereinbarung. Ich betone nochmals, dass wir die Verschärfung grundsätzlich unterstützen. Im vorliegenden Entwurf ist vorgesehen, den
Abführungssatz von 20 auf 65 Prozent des Bruttogewinns zu erhöhen. Zusätzlich wird die Gewinnermittlungsbasis verbreitert und die Möglichkeit von Verlustvorträgen eingeschränkt. In vielen Unternehmen würde
dies dazu führen, dass sie ihren gesamten Gewinn nach
Handelsgesetzbuch abführen müssten. Ich meine, diese
Verschärfung der Rangrücktrittsvereinbarung von bisher
20 auf de facto 100 Prozent des Gewinns nach HGB ist
nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch
für das Unternehmen einfach unannehmbar.
({0})
Ich habe den Verdacht, dass das Finanzministerium
ohnehin keine neue Rangrücktrittsvereinbarung einführen möchte, sondern den Betrieben die Ablöseregelung
aufdrängen will. Die Betriebe sollen keine Rangrücktrittsvereinbarung unterschreiben, sondern sie sollen die
Ablöseregelung zwangsweise freiwillig oder freiwillig
zwangsweise in Anspruch nehmen. Die Betriebe sollen
nicht abbezahlen, sondern sie sollen bezahlen. Man
könnte es auch so formulieren: Cash money geht hier vor
Solidität.
Wir sagen Ja zur Rangrücktrittsvereinbarung, aber sie
muss - das ist unsere Forderung - annehmbar sein und
sie muss im Vergleich zur alten Regelung verhältnismäßig sein.
({1})
Die im Entwurf enthaltene Regelung wird diesem Anspruch nicht gerecht.
Das zweite Problem betrifft die Ablöseregelung. Es
ist richtig und vernünftig, dass sich ein landwirtschaftliches Unternehmen von der Verpflichtung, die mit der
Rangrücktrittsvereinbarung verbunden ist, freikaufen
kann. Die Aussage, die Höhe des Ablösebetrages im Wesentlichen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
zu orientieren, klingt gut, schafft aber auch ein weiteres
Problem. Die latente Zustimmung der betroffenen Unternehmen zu der im Entwurf enthaltenen Regelung resultiert daraus, dass fast alle landwirtschaftlichen UnternehDr. Peter Jahr
men davon ausgehen, dass sie keinen Gewinn machen
und deshalb nichts zahlen müssten. So verstehe ich aber
den Gesetzentwurf nicht und so scheinen ihn auch das
Finanzministerium bzw. die Bundesregierung nicht zu
verstehen.
Es geht hier auch um Fairness innerhalb des Berufsstandes. Es gibt Unternehmen, die ihre Altschulden - es
handelte sich meistens um geringere Beträge - bereits
getilgt haben. Es gibt ferner altschuldenbelastete Unternehmen, die in Erwartung einer gesetzlichen Regelung
auf Investitionen verzichtet und einen gewissen Geldbetrag angespart haben. Da gibt es auch Neu- und Wiedereinrichter, die bei der Bedienung ihrer Kredite nicht nach
ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gefragt werden; sie müssen die Zahlungen für Zinsen und Tilgung
leisten.
({2})
Zugespitzt formuliert: Es kann nicht sein, dass offensichtliches Missmanagement durch einen Ablösebetrag
nahe null Euro belohnt und dass der solide Unternehmer
mit einem hohen Ablösebetrag bestraft wird.
({3})
Deshalb halte ich es für erforderlich, bei den Betrieben
von einer standardisierten Gewinnerwartung auszugehen
und die Werthaltigkeit der Altschulden mit einzubeziehen. Wenn ein landwirtschaftliches Unternehmen den errechneten Ablösebetrag nicht annehmen kann oder will,
so kann es immer noch die geänderte Rangrücktrittsvereinbarung unterzeichnen, die aber annehmbar sein
müsste.
Beim dritten Problem geht es um Missbrauchstatbestände. Wir müssen an dieser Stelle über sie reden und
auch darüber, wie man ihnen vorbeugen kann. Auch
wenn es meist nur wenige Fälle sind und sein werden, so
bereiten sie mit Blick auf die Öffentlichkeit die größten
Probleme.
Es gibt Betriebe, bei denen die Gesellschafterstruktur
bereinigt worden ist. Weniger als 5 Prozent der ursprünglichen Gesellschafter sind heute noch vorhanden.
Gleiches gilt manchmal leider auch für die Arbeitskräfte.
Meine Fraktion will vermeiden, dass ein landwirtschaftliches Unternehmen bei der Bestimmung des Ablösebetrages mangelndes Ertragspotenzial nachweist und somit
einen geringen Ablösebetrag zahlt, aber sich ein paar
Monate später plötzlich beim Verkauf des Gesamtbetriebes ein ganz anderes Ertragspotenzial ergibt. Auch hinsichtlich dieses Problems greift der Gesetzentwurf aus
meiner Sicht zu kurz.
Viertens. Dieser Punkt betrifft das Verfahren der Ablöseregelung. Über das Verfahren zur Ermittlung des
Ablösebetrages heißt es in der Gesetzesbegründung lapidar:
Die Einzelheiten der Ermittlung des Ablösebetrages
werden in der … zu erlassenden Rechtsverordnung
festgelegt.
Ein wenig genauer hätten wir uns das schon gewünscht.
Wichtig ist: Gerade weil das Unternehmen keinen
Rechtsanspruch auf einen Ablösebetrag der Höhe nach
hat, sollte ein zweistufiges Verfahren vorgesehen werden. Ich halte es für wenig sinnvoll, dass der Antrag auf
eine vorzeitige Ablösung der landwirtschaftlichen Altschulden nur innerhalb von neun Monaten nach InKraft-Treten der entsprechenden Rechtsverordnung gestellt werden kann. Diese enge Frist muss gestrichen
werden. Man sollte ohnehin darüber diskutieren, ob in
diesem Zusammenhang überhaupt eine Frist notwendig
ist.
({4})
Ich fasse zusammen:
Erstens. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Initiative zur Regelung der Altschulden in der Landwirtschaft
ist unbestritten.
Zweitens. Die Verschärfung der bestehenden Rangrücktrittsvereinbarung ist grundsätzlich richtig. Die
Verschärfung, die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist, ist allerdings unzumutbar und verfassungsrechtlich bedenklich.
Drittens. Die Ablöseregelung allein an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu orientieren ist nicht richtig. Missbräuchliche Anwendungen der
Regelungen sind zu vermeiden.
Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion im
zuständigen Ausschuss eine Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf beantragen. Meine Fraktion geht
fest davon aus, dass auch die Regierungsfraktionen einsichtig sind und sich vernünftigen Änderungsvorschlägen nicht verschließen werden. In diesem Sinne freue
ich mich auf die Diskussion in den Ausschüssen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Behm.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt gute Gründe für ein LandwirtschaftsAltschuldengesetz. Die aktuelle Regelung taugt nicht zur
Lösung des Problems. Herr Jahr, ich freue mich, dass wir
in diesem Punkt übereinstimmen.
Darüber hinaus haben die Gutachter Forstner und
Hirschauer festgestellt, dass die Entlastungen für die
LPG-Rechtsnachfolger die Belastungen, die aus den
DDR-Altschulden resultieren, in der großen Mehrzahl
der Fälle überkompensiert haben. Diese Entlastungen
bestanden zum Ersten in einer Teilentschuldung durch
die Treuhandanstalt, zum Zweiten in einer bilanziellen
Entlastung in Form einer schon angesprochenen Rangrücktrittsvereinbarung und in Form eines zins- und
steuerbegünstigten Bedienens der Altschulden sowie
zum Dritten in einem Schutz des dadurch gewonnenen
Eigenkapitals vor Abfindungsansprüchen bei der
Vermögensauseinandersetzung nach dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz. Im Ergebnis stellen die Gutachter fest, dass die meisten betroffenen Betriebe heute
wirtschaftlich besser dastehen, als wenn ihnen die Altschulden schon Anfang der 90er-Jahre erlassen worden
wären.
Die allermeisten Deutschen gehen bis heute davon
aus, dass die Altschulden für die LPG-Rechtsnachfolger
eine schwer tragbare Last sind. Aufgrund des Gutachtens müssen wir heute aber feststellen: Die dereinst von
CDU/CSU und FDP geschaffenen Altschuldenregelungen entfalten eine deutliche Subventionswirkung und
verzerren den Wettbewerb.
Angesichts dieses Ergebnisses muss und will die
Bundesregierung Konsequenzen ziehen. Der vorliegende Gesetzentwurf hat das Ziel, dass die Rückzahlung
zukünftig tatsächlich im Rahmen der wirtschaftlichen
Möglichkeiten der Unternehmen erfolgt. Dazu werden in
dem Gesetzentwurf die Rückzahlungsbedingungen für
die Betriebe unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verschärft. Dies wird vor allem
durch die Erhöhung des abzuführenden Gewinnanteils
von 20 auf 65 Prozent erreicht.
Daneben wird in diesem Gesetz die Möglichkeit
geschaffen - das ist mir besonders wichtig -, Altschulden mit einer Einmalzahlung abzulösen. Der Ablösebetrag ist betriebsindividuell auszuhandeln und soll sich an
der Höhe der in Zukunft zu leistenden Rückzahlungen
orientieren. Da sowohl die Bank als auch der Altschuldner der Höhe des auszuhandelnden Ablösebetrages zustimmen müssen, sollte eine Übervorteilung einer der
beiden Seiten vermieden werden. Dieser Komplex der
Vereinigungspolitik wird damit rechtlich abgeschlossen.
Ich hoffe, dass möglichst viele Betriebe diese Chance
auch ergreifen.
Diesem Gesetzentwurf widerfährt eine Bewertung,
die widersprüchlicher kaum sein könnte. Die Wiedereinrichter und die Vertreter der bäuerlichen Landwirtschaft sprechen von Milliardensubventionen für die etwa
1 500 Altschuldner. Die LPG-Rechtsnachfolger hingegen sprechen vom drohenden Ruin ihrer Betriebe, weil
sie nun von ihrem Gewinn einen größeren Teil als bisher
abführen sollen. Beide Bewertungen beruhen auf einer
verzerrten Interpretation der vorliegenden Sachlage.
Den Wiedereinrichtern ist zu sagen: Aufgrund der seit
Jahren gültigen Rechtslage ist längst klar, dass die LPGRechtsnachfolger ihre Altschulden nicht komplett zurückzahlen werden. Unabhängig davon, ob uns das heute
passt oder nicht, müssen wir feststellen: Es ist nicht
möglich, das Rad zurückzudrehen. Die Rückzahlungsbedingungen lassen sich aber nicht beliebig verschärfen,
sondern nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Hierfür ist entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe entscheidend.
Aber: Unser Gesetz schafft entgegen den Behauptungen keine zusätzliche Subventionswirkung. Im Gegenteil: Es führt zu zusätzlichen Einnahmen für den Erblastentilgungsfonds in Höhe von 200 bis 250 Millionen
Euro. Außerdem fließen die zu erwartenden Rückzahlungen schneller als nach der gültigen Rechtslage. Dies
eröffnet in Zeiten knapper Kassen Spielräume, die wir
dringend für Investitionen in die Zukunft benötigen.
Den LPG-Rechtsnachfolgern ist zu sagen: Auch zukünftig werden nur Unternehmen, die Überschüsse erwirtschaften, zur Bedienung ihrer Altschulden herangezogen. Eine wirtschaftliche Gefährdung der Betriebe ist
damit ausgeschlossen.
Die Versuche aus den Reihen der CDU, sowohl von
den Wiedereinrichtern als auch von den LPG-Rechtsnachfolgern Zustimmung zu erheischen, dürften angesichts der verhärteten Fronten zum Scheitern verurteilt
sein. Die Wiedereinrichter werden sich nicht täuschen
lassen; denn sie wissen ganz genau, dass es seinerzeit
CDU und FDP waren, die die aus ihrer Sicht ungerechte
Altschuldenregelung beschlossen haben. Diese Bauern
müssen nämlich ihre Kredite bedienen, ohne dass es eine
staatliche Bewahrung vor der Insolvenz gibt.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann.
Sehr verehrte Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Für jemanden, der fast von der niederländischen Grenze, aus dem Emsland kommt, stellt sich das
Thema Landwirtschafts-Altschuldengesetz als äußerst
schwierig dar. Bei Besuchen vor Ort spürt man auch die
ganze Härte der Auseinandersetzung. Frau Behm, Sie
haben völlig zu Recht angesprochen, dass das ein Thema
ist, welches die Menschen in den so genannten neuen
Ländern ganz besonders bewegt. Ich bin auch dafür, dass
wir - allerdings gemeinsam - den Versuch unternehmen,
hier sozusagen abzuräumen; denn weiteres Verärgerungspotenzial wäre dem dortigen agrarischen Miteinander sicherlich sehr abträglich.
({0})
Die Sache ist aber schwierig: Hilft man dem einen besonders, ist der andere sauer. Hilft man zu wenig, hilft
dies wiederum uns gar nicht. Einige haben sogar die
Vorstellung, dass man über diesen Weg wirklich Mittel
für den Haushalt gewinnt, um Investitionen tätigen zu
können.
Frau Behm, ich glaube, wir sind uns einig, worüber
wir sprechen: Vielleicht können wir erreichen, 10 bis
20 Prozent des Betrages zu bekommen, der als Altschuldenlast noch im Raum steht. Man muss sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen, worum es hier im Moment
geht: Es geht um einen Milliardenerlass. Ich meine, dass
man sich angesichts dessen die größtmögliche Mühe geben muss.
Weil wir uns diese größtmögliche Mühe geben wollen, werden wir in der kommenden Woche eine fraktionsinterne Anhörung machen. Ich stimme ausdrücklich
dem Anliegen der CDU/CSU-Fraktion, das Herr Dr. Jahr
zum Ausdruck gebracht hat, zu: Eine Anhörung im Ausschuss wäre gut. Allerdings sollten wir alle mit der festen Absicht in diese Anhörung hineingehen, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Frau Behm, es hilft nichts, zu sagen, dass FDP und
CDU/CSU damals etwas falsch gemacht hätten. Ich bin
mir nicht sicher, ob Ihre Ausführungen, es sei zu Überkompensationen gekommen und habe riesige Subventionen für große Betriebe gegeben, ganz zutreffend sind.
Ich habe 5 000 bis 6 000 Hektar große Betrieb besucht,
die 70 bis 80 Menschen in einer Region beschäftigten, in
der die Arbeitslosenquote bei 30 bis 35 Prozent lag.
Wenn man diesen Betrieben nicht geholfen hätte, sähe
die Situation heute noch schlechter aus.
({1})
Der Entwurf des Finanzministeriums ist außerordentlich kompliziert und steuersystematisch äußerst zweifelhaft. Geplante Rückzahlungen der Schulden als Betriebsausgaben führen dazu, dass ertragsstarke Betriebe
in höchster Steuerprogression nach Steuern netto nur die
Hälfte dessen zahlen, was ertragsschwache Betriebe zu
zahlen haben. Das erscheint mir nicht sinnvoll.
Die Erhöhung der Abführung auf der Basis von
65 Prozent des Jahresgewinns bei verbreiterter Bemessungsgrundlage führt ohne Zweifel zu erheblichen
Steuervermeidungsreaktionen. Das können die Großen recht gut; denn das machen sie jetzt schon. Ihre Gewinne lassen sie bekanntlich nicht im landwirtschaftlichen Betrieb, sondern in den vor- und nachgelagerten
Handels- und Dienstleistungsunternehmen anfallen und
rechnen sie dann aufeinander an. Frau Behm, vor dem
Hintergrund dessen, was im Raum steht, ist es bezeichnend, dass die Erwartungen des Gesetzgebers an dieses
Gesetz außerordentlich gering sind.
Lassen Sie uns gemeinsam an die Arbeit gehen. Wir
sind dazu gerne bereit. Wir wollen hoffen, dass wir es
am Ende dieses Prozesses mit einem Gesetz zu tun haben, das dazu beiträgt, ein Stück mehr agrarischen Frieden in den betroffenen Regionen zu schaffen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Altschuldenproblematik ist seit 1990 eine vielfache.
Wir kennen sie von den Wohnungsgesellschaften der
DDR, die privatisiert wurden. Wir kennen sie auch aus
der Landwirtschaft, insbesondere im Zusammenhang
mit den LPG, den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Der Kern des Problems ist immer derselbe: Das
Steuer- und Kreditwesen der DDR war mit dem Recht
der Bundesrepublik nicht kompatibel und soll trotzdem
passfähig gedeutet werden. Das musste zu Verwerfungen
und zu Gerichtsverfahren führen - bis heute.
Heute verhandeln wir ein Gesetz, mit dem das Altschuldenproblem ostdeutscher Agrarbetriebe endgültig
und zukunftsträchtig gelöst werden soll. Das ist überfällig. Die PDS bringt seit über 13 Jahren konstruktive Vorschläge ein und ringt auf Landes- und Bundesebene um
Lösungen. Gerade deshalb ist es enttäuschend, dass der
vorliegende Entwurf zwar vorgibt, abschließend und zukunftsfähig zu sein, es in Wahrheit aber nicht ist.
Es gibt eine Bauernweisheit: Man kann eine Kuh
nicht schlachten und zugleich melken. Genau das versucht die Bundesregierung aber mit Teilen dieses Gesetzentwurfes. Sie will möglichst hohe Einnahmen für
den Erblastentilgungsfonds erzielen und schröpft dabei
zugleich die Wirtschaftskraft der betroffenen Betriebe
über Gebühr. Der Vermögens- und Kreditverlust vieler
Agrarunternehmen wäre so groß, dass einige Betroffene
von einem enteignungsähnlichen Eingriff reden. Die Gesamtrechnung, die hier aufgemacht wird, ginge obendrein - wie so oft - vollends schief; denn den erhofften
Mehreinnahmen des Bundes stünde ein erheblicher Ausfall an Gewerbe-, Körperschaft- und Einkommensteuer
gegenüber. Das ginge zulasten der Kommunen, der Gemeinden und natürlich auch der neuen Länder. Es muss
doch selbst der Westmehrheit unseres Hauses einsichtig
sein, dass man nicht einerseits heute Vormittag die Lage
im Osten beklagen kann, wenn man zugleich, wie mit
diesem Gesetzentwurf, die Eigeneinnahmen der neuen
Bundesländer gefährdet. Das aber droht, wenn der vorliegende Gesetzentwurf eins zu eins umgesetzt würde.
Sie wollen bis zu 65 Prozent möglicher Gewinne einkassieren. Das ist für einige Betriebe ruinös.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil von 1997 das übrigens nicht gemeint. Im Gegenteil:
Es hat gefordert, den so genannten Altschuldnern eine
reale Chance zu eröffnen, im Wettbewerb der bundesdeutschen und der europäischen Agrarwirtschaft bestehen zu können.
Deshalb werbe ich für einen PDS-Vorschlag, der
keineswegs neu ist. Ein Großteil der so genannten Altschulden war schon durch den Einigungsvertrag als entschuldungsfähig anerkannt worden. Sie wurden nicht
entschuldet, weil damals angeblich die Mittel dafür fehlten. Das war aus PDS-Sicht zwar purer Unsinn, war aber
so.
Derweil haben die nicht entschuldeten Altbetriebe
eifrig Zinsen geheckt. Sie machen inzwischen über
40 Prozent der Gesamtlast aus. Es entspricht zwar der
Bankenlogik, dass hierauf Zinsen erhoben werden, entbehrt aber jeder politischen Vernunft. Deshalb appelliere
ich namens der PDS im Bundestag, die Altlastenfrage
vernünftig zu entsorgen, nicht auf Kosten der betroffenen Betriebe, der Kommunen und der neuen Länder. Ich
habe die Hoffnung, dass die Anhörung wie auch die parlamentarische Beratung im besten Sinne des Wortes zu
einer Qualifizierung des Gesetzentwurfes führen.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Waltraud Wolff.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Seit ich 1998 im Bundestag mit
der Altschuldenproblematik konfrontiert wurde, war für
mich der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes maßgeblich, eine vertretbare Lösung für den Bund und die
mit Altschulden belasteten Betriebe zu erreichen.
Ein Wort zum Beitrag des Redners von der CDU/
CSU: Eigentlich hat es die Debatte nicht verdient, dass
wir das Für und Wider aufrechnen und fragen, wer was
initiiert hat bzw. hätte initiieren müssen. Da das Bundesverfassungsgericht festgelegt hat, dass nach zehn Jahren
überprüft werden soll, ob die Möglichkeit besteht, dass
die Betriebe ihre Altschulden bis 2010 zurückzahlen
können, hätte meiner Meinung nach von der Regierung
schon damals eine größere Initiative gestartet werden
müssen.
Zum Hintergrund, wie diese Schulden entstanden
sind, will ich nichts mehr sagen; dazu haben sich schon
mehrere Kollegen geäußert. Vergessen werden darf aber
nicht: Es ging und es geht noch heute um Sicherung von
Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. Mit der Wende
und dem Aus der kollektiven Verstaatlichung begann für
volkseigene Betriebe und damit auch für die ehemaligen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der LPGen die Zeit der
Umstrukturierung. In allen Bereichen, in denen die beiden Rechtssysteme zusammengeführt wurden, kam es
unweigerlich zu Konflikten. Die Klärung der Altschuldenfrage in der Landwirtschaft der ehemaligen DDR
stand daher, wie zum Beispiel die in der Wohnungswirtschaft, von Anfang an unter einem schlechten Stern.
Auch heute noch werden die Debatten über die Altschulden hitzig und emotional geführt. Deshalb ist es ganz besonders wichtig, dass der Gesetzgeber in der letzten
Phase der Regelung mit Fakten zur Versachlichung beiträgt.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber
eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt. Das Ziel war, dass die Betriebe bei ordnungsgemäßer Wirtschaftsführung die Schulden bis 2010 tilgen
können. Somit wird klar, dass eine verträgliche Lösung
angestrebt war, die den Fortbestand der Unternehmen
nicht gefährdet.
13 Jahre nach der deutschen Einheit sieht vieles anders aus, als unsere Vorstellungen damals überhaupt zuließen. Wir müssen die Probleme aus heutiger Sicht von
allen Seiten beleuchten. Es kann meiner Meinung nach
nicht darum gehen, irgendwelche alten Rechnungen zu
begleichen
({0})
oder geradezurücken, was aus Sicht von so manchem
Verband schon immer falsch gelaufen ist.
({1})
Die Geschichte ist einfach nicht zurückzudrehen. Deshalb müssen wir erstens Sachlichkeit walten lassen,
zweitens mit Bedacht Einzelfallbetrachtungen durchführen und drittens genau die Schnittstelle finden, an der die
Rückzahlung für die betroffenen Betriebe noch möglich
ist, ohne dass sie in den Ruin getrieben werden.
Ich möchte hier auch noch einmal daran erinnern,
dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der agrarpolitischen Konferenz der SPD-Bundestagsfraktion im
vergangenen Februar zu Recht zu einer einvernehmlichen, abschließenden und schnellen Lösung gestellt hat.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet und wir haben beschlossen - damit befinden
wir uns im Konsens mit Ihnen; ich konnte es nur nicht
eher sagen -, eine Anhörung zu dem Thema der landwirtschaftlichen Altschulden zu initiieren. Danach wird
die Meinungsbildung in den Fraktionen zum Abschluss
kommen.
Meine Schlussbemerkung: Ich habe eben den Kenntniserwerb von 13 Jahren angesprochen. Ebenso wichtig
ist es, die allgemeine wirtschaftliche Lage zu betrachten.
Einen solchen konjunkturellen Einbruch konnten wir uns
nicht vorstellen. Auch die Landwirtschaft ist davon betroffen. Wir sollten auch noch etwas anderes in unsere
Überlegungen einbeziehen: Die letzten Jahre waren für
die Landwirtschaft in Deutschland kein Zuckerschlecken.
({2})
Ich sage nur: BSE, Nitrofen, Acrylamid - alles schlägt
auf die Landwirtschaft durch. Zusätzlich haben das
Hochwasser an der Elbe - nicht zu vergessen auch das
Hochwasser an der Oder - und die Dürre in 2003 ihre
Spuren in den neuen Bundesländern hinterlassen.
({3})
Dennoch verbinde ich mit der Einbringung dieses Gesetzes erstens die Hoffnung, dass das letzte ungelöste
Kapitel in der ostdeutschen Landwirtschaft zu schließen
ist, zweitens die Hoffnung, dass die Unternehmen zur
Rückzahlung motiviert werden und drittens die Aufforderung an die Bundesregierung, die notwendige Rechtsverordnung in das Gesetz einzubeziehen oder zeitgleich
zu erlassen, um nicht weitere Verzögerungen und Unsicherheiten aufkommen zu lassen.
({4})
Im Interesse des Bundes müssen realistische Bewertungsmaßstäbe angelegt werden. Deshalb ergibt sich zu
Beginn der Beratung aus meiner Sicht die Frage, mit der
ich jetzt schließe: Wird durch die Erhöhung des AbfühWaltraud Wolff ({5})
rungssatzes von 20 auf 65 Prozent die Messlatte auf die
richtige Höhe gelegt?
Schönen Dank.
({6})
Ich danke auch und schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/1662 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach,
Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Verbot des Klonens mit menschlichen
Embryonen weltweit durchsetzen
- Drucksache 15/301 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hubert
Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter
Forschungsförderung der Europäischen
Union unter Respektierung ethischer und
verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({2}) und weiterer Abgeordneter
Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Stammzellforschung
- Drucksachen 15/1310, 15/1346, 15/1725 Berichterstattung:
Abgeordnete René Röspel
Katherina Reiche
Hans-Josef Fell
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
gibt es nicht. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Staatsministerin Kerstin Müller für die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor
ich zum Stand der Verhandlungen bei den Vereinten Nationen über ein internationales Klonverbot komme,
möchte ich eines festhalten: Es war die deutsche Bundesregierung, die das internationale Klonverbot vor zwei
Jahren mit der deutsch-französischen Initiative auf die
Agenda der Generalversammlung der Vereinten Nationen gesetzt hat. Dadurch haben wir in vielen Ländern
nationale Diskussionen angestoßen. Man muss sehen:
Heute gibt es viele nationale Gesetze, durch die das reproduktive Klonen verboten wird.
({0})
Nun hat uns der Bundestag in seinem Beschluss vom
20. Februar dieses Jahres drei Aufträge für die Verhandlungen in den Vereinten Nationen erteilt. Da der Vorwurf
der Missachtung dieses Beschlusses laut wurde, bitte ich
Sie darum, den Wortlaut dieses Beschlusses - ich habe
ihn noch einmal mitgebracht -, der vor dem Hintergrund
der Mehrheitsverhältnisse und der internationalen Debatte gefasst wurde, zu beachten. Ich jedenfalls nehme
die drei Aufträge dieses Beschlusses sehr ernst.
Erstens. Wir sollen uns für ein möglichst umfassendes
Klonverbot einsetzen. Zweitens. Wir sollen versuchen,
dass dies von möglichst vielen Staaten unterstützt wird.
Drittens. Wir sollen die Konvention im Rahmen der
deutsch-französischen Initiative weiterentwickeln.
Wir haben alles unternommen, diesen Bundestagsbeschluss konsequent umzusetzen. Deshalb kann ich nicht
nachvollziehen, dass man uns Missachtung vorwirft. Wir
haben zunächst in enger Abstimmung mit Frankreich die
Initiative aktiv in Richtung eines umfassenden Klonverbots von Menschen weiterentwickelt. Wir treten jetzt für
eine Konvention ein, die alle Formen des Klonens einschließt. Dies unterscheidet sie von der ersten deutschfranzösischen Initiative, die vorsah, in zwei Stufen vorzugehen.
Wir haben uns von Anfang an - das werden wir auch
weiter tun - für eine möglichst umfassende und verbindliche Konvention eingesetzt. Das ist sehr wichtig; denn
das geht meines Erachtens in der Diskussion, die in den
letzten Wochen öffentlich geführt wurde, verloren: Völkerrecht basiert auf Konsens. Nur so kann es wirklich
wirksam werden. Daher haben wir alles versucht und
werden bis zum Schluss versuchen, möglichst viele
Staaten für ein internationales Klonverbot oder zumindest für die Auftragserteilung zu einer entsprechenden
Konvention gewinnen.
Wir haben seit dem letzten Jahr im Vorfeld der Verhandlungen mit allen wichtigen Staaten Gespräche geführt, insbesondere mit den USA und den Europäern.
Erst am Tag des Beginns der Arbeitsgruppe des sechsten
Ausschusses haben wir gemeinsam mit Frankreich
hierzu ein so genanntes Non-Paper verteilt, das im
Übrigen nie als Antrag gedacht war. Ziel dieses Non-Papers - das möchte ich hier klarstellen - war es, die unterschiedlichen Vorstellungen einzelner Mitglieder der Vereinten Nationen zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem es noch
um die Mandatserteilung und nicht - wie ich es heute in
einer Pressemitteilung von Ihnen, Frau Böhmer, gelesen
habe - um den Text der Konvention selbst geht, zu überbrücken und so die Zustimmung der Mehrheit, wenn
nicht sogar aller VN-Mitglieder für die Mandatserteilung
zu bekommen.
Ich sage noch einmal sehr deutlich: Uns geht es nicht
darum, Scheinerfolge zu erzielen, sondern wir wollen
konkrete und wirksame Ergebnisse. Eine Konvention,
die von den wichtigsten Klonforschungsstaaten nicht unterstützt wird, ist zahnlos und nicht effektiv. Das wäre
wie der Abschluss eines Atomwaffensperrvertrages ohne
die Nuklearstaaten. Das bringt uns international nicht
weiter. Das wäre rein symbolische Politik. Deshalb haben wir uns für den Weg entschieden, der inhaltlich auf
der deutschen Rechtslage beruht.
Die Verhandlungen in der Arbeitsgruppe sind bisher ergebnislos verlaufen. Am 21. Oktober werden die
Gespräche fortgesetzt. Wir befinden uns noch nicht in
den konkreten Konventionsverhandlungen. Das heißt,
die Generalversammlung stimmt nicht über ein Verbot
verschiedener Formen des Klonens ab, sondern formuliert erst einmal einen Auftrag. Dabei muss es uns darum
gehen, möglichst alle Staaten in die weitere Arbeit einzubinden. Denn es geht um eine Frage, die das grundlegende Verständnis unseres Menschseins betrifft. Wir
dürfen zum jetzigen Zeitpunkt nicht zulassen, dass sich
insbesondere die Klonforschungsstaaten aus dem Prozess ausklinken.
Sie wissen, dass zwei Mandatsentwürfe vorliegen.
Der eine Entwurf ist von Costa Rica. In der Substanz
entspricht er unserer Überzeugung, aber mit dem Vorgehen können wir uns nicht einverstanden erklären; denn
die meisten biotechnologisch wichtigen Staaten werden
diese Verhandlungen ablehnen. Der zweite von Belgien
eingebrachte Entwurf ist für viele Unterstützer des
Costa-Rica-Entwurfs nicht akzeptabel, insbesondere
nicht für die USA und auch nicht für uns, weil es dort im
Kern um das reproduktive Klonen geht.
Diese beiden konkurrierenden Entwürfe bestätigen
unsere Befürchtungen, dass es möglicherweise auf eine
Kampfabstimmung hinauslaufen wird. Eine solche
Kampfabstimmung würde in eine Sackgasse führen und
im Übrigen einen negativen Präzedenzfall mit möglicherweise gravierenden Folgen für die Arbeit des Ausschusses und der Vereinten Nationen insgesamt bedeuten. Ich bitte also darum, sich gut zu überlegen, ob es
klug ist, sich an Kampfabstimmungen zu beteiligen.
({1})
Gerade ein von möglichst vielen Staaten getragenes,
möglichst umfassendes Klonverbot ist der Auftrag des
Bundestages. Wir wollen eine Spaltung der Staatengemeinschaft in dieser zentralen bioethischen Frage vermeiden. Deshalb haben wir diesen Weg gewählt.
Zum Schluss kann ich Ihnen aktuell berichten, dass
sich ein Konsens zurzeit allenfalls für eine prozedurale
Lösung abzeichnet, nämlich die Mandatsverhandlungen
nicht abzubrechen, sondern zu verschieben. Das ist nicht
unsere Präferenz. Wir wollen ein möglichst umfassendes
Klonverbot möglichst bald erreichen. Aber dies ist immer noch besser als eine zahnlose Konvention, der sich
entscheidende Staaten nicht anschließen.
Ich bin davon überzeugt, dass, wenn es überhaupt zu
einer internationalen Konvention kommt, nur auf dieser
Linie der Beschluss des Bundestages tatsächlich in all
seinen Aspekten umgesetzt werden kann. Das ist unsere
Absicht und darum bemühen wir uns.
({2})
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Böhmer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir treffen uns jetzt zum zweiten Mal in diesem Jahr,
um darüber zu beraten, wie wir ein internationales und
generelles Klonverbot, Frau Müller, erreichen können.
Ich bin sehr froh, dass Sie uns in allen Einzelheiten dargelegt haben, wie Sie die Lage sehen, aber ich sage
Ihnen auch: Wir hatten die Erwartung, dass wir zum heutigen Zeitpunkt ein anderes Ergebnis vonseiten der Bundesregierung erfahren würden, nämlich ein Ergebnis, das
dem Antrag, den wir im Februar verabschiedet haben,
tatsächlich entspricht.
({0})
Uns allen hier ist bekannt, dass die Lage schwierig ist.
Wir haben deshalb damals sehr mit uns gerungen, als wir
den gemeinsamen Antrag erarbeitet haben, den wir dann
hier im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedet haben. Ich habe diesen Antrag mitgebracht
und will noch einmal genauso wie Sie die Punkte durchgehen; denn wir interpretieren einige Dinge offensichtlich unterschiedlich.
In dem Antrag steht, möglichst viele Staaten sollen
für eine solche Konvention gewonnen werden. Wir haben das sehr wohl in dem Bewusstsein formuliert, dass
man nicht jeden Staat dieser Welt hinter eine solche
Konvention bringen kann. Denn Sie sagen zu Recht,
dass es Staaten gibt, in denen Klonen stattfindet, zum
Beispiel in Großbritannien, in Schweden, in Israel, in
Singapur und nach wie vor in China. Wenn man glaubt,
dass ein Ergebnis erst erzielt werden kann, wenn diese
Staaten hinter eine Konvention gebracht sind, dann läuft
man Gefahr, ein inhaltloses Scheinergebnis zu erzielen.
Eine solche Konvention wird nämlich wirklich ein zahnloser Tiger sein und das Papier nicht wert sein, auf dem
sie geschrieben ist.
({1})
Weiterhin haben wir im Antrag sehr um die Begrifflichkeit des Klonens gerungen; das war wahrlich nicht
einfach. Wir haben niedergelegt, dass es eine Teilidentität beim Klonen gibt. Wer also darauf zielt, das reproduktive Klonen weltweit wirksam zu verbieten - ich
glaube, da gibt es keinen Dissens; es dürfte kaum einen
Staat in dieser Welt geben, der dem nicht beipflichtet -,
der muss auch das Forschungsklonen oder das so genannte therapeutische Klonen verbieten, denn beide Formen sind in ihrem Verfahren identisch bis zur Erzeugung
des Embryos. Das ist der entscheidende Punkt. In beiden
Fällen entsteht ein Embryo, sodass diejenigen, die die
Techniken im Bereich des Forschungsklonens oder des
so genannten therapeutischen Klonens - ich halte den
Begriff nach wie vor für völlig irreführend - verfeinern,
nicht ausschließen können, dass diese von denjenigen,
die fatalerweise das reproduktive Klonen anstreben, genutzt werden. Wer deshalb reproduktives Klonen wirksam verbieten will, muss auch Forschungsklonen verbieten. Ausschließlich das kann der Weg sein.
({2})
Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Punkt im Bundestag immer wieder diesen Konsens haben; das möchte
ich auch heute betonen. Ich nehme Sie beim Wort, dass
Sie hinter einem solchen Konsens stehen. Das will ich
gar nicht bestreiten. Trotzdem müssen wir uns darüber
streiten, welchen Weg Sie jetzt beschritten haben. Nachdem der Wechsel vollzogen worden ist und man nicht
mehr hintereinander, sondern zeitgleich verhandelt, stellt
sich die Frage, ob das so genannte zweistufige Verfahren
im Ergebnis tatsächlich, wie Sie es uns in Aussicht stellen, oder nur scheinbar aufgehoben wird. Denn in Ihrem
Nonpaper, das durch die Welt geisterte, wurde eine klare
Position zum reproduktiven Klonen - nämlich ein Verbot formuliert, aber zugleich haben Sie - auch in Interviews,
zum Beispiel in der „Frankfurter Rundschau“ - wiederholt
festgestellt, dass beim therapeutischen Klonen drei Optionen vorgesehen sind, und zwar Verbot, Moratorium oder
nationalstaatliche Regelungen.
({3})
Damit wird es sozusagen in das Belieben des jeweiligen
Staates gestellt, wie mit Forschungsklonen und therapeutischem Klonen umgegangen wird.
({4})
Das ist der Stein des Anstoßes. An dieser Stelle kommen
wir nämlich nicht weiter. Wir sind dadurch auf die Situation im Dezember bzw. im Februar zurückgeworfen.
Weil Sie ja hinter der Beschlusslage des Bundestages stehen, fordere ich Sie mit allem Nachdruck auf,
darauf hinzuwirken, dass die Bundesregierung auch genau diese Beschlusslage umsetzt. Ich verstehe, wenn Sie
darauf hinweisen, dass dem Völkerrecht bestimmte Regelungen zugrunde liegen und es auf Konsens basiert.
Aber wenn Sie den Atomwaffensperrvertrag anführen,
muss ich Ihnen entgegenhalten, dass er ein anschauliches Beispiel dafür ist, wie man schrittweise vorankommen kann - und zwar in einem anderen Sinne, als Sie es
meinen. Am Anfang unterzeichneten 43 Staaten dieses
Vertragswerk. Das war der erste Schritt.
({5})
Aber es wurde stufenweise vorgegangen. Das Endergebnis ist, dass es heute 178 Signatarstaaten gibt.
Es ist also eine Entwicklung möglich, wenn ein klares
und eindeutiges Signal gesetzt wird. Deshalb fordere ich
Sie auf - ich bitte Sie geradezu -, ein solches Signal zu
senden, indem Sie sich hinter den Vorschlag von Costa
Rica stellen. Mit der Einbringung eines entsprechenden
Antrags in die Vereinten Nationen würde die gleiche Absicht wie mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages
verwirklicht, nämlich ein Verbot des reproduktiven wie
des therapeutischen Klonens. Es ist mir schier ein Rätsel,
warum man einem solchen Beschluss nicht folgen will.
Sie haben immer noch die Möglichkeit, dort einen
identischen Antrag einzubringen, wenn Sie das für besser halten - ich würde das sehr begrüßen -, sodass eine
klare Linie verfolgt wird. Ich stelle aber auch fest, dass
die von Belgien vorgelegte Opting-out-Regelung nicht
der richtige Weg sein kann.
Deswegen fordere ich Sie auf: Folgen Sie nicht dem
Weg, den Belgien aufzeigt! Denn dieser Weg stellt eine
Scheinlösung dar. Folgen Sie vielmehr dem Weg, den
der Deutsche Bundestag in großer Mehrheit aufgezeigt
hat! Lassen Sie uns zu einem weltweiten generellen
Klonverbot kommen und lassen Sie dies nicht nacheinander, sondern in einem Schritt geschehen!
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Wodarg.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der kommenden Woche - das haben wir bereits
gehört - gehen die Klonverhandlungen in New York in
ihre bisher wichtigste Runde. Denn in dieser Woche wird
sich entscheiden, ob es einen Auftrag geben wird, auf
UN-Ebene eine internationale Konvention gegen das
Klonen von Menschen zu erstellen.
Der Deutsche Bundestag hat zu dieser Frage schon
am 20. Februar einen Beschluss gefasst, der mit breiter
Mehrheit - und zwar mit den Stimmen der SPD, der
Grünen und der CDU/CSU - verabschiedet wurde. Ich
finde es daher mehr als bedauerlich, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, dass Sie jetzt aus taktischen Gründen einen alten Antrag aus der Schublade
hervorgekramt haben und auf die Tagesordnung haben
setzen lassen. Wir werden diesen Antrag deshalb ablehnen.
Der Bundestag hat bereits klar und eindeutig eine Position bezogen, die nun bei den Verhandlungen in
New York umgesetzt werden muss. Dass die Umsetzung
des Bundestagsbeschlusses schwierig werden würde, hat
wohl keiner von uns jemals ernsthaft bezweifelt. Der
Widerstand einiger Länder gegen ein umfassendes Klonverbot - gleichgültig, zu welchem Zweck dieses Klonen
erfolgen soll - ist in der Tat massiv. Es kommt deshalb
darauf an, dass unsere Diplomaten einen ausreichenden
taktischen Spielraum haben, um das, was beschlossen
worden ist, auch umzusetzen.
Es muss bei dieser Gelegenheit aber auch klar gesagt
werden, dass es hinsichtlich des Zieles der diplomatischen Bemühungen keinen Spielraum gibt. Hier lässt
der Beschluss des Bundestages an Deutlichkeit nichts zu
wünschen übrig. Weil es in letzter Zeit - das war auch
heute der Fall - Irritationen in diesem Punkt gegeben
hat, möchte ich die entscheidende Stelle wörtlich zitieren, und zwar mit einer Betonung, die deutlich macht,
worauf es hier ankommt:
III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung in Fortführung seines Beschlusses vom Juli
2002 auf,
- eine VN-Konvention und weitere internationale
Konventionen anzustreben, die sowohl das reproduktive wie das so genannte therapeutische
Klonen verbieten und darauf zielen, möglichst
viele Staaten für solche Konventionen zu gewinnen.
({0})
Dieser Satz wird von einigen so interpretiert, dass beim
so genannten therapeutischen Klonen Abstriche gemacht
werden können, um das Ziel zu erreichen, möglichst
viele Staaten zu gewinnen. Man braucht allerdings keine
große Meisterschaft im Auslegen von Texten zu besitzen, um zu erkennen, dass diese Interpretation - logischerweise - nicht dem Wortlaut des Beschlusses entspricht.
({1})
Das Ziel, das die Bundesregierung anzustreben aufgefordert ist, ist eine Konvention, die das reproduktive
Klonen und das Klonen zu Forschungszwecken verbietet. Für eine solche Konvention - nicht für irgendeine
andere - sollen möglichst viele Staaten gewonnen werden. Daran kann keine noch so kreative Auslegung etwas ändern.
Die Bundesrepublik Deutschland kann aus ethischen
und auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nichts
anderes anstreben als ein umfassendes Verbot aller
Formen des Klonens.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Lammert?
Ja, gern.
Herr Kollege Wodarg, haben Sie persönlich den Eindruck, dass die Position der Bundesregierung in den laufenden internationalen Verhandlungen so glasklar ist wie
die Beschlusslage des Bundestages, die Sie gerade
freundlicherweise noch einmal in Erinnerung gerufen
haben?
({0})
Herr Lammert, Sie, der Sie auch internationale Erfahrungen haben, wissen sehr genau, dass wir alle Möglichkeiten nutzen müssen, um möglichst viele Staaten auf
unsere Seite zu ziehen.
({0})
Dass das schon jetzt sehr viel Zeit gekostet hat, dass sich
in der Zwischenzeit die Forschung weiterentwickelt hat
und dass es weitere Argumente für unsere Haltung gibt,
dass die Zeit also für uns arbeitet, weiß auch die Bundesregierung. Deshalb ist es klug, wenn sie ihre Möglichkeiten nutzt.
({1})
- Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung klug handelt.
({2})
Die Bundesregierung kann aus ethischen und verfassungsrechtlichen Gründen, wie ich bereits sagte, gar kein
anderes Ziel als das eines umfassenden Verbots aller
Formen des Klonens verfolgen. Die Abgrenzung des
reproduktiven Klonens gegenüber dem so genannten
therapeutischen Klonen ist bereits ideologisch höchst
aufgeladen. Was geschieht denn beim so genannten
therapeutischen Klonen? Da wird ein Embryo, ein
Mensch in der frühesten Phase seiner Existenz, geschaffen, um ihn zu Forschungszwecken sofort wieder zu töten. Wird dabei etwa kein Mensch „reproduziert“? Wer
darauf mit Nein antwortet, wer sagt, dass Reproduktion
erst gegeben ist, wenn sich der menschliche Embryo zu
einem Fötus weiterentwickelt oder geborenen wurde, der
behauptet damit letztlich, dass ein menschlicher Embryo
gar kein Mensch ist. Genau diese Behauptung ist aber
mit dem Menschenwürdekonzept unserer Verfassung
unvereinbar.
Der gegenwärtig auf UN-Ebene kursierende belgisch-chinesische Entwurf, der lediglich ein Verbot des
so genannten reproduktiven Klonens vorsieht, der aber
nationale Regelungen für das Klonen zu anderen Zwecken erlauben möchte, ist daher meiner Meinung nach
für die Bundesrepublik Deutschland weder akzeptabel
noch ist er mit dem Beschluss des Bundestages vom
20. Februar dieses Jahres vereinbar. Eines darf deshalb
nicht passieren: Keinesfalls darf das therapeutische Klonen innerhalb einer UN-Konvention durch die ausdrückliche Zulassung nationaler Regelungen auch noch legitimiert werden.
({3})
Mit einer einfachen Opt-out-Regelung könnten meiner Einschätzung nach auch diejenigen Staaten leben,
die bereits signalisiert haben, nur einem umfassenden
Klonverbot zuzustimmen. So könnten wir diese Staaten
gewinnen; denn mit einer solchen Regelung würde klargestellt, dass sich diejenigen Staaten, die sich einem generellen Klonverbot nicht anschließen wollen, außerhalb
des Willens der Weltgemeinschaft stellen. Dieses Ziel
- das ist mir wichtig - sollten wir anstreben.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Anträge haben eines gemeinsam: Es geht darum, ob wir unsere bundesrepublikanischen ethisch-moralischen Maßstäbe absolut setzen oder ob wir zu
Kompromissen fähig sind,
({0})
um europäisch und international weiterzukommen. Deswegen möchte ich auch zuerst etwas zu den anderen Anträgen sagen, die hier heute zur Debatte stehen.
Wenn der Deutsche Bundestag beschließt, die EU
dürfe keine Fördermittel für Forschung an embryonalen Stammzellen vergeben, weil diese Forschung in
Deutschland unzulässig sei, dann heißt das vor allem
eines: Andere Länder werden in Zukunft ihre ethischen
Maßstäbe natürlich ebenso absolut setzen, wie wir das
heute tun. Wer wollte ihnen dieses Recht nehmen? Dann
werden wir erleben, dass ethisch-moralische Auffassungen zum Tierschutz, zur Sterbehilfe oder zu Schwangerschaftsabbrüchen zukünftig gemeinsame europäische
Forschung verhindern.
({1})
- Lieber Herr Hüppe, es gibt kein deutsches Geld in
einem EU-Topf mehr; lassen Sie sich vom Kollegen
Hintze aufklären. - Das führte zu einer ernsten Bedrohung des Forschungsraums einer erweiterten EU mit
25 Staaten.
({2})
Das moralisch strengste Land würde das Tempo bestimmen. So kann Europa - das sage ich Ihnen als Vorsitzende des Forschungsausschusses ganz bestimmt - nicht
bis zum Jahre 2010 zum dynamischsten Forschungsraum
der Welt werden.
({3})
Das kann Europa übrigens schon gar nicht, wenn die
EU-Länder zukünftig - wie Herr Röspel uns am Mittwoch vorschlug - im Voraus darauf prüfen sollen, wo
denn ethische Bedenken auftreten könnten. Das wäre das
Ende einer jeden schnellen Entwicklung und das Ende
eines dynamischen Forschungsstandorts Europa, von
dem wir ja alle träumen. Was sind dann all die Sonntagsreden über eine reformierte EU mit Mehrheitsentscheidungen und Abbau von Blockaden wert? Man kann nicht
auf der einen Seite für Mehrheitsentscheidungen im Rat
plädieren und auf der anderen Seite für ethische Vetorechte einzelner Länder.
Eine Vielzahl der EU-Länder erlaubt die Forschung
mit embryonalen Stammzellen. Wir halten deshalb an
der gemeinsamen Verantwortung für die europäische
Stammzellforschung fest.
({4})
Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dominke?
Ja, natürlich.
Verehrte Frau Kollegin Flach, wir stimmen doch weitgehend in der Meinung überein, dass es hier um die
Frage geht, ob ein Embryo Menschenwürde besitzt. Sind
Sie der Ansicht, dass Menschenwürde relativ sein kann,
also nicht nur absolut Geltung besitzt, und an Staatsgrenzen Halt machen kann?
Liebe Frau Dominke, wir befinden uns hier im europäischen Raum. Wir haben es mit unterschiedlichen ethischen Auffassungen zu tun. Allein neun Länder erlauben
genau das, was wir in Deutschland nicht erlauben. Wir
können es mit unserer nationalen Rechtsprechung, mit
unserer nationalen Gesetzgebung natürlich so halten,
wie wir wollen; daran hindert uns keiner. Wenn in anderen EU-Mitgliedstaaten Forschung in bestimmten Bereichen betrieben wird, Frau Dominke, muss diese nicht
auch hier in Deutschland betrieben werden. Das ist nicht
die Frage. Es geht vielmehr darum, ob wir in einem
Europa mit in Zukunft 25 Staaten noch eine gemeinsame
Forschungspolitik ermöglichen wollen.
({0})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zu dem
Antrag der CDU/CSU zum Thema Klonen sagen.
Hier gilt genau wie in dem Bereich, den ich eben
angesprochen habe, dass Sie Maßstäbe setzen, die Sie international nicht erfüllen können.
({1})
Ich finde, dass Frau Müller das eben sehr realistisch dargestellt hat. Der Forschungsausschuss war ja in New
York und hat sich das erläutern lassen. Sie werden mit
Ihrer Maxime, höchste Ansprüche zu stellen, auf der
Welt nichts, aber auch gar nichts erreichen. Sie werden
erst recht nicht das erreichen, was Sie erreichen wollen,
nämlich das Verbot des Klonens, hinter dem natürlich
auch wir Liberale stehen. Sie werden aber auf dieser
Welt nicht zurecht kommen, wenn Sie die Kunst des
Kompromisses missachten. Die CDU/CSU-Fraktion - es
tut mir Leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sagen
zu müssen - ist gerade dabei, dies zu tun.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Frau Flach, es handelt sich hier nicht um eine biopolitische Debatte nach dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, sondern um die Unteilbarkeit
der Menschenrechte. Ich glaube, das ist ein wichtiger
Unterschied.
({0})
Mir stehen nur wenige Minuten zur Verfügung. So
lassen Sie mich Folgendes sagen: Am 20. Februar 2003
haben wir erstens den Wechsel von einem zweistufigen
Verfahren zu einem einstufigen Verfahren beschlossen.
Wir waren nämlich der Meinung, dass ein zweistufiges
Verfahren diplomatisch nicht zum Erfolg geführt und im
Prinzip unter der Hand eine Legitimation des therapeutischen Klonens zum Ergebnis gehabt hätte. Zweitens haben wir uns für ein umfassendes Verbot aller Formen des
Klonens entsprechend der deutschen Rechtslage eingesetzt. Drittens sollten für diesen Ansatz möglichst viele
Staaten gewonnen werden.
Positiv ist, dass wir jetzt bei einem einstufigen Verfahren sind. Es wird über das Klonen an sich geredet.
Man verfährt nicht nach dem Motto: „Erst einmal das reproduktive Klonen behandeln und später - am SanktNimmerleins-Tag - das therapeutische Klonen; vielmehr
werden beide Formen des Klonens zusammen behandelt.
Die Situation ist dadurch schwierig geworden, dass
zwei verschiedene Anträge vorliegen: Der Antrag von
Costa Rica und anderen Staaten spricht sich für einen totalen Bann aus. Der Antrag von Belgien und anderen
Staaten fordert dagegen das Verbot des reproduktiven
Klonens. Was das therapeutische Klonen angeht, spricht
er sich entweder für einen Bann oder für ein Moratorium
oder für nationale Regelungen - er gibt dabei keine
Richtung vor - aus. Dieser Antrag plädiert also für vollständige Offenheit. Das ist ein Problem. Dadurch ist der
Antrag Belgiens und anderer Staaten in keiner Weise zustimmungsfähig. Das muss man ganz klar sagen.
({1})
Im Raum steht die Drohung, dass sich einige Staaten
an Verhandlungen auf der Basis des jeweils anderen Antrags nicht beteiligen werden. Diese schwierige Situation
lässt sich unseres Erachtens nur bewältigen, wenn ein
Verhandlungsauftrag erteilt wird, in den beide Anträge
einbezogen werden, damit auf dieser Grundlage bis 2004
versucht wird, eine möglichst große Schnittmenge zu erreichen. Eine kontroverse Abstimmung zu Beginn des
Verhandlungsprozesses wäre ungewöhnlich und würde
viele Staaten vom Verhandlungstisch drängen.
Unsere Priorität ist also ganz klar: einen Auftrag zu
einem Verhandlungsprozess zu erteilen, an dem sich sehr
viele, möglichst alle Staaten beteiligen können. Wir fordern die Bundesregierung für den Fall, dass es doch zu
einer Kampfabstimmung kommt - wir fänden das
schlecht -, auf, dass sie dem Antrag Belgiens und anderer Staaten - jedenfalls nicht in der jetzigen Form - nicht
zustimmt; denn er spricht sich unter anderem für nationale Regelungen ohne irgendeine Form der Qualifizierung aus. Das würde - ich sagte es bereits - vollständige
Offenheit bedeuten.
Der Antrag Costa Ricas und anderer Staaten wäre
- das ist gar keine Frage; darüber müssen wir nicht lange
reden - vom Inhalt her zustimmungsfähig. Was er diplomatisch bedeutet, wird zu beurteilen sein. Wir beobachten diesen Prozess. Die Bundesregierung wird ihre Position - da habe ich Vertrauen - eindeutig auf der
Grundlage des Bundestagsbeschlusses einnehmen.
Zum Schluss möchte ich auf das 6. EU-Forschungsrahmenprogramm zu sprechen kommen. Dieses
Thema hätte wahrlich eine vertiefte Beratung verdient.
Man muss ganz klar sagen: Die Vorschläge von EUKommissar Busquin sind für uns vollkommen unakzeptabel.
({2})
Frau Böhmer, es war für mich wirklich sehr interessant, als auf unserer Veranstaltung Professor Schöler von
der Pennsylvania State University - es handelt sich um
einen Wissenschaftler, der auf diesem Feld arbeitet - von
sich aus sagte, eine Stichtagsregelung, also die Beschränkung auf ein Dutzend vorhandener Stammzelllinien und damit keine weitere Öffnung, sei auch wissenschaftspolitisch vernünftig, denn wenn in Tokio, in
München, in New York oder wo auch immer nur an den
vorhandenen Linien geforscht wird, wären die wissenschaftlichen Ergebnisse vergleichbar. Das heißt, wir
müssen in dieser Angelegenheit keine Schleusen öffnen.
Wir setzen uns deshalb für eine Stichtagsregelung im
Hinblick auf die Forschung an embryonalen StammzelDr. Reinhard Loske
len - nicht an Embryonen - in der Europäischen Union
ein.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Hüppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus der
Mitte dieses Hauses haben wir fraktionsübergreifend unseren Antrag zum 6. EU-Forschungsrahmenprogramm
eingebracht. Damit wollen wir noch einmal verdeutlichen, dass der Deutsche Bundestag solche Forschungsvorhaben ablehnt, die in Deutschland sogar mit Freiheitsstrafe - Frau Flach, das will ich hier noch einmal
deutlich machen - geahndet werden können.
(Ulrike Flach [FDP]: Es hindert Sie ja keiner
dran!
Wir wollen der Bundesregierung heute bei dem Bestreben den Rücken stärken, europäische Partner für eine
Sperrminorität zu finden, damit nicht mit europäischen
Steuergeldern menschliche Embryonen zu Forschungszwecken getötet werden.
({0})
- Nicht immer gibt man uns so viel Grund dazu.
Ein großer finanzieller Anteil des europäischen Beitragsaufkommens wird von Deutschland erbracht. In
dem sensiblen Bereich der Bioethik stellen wir innerhalb
Deutschlands höchste Anforderungen im Hinblick auf
die Einhaltung der Menschenwürde. Deshalb wäre es
für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland kaum
verständlich, wenn wir eine EU-Förderung der verbrauchenden Embryonenforschung mit deutschen Steuergeldern unwidersprochen hinnehmen würden.
({1})
Im Übrigen bekommen wir auch oft genug zu hören,
dass es dem europäischen Gedanken schadet, wenn man
nicht auf die Menschenwürde, so wie wir sie verstehen,
Rücksicht nimmt.
Wir hätten es auch begrüßt - das darf ich an dieser
Stelle sagen -, wenn die deutschen EU-Kommissare,
Frau Schreyer und Herr Verheugen, dem Vorhaben der
EU-Kommission nicht zugestimmt hätten.
({2})
Wir hätten es begrüßt, wenn Frau Schreyer und Herr
Verheugen gezeigt hätten, dass sie sich dem Menschenwürdeverständnis des Grundgesetzes und dem Geist unserer Gesetze verpflichtet fühlen.
({3})
Wir wissen, dass einige Partnerstaaten in der EU bei
der verbrauchenden Embryonenforschung Wege gehen,
die wir aus ethischen Gründen, wegen unserer Verfassung und der Rechtslage bei uns nicht mitgehen können.
Das gibt Anlass zur Besorgnis. Aber wir suchen den Dialog mit diesen Partnerstaaten. Wir wissen, dass wir die
nationale Gesetzgebung und Praxis in diesen Partnerstaaten von hier aus nicht direkt beeinflussen können. Es
wäre aber von noch ganz anderer Qualität, wenn wir mit
deutschen Steuergeldern mittelbar die verbrauchende
Embryonenforschung in diesen Ländern unterstützten.
({4})
Wir wollen mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag einen Beitrag dazu leisten, dass nach Ablauf des
Moratoriums eine Regelung getroffen wird, die mit unserer Rechtslage und unseren Interessen vereinbar ist.
Ich weise ausdrücklich darauf hin, Frau Flach, dass unser Antrag das Prinzip der Mehrheitsentscheidung bei
forschungspolitischen Entscheidungen der EU nicht infrage stellt.
({5})
- Nein, das tut er nicht. Es geht uns auch nicht um allgemeine Forschungsvorhaben, sondern nur um den sensiblen Bereich der Biomedizin.
({6})
Das steht in unserem Antrag. Lesen Sie ihn sich durch!
Weil wir diese Argumentation schon kannten, haben
einige der Initiatoren im Ausschuss ja auch noch einen
Änderungsantrag eingebracht, der genau das klarstellt.
Sie sollten nicht versuchen, etwas anderes hineinzuinterpretieren.
Der Antrag vonseiten der FDP ist für mich sehr
schwer nachvollziehbar. Er benachteiligt den Forschungsstandort Deutschland; das muss man einmal so
deutlich sagen.
({7})
Die Mittel nämlich, die für diese Forschung ausgegeben
werden, stehen deutschen Forschern nicht zur Verfügung, weil hier aufgrund unserer Verfassung und unseres
Strafrechts solche Forschungsvorhaben nicht durchgeführt werden dürfen. Das betrifft auch den Bereich der
Bio- und Gentechnologie.
({8})
- Nein! - Deswegen bitte ich Sie, meine Damen und
Herren, unserem Antrag zuzustimmen und so ein deutliches Signal zu setzen.
({9})
Es ist schon häufiger über die internationale Konvention zum Verbot des Klonens gesprochen worden. Es
wurde auch deutlich gesagt, dass der Beschluss, den wir
im Februar gefasst haben, unmissverständlich ist. Umso
unverständlicher ist für uns, wie verhandelt worden ist.
Aus meiner Sicht wurde das Verfolgen unserer gemeinsamen Ziele nicht so deutlich, wie Sie, Frau Müller, es
eben dargestellt haben. Wenn jedes Klonen menschlicher
Embryonen die Menschenwürde verletzt, dann kann und
darf es keine Konvention geben, die das Klonen zu
Fortpflanzungszwecken verbietet, aber das Klonen zu
einem anderen Zweck einer wie auch immer gearteten
nationalen Regelung anheim gibt. Wenn es um die Menschenwürde auf der einen Seite und um einen Verstoß
gegen die Menschenwürde auf der anderen Seite geht,
dann kann es keinen Konsens geben.
({10})
Nach dem, was Sie als Schritt drei angekündigt haben, betrachten Sie schon eine nationale Regelung als
Erfolg. Was bedeutet das? Wie soll eine solche nationale
Regelung aussehen? Würde schon eine zahlenmäßige
Begrenzung oder eine Meldepflicht ausreichen, um dem
Gebot einer solchen Konvention Genüge zu tun?
Meine Damen und Herren, in dem Beschluss steht,
dass „möglichst viele Staaten“ ein Klonverbot unterstützen sollen. Aber es steht auch genau darin, wie diese
Konvention aussehen soll: Sie soll jeden Zweck des Klonens verbieten; jede Erzeugung eines menschlichen
Klons soll verboten werden. Da darf es aus meiner Sicht
keine Kompromisse geben.
Es wird behauptet, wenn diese Konvention Geltung
bekäme, hätte sie keine Konsequenzen. Immerhin unterstützen jetzt 53 Länder den Entwurf Costa Ricas. Eine
echte Antiklonkonvention würde maßgebliche Absatzmärkte für Produkte aus geklonten Embryonen versperren.
({11})
Mögliche Investoren würden sich mit ihrem Kapital einem anderen Bereich der Biotechnologie zuwenden.
Junge Wissenschaftler würden nicht eine perspektivlose
Richtung einschlagen, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in wichtigen Hochtechnologieländern wie den
USA illegal ist.
Deshalb darf ich Sie noch einmal auffordern: Unterstützen Sie den Antrag von Costa Rica oder machen Sie
zumindest deutlich, dass Sie, wenn es zu einer Abstimmung kommt, diesem Antrag zustimmen, der letztendlich unserem nationalen Recht entsprechen würde!
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege René Röspel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor etwa zwei Jahren haben wir in der Bundesrepublik mit viel Ernst eine sehr breite und tief gehende
gesellschaftliche Diskussion über die Fragen von Bioethik und Gentechnologie geführt. Eine der zentralen
Fragen, die immer wieder gestellt wurden, lautete: Darf
man mit Embryonen forschen? Darf man Embryonen zu
Forschungszwecken zerstören?
Diese gesellschaftliche Diskussion ist in die Debatte
des Deutschen Bundestages am 30. Januar 2002 eingegangen. Der Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit beschlossen, das Embryonenschutzgesetz von 1990
zu bestätigen: In Deutschland soll kein Embryo zu Forschungszwecken zerstört werden.
({0})
Im Rahmen dieser Debatte ist es aber auch zu einem
Kompromiss gekommen, nämlich zu dem Stammzellgesetz: Unter ganz bestimmten, engen Bedingungen wollen wir Stammzelllinien, die bereits in der Welt existieren, den deutschen Forschern zur Verfügung stellen.
- Das widersprach aber nicht dem gefassten Grundsatz.
Im selben Jahr wurde aber das 6. EU-Forschungsrahmenprogramm verabschiedet, in dem europäische
Forschung gebündelt, geregelt und organisiert werden
soll. Das ist gut so und das ist auch sinnvoll. Aber es gibt
eben ein Problem: In diesem Rahmenprogramm soll
auch die Forschung an und mit Embryonen gefördert
werden. Das hieße konkret: Es dürfte mit europäischen
Geldern gefördert und erforscht werden, was in Deutschland verboten ist.
Die Bundesregierung hat deshalb den Bundestagsbeschluss vom 30. Januar 2002 umgesetzt und sich erfolgreich für ein europäisches Moratorium in diesem Bereich eingesetzt,
({1})
das am Ende des Jahres abläuft. Mit unserem Gruppenantrag, dessen Unterstützer aus allen Fraktionen außer
der FDP kommen, fordern wir die Europäische Kommission auf, davon Abstand zu nehmen, die Forschung an
Embryonen finanziell zu fördern.
Nun wird immer wieder behauptet - auch Frau Flach
hat das heute wieder getan -, wir wollten den anderen
unsere Ethik aufzwingen. Das ist nicht der Fall.
({2})
Das ist schlicht und einfach falsch. Wenn Großbritannien
weiter an Embryonen forschen will, dann kann und soll
es das tun. Wir wollen lediglich, dass mit deutschen und
europäischen Mitteln nicht gefördert wird, was wir als
Ausfluss einer langen Debatte in Deutschland verboten
und nicht zugelassen haben.
({3})
Weiter wird behauptet - das haben wir auch im Forschungsausschuss erleben können -: Wenn wir das nicht
fördern, fällt Europa in der Forschung gegenüber den
USA zurück. Da muss man sich fragen: Geht es denn um
gewaltige Teilbeträge dieser 17,5 Milliarden Euro, die
das Forschungsprogramm zur Verfügung stellen soll?
Laufen da viele Forschungsprojekte, die nicht gefördert
werden können?
Dem ist nicht so. Seit dem ersten Aufruf zum 6. EUForschungsrahmenprogramm sind drei Anträge auf Förderung von Forschung an embryonalen Stammzellen gestellt worden. Alle drei Anträge sind aus wissenschaftlichen Gründen abschlägig beschieden worden. Das heißt,
es gibt nicht einmal einen Antrag auf Förderung eines
solchen Projekts. Selbst wenn es kein Moratorium gäbe,
würde der Mittelabfluss 0 Euro betragen; letztlich ist
dies eine Diskussion über 0 Euro. Allein aus diesem
Grund ist noch weniger verständlich, dass die EU-Kommission hier einen Konflikt generiert, der nicht notwendig ist, der nicht wünschenswert ist und der nicht einmal
mit Nachfrage belegt werden kann.
({4})
Aus diesem Grund möchte ich Sie ganz herzlich bitten, nicht nur unserem Gruppenantrag, sondern auch
dem mit einer Dreiviertelmehrheit gefassten Beschluss
des Bundestagsausschusses für Forschung, Bildung und
Technikfolgenabschätzung zu folgen und die embryonale Stammzellenforschung auf europäischer Ebene
nicht finanziell fördern zu lassen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/301 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der
Tagesordnung soll die Vorlage federführend im Auswärtigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1725. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1, den Antrag der Abgeordneten Hubert
Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 15/1310 mit dem Titel „Forschungsförderung der Europäischen Union unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger
Prinzipien der Mitgliedstaaten“ in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann und weiterer Abgeordneter
auf Drucksache 15/1346 mit dem Titel „Kein Ausstieg
aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische
Stammzellforschung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet ({0})
- Drucksache 15/407 ({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 15/1625 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerold Reichenbach
Hartmut Büttner ({3})
Dr. Max Stadler
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1626 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Klaus Hagemann
Anja Hajduk
Otto Fricke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bezeichnung des Gesetzentwurfs des Bundesrats über eine
einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem
Beitrittsgebiet trägt sozusagen den Irrtum auf der Stirn.
Denn das, was der Gesetzentwurf angeblich für die
Heimkehrer im Beitrittsgebiet nachholen will, war keine
Entschädigung, sondern eine Eingliederungshilfe.
({0})
Diese wurde bereits 1992 bei den Heimkehrern im Beitrittsgebiet mit Rücksicht auf die längst vollzogene Eingliederung der Betroffenen nicht mehr für erforderlich
gehalten.
({1})
Der gesamtdeutsche Gesetzgeber hat vor rund zehn
Jahren im Rahmen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes eine sachlich richtige Entscheidung getroffen. Er hat
das mit Maßgaben auf das Beitrittsgebiet übergeleitete
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz mit Wirkung
vom 1. Januar 1993 aufgehoben, weil er zu Recht der
Auffassung war, dass durch den Beitritt als solchen
keine Eingliederungssituation für ehemalige Kriegsgefangene entstanden war, der durch die Leistungen nach
dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz hätte begegnet werden müssen.
Das vom Bundesrat behauptete Gerechtigkeitsproblem, das unter dem Gesichtspunkt der Vollendung der
inneren Einheit Deutschlands ausgeräumt werden
müsste, existiert nicht.
({2})
Eine Benachteiligung der Heimkehrer im Beitrittsgebiet
hat im Vergleich zu den in den damaligen Geltungsbereich des Gesetzes zurückgekehrten ehemaligen Kriegsoder Geltungskriegsgefangenen nicht stattgefunden;
denn bei den Heimkehrern im Beitrittsgebiet hat wegen
Zeitablaufs zum Zeitpunkt des Beitritts eine vergleichbare Eingliederungssituation nicht mehr vorgelegen.
Trotz der vielleicht nicht ganz glücklichen Bezeichnung Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz bleibt festzuhalten, dass die Leistungen nach diesem Gesetz vornehmlich Eingliederungszwecken dienten. Wer dies
nicht erkennen will, dem sei beispielsweise die Lektüre
der Gesetzesmaterialien zur vierten Novelle des
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes empfohlen.
Einen Paradigmenwechsel derart, dass aus Eingliederungshilfen nachträglich eine Entschädigung gemacht
würde, hält die Bundesregierung weder für nachvollziehbar noch für gerechtfertigt.
({3})
Mit einer neuen Entschädigungsregelung würde ein
Gleichbehandlungsproblem vielmehr erst entstehen.
Das haben offenbar auch die Initiatoren des Gesetzentwurfs erkannt; denn dort wird ausdrücklich die Entschädigung von Zwangsarbeit für Drittstaaten als eines der
Regelungsziele angegeben. Zwangsarbeit von Deutschen für Drittstaaten ist indessen stets als allgemeines
Kriegsfolgenschicksal bewertet worden, mit dem sich
die Sozialgesetzgebung befasst hat, vornehmlich im
Bundesversorgungsgesetz. Diese Diskussion werden wir
mit Sicherheit bei der Behandlung des Antrages der
CDU/CSU zur Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter
fortsetzen.
Ich bedaure insbesondere, dass - wie nicht zuletzt die
vom Innenausschuss am 26. Juli dieses Jahres durchgeführte öffentliche Sachverständigenanhörung gezeigt hat
- bei den betroffenen Menschen auf der Grundlage dieses Paradigmenwechsels die Vorstellung genährt worden ist, ungerecht behandelt worden zu sein.
({4})
Zugleich wurden bei ihnen unbegründete Erwartungen
hinsichtlich einer Korrektur dieses vermeintlichen Unrechts hervorgerufen. Diese Spaltung der betroffenen
Gruppen ist nicht wieder gutzumachen.
Auch aufgrund der letztlich nicht kalkulierbaren Kosten hält die Bundesregierung eine neue Entschädigungsregelung für nicht vertretbar. Schon die Zahl der unmittelbar vom Gesetzentwurf Begünstigten lässt sich nur
schwer schätzen und ist daher nicht zuverlässig. Solche
Schätzungen liegen für die Geltungskriegsgefangenen
nicht einmal vor. Im Übrigen wären die durch diesen
Präzedenzfall entstandenen Folgekosten zur Entschädigung von Zwangsarbeitern haushaltspolitisch nicht zu
verantworten. Schon 1966 hat der damalige Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung festgestellt:
Die Gesetzgebung über die Abwicklung von
Kriegs- und Nachkriegsfolgen sollte abgeschlossen
werden. Die Finanzlage des Bundes beweist, dass
wichtige Aufgaben der Zukunftsvorsorge sträflich
vernachlässigt werden, wenn die kommenden Jahre
durch neue Zahlungen für die Vergangenheit belastet würden.
({5})
- Es sind aber die Worte des Bundeskanzlers Kurt Georg
Kiesinger.
Es gibt folglich keinen sachlichen Grund, nicht an
dem 1969 eingeführten und bewährten Stiftungsmodell
festzuhalten, das Unterstützungsleistungen in Fällen
wirtschaftlicher Notlagen erlaubt. Soweit bei der Heimkehrerstiftung im laufenden Haushaltsjahr Finanzengpässe auftreten, werden wir diese weitgehend ausräumen. Das haben wir in die Wege geleitet und das wollen
wir auch im Jahr 2004 so handhaben. Nach unserem Dafürhalten ist das der richtige Weg, mit diesem Thema
umzugehen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Hartmut Büttner von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Entschädigung von Spätheimkehrern, welche auf das Gebiet der früheren DDR entlassen worden
sind, ist wahrlich kein Ruhmesblatt für den Deutschen
Bundestag.
({0})
Wie ich immer wieder betont habe, kann ich auch meine
eigene Fraktion von diesem Vorwurf nicht ausnehmen.
Allerdings ging auch von allen anderen Fraktionen des
Deutschen Bundestages niemals eine für die Heimkehrer
positive Initiative aus.
Wir alle gemeinsam haben also zu verantworten, dass
die betroffenen Menschen bisher im Stich gelassen wurden. Aus diesem Grund habe ich bei den Beratungen des
Innenausschusses immer wieder angemahnt, die sonst
Hartmut Büttner ({1})
üblichen parteitaktischen Schuldzuweisungsrituale an
dieser Stelle zu unterlassen.
({2})
Das war leider nicht immer der Fall.
Wie wir in der sehr beeindruckenden Anhörung feststellen konnten, ist das die allerletzte Chance für die von
der Geschichte so hart gebeutelten Menschen, eine Entschädigungsleistung des demokratischen Deutschlands
erleben zu können; denn die jüngsten Berechtigten sind
80 Jahre alt. Für mich war diese Anhörung auch deshalb
so aufschlussreich und interessant, weil immerhin mehr
als 250 von diesen über 80-Jährigen nach Berlin kamen.
Sie wollen eine Entschädigung; sie wollen Gleichbehandlung und sie wollen Gerechtigkeit in diesem
Deutschland erfahren.
({3})
Ich will zur Verdeutlichung sagen: Bei den Spätheimkehrern handelt es sich um Kriegsgefangene, die mehr
als zwei Jahre in fremdem Gewahrsam waren. Für
Kriegsgefangene, die in das westliche Deutschland entlassen worden sind, gab es in der Tat eine Entschädigung. Den Kriegsgefangenen, die in das östliche
Deutschland entlassen worden sind, erging es anders.
Die Entschädigung im Westen war bei einer Höhe von
12 000 DM gedeckelt. Menschen mit dem gleichen
Schicksal, die in die SBZ oder in die spätere DDR entlassen worden sind, erhielten hingegen außer 50 Ostmark keinerlei weitere Entschädigung. Im Gegenteil: Sie
mussten in ihrem Leben den verbrecherischen Krieg der
braunen Diktatur doppelt und dreifach bezahlen. Wir haben erschütternde Beispiele und Berichte in der Anhörung gehört, welchen Pressionen diese Menschen in der
roten Diktatur der DDR ausgesetzt waren.
({4})
Nun haben wir gehört, dass Vertreter der Regierungskoalition dem Wunsch nach einer Entschädigung mit
dem Argument widersprechen, im Westen habe es sich
um eine Eingliederungshilfe gehandelt. Aber, lieber
Herr Körper, der Text des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes von 1954 spricht eine ganz andere Sprache. Da heißt es in § 3: Für das Festhalten im ausländischen Gewahrsam wird eine Entschädigung gewährt.
({5})
Nun sagen Sie: Das ist der Wortlaut des Gesetzes, aber
vom Charakter her war das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eben nur eine Hilfe zur Eingliederung in die
westdeutsche Gesellschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Argumentation wird allein durch die puren
Fakten widerlegt. Ein erstes Gesetz wurde nämlich erst
neun Jahre nach Kriegsende verabschiedet. Die zahlreichen Neufassungen wurden teilweise erst 20 Jahre nach
Kriegsende beschlossen. Zum Zeitpunkt der finanziellen
Leistungen an die Betroffenen im Westen war ihre Eingliederung im Wesentlichen abgeschlossen.
({6})
Diese Anhörung hat uns in vielen Bereichen neue Erkenntnisse geliefert, so zur Zahl der Berechtigten. Die
Zahlen, die uns vorliegen, sind in einer offiziellen Mitteilung des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes
enthalten. 1998 ging das Bundesamt von insgesamt
50 000 berechtigten Personen aus. Aufgrund der hohen
Sterblichkeitsquote - sie kann den Statistiken des Heimkehrerverbandes entnommen werden - leben jetzt nur
noch 24 000 ehemalige Kriegsgefangene und nur noch
etwa 14 000 so genannte Geltungskriegsgefangene. Dabei handelt es sich um verschleppte Zivilpersonen mit einem gleichartigen Schicksal. Aufgrund dieser Zahlen
kann man sagen, dass die Entschädigungszahlung den
Bund jetzt nur noch 22 Millionen Euro kosten würde. Es
fällt an dieser Stelle sehr schwer, unter dem Eindruck der
immer weiter zurückgehenden Zahlen nicht zynisch zu
werden.
Neue Erkenntnisse gab es in der Anhörung auch
durch einen Beitrag unseres Kollegen und stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion HansJoachim Hacker, der darlegte, dass es für die Zwangsdeportierten aus den früheren deutschen Ostgebieten längst
eine Regelung gegeben habe. Die Geltungskriegsgefangenen wie die besonders bestialisch gequälte Frau
Nowacki hätten einen Anspruch auf Leistungen aus dem
Fonds der Stiftung für politische Häftlinge. Herr
Hacker erweckte den Eindruck, durch Gesetzesänderungen und durch eine Aufstockung des Stiftungsbetrages
hätte es bei etwas mehr Pfiffigkeit der Antragstellerin
längst zu einer Entschädigung kommen können.
Doch leider weit gefehlt! Welche Enttäuschung, als
wir feststellten, dass uns im Wesentlichen finanzielle
Luftschlösser und Trugbilder als Alternativen vorgegaukelt worden sind! Denn Realität ist: Derzeit warten mehr
als 800 anerkannte politische DDR-Häftlinge auf Unterstützung. Wie soll da eine Leistung für eine neue Gruppe
wie die Geltungskriegsgefangenen zusätzlich zu finanzieren sein
({7})
- ich möchte im Gesamtzusammenhang vortragen -, zumal die Heimkehrerstiftung mit dem Rücken an der
Wand steht und ihre ureigenen Aufgaben überhaupt
nicht finanzieren kann, wie in der Anhörung mehrfach
deutlich wurde?
Als dritter Pfeiler Ihrer sehr dünnen Argumentation,
lieber Herr Körper, bleibt also nur noch übrig, dass mit
der Entschädigung für die Spätheimkehrer ein erneuter
Präzedenzfall geschaffen worden wäre. Aber das ist ein
reines Scheinargument. Andere Gruppen aus den neuen
Bundesländern haben sich mit Entschädigungsforderungen im Rahmen von Kriegsfolgelasten bisher überhaupt
nicht gemeldet.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD
und von den Grünen, Sie haben bereits vor zwei Jahren
ein moralisches und politisches Armutszeugnis abgeliefert, indem Sie schon damals einen Vorschlag, der auch
von Abgeordneten der SPD und den Grünen erarbeitet
Hartmut Büttner ({8})
worden ist, niedergestimmt haben. Heute haben Sie die
Chance, diese Fehlentscheidung zu korrigieren und zumindest eine späte Gerechtigkeit in Deutschland zu
schaffen.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Hans-Joachim Hacker von der SPD-Fraktion.
Lieber Kollege Büttner, ich muss drei Dinge klarstellen: Erstens. In der Anhörung des Innenausschusses
habe ich nicht gesagt, Frau Nowacki sei nicht pfiffig gewesen. Das hätte sich nicht gehört. Ich habe gesagt, die
Frau sei nicht richtig beraten worden.
({0})
Denn wenn sie richtig beraten worden wäre, hätte sie
längst einen Antrag bei der Stiftung gestellt. Wenn sie
den Antrag vor drei Jahren gestellt hätte, wäre sie schon
vor drei bzw. zwei Jahren in den Genuss dessen gekommen, was sie wollte. Sie wollte nämlich eine kleine Feier
mit ihrer Familie machen. Das dazu notwendige Geld
hätte sie längst bekommen. Die Leistungen betragen ungefähr 2 000 Euro.
Zweitens. Die HHG-Leistungen, die Sie angesprochen haben - in diesem Zusammenhang kritisieren Sie
die Bundesregierung und die Regierungskoalition -,
haben Sie im Jahre 1994 im Rahmen der SED-Unrechtsbereinigungsregelung auf 300 000 DM pro Jahr festgelegt. Nach Regierungsübernahme hat die rot-grüne Koalition diesen jährlichen Entschädigungsbetrag von
300 000 DM auf 1,5 Millionen DM erhöht.
({1})
Wir haben das Fünffache der Leistungen bereitgestellt,
die Sie vorgesehen haben. Jetzt kreiden Sie uns das an.
Drittens. Herr Büttner, Sie sprechen heute wieder davon - auch Ihre Kollegin Voßhoff hat das fälschlicherweise im Rechtsausschuss getan -, dass in Bonn Anträge
politischer Häftlinge liegen, die nicht bearbeitet werden.
Dies ist schlechtweg falsch. Nach § 18 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes gibt es für politische
Häftlinge einen Anspruch auf Unterstützungsleistungen.
All diese Ansprüche werden jährlich Schritt für Schritt
abgearbeitet.
Die Stiftung - ich war dort in der vorigen Woche - hat
mir erklärt: Es gibt beim Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz kein Problem, weil das Justizministerium
die Mittel in ausreichender Höhe bereitstellt. Wenn es
einmal aufgrund schwankender Antragszahlen Probleme
gibt, wird das BMF in jedem Falle behilflich sein.
Ich will dazu sagen: Wir haben ein Problem mit den
Zwangsverschleppten aus den Ostgebieten - Sie haben
es nicht angesprochen -, die jetzt in erhöhter Zahl Anträge stellen, wodurch tatsächlich ein Berg von Anträgen
aufgelaufen ist. Das hat Herr Körper hier auch eingeräumt. Wir arbeiten daran, diesen Berg abzubauen. Ich
kritisiere, dass es solch einen Berg gibt. Er muss zügig
abgebaut werden. Dafür müssen wir in den nächsten
Monaten mehr tun; aber wenn Sie behaupten, dass politische Häftlinge, die das Schicksal politischer Verfolgung
in der DDR erleiden mussten, durch uns keine Unterstützung erhalten, dann ist das schlichtweg falsch.
({2})
Herr Kollege Büttner, ich erteile Ihnen das Wort zur
Erwiderung.
Lieber Herr Kollege Hacker, in einem Punkt haben
Sie Recht: Sie haben in der Tat nicht Frau Nowacki mangelnde Pfiffigkeit vorgeworfen. Sie haben aber deutlich
gemacht, dass denjenigen, die sie beraten haben, offensichtlich nicht bekannt war, dass sie über diesen Fonds
für politische Häftlinge eine Entschädigung hätte erhalten können. Damit haben Sie ganz klar den Eindruck erweckt, dass die 14 000 Betroffenen, die noch leben, normalerweise schon längst auf der Grundlage Ihrer
Gesetzesänderung - wenn sie davon gewusst hätten hätten entschädigt werden können.
Wir haben in einer offiziellen schriftlichen Stellungnahme von der Stiftung für politische Häftlinge, die ich
Ihnen gerne zeigen kann, den folgenden Hinweis bekommen: 800 politische Häftlinge können derzeit nicht
entschädigt werden, weil entsprechende Finanzmittel
nicht vorhanden sind. Wir sollten gemeinsam einen Weg
finden, die Stiftung in beiden Bereichen zu verbessern.
Wir beteiligen uns gerne an der Arbeit.
Den betroffenen Spätheimkehrern - das zeigte die
ganze Anhörung - ging es nicht um die Frage der sozialen Bedürftigkeit; es ging ihnen um Gerechtigkeit. Sollen diese Summen von 500, 1 000 und 1 500 Euro - je
nachdem, wie lange die Damen und Herren in fremdem
Gewahrsam waren - wirklich zu viel für das demokratische Deutschland sein? Wollen Sie wirklich sagen, dass
wir, die deutsche Gesellschaft, diese 22 Millionen Euro
den Damen und Herren aus dem Osten - wir haben die
entsprechenden Entschädigungen im Westen gezahlt nicht zukommen lassen können? Das finde ich unmöglich!
({0})
Als nächste Rednerin hat Silke Stokar von Neuforn
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wiederhole, was ich schon in der letzten Debatte, als es um
die Frage der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit
Kriegsheimkehrern ging, gesagt habe, weil sich offensichtlich die ganze Debatte - nicht zum ersten Mal wiederholt. Es ist auch eine Wiederholung der Debatte,
die wir hier in der letzten, der 14. Legislaturperiode geführt haben.
Wir brauchen nicht in die Gesetzestexte zu schauen,
sondern wir müssen uns die Debatten von 1966 - man
kann sie in den Archiven nachlesen; sie wurden bereits
herangezogen und waren schon in der 14. Legislaturperiode von Bedeutung - ansehen. Es wird deutlich, es war
eine bewusste politische Entscheidung - sie war meiner
Meinung nach richtig - und kein Versäumnis von Politikern, dass - gerade von Vertretern früherer Fraktionen
der CDU/CSU, von Ihren früheren Innenministern und
Bundeskanzlern; es gab bis Ende der 60er-Jahre keine
anderen - immer wieder gesagt wurde: Für die schrecklichen Folgen des deutschen Faschismus und für die
schrecklichen Folgen dieses Krieges kann es überhaupt
keine gerechte Entschädigung geben. Es gibt so unvorstellbar viele Opfer, dass es nur nach Opfergruppen getrennte Hilfe geben kann, die in den Einzelfällen unterschiedlich ausfällt und auf die Personengruppe bezogen
ist.
Der Gerechtigkeitsunterschied liegt nicht in der Frage
Entschädigung oder Eingliederungshilfe, sondern darin,
dass diejenigen, die in die DDR zurückgekehrt sind,
doppelt bestraft waren: Diejenigen, die aus russischer
Kriegsgefangenschaft - unter Stalin - in die DDR zurückgekehrt sind, mussten ihr Kriegsgefangenenschicksal verschweigen. Außerdem erhielten Sie kein Geld.
Während Ihrer gesamten Regierungszeit sind Sie
nicht davon abgegangen, zu behaupten, es sei damals
eine bewusste Entscheidung für eine Stiftung gewesen,
um in Einzelfällen helfen zu können.
({0})
Herr Hacker und Herr Körper haben das richtig dargestellt. Was Sie fordern, wird zum Teil erst durch das ermöglicht, was während der rot-grünen Regierungszeit
getan wurde: Wir haben den fünffachen Betrag in die
Stiftung eingestellt. In Einzelfällen haben wir an Betroffene in Notlagen viel mehr als das gezahlt, was Sie als
pauschale Entschädigung an alle zahlen wollen, nämlich
bis zu 2 000 Euro.
Ich befürchte - das wurde aus den Reihen der CDU/
CSU angekündigt -, dass wir erneut, wie 1966 - sozusagen in permanenter Wiederholung -, über die einzelnen
Opfergruppen debattieren. Herr Marschewski hat angekündigt - das klang auch in Äußerungen im Bundesrat
und aus den Reihen der CDU/CSU an -, dass erneut über
die Stiftung debattiert werden soll.
In Ihren heutigen Reden klang Betroffenheit an. Ich
habe bei der Anhörung - die betroffenen Menschen
wurden von den Verbänden mit Bussen zur Anhörung
gefahren - aber den Eindruck gewonnen, dass Sie Parteipolitik auf dem Rücken alter, betroffener Menschen
machen.
({1})
Diese Parteipolitik auf dem Rücken der Betroffenen
setzten Sie hier und heute fort.
({2})
Es geht um die Emotionalisierung. Es geht um Stimmungsmache mit Opfergruppen. Ich sage Ihnen, dass ich
den Stil dieser Auseinandersetzung, den Stil dieser Debatte in diesem Hause nicht mehr mitmache,
({3})
weil ich denke, dass die Opfer eine andere Form der
Würdigung verdienen, nämlich die Form der Würdigung, die Rot-Grün vornimmt.
Sie hatten in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit die
Möglichkeit, etwas zu machen. Nach der deutschen Wiedervereinigung
({4})
war das für Sie kein Thema. Jetzt, wo Sie in der Opposition sind, machen Sie daraus ein parteipolitisches Thema
und tragen es auf dem Rücken der Betroffenen aus. Ich
bitte Sie, das jetzt einzustellen.
Danke.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei diesem Gesetzentwurf geht es um nicht mehr
und nicht weniger als die Beseitigung einer Ungerechtigkeit.
({0})
Es wäre nicht zu spät, wenn man diese Ungerechtigkeit
hier und heute beseitigen würde.
({1})
Herr Staatssekretär Körper, aus diesem Grund finde
ich Ihren Hinweis auf die Rede des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger aus dem Jahre 1966 wirklich deplatziert. Er habe damals, 1966, gesagt, dass die Kriegsfolgenentschädigung allmählich ein Ende haben müsse,
dass man nach vorne blicken müsse. Wenn das in unserer heutigen Debatte ein wirkliches Argument wäre
- ich will keine falschen Parallelen zu anderen Sachverhalten herstellen -, dann wäre es aber auch nicht
richtig, dass noch im Jahre 2000 Lücken bei der Entschädigung von NS-Unrecht geschlossen wurden; aber
alle vier Fraktionen waren der Meinung, dass das richtig ist.
({2})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit dem Zitat
aus der Rede von Kiesinger Ihrem Koalitionspartner
Bündnis 90/Die Grünen aus der Seele gesprochen haben,
setzt er sich doch dafür ein, die vergessenen Opfer aus
der NS-Zeit auch jetzt noch zu entschädigen. Das Zeitargument ist das schwächste Argument.
({3})
Es ist eine Ungerechtigkeit; denn die Frage der finanziellen Zuwendung hing von dem Zufall ab, ob ein
Kriegsheimkehrer in die damals sowjetisch besetzte
Zone, in die spätere DDR, oder in den Westen zurückgekehrt ist. Die Betroffenen können es nicht nachvollziehen, dass die eine Gruppe eine Entschädigung bekommen hat und die andere Gruppe nicht. Wenn von der
Bundesregierung ausgeführt wird, bei denjenigen, die in
den Westen gekommen sind, sei es keine Entschädigung,
sondern eine Eingliederungshilfe gewesen, dann können
das vielleicht Juristen verstehen, die betroffenen Menschen jedoch verstehen dies nicht.
({4})
Aus diesem Grund wird die FDP dem Gesetzentwurf zustimmen. Denn es ist darüber hinaus auch nicht der Fall,
dass wir als Bundesrepublik Deutschland damit finanziell überfordert wären.
Ich möchte allerdings einen Vorbehalt nennen. Es
hat mich in dem gesamten Gesetzgebungsverfahren ein
einziges ungutes Gefühl beschlichen. Wir kennen die
Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage; sie
wurde vom Herrn Staatssekretär soeben wieder dargestellt. Wir wissen auch, dass die früheren Bundesregierungen dieselbe Haltung hatten. Deswegen ist natürlich
absehbar, dass es für das berechtigte Anliegen keine
Mehrheit geben wird. Es tut mir daher Leid, dass in den
Menschen Hoffnungen geweckt worden sind, die mit
dem Ergebnis der Abstimmung, die gleich ansteht, enttäuscht werden.
({5})
Das ändert aber nichts daran, dass das Anliegen gerechtfertigt ist. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf zustimmen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Stadler, den Sachverhalt, den Sie am Ende
Ihrer Rede angesprochen haben, müssen diejenigen, die
dieses Gesetzesvorhaben unterstützen, tatsächlich erklären. Ich wiederhole: Sie wollen eine Gerechtigkeitslücke, von der Sie meinen, sie neu entdeckt zu haben,
schließen.
({0})
Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz ist allerdings schon
1992 verabschiedet worden. Sie hatten also acht Jahre
Zeit - Ihr erster Antrag stammt aus dem Jahr 2000 -, um
diese Gerechtigkeitslücke zu entdecken.
({1})
Sie haben sich vorhin über die Vorhaltungen von Frau
Kollegin Stokar von Neuforn empört gezeigt. Sie müssen aber schon erklären, warum der Prozess, zu dieser
Erkenntnis zu kommen, so lange gedauert hat, bis Sie in
der Opposition waren.
({2})
Bis heute schulden Sie eine plausible Erklärung dafür,
warum Sie so viele Jahre gebraucht haben, selbst wenn
Sie sagen, dass Sie das beim Gesetzgebungsverfahren
übersehen haben. Es ist doch nicht so, dass sich die Verbände in der Zwischenzeit nicht gemeldet hätten! Es ist
doch nicht so, als wäre das damals bei der Gesetzesberatung nicht bekannt gewesen! Noch schlimmer wäre,
wenn Sie sagen würden, Sie hätten die Kriegsgefangenen bei den Überlegungen, wie die beiden deutschen
Staaten zusammenwachsen sollen, so viele Jahre lang
schlicht und einfach vergessen. Das wäre ein Armutszeugnis.
({3})
Ich befürchte aber, dass die Frau Kollegin Recht hat.
Wenn das der Fall ist, dann muss man an die Verantwortung appellieren und fragen, ob wirklich jedes Thema
dazu geeignet ist, dieses parteipolitisch für sich wenden
zu wollen, wenn man in der Opposition ist,
({4})
oder ob man im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung bei bestimmten Themen nicht Kontinuität beweisen muss.
({5})
Ich versuche, Ihnen das zu belegen.
Herr Kollege Reichenbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz? - Bitte schön, Herr
Vaatz.
Herr Kollege Reichenbach, stimmen Sie mir zu, wenn
ich sage, dass es sicherlich eine Reihe von Fehlern gibt,
die die von unserer Partei und der FDP geführte Regierung in den 16 Jahren gemacht hat?
({0})
Es wäre eine lebensferne Vorstellung, zu meinen, dass
eine solch lange Regierungszeit fehlerfrei verlaufen
wäre.
Stimmen Sie mir weiter zu, dass Sie mit der Absicht
angetreten sind, solche Fehler, sofern sie zutage treten,
zu beseitigen? Stimmen Sie mir auch zu, dass es für Sie
keine Alternative zur Schließung dieser Gerechtigkeitslücke geben kann, wenn Sie der Meinung sind, dass es
sich um eine Gerechtigkeitslücke handelt, die wir verursacht haben, weil wir in diesem Punkt falsch gehandelt
haben? Stimmen Sie mir zu, dass es dann Ihre Aufgabe
ist, diese Gerechtigkeitslücke zu beseitigen, und alles andere ein Vergehen an den Bedürftigen wäre?
({1})
Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren das gleich
mehrere Fragen. Ich versuche trotzdem, sie zu beantworten.
An einem Punkt unterscheiden wir uns fundamental.
Der Bundeskanzler dieser Regierung hat an dieser Stelle
gesagt: Wir haben einen Fehler gemacht und wir versuchen, diesen Fehler während unserer Regierungsverantwortung zu beseitigen.
({0})
Das hat auf Ihrer Seite zu hämischen Reaktionen geführt. Sie entdecken Ihre Fehler bezeichnenderweise erst
dann, wenn Sie selber nicht mehr die Verantwortung tragen, die Verantwortung für die Finanzierung, Umsetzung
und weitere Gestaltung also andere zu tragen haben. Das
ist ein fundamentaler Unterschied zwischen uns.
({1})
Zweiter Punkt. Ich widerspreche Ihnen, dass dies damals wirklich ein Fehler im Sinne einer fehlenden Beratung und Entscheidung gewesen ist, und ich versuche,
das zu belegen. Ich darf zitieren:
Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,
dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergangen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.
Dies steht schwarz auf weiß als Begründung zu Ihrem
Gesetzentwurf von 1992. Deshalb können Sie sich nicht
hier hinstellen und sagen, wir hätten dies damals nicht
gewürdigt. Es sei denn, Sie würden sagen, dass Sie damals Begründungen geschrieben haben, deren Inhalt Sie
nicht verstanden haben. Das traue ich Ihnen aber nicht
zu. Das wäre gegenüber der Gruppe der Betroffenen übrigens auch zynisch.
({2})
Was 1992 galt, das gilt heute wohl erst recht.
Wir wissen, dass der genannte Verband - Verbände
haben dabei ihre spezifischen Aufgaben - eine andere
Rechtsposition vertritt. Herr Kollege Büttner, die Expertenanhörung hat nach unserer Einschätzung Folgendes
gezeigt: Außer den Vertretern des Verbandes haben alle
Experten die Position, die der Staatssekretär hier vorgetragen hat, bestätigt, nämlich dass es sich faktisch um
eine Eingliederungshilfe handelt. Sie selber haben dies
auch getan.
({3})
Lassen Sie mich jetzt auf das Thema Gerechtigkeit
zu sprechen kommen, zu dem Sie mit Ihrem Gesetz - so
sagen Sie - eine Klärung herbeiführen wollen. Das Problem ist nur - das ist deutlich geworden -, dass wir damit nicht das singulär existierende Gerechtigkeitsproblem der völlig ungleichen Behandlung der Kriegsfolgen
und der Entschädigung in den beiden deutschen Staaten
lösen, sondern dass wir damit im Grunde genommen viel
mehr neue Probleme schaffen.
({4})
Ich habe dies im Ausschuss bereits gesagt.
Moderne Kriege zeichnen sich dadurch aus, dass die
Zahl der betroffenen Zivilisten viel höher ist als die Zahl
der Betroffenen an der kämpfenden Front. In diesem
Sinne war der Zweite Weltkrieg ein erster moderner
Krieg, da sich diese Zahl im Vergleich zum Ersten Weltkrieg in dramatischer Weise umgekehrt hat. Sie müssen
uns schon die Frage beantworten - auch dies hat die Expertenanhörung eindeutig gezeigt -, warum es bei den
zivilen Opfern dieses Krieges eine völlig unterschiedliche materielle und sonstige Behandlung gegeben hat, je
nachdem, ob sie in der Bundesrepublik Deutschland
oder in der ehemaligen DDR gelebt haben. Die Fragen,
warum Sie bei diesen Menschen keine Gerechtigkeitslücke sehen und warum Sie das auf die Kriegsheimkehrer
fokussieren, die haben Sie weder in der ersten Lesung
noch im Ausschuss noch heute hier beantwortet.
({5})
Wir würden tatsächlich neue Gerechtigkeitslücken
produzieren. Sie haben angekündigt, dass Sie andere
Themen, die Sie schon einmal abschließend geregelt haben, erneut aufgreifen wollen. Ich bin auf die Debatten
und auch darauf gespannt, ob das, was Sie eben an
diesem Pult gesagt haben, zutrifft, dass es nämlich eine
letzte singuläre Regelung sei.
({6})
Ich bin gespannt, ob dies Bestand hat.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Gerechtigkeitslücke zurückkommen. Der Sachverständige Michael
Schwartz hat darauf hingewiesen, dass die Anerkennung
des Opfers keine materielle Frage ist, sondern dass es einer innergesellschaftlichen Diskussion bedarf, die es
den Menschen ermöglicht, die Traumata, die sie damals
erlitten haben, zu verarbeiten.
({7})
Auch das hat die Anhörung gezeigt - wir sehen das
ebenfalls -: Für viele sind die Erinnerung und die Aufarbeitung dieser Traumata, die für sie 40 Jahre lang nicht
möglich waren, ganz erhebliche persönliche Anliegen.
({8})
Das gilt nicht nur für diese Gruppe, sondern auch für
diejenigen, die sich bislang nicht artikuliert haben. Ich
erinnere an die vielen Vergewaltigungsopfer, die sich
erst heute trauen, ihre Leiden bekannt zu machen. Viele
wurden durch Bomben traumatisiert. Erst jetzt werden
solche Themen in der gesellschaftlichen Diskussion angesprochen.
Eine Vielzahl von Zivilisten war betroffen. Sie aber
reduzieren diesen gesamten Aspekt der gesellschaftlichen Aufarbeitung über Opfer und Täter. Ich spreche
von gemischten Biographien, die es in vielen Ländern,
nicht nur in Deutschland gegeben hat, verursacht durch
Krieg und Diktatur.
({9})
- Das gilt natürlich nicht nur für die Heimkehrer, sondern für alle. Sie bestätigen meine Argumentation. Es
geht um verlorene Jahre und um ertragenes Leid während der Gefangenschaft. Es geht auch um Demütigungen und Totschweigen in der DDR.
Herr Kollege Reichenbach, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss.
Die Frage ist: Ist eine Entschädigung zwangsläufig
mit einer materiellen Leistung verbunden? Wir sind der
Meinung, dass eine gesellschaftliche Anerkennung notwendig ist. Wir bestreiten Ihre Position, dass eine Entschädigung nur in Form einer materiellen Leistung geschehen kann.
({0})
Dort, wo es materieller Hilfe bedarf, sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten, nämlich bei den Stiftungen.
Diese Zusage können Sie entgegennehmen.
({1})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Klaus Brähmig von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der deutsche Journalist und Fernsehmoderator Robert Lembke hat einmal gesagt: Anerkennung ist
eine Pflanze, die vorwiegend auf Gräbern wächst. - Genau diese Aussage wird man wohl in der Zukunft leider
auch auf das schwere Schicksal der ostdeutschen
Kriegsheimkehrer und Zivildeportierten anwenden
können.
Die rot-grüne Bundesregierung war ab 1998 aus moralisch verständlichen Gründen bereit, mehr als
2,5 Milliarden Euro für die Entschädigung osteuropäischer Zwangs- und Sklavenarbeiter aus dem Bundeshaushalt zu zahlen. Ostdeutschen Kriegsheimkehrern
und Zivildeportierten hingegen wird von der gleichen
Bundesregierung aus ideologischen Gründen eine symbolische Entschädigung verweigert.
({0})
Für die Entschädigung dieser Gruppe müssten nur
etwa 22 Millionen Euro aufgewendet werden. Bei der
Entschädigung osteuropäischer Zwangsarbeiter wurde
aufgrund der Altersstruktur der Betroffenen immer mit
dem Gebot der Eile argumentiert. Heute wird bei der
Entschädigung unserer ostdeutschen Landsleute von der
gleichen Regierung die Lösung der Problematik durch
den Tod der Betroffenen anscheinend billigend in Kauf
genommen.
({1})
War die Verschleppung und Zwangsarbeit von deutschen Zivilisten, also Frauen und Jugendlichen, in den
osteuropäischen Staaten durch das Völkerrecht legitimiert? Sind nicht über 1 Million deutsche Soldaten in
den stalinistischen Arbeitslagern der sowjetischen Hemisphäre an Hunger, Seuche und Kälte gestorben?
Herr Kollege Brähmig, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hacker?
Ich möchte meine Rede im Ganzen vortragen. - Waren es nicht die ostdeutschen Heimkehrer und Zivildeportierten, die im Gegensatz zu ihren westdeutschen
Leidensgenossen nach ihrer Rückkehr keinerlei Entschädigung bekamen und zugleich von der SED-Diktatur
pauschal als Kriegsverbrecher stigmatisiert wurden? Daher frage ich die Abgeordneten der Regierungskoalition
an dieser Stelle: Warum verweigern Sie den ostdeutschen Kriegsheimkehrern und Zivildeportierten eine
symbolische Anerkennung ihres Leides?
({0})
Die öffentliche Anhörung des Innenausschusses im
Juni dieses Jahres hat eindrucksvoll dokumentiert, dass
die ostdeutschen Heimkehrer und Geltungskriegsgefangenen die Gesetzesinitiative der Freistaaten Thüringen
und Sachsen für eine einmalige Entschädigung begrüßen. Circa 250 Betroffene im Alter von über 80 Jahren
haben sich damals mit Bussen auf den Weg nach Berlin
gemacht und ihren Kampfeswillen für eine Anerkennung
ihres Schicksals verdeutlicht. Dazu sage ich noch: Darunter waren eine ganze Reihe von Sozialdemokraten.
Tiefe Enttäuschung zeigte sich bei den angereisten
Betroffenen allerdings angesichts der Haltung der rotgrünen Bundesregierung und der Abgeordneten der Koalition.
({1})
Dies verwundert nicht; denn bis 1998 haben sich auch
Vertreter von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im parlamentarischen Beirat des Verbandes der Heimkehrer,
Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen für eine
interfraktionelle Gesetzesinitiative ausgesprochen.
({2})
Herr Hacker, das wissen Sie ganz genau und viel besser
als ich. Ich habe damit keinen Wahlkampf bis 1998 gemacht.
({3})
- Na ja, wir lesen die Protokolle mal nach. - Noch vor
den Wahlen im Jahr 1998 sind SPD-Ministerpräsidenten,
SPD-Minister und verschiedene Bundestagsabgeordnete
durch die Veranstaltungen der Heimkehrerverbände gezogen und haben sich vehement für eine Entschädigung
der ostdeutschen Heimkehrer eingesetzt.
({4})
Auch die Auffassung der rot-grünen Bundesregierung,
man habe mit einer Aufstockung der Stiftungsmittel für
die Heimkehrerstiftung bzw. die Stiftung für ehemalige
politische Häftlinge bereits eine ausreichende und gerechte Lösung geschaffen, wurde bei der Expertenanhörung als Scheinlösung enttarnt.
({5})
Die Sachverständigen stellten übereinstimmend fest,
dass beide Stiftungen schon heute nicht mehr über ausreichende Mittel verfügen, um die notwendige Unterstützungsleistung an Betroffene zu gewähren. Wir haben
das vorhin auch hier von den Kollegen gehört.
({6})
An der finanziell desaströsen Lage des Bundes muss
dieser Gesetzentwurf jedenfalls nicht scheitern. Die
Bundesregierung wird im nächsten Jahr beispielsweise
88 Millionen Euro für Eigenwerbung ausgeben. Das sind
10 Millionen Euro mehr als im Jahr 2003.
({7})
Dies entspricht einem Anstieg von 11,4 Prozent. Mein
Vorschlag lautet daher: Verbessern Sie doch einfach die
Regierungsleistung um 100 Prozent. Dann brauchen Sie
deutlich weniger Eigenwerbung und wir haben genug Finanzmittel, um diesen Gesetzentwurf Wirklichkeit werden zu lassen.
({8})
Standhaft verweigern Sie von den Regierungsparteien
den ostdeutschen Betroffenen, die für Gesamtdeutschland
als lebende Reparationszahlung die Schuld der Nazibarbarei gesühnt haben, eine symbolische Anerkennung.
Und standhaft hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an
der Forderung nach einer einmaligen Entschädigung fest.
({9})
Die einzige Hoffnung für unsere ostdeutschen Landsleute bleibt also ein Regierungswechsel.
({10})
Dann wird es an uns sein, an der FDP und der CDU/
CSU, politische Glaubwürdigkeit zu beweisen und den
letzten überlebenden Betroffenen die Anerkennung nicht
erst im Grab auszusprechen.
({11})
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich Ihnen
mitteilen, dass ich die Rede der Kollegin Petra Pau zu
Protokoll nehme.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 15/407 über eine
einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem
Beitrittsgebiet. Der Innenausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/1625, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt die dritte Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Petra Weis, Eckhardt Barthel
({1}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck
({2}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und
Bauen voranbringen
- Drucksachen 15/1092, 15/1683 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim
Großmann das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Erstmalig liegt dem Deutschen Bundestag nun ein
Bericht zur Lage der Baukultur in Deutschland vor.
Die Bundesregierung hat diesen öffentlichen Dialog
über die Bedeutung von Architektur und Baukultur in
unserem Lande angestoßen. Sie griff damit auch Erwar-
tungen des Deutschen Bundestages und breiter gesell-
schaftlicher Gruppen auf. Als wir gestartet sind, konnten
wir kaum ahnen, wie viel Erfolg wir mit dieser Initiative
haben würden.
Die Initiative für Architektur und Baukultur wird von
den Ländern, den Kommunen, den planenden Berufen
sowie der Bau- und Wohnungswirtschaft mitgetragen. Es
geht darum, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für
die Bau- und Planungsqualität und die Leistungen von
1) Anlage 3
Bauschaffenden zu wecken und so die Akzeptanz und
den Anspruch einer der Qualität verpflichteten Baupolitik zu verbessern.
Fachlich geht es um die Unterstützung struktureller
Anpassungsprozesse, beispielsweise im Zusammenhang
mit Berufsbildern, bei der Qualifizierung, dem Verdeutlichen neuer Tätigkeitsfelder, der Verbesserung der Exportchancen für Bau- und Planungsleistungen und durch
Kooperationsmodelle.
Baukultur wird dabei nicht ästhetisch oder nur als Architektur verstanden. Im Blick sind alle baulichen Anlagen, ihre städtebaulichen Bezüge und auch die Planungskultur und die Ingenieurleistungen. Dieses Verständnis
ist Konsens unter allen Beteiligten.
Baukultur ist somit auch ein Motor für die Planungsund Bauwirtschaft. Sie müssen bedenken, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen: Fast 10 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts - das sind 55 Prozent aller Investitionen in Deutschland - werden in der Baubranche
verdient. Dies macht deutlich, wie wichtig ein innovatives und wettbewerbsfähiges Planungs- und Bauwesen
für Deutschland ist.
Baukultur ist aber noch viel mehr. Die Bürger haben
Anspruch auf Städte mit Gesicht, auf den Schutz des
kulturellen Erbes und auf einen verantwortungsvollen
Umgang mit der Natur. Es geht auch um Identität, Unterscheidbares und Authentisches. Es geht um Kommunikation, Lebensqualität, um das Wohl- und Verbundenfühlen. Schließlich geht es um die Zivilgesellschaft, um
das Bewusstmachen, Mitmachen und Einmischen.
Baukultur ist Gebautes, sind U-Bahneingänge, Bahnhöfe, Brücken, Lärmschutzwände, Parkhäuser und Gewerbegebiete. Baukultur sind aber auch Garten-, Grünund Freizeitanlagen. Die gesamte bebaute Umwelt unterliegt diesen Kriterien. Deshalb finden oder vermissen
wir Baukultur im Alltag tagtäglich.
Bundespräsident Rau hat auf dem Baukonvent in
Bonn festgestellt: Wenn einem Musik nicht gefällt, kann
man sie abschalten. Wenn einem ein Buch nicht gefällt,
kann man es zuklappen und beiseite legen. Gebautes
hingegen muss man zur Kenntnis nehmen, es sei denn,
man geht mit geschlossenen Augen durch die Stadt. Deshalb beeinflusst es die Bürgerinnen und Bürger viel
mehr als andere Kulturgüter. Der heute zur Abstimmung
stehende Antrag „Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen“ unterstreicht dies.
Die Beratungen in den Fachausschüssen haben über
alle Fraktionen hinweg die breite und einmütige Zustimmung dafür deutlich gemacht, die Qualitätsoffensive
fortzuführen. Die damit ausgedrückte Anerkennung des
Stellenwerts guter Architektur und von Ingenieurbauten
für die Wirtschaft und die Gesellschaft in unserem Land
ist ein wichtiges Zeichen für die Bürgerinnen und Bürger
und insbesondere auch für die Bauherren.
Für die Bundesregierung kann ich versichern, dass sie
die im Antrag im Einzelnen angesprochenen Punkte aufgreifen und wieder zum Stand der Umsetzung berichten
wird. Das gilt ausdrücklich auch als Bekenntnis zu der
besonderen Verantwortung des Bundes als Bauherr.
Das Konzept einer Stiftung Baukultur wird im vorliegenden Antrag klar unterstützt. Der baldige Aufbau
einer Bundesstiftung Baukultur ist das zentrale Ziel zur
Stärkung der Baukultur. Mit dem Gründerkreis und dem
anschließenden Konvent der Baukultur im April in Bonn
haben wir den ersten Schritt getan.
Wir haben inzwischen das Präsidium des Baukonvents gewählt. Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen: 490 Mitglieder des Baukonvents sollten an der
Abstimmung teilnehmen und 490 standen zur Wahl. Das
ist wohl ein einmaliges Verfahren. Jeder durfte wählen
und gewählt werden. Die Wahlbeteiligung für das Präsidium des Baukonvents lag bei fast 82 Prozent. Ich
glaube, dieses herausragende Ergebnis zeigt, dass wir
auf dem richtigen Weg sind, die Stiftung als bundesweite
Kommunikationsplattform zu institutionalisieren.
Dazu soll die Stiftung außergewöhnliche innovative
Planungs- und Bauaufgaben voranbringen und der Forschung Impulse geben. Sie soll herausragende baukulturelle Leistungen einer Stadt oder Region durch Wettbewerbe herausstellen und an kontroversen Baubeispielen
Qualitätsmaßstäbe konkret machen, sprich: auch über
negative Bauten reden. Sie soll den nationalen Erfahrungsaustausch voranbringen, sich am internationalen
Wettbewerb beteiligen und durch Herausstellen guter
Beispiele Interesse wecken und Marktchancen verbessern. Schließlich wollen wir die Entwicklung der Baukultur in Deutschland weiterverfolgen und darüber berichten. Die Stiftung soll also als Dialogplattform die
Instrumente flankieren, die der Bund als Rahmen für
baukulturelles Handeln den Gemeinden zur Verfügung
stellt, wie insbesondere das städtebauliche Planungsrecht und Finanzhilfen im Rahmen der Städtebauförderung, zum Beispiel des Programms „Soziale Stadt“ oder
von Stadtumbauprogrammen.
Wir haben zusammen mit dem Förderverein eine Informations- und Mobilisierungskampagne zur Klärung
auf den Weg gebracht. Wenn auch Private ein materielles
Interesse an einer Stiftung Baukultur zeigen, sind wir bereit, im Jahr 2005 die Stiftung zu errichten. Ich glaube,
sie wird uns allen den Rücken stärken. Der Deutsche
Bundestag kann heute ein Zeichen in die richtige Richtung setzen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Renate Blank von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute im Plenum über einen Bereich, der unter den
Begriffen „Architektur“ und „Baukultur“ zu finden ist.
Architektur, Baukultur und eine Qualitätsoffensive für
gutes Planen und Bauen eignen sich zwar für leidenschaftliche Diskussionen, nicht aber für einen politischen Streit. Es ist gut, dass es noch Themen gibt, die im
Parlament gemeinsam, sachlich und engagiert behandelt
werden können.
({0})
Architektur ist nach Vitruv, einem Architekten und
Schriftsteller im antiken Rom, die Mutter aller Künste
und zugleich die öffentlichste. Das stimmt auch heute
noch; denn der Architektur kommt in unserer Gesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Jeder, der qualitätsvoll baut, trägt einen kleinen Teil zum großen Mosaikbau Kultur bei. Architektur entwickelt visionäre Kräfte
und steht in der Verantwortung, zukunftsweisend zu
agieren und Geschichte aktiv zu beeinflussen. Innovation bedeutet deshalb nicht einfach ein Mehr an Technik,
sondern auch ein Mehr an kritischer Reflexion und eine
Zunahme an nachhaltigen und experimentellen Konzepten. Architektur als Quelle der Innovation spiegelt in ihrer umfassenden Qualität Aspekte des gesellschaftlichen
Wandels wider oder nimmt sie sogar vorweg. Sie hat
sich mit neuen Materialien, neuen Technologien und
neuen Produktionsmethoden auseinander zu setzen. Ihr
kreativer Gebrauch lässt eine neue zeitgenössische Ästhetik entstehen.
Bauen und Kultur ist eine Begriffskombination, von
der in den Medien nur wenig zu lesen, zu hören und zu
sehen ist. Wenn vom Bauen die Rede ist, dann stehen
meist andere Themen im Vordergrund, zum Beispiel die
Dauerkrise der Bauwirtschaft, illegale Beschäftigung am
Bau, öffentliche Projekte, die mehr kosten, als ursprünglich geplant, Nutzen und Kosten von Autobahntrassen
und Umgehungsstraßen. Von Baukultur ist nur ganz selten die Rede. Für mich ist Baukultur unteilbar. Sie beschränkt sich nicht auf die Architektur, sondern umfasst
gleichermaßen auch Ingenieurbauleistungen, Stadt- und
Dorfentwicklung, Landschaftsarchitektur und Kunst im
öffentlichen Raum.
Baukultur muss im ständigen Dialog zwischen Fachleuten und Bürgern, mit Fachbehörden, Bauverwaltungen, Handwerkern und Bauherren verankert und weiterentwickelt werden. Dabei kommt es darauf an, die
öffentlichen Räume so zu gestalten, dass wir uns in ihnen wohl fühlen. Daher ist gute Gestaltung ein Grundbedürfnis. Um dies zu befriedigen, müssen alle Beteiligten
im ständigen Dialog gemeinsame Werte formulieren.
Wenn die Baukultur wieder stärker in das Bewusstsein
der Bauherren rückt, steigert das auch die Nachfrage
nach qualitativ hochwertigen Architekten- und Ingenieurleistungen. Es geht dabei nicht um Vorgaben oder
starre Richtlinien. Baukultur ist der Prozess der Herstellung.
Für die Stadt ist der öffentliche Raum ein wesentliches stadtbildendes Element, auf dessen Gestaltung,
Nutzung und Vernetzung Gewicht gelegt werden muss.
Das ist auch eine Herausforderung für Planer und Bauschaffende, Qualität mit tragbaren Kosten zu verknüpfen. Baukultur ist eine Angelegenheit, die alle Ebenen
angeht. Wir gewinnen die Zukunft aber nur dann, wenn
jede Ebene dort aktiv ist, wo sie die besten Handlungsmöglichkeiten hat.
Baukultur manifestiert sich vor allem in der Planungs- und Verfahrenskultur. Sie wird durch den Willen
zur Qualität, durch qualitätsstützende Verfahren sowie
eine hohe Integrations- und Kommunikationsleistung
bestimmt. Hochwertiges Planen und Bauen ist zudem
ein wichtiger Standort- und Wirtschaftsfaktor. Wir müssen aber auch die Wertschätzung, den Schutz und die
Pflege des architektonischen Erbes und der gewachsenen
Kulturlandschaft als Verpflichtung für die Gestaltung der
Zukunft begreifen nach dem Motto: Die Tradition pflegen und den Fortschritt planen!
Meine Damen und Herren, Gebäude prägen nicht nur
Stadtviertel und Städte, sie prägen auch unsere Gesellschaft. Das kann Konsequenzen haben, die weit reichen.
So weit wie Hans Magnus Enzensberger, der einmal
sagte: „Jeder Städtebewohner weiß, dass die Architektur,
im Gegensatz zur Poesie, eine terroristische Kunst ist“,
möchte ich allerdings nicht gehen. Damit jedoch Beliebigkeit und Stillosigkeit nicht zu einem prägenden Muster werden, brauchen wir Menschen, die die Fähigkeiten
und die persönliche Autorität haben, Orientierungspunkte für gutes Bauen zu setzen und Qualitätsmerkmale zu definieren, hinter die niemand zurückfallen
sollte. Darin sehe ich auch die Hauptaufgabe der Initiative Baukultur; denn wenn man heute die Menschen auf
der Straße fragen würde, was sie von moderner Architektur halten, dann würde die Mehrheit vermutlich kein
besonders freundliches Urteil fällen. Aber jede Zeit hat
ihre Bausünden. Ich denke hier insbesondere an die
Bausünden der Nachkriegszeit, nämlich die Trabantenstädte mit ihren heute seelenlosen Wohnquartieren.
Wer als Architekt und als Baumeister sein Handwerk
professionell versteht, der steht immer auch in einer
gesellschaftlichen Verantwortung. Noch so gelungene
Baukunst ist nicht zweckfrei. Sie ist kein Kunstersatz
und keine Ersatzkunst, sondern ist von dem Zweck bestimmt, dass Menschen in Wohnungen und Häusern
möglichst gut leben und dass sie in Büros und Fabrikhallen möglichst zufrieden und erfolgreich arbeiten können.
Ein Haus, in dem sich Menschen nicht wohl fühlen, ist
ein schlechtes Haus, mag es ästhetisch noch so eindrucksvoll sein - Baukultur und gutes Bauen ist es dann
nicht.
Meine Damen und Herren, Ihrem Antrag „Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen“
stimmen wir zu und unterstützen ihn grundsätzlich in
seiner Zielrichtung. Einige Anmerkungen: Die Aufforderung an die Bundesregierung, vielfache Aktivitäten
zugunsten qualitätsvollen Planens und Bauens aufzunehmen, bestätigt diejenigen Bundesländer und Kommunen,
die auf diesem Gebiet seit langem traditionell erfolgreich
handeln. Als Beispiel nenne ich Bayern, das mit Unterstützung seiner obersten Baubehörde immerhin seit 1830
die Baukultur entscheidend beeinflusst. Innovativ und
vorbildhaft werden staatliche Hochbauten wie Universitäten und Museen, zuletzt die Pinakothek der Moderne
in München mit ihrer eindrucksvollen Architektur, aber
auch ein großer Teil des bayerischen Straßennetzes betreut.
Ich möchte hervorheben, dass die in Forderung 1 Ihres Antrags als „Dritte“ angesprochene Gruppe, also Architekten, Ingenieure oder Unternehmen der Bau- und
Wohnungswirtschaft, sozusagen als Produzenten von
Baukultur fungieren und damit eine sehr wichtige Aufgabe wahrnehmen. Die öffentliche Hand kann allerdings
nur die Rahmenbedingungen vorgeben.
Zu Ihrer Forderung 7 möchte ich ausdrücklich betonen, dass baukulturelle Aspekte und Gestaltungsfragen
nicht extra eingeräumt werden dürfen; denn sie sollten
von Anfang an bei allen Planungs- und Bauprozessen als
selbstverständliche Qualitätsanforderung bestehen.
Hohe baukulturelle Qualität muss bereits in der Siedlungs- und Entwicklungsplanung vorhanden sein, damit
sie in den nachfolgenden Planungsphasen erweitert und
konkretisiert werden kann. Sie manifestiert sich letztendlich in der gelungenen Umsetzung von Bauvorhaben.
Zu Ihrer Forderung 8 ist aus meiner Sicht zu unterstreichen, dass in den Diskussionen um Bewertungen zur Baukultur die Stadtplanung und Stadtquartierplanung eine
starke Berücksichtigung finden muss. Mindestens
ebenso stark wie die Ästhetik einzelner Gebäude prägen
die funktionale Zuordnung von Nutzungen und ihre Ausformungen im Grund- und Aufriss unserer Städte und
Dörfer das Meinungsbild über städtebauliche Qualität
und Baukultur. Anders ausgedrückt: Ein funktionierender Stadtorganismus mit nachvollziehbaren und räumlich überzeugend umgesetzten Strukturen wird immer
robust genug sein, auch durchschnittliche oder im Einzelfall auch schlechte Einzelgebäude zu ertragen, ohne
dass dadurch insgesamt der Eindruck schlechter Qualität
vorherrscht.
Weiterhin wird in diesem Punkt die humane Qualität
von Baukultur erwähnt - ein Anliegen, das insbesondere
für den Wohnungsbau von zentraler Bedeutung ist. Die
Schaffung von Wohnqualität in Funktion und Gestaltung
ist dabei nicht nur eine baukulturelle Aufgabe, sondern
auch eine soziale Verpflichtung für den Staat, von deren
Erfüllung die Zukunft unserer Städte und die Stabilität
unserer Gesellschaft nicht nur indirekt abhängen.
Auch Infrastrukturen wie Straßen und Brücken sind
ein wesentlicher Teil der gebauten Umwelt, die durch
ihre exponierte Lage oft dominieren und damit einen
wichtigen Teil der Baukultur unseres Landes darstellen.
Für den öffentlichen Bauherrn, also für den Staat, die
Städte und die Gemeinden, die für Planung, Bau und Unterhaltung der Straßen zuständig sind, ergibt sich daraus
eine große Verantwortung, sowohl in technischer und
gestalterischer als auch in sozialer und gesellschaftlicher
Hinsicht.
In Ihrem Antrag sprechen Sie sich auch für die verstärkte Durchführung von Architekten- und Ingenieurwettbewerben bei bedeutenden Baumaßnahmen des
Bundes aus. Ich gehe davon aus, dass Sie mit mir der
Meinung sind, dass wir gerade jungen Leuten die Möglichkeit geben sollten, sich an Ausschreibungen rege zu
beteiligen, obwohl sich an den in der letzten Zeit leider
üblicherweise beschränkten Ausschreibungen nur noch
große Büros beteiligen konnten.
({1})
Nun möchte ich noch einige Anmerkungen zur geplanten Stiftung „Baukultur“ machen, die zum Ziel
hat, der Baukultur in Deutschland mehr Aufmerksamkeit
zu verschaffen und die Marktchancen der deutschen Architekten und Ingenieure zu verbessern. Auch sollen
durch die Arbeit dieser Stiftung die Qualität, die Nachhaltigkeit und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
Architektur- und Ingenieurwesens herausgestellt werden.
Der 1. Konvent der Baukultur ist im April dieses
Jahres unter dem Motto „Auf dem Weg zur Stiftung“ zusammengetreten. Es wurde über die Perspektiven von
Planung und Architektur in Deutschland beraten und deren Bedeutung als wichtiger Standortfaktor hervorgehoben. In den Medien wurde dieser Konvent allerdings kritisch beleuchtet. Für uns stellen sich zur geplanten
Bundesstiftung insbesondere noch die Fragen nach der
Finanzierung. Soll sie durch eine private Beteiligung
und durch einen einmaligen oder durch einen jährlichen
Bundeszuschuss erfolgen? Sollen sich die Bundesländer
oder die Kommunen ideell und finanziell beteiligen?
Welche Personen vertreten die Stiftung? Über diese Fragen wird in der Zukunft noch zu reden sein.
Wir stehen positiv zu dieser Stiftung, die viele Partner
braucht, damit Baukunst und Baukultur stärker in das
Bewusstsein der Gesellschaft rücken und sich zu einer
gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickeln können.
Wir hoffen auch, dass die Diskussion über Baukultur den
internationalen Stellenwert der deutschen Architekten,
Ingenieure und Planer hebt und die Leistungen dieser
Partner auch zu einem wichtigen Exportartikel machen
werden.
Architektur hat Außenwirkung. Bereits in den Schulen sollte angefangen werden, über gutes Planen und
Bauen zu sprechen. Bayern hat dieses Thema bereits seit
einigen Jahren in den Unterricht aufgenommen. Nachahmung in anderen Bundesländern wird empfohlen.
Bauen ist nicht nur eine Angelegenheit von Bauherren und Architekten. Immer sitzt ein öffentliches Interesse mit am Tisch. Das unterscheidet die Kunst des
Bauens wesentlich von der reinen Kunst, bei der Künstler und Kunstwerk zunächst einmal für sich stehen. Baukultur bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen
individueller Nützlichkeit und sozialer Brauchbarkeit.
Baukultur ist keine Nebensache und schon gar nicht gefällige Verpackung.
Ich komme zum Schluss. Baukultur bildet sich auf der
Grundlage von Haltungen und Einstellungen. Baukultur
braucht Qualitätsmaßstäbe; darum ist Baukultur keine
Aufgabe, die sich allein an den Gesetzgeber delegieren
lässt. Baukultur ist auf Persönlichkeiten mit Autorität
und unabhängigem Urteil angewiesen, die sich in öffentlichem Interesse um das mühsame Formulieren von
Maßstäben bemühen. In diesem Sinne sind Architektur
und Baukultur eine Daueraufgabe, der wir uns gemeinsam stellen sollten.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ursula Sowa vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte Ihnen drei Gründe nennen, warum
wir vom Bündnis 90/Die Grünen der Beschlussempfehlung zu dem Antrag „Die Qualitätsoffensive für gutes
Planen und Bauen voranbringen“ ganz besonders gerne
zustimmen.
Erstens. Wir alle wissen, dass Deutschland nach wie vor
- leider - europäischer Spitzenreiter im Flächenverbrauch
ist. 130 Hektar werden am Tag verbaut, davon 30 Hektar
allein in Bayern, liebe Frau Blank.
({0})
- Ja. - Spätestens seit der Enquete-Kommission „Nachhaltige Entwicklung“ ist bekannt, dass der Flächenverbrauch aus ökologischen Gründen drastisch gesenkt werden muss. Sogar in Bayern geht der Flächenverbrauch
zurück, aber nicht aus wirklicher Einsicht in die Problematik, sondern weil der demographische Wandel da bereits greift. Angepeilt wird - da beziehe ich mich noch
einmal auf die Enquete-Kommission -, dass deutschlandweit nur noch 30 Hektar am Tag verbraucht werden.
Dies führt selbstverständlich dazu, dass in der Zukunft
das Bauen - dabei ist natürlich an Straßen, Brücken,
Häuser oder auch Schlösser zu denken; die Diskussion
hatten wir gestern im Kulturausschuss - sozusagen immer kostbarer wird. Angesichts dessen kann meiner
Meinung nach eine Offensive für Qualität nur hilfreich
sein.
Ein zweiter Grund dafür, dass wir diese Offensive
sehr unterstützen, liegt darin, dass sie ein außerordentlich geeignetes Instrument ist - meine Vorrednerin und
mein Vorredner haben darauf hingewiesen -, um in unserem manchmal sehr unzufriedenen und sehr zerrissenen Land eine Debatte über unsere Grundwerte - das ist
nicht zu hoch gegriffen - zu entfachen. Dazu gehören
durchaus die Debatte über die sozialen Brennpunkte in
unseren Städten - als Stichwort möchte ich Hoyerswerda
nennen -, aber auch die Debatten über Geschichtlichkeit.
Dazu möchte ich anführen, weil es gerade so aktuell ist,
dass 20 Millionen Euro ausgegeben werden sollen, um
den asbestsanierten Palast der Republik abzureißen, und
590 Millionen Euro Bundesmittel für den Wiederaufbau
des Schlosses bereitgestellt werden sollen. Diese Debatten sind alt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mithilfe
des Baukonvents wieder Aktualität bekommen. Vielleicht werden auch Debatten über Regionalität, Identität
und Ökologie auf einer ganz anderen Plattform entstehen.
Als dritten Grund möchte ich am Schluss anführen:
Wir finden die Idee einer Bundesstiftung „Baukultur“
außerordentlich tragfähig, zumal es um ein überschaubares Volumen geht. 10 Millionen Euro sind angepeilt.
Davon soll der Bund die Hälfte aufbringen und die anderen 5 Millionen Euro sollen hauptsächlich von Architekten, Ingenieuren und Unternehmen aus der Bau- und
Wohnungswirtschaft kommen. Ich hoffe - ich bin sehr
optimistisch -, dass diese 5 Millionen Euro eingehen.
Derzeit gibt es eine 100-Euro-Kampagne, die in allen
Bereichen der Bauwirtschaft läuft: Jeder Interessierte
möge 100 Euro spenden. In diesen Tagen und in den
nächsten Wochen werden etwa 150 000 Architekten und
Ingenieure angesprochen bzw. angeschrieben. Wenn jeder Dritte diese Spendensumme aufbringt, dann steht der
Stiftung nichts im Wege. Ich bin dabei und spende sehr
gerne 100 Euro. Ich freue mich auf den Moment, in dem
wir - vielleicht schon im nächsten Jahr - die Bundesstiftung gemeinsam aus der Taufe heben.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unsere Kollegin Renate Blank hat dank der ihr
zur Verfügung stehenden Redezeit dieses Thema heute
so umfassend dargestellt, dass man genau überlegen
muss, was zu einem Thema, über das parteiübergreifend
Konsens herrscht, noch gesagt werden kann. Einige
Worte möchte ich schon noch sagen.
In den letzten Jahren hat in diesem Bereich ein Umdenkprozess stattgefunden und das ist auch gut so. Die
Auseinandersetzung mit der bebauten Umwelt stößt auf
wachsendes Interesse, nicht nur in Fachkreisen, wie das
früher der Fall war, sondern auch in breiten Kreisen der
Bevölkerung. Baukultur ist nicht nur eine ästhetische
Angelegenheit - Staatssekretär Großmann hat es dargelegt -; Baukultur ist eine Integration von vielen Aspekten des Ingenieur- und Architekturwesens, der Landschafts- und Freiflächenplanung, des Städtebaus, des
Denkmalschutzes und der Kunst am Bau. Baukultur bezieht sich eben nicht nur auf das Gebäude, sondern auf
den gesamten Bereich der Umwelt.
Der vorliegende Antrag ist eine positive, aber - diesen
kleinen Wermutstropfen möchte ich doch erwähnen nicht umfassende Qualitätsoffensive für gutes Planen und
Bauen. In dem Gesamtkontext fehlt die Forderung nach
der Vereinfachung der Bauvorschriften. Eine Stiftung
„Baukultur“ darf sich nicht auf die Formulierung erhabener Ziele und Idealvorstellungen beschränken, sondern
sollte auch konkrete Vorschläge dazu entwickeln, wie
qualitätsvolles Bauen umgesetzt werden kann. Vielfach
sind es ja unsere starren Vorschriften in der Bauordnung,
die die Kreativität der Ingenieure und Architekten einschränken und manchmal gesichtslose Bauten entstehen
lassen.
({0})
Diese Grundforderung unserer Partei nach Vereinfachung des Baurechts habe ich in dem Gesetzentwurf zur
Änderung des Baugesetzbuches, den das Kabinett gestern verabschiedet hat, nicht wiedergefunden. Aber da
haben wir noch Zeit; wir werden darüber diskutieren. Ich
bin sicher, dass es von unserer Seite konkrete Vorschläge
geben wird.
Die Regelungen des Denkmalschutzes dürfen nicht
baubehindernd, sondern sollten bauintegrierend wirken.
Auch hier ist in manchen Bereichen ein Umdenken erforderlich. Viele haben erkannt, dass das Bauen im Außenbereich zu einer Abkehr der Menschen von den
Stadtzentren führt. Da sind wir uns alle einig. Angesichts
der zunehmenden Entvölkerung mancher Stadtkerne
muss im Innenstadtbereich und damit auch im Denkmalschutz vieles getan werden.
Denkmäler aus der Vorkriegszeit, aber auch aus der
Zeit danach, die in hoher Zahl in unseren Städten stehen,
müssen nutzbar gemacht werden. Auch ein Denkmal hat
ein Anrecht darauf, zu leben oder zumindest perspektivisch betrachtet zu werden. Deshalb wäre es wünscheswert, dass sich die Diskussion in der weiteren Entwicklung um einen Konsens zum Denkmalschutz bemüht,
damit ein Denkmal nicht baubehindernd in einer Stadt
stehen bleibt, sondern integriert werden kann.
Das Bauen im Bestand, das Erhalten und Erweitern
von Baudenkmälern ist eine große Aufgabe der nächsten
Jahrzehnte für unsere Architekten. Wir als FDP unterstützen deshalb den vorliegenden Antrag und hoffen,
dass es zu einer sinnvollen und ausreichenden Diskussion in der neuen Stiftung kommt.
Herzlichen Dank.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Petra Weis von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein bisschen schade, dass wir unser Thema Baukultur zu einer
Tageszeit diskutieren, die weder das kollektive Interesse
unseres Hohen Hauses noch das der breiten Öffentlichkeit zu wecken geeignet ist. Damit will ich nicht die
Teilnahme unserer Gäste zu dieser Uhrzeit klein reden;
ganz im Gegenteil freue ich mich sehr, dass sie dieser
Debatte folgen.
Wir diskutieren heute über einen relativ neuen politischen Gegenstand. Wir reden darüber, wie konstruktive
und zukunftsweisende Problemlösungen aussehen können, bei denen es gelingt, trotz unterschiedlicher Interessen- und Bedürfnislagen der Beteiligten eine ganz wesentliche Gemeinsamkeit herauszuarbeiten. Lassen Sie
es mich so formulieren: Baukultur zielt auf das Bedürfnis - ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Grundbedürfnis - eines jeden Menschen, in einer schönen, gut
gebauten Umgebung zu wohnen, zu arbeiten und zu leben.
Auch wenn wir für uns nicht in Anspruch nehmen
können, die Baukultur erfunden zu haben, so haben wir
doch die Rolle der politischen Promotoren im Rahmen
der Initiative Architektur und Baukultur zu spielen, die
sich fast in Windeseile ausgebreitet und eine Dynamik
entwickelt hat, die sicherlich viele von uns überrascht
hat.
Dieses ausgesprochen positive Zwischenergebnis hat
sicherlich viele Ursachen. Eine wesentliche scheint mir
zu sein, dass die umfassenden Herausforderungen - ich
will nicht gleich von Krise sprechen -, denen sich öffentliche und private Bauherren, Ingenieure, Architekten
und Planer, aber auch die Bauwirtschaft ausgesetzt sehen, von den Beteiligten als Chance begriffen werden
können, verstärkt und zielorientiert nach Reformstrategien zu suchen und diese dann auch zu finden.
Diese positive Einschätzung resultiert sicherlich auch
daraus, dass wir und auch viele andere erkannt haben,
dass Baukultur eben kein Luxus für Zeiten gut gefüllter
Kassen und boomender Konjunktur oder andere Schönwetterperioden ist. Baukultur ist eine Querschnittsaufgabe, die die unterschiedlichsten Themenfelder umfasst.
Das beginnt bei der Stadtentwicklung, geht über den
Städte- und Wohnungsbau und hört bei der Sozial-, Bildungs- und Kulturpolitik sicherlich nicht auf.
Wir reden bei der Baukultur immer über mehrere Optionen: über den Neubau ebenso wie über den Erhalt
durch Modernisierung, aber auch über den Abriss, wir
reden über die Anforderungen des Denkmalschutzes und
damit über unser eigenes Verhältnis zur Vergangenheit.
Bei alledem stehen wir in Konkurrenz zum Zeitgeist und
zu den Anforderungen des Wettbewerbs- und Konkurrenzdrucks.
Denn natürlich geht es bei der Baukultur - Staatssekretär Großmann hat darauf hingewiesen - im nationalen
wie im internationalen Rahmen auch um handfeste ökonomische Interessen. Wir wollen und müssen die Chancen unserer Planer, Architekten und Ingenieure auf den
Märkten europa- und weltweit verbessern. Dazu dient
die angestoßene Qualitätsoffensive, die nicht auf die
Fachkreise der verschiedenen Disziplinen beschränkt ist,
sondern letztendlich ganz große Teile der Bevölkerung
betrifft. Dieses Zusammentreffen von Profis und Laien
- ich drücke das einmal so aus - über die Zukunft der
Baukultur wird hoffentlich in einem spannenden und
auch zivilgesellschaftlichen Prozess einmünden.
Mit unserem Antrag ermutigen wir die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die Stiftung „Baukultur“ schon bald konkrete Formen annehmen kann und
dass das Konzept dieser Stiftung ein ganz breites Spektrum an Aufgabenfeldern einbezieht, das von der Sicherung der Bauqualität und der Verfahrenskultur über die
bildungspolitischen Aspekte der Wissensvermittlung in
Fragen der Baukultur gerade auch bei jungen Menschen
bis hin zur Stärkung der Verantwortung der Bauherren
- der öffentlichen wie auch der privaten Bauherren reicht.
Dabei ist uns die Vorbildfunktion des Bundes - wie
aller anderen staatlichen Ebenen - besonders wichtig.
Denn das öffentliche Bauen setzt nach wie vor Maßstäbe
für private Nachahmungseffekte. Dieser Gedanke gibt
mir die Gelegenheit, auf die zahlreichen Initiativen in
den Bundesländern hinzuweisen. Frau Blank hat über
Bayern gesprochen. Frau Blank, ich muss an dieser
Stelle auch über die nordrhein-westfälischen Initiativen
sprechen. Das sehen Sie mir nach.
({0})
Ich will auch die Kommunen einbeziehen, die sich nicht
zuletzt angesichts der Stadtflucht wieder stärker zu einer
ganzheitlichen Entwicklung von Quartieren entschließen
und dabei der Baukultur - allen Zwängen durch die Vorgaben mancher Investoren zum Trotz - einen höheren
Rang einräumen. Das sind für die Kommunen oftmals
ein Spagat und eine Gratwanderung zugleich, wie ich
aus meiner eigenen kommunalpolitischen Erfahrung
weiß.
Wir haben allen guten Grund, die Bundesregierung
aufzufordern, die Arbeit an diesem Thema fortzusetzen,
und zwar immer im engen Kontakt zu den übrigen Verantwortlichen auf allen Ebenen, aber vor allen Dingen in
engem Kontakt zum Parlament, damit wir wiederum
eine Grundlage haben, um über die weiteren Entwicklungsziele und Entwicklungsschritte der Kampagne und
der Initiative beraten und entscheiden zu können.
Ich freue mich darüber und ich bedanke mich ganz
ausdrücklich dafür, dass wir auch bei der Opposition Zustimmung für diesen Ansatz erhalten haben. Frau Blank,
sehen Sie es mir nach: Ich habe heute Abend nicht so
viel Zeit, um auf jede Ihrer Anmerkungen eingehen zu
können. Aber Sie haben vollkommen Recht: Wir können
im weiteren Verlauf der Debatte sicherlich noch die Details klären, darüber diskutieren und Kontroversen austauschen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit der Initiative
„Architektur und Baukultur“, mit dem Statusbericht der
Bundesregierung, mit den Vorbereitungen zum Aufbau
der Stiftung und nicht zuletzt mit unserem Antrag ist in
erstaunlich kurzer Zeit ein Prozess verstetigt worden,
der bundesweite Ausstrahlung gefunden hat und nach
unserer festen Überzeugung sicherlich einen nachhaltigen Bewusstseinswandel nach sich ziehen wird: für unsere gebaute Umwelt, für gutes Bauen und Planen, für
liebens- und lebenswerte Quartiere und Städte, für eine
neue Urbanität in Zeiten des Wandels, dessen hohes
Tempo manche im Augenblick noch überfordert, und
damit eben auch für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dieser Aspekt ist mir besonders wichtig.
Ich denke, dass es auch an uns liegt, diese Entwicklung nachhaltig zu begleiten und zu befördern und damit
der Städtebau- und Wohnungspolitik am Beispiel des
Themas Baukultur einen ganz wichtigen Baustein dauerhaft hinzuzufügen, der unser Politikfeld - wie ich hoffe ganz nebenbei wieder ein Stückchen weiter ins Zentrum
der innenpolitischen Debatten rückt. Das jedenfalls sind
meine Hoffnung und meine Erwartung. Ich hoffe, es sind
auch die Ihrigen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/1683 zu dem Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen vo-
ranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1092 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit ein-
stimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:
16 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Daniel Bahr ({0}), Rainer
Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({1})
- Drucksache 15/751 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Daniel Bahr ({3}), Rainer
Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/753 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten
Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/1687 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wenn Sie einverstanden sind, sollen alle Reden zu
Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden
der Kollegen Dr. Uwe Küster von der SPD und Eckart
von Klaeden von der CDU/CSU, um die Rede der Kolle-
gin Silke Stokar von Neuforn vom BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sowie um die Rede des Kollegen Rainer
Funke von der FDP.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 15/751, 15/753 und 15/1687
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes über die Errichtung einer
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernäh-
rung
- Drucksache 15/1663 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Für diesen Tagesordnungspunkt ist eine halbe Stunde
vorgesehen. Es wollen aber alle Abgeordneten bis auf
einen ihre Reden zu Protokoll geben, und zwar die Kol-
legen Matthias Weisheit von der SPD-Fraktion, Albert
Deß von der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Ostendorff
vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und für die Bundes-
regierung Dr. Gerald Thalheim.2) Der Kollege HansMichael Goldmann möchte Ihnen das, was er zu sagen
hat, persönlich sagen. Dafür bekommt er allerdings nicht
die Redezeit der anderen hinzu, sondern er muss sich auf
drei Minuten beschränken.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie,
auch der eine oder andere Zuhörer, werden sich sicher
fragen: Warum macht der eigentlich so einen Willi um
seine drei Minuten? Es ist doch schon spät. - Genau das
ist der Grund. Der Tagesordnungspunkt ist nämlich extra
für einen so späten Zeitpunkt angesetzt worden, weil
man wieder einmal etwas verschleiern, wieder einmal
eine Tatsache verdrehen will.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel aufzeigen: Da
wird mal eben ein kleines Gesetz geändert. Eigentlich
klingt es ganz harmlos. Plötzlich soll - man muss genau
hinhören - aus „Vorschlagsrecht“ „Anhörung“ werden.
Alle, die keine Ahnung haben, meinen, das sei fast das
Gleiche. Aber das ist nicht der Fall. „Vorschlagsrecht“
bedeutet, dass eine wissenschaftliche Einrichtung das
Recht hat, jemanden vorzuschlagen, der fachlich geeig-
net ist. „Anhörung“ heißt, ein anderer schlägt vor und
dann ist die Einrichtung lediglich anzuhören. Jeder, der
Kommunalpolitik macht, kennt den Unterschied zwi-
schen „Benehmen herstellen“ und „Einvernehmen her-
1) Anlage 4
2) Anlage 5
20.30-20.40.doc
stellen“. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie das Recht haben, Benehmen herzustellen, dann können Sie gleich zu
Hause bleiben.
({0})
Jetzt wollen wir uns doch einmal anschauen, was in
dem vorliegenden Gesetz geschieht. Dieser Vorgang hat
bei den Grünen leider - das muss ich scharf kritisieren;
das hätte ich den Grünen nicht zugetraut - seit geraumer
Zeit Methode. Da schlagen Ihnen Wissenschaftler einer
Forschungsanstalt in Braunschweig zwei qualifizierte
Leute vor. Es wurde getagt, Professoren und alle möglichen fähigen Leute waren anwesend. Aber Frau Künast
zieht nicht die von dem Haus Vorgeschlagenen heran,
sondern drückt jemanden durch, der der ideologischen
Linie der Grünen eher entspricht.
({1})
Das hat Ärger gegeben.
({2})
Ich habe die Pressemitteilungen dabei. Dort steht - ich
kann Ihnen das gerne zeigen -: „Empörung in der Wissenschaft“. Das können Sie auch in anderen Fachveröffentlichungen lesen.
Was machen Sie jetzt bei der BLE? Ein solches Risiko wollen Sie nicht mehr eingehen. Im Frühjahr kommenden Jahres scheidet der Präsident der BLE aus.
Sein Nachfolger soll ein Grüner werden. Weil das über
den normalen Verfahrensweg nicht zu erreichen ist, ändern Sie klammheimlich zu später Stunde dieses Gesetz.
({3})
Wenn nicht schon andere Tagesordnungspunkte zu Protokoll gegeben worden wären, wäre dieser Tagesordnungspunkt gegen 22 Uhr dran gewesen und kein
Mensch hätte irgendetwas davon mitbekommen.
({4})
Ich verstehe auch Folgendes nicht; das muss ich ebenfalls sagen, lieber Kollege Albert Deß: Wir haben uns
sehr lange darüber unterhalten, wie wir mit diesem
Punkt umgehen. Deshalb finde ich es witzig, dass gerade
du, der du genau zu diesem Gesetz eine Anhörung im
Ausschuss gefordert hast - dann muss es offensichtlich
um etwas ganz Wesentliches gehen -, und die Kollegen
heute Abend nicht bereit sind, ein halbes Stündchen für
so etwas Wesentliches aufzubringen.
({5})
- Das hat damit nichts zu tun. Wenn wir unsere Aufgabe
als Opposition ernst nehmen, dann müssen wir uns auch
noch zu später Stunde hellwach um solche Dinge kümmern.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich dieses Verhalten
von Herrn Berninger und Frau Künast nicht gewohnt
bin. Aber das Vorgehen, das ganze Haus systematisch
grün umzupolen, macht bei Ihnen im Moment leider
Schule.
({6})
- Ali Schmidt, ihr seid nicht bereit, euch mit anderen
fachlichen Positionen auseinander zu setzen.
Die Forschungsanstalt in Braunschweig hat aufgrund
der Qualität ihrer Arbeit einen guten internationalen Ruf.
Alle wesentlichen Institutionen und Gesellschaftsgruppen unseres Landes sind in ein entsprechendes Gremium
eingebunden. Mir kann daher keiner erzählen, dass die
Entscheidung, die jetzt getroffen werden soll, etwas mit
Fachlichkeit zu tun hat. Hier geht es einzig und allein
darum, Parteipolitik zu betreiben.
({7})
Dieses Verhalten ist sogar der Grünen unwürdig. Ich
bin von einer Veranstaltung für behinderte Menschen,
die ich Ihnen sehr empfehlen kann, hierher gekommen,
weil ich meine, dass wir den Finger in die Wunde legen
müssen. Wir sind nicht bereit, Ihr Verhalten hinzunehmen. Wir lassen nicht zu, dass Sie jede Fachlichkeit außer Acht lassen. Es gibt Menschen, die wissen, dass sowohl die ökologische Landwirtschaft als auch die
konventionelle Landwirtschaft wertvoll sind. Um dies
zum Ausdruck zu bringen, habe ich mir die Mühe gemacht, hierher zu kommen.
Ich bedanke mich dafür, dass wenigstens einige Kollegen hier geblieben sind.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1663 an den Ausschuss für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 b auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge
Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Klinische Prüfung in Deutschland entbürokratisieren
- Drucksache 15/1345 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Auch hier war für die Aussprache eine halbe Stunde
vorgesehen. Aber die Reden der Kollegen Dr. Carola
Reimann von der SPD-Fraktion, Helge Braun von der
CDU/CSU-Fraktion, Hans-Josef Fell von der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Cornelia
Pieper von der FDP-Fraktion sollen zu Protokoll gege-
ben werden.1) - Sie sind offenkundig damit einverstan-
den.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1345 an die in der Tagesordnung aufge-
1) Anlage 6
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Oktober 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.