Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich der Kollegin Ilse Falk im Namen des Hauses nachträglich zu ihrem am vergangenen
Sonntag begangenen 60. Geburtstag herzlich gratulieren.
Sodann teilt die Fraktion der CDU/CSU mit, dass für
den ausgeschiedenen Kollegen Paul Breuer nunmehr der
Kollege Martin Hohmann stellvertretendes Mitglied im
Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege
Hohmann als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:
1 Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage im Irak
2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({0})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland
- Drucksache 15/1561 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und
Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln
- Drucksache 15/1568 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu Rufen aus der Koalition
nach personellen Konsequenzen angesichts immer neuer
Finanzausfälle und Verzögerungen bei der LKW-Maut
4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter
Weiß ({5}), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert
Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU: Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen
- Drucksachen 15/203, 15/1559 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Peter Weiß ({6})
Markus Löning
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel,
Klaus Brandner, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz
({7}), Volker Beck ({8}), Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Seeschiffbaus
- Drucksache 15/1575 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Neuordnung der Bundesanstalt für
Arbeit
- Drucksache 15/1576 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({11}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ressortforschungseinrichtungen des Bundes regelmäßig im Hinblick
auf internationale Qualitätsanforderungen an das deutsche Forschungssystem evaluieren
- Drucksache 15/222 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Des Weiteren ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 15 - ERP-Wirtschaftsplangesetz 2004 -,
23 - Wehrpflicht aussetzen - und 25 a - Entschädigungsrechtsänderungsgesetz - abzusetzen.
Die Tagesordnungspunkte 18 - Energiepolitik und 19 - Arbeitsmarktpolitik - am Freitag sollen getauscht und der Tagesordnungspunkt 20 soll bereits
heute mit der vereinbarten Debatte zur Lage im Irak aufgerufen werden.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer
Verbrauchsteuergesetze
- Drucksache 15/1313 überwiesen:
Finanzausschuss ({13})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 Geschäftsordnung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
zu den Ergebnissen der europäischen Bildungsministerkonferenz am 18./19. September
2003 in Berlin
Dazu liegen ein gemeinsamer Entschließungsantrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Edelgard Bulmahn.
({14})
Meine sehr geehrten Herren und Damen! Sehr geehrter Herr Präsident! In der letzten Woche haben in Berlin
40 Minister aus 40 europäischen Staaten, Hochschulpräsidenten, Vertreter der europäischen Hochschulorganisationen und Vertreter der Studierendenverbände gemeinsam über die Zukunft der Hochschulen in Europa
beraten und sie haben wichtige Entscheidungen getroffen.
Die Bologna-Konferenz in Berlin war ein Erfolg.
({0})
Wir sind einen großen Schritt vorangekommen: von guten Wünschen zu konkreten Maßnahmen und Selbstverpflichtungen. Wir haben mit dieser Konferenz einen
wichtigen Grundstein für ein Europa des Wissens gelegt,
aber auch die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum,
für internationale Wettbewerbsfähigkeit und für unsere
kulturelle Entwicklung in Europa geschaffen.
({1})
Hochschulen sind der Ort, an dem neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. In Hochschulen
wird leistungsstarke Forschung betrieben, exzellent ausgebildet und das Fundament für die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft gelegt. Ohne leistungsfähige
Hochschulen, in denen hervorragend ausgebildet, neues
Wissen generiert und die Umsetzung der Forschung mit
hohem Engagement betrieben wird, werden wir weder
unseren Wohlstand sichern - das gilt für Deutschland genauso wie für Europa - noch die Herausforderungen bewältigen können, vor denen wir stehen. Deshalb bestimmen heute Hochschulen in zunehmendem Maße über die
kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft, über ihren Fortschritt und über ihren Wohlstand.
Gerade heute, im Zeitalter schnellen Wissenszuwachses, weltumspannender Kommunikation und globaler
Märkte haben Hochschulen mehr denn je eine strategische Bedeutung für unsere Zukunft. Sie nehmen im internationalen Wettbewerb eine entscheidende Rolle ein.
Sie stellen die entscheidenden Schnittstellen zwischen
Bildung, Forschung und Innovation dar. Sie sind gleichzeitig Zentren des grenzüberschreitenden Austausches
und der internationalen Verständigung. Sie sind der Ort,
an dem sehr viele Menschen im In- und Ausland, nicht
nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihre berufliche Laufbahn beginnen und hoffentlich erfolgreich
fortsetzen, egal ob in der Wirtschaft, in der Wissenschaft
oder in den Parlamenten.
Es ist daher unsere Aufgabe, alle Anstrengungen zu
unternehmen, um die Leistungsfähigkeit unserer Hochschulen zu steigern und die Qualität von Lehre und Forschung zu verbessern.
({2})
Genau das war und ist das Anliegen der europäischen
Forschungs- und Bildungsminister. Hierzu muss Europa
seine geistigen, kulturellen und intellektuellen Energien
mobilisieren und diese Kräfte zielgerichtet und strategisch richtig einsetzen. Europa soll auf dem Weg in ein
Zeitalter der Wissenschaft und Technologie den Takt der
Entwicklung mitbestimmen. Wir wollen ein Europa
schaffen, in dem wissenschaftliche Forschung, technologische Entwicklung und konsequente Innovationsförderung zu zentralen strategischen Elementen für die Entwicklung Europas, für mehr Wachstum, mehr
Beschäftigung und sozialen Ausgleich werden.
Kulturgeschichtlich betrachtet ist dieses Vorhaben übrigens keineswegs etwas Neues, sondern teilweise sogar
eine Rückbesinnung auf eine Gemeinsamkeit, die die
Entwicklung der europäischen Länder über viele Jahrhunderte geprägt hat. Europa war über viele Jahrhunderte ein einheitlicher geistiger und kultureller Raum.
Genau das stand auch im Mittelpunkt der Bologna-Konferenz.
({3})
In einer Zeit, in der weltweit um die besten Köpfe geworben wird, ist die Internationalisierung, also die
Schaffung eines europäischen Hochschulraums, ein dringend notwendiges Desiderat, das wir zügig und konsequent umsetzen müssen. Deshalb haben die Bildungsminister von mittlerweile 40 europäischen Ländern ganz
konkrete Vereinbarungen für den europäischen Hochschulraum geschaffen. In Bologna sind 1999 von zunächst 29 Ministern dafür die Weichen gestellt und ist
der so genannte Bologna-Prozess eingeleitet worden;
seither befinden sich die europäischen Hochschulen in
einer Phase größter Veränderungen. So etwas hat es in
den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. In vielen Staaten
finden umwälzende, radikale Veränderungen von Studium und Forschung statt. Überall geht es um eine Neuausrichtung hin zu mehr Qualität und Leistungsfähigkeit, mehr Internationalität und mehr Wettbewerb.
Deutschland wird und muss hierbei eine Vorreiterrolle
spielen. Das ist einer der Gründe, warum wir vonseiten
der Bundesregierung seit 1998 die für Investitionen in
die Hochschulen vorgesehenen Ausgaben um knapp
24 Prozent erhöht haben.
({4})
Diese Anstrengungen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
werden und müssen wir fortsetzen. Die Länder haben
übrigens im gleichen Zeitraum ihre Investitionen um
12 Prozent erhöht. Deshalb sage ich ausdrücklich: Bund
und Länder müssen ihre Anstrengungen fortsetzen.
({5})
Wir wollen unseren Hochschulen echte Perspektiven geben für exzellente Forschung und hervorragende Ausbildung. Das sind wir den Jugendlichen, uns selber und unserem Land schuldig.
({6})
Wir wollen unsere Hochschulen für die Studierenden
und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland attraktiv
machen. Nur wenn uns das gelingt, können von den
Hochschulen auch die notwendigen Impulse ausgehen,
die wir für den wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt unseres Landes brauchen.
Bildung und Forschung haben für diese Bundesregierung Priorität. Das haben wir in den vergangenen Jahren
durch viele Entscheidungen immer wieder deutlich gemacht. Wir haben die notwendigen Strukturreformen
durchgeführt und die entsprechenden finanziellen Prioritäten gesetzt. Mit der Ausrichtung der Bologna-Konferenz in Berlin haben wir diese Bedeutung einmal mehr
unterstrichen. Damit haben wir auch gezeigt, dass wir
Verantwortung übernehmen, wenn es darum geht,
Europa voranzubringen.
Europa muss ein Kontinent werden, der nicht nur
einen Markt für Millionen von Menschen darstellt, sondern auch ein Ort ist, in dem hervorragende Wissenschaft betrieben wird, die Menschen exzellent
ausgebildet werden, neue Erkenntnisse gewonnen und
Forschungsergebnisse zügig umgesetzt werden.
({7})
Mit der Errichtung des europäischen Hochschulraums leisten wir dazu einen wichtigen Beitrag. An unseren Hochschulen können wir besser als irgendwo sonst
den Grundstein für mehr europäische Zusammenarbeit
legen. Mit der bei der Berlin-Konferenz beschlossenen
Aufnahme von Albanien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien sowie von Russland, Andorra und dem Vatikan geht die Zusammenarbeit im Hochschulbereich weit über die aktuellen
Grenzen der EU hinaus. Damit setzen wir nicht nur ein
Signal für den Bologna-Prozess, sondern geben auch der
europäischen Einigung neue Dynamik.
Die Berlin-Konferenz war ein ganz wichtiger Meilenstein. Sie zeugt auch - das halte ich für genauso entscheidend - von der politischen Kraft Europas, die es
möglich gemacht hat, dass 40 Staaten reines Wunschdenken überwunden und sich auf die Eckwerte einer sehr
tief greifenden Hochschulreform geeinigt haben,
({8})
die konkrete Selbstverpflichtungen beinhaltet.
Aber noch etwas möchte ich an dieser Stelle deutlich
machen: Die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes ist ohne die engagierte Mitwirkung der Studierenden und Universitäten nicht möglich. Nur durch das
aktive Engagement von Hochschulen, Studierenden und
der politisch Verantwortlichen wird dieses Ziel erreichbar sein. Deshalb war es so wichtig, dass in die BolognaKonferenz nicht nur die Regierungen, sondern auch die
Hochschulen und die Studierendenverbände selber eingebunden waren.
({9})
So wünsche ich mir Europa: nicht nur als Europa der Regierenden, sondern als Europa der Menschen, die dort leben.
Wir haben uns auf ein sehr ehrgeiziges Kommuniqué
verständigt. Mit der Ausrichtung wesentlicher Reformschritte auf das Jahr 2005 haben wir im Übrigen das
Reformtempo deutlich erhöht; denn bisher galt als
Zielmarke immer das Jahr 2010. Alle 40 Länder verpflichten sich, für die Hochschulen auf nationaler und
institutioneller Ebene, das heißt auf Hochschulebene, ein
umfassendes Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwicklungssystem zu verankern. Hohe Qualität, attraktive Studienbedingungen und attraktive Wissenschaftsbedingungen - das muss das Aushängeschild des europäischen
Hochschulraums sein. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Nur so wird es uns gelingen, auch international attraktiv zu sein.
Alle 40 Länder verpflichten sich dem Ziel einer gegenseitigen Anerkennung von Studien- und Prüfungsleistungen.
({10})
Das europäische Kreditpunktesystem ECTS wird nun
flächendeckend umgesetzt.
Zusätzlich haben wir die Einführung eines einheitlichen fremdsprachigen Diploma Supplement beschlossen, welches eindeutigen Aufschluss über die im Studium erworbenen Qualifikationen geben kann. Damit
schaffen wir die Grundlage für mehr Transparenz und
Vergleichbarkeit. Mit der vereinbarten wechselseitigen
Anerkennung von Hochschulabschlüssen, der Akkreditierung von Studiengängen und der Einführung des European Credit Transfer Systems schaffen wir die wichtigsten Voraussetzungen für Mobilität, Leistungssteigerung
und Vergleichbarkeit.
({11})
Alle 40 Länder verpflichten sich, bis 2005 die neuen
Bachelor- und Masterstudiengänge als Regelstudiengänge einzuführen. Die Bundesregierung hat die Entwicklung und Einführung der neuen Bachelor- und
Masterstudiengänge bereits seit 1999 massiv unterstützt. Wir haben im Bundesrahmengesetz die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Ich hoffe, dass
die Länder jetzt auch in ihren Landeshochschulgesetzen
zügig die Voraussetzungen schaffen.
({12})
Das ist leider noch nicht überall der Fall. Wir haben
gleichzeitig die Hochschulen bei der Einführung dieser
neuen Bachelor- und Masterabschlüsse mit rund
42 Millionen Euro finanziell unterstützt.
Gleichzeitig haben wir in Deutschland mit der Akkreditierung wichtige Grundlagen für die Qualitätssicherung der neuen Studiengänge geschaffen. Ich sage ausdrücklich: Die Akkreditierung der neuen Studiengänge
ist unabdingbar. Sie ist zwingend notwendig, weil wir
sonst nicht die internationale Leistungsfähigkeit erreichen, weil wir sonst nicht die Vergleichbarkeit sicherstellen und weil wir sonst sträflich vernachlässigen würden, dass B. A. und M. A. nicht nur neue Namen
bedeuten.
({13})
Es geht also nicht darum, alten Wein in neue Schläuche
zu füllen, sondern darum, die Studiengänge zu verändern, sodass sie ein qualitativ hohes Niveau haben und
die Chancen, die sie darstellen, von den Studierenden
wahrgenommen werden können.
Die Akzeptanz der Bachelor- und Masterabschlüsse
bei den Hochschullehrern, bei den Studierenden und am
Arbeitsmarkt ist eine Schlüsselfrage der Internationalisierung. Sie hängt in hohem Maße von der Akkreditierung und damit von transparenter Anerkennung von
Leistung und Qualität ab. Dann werden diese Abschlüsse nachgefragt und gefördert. Dann haben wir
auch international damit die besten Möglichkeiten.
Bisher sind 18 Prozent der neuen Studiengänge akkreditiert. Ich sage ausdrücklich: Das ist nicht ausreichend.
({14})
Die Hochschulen selber wie auch die Länder müssen
ihre Anstrengungen verstärken, damit wir hier zu einem
guten Ergebnis kommen. Dabei muss es eine klare Profilbildung beider Abschlüsse geben, um den unterschiedlichen Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Hochschulen gerecht zu werden.
Um die Chancen dieses neuen Systems zu eröffnen,
brauchen wir grundlegende Veränderungen in den Studiengängen. Die Chancen sind gewaltig, weil die Entscheidungsmöglichkeiten der Studierenden erweitert
werden. Das neue System gibt den Studierenden die
Chance, durch Kombination attraktiver Qualifikationen
ein für die eigene Karriere maßgeschneidertes Studium
zu wählen. Es gibt die Chance weltweiter Beweglichkeit,
weil sie nicht mehr um die Anerkennung der Abschlüsse
kämpfen müssen, sondern diese vereinbart und gewährleistet wurde. Es gibt unseren Studierenden die Chance,
jünger als bisher in den Beruf einzusteigen. Es gibt die
Chance kürzerer Ausbildungszeiten und die Chance, die
Abbrecherquote, die in unserem Land in vielen Fächern
viel zu hoch ist, deutlich zu senken.
({15})
Meine sehr geehrte Damen und Herren, alle 40 Länder haben sich darauf geeinigt, die Mobilität von Studierenden und Wissenschaftlern in Europa zu fördern. Eine
hinreichende soziale Absicherung, also eine hinreichende Studienfinanzierung, wie wir sie in Deutschland
mit dem BAföG geschaffen haben, ist eine wichtige
Voraussetzung dafür, dass junge Menschen die Chancen
eines Studiums wirklich nutzen können. In einem geeinten Europa ist zwingend notwendig, dass diese Studienfinanzierung in jedes andere europäische Land mitgenommen werden kann.
({16})
Wir haben mit der BAföG-Reform die Voraussetzung
dafür geschafften, dass nach einem zweisemestrigen Studium in Deutschland jeder Studierende seine Studienförderung in jedes andere EU-Land mitnehmen kann.
Aber diese Entscheidung darf nicht nur einseitig sein.
({17})
Vielmehr müssen alle anderen Kolleginnen und Kollegen in Europa ebenfalls ihre Studienfinanzierungen entsprechend verändern. Die skandinavischen Länder haben dies im Übrigen schon geleistet. Aber hier gibt es
noch eine ganze Menge zu tun.
Derzeit verbringen rund 14 Prozent der deutschen
Studierenden einen Teil ihres Studiums im Ausland.
Diese Quote auf 20 Prozent zu steigern ist ein ganz
wichtiges Ziel dieser Regierung. Denn Auslandserfahrung, Austausch und Zusammenarbeit zwischen Studierenden aus den verschiedenen europäischen Ländern
- das sage ich ausdrücklich - sind wichtige Faktoren für
die Entwicklung eines Europas des Wissens.
({18})
Sie sind heute auch wichtige Voraussetzungen für den
Erfolg im Beruf.
Das Gleiche gilt umgekehrt. Wir haben in den vergangenen drei, vier Jahren erfolgreich sehr viele Anstrengungen unternommen, die Zahl der ausländischen
Studierenden in Deutschland zu erhöhen. Die Steigerungsraten liegen inzwischen bei 15 Prozent pro Jahr.
Auch das ist notwendig. Denn jeder, der in Deutschland
gute Erfahrung gemacht hat, hier gern studiert und gelebt hat und der hier Freunde gewonnen hat, ist zukünftig ein wichtiger Partner für uns.
({19})
Egal ob in der Wirtschaft oder in der Politik: Wir können
auf diese wichtigen Partner nicht verzichten. Deshalb
war es so fahrlässig, dass diesem wichtigen Gesichtspunkt der Internationalisierung über viele Jahrzehnte
zu wenig Augenmerk geschenkt worden ist. Wir haben
das geändert.
({20})
Wir müssen nicht nur das Studium, sondern auch die
Forschung internationaler und leistungsfähiger gestalten.
Deshalb bin ich froh darüber, dass nunmehr das Doktorandenstudium als dritte Stufe in das europäische Studienkonzept aufgenommen wurde. Wir stellen damit
zwei Dinge sicher: Erstens können wir dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine dritte exzellente wissenschaftliche Karrierestufe anbieten. Zweitens stellen wir
mit dem Doktorandenstudium eine enge Verknüpfung
des europäischen Hochschul- und Forschungsraums sicher; denn beide gehören zusammen und spiegeln zwei
Seiten eines Europas des Wissens wider. Wir brauchen
also einen europäischen Forschungsraum und einen europäischen Hochschulraum.
({21})
Beide tragen dazu bei, die Bedingungen für Spitzenleistung in Forschung und Innovation zu verbessern.
Wir wollen einen europäischen Hochschulraum, in
dem Studierende und Wissenschaftler ganz selbstverständlich zwischen den Hochschulen verschiedener Ländern wechseln können, in dem sie wegen der guten Studienbedingungen gerne studieren und in dem sie gute
berufliche Möglichkeiten haben.
Die deutsche Hochschulpolitik steht mit dem Bologna-Prozess im Einklang. Für die Bundesregierung ist
die Internationalisierung von Wissenschaft, Forschung,
Hochschule und Ausbildung auch weiterhin ein zentraler
Punkt. Wir haben in den letzten Jahren vonseiten des
Bundes viele Initiativen gestartet. Eine Initiative will ich
ausdrücklich hervorheben: die Initiative zur Internationalisierung der Hochschulen. Wir haben hierfür rund
100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt - ebenfalls
mit Erfolg. Unsere Hochschulen sind heute mit Unterstützung meines Ministeriums weltweit mit Studienangeboten präsent. Am 5. Oktober werden der Bundeskanzler und der ägyptische Staatspräsident Mubarak die
„German University“ in Kairo eröffnen.
Deutsche Hochschulen nehmen inzwischen unter dem
Logo „Hi! Potentials“ einen gewichtigen Platz auf großen internationalen Messen ein. Mit der 2001 gestarteten
Marketingoffensive bauen wir die Präsenz auf dem internationalen Bildungsmarkt kontinuierlich aus und werben
gezielt für den Studien- und Forschungsstandort
Deutschland.
({22})
Die eingeleiteten Initiativen haben greifbare Erfolge
gebracht. Die Zahl der ausländischen Studierenden und
die Zahl der ausländischen Wissenschaftler an unseren
Hochschulen und in unseren Forschungseinrichtungen
sind gestiegen. Wir sind in Europa und weltweit inzwischen ein anerkannter Hochschulstandort, auf den man
schaut und wohin man gerne geht.
Ich sage aber auch ausdrücklich, dass wir bei weitem
noch nicht das erreicht haben, was notwendig ist.
({23})
Wir sind zwar einen wichtigen Schritt vorangekommen;
aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Deshalb werden
wir unsere neuen internationalen Preise - wie beispielsweise den Sofja-Kovalevskaja-Preis -, die dazu beitragen, dass hervorragende junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler nach Deutschland kommen, weiterhin
verleihen.
Europa wird nur als leistungsfähiger Wissenschaftsstandort mit modernen und international ausgerichteten
Hochschulen attraktiv bleiben können. Die Berlin-Konferenz hat dafür ein Zeichen des Aufbruchs gesetzt und
den Weg, den wir gehen müssen, klar aufgezeigt. Ich
wünsche mir dafür Ihre Unterstützung und wünsche vor
allen Dingen uns allen viel Erfolg.
Vielen Dank.
({24})
Ich erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stanford University hat einen klassisch-deutschen Leitspruch und der heißt: „Die Luft der Freiheit
weht.“
({0})
Das ist auch die politische Kernbotschaft der BolognaFolgekonferenz. Auch im europäischen Hochschulraum
soll die Luft der Freiheit wehen.
Bis zum Jahr 2005 soll das zweistufige System von
Bachelor- und Masterabschlüssen vollständig eingeführt
sein. Ein dritter Studiengang ist beschlossen: das Doktorandenstudium. Studierende und Wissenschaftler sollen, ohne bürokratische Hürden überwinden zu müssen,
zwischen den Ländern wechseln können. Der rasante
Wettbewerb um die besten Köpfe und Talente ist voll im
Gange. Europa wächst hochschulpolitisch zusammen.
Dazu gibt es keine Alternative.
Frau Ministerin, zur Wahrheit gehört auch, dass es
Jürgen Rüttgers war, der 1998 diesen Prozess mit der
Sorbonne-Erklärung initiiert hat.
({1})
Der gemeinsame Hochschulraum Europa ist ein weiterer
Schritt im europäischen Einigungsprozess. Angeschoben
hat ihn die Bundesregierung unter Helmut Kohl. Die
Schaffung eines europäischen Hochschul- und Forschungsraumes ist traditionelle christlich-demokratische
Politik.
({2})
Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses sind
Startschuss für mehr Freiheit, für Autonomie, Deregulierung und Wettbewerb. All das, Frau Ministerin, kam in
Ihrer Rede nicht vor. Dabei heißt es bereits in der gemeinsamen Erklärung der europäischen Bildungsminister:
Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation lassen
sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für
andere Länder besitzt. Wir müssen sicherstellen,
dass die europäischen Hochschulen weltweit
ebenso attraktiv werden wie unsere außergewöhnlichen kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen.
Frau Bulmahn, was haben Sie eigentlich seit 1999 für
die Attraktivität der deutschen Hochschulen getan? - Sie
haben es ihnen in erster Linie schwer gemacht.
({3})
Der Staat muss die Hochschulen in die Freiheit entlassen, damit sie sich im Wettbewerb bewähren.
Das hat bereits Professor Klaus Landfried bei seinem
Abschied als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz
gefordert.
Zentralismus und Gängelung, das sind die Kennzeichen Ihrer Politik. Ziel muss ein wettbewerbliches
Hochschulsystem sein. Was tun Sie? - Die Universitäten
und die Länder werden mit einem Studiengebührenverbot überzogen - und das, obwohl die Sicherung der
Qualität des Studiums durch Studienbeiträge in allen
führenden Nationen bis hin zur Schweiz und Australien
ein zentrales hochschulpolitisches Thema ist.
Sie führen die Juniorprofessur als Regelvoraussetzung für den Beruf des Professors ein. Sie schaffen die
Habilitation faktisch ab. Warum lassen Sie keinen Wettbewerb zu?
({4})
Sie lehnen es ab, das Auswahlrecht der Hochschulen
zu stärken und einen Wettbewerb um die qualifiziertesten Studenten zu ermöglichen. Für Sie gilt der Satz, den
einmal ein ehemaliger Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Professor Gerd Roellecke, gesagt hat:
Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme
ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen:
die Gefängnisse und die Universitäten.
Die Unionsfraktion begrüßt ganz ausdrücklich die
Länderinitiative von Baden-Württemberg und Bayern,
das Recht der Hochschulen, die qualifiziertesten Bewerber auswählen zu können, zu stärken.
({5})
Auch SPD-geführte Länder wie Rheinland-Pfalz oder
Nordrhein-Westfalen und sogar das rot-rote Mecklenburg-Vorpommern möchten dies. Was tun Sie? - Sie lehnen diese Initiative mit fadenscheinigen Argumenten ab.
Wir brauchen dringend eine Strategie für eine ganzheitliche Hochschulentwicklung und kein Klein-Klein
mehr. Unser Ziel muss es sein, dass auch aus den international führenden Wissenschaftsländern, insbesondere
aus den USA, mehr Studierende zu uns kommen. Frau
Bulmahn, Sie haben ausgeführt, dass die Quote der Studierenden, die aus dem Ausland kommen, gestiegen ist.
Das ist richtig. Dabei handelt es sich vor allem um Chinesen, Polen und Russen. Sie alle sind herzlich willkommen. Aber junge US-Amerikaner stehen an Stelle 16.
Junge Briten und junge Schweizer sind unter den ersten
20 nicht zu finden. Das ist kein Zufall.
Ich verstehe die Verwunderung von Hans-Olaf
Henkel, der nach einem Vortrag an der London School
of Economics in eine Diskussion verwickelt wurde und
dem in bestem Deutsch Fragen gestellt wurden. Auf die
Frage, warum die Briten so gut deutsch sprechen, wurde
ihm geantwortet: Das sind doch alles Deutsche.
Ihre Rechnung, Frau Bulmahn, geht nicht auf: Sie
wollen 40 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen holen. Den Universitäten werden aber im gleichen Atemzug mehr Aufgaben übertragen, und Sie fahren die finanzielle Ausstattung der Hochschulen
zurück. Der Etat für den Hochschulbau wird beispielsweise um 135 Millionen Euro gekürzt. Das ist ein
schlechtes Signal an den Bologna-Prozess.
({6})
Das Korsett des Hochschulrahmengesetzes muss
dringend gelockert werden. Wir setzen uns für eine rasche Novelle, für eine Hochschulreform aus einem
Guss ein. Wir brauchen mehr Autonomie für die Hochschulen. Das gilt ebenso für das im 6. HRG verankerte
Verbot von Studiengebühren. Es muss weg. Auf Dauer
wird in Deutschland niemand an Studienbeiträgen vorbeikommen.
({7})
Die Entwicklung des europäischen Hochschulraumes
ist kein Selbstläufer. Sie haben gesagt, man müsse die
Studenten integrieren. Einer der Studenten, die Sie angesprochen haben, bemerkte etwas kritisch, dass dabei
möglicherweise nichts als heiße Luft herauskommen
würde.
Es gibt in der Tat noch viel zu tun: Wir haben in
Deutschland 15 000 Studiengänge. Davon sind bisher
1 900 auf das Bachelor- und Master-Studium umgestellt worden. Davon sind nur 400 akkreditiert. Stellenweise hat man schlicht Vordiplom und Zwischenprüfung
in Bachelor umfirmiert und Studiengänge nur mit einem
neuen Namen versehen.
Auch das European Credit Transfer System ist noch
weit von seinen optimalen Möglichkeiten entfernt. Es
geht nicht, dass das bloße Ansammeln von Punkten
nachher nicht akzeptiert wird. Hochschulen, die etwas
auf sich halten, verlassen sich übrigens nicht auf dieses
System, sondern überprüfen die Fähigkeiten der Studienbewerber zusätzlich selbst.
Die Umstellung auf die Bachelor- und Master-Abschlüsse ist zweifelsohne ein ganz wichtiger Baustein.
Wichtig ist, dass sich diese Umstrukturierung von unten
entwickelt. Die Hochschulen wollen und müssen in diesen Prozess eingebunden sein. Ich kann die Bundesregierung nur ausdrücklich davor warnen, diesen Prozess
mit zusätzlichen staatlichen Reglementierungsmaßnahmen zu überziehen.
Deutschland gibt im Zuge des Bologna-Prozesses
aber auch Traditionen auf, die sich bewährt haben. So
ist der deutsche Diplom-Ingenieur weltweit anerkannt.
Er ist ein Markenzeichen für Qualität. Der große Vorzug
des deutschen Studiums ist auch die breite Bildung.
({8})
Der Magister mit einem Hauptfach und zwei Nebenfächern vermittelt durchaus eine Bildung weit über den
Tellerrand eines Faches hinaus. Somit hat unser deutsches Hochschulsystem auch Vorteile. Ich finde, auch
hier ist Wettbewerb angesagt.
Von den Studierenden, von den Hochschulen, aber
auch von der Wirtschaft werden enorme Anpassungsleistungen verlangt. Das betrifft insbesondere die Wirtschaft, die die neuen Studiengänge und die neuen Abschlüsse anerkennen muss.
Frau Bulmahn, ich sage Ihnen noch einmal: Entlassen
Sie die Hochschulen in die Freiheit! Nutzen Sie Ihre Gestaltungsmöglichkeiten, damit der Bologna-Prozess ein
Erfolg wird. Weniger ist oftmals mehr.
({9})
Die Union wird diesen Prozess mit einer entsprechenden
Initiative zur Novelle des Hochschulrahmengesetzes begleiten. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Die
Luft der Freiheit ist nicht aufzuhalten.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile der Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Reiche, leider haben Sie sich in Ihren Ausführungen wieder darauf beschränkt, das Haar in der Suppe zu
finden, und haben nur pathetische Aufforderungen formuliert, aber keine konstruktiven Gestaltungsvorschläge gemacht.
({0})
Aber das kennen wir bei Ihnen.
Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.
Das hat der ausgewiesene Pragmatiker und frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt vor vielen Jahren einmal gesagt. Ich widerspreche ihm an diesem Punkt nachdrücklich;
({1})
denn ich bin der festen Überzeugung, dass Politik beides
braucht: Pragmatismus und Visionen.
({2})
In einem langwierigen Prozess müssen Schritte auf ein
angestrebtes politisches Ziel, auf ein für die Zukunft entworfenes Bild hin unternommen werden. In diesem Prozess wird das Bild immer klarer, gewinnt die Vision
Konturen.
({3})
Eine solche Vision haben die europäischen Bildungsminister gehabt, als sie 1999 die Bologna-Erklärung
verfassten. Sie riefen darin zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes und zur Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Europa auf. Die konkrete Zielsetzung des Bologna-Prozesses lautet: Die Studierenden Europas sollen die Möglichkeit bekommen, in allen Ländern Europas zu studieren.
Sie sollen dabei vergleichbare Studienbedingungen vorfinden. Daher müssen Qualitätsstandards vereinbart werden, die von allen europäischen Hochschulen anerkannt
werden. Konsequenterweise muss es dann auch ein
transparentes, wechselseitig anerkanntes System von
Studienabschlüssen geben.
Vorausgegangen war der Bologna-Erklärung der Bildungsminister ein historischer Prozess, der eine unglaubliche Dynamik entfacht hatte. Die politischen Umbrüche Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre - ich
nenne als Stichwort den Fall der Mauer - verstärkten den
Wunsch nach einem vereinten Europa. Diese Entwicklung veränderte auch die Hochschulen nachhaltig und
führte zu einer zunehmenden Mobilität der Studierenden. So hat sich zum Beispiel zwischen 1991 und 2001
die Zahl ausländischer Studierender an deutschen
Hochschulen mehr als verdoppelt:
({4})
1991 waren es nur gut 53 000 Studierende, 2001 bereits
über 117 000.
Ein Jahr nach Unterzeichnung der Bologna-Erklärung
der Bildungsminister trafen sich die europäischen Regierungschefs in Lissabon. Ihnen war bewusst, dass Europas Zukunft in der Wissensgesellschaft liegt und dass
nur diejenigen, die in diesem Bereich Vorreiter sind,
auch wirtschaftlich stark bleiben werden. Deshalb erweiterten sie die Zielsetzung der Bologna-Erklärung und
formulierten: Bis 2010 soll Europa zum größten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden.
Ungeachtet dessen, dass Bildung einen Eigenwert besitzt, gilt die bereits im 19. Jahrhundert von Alfred
Nobel formulierte Einsicht, Wissen zu verbreiten sei
Wohlstand zu verbreiten. Diesen Zusammenhang hat die
in der letzten Woche veröffentliche OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ eindrucksvoll unterstrichen. Sie
macht deutlich: Investitionen in Köpfe lohnen sich für
den Einzelnen und für die Volkswirtschaft insgesamt.
Wenn wir das Bildungsniveau unserer Gesellschaft erhöhen, fördern wir damit auch das Wirtschaftswachstum. Daran sollte uns gelegen sein.
({5})
Daher müssen wir als Politikerinnen und Politiker aus
sozialem wie aus ökonomischem Interesse heraus die
Grundlage dafür legen, dass die Verbreitung von Wissen
reibungslos und dynamisch erfolgen kann. Das gilt für
den nationalen Bereich genauso wie für den europäischen Raum.
Diese Bundesregierung hat entsprechend gehandelt.
Frau Reiche, Sie fragten vorhin, was sie denn getan
habe. Ich werde Ihnen einige Punkte nennen: Seit ihrem
Amtsantritt hat diese Bundesregierung die Ausgaben
des Bundes für Bildung und Forschung um insgesamt
25 Prozent erhöht; das dachte ich jedenfalls, Frau
Bulmahn dagegen hat von 23 Prozent gesprochen.
({6})
- Das gehört dazu. - Gleichzeitig hat sie mit Ministerin
Bulmahn durch strukturell notwendige Veränderungen
die Internationalisierung des deutschen Hochschulwesens vorangetrieben. Sie hat den Reformprozess zum
Teil initiiert, zum Teil unterstützt und begleitet.
({7})
So hat die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes zur internationalen Attraktivität des Hochschulstandortes Deutschland beigetragen.
({8})
Durch die Einführung gestufter Studiengänge haben Studierende die Möglichkeit bekommen, mit einem berufsqualifizierenden akademischen Abschluss, dem Bachelor, frühzeitig in die Berufspraxis einzusteigen und, wenn
sie das Interesse haben, nach längeren Praxisphasen eine
Studienphase, nämlich den Master, anzuschließen.
({9})
- Auf den Bereich Qualifikation werde ich gleich noch
zu sprechen kommen. Sie müssen so qualifiziert sein, etwas warten zu können.
({10})
Eine weitere Strukturveränderung, die wir eingeführt
haben, betrifft die Lehrenden an den Hochschulen. Mit
der Einführung leistungsbezogener Elemente in die Besoldungsstruktur und der Einrichtung von Juniorprofessuren stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres
Hochschulsystems. Speziell die Juniorprofessur ist
notwendig, damit wir im internationalen Wettbewerb um
die besten Nachwuchswissenschaftler bestehen können;
({11})
denn so erhalten junge Forscherinnen und Forscher frühzeitig die Gelegenheit, selbstständig zu arbeiten. Das alte
System der Habilitation steht diesem Ziel entgegen und
ist international nicht konkurrenzfähig.
Entgegen den Hiobsbotschaften der Kollegin Flach
von der FDP-Fraktion
({12})
wird durch die jüngsten Zahlen des BMBF unterstrichen:
Die Juniorprofessur war und ist ein Erfolg. Auf eine
Stelle bewerben sich durchschnittlich 7,3 Personen. Für
15 Prozent der bisher besetzten Stellen konnten Nachwuchskräfte aus dem Ausland gewonnen werden und
({13})
- auch das ist bemerkenswert - die Juniorprofessur ist
ein Beitrag zur Frauenförderung an den Hochschulen;
({14})
denn der Frauenanteil beträgt hier 25 Prozent, während
er bei den „normalen“ Professuren nur 11,11 Prozent beträgt.
({15})
Aber auch verschiedene Förderprogramme haben zur
Internationalisierung der deutschen Studiengänge beigetragen; die Ministerin hat eben schon einige genannt.
Hier sind das Modellprogramm „International ausgerichtete Studiengänge“, das „Master-Plus“-Programm, durch
das die Mobilität deutscher und ausländischer Studierender mit einem ersten Hochschulabschluss unterstützt
wird, und das Bund-Länder-Kommissions-Modellversuchsprogramm „Neue Studiengänge“ zu nennen.
Auch das professionelle Hochschulmarketing mit
werbewirksamen Hochschulauftritten auf internationalen Messen unter dem Motto „Hi! Potentials - International careers made in Germany“ hat zu einem Erfolg geführt und dafür gesorgt, dass der Hochschul- und
Forschungsstandort Deutschland noch stärker als bisher
wahrgenommen wurde.
({16})
Das Ergebnis: Die Zahl ausländischer Studierender an
deutschen Hochschulen steigt stetig.
In der eben bereits zitierten OECD-Studie „Bildung
auf einen Blick“ wird das bescheinigt, was gerade gesagt
wurde, dass nämlich der Anstieg der Zahl ausländischer
Studierender hier in Deutschland extrem hoch war. Im
Vergleich zu allen anderen Ländern mit einem höheren
Anteil ausländischer Studierender handelte es sich um
die dynamischste Entwicklung. Umgekehrt ist dasselbe
zu verzeichnen: Auch deutsche Studierende gehen verstärkt ins Ausland. Ich denke, das ist genau das, was wir
erreichen wollten, nämlich eine Internationalisierung
und ein verstärktes Streben von deutschen Studierenden
in andere Länder und umgekehrt.
Die vor wenigen Tagen beendete Berlin-Konferenz
hat den Prozess dieser Internationalisierung weiter
gefördert und war ein zusätzlicher entscheidender Meilenstein auf dem Weg zu einem europäischen Hochschulraum; denn im Unterschied zu den bisherigen Konferenzen wurden in Berlin Ziele vorgegeben, die mittels
fest vereinbarter Umsetzungsstrategien bis zur nächsten
Konferenz im Jahre 2005 in Bergen erreicht werden können. Ich nenne nur noch einmal die wichtigsten drei
Punkte:
Erster Punkt. In allen 40 Bologna-Staaten soll bis zu
diesem Zeitpunkt die Einführung des zweistufigen
Graduierungssystems in Angriff genommen werden.
Laut Hochschulrektorenkonferenz sind bei uns bis jetzt
1 764 solcher Studiengänge geschaffen worden. Es
wurde schon darauf hingewiesen, dass der Prozentsatz
der akkreditierten Studiengänge natürlich unbedingt
weiterhin erhöht werden muss; denn bisher gibt es erst
338 dieser Studiengänge.
Zweiter Punkt. Die Entwicklung und Durchsetzung
von vergleichbaren Qualitätsstandards soll auf europäischer und nationaler Ebene forciert werden. Frau
Reiche, jetzt komme ich noch einmal ganz explizit auf
die von Ihnen angesprochene Qualität: Dazu wurde das
European Network of Quality Assurance - das ist ein
Zusammenschluss von Qualitätssicherungsagenturen ins Leben gerufen. Es wird in Abstimmung mit den europäischen Hochschul- und Studentenverbänden Verfahren und Leitlinien für die europäische Qualitätssicherung
entwickeln. Am Ende muss man - salopp formuliert sagen können: Ein Hochschulstudium „Made in Europe“
ist ein weltweit anerkanntes Gütesiegel.
({17})
Dritter Punkt. Die kostenlose Ausstellung eines Diploma Supplement zu jedem Studienabschluss ist wichtig, weil damit die Abschlüsse erst richtig vergleichbar
werden. In dieser Ergänzung zum Abschlusszeugnis
wird genau festgehalten, welche Leistungen während
des Studiums erbracht wurden und über welche Qualifikationen der Absolvent verfügt. Das Endziel lautet: Wo
Master draufsteht, ist auch Master drin - und zwar europaweit. Wir streben diesem Endziel Schritt für Schritt
mit einer Geschwindigkeit entgegen, die bisher von keiner anderen Regierung in Deutschland vorgegeben
wurde.
({18})
Ich komme nun auf zwei weitere Aspekte, die sicherlich im Laufe der nächsten Phase noch an Bedeutung gewinnen werden. Die Unterzeichnerstaaten betonen in
dem Abschlusskommuniqué die Notwendigkeit lebenslangen Lernens in einem europäischen Hochschulraum
und fordern, die Bedingungen dafür zu schaffen. Ein erweiterter Hochschulzugang und flexible Bildungswege
bieten hier Möglichkeiten.
Der zweite Punkt ist die Verknüpfung des europäischen Hochschulraums mit dem europäischen Forschungsraum. In diesen Zusammenhang gehört auch
die Integration der Doktorandenausbildung in den Bologna-Prozess als dritte Stufe des Graduierungssystems.
Ich persönlich hätte mir an dieser Stelle noch etwas mehr
gewünscht, nämlich die Forderung nach der strukturierten Doktorandenausbildung. In jedem Fall muss aber
Exzellenz ein herausragendes Markenzeichen des europäischen Hochschulraums sein.
({19})
Vergleicht man den Bologna-Prozess mit der Geschichte eines Hausbaus, so können wir den jetzigen
Stand wie folgt beschreiben: Das Fundament ist gelegt,
der Termin der Endabnahme ist bestimmt und wir bauen
zurzeit Stockwerk für Stockwerk auf und haben die Detailgestaltung und den Zeitrahmen für die Erstellung der
Gewerke festgelegt. Wer schon einmal gebaut hat, der
weiß: Man muss immer wieder Zwischenabnahmen verabreden, wenn es nicht zu bösen Überraschungen kommen soll. Diese Verabredungen bzw. Bestandsaufnahmen, das so genannte „stock taking“, wurden in Berlin
am 18. und 19. September beschlossen.
Bis zur Endabnahme im Jahr 2010 gibt es zugegebenermaßen noch viel zu tun. Dabei wird auch der Koordinations- und Kooperationsbedarf von Bund und Ländern enorm groß sein.
({20})
Die Aufkündigung der Zusammenarbeit, wie insbesondere von den CDU/CSU-regierten Ländern angekündigt,
wäre genau das Gegenteil dessen, was bildungspolitisch
jetzt geboten ist.
({21})
Wenn es dazu überhaupt noch eines Beweises bedurft
hätte, der Bologna-Prozess liefert ihn, Frau Reiche.
({22})
Wenn wir international erfolgreich sein wollen, sind
wir gut beraten, die Vereinbarungen, die auf der BerlinKonferenz getroffen wurden, auf nationaler Ebene jetzt
zügig umzusetzen. Für ein kooperatives und planvolles
Vorgehen sind dabei drei Schritte besonders wichtig:
Die Bundesregierung muss zeitnah zu einer nationalen Umsetzungskonferenz einladen. Länder, Hochschulen, ihre Verbände und Vereine und weitere hochschulpolitische Akteure müssen dort eine Strategie für die
Umsetzung der gemeinsam definierten Ziele erarbeiten
und festlegen, bis wann diese Ziele erreicht werden sollen. Der Zeitrahmen ist ganz wichtig.
Darüber hinaus ist die Einrichtung einer ständigen nationalen Bologna-Task-Force sinnvoll. Bund, Länder,
Hochschulen und Studierende - es wurde ja schon betont, wie wichtig auch die Integration der Studierenden
in diesen Prozess ist - sollen hier vertreten sein, um die
Umsetzung der Ziele zu begleiten und zu kontrollieren.
Damit der Deutsche Bundestag an dem Reformprozess beteiligt wird, fordern wir die Bundesregierung auf,
das Parlament rechtzeitig vor den anstehenden BolognaFolgekonferenzen über die Erfolge, die auf nationaler
Ebene erzielt wurden, zu unterrichten.
({23})
Bologna, die Hauptstadt der norditalienischen Region
Emilia Romagna, steht für den Ausgangspunkt des europäischen Universitätswesens im 12. Jahrhundert. Der
Bologna-Prozess zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der
nicht von ungefähr in dieser italienischen Stadt seinen
Ursprung nahm und nach ihr benannt wurde, kennzeichnet eine Entwicklung hin zu einem gemeinsamen europäischen Hochschulraum. Dieser europäische Hochschulraum zeichnet sich durch Transparenz und
vergleichbare Standards aus. In ihm werden sich Lehrende und Lernende ohne Einschränkungen bewegen
und arbeiten können. Dieser internationale Hochschulraum wird sich im internationalen Wettbewerb erfolgreich behaupten. Er wird einen wesentlichen Beitrag
dazu leisten, dass Europa sich bis zum Jahr 2010 tatsächlich zum größten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt entwickelt.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
sollten sich überlegen, ob Sie in diesem Prozess zu den
Architekten oder zu den Blockierern zählen wollen.
({24})
Ich werbe dafür, dass wir gemeinsam dafür eintreten,
dass dieser Prozess im vorgesehenen Zeitraum zu einem
Erfolg für den Wissens- und Bildungsstandort Europa
wird. Nur so können wir in einem rohstoffarmen Land
international konkurrenzfähig bleiben. Dafür, meine ich,
lohnt es sich, engagiert zu streiten.
({25})
Ich erteile der Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bologna-Erklärung war ein erster Schritt zu einem qualitätsorientierten, transparenten und einheitlichen europäischen Bildungsraum. Liebe Frau Berg, diese
Entwicklung wurde von denjenigen eingeleitet, die Sie
eben als Blockierer bezeichnet haben. Ich glaube, wir
sind uns alle einig, dass dies in den 90er-Jahren ein
wichtiger und entscheidender Schritt war.
({0})
Es war eine Art bildungspolitische Zielvereinbarung der
EU-Partner.
Die Berliner Vereinbarungen - auch darin sind wir
uns völlig einig - gehen darüber hinaus. Es ist wichtig,
dass man jetzt endlich konkret wurde, Termine setzte
und gemeinsam erklärte, was man wirklich will. Für uns
Liberale sind dabei einige Meilensteine besonders wichtig: die interne und externe Qualitätssicherung an den
Hochschulen bis 2005 und die vollständige Einführung
der Bachelor- und Masterstudiengänge bis 2010. Darin unterscheiden wir uns grundsätzlich von der CDU/
CSU, liebe Frau Reiche. Wenn wir jetzt anfangen,
Diplom-, Bachelor- und Masterstudiengänge gegeneinander auszuspielen, haben wir schon verloren. Ich hoffe,
ich habe Sie in diesem Punkt missverstanden. Das ist
nicht in unserem Sinne. Wir wollen diesen Übergang.
Wir alle sollten gemeinsam an einem Strang ziehen.
({1})
Wichtig ist für uns das fremdsprachige Diploma Supplement. Meine Kollegen haben mich gebeten, diesen
Begriff zu übersetzen. Es handelt sich um eine fremdsprachige Ergänzung; dies für diejenigen, die es bisher
noch nicht wussten. Wichtig ist ein hoch stehendes,
möglichst interdisziplinäres Doktorandenstudium. Ganz
wichtig - das sehen Sie an unserem Antrag, der Ihnen
heute vorgelegt wurde - ist die Mitnahme nationaler
Ausbildungsförderung ins Ausland.
Die Berliner Konferenz - Frau Ministerin, das erkennen wir gerne an - war vom internationalen Standpunkt her ein Erfolg; das ist gar keine Frage. Die Aufnahme zusätzlicher Staaten wie Russland gibt dem
Bologna-Prozess eine wirkliche europäische Dimension.
Der europäische Bildungsraum ist damit endlich wieder
eine kraftvolle Vision, die gerade zu Beginn des Wahlkampfes für die Europawahl im nächsten Jahr auch
junge Leute in diesen Integrationsprozess mitnimmt.
Der Bologna-Prozess kann mehr Qualität und Wettbewerb bringen. Das hat die bürgerliche Regierung unter Kohl in den 90er-Jahren bewegt, diesen Prozess überhaupt in Gang zu setzen. Die Berliner Konferenz nimmt
diesen roten Faden jetzt wieder auf.
Nun gehört aber - Frau Berg, in diesem Punkt bin ich
anderer Meinung als Sie; dies hat nichts damit zu tun,
immer das Haar in der Suppe zu finden - zu dieser Bewertung auch eine realistische Betrachtung des deutschen Standortes.
({2})
Dabei verliert die Vision leider sehr deutlich und schnell
an Kraft.
Wie sieht es aus? Von den bereits angeführten circa
15 000 Studiengängen sind erst 338 akkreditiert, Frau
Reiche. Wir sind bei der Akkreditierung wirklich deutlich zu langsam und zu bürokratisch. Wenn Sie sich
überlegen, dass wir irgendwann einmal fertig werden
wollen, dann müssen wir eine geradezu raketenartige
Geschwindigkeit vorlegen, damit wir diese Akkreditierung endlich auf den Weg bringen.
Deutsche Hochschulen - diesen Vorwurf muss man
leider erheben - neigen zum Etikettenschwindel. Dass
Diplomstudiengänge einfach nur umbenannt werden
- sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen -, darf nicht
sein. Wir haben damals eine wirkliche Studienreform
auf den Weg gebracht. Wir wollen etwas anderes, etwas
Neues. Gerade wir Liberalen erwarten von den Hochschulen, dass sie diesen Weg mitgehen.
({3})
Es gibt nach wie vor kein deutschlandweit einheitliches
transparentes Punktebewertungssystem. Manche Universitäten haben dieses Punktesystem überhaupt noch
nicht umgesetzt, manche bewerten Seminare mit mehr
Punkten, manche Vorlesungen. Das ist nicht die Transparenz, die wir uns wünschen. Das ist an vielen Stellen
nach wie vor Kuddelmuddel.
Hinzu kommt, dass die Verhältnisse an unseren Universitäten oft schlechter als in den anderen EU-Staaten
sind. Bei uns rangeln Studenten nach wie vor um Laborplätze. Es fehlt naturwissenschaftliches Instrumentarium. In England ist das anders. In England geht das einfach schneller. Damit haben wir unterschiedliche
Wettbewerbsbedingungen in den europäischen Staaten.
Da muss ich das Gleiche sagen, was ich in der letzten
Sitzungswoche an dieser Stelle auch gesagt habe, Frau
Bulmahn: Wenn Sie die Hochschulbaufördermittel reduzieren, sind wir auf dem genau entgegengesetzten Weg.
Dann werden wir unsere Verhältnisse nicht verbessern.
({4})
Wir müssen im Gleitflug hoch, nicht runter.
Wir haben außerdem Probleme mit dem Übergang
vom Bachelor zum Master. Deshalb kommt es zu
schon abstrusen Vorschlägen wie der Quotierung der
Übergänge vom Bachelor zum Master, wie es die von
uns so geliebte Kultusministerkonferenz vorgeschlagen
hat. An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen:
Das ist die zweite wichtige Debatte, bei der kein wichtiger Ländervertreter anwesend ist.
({5})
Das ist ein Skandal, denn wir müssen alle zusammen etwas für diesen Bildungsstandort tun.
({6})
Ein Hemmnis für mehr Internationalität ist auch das
verkrustete deutsche Beamtenrecht. Bislang verhindern
gesetzliche oder bürokratische Vorgaben, dass ein deutscher Professor nach Frankreich berufen wird. Das hat
Herr Professor Gaehtgens sehr richtig als absurd bezeichnet. An dieser Stelle möchte ich ein Zitat vorlesen:
Die Überprüfung und Reform des Dienstrechtes
und der Personalstruktur ist überfällig ... bis jetzt
sind die Vorschläge der Regierung in dieser Frage
eine Nullnummer.
Liebe Frau Bulmahn, das haben Sie am 13. Februar 1998
diesem Bundestag mitgeteilt. Das war ein Vorwurf an
die alte Regierung Kohl. Aber seitdem hat sich nichts
verändert, Frau Bulmahn.
({7})
- Es hat sich nichts verändert, lieber Herr Tauss. Wir
warten alle voll Spannung auf das Wissenschaftstarifvertragsrecht. Die Liberalen werden entsprechende
Vorschläge in den nächsten Wochen machen. Wir werden hier an dieser Stelle über den Wissenschaftstarifvertrag endlich diskutieren und nicht nur theoretische Debatten führen.
({8})
Es ist ja auch sehr schön, dass jetzt Russland Teil des
Bologna-Vertragswerkes ist.
Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Herr
Tauss stimmgeschwächt ist.
({0})
Heißt das nun Ja oder Nein?
Ich liebe Herrn Tauss. Bitte schön.
({0})
Ich danke Ihnen. Wegen der Stimmschwäche, liebe
Frau Kollegin, benutze ich das Mikrofon.
Tarifverträge werden immer noch zwischen Tarifvertragsparteien geschlossen, aber leider oder Gott sei Dank
- man kann das bewerten wie man will - nicht hier im
Deutschen Bundestag verabschiedet. Dürfen wir damit
rechnen, dass von den Ländern, in denen die FDP mitregiert, in den nächsten Tagen und Wochen - so habe ich
Ihre Ankündigung verstanden - Initiativen auf den Weg
gebracht werden, beispielsweise über die Tarifgemeinschaft der Länder, mit den Forschungsorganisationen
und den anderen Beteiligten zu wissenschaftstarifvertraglichen Regelungen zu kommen? Ich würde das übrigens sehr begrüßen. Haben Sie das schon auf den Weg
gebracht? Hier hilft uns das relativ wenig.
Ich hoffe, meine zarte Stimme ist rübergekommen.
Lieber Herr Tauss, meine Sympathie für Sie nimmt
gerade ruckartig ab.
({0})
Das Problem ist, dass wir uns hier im Bundestag befinden und dass wir Bundesminister haben. Ich bin übrigens froh, dass Frau Zypries und Herr Schily anwesend
sind, denn sie sind diejenigen - das wissen Sie genauso
gut wie ich -, die das Problem für die Bundesebene
schaffen. Wir müssen den Schritt auf Bundesebene gehen. Wir müssen einen eigenen Spartentarifvertrag zulassen. Herr Schily tut unserer zuständigen Bildungsministerin einiges an. Ich erwarte vom Innenminister, dass
er endlich den Weg für das freimacht, was die Wissenschaftsorganisationen und wir Liberalen seit vielen Jahren fordern.
({1})
Darf Herr Tauss nachfragen?
({0})
Jetzt kommt der Augenblick, wo ich meine Sympathie völlig auf Null herunterfahre. Lieber Herr Tauss,
jetzt möchte ich nichts mehr hören, sondern weiterreden.
({0})
- Ja, es ist Liebesentzug, wirklich!
Ich möchte jetzt noch etwas über Russland sagen. Unser Antrag bezieht sich darauf, dass
({1})
das Auslands-BAföG endgültig reformiert werden
muss.
({2})
Frau Bulmahn, Sie haben das Auslands-BAföG als einen
der Hauptschwachpunkte bezeichnet. Unser Vorschlag
liegt auf dem Tisch. Ich erwarte Ihren Vorschlag, damit
wir gemeinsam an der Überwindung dieses schweren
Mankos arbeiten können. Es kann nicht sein, dass jemand erst in Russland anfangen muss zu studieren, wenn
er Auslands-BAföG beziehen möchte, dass es nur für ein
Jahr gewährt wird und so viel Bürokratie damit verbunden ist. Hier stößt die schöne Vision eines einheitlichen
Bildungsraumes wirklich sehr schnell an harte EUAußengrenzen.
({3})
Nun komme ich leider zum Schluss meiner Rede,
meine Damen und Herren. Frau Bulmahn hat auf der
Berliner Konferenz in der vergangenen Woche gesagt:
Wir dürfen den Schwung gerade angesichts zahlreicher zu bewältigender Aufgaben nicht verlieren.
Ich will Ihnen, Frau Bulmahn, an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Sie haben unsere Mitarbeit angefordert. Wir
als Liberale sind auf diesem schwierigen europäischen
Weg an Ihrer Seite, und zwar ganz dezidiert auch im
Hinblick auf den Kampf mit den Ländern, mit den Universitäten und hinsichtlich der Umsetzung in der Wirtschaft; sie ist nämlich der dritte, sehr schwierige Partner.
Wir wollen diese Entwicklung und wir sind in keiner
Weise bereit, konservativ zurückzugehen.
({4})
Wir wollen nach vorn und wir sind dabei!
({5})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Grietje Bettin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine Vorbemerkung zu Frau Flach und zum Wissenschaftstarifvertrag: Auch wir Grünen stehen hier
aufseiten unserer Wissenschaftsministerin und hoffen,
dass nun endlich Bewegung in die Sache kommt.
({0})
Wir halten das für ein notwendiges Mittel, um in der
Wissenschaft entsprechend flexibel weiterzukommen.
Nun aber zu dem eigentlichen Thema, zur BolognaKonferenz. Eines ist Ende letzter Woche deutlich geworden: Für den Stellenwert von akademischer Bildung in
Europa war die Konferenz der Bildungsminister in Berlin ein voller Erfolg. Das Abschlusskommuniqué steckt
in deutlicher Weise den Rahmen ab, wie ein Studium in
Europa in naher Zukunft aussehen wird. Dabei werden
wichtige Punkte hervorgehoben.
Erstens. Bildung ist ein öffentliches Gut, das auf keinen Fall Marktinteressen untergeordnet werden darf.
({1})
In dieser Hinsicht lässt das Kommuniqué zu meiner großen Freude keinen Zweifel aufkommen. Diese Haltung
wird uns auch im weiteren GATS-Prozess helfen. Bildung ist nun einmal keine Ware wie jede andere, sondern
muss gesondert be- und verhandelt werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie mich nicht
missverstehen: Auch wir wollen neue internationale Angebote und Ansätze im deutschen Bildungssystem ermöglichen. Das darf aber nur unter der Maßgabe hoher
Qualitätsstandards geschehen und das öffentliche Bildungssystem nicht gefährden.
Die Qualitätssicherung europaweit schon bis zum
Jahr 2005 zu etablieren ist eine ehrgeizige, aber völlig
richtige Zielsetzung dieser Konferenz. Alle Beteiligten
sollten hier im Interesse der deutschen Hochschulen
konstruktiv zusammenarbeiten, um diesem Projekt der
Qualitätssicherung zum Erfolg zu verhelfen.
({3})
Ein zweiter wesentlicher Punkt: Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer betonen an vorderster
Stelle die soziale Dimension des Bologna-Prozesses.
Damit werden die richtigen Prioritäten für die politische
Agenda gesetzt. Die wirklichen Grenzen für die Studierenden liegen heute nämlich immer noch in ihrer finanziellen und sozialen Absicherung für ihr jeweiliges Auslandsstudium.
Die Berliner Konferenz hat nun begonnen, diese Barrieren niederzureißen. Denn nur so kann es wieder
ebenso selbstverständlich werden, in Krakau oder Prag
zu studieren wie in Madrid oder Paris, in Budapest genauso wie in London oder Stockholm. Wir müssen diese
Mobilität von europäischer Ebene aus für alle Studierenden sichern, egal aus welchem Land sie kommen.
Die Bundesregierung hat mit der BAföG-Reform in
der letzten Legislaturperiode die Weichen hierzu bereits
richtig gestellt. Deutsche Studierende können viel leichter als früher ihr BAföG mit ins Ausland nehmen.
({4})
Meine Damen und Herren, der Zugang zur akademischen Bildung je nach individueller Leistungsfähigkeit
ist eine weitere, besonders wichtige gemeinsame Verpflichtung. Genau hierin besteht in Deutschland noch ein
erheblicher Nachholbedarf. Wir müssen endlich die soziale Auslese im Bildungssystem beseitigen und den Talenten aller Menschen in Deutschland - nicht nur der
Besserverdienenden - die Möglichkeit bieten, sich zu
entwickeln.
({5})
In Deutschland müssen endlich so viele Akademikerinnen und Akademiker ausgebildet werden, wie dieses
Land braucht. Wenn wir weiter hinterherhinken, dann
kann das deutsche Bildungssystem zur Belastung für den
europäischen Einigungsprozess werden. Wir wollen dieses Problem nicht kleinreden, wie es die ansonsten von
mir durchaus geschätzte Frau Staatsministerin Wolff zuletzt versucht hat.
Der Antrag der Koalition greift notwendige Schritte
auf. Wir wollen im europäischen Hochschulraum Vergleichbarkeit und Transparenz schaffen, ohne die Vielfalt akademischer Bildungsmöglichkeiten einzuschränken. Wir brauchen eine bundesweite Koordination der
durch Bologna, Lissabon, Prag und Berlin angestoßenen
Prozesse an den deutschen Hochschulen. Allein die Einführung des so genannten Europäischen KreditpunkteSystems macht noch an vielen Hochschulen Schwierigkeiten. Wir müssen dringend auf Kompatibilität achten.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum
Thema Kompatibilität und Akzeptanz ausführen. Mit der
gesellschaftlichen Anerkennung der neuen Bachelorund Masterstudiengänge ist es in Deutschland bislang
nicht so weit gediehen, wie wir alle uns das wünschen.
Diese Innovation braucht ihre Zeit, um bei den Studierenden, aber vor allem auch bei der Wirtschaft Vertrauen
zu gewinnen. Die Beteiligten in Politik und Wissenschaft müssen ihren Beitrag leisten, um dieses Vertrauen
zu rechtfertigen. Die Studienpläne sind in vielen Fächern
reformbedürftig. Es ist keineswegs damit getan, den Magister durch den Master zu ersetzen und ansonsten alles
beim Alten zu belassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der Integration der europäischen Hochschulen ist eine riesige
Chance für alle deutschen Hochschulen und für alle
deutschen Studierenden. Wenn wir die Dynamik in diesem Prozess nutzen, gelangen wir im europäischen Verbund wieder zurück an die Weltspitze. Lassen Sie uns
diese Chance gemeinsam ergreifen! Die heutige Debatte
lässt uns hoffen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Marion Seib, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Im Mittelalter ging von Bologna - einer der
ältesten Universitätsstädte der Welt - in Sachen Bildung
eine Initialzündung mit Auswirkungen auf die gesamte
europäische Wissenschaftslandschaft aus. Betrachten
wir den heutigen Bologna-Prozess als Synonym für eine
Initialzündung zur Weiterentwicklung der Bildungssysteme in Europa. Der Bologna-Prozess hat das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines einheitlichen Hochschulraums in Europa geschärft.
Ziel ist - darin sind wir uns alle einig; das hat auch jeder meiner Vorredner betont - die größtmögliche Flexibilität, Mobilität und internationale Wettbewerbsfähigkeit für Studierende in Europa. Dieses Anliegen ist von
größter Bedeutung und deshalb unterstützenswert.
Die europäischen Bildungsminister haben sich über
die Schaffung eines europäischen Hochschulraums
bis 2001 verständigt. Dieses Ziel soll unter Beachtung
der institutionellen Kompetenzen, der nationalen Bildungssysteme und vor allem der Autonomie der Hochschulen umgesetzt werden.
Auf der Nachfolgekonferenz in Berlin sollten über die
Fortschritte Bilanz gezogen sowie Richtung und Prioritäten festgelegt werden. Positiv zu vermerken ist zunächst, dass das Doktorandenstudium als weiteres Ziel
des Bologna-Prozesses festgelegt wurde.
Wegen der Tragweite der Entscheidungen und der
Tatsache, dass wir in vielen Positionen Neuland betreten,
sei auf kritische Punkte der Bologna-Nachfolgekonferenz hingewiesen. Diese Kritik betrifft sowohl inhaltliche Fragen als auch Verfahrensfragen.
Ich möchte mich dabei auf drei Schwerpunkte konzentrieren: erstens das fehlende Verständnis bei den
Adressaten des Bologna-Prozesses, zweitens die Akkreditierung und Qualitätskontrolle und drittens die Erweiterung des Bologna-Prozesses.
Die Umsetzung des Bologna-Prozesses wird nur von
Erfolg gekrönt werden, wenn die Adressaten - also die
Universitäten, Studenten und späteren Arbeitgeber - von
den Zielen überzeugt sind.
({0})
Eines der Kernelemente des Bologna-Prozesses ist
die Umstellung unseres Studiensystems auf eine zweistufige Struktur. Die letzte Erhebung der Hochschulrektorenkonferenz weist für das laufende Wintersemester in
Deutschland fast 1 800 Bachelor- und Masterstudiengänge aus. Im Zeitraum 2002/03 entschieden sich aber
nur 2 Prozent der Studierenden für das neue System. Das
ist doch eine recht kleine Anzahl. Mit anderen Worten:
Die Universitäten, die Studenten und die Arbeitgeber
stehen noch vor einem gewaltigen Umsetzungs- und
Verständnisprozess. Alle schönen Worte auf den Konferenzen werden umsonst sein, wenn sich insbesondere die
Lehrenden an den Hochschulen nicht konsequent und
hoch motiviert daran beteiligen.
({1})
Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge darf nicht mit der einfachen Umwandlung der
Vordiplome in Bachelorabschlüsse und der Diplome in
Masterabschlüsse verwechselt werden. Gerade die Einführung des Bachelor wird die Hochschullehrer bei der
Konzeption der neuen Studiengänge zwingen, sich auf
die wesentlichen Kernbereiche der beteiligten Fächer zu
einigen, ohne die Berufsbefähigung der Bachelorabschlüsse aus den Augen zu verlieren.
Eine wichtige Rolle bei der Motivation der Lehrenden
spielt insbesondere der finanzielle Entscheidungsspielraum. Hier gibt der Bund ein schlechtes Vorbild ab.
({2})
Im nächsten Jahr will er beim Hochschulbau 135 Millionen Euro - das sind rund 13 Prozent der bisherigen
Mittel - sparen. Durch das Studiengebührenverbot verbaut er darüber hinaus den Hochschulen weitere Einnahmemöglichkeiten. Dies führt auf Dauer zu Frust und Demotivation bei den Entscheidungsträgern an den
Hochschulen und kann unserem gemeinsamen Anliegen
nicht dienlich sein.
({3})
Der Bologna-Prozess mit all seinen Chancen ist noch
nicht in den Köpfen der jungen Menschen angekommen.
Die katastrophale Arbeitsmarktlage - das gilt auch in
steigendem Maße für Akademiker - zwingt junge Menschen verstärkt auf die berufliche Perspektive eines
Hochschulabschlusses zu achten, zumal deutsche Studierende mit 16 Millionen Studierenden europaweit in Konkurrenz um Lohn und Brot stehen. Neue Abschlüsse
ohne Rückschluss auf die Tauglichkeit im Berufsalltag
entwickeln unter diesen Umständen nur wenig Anziehungskraft.
Mit ihrer Verunsicherung stehen die Studenten aber
nicht alleine da. Auch ein Großteil der potenziellen Arbeitgeber ist vielfach noch nicht hinreichend über die
neuen Abschlüsse und deren Möglichkeiten informiert.
Damit meine ich nicht die internationalen Großkonzerne. Ich spreche vielmehr vom deutschen Mittelstand,
von dem Rückgrat unserer Wirtschaft. Der Mittelstand
sind 3 Millionen Unternehmen mit 20 Millionen Beschäftigten. Diese Unternehmen beschäftigen zwei Drittel aller Arbeitnehmer in Deutschland. Die Mehrheit der
Hochschulabsolventen findet hier ihren ersten Arbeitsplatz.
({4})
Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Errichtung eines
europäischen Hochschulraums ist die Qualitätssicherung der einzelnen Studiengänge. Die beiden Instrumente zur Qualitätssicherung - Evaluation für die interne Qualitätsverbesserung und Akkreditierung zur
Einhaltung extern vorgegebener Standards - stehen im
Vordergrund der Diskussion. Auch das Berliner Kommuniqué der Ministerkonferenz geht auf die Qualitätssicherung ein. Bis zum Jahr 2005 sollen in allen Ländern
entsprechende Strukturen geschaffen werden, danach
sollen die internationalen Qualitätssicherungssysteme in
ein europäisches Netzwerk für Qualitätssicherung eingebunden werden. Nur ein solches Netzwerk kann die
Vielfalt kultureller Traditionen der verschiedenen Länder widerspiegeln.
Bei der hochschulübergreifenden Qualitätssicherung
hat sich Deutschland für die Einrichtung eines Akkreditierungsrates entschieden. Dieser Rat hat inzwischen
sechs Agenturen zugelassen, die wiederum Studiengänge akkreditieren. Auf den ersten Blick sind wir vorangekommen. Aber ein genauer Blick auf die Zahlen
trübt das Bild. Wir haben bis jetzt nur 338 akkreditierte
Studiengänge. Bei gut 11 000 Studiengängen an deutschen Hochschulen ist das ein verschwindend geringer
Anteil. Es bleibt zu befürchten, dass sich der Akkreditierungsstau nicht so leicht abbauen lässt. Selbst wenn es
zu Gruppenakkreditierungen kommt und mehrere Studiengänge in einem Verfahren zusammengefasst werden,
frage ich: Woher sollen die für die Akkreditierungsverfahren erforderlichen Gutachter kommen? Schon jetzt
klagen die Agenturen über einen Mangel an Gutachtern.
Frau Flach, wir müssen - bundesweit - noch einmal
über Folgendes reden: Auch wenn Bachelor und Master
in Zukunft die wichtigsten Abschlüsse im Hochschulbereich darstellen werden, dürfen sie Diplomstudiengänge
nicht völlig verdrängen. Die Kultusministerkonferenz
hat dies als richtig erkannt und sich in ihren zehn Thesen
zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland für die
Beibehaltung bewährter Diplomabschlüsse über das Jahr
2010 hinaus ausgesprochen. Dies betrifft vor allem die
weltweit anerkannten deutschen Ingenieurdiplome. Hier
sollte man Bewährtes nicht fahrlässig aufgeben und über
Bord werfen.
({5})
Bei der Umsetzung der Qualitätsabsicherung dürfen
wir nicht vergessen, dass wir es nicht nur mit dem EURaum zu tun haben; die internationalen Entwicklungen
im Bereich der Hochschulen, die zum Teil gegenläufig
sind - wie in den USA -, dürfen wir nicht aus den Augen
verlieren. Der Erfahrungsaustausch in den supranationalen Netzwerken wird und muss auf die europäische
Hochschullandschaft zurückwirken. Der Bologna-Prozess umfasst nicht nur EU-Staaten oder zukünftige EUMitglieder, sondern auch viele weitere Länder; beispielsweise gehören so unterschiedliche Staaten wie Norwegen oder die Türkei zu den Teilnehmern am BolognaProzess. In Berlin wurden weitere Länder aufgenommen, darunter Albanien, Bosnien-Herzegowina, Russland und der Vatikan. Damit ist die Anzahl auf 40 gestiegen.
Ganze Regionen, wie die Karibik oder Lateinamerika,
sind an einer engeren Zusammenarbeit mit den Ländern,
die am Bologna-Prozess teilnehmen, interessiert. Bei
dieser Entwicklung sei die Frage erlaubt, ob der Bologna-Prozess nicht über das Ziel hinausschießt. Ist eine
Bildungslandschaft von Lissabon bis Wladiwostok oder
von Berlin bis Rio noch überschaubar? Ziel des Bologna-Prozesses war und ist es, die weltweite Ausstrahlungskraft und die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulraums zu stärken. In der BolognaErklärung von 1999 heißt es ausdrücklich:
Das Europa des Wissens kann seinen Bürgern die
notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends ebenso vermitteln wie
ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen sozialen und kulturellen Raum.
Durch die Erweiterung des Bologna-Prozesses über
den europäischen Kontinent hinaus sehe ich das Grundverständnis der Bologna-Idee gefährdet. Die Idee eines
gemeinsamen europäischen Hochschulraums wird dadurch eher verwässert als vorangebracht und kann zu
herben Enttäuschungen bei allen Beteiligten führen.
Sehr geehrte Frau Ministerin, am Ende des Rückblicks auf die Berliner Ministerkonferenz möchte ich Sie
auffordern:
Erstens. Wecken Sie das Verständnis bei den Adressaten des Bologna-Prozesses in Deutschland, damit die
Motivation verbessert und die Kommunikation zwischen
Absolventen, Hochschulen und der Wirtschaft fortgesetzt wird!
Zweitens. Stärken Sie unsere eigenen Qualitätssicherungssysteme! Fördern Sie aktiv die Zusammenarbeit
zwischen den zentralen Akkreditierungsorganisationen
in Europa!
Drittens. Behalten Sie bei der Neuaufnahme weiterer
Mitglieder den Grundansatz der Bologna-Idee im Blick!
Wir werden Sie wohlwollend, aber sicher auch kritisch begleiten.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte den Gästen sagen: Ich bin Abgeordnete der PDS.
Frau Bulmahn, Sie haben auf Ihrer Internetseite dieses Thema mit „Studieren ohne Grenzen“ überschrieben.
Diese Idee ist uns sehr sympathisch. Doch es gibt Befürchtungen, die - soweit ich weiß - auch Sie teilen,
dass wir zwar bald eine gemeinsame europäische Hochschullandschaft ohne Grenzen haben werden, aber immer weniger Studierende über die finanziellen Mittel
verfügen werden, um diese Grenzen wirklich zu überschreiten. Ich meine, wir dürfen uns in dieser Debatte
nicht nur über die Angleichung von Abschlüssen unterhalten, sondern wir müssen uns auch mit der sozialen Situation von Studierenden beschäftigen.
Großbritannien ist nur ein Beispiel, das zeigt, dass
nach der Einführung von Studiengebühren die Bedingungen für die Studierenden immer schlechter geworden
sind: Die Gebühren sind gestiegen und Freibeträge für
ärmere Studierende sind gesenkt worden. Eine Verbesserung der Studienbedingungen an den staatlichen Hochschulen und Universitäten konnte selten festgestellt werden.
Auch in Deutschland wird das Thema Studiengebühren heiß diskutiert. Die Rednerin der CDU/CSU meinte
unbedingt betonen zu müssen, dass Studiengebühren
eingeführt werden müssen. Ich denke, es ist ein Irrglaube, dass Studiengebühren die Situation in den Universitäten und Hochschulen verbessern und die Studentinnen und Studenten damit zu nachgefragten Kunden
werden. Ich kann nur hoffen, dass man in Deutschland
nicht die gleichen Fehler wie in Großbritannien machen
wird.
Die Diskussion über Studiengebühren ist doch nur ein
Vorspiel für diejenigen, die Bildung als Geld bringende
Dienstleistung auf den Markt bringen wollen. Es besteht
die reale Gefahr, dass mit den GATS-Verhandlungen ein
Wettbewerb um die tertiäre Bildung entfesselt wird, der
für unsere Gesellschaft nicht gut ist. Die Vermarktung
der Bildung wird zwangsläufig die Einschränkung frei
zugänglicher Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen bedeuten. Die Bildungschancen werden wieder vom
Geldbeutel der Eltern abhängig sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an dieser
Stelle an den Sputnikschock von 1957 erinnern. Der
Schock darüber, dass die Sowjetunion es geschafft hatte,
vor den Vereinigten Staaten von Amerika quasi den
Weltraum zu erobern, hatte für die USA eine heilsame
Wirkung. Sie erkannten, dass ihr Bildungssystem, insbesondere das Hochschulsystem, viel zu elitär war. Es ist
zwar schon fast 50 Jahre her, aber trotzdem können wir
uns daran erinnern, dass die USA in der Weise reagierten, dass sie ein Gesetz verabschiedeten, das die Hochschulen und Universitäten für breitere Bevölkerungsschichten öffnete. Dieses Gesetz zeigte schnell Wirkung.
Die Vereinigten Staaten konnten damals im Bildungsbereich schnell aufholen.
Warum dieser geschichtliche Rückblick? Wenn wir in
Europa die Gefahren der Kommerzialisierung der Bildung nicht erkennen, wenn wir nicht erkennen, was mit
den GATS-Verhandlungen auf dem Bildungssektor geschehen kann, dann können wir in der Wissensgesellschaft nur verlieren; denn für die moderne Wissensgesellschaft braucht man nicht nur die Eliten, dafür braucht
man die ganze Gesellschaft, dafür braucht man freien
Zugang zur Bildung und dafür sollten sich alle einsetzen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Reiche, Frau Flach, am Anfang möchte
ich Ihnen darin Recht geben, dass das ein gemeinsamer
Prozess ist, also ein Prozess, der nicht erst mit einer sozialdemokratisch-grünen Regierung begonnen hat. Wenn
man anerkennt, dass der Ausgangspunkt Sorbonne, Paris, war, dann erkennt man auch an, dass es schon damals
einen Konsens gab und dass Herr Rüttgers an dem ersten
Schritt mitgewirkt und dort Einfluss genommen hat.
Wenn das so ist, dann kann man genauso anerkennen,
auch ausdrücklich, dass eine sozialdemokratisch-grüne
Regierung mit einer Bildungsministerin Bulmahn in diesem Prozess ungemein konstruktiv, wirkungsvoll und
tief greifend positiv verändernd mitgewirkt hat.
({0})
Die Anerkennung des ersten Schritts von Herrn Rüttgers
führt dazu - hoffe ich -, dass das ganze Haus fair die
Anerkennung für das ausspricht, was in vier Jahren darauf aufgebaut worden ist.
({1})
Ich meine wohl, dass es da auch Differenzierungen gibt.
Wenn wir jetzt eine Parlamentsdiskussion dazu führen, dann müssen wir kritisch reflektieren, dass wir nach
1998, Sorbonne, glaube ich, keine große Parlamentsdebatte zu diesem Thema gehabt haben, dass wir auch Bologna ohne große Parlamentsdebatte haben vorbeigehen
lassen - wir haben uns gefreut, aber wir haben das nicht
zum parlamentarischen Gegenstand gemacht - und dass
für Prag das Gleiche gilt. In Berlin nun sind wir endlich
parlamentarisch beteiligt.
({2})
Selbstkritisch müssen wir aber sagen: Wir sind nach
Berlin dabei. In Zukunft muss es so sein, dass wir vor
der nächsten Konferenz in Bergen, vor dem nächsten
Schritt, und vor den weiteren Schritten beteiligt werden.
({3})
Das ist die Selbstverpflichtung, die wir als Parlamentarier haben.
Der Antrag, den wir von den Koalitionsfraktionen
eingebracht haben, ist einer, der vieles nur begrüßen
kann, der aber in manchem Perspektiven aufzeigt. Trotzdem bitten wir darum, dass er nach Beratung im Ausschuss möglichst von allen Fraktionen hier im Parlament
mitgetragen wird.
({4})
- Den Wunsch der Parlamentarierin Frau Flach, dass die
Abgeordneten zugelassen werden sollten, mögen wir als
überzeugte Parlamentarier mittragen; gleichzeitig wissen
wir aber, dass es dabei auch um pragmatische Fragen
geht. Bologna ist mittlerweile zu einem so großen Prozess geworden - es gibt so viele Beteiligte, zum Beispiel
Studenten und Vertreter der Hochschulen aus den jeweiligen Staaten -, dass wir einen Weg der Parlamentarisierung
finden müssen, so wie wir das im EU-Bereich erreicht haben, wenn es um einen europäischen Bildungsraum geht.
Die Reflexion über das, was eigentlich passiert ist,
möchte ich an einer Stelle zuspitzen: beim europäischen
Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsraum. Frau
Bulmahn hat gesagt, dass die Hochschulen dort eine
Schlüsselrolle einnehmen. Frau Berg hat von einer Vision gesprochen. Ich will mich mit dem auseinander setzen, was Frau Seib gesagt hat. Frau Seib, ich teile Ihre
Einschätzung, dass es gut und, ich glaube, auch in unser
aller Interesse ist, dass Russland in diesen europäischen
Bildungsraum mit einbezogen ist, selbst wenn Russland
bis Wladiwostok reicht.
({5})
Es ist fast ein Wunder, welche Länder hierbei mitmachen. Dabei müssen wir immer wissen, welche Unterschiede zwischen Ländern wie England, den Niederlanden oder Deutschland als den reichsten Ländern und
einem Land wie Albanien, einem der ärmsten Länder,
bestehen und wir müssen uns klar machen, dass wir uns
in diesem Prozess nicht überfordern dürfen.
Es ist gut und wichtig, dass diese Erweiterung über
den engeren EU-Rahmen hinausgeht. Die Karibik und
andere Staaten, die hier angesprochen wurden, sollen
- so habe ich es jedenfalls verstanden - zwar nicht Teil
des europäischen Hochschulraums werden, aber es wäre
gut, wenn der Prozess, der sich jetzt in Europa vollzogen
hat, auch zum Vorbild für andere Regionen wird und sie
auf diese Weise auch am Prozess teilhaben können.
({6})
Ich glaube, auf dieser Ebene können wir zusammenfinden, ohne dass irgendwelche Ressentiments geweckt
werden.
Ein weiterer Punkt, der den Blickwinkel betrifft, ist
mir aufgefallen: Wir haben hier im Parlament immer
wieder schnell Europa und die USA verglichen und
lange darüber diskutiert. Wir haben also das US-amerikanische Hochschul- und Forschungssystem als Bezugspunkt für uns gewählt. Wir haben jetzt aber die Chance,
einen eigenen europäischen Bezugspunkt herzustellen.
Das gibt neues Selbstbewusstsein und schafft Identität.
Dadurch kann man junge Menschen gewinnen und Tradition und Moderne verbinden. Ich glaube, es tut uns
gut, wenn wir in Zukunft häufiger fragen, wie es die Niederländer, die Norweger oder die Russen machen, statt
immer nur zu fragen, wie es die USA machen. Bei der
Gestaltung dieser Dinge geht es auch ein wenig um eine
Emanzipation Europas.
Frau Ministerin, Sie haben am Anfang gesagt, Wettbewerb, Flexibilität und Freiheit sollen ebenfalls wachsen.
Gleichzeitig geht es ja auch darum - ich möchte noch
einmal einen Aspekt verstärken, den ich in Ihrer Rede
wahrgenommen habe -, festzuhalten, wie die europäische Hochschulidee aussieht. Als Erstes nenne ich die
Verbindung bzw. die Einheit von Forschung und
Lehre. Diese gibt es nicht in allen anderen Hochschulräumen der Welt, aber sie ist seit den Hochschulgründungen von Bologna und Prag bis in die Gegenwart ein Teil
unserer Tradition. Hinzu kommt der freie Zugang zu den
Hochschulen. Dies muss auch bei der Debatte um Hochschulgebühren beachtet werden, wenn man anfängt, verschiedene Maßstäbe für Erst- und Zweitstudium anzulegen und festzulegen, wann ein Erststudium ungebührlich
überzogen wird. Weiterhin nenne ich die Eigenständigkeit von Hochschulen. Diese muss als Maßstab für die
Bestimmung des Verhältnisses zwischen staatlicher Reglementierung und Autonomie in Form von eigener
rechtlicher Gestaltungsfähigkeit der Hochschulen angelegt werden. Außerdem nenne ich die Vielfalt und nicht
zuletzt auch als demokratische Komponente die Beteiligung von Professoren, Lehrenden und Lernenden an der
Gestaltung der Hochschulen. Wenn man all dieses zusammennimmt, gewinnt der europäische Hochschulraum
auch eine eigene Qualität und man unterwirft ihn nicht
der rein ökonomischen Betrachtung des einheitlichen
Wirtschafts- und Arbeitsraums.
Peter Glotz, früherer Vordenker der SPD, sagte vor einiger Zeit einmal auf die Frage, wie man Bildung in Zukunft definieren könne: Sie muss humanistisch, ökologisch und europäisch sein. Ich glaube, dieser 15 Jahre
alte Ausspruch von Peter Glotz findet unter anderem im
Berlin von heute eine Entsprechung und Erfüllung.
({7})
Der Prozess - das haben Frau Seib und andere angesprochen - beinhaltet einen sehr ehrgeizigen Fahrplan.
Es ist ja gut, wenn man schnell vorankommen will, aber
man darf sich dabei nicht verhaspeln. Wir müssen die
unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die die einzelnen
beteiligten Länder vorlegen, berücksichtigen. Wir müssen diesen Prozess sicherlich in manchen Punkten beschleunigen, wir müssen uns aber zugleich auch auf bestimmte Fragen konzentrieren, denn man kann nicht
alles zur gleichen Zeit anfassen. Die Bildungsminister
der beteiligten Staaten haben sich deshalb auch auf drei
Schwerpunkte konzentriert: Qualität, Stufung des
Studiums und Transparenz, also gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen.
Sie, Frau Bettin, sagten, einen weiteren Schwerpunkt
stelle die soziale Dimension dar. Wenn man ehrlich ist,
muss man dazu sagen, dass dies kein primärer Schwerpunkt ist. Ich möchte hier auch einmal kritisch fragen, ob
dieser Frage eine solche Rolle in einem Hochschulraum,
der von Russland über Albanien bis zu den Niederlanden
reicht, zukommen könne. Wenn wir die soziale Dimension an den Anfang aller Fragen setzen und mit ihrer
Hilfe einen europäischen Hochschulraum konstituieren
wollten, besteht am ehesten die Gefahr, dass man sich
verhaspelt, die Hochschulen überlastet bzw. mit zu hohen Ansprüchen belastet, weil die sozialen Bedingungen, also die Lebensbedingungen, in dieser Vielzahl von
Ländern so unterschiedlich sind. Das heißt nicht, dass
man nicht in einigen Schlüsselfragen dieses Thema angeht. Aber die soziale Dimension gleich an die erste
Stelle der Schwerpunkte zu setzen, birgt aufgrund der
Verschiedenartigkeit der Länder in sich die Gefahr der
Überforderung.
({8})
Man muss sich darüber austauschen. Wenn es dann an
anderer Stelle um bestimmte Schlüsselpunkte geht, wird
das hoffentlich Ihre Unterstützung finden.
Ich will nicht auf alles Positive eingehen. In Bezug
auf die Qualität möchte ich nur erwähnen, dass die Akkreditierung ein komplexer Prozess ist und Zeit braucht.
Wir von der SPD-Fraktion fragen uns, ob zur Akkreditierung, zur Qualitätssicherung nicht auch gehört, dass
man bei der Bildungsforschung, bei der wissenschaftlichen Betrachtung, nicht nur in den Blick nimmt, was
sich an den Schulen vollzieht - siehe PISA - und wie
das Thema Ganztagsschulen - eine aktuelle Debatte anzugehen ist, sondern auch das Geschehen im Hochschulbereich: Wie kann dort, im Curricularen, in der
Verbindung von Forschung und Lehre für mehr Qualität
gesorgt werden? Wie findet man Menschen, die bei der
Qualitätssicherung mitwirken können? Diese Fragen
sind nicht hinreichend beleuchtet. Wenn wir den Prozess
von Bologna fortführen wollen, dann muss Hochschulforschung ein Schwerpunkt sein, der parallel aufgebaut
wird. Sonst bleibt Qualitätssicherung eher eine formale
Frage.
Eine Anmerkung in Bezug auf das in Bachelor und
Master gestufte Graduierungsverfahren. Man darf nicht
alles als Konsens erscheinen lassen; sonst wird nicht
mehr deutlich, dass es im Parlament verschiedene Auffassungen gibt. Deshalb, Frau Reiche, müssen Sie sich
an dieser Stelle zwei Kritikpunkte gefallen lassen.
Den Abgeordneten und auch den Hochschulen ist teilweise noch bekannt, wie wir das Hochschulrahmengesetz novelliert haben und dass es damals eine Auseinandersetzung über die Frage gab: Soll dort verbindlich
geregelt werden, dass die Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt werden, oder soll die Einführung ausschließlich freiwillig geschehen? Die CDU/CSU war für
die Freiwilligkeit. Wir haben parlamentarisch die Verbindlichkeit durchgesetzt. Wie stünden wir heute im Bologna-Prozess da, in dessen Rahmen die Einführung bis
2005 beschlossen worden ist, wenn wir uns damals nur
auf Freiwilligkeit geeinigt hätten? An dieser Stelle haben
Sie die historische Entscheidung verpasst.
({9})
Der zweite Kritikpunkt. Sie haben von der „Luft der
Freiheit“ gesprochen; ich dachte immer, es hieße „Wind
der Freiheit“. Sie meinten damit, die Hochschulen sollten in die Freiheit entlassen werden, was die Auswahl
der Studenten angeht. Sie haben aber doch schon die
Freiheit, 25 Prozent der Studierenden selbst auszuwählen. Sie nutzen diese Freiheit aber nicht, können es
vielleicht auch nicht, weil Auswahlgespräche eine zusätzliche Last bedeuten. Sie können uns in diesem Zusammenhang nicht vorwerfen, wir würden die Freiheit
der Hochschulen beschneiden wollen. Es besteht eher
die Gefahr, dass von Ihren Vorstößen nichts als heiße
Luft bleibt.
({10})
Eine Frage bleibt: Wo sind Schlüsselstellen, an denen
wir wirklich aktiv werden können? Frau Flach, Sie sprachen den Wissenschaftstarifvertrag an. Das ist natürlich
eine Frage der Tarifpartner, aber seien wir ehrlich: Wenn
Unternehmen nicht wissen, wie sie mit Bachelor- und
Masterabschlüssen umgehen sollen, dann müssen Bund,
Länder und Kommunen deutlich machen und als Vorbild
dienen, wie damit umgegangen werden kann.
({11})
Es geht auch um die Anerkennung und die Gleichwertigkeit von Bachelor- bzw. Masterabschlüssen im Fachhochschul- und Hochschulbereich. Das könnte eine
Schlüsselstelle sein, bei der wir die FDP nachdrücklich
darum bitten: Sorgen Sie in den Ländern, in denen Sie
der CDU in die Hacken treten können, dafür, dass sie
dort richtig in Fahrt kommen. Im Moment ist es so, dass
die CDU- bzw. CSU-geführten Länder eher bremsen.
Den Arbeitgebern müssen wir sagen: Wer auf kürzere Studienzeiten drängt, wer einen ersten berufsorientierenden Abschluss in Form von Bachelor fordert, der
darf nicht erwarten, dass das mit einem „Diplom in kurzer Zeit“ gleichzusetzen ist.
({12})
Man darf nicht glauben, man könne plötzlich mit einem
geringeren Aufwand zum gleichen Preis ein besseres Ergebnis bekommen. Zusätzlich zum Bachelorabschluss
müssen in den Unternehmen Weiterbildungspläne zur
Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgestellt werden. Denn dieser Abschluss alleine reicht
nicht aus. Das müssen wir ganz klar und hart sagen.
Meine vorletzte Bemerkung bezieht sich auf Ihren
Antrag, Frau Flach, den Sie bezüglich der Mitnahme
von BAföG in den gesamten europäischen Hochschulraum eingebracht haben. Wir sind mit der BAföG-Novelle weit vorangekommen. Auch wir denken darüber
nach, aber man muss wirklich gründlich darüber nachdenken.
({13})
Dabei gibt es viele Probleme. Ich möchte Ihnen einige
nennen.
Bisher gibt es Zuschlagssysteme. Wenn man diese nivelliert und auf das BAföG-Niveau bringt, dann stehen
sich viele schlechter. Wollen wir das? Bisher ist nicht
geregelt, ob Angehörige von in Deutschland lebenden
Ausländern BAföG erhalten können. Wie ist es in
Grenzregionen? Wie wirkt sich die neueste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus?
Wir nehmen diese Fragen auf; aber wir beantworten
sie nicht in einem solchen Schnellschussverfahren, wie
Sie es mit Ihrem Antrag vorsehen. Haben Sie dafür bitte
Verständnis.
({14})
Auf den Konferenzen von Bologna bis Bergen wird
über den europäischen Hochschulraum gesprochen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Prozess in der
EU mit wegweisenden Programmen wie SOKRATES
und ERASMUS begonnen wurde. Es ist die finanzielle
Seite, auf der sich die Kernregion für einen europäischen
Hochschulraum engagieren kann, damit Studierende in
den Austausch einsteigen können. Mittlerweile haben
wir, glaube ich, den millionsten von ERASMUS Geförderten. Das ist eine große Zahl, aber im Vergleich zu
16 Millionen noch zu wenig.
Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die Finanzdebatte nach Europa zu tragen. Ist es wirklich gut, mit über
50 Prozent der Mittel des europäischen Haushaltes
einen europäischen Agrarraum zu konstituieren, während man in Bezug auf den Forschungsraum mit 2,5 Milliarden Euro einen bescheidenen Fortschritt macht und
Bildung mit unter 1 Milliarde Euro eine marginale
Größe ist? Oder können wir zu Umgewichtungen kommen, sodass der Prozess europäischer Hochschulraum
materiell unterfüttert wird?
({15})
Diese Vorstellungen bringen wir in die Debatte ein.
Es gibt viel Übereinstimmung. Es muss jetzt ein konzentriertes Zusammenwirken von Bund und Ländern mit
Folgekonferenzen und Koordinierung geben. Wenn der
Bund sich über das zehnte Ziel - Doktorandenstudium freut, muss er selber Vorschläge machen. Er muss sich
auf die soziale Dimension, die Mitnahme von Studienförderung nach dem BaföG, konzentrieren.
Ich freue mich, dass die Konferenz in Berlin stattfinden konnte. Jedenfalls mir geht es noch so. Von der konservativen Seite wird häufig suggeriert, Sozialdemokraten seien geschichtslos und gefühllos. Für mich ist es
immer noch etwas Besonderes, durch das Brandenburger
Tor zu gehen. Als Schüler habe ich an der Mauer gestanden und konnte nach Ostberlin nur hinüberschauen. Dass
eine solche Konferenz in Berlin stattfinden kann, hat
nicht nur Symbolwert, sondern bedeutet auch eine Verpflichtung:
({16})
Brücke zu sein zwischen Ost und West in einem Hochschulraum Europa, in dem qualitative Hochschulbildung
ein gemeinsames und selbstbewusstes Ziel ist.
Ich bedanke mich.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Bergner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich bekenne mich zu Beginn meiner Ausführungen gerne
zur Gemeinsamkeit der Zielvorstellungen und zur Kontinuität im Bemühen um das Ziel eines europäischen
Hochschulraumes. Wir wollen einen Hochschulraum,
in dem Studierende und Wissenschaftler ganz selbstverständlich von einer Hochschule eines Landes zu einer
Hochschule eines anderen Landes wechseln können. Es
soll keine bürokratischen Hemmnisse geben. Studienund Prüfungsleistungen sollen anerkannt werden können. Wer mit jungen Leuten spricht, die solche Hochschulwechsel, zum Teil durch EU-Programme gefördert,
absolvieren, weiß, dass wir an dieser Stelle durchaus
noch manches zu tun haben.
Aber bei aller Gemeinsamkeit in der Zielstellung gibt
das Thema doch auch Anlass zu Debatten und Kontroversen.
Ich möchte mit dem Selbstverständnis der Politik
bei der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes
beginnen. Sie, Frau Bulmahn, haben - wie ich finde, zu
Recht - darauf verwiesen, dass wir mit der Schaffung
eines europäischen Hochschulraumes eigentlich ein
Stück Rückbesinnung vornehmen. Es ist in der Tat so:
Wissenschaft war schon immer grenzüberschreitend. Die
Scientific Community hat selbst die Widerstände des Eisernen Vorhangs überwunden. Das heißt, wir als Politiker haben hier nicht die Schulmeister zu spielen und die
Wissenschaft in Richtung Internationalität zu drängen.
Vielmehr haben wir an Internationalität in der Forschungskommunikation anzuknüpfen und dabei Konsequenzen für Studium, Lehre und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu ziehen.
({0})
Warum sage ich das? Ich sage das, weil ich möchte,
dass in diesem Prozess die Hochschulautonomie und die
Wissenschaftsfreiheit weitestgehend respektiert werden.
Damit knüpfe ich genau an das an, was Kollegin Reiche
gesagt hat. Wie wichtig es ist, Wissenschaftsautonomie
zu betonen, wird gerade dann deutlich, wenn wir uns
dem Problem der Studiengänge zuwenden. Ich weiß,
dass dieser Prozess nur erfolgreich sein kann, wenn die
Politik Auflagen macht. Ich nenne beispielsweise die
Einführung des Credit-Punktsystems und das DiplomSupplement.
Ich bin auch dafür, ein zweistufiges Graduiertensystem einzuführen. Aber ich halte es für problematisch,
wenn wir aus politischer Perspektive die Realisierung
des europäischen Hochschulraums allein an der Quote
der eingeführten Bachelor- und Masterstudiengänge
messen wollen.
({1})
Ich finde es geradezu abenteuerlich, Frau Flach, wenn
wir als politisches Oktroi die Streichung herkömmlicher
Studiengänge als Maßstab für den Erfolg bei der Schaffung eines europäischen Hochschulraums machen wollen.
({2})
Deshalb bin ich der Kultusministerkonferenz sehr dankbar, dass sie betont, dass es auch über das Jahr 2010
hinaus gute Gründe für die Beibehaltung bewährter Diplomabschlüsse gibt.
Ich will auf wenigstens einen dieser Gründe eingehen.
Wir beklagen in unserem Land - wie ich finde, zu
Recht - eine Schwäche beim naturwissenschaftlichen
und ingenieurwissenschaftlichen Ausbildungspotenzial
und einen Mangel an entsprechenden Abschlüssen.
Wenn wir dies tun, sollten wir aber auch zur Kenntnis
nehmen, dass die akademische Bildung im Bereich der
Natur- und Ingenieurwissenschaften in ganz besonderer
Weise auf Diplomstudiengängen beruht. Ich halte es
vor diesem Hintergrund geradezu für leichtfertig, die
Einführung von Bachelor- und Masterstudiengänge auf
Kosten der Diplomstudiengänge, die gestrichen werden
sollen, als politisches Oktroi durchzusetzen.
({3})
- Entschuldigung, ich habe Frau Flach in ihrer Erwiderung auf die Äußerungen von Frau Reiche so verstanden,
dass jetzt den herkömmlichen Studiengängen der Kampf
angesagt werden soll.
({4})
Davor kann ich nur warnen. Es wäre schön, wenn wir in
diesem Punkt übereinstimmen würden. Dann würden
wir vielleicht auch in einem anderen Punkt Einigkeit erreichen, auf den ich jetzt zu sprechen komme.
Wir wissen seit PISA, welche Defizite im Bereich der
schulischen Bildung auftreten. Ich kann nur davor warnen, die Lehrerausbildung gewissermaßen schockartig
und flächendeckend auf ein zweigestuftes System umzustellen, da die Auswirkungen noch nicht absehbar sind.
Ich bin der Meinung - in diesem Punkt unterscheiden
wir uns, Frau Flach -, dass der Arbeitsmarkt und nicht
der grüne Tisch der Bildungsbürokratie über die Zukunft
der Diplomstudiengänge entscheiden sollte. Das ist der
Punkt, auf den es uns ankommt.
({5})
Was den Arbeitsmarkt betrifft, so nehme ich zur
Kenntnis - das steht übrigens ein wenig im Widerspruch
zu offiziellen Verlautbarungen des BDA -, dass Personalchefs die breite theoretische Grundbildung, wie sie
im Rahmen von Diplomstudiengängen gegeben ist, sehr
wohl zu schätzen wissen, weil sie für die Einsatzmöglichkeiten und Flexibilität im späteren Berufsleben wichtig ist. Auch dies ist ein Gesichtspunkt, den wir nicht
ignorieren sollten.
Zweiter Punkt. Es geht nicht um Etikette, sondern um
die Qualität der Abschlüsse. Auch darin scheinen wir
übereinzustimmen. Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Es war wichtig, dass auf der Berliner
Konferenz das Akkreditierungssystem - hoffentlich verbindlich - für den gesamten europäischen Raum vereinbart wurde. Aber damit ist natürlich neben der internen
Evaluierung nur ein Teil der Qualitätssicherung gegeben.
Wir sollten uns darüber klar sein, dass der Bachelorabschluss strukturell in der Gefahr steht, zu einem Abbrecherzertifikat zu werden, das zwar die Statistik der
Abbrecherquote verbessert, den jungen Menschen aber
im Grunde genommen nicht das mitgibt, was sie auf dem
Arbeitsmarkt tatsächlich brauchen.
({6})
- Ich wende mich nicht gegen diesen Abschluss, Herr
Rossmann,
({7})
sondern versuche, uns vor Augen zu führen, wie wichtig
die Beachtung der Qualität ist.
Wenn wir europäisch denken, kommen wir an dem
Umstand nicht vorbei, dass der Abschluss in den Herkunftsländern des Bachelor- und Masterabschlusses, im
angelsächsischen Raum, je nach Hochschule, an der er
erreicht wird, ein ganz unterschiedliches Gewicht und
eine ganz unterschiedliche Bedeutung hat. Frau
Bulmahn, ich hätte mir gewünscht, dass auf der Konferenz auch hierzu einmal Stellung genommen wird, damit
es nicht so aussieht, als ob nur bei uns Hausaufgaben erledigt werden müssten. Auch in diesem Bereich brauchen wir eine entsprechende Anpassung und bestimmte
Veränderungen.
({8})
Beim Gesichtspunkt der Qualität gibt es eine ungelöste Strukturfrage. Es wundert mich, dass dies bisher
keiner angesprochen hat. Der Ruf nach verkürzten, praxisnahen Studiengängen, der uns bei der Forderung nach
der Einführung eines Bachelorabschlusses begegnet, ist
zumindest in der alten Bundesrepublik Deutschland
nicht neu. Die Antwort, die die alte Bundesrepublik
Deutschland darauf gegeben hat, war die Gliederung
des Hochschulwesens in Fachhochschulen und Universitäten.
Nun legen wir auf dieses gegliederte Hochschulsystem eine weitere Gliederung in Gestalt gestufter Studienabschlüsse. Wie kritisch dies für uns als Rahmengesetzgeber ist und welcher Klärungsbedarf sich an dieser
Stelle ergibt, wird bei der Lektüre der Kleinen Anfrage
der FDP zu laufbahnrechtlichen Konsequenzen der Abschlüsse deutlich. Dabei ist hervorgegangen, dass der
Masterabschluss an Fachhochschulen einer weiteren Akkreditierung bedarf, damit er laufbahnrechtlich dieselben
Konsequenzen hat, wie es ein vergleichbarer Abschluss
an den Universitäten ermöglicht. Das heißt, wir werden
in nächster Zeit, wenn wir die Europäisierung der Studiengänge ernst nehmen, über die Frage „Profilierung
unterschiedlicher Hochschultypen versus zweistufige
Studienabschlüsse“ - diese Frage wurde bisher verdrängt - sprechen müssen. Diese ungeklärte Frage will
ich zumindest in den Raum stellen, um uns deutlich zu
machen, dass die Verkündung von Bildungszielen allein
nicht ausreicht.
({9})
- Herr Kollege Tauss, ich kann in den wenigen Minuten
Redezeit, die mir noch bleiben, nicht darauf eingehen.
Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass gute
Gründe für eine Gliederung des Hochschulwesens sprechen. Ihr Finanzminister wird Ihnen das bestätigen.
({10})
Wenn gute Gründe für eine Gliederung des Hochschulwesens sprechen, dann werden wir nicht leichtfertig mit
der Frage umgehen können, ob die Abschlüsse je nach
Hochschule gleichwertig beurteilt werden können. Dies
ist meine persönliche Meinung. Ich hoffe, wir haben
noch Gelegenheit zur Diskussion über diese Frage.
Ich fasse kurz zusammen: Wir sind für eine Europäisierung des Hochschulraumes. Dies ist ein lohnendes
Ziel. Es ist prinzipiell richtig, dabei die Grenzen der EU
zu überschreiten. Aber ebenso wie meine Kollegin Seib
muss ich auf Folgendes hinweisen: Wenn es uns um die
Ausstrahlung des europäischen Hochschulraumes geht,
müssen wir unsere Kräfte kalkulieren und dürfen unsere
Ambitionen nicht bis Wladiwostok ausdehnen.
Zweiter Punkt. Eine Europäisierung kann keine Uniformisierung der Studiengänge bedeuten.
({11})
Wir brauchen eine selbstbewusste Haltung zu gewachsenen und erfolgreichen Studiengängen in der Bundesrepublik Deutschland.
Letzter Punkt. Hauptakteur in diesem Prozess müssen
nach unseren Vorstellungen die Wissenschaft, die Fachbereiche und die Hochschulen selbst, sein. Die Politik
hat lediglich die Aufgabe der Rahmensetzung. Diese Bescheidenheit sollten wir in der Diskussion zum Ausdruck
bringen.
Vielen Dank.
({12})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Anna Lührmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die europäische Einigung wird nur Wirklichkeit, wenn
auch unsere Lebensentwürfe wirklich europäisch werden. Deswegen wollen wir ein Europa des Wissens, einen europäischen Hochschulraum, schaffen: vernetzt,
vergleichbar und vor allen Dingen verfügbar für alle Studierenden.
Der europäische Bildungsgipfel in der letzten Woche hat uns diesem Ziel ein gutes Stück näher gebracht.
Der Bologna-Prozess ist der richtige Weg. Doch die Bologna-Ziele müssen jetzt schnell umgesetzt werden. Nur
dann kann Europa binnen sieben Jahren zu einem Raum
des Lernens werden.
({0})
Ich gebe zu: Noch bin ich skeptisch. Ich bin skeptisch, ob wir es beim jetzigen Umsetzungstempo wirklich schaffen, bis 2005 europaweit zweigliedrige Studienzyklen einzuführen, sprich: den Bachelor und den
Master. Noch skeptischer bin ich, ob das wirklich dazu
führt, dass Studierende bald problemlos beispielsweise
von der Uni in Heidelberg an die Uni in Mailand oder
Wien wechseln können.
Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit den
Neuerungen im deutschen Hochschulsystem - das kann
ich Ihnen aus erster Hand berichten - bin ich da eher ernüchtert: So war es mir diesen Sommer nicht möglich,
meine European Credit Transfer Points aus meinem
Bachelorstudiengang an der Berliner Humboldt-Universität an die Fernuni in Hagen zu übertragen - und das,
obwohl die Kurse inhaltlich nahezu identisch sind. Wenn
also die Anerkennung erbrachter Studienleistungen noch
nicht einmal in Deutschland klappt, frage ich mich doch,
wie das europaweit funktionieren soll.
Klar ist: Der Hochschulwechsel muss einfacher werden. Das ist mehr als notwendig, aber nicht nur auf dem
Papier, sondern auch in der Praxis. Also arbeiten wir daran: in Deutschland und in Europa.
({1})
Lesen Sie manchmal Stellenanzeigen? Wenn ja, dann
wissen Sie, dass internationale Erfahrung und interkulturelle Kompetenz heute in vielen Arbeitsbereichen
ganz selbstverständliche Voraussetzungen sind. Diese
gelten als wesentliche Soft Skills. Doch so selbstverständlich ist diese Qualifikation gar nicht. Nur rund
10 Prozent aller deutschen Studierenden studieren im
Ausland. Dafür gibt es viele Erklärungen. Die Bundesregierung hat das Problem erkannt. Sie hat das AuslandsBAföG entsprechend reformiert.
Ich glaube aber, ein wesentlicher Punkt ist, dass Studierenden stärker vermittelt werden muss, dass Europa
für sie wichtig ist: sowohl als Bürgerinnen und Bürger
als auch in ihrem späteren Beruf. Deshalb muss die europäische Dimension obligatorischer Bestandteil eines jeden Studienfaches werden.
Etwas mehr Europa in jedem Studium würde auch
helfen, ein weiteres Problem des europäischen Hochschulraumes zu beheben. Es entsteht eine Zweiklassenmobilität: Die Studienplätze in der alten EU sind heiß
begehrt, wohingegen nur wenige im europäischen Osten
studieren wollen. Man muss halt nicht unbedingt Slowenisch sprechen, um international Karriere machen zu
können. Englisch und Französisch sind da hilfreicher.
Deswegen ist auch Deutschland als Studienland kein Favorit. Die Europäisierung des Studiums kann also die
Lösung dieser Probleme sein.
Dazu mache ich drei konkrete Vorschläge, die teilweise von Frau Bulmahn schon umgesetzt werden:
Erstens. Wir brauchen europaweite Netzwerke von
Hochschulen und grenzübergreifende Studiengänge. Der
Transfer von Wissen, von Studierenden und Ressourcen
kann so wesentlich vereinfacht werden.
Zweitens. Vor allem müssen wir die Studienangebote
auch sprachlich europäisieren. Das heißt ganz konkret:
mehr Seminare und Vorlesungen auf Englisch.
Drittens. Jedes Studium muss thematisch die europäische Perspektive im Blick haben. Nur dann werden die
jungen Leute die Chancen Europas erkennen und auch
ergreifen.
Die Europäische Union hat sich in Lissabon als strategisches Ziel die Verwirklichung eines wissensbasierten
Wirtschaftsraumes gesetzt. Dafür brauchen wir europäische Bildung, dafür brauchen wir europäische Köpfe.
Nur so hat Europa eine Chance; nur so kann eine europäische Identität entstehen. Die Weichen sind nach dem
Treffen in Bologna gestellt. Jetzt muss der Zug endlich
an Fahrt gewinnen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/1579 und 15/1582 sollen zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss und an den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungspunkt 20
auf:
ZP 1 Vereinbarte Debatte
zur aktuellen Lage im Irak
20. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Arnold
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Den politischen Neubeginn und Aufbau des
Irak mitgestalten
- Drucksache 15/1011 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anlass der Reise nach New York war der
30. Jahrestag des Beitritts Deutschlands zu den Vereinten Nationen, besser gesagt: der Wiederaufnahme
Deutschlands in die Vereinten Nationen. Ich hatte dort
deutlich zu machen, was Kern unseres Selbstverständnisses in dieser internationalen Organisation ist. Meine
Unser Land nimmt im Bewusstsein seiner Geschichte Verantwortung für kooperative
Friedenspolitik wahr - mit wirtschaftlichen und politischen, aber, wo erforderlich, auch gemeinsam mit den
Partnern in der NATO und der Europäischen Union mit
militärischen Mitteln.
9 000 Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland sind
für unterschiedliche Friedensmissionen legitimiert,
durch die Vereinten Nationen und natürlich durch dieses
Hohe Haus. Gerade deswegen wollen wir deutlich machen, dass sich unser Sicherheitsbegriff nicht in militärischen Fragestellungen erschöpft, sondern dass wir bei
den Ursachen der Konflikte, die zu lösen anstehen, ansetzen und immer wieder ansetzen wollen.
({0})
Ich lege Wert darauf, dass deutlich wird: Armutsbekämpfung in einem sehr umfassenden Sinne ist Teil
vernünftig verstandener Sicherheitspolitik.
({1})
Genauso deutlich muss werden, dass angesichts neuer
Bedrohungen eine effektivere multilaterale Zusammenarbeit mehr denn je notwendig ist. Das ist der Grund,
warum wir uns in New York für eine Stärkung der Vereinten Nationen und für eine Verbesserung ihres Instrumentariums eingesetzt haben. Wir unterstützen die Reformvorschläge, die der Generalsekretär der Vereinten
Nationen, Kofi Annan, gemacht hat, Reformvorschläge,
die zu einer noch besseren Legitimation des Sicherheitsrates führen sollen und - wir sind optimistisch, was die
Umsetzung angeht - auch führen werden.
({2})
Dabei geht es insbesondere um die Erweiterung des Sicherheitsrates, und zwar durch Staaten der Dritten Welt,
aber unter Umständen auch - das ist in den Diskussionen
und Wortbeiträgen aller deutlich geworden - durch eine
stärkere Einbeziehung Deutschlands bzw. Japans. Ich
habe immer wieder deutlich gemacht, dass wir bereit
sind, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, dass
dies aber im Rahmen des Reformprozesses, um den es
dabei geht, geschehen sollte und geschehen wird.
Selbstverständlich haben im Mittelpunkt dessen, was
diskutiert worden ist, unterschiedliche internationale
Fragestellungen gestanden. Diese waren auch Thema der
bilateralen Gespräche, die ich sowohl mit dem amerikanischen Präsidenten als auch den Präsidenten Russlands
und Frankreichs sowie den Staats- und Regierungschefs
anderer betroffener Länder geführt habe.
({3})
Im Mittelpunkt stand zum Beispiel die Entwicklung der
Situation in Afghanistan. Ich denke, es ist richtig und
wichtig, dass auch in diesem Hause deutlich wird, wie
sehr unsere Partner in der internationalen Politik den
Beitrag Deutschlands insbesondere in Afghanistan
schätzen.
({4})
Ich hatte Gelegenheit, ein ausführliches Gespräch mit
dem afghanischen Präsidenten Karzai zu führen, der berichten konnte - es wird von anderen bestätigt -, dass es
ihm gelungen ist, zu einer Stabilisierung in seinem Land
beizutragen. Er hat deutlich gemacht, dass es Anzeichen
für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und
natürlich auch für eine verbesserte Sicherheitslage gibt.
Genauso klar muss indessen allen sein, dass diese positive Entwicklung in sich zusammenbrechen würde,
wenn die internationale Staatengemeinschaft ihre Hilfe
einstellte. Besser wäre es, wenn beschlossen würde - das
werden wir tun -, diese internationale Hilfe als Beitrag
zur Gewährleistung von mehr Sicherheit und verbesserten Aufbaubedingungen in diesem Land auszuweiten.
Deswegen haben wir sehr intensiv über verbliebene Probleme gesprochen. Mir liegt daran, dass auch hier deutlich wird, dass insbesondere die Situation im Süden und
Südosten Afghanistans nicht der Sicherheitslage entspricht, die nötig ist, um auch dort von einer umfassenden Sicherheit sprechen zu können, soweit man das in
diesem Land überhaupt tun kann.
Mit den Partnern in der NATO und der EU werden
wir dafür sorgen müssen, dass insbesondere der pakistanische Präsident und seine Regierung alle Möglichkeiten
der Taliban, sich jenseits der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan aufzuhalten, unterbinden werden. Es
wird wichtig sein, dass die pakistanische Regierung in
dieser Frage noch besser als in der Vergangenheit kooperiert.
Es wurde auch anerkannt - das ist keine Überraschung -, dass wir uns entschlossen haben, unser Engagement in Afghanistan auf Kunduz auszuweiten. Ich
kann anmerken, dass es dazu einer Ausweitung des
ISAF-Mandats bedarf und dass die Wahrscheinlichkeit,
dass dies positiv gesehen wird, sehr groß ist. Wir haben
in dieser Frage sowohl die Zustimmung der Vereinigten
Staaten von Amerika als auch die Frankreichs und Russlands, sodass ich davon ausgehe, dass in sehr kurzer Zeit
eine entsprechende Ausweitung des Mandats der Vereinten Nationen erfolgt.
Selbstverständlich hat die Situation im Irak ebenso
im Mittelpunkt der Gespräche gestanden und großen
Raum eingenommen. Mir liegt deswegen daran, hier
noch einmal die Position der Bundesregierung zur weiteren Entwicklung im Irak deutlich zu machen. Wichtig ist
die gemeinsame Überzeugung, dass unabhängig von der
Frage, wie man zur Notwendigkeit des Krieges stand
- ob zustimmend oder nicht zustimmend -, die Staatengemeinschaft insgesamt - inklusive Europa und naturgemäß auch Deutschland - ein dringendes Interesse daran
hat, dass es zu einem freien, demokratischen und in seinen Strukturen natürlich auch stabilen Irak kommt.
({5})
Ich glaube, dass ein stabiler Irak in der Region ein
wichtiger Beitrag sein könnte, um auch zu mehr Stabilität in der Region zu kommen. Auch das war Gegenstand
der Gespräche. Dabei ist in Bezug auf den Nahostkonflikt klar geworden, dass es zu der Roadmap, die das
Quartett vereinbart hat, keine rationale Alternative gibt
({6})
und dass es ungeachtet all der schrecklichen Schwierigkeiten, die es in der Region gibt, unsere gemeinsame
Pflicht ist, immer wieder dafür zu sorgen, dass versucht
wird, das, was in der Roadmap festgeschrieben worden
ist, zu implementieren.
Der Wiederaufbau Iraks - das ist gemeinsame Auffassung - ist in erster Linie eine Angelegenheit der Iraker selbst. Es ist Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, verkörpert durch die Vereinten Nationen,
ihnen dabei mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu helfen.
({7})
Aus diesem Grund ist es wichtig, die irakische Souveränität so rasch wie möglich und natürlich auch praktisch erfolgreich wiederherzustellen. Hierzu ist nach unserer Auffassung ein realistischer Fahrplan nötig, der
einige zentrale Wegmarken enthalten muss. Zum einen
geht es um die Ausarbeitung einer Verfassung und zum
anderen um die Durchführung freier und demokratischer
Wahlen, naturgemäß unter der Ägide der Vereinten Nationen. Dabei ist ein pragmatisches Vorgehen wichtig.
Man muss vermutlich trennen zwischen der Übertragung
von Souveränität in der eben erläuterten Weise und der
Übertragung administrativer Regierungsgewalt an eine
notwendigerweise zu schaffende provisorische Regierung des Irak.
Wir haben die Hoffnung, dass in diesen Eckpunkten
auch im Weltsicherheitsrat Gemeinsamkeit hergestellt
werden kann. Das erscheint deshalb möglich, weil es in
dieser Frage prinzipiell keine Unterschiede gibt zwischen denen, die im Weltsicherheitsrat zu entscheiden
haben. Sowohl Frankreich als auch wir, aber eben auch
die Vereinigten Staaten von Amerika, sind der Auffassung, dass es einer Souveränitätsübertragung bedarf. Gegenwärtig verhandeln die Außenminister über die Frage,
wie der Zeitplan beschaffen sein sollte. Darüber müsste
man Einigkeit erzielen können. Das wird Sache der laufenden Verhandlungen in New York, aber auch der Gespräche, die die Außenminister zu führen haben, sein.
Klar ist, dass die internationale Staatengemeinschaft
auch materiell wird helfen müssen. Dazu bedarf es natürlich zunächst einmal einer präzisen Bedarfsanalyse.
Sie wissen, dass diese Bedarfsanalyse gegenwärtig von
der Weltbank und vom IWF erstellt wird. Es geht um die
Frage, was gebraucht wird, um den Wiederaufbau realistischer anzugehen. Dabei muss man berücksichtigen,
dass der Irak nach Wiederaufnahme seiner Erdölförderung und Wiederherstellung und Absicherung der entsprechenden Ölpipelines ein potenziell reiches Land ist.
Natürlich müssen die notwendigen Mittel erst mobilisiert werden, um sie für den Wiederaufbau einzusetzen.
Gleichwohl gilt, dass die mittelfristig zu erwartenden
Öleinnahmen eingesetzt werden müssen, um den Wiederaufbauprozess voranzubringen und zum Erfolg zu
führen.
Erst nach Auswertung dieser Analyse macht eine Geberkonferenz, um die es geht, wirklich Sinn. Erst dann
kann konkret bestimmt werden, was gebraucht wird und
wer was zu leisten imstande ist. Bezogen auf den Beitrag
Deutschlands will ich sehr klarmachen, dass wir nicht
daran denken, uns im Irak militärisch zu engagieren.
({8})
Angesichts unseres Engagements im Übrigen verstehen
die Partner diese Haltung Deutschlands durchaus. Wir
haben darüber hinaus klargemacht, dass wir bereit sind,
die gegenwärtig durch uns geleistete humanitäre Hilfe
- die ist beachtlich, auch im Vergleich zu anderen - weiterzuführen. Es wird in der nahen Zukunft darum gehen,
ob und gegebenenfalls welche konkreten Projekte mit
deutscher Hilfe durchgeführt werden können. Einige unserer Fachleute vom THW sind bereits im Irak im Einsatz. Natürlich achten wir dabei strikt darauf, dass die Sicherheit dieser Experten garantiert wird. Die
internationalen Finanzinstitutionen sind in erster Linie
berufen, Leistungen für den Wiederaufbau bereitzustellen. Darüber hinaus wird es um Hilfen von der Europäischen Kommission gehen.
Ich habe zudem deutlich gemacht, dass Deutschland
bereit ist, beim Aufbau von irakischem Sicherheitspersonal selbst konkrete Hilfe zu leisten. Meine persönliche Überzeugung ist - sie wird von vielen geteilt -, dass
es in der jetzigen Phase eben nicht in erster Linie darum
geht, die Anzahl der im Irak eingesetzten Soldaten zu erhöhen, sondern dass zusätzliche Sicherheit vor allem
dann hergestellt werden kann, wenn irakisches Sicherheitspersonal in ausreichender Zahl zur Verfügung steht;
denn ausschließlich diese Menschen haben die Fähigkeit,
mit der Bevölkerung umfassend zu kommunizieren, und
ausschließlich diese Menschen verfügen über die notwendigen Kenntnisse von Kultur und Mentalität, um auf
Dauer erfolgreich Sicherheit garantieren zu können.
({9})
Hier liegt der Grund, warum wir angeboten haben, bei
der Ausbildung von Polizei mit bei uns gegebenenfalls
vorhandenen Kapazitäten und Fazilitäten hilfreich zu
sein.
({10})
Wir können das in durchaus beachtlichem Maße, nicht
zuletzt in Deutschland, machen. Wir sind aber auch bereit, dies in einem anderen Land in Zusammenarbeit mit
unseren Partnern zu erwägen.
Mein Eindruck ist, dass der angebotene Beitrag
durchaus Beachtung findet, weil insgesamt gesehen
wird, dass vor allen Dingen die Ausbildung von irakiBundeskanzler Gerhard Schröder
schem Sicherheitspersonal, sei es schwerpunktmäßig
Polizei, sei es aber auch Militär, geeignet ist, einen Sicherheitszuwachs herzustellen. Damit wird deutlich,
dass der Beitrag Deutschlands hinsichtlich seiner internationalen Verpflichtungen und seiner Bereitschaft, mitzuhelfen, durch den Wiederaufbau und das Herstellen
von Demokratie im Irak Stabilität in der Region zu
schaffen, als beachtlich gewürdigt wird. So sollten wir
das auch miteinander vertreten.
({11})
In den unterschiedlichen bilateralen Gesprächen sind
über diese beiden Problembereiche hinaus insbesondere
zwei Themen zutage getreten, bei denen es innerhalb der
NATO und anderen internationalen Organisationen große
Übereinstimmung gibt. Der erste Punkt ist: Wie schafft
man es, in Zukunft besser - ich könnte auch sagen: noch
besser - dafür zu sorgen, dass Massenvernichtungswaffen nicht weiterverbreitet werden? Dabei hat sich gezeigt, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika bereit sind, dem VNSicherheitsrat in dieser Frage eine neue Bedeutung zu geben. Dies ist meiner Meinung nach ein positiver Ansatz,
der dem entspricht, was Deutschland in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer vertreten hat, und den
wir deswegen begrüßen und unterstützen können.
({12})
Der zweite Punkt ist die Sorge um die Entwicklung
im Iran gewesen. Hier wird anerkannt, dass der Brief
der Außenminister Englands, Frankreichs und Deutschlands klar gemacht hat, dass die Europäer, aber auch andere vom Iran erwarten, mit der Internationalen Atomenergiebehörde umfassend zu kooperieren. Ich denke,
dass das ein Feld wichtiger Gemeinsamkeiten innerhalb
Europas ebenso wie im transatlantischen Verhältnis ist.
Wir haben alle ein Interesse daran, deutlich zu machen,
dass wir gemeinsam die Erwartung haben, dass diese
Kooperation umfassend geleistet wird und dass Erfolg
dieser Kooperation einen umfassenden Verzicht auf die
Herstellung von Massenvernichtungswaffen durch den
Iran bedeuten muss.
({13})
Deswegen sind wir auf einem guten Weg, insbesondere was den Reformprozess der Vereinten Nationen angeht, was unsere Rolle als Teil der Vereinten Nationen
angeht und was die deutsche Rolle in den internationalen
Konflikten, über die hier zu berichten war, angeht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat jetzt die Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
30 Jahren, anlässlich des Beitritts der Bundesrepublik
Deutschland zur UNO, hat Bundeskanzler Willy Brandt
vor der Vollversammlung sinngemäß gesagt: Ich komme
aus einem Land mit zwei Staaten, aber einem Land, das
sich als eine deutsche Nation versteht.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben gestern anlässlich des
30. Jahrestages der deutschen Mitgliedschaft wieder vor
der UNO gesprochen. Sie kamen als Bundeskanzler
einer deutschen Nation, die heute in einem Land wiedervereint ist. Ich glaube, nichts kennzeichnet besser das,
was sich in diesen 30 Jahren vollzogen hat: eine großartige Entwicklung. Das sage ich ganz bewusst kurz vor
dem 13. Jahrestag der deutschen Einheit.
Eine solche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland war nur möglich auf dem Fundament der Arbeit
eines Bundeskanzlers wie Konrad Adenauer, der die
Westbindung Deutschlands verankert hat, trotz aller Widerstände und großer Debatten, eines Bundeskanzlers
wie Willy Brandt, der die Öffnung Richtung Osten
durchgesetzt hat, gegen viele Widerstände und mit großen Debatten, und eines Bundeskanzlers Helmut Kohl,
der die Vision der deutschen Einheit und der europäischen Einigung nicht aus den Augen verloren und sie
weiter verfolgt hat, was uns heute in den Zustand bringt,
dass wir hier in Berlin im wiedervereinten Deutschland
diese Debatte führen.
({0})
Was diese Tradition deutscher Außenpolitik immer
geeint hat, ist, dass sie eine Richtung und einen Kompass
hatte. Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern nach 16 Monaten den amerikanischen Präsidenten wieder getroffen.
Wenn ein solches Treffen, bei dem, wie im Fernsehen gezeigt wurde, der deutsche Bundeskanzler - vorsichtig
formuliert: leicht verkrampft - mit dem amerikanischen
Präsidenten, getrennt durch einen runden Tisch, erfreulicherweise zusammen sprechend zu sehen war,
({1})
zum Ereignis des Jahres hochstilisiert wird, dann muss
ich zumindest fragen, ob dieser Kompass zeitweise verloren gegangen ist. Ich glaube, etwas schon.
({2})
Für die Opposition, für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sage ich aber auch: Wir wollen, dass deutsche
Außenpolitik in der Welt Gewicht hat. Wir wollen, dass
man sich auf unser Wort verlassen kann.
({3})
Deshalb haben wir den gestrigen Tag als einen Punkt gesehen, an dem Ansätze zur Besserung zu erkennen waren.
({4})
Es ist ja wahr - Sie, Herr Bundeskanzler, haben es immer wieder gesagt, wir sagen es auch -: Die Welt hat
sich dramatisch verändert. Der Kalte Krieg ist zu Ende.
Die deutsche Einigung steht symbolisch dafür. Willy
Brandt hat 1973 vor der UN-Vollversammlung gesagt:
Wir sind hierher gekommen, um auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen.
Natürlich haben wir heute als vereinigtes Land eine
neue Souveränität gewonnen. Ich persönlich würde nicht
von Emanzipation sprechen, wie Sie es tun, weil ich
glaube, dass deutsche Außenpolitik immer emanzipiert
war, von Konrad Adenauer über Willy Brandt hin zu
Helmut Kohl. Aber natürlich haben wir Souveränität und
damit auch Verantwortung gewonnen und müssen uns
fragen - und zwar ganz anders fragen, als wir es früher
getan haben -: Was sind unsere Interessen?
Im Übrigen sind wir das größte Land Europas. Wir
haben nicht nur Verantwortung, sondern von uns erwartet man auch ein Stück Führung. Die Welt hat sich verändert.
Der 11. September steht symbolisch für die neuen
Gefährdungen, für terroristische Gefahren, mit denen
wir uns auseinander setzen müssen. Deshalb teilen wir
vieles von dem, was Deutschland an Verantwortung
übernommen hat.
Aber, Herr Bundeskanzler, der 11. September 2001 ist
gut zwei Jahre vorbei und wir haben die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den Vereinigten Staaten von
Amerika erlebt - eine Formulierung, die wir vonseiten
der Union so nie gebraucht hätten.
({5})
Wir haben ein Jahr später den „deutschen Weg“ erlebt,
von dem wir so auch nie sprechen würden.
({6})
Diese Wellenbewegung, dieses Hin-und-Her-Optieren
zwischen Extremen, das darf nach meiner festen Überzeugung deutsche Außenpolitik in der Zukunft nicht
kennzeichnen.
({7})
Sie haben gestern gesagt: Aber die Geschichte und
unsere unmittelbaren Erfahrungen lehren uns, dass wir
scheitern werden, wenn wir unser Denken und Handeln
auf militärische und polizeiliche Aspekte verengen.
Ich kann diesem Satz uneingeschränkt zustimmen.
Aber ich glaube,
({8})
meine Damen und Herren, es gehört eine Ergänzung
dazu, nämlich dass unsere Geschichte und unsere unmittelbaren Erfahrungen uns lehren, dass wir auch scheitern
werden, wenn wir die militärischen Optionen von vornherein ausschließen.
({9})
Herr Bundeskanzler, dies gilt generell, so wie Ihr Satz
generell gilt, und nicht punktuell, je nachdem, wie wir es
gerade für richtig befinden.
Die Tatsache, dass wir unsere Außenpolitik, unsere
Verantwortung für die Welt niemals auf militärische und
polizeiliche Aspekte verengen würden, zeigt schon die
Existenz von Klaus Töpfer bei der UNO, zeigt die gesamte Handlungsweise der damals CDU/CSU-geführten
Bundesregierung im Rio-Prozess, in der Verantwortung
für Klimaschutz, zeigt unsere Entwicklungshilfepolitik.
Hier gibt es eine große Kontinuität.
Deshalb ist es völlig unstrittig, dass über die UNO
hinaus internationale Verhandlungsprozesse gestärkt
werden müssen. Vorgänge wie jetzt bei der WTOKonferenz in Cancun sollten sich nach Möglichkeit
nicht wiederholen. Wir sind völlig einer Meinung, dass
hier wieder Fortschritt erreicht werden muss, dass das
Scheitern solcher internationalen Verhandlungen ohne
jeden Zweifel ein Rückschlag ist.
Es ist in diesem Zusammenhang allerdings auch bedauerlich, wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund beim
Scheitern solcher Verhandlungen applaudiert; denn das
stärkt den Weltfrieden mit Sicherheit nicht.
({10})
Deshalb sind wir davon überzeugt, dass Krieg niemals ein normales Mittel der politischen Auseinandersetzung werden darf. Darauf haben wir auch immer wieder hingewiesen. Wir sind aber auch überzeugt: Wenn
die internationale Staatengemeinschaft Autorität erlangen will und die freien und demokratischen Staaten dieser Welt Gewicht haben sollen, ist es wichtig, dass sie
die von ihnen gefassten Beschlüsse schlussendlich auch
durchsetzen. Darin lag unser Dissens. Auch wenn wir
jetzt nach vorne blicken, darf das nicht vergessen werden.
Für mich muss die deutsche Außenpolitik bestimmten
Bedingungen genügen: Erstens. Europa darf auf internationaler Ebene nicht gespalten agieren.
({11})
Zumindest muss alles unternommen werden, um im Vorfeld eine gemeinsame europäische Position zu finden.
({12})
Eines der Dilemmata der Auseinandersetzungen im
UN-Sicherheitsrat lag doch darin, dass Europäer gegeneinander gestanden haben. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass Sie in Berlin den französischen Präsidenten Chirac und den britischen Premierminister Blair
getroffen haben. Es war zwar bedauerlich, dass man sich
in Bezug auf die Verhandlungen in der UNO noch nicht
auf eine gemeinsame Position verständigen konnte, aber
es war erkennbar, dass es Fortschritte gibt. Dieser Weg
muss weiter beschritten werden.
Ich halte es für sehr vernünftig und für einen unglaublichen Fortschritt, dass das Solana-Papier in der Europäischen Union akzeptiert wurde. Hätte es vor dem Irakkonflikt vorgelegen, wäre uns vieles erspart geblieben. Es
sollte auch die Grundlage für die weitere Arbeit bilden.
Zweitens glaube ich, dass Deutschland - wenn es
seine Interessen vertreten will - nur die Option hat, dafür
Sorge zu tragen, dass Europa nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika steht.
Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht in
der Bekämpfung des Terrorismus, der nicht irgendeine
Gefahr darstellt, mit der jeder Staat alleine fertig wird;
vielmehr erfordert seine Bekämpfung die Gemeinschaft
aller demokratischen Staaten der Welt. Selbst dann werden wir noch jahrelang in allen Facetten mit diesem Problem zu tun haben.
({13})
Dass ich der festen Überzeugung bin, Europa und Amerika müssen diesen Kampf gemeinsam durchführen,
folgt nicht dem alten Denken, dass Europa und Amerika
immer zusammengestanden haben,
({14})
wie das schon zu Zeiten des Kalten Krieges war. Ich bin
vielmehr der festen Überzeugung, dass es die Gemeinsamkeit unserer Werte erforderlich macht, an dieser
Stelle unsere Kräfte zu bündeln.
Drittens. Wir müssen als Bundesrepublik Deutschland
bzw. als größtes Land Europas dafür Sorge tragen, dass
Europa Führungsstärke zeigt, und zwar nicht nur in der
moralischen Argumentation - das wird nicht reichen -,
sondern auch hinsichtlich der Wirtschaftskraft und der
militärischen Möglichkeiten.
({15})
Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang besteht das Problem - das kann auch nicht wegdiskutiert
werden -, dass sich die Fähigkeiten der Bundeswehr und
die verfügbaren finanziellen Ressourcen zurzeit nicht an
den Bedrohungen, sondern an den nationalen Begebenheiten ausrichten. Auf Dauer muss aber die Frage, welches Maß an Sicherheit und welche Ausstattung wir
brauchen, an der Analyse der Bedrohungen ausgerichtet
werden. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass andere Staaten militärische Kapazitäten zur Verfügung haben, die die Bedrohung widerspiegeln und von denen
wir an hinterer Stelle profitieren können.
({16})
Viertens muss deutsche Außenpolitik ihrerseits gemeinsam mit einer möglichst europäischen Außenpolitik
dafür Sorge tragen, dass Europa als so verlässlich gilt,
dass die Amerikaner nicht den Fehler machen, zu glauben, sie als Supermacht könnten die Fragen in dieser
Welt alleine regeln.
({17})
Das würde in die Irre führen.
({18})
Ich habe im Übrigen bei meinen Amerikabesuchen immer wieder darauf hingewiesen, dass auch wir unseren
Beitrag dazu leisten müssen.
({19})
Wir sprechen hier über das, was wir tun können. Entscheidend sind dabei Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, damit Meinungsunterschiede in einem vertrauensvollen Verhältnis ausgetragen werden können. Das ist
die Grundlage dafür, dass sich niemand selbst überschätzt.
({20})
Fünftens. Wir sind mit Ihnen der Meinung, dass die
UNO der Ort ist, an dem in einer globalen Welt Konflikte ausgetragen und geregelt werden müssen sowie
über entsprechende Maßnahmen entschieden werden
muss. Wir unterstützen genauso wie Sie das Engagement
in Afghanistan.
({21})
Die Frage, was dort weiter zu tun ist, muss erlaubt sein;
denn die Lage in Afghanistan ist nicht so, dass sie keinerlei Anlass zur Sorge gibt. Sie haben eben gesagt: bei
den verbleibenden Problemen. Das ist eine relativ
euphemistische Darstellung der Situation in Afghanistan.
({22})
Es hat sich auch hier herausgestellt - das sollte uns auch
zu einer realistischen Betrachtung der Situation im Irak
veranlassen -, dass Zeitpläne nicht so eingehalten werden können, wie wir uns das in Deutschland wünschen.
Die Prozesse sind vielmehr außerordentlich kompliziert.
({23})
Deshalb habe ich mit Freude gehört, dass Sie gesagt haben, wir könnten uns über die Zeitpläne bei einer UNResolution bezüglich des Iraks einigen. Ich halte das für
richtig. Auch wir wollen, dass es in Afghanistan vorangeht. Wenn Sie aber realistisch sind, dann wissen Sie,
wie kompliziert das Ganze ist.
({24})
- Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich aufregen. Das
ist doch kein Vorwurf an Sie. Ich bitte Sie!
Schauen Sie einfach nach Europa! Schauen Sie sich
zum Beispiel an, wie schwierig die Situation in Bosnien
noch immer ist. Lassen Sie uns die Dinge doch realistisch betrachten!
({25})
Wir alle haben uns doch gewünscht, dass heute kein UNBeauftragter in Bosnien mehr tätig sein muss und dass
die Prozesse dort schneller vorangehen. Wenn das aber
nicht möglich ist, dann muss man mit viel Geduld und
dem Bohren dicker Bretter versuchen, die Dinge in
Ordnung zu bringen. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.
({26})
Es ist entscheidend, dass wir auch den Prozess im Irak
zu einem Erfolg führen. Ich kann verstehen, wenn Sie
darauf hinweisen, dass wir hier im Gegensatz zu unserem Engagement in anderen Regionen und Ländern auch
Restriktionen unterliegen. Aber hier kommt es sehr auf
die Argumentation an. Lassen Sie mich aus einem Kommentar, der gestern Abend in der ARD gesendet wurde,
zitieren:
Doch was wollen wir
- gemeint sind die Deutschen zum Beispiel im Irak? Haben wir ein Interesse daran, dass die Region politisch wieder stabil wird?
Wenn ja,
- das ist hier die gemeinsame Überzeugung dann werden wir uns dort auch finanziell engagieren müssen - und vielleicht eines Tages auch mit
Soldaten. Denn in der Außenpolitik gilt der Grundsatz: Leistung und Gegenleistung. Umsonst gibt es
nichts. Also - um es mit Adenauer zu sagen -: Die
Situation ist da.
Dieser Situation können wir uns prinzipiell nicht entziehen. Diese Situation müssen wir annehmen. Wir als
Deutsche können nicht prinzipiell sagen: Hier scheren
wir vollkommen aus und dort entscheiden wir, dass wir
mitmachen. - Wir können unsere Kapazitäten bemessen.
Aber prinzipiell können wir uns der Gesamtverantwortung nicht entziehen. Das sollte uns allen in diesem
Hause klar sein.
({27})
Wir werden dabei sein, wenn es darum geht, dass
Deutschland innerhalb der UNO mehr Verantwortung
übernimmt. Wir werden auch dabei sein, wenn der UNSicherheitsrat gestärkt werden soll. Er muss handlungsfähig werden. Es ist unstrittig, dass er noch immer Strukturen aus der Zeit des Kalten Krieges aufweist. Ich unterstütze aus vollem Herzen den Satz: Die Regionen
dieser Welt müssen im UN-Sicherheitsrat vertreten sein
und ihre Rolle spielen. Es ist wichtig, dass Deutschland
in diesen Fragen als ein Motor angesehen wird, der die
UNO stärkt und der die Welt voranbringt, der aber auch
akzeptiert, dass das Gewaltmonopol bei der UNO liegt
und dass die UNO ihre Beschlüsse durchsetzen muss. So
wie ein Staat nur unter bestimmten Bedingungen die
Achtung seiner Bürger bekommt, so wird die Weltgemeinschaft die UNO nur achten, wenn sie nicht als Lame
Duck dasteht, sondern ihre Interessen mit wirklicher
Autorität durchsetzt.
({28})
Dazu muss Deutschland seinen Beitrag leisten. Wir
werden Sie unterstützen, wenn die Dinge in die richtige
Richtung gehen. Das umfasst mehr als Soldaten und Polizisten; das umfasst Engagement in der Entwicklungshilfe und viele andere Verhandlungsbereiche. Aber das
heißt eben auch: Wir müssen ökonomisch und militärisch stark sein. Wenn das der Fall ist, dann können wir
unser Selbstbewusstsein auch nach außen tragen.
Herzlichen Dank.
({29})
Auf der Tribüne hat soeben der Präsident des tunesischen Parlaments M’Bezaa mit seiner Delegation Platz
genommen. Herr Präsident, wir begrüßen Sie und Ihre
Delegation sehr herzlich.
({0})
Wir hoffen, dass Sie in dieser kurzen Zeit einen aufschlussreichen Eindruck von unserer parlamentarischen
Arbeit gewinnen können. Für Ihren heutigen Aufenthalt
in unserem Haus und für Ihr zukünftiges Arbeiten wünschen wir alles Gute!
Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Ludger Volmer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 11. September 2001 hat die internationale Politik einschneidend verändert. Seit diesen Terroranschlägen haben wir es mit einem neuen politischen Zeitalter
zu tun. Die internationale Politik wird aber auch durch
die politischen Antworten auf den internationalen Terrorismus bestimmt. In diesem Zusammenhang möchte
ich für meine Fraktion festhalten: Wir stehen hinter der
Bundesregierung bei ihrem Bemühen, die Probleme in
Afghanistan mit den Missionen Enduring Freedom und
ISAF sowie mit der Aufbaupolitik zu lösen. Das ist die
richtige Reaktion auf den internationalen Terrorismus.
Genauso deutlich sagen wir aber auch: Der Krieg gegen
den Irak war falsch.
({0})
Der Krieg gegen den Irak hat vielleicht ein Problem
gelöst. Saddam Hussein ist gestürzt; darüber können wir
alle froh sein. Alle anderen Probleme bestehen allerdings fort oder sie sind sogar noch verschärft worden.
({1})
Es ist vielleicht nicht mehr die richtige Zeit, zurückzublicken. Zumindest wir Außenpolitiker haben uns darauf verständigt, den Blick nach vorne zu richten und
nach konstruktiven Lösungen der mit der Lage im Irak
und in der gesamten Region verbundenen Probleme zu
suchen.
Frau Merkel, zum Blick nach vorne gehört auch, dass
man sich der richtigen Tonlage befleißigt.
({2})
Es ist nicht mehr die Zeit, rechthaberisch zu sein. Das
gilt erst recht, wenn man, wie Sie, eher leise Töne anschlagen sollte, um nicht zu sagen: kleinlaut sein müsste.
({3})
Sie hätten die Reise des Bundeskanzlers nach Washington nicht erwähnen sollen; denn nun bleibt mir nichts anderes übrig, als die Reise zu erwähnen, die Sie vor einem
Jahr unternommen haben.
({4})
Das war der Gipfel der Peinlichkeit in der deutschen
Außenpolitik in den letzten Jahren.
Ich kann hier im Namen meiner Fraktion und, ich
denke, der gesamten Koalition sagen: Wir sind froh, dass
sich der Bundeskanzler und der amerikanische Präsident gestern getroffen
({5})
und einen neuen Faden der Kooperation gefunden haben. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich sagen: Der Bundeskanzler, der Außenminister und
das Kabinett, unterstützt von der Parlamentsmehrheit,
haben in einer außerordentlich schwierigen Frage einen
sehr schwierigen Disput durchgestanden und mit dem
gestrigen Treffen gut zu Ende geführt.
({6})
Während Frau Merkel angestrengt am Thema vorbeigeredet hat - wir wollten heute über den Irak reden ({7})
und eine Art außenpolitischer Bewerbungsrede für die
Kanzlerkandidatur abgeliefert hat, die Herr Stoiber vielleicht mit „Drei minus“ bewerten würde,
({8})
möchte ich nach vorne schauen und an das anknüpfen,
was der Bundeskanzler gerade vorgeschlagen hat.
Im Irak entscheidet sich eine ganz wesentliche Frage,
und zwar in den nächsten Monaten. Es hängt auch mit
von uns ab, ob in dieser Frage in der richtigen Richtung
entschieden wird. Im Irak entscheidet sich die Frage:
Mündet das Ende der Despotie in Demokratie oder
Staatszerfall? Das ist die wichtigste Frage, vor der wir
im Moment stehen, und sie ist vielleicht auch für andere
Regionalkonflikte beispielgebend.
Daraus ergibt sich unsere Verantwortung. Unsere Verantwortung ergibt sich aus der Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Nach dem 11. September - das möchte
ich hier noch einmal betonen - war für uns die Solidarität mit den Vereinigten Staaten absolut selbstverständlich. Davon machen wir gar keine Abstriche. Aber die
Dispute darüber, welches die richtigen Methoden sind,
waren notwendig und in der einen oder anderen Dimension werden sie auch noch anhalten. Je nachdem, wie wir
diese Diskussion führen und zu welchen Antworten wir
kommen, wird sich die Frage, die ich gerade formuliert
habe: „Mündet das Ende der Despotie in Demokratie
oder Staatszerfall?“, entscheiden. Wir haben mit den
Amerikanern, mit der Europäischen Union und mit der
internationalen Staatengemeinschaft das gemeinsame Interesse, dass es im Irak zu einem selbst tragenden demokratischen Friedensprozess kommt.
({9})
Wenn wir über unseren Beitrag reden, wenn wir darüber reden, welche Hilfe wir leisten können, dann werden
wir uns auch Gedanken machen müssen, analytisch zumindest, welcher Schaden durch den Irakkrieg entstanden ist.
Beginnen wir bei der Frage: Ist der Krieg eigentlich
zu Ende? Präsident Bush hat nach dem Ende Saddam
Husseins gesagt: Der Krieg ist vorbei. - Wir sehen aber
die Gewalt im Irak. Muss man daraus nicht andere
Schlussfolgerungen ziehen? Muss man nicht sagen: „Der
Krieg als symmetrischer Staatenkrieg ist vorbei, aber er
geht als Guerillakrieg niederiger Intensität weiter, nun
noch vermischt mit terroristischen Aktionen, die von außen in das Land hineingetragen werden“? Man kann
doch nicht davon reden, dass dort eine Nachkriegszeit
existiert, in der wir mit den bekannten und erprobten
Mitteln der Entwicklungspolitik ohne weiteres Wiederaufbauhilfe leisten könnten.
Wir haben zudem gesehen, dass der Terror, der vor
dem Sturz Saddam Husseins im Irak nicht existierte, in
das Land eingedrungen ist. Vor dem Krieg gab es keine
Verbindung von arabischem Nationalismus, für den
Saddam Hussein stand, und islamistischem Terrorismus, für den Bin Laden steht. Nun aber beobachten wir,
dass genau das eintritt, vor dem wir immer gewarnt haben, nämlich dass sich diese eigentlich antagonistischen
Strömungen der arabisch-islamischen Welt verbünden,
und zwar nicht nur gegen die Vereinigten Staaten, sondern gegen den Westen insgesamt und sogar gegen die
Vereinten Nationen, der einzigen Kraft, die in der Lage
ist, den Widerspruch zwischen Besetzten und Besatzern
oder Befreiten und Befreiern aufzuheben, und das ist die
tiefe Tragik.
({10})
Für uns ergibt sich daraus die Notwendigkeit, weiterhin intensiv darüber nachzudenken, wie der internationale Terrorismus bekämpft werden kann und muss. Das
ist nach wie vor die sicherheitspolitische Aufgabe Numero eins. Der Bundeskanzler hat angedeutet: Wir tun
dies auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs.
Militär mag dabei eine Rolle spielen, aber die Erfahrungen haben gezeigt, dass dessen Möglichkeiten begrenzt
sind. Wir brauchen alle die Mittel polizeilicher und
ziviler Strafverfolgung und Konfliktprävention, die
insbesondere die deutsche Außenpolitik in den letzten
vier Jahren entwickelt hat. Dafür treten wir in den internationalen Diskussionen ein.
({11})
Dazu gehört auch der weitere Kampf gegen Massenvernichtungswaffen, angeblich einer der Gründe, den
Irak anzugreifen. Heute wissen wir: Der Irak hat keine
Massenvernichtungswaffen, zumindest kann man keine
finden.
In diesem Zusammenhang beobachten wir eine negative Dialektik: Der Nachbarstaat Iran - das macht uns
sehr große Sorge - arbeitet an einem Atomprogramm,
was eigentlich nur den Sinn bzw. den Unsinn haben
kann, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Nun
frage ich mich aber: Hatte der Irakkrieg bezogen auf iranische Atomprogramme einen präventiven Effekt?
Kann Iran für eine Begrenzung seines Atomprogramms
im Irakkrieg einen Anreiz sehen? Das Gegenteil dürfte
der Fall sein. Wir sehen auch am Beispiel Nordkorea,
dass Staaten, die eine Intervention fürchten, dazu neigen,
sich ein atomares Abschreckungs- und Bedrohungspotenzial zuzulegen. Auch aus diesem Grunde war der
Irakkrieg falsch. Auch aus diesem Grunde war es falsch,
dass aus der Mitte der Union eine Debatte über die
Notwendigkeit von Präventivschlägen angezettelt
wurde. Ich sage Ihnen hier - der Irakkrieg ist ein Beweis
dafür -: Präventivschläge machen die Welt unsicherer.
({12})
Wir sind uns in dieser Frage völlig mit Kofi Annan einig,
der das gestern in seiner Rede mit aller Deutlichkeit erklärt hat.
Nehmen wir einen weiteren Problempunkt, den
Nahostkonflikt. Mit dem Angriff auf den Irak war die
Vorstellung verbunden, man könne in einem Zuge den
gesamten Nahen Osten neu ordnen und damit auch den
Kernkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern lösen.
Wie sieht die Situation heute aus? Die Roadmap, eine
große Errungenschaft der internationalen Politik, wird
im Moment von den Akteuren nicht ernst genommen.
Auf beiden Seiten setzen sich die Scharfmacher und
Hardliner durch, die die fruchtbaren Ansätze für eine
Verständigung wieder zunichte machen wollen. Da soll
mir einer sagen, das hätte nichts mit dem Irakkrieg zu
tun. Das heißt jetzt aber umgekehrt nicht, dass wir die
Roadmap fallen lassen dürfen. Die Roadmap ist für uns
nach wie vor der einzig denkbare Orientierungs- und
Fixpunkt in diesem Prozess.
({13})
Wenn die amerikanische Administration im Moment
durch das Desaster im Irak relativ geschwächt ist, dann
ist es noch mehr als bisher Aufgabe der Europäischen
Union, auf die Weitergeltung der Roadmap zu drängen.
Dies ist nicht nur Aufgabe der staatlichen Außenpolitik,
es ist auch Aufgabe des Parlaments. Deshalb fordere ich
uns alle und die Gesellschaft insgesamt auf, mehr Berührungspunkte zum israelischen und zum palästinensischen Volk zu suchen und diesen beiden Völkern im intensiven Dialog dabei zu helfen, dass sie endlich aus
ihrer Sackgasse herauskommen.
({14})
Meine Damen und Herren, die Terroranschläge
gegen die UNO-Einrichtungen im Irak haben uns eines
gezeigt: Auf der einen Seite ist die UNO die einzige legitime Kraft, die den Wiederaufbau des Irak koordinieren darf und auch für Rückhalt hierfür in der internationalen Staatengemeinschaft sorgen kann. Auf der anderen
Seite ist die UNO verwundbar. Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen. Eine Konsequenz jedoch liegt
auf der Hand: Eine Politik, die die UNO stärken und sie
in die Lage versetzen will, diese führende Funktion zu
übernehmen, ist keine Politik, die gegen die USA gerichtet ist. Die UNO kann nur dann stark sein, wenn die Vereinigten Staaten mitmachen. Deshalb steckt in unserer
Forderung nach einer Stärkung der UNO kein Alternativkonzept zu einer gewissen Großmachtpolitik der Vereinigten Staaten. Wir finden vielmehr, dass die Großbzw. Supermacht sich mit den Vereinten Nationen versöhnen muss, weil nur so die UNO stark genug wird und
nur so die Amerikaner ihren moralischen Führungsanspruch, den sie in den vergangenen Jahren aufgebaut und
danach teilweise selber wieder in Zweifel gezogen haben, wiedergewinnen.
({15})
Aus eben genau dem Sicherheitsdilemma, dass wir
zwar die UNO als die organisierende Instanz einsetzen
wollen, diese aber von den Konfliktparteien im Irak angefeindet wird, ergibt sich, dass wir einige andere
Schritte unternehmen müssen. Der Bundeskanzler hat
darauf hingewiesen und hat dabei unsere volle Unterstützung. Wir müssen im Dialog mit den Vereinigten Staaten
und im Rahmen der UNO darauf hinarbeiten, dass es zur
Irakisierung des Konfliktes kommt, zu einer schnell einsetzenden und einer Schritt für Schritt, aber systematisch
betriebenen Souveränitätsabtretung von der Besatzungsmacht an die irakischen Behörden. Diese Politik
scheint mir entscheidend zu sein. Wir wollen sie durch
die Angebote, die der Bundeskanzler gestern gemacht
hat, unterstützen.
({16})
Meine Damen und Herren, wir haben uns mit diesem
Aspekt der amerikanischen Außenpolitik in den letzten
Monaten sehr kritisch befasst. Wir sehen auch keinen
Anlass, von dieser Kritik etwas zurückzunehmen. Aber
genauso entschieden sage ich: Wir sind absolut davon
überzeugt, dass die transatlantische Partnerschaft und
die deutsch-amerikanische Freundschaft Konstanten der
deutschen Außenpolitik sind und bleiben müssen.
({17})
Europa ist keine Gegenmacht zu den USA, sondern ein
Pfeiler des transatlantischen Verhältnisses.
({18})
Vielleicht müssen wir dieses Verhältnis - hören Sie einmal zu, Herr Kauder - aber neu definieren. Bisher hat
sich das Verhältnis aus den Erinnerungen der Kriegsund Nachkriegsgeneration gespeist. Ich gehöre zwar
nicht mehr zur Kriegsgeneration, bin aber - das sind wir
alle und das wird auch so bleiben - den Amerikanern
dankbar dafür, dass sie, dass die Alliierten uns vom Hitler-Faschismus befreit haben.
({19})
Wir sind den Amerikanern dankbar, dass sie Westberlin
gesichert haben.
({20})
Wir sind den Amerikanern - bei allen Disputen, die wir
über die Politik der atomaren Abschreckung hatten dankbar, dass sie sich zur Zeit des Kalten Krieges schützend auf unsere Seite gestellt haben.
({21})
Wir sind den Amerikanern dankbar für das, was sie für
den deutschen Einigungsprozess getan haben.
({22})
Aber ich sage eines: Dialog und Partnerschaft dürfen
nicht bedeuten, dass es aus Dankbarkeit zur Unterwürfigkeit kommt. Dialog heißt immer: Partnerschaft auf
Augenhöhe.
({23})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Deshalb schlage ich vor - das ist mein letzter Satz,
Herr Präsident -: Wir sollten einmal offensiv über die
Wertegemeinschaft der Europäer und der Amerikaner,
die vielfach beschworen wird, aber immer dann, wenn es
zu Disputen kommt, auch zu gewissen Enttäuschungen
führt, diskutieren. Wir sollten mit den Amerikanern einen grundsätzlichen Dialog darüber beginnen, was westliche Werte sind, was unter Freiheit, Demokratie und
Gerechtigkeit zu verstehen ist,
Herr Kollege, das war wohl eher der viertletzte Satz!
- und zwar bezogen auf unsere Interessen und auf die
globale Politik.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die
Intonierung der Debatte von heute Morgen aufgreifen.
Ich finde nämlich, dass das Ziel dieser Debatte auch sein
könnte, dass wir in diesem Hause in der Außenpolitik
wieder zu dem Konsens zurückfinden, der viele Jahre, ja
Jahrzehnte prägend für den Deutschen Bundestag gewesen ist.
({0})
Ich habe den Bundeskanzler und übrigens auch Frau
Kollegin Merkel, die ihm geantwortet hat, heute sowohl
von der Intonierung als auch vom Inhalt her so verstanden. Wenn man sich die Intonierung und auch den Inhalt
bei beiden vor Augen führt, so kann man eines feststellen: Es führt nicht weiter, wenn wir diese Debatte über
den Irak und den Krieg im Irak permanent mit einer
Schuldfrage verbinden. Das löst kein einziges Problem.
({1})
Es geht auch nicht darum - insofern teile ich, auch
von der Schärfe her, nicht das, was der Kollege Volmer
hier ausgeführt hat -, dass wir uns gegenseitig vorhalten,
warum diese Sprachlosigkeit entstanden ist. Aufgrund
der allgemeinen Lebenserfahrung wissen wir: Erstens ist
die Sprachlosigkeit, die zwischen Präsident Bush und
Kanzler Schröder entstanden ist, nicht gut. Zweitens tragen - so ist es in der Regel - beide Verantwortung dafür.
Drittens kann man den gestrigen Versuch, diese Sprachlosigkeit zu beenden, nur vorbehaltlos unterstützen.
Mir ist eine verkrampfte Begegnung zwischen den
beiden lieber als keine Begegnung.
({2})
Selbst wenn es sich nur um eine symbolische Begegnung
gehandelt hätte, wäre sie überfällig und richtig gewesen.
Deswegen gibt es aus Sicht der Freien Demokraten an
dieser Begegnung zwischen Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder nichts zu bemängeln, nichts zu kritisieren. Es ist gut, dass diese Sprachlosigkeit überwunden
wird. Ich fürchte aber, dass das allenfalls ein Anfang
gewesen ist. Den Bemühungen um verbesserte transatlantische Beziehungen müssen jetzt konkrete Taten folgen.
({3})
Damit will ich einen Vorgang ansprechen, der viele
Kolleginnen und Kollegen hier im Hause über die Parteigrenzen hinweg in dieser Woche erreicht hat. Wenn
wir als deutsche Politiker doch der Überzeugung sind,
dass das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder normalisiert werden muss, dass die Sprachlosigkeit überwunden werden muss, dann ist es an uns, diesen Worten
Taten folgen zu lassen. Wenn jetzt darüber gestritten
wird, dass der von Sozialdemokraten und PDS geführte
Senat von Berlin die Mittel für das Aspen-Institut streichen will, dann verlangt das unsere höchste Aufmerksamkeit.
({4})
Was heißt das denn? In derselben Stunde, wo sich der
Bundeskanzler richtigerweise bemüht, das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder zu verbessern, geht es hier
um die Schließung des Aspen-Instituts. Das ist mehr als
eine intellektuelle Veranstaltung. Diese Schließung hätte
einen verheerenden Symbolwert, auch und gerade in der
Wirkung auf Washington und die Vereinigten Staaten
von Amerika.
({5})
Frau Staatsministerin - sie ist jetzt nicht da -, Herr Innenminister Schily, dies ist eine herzliche Bitte, ein Appell an Sie, sich dieser Frage anzunehmen. Wir können
die Begründung nicht akzeptieren, das gehe Berlin
nichts an und sei Aufgabe des Bundes. So argumentiert
Berlin. Denken wir diese Art der Argumentation einmal
zurück! Nach dieser Logik hätten die Vereinigten Staaten von Amerika niemals Verantwortung für Berlin
wahrnehmen müssen. Was hier passiert, ist unhistorisch.
Ich will diese Debatte nutzen, um uns alle auf diesen
Punkt aufmerksam zu machen.
({6})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, an dem wir
die Politik ändern müssen. Es hat ja nicht nur eine Begegnung zwischen dem Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten gegeben, sondern unmittelbar danach auch eine Begegnung zwischen den Präsidenten
Chirac und Putin und Bundeskanzler Schröder.
({7})
Ich glaube, dass das ein Problem ist. Die Regierung betont in ihrer Außenpolitik immer wieder, wir dürften
keine Achsenbildung betreiben. Dann dürfen Sie aber
auch nicht zulassen, dass faktisch genau diese Politik
der Achsenbildung betrieben wird.
({8})
- Das ist kein Missverständnis. Das ist ein sehr ernster
Vorgang. Ein deutscher Bundeskanzler, der mit dem
amerikanischen Präsidenten zusammentrifft, hätte zunächst die anderen Europäer informieren müssen, bevor
andere Gespräche anstehen. Das ist der entscheidende
Kritikpunkt. Die deutsche Außenpolitik muss in die
Einbettung in die europäische Außenpolitik zurückfinden. Sonderwege - egal wo sie betrieben werden, in
Washington oder in Berlin - sind ein Irrtum in dieser
Debatte.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Achsenbildung ist deswegen verheerend, weil bei der europäischen Einigung zunehmend das Projekt wiederbelebt wird, eine Gegenmacht zu den Vereinigten Staaten
von Amerika zu bilden. In den wenigen Minuten, die wir
Freidemokraten in dieser Debatte haben, möchte ich nur
einen ernsten Punkt bringen, der uns noch lange beschäftigen wird: Wer glaubt, er könne Europa einigen, indem
er das transatlantische Band durchschneidet, indem er
Europa quasi zur Gegenmacht zu den Amerikanern aufbaut, wird nur erleben, dass er Europa spaltet.
({10})
Das ist die eigentliche perspektivische Diskussion, die
wir führen müssen.
Das gestrige Gespräch war ein Beginn. Es ist ein
Drama, dass es überhaupt zu dieser Sprachlosigkeit
kommen konnte. Irgendwann wird man sich fragen, wie
die Staats- und Regierungschefs von zwei befreundeten
Demokratien in eine solche Situation der Sprachlosigkeit
eigentlich kommen konnten. Man wird mit Kopfschütteln auf diese Zeit zurückblicken. Das setzt natürlich voraus, dass wir von einer reaktiven Außenpolitik wegkommen und zu einer perspektivischen Außenpolitik
zurückfinden müssen. Damit bin ich beim letzten Punkt,
den ich ansprechen möchte.
Die Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen war eine sehr wichtige Grundsatzrede. Sie war zugleich eine große Chance. Aber ich habe den Eindruck,
dass wir an wesentlichen Fragen, mit denen sich die
deutsche Außenpolitik beschäftigen sollte, zunehmend
vorbeidiskutieren. Ich will nur ein Beispiel nennen. Der
französische Staatspräsident und der amerikanische Präsident haben den Weltgesundheitsfonds und die Bekämpfung von Aids zu zentralen Anliegen erklärt. Es
ist ein wirklich dramatisches Versäumnis, dass das in der
Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen
keine Erwähnung gefunden hat; denn das sind die Fragen, die uns in der Weltpolitik in ganz kurzer Zeit intensiv beschäftigen werden.
({11})
Darum geht es in der Außenpolitik. Es muss Schluss
sein mit diesen Debatten, wer woran Schuld war. Die
klammheimliche Freude auf der einen Seite und das
Rechthaben auf der anderen Seite des Hauses bringen
niemanden weiter. Die deutsche Außenpolitik muss wieder eine Perspektive haben. Das bedeutet, dass man sich
dieser Zukunftsfragen annimmt. Themen wie die Bekämpfung von Aids und die demographische Entwicklung der Weltbevölkerung müssen auch in Berlin Chefsache werden, so wie sie in Paris und Washington
Chefsache geworden sind.
({12})
Das verstehen wir unter perspektivischer Außenpolitik.
({13})
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Herr Westerwelle mit seiner Rede anfing, dachte ich,
dass die sachliche Diskussion im Vordergrund stehen
würde. Am Schluss gab es aber doch nur Polemik.
({0})
Wer der Bundesregierung vorwirft, dass sie sich auf
europäischer Ebene nicht engagiert genug abstimmt und
dass sie untätig ist, der hat übersehen, dass in der Zwischenzeit im Rahmen der Mitarbeit im Konvent ein großer und engagierter Beitrag für die europäische Einigung
geleistet wurde.
({1})
Für uns war immer klar - und ist es auch jetzt -, dass
die Vereinten Nationen eine wichtige und aktive Rolle
beim Wiederaufbau des Irak haben.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Ich möchte zunächst mit meiner Rede fortfahren und
nicht gleich zu Anfang eine Zwischenfrage beantworten.
({0})
Wie gesagt: Die Vereinten Nationen müssen beim
Wiederaufbau des Irak eine zentrale Rolle spielen; denn
nur sie können auf Dauer die Legitimität schaffen, die
nötig ist, damit der Aufbau im Irak in der Verantwortung
der irakischen Bevölkerung gelingen kann.
Die UN müssen vor allen Dingen eine unabhängige
Rolle spielen, wenn der politische, wirtschaftliche und
soziale Aufbauprozess gelingen soll. Um den friedlichen
Aufbau zu gewährleisten, ist eine breite Unterstützung
von außen nötig. Dies setzt aber voraus, dass die Sicherheitslage entsprechend verbessert wird. Nach wie vor ist
Irak ein Land mit der höchsten Gefährdungsstufe. Wer in
Bagdad und in der gesamten Region praktische Hilfe
leisten will, der wird jetzt vom Flughafen mit einem
Hubschrauber in den geschützten Compound geflogen.
Man kann also mit den Menschen, denen man eigentlich
helfen will, nicht vor Ort sprechen. Das ist die Realität;
die wollen wir ändern.
Aber ich bitte, mit zu berücksichtigen: Um vor Ort
wirklich in großem Umfang Hilfe leisten zu können, bedarf es einer Verbesserung der Sicherheitslage. Diese ist
eng mit der Übergabe der Verantwortung an eine legitimierte irakische Regierung verbunden.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle - ich denke, ich tue das in Ihrer aller Namen den Tod der irakischen Politikerin al-Haschimi betrauern, die heute ihren Verletzungen erlegen ist. Sie war
Mitglied des Regierungsrates. Wir trauern mit den Menschen im Irak und mit ihren Angehörigen.
Ich möchte an dieser Stelle auch all derjenigen gedenken, die im Irak Opfer geworden sind und Opfer werden.
Dies sind sowohl Zivilisten als auch Soldaten.
Ich möchte Sergio de Mellos gedenken, der Opfer eines widerwärtigen Attentats geworden ist und dem wir
dafür danken, dass er an vielen Orten in der Welt für
Frieden und Demokratie geworben hat. Aus diesem
Grunde war er auch im Irak.
Wir haben bereits vor dem Krieg im Irak Hilfe geleistet: in den kurdischen Gebieten und auch im Rahmen
des Welternährungsprogramms. Wir sind im Rahmen
der humanitären Hilfe in Höhe von 50 Millionen Euro
mit all unseren Möglichkeiten für dieses Land tätig. Wir
beteiligen uns daran, die Ernährung sowie das Funktionieren von Wasserwerken und die Abwasserentsorgung
sicherzustellen. Wir unterstützen den UNHCR, wenn es
darum geht, dass Menschen, die in den Irak zurückkehren, Unterstützung erhalten, und wir unterstützen die
vielen Nichtregierungsorganisationen, die im Irak im
Rahmen der Möglichkeiten, die sie selber sehen, tätig
sind. Zudem sind wir an der europäischen Hilfe von insgesamt 100 Millionen Euro mit einem Anteil von
25 Millionen Euro beteiligt.
Die Weltbank hat bereits im April dieses Jahres mit
unserer Stimme den Auftrag gegeben - das vergessen
manche -, eine entsprechende Untersuchung über die
Aufbaumöglichkeiten im Irak in Gang zu setzen. Zu
14 Bereichen, die eigentlich alle Lebensbereiche umfassen - leider nicht den Ölsektor; den wollte die amerikanische Seite nicht mit einbezogen wissen -, wird eine
Bewertung vorgenommen und Anfang Oktober ein Bericht vorgelegt, in dem Hilfs- und Aufbaumöglichkeiten
deutlich werden sollen. Deshalb ist es für mich völlig
klar, dass auch wir - die Bundesrepublik ist der drittgrößte Anteilseigner der Weltbank - an der Konferenz
am 23. und 24. Oktober dieses Jahres in Madrid teilnehmen werden, um Bewertungen vorzunehmen und
Schlussfolgerungen zu ziehen.
Um der Menschen willen - auch das will ich ansprechen - wollten wir den Krieg im Irak verhindern. Um
der Menschen willen leisten wir humanitäre Hilfe. Um
der Menschen willen bemühen wir uns darum, dass nach
dem „gewonnenen Krieg“ endlich auch der Frieden gewonnen wird
({2})
und dass die Menschen eine gute Zukunft haben. Es ist
auch klar: Je schmaler das UN-Mandat ist, umso weniger werden sich die Geberländer - auch das ist am Rande
der Weltbanktagung vor wenigen Tagen deutlich geworden - beteiligen wollen.
Ich möchte zudem feststellen: Eine Hilfe der internationalen Gemeinschaft ist notwendig, weil es ansonsten
nicht vorangeht und es zu einem Staatszerfall käme.
Aber es ist auch klar, dass die Hilfe, die dort geleistet
wird, nicht zulasten anderer Regionen gehen darf.
({3})
Sie muss zusätzlich geleistet werden. Denn Hilfe ist
auch in Afghanistan, in Afrika und in anderen Regionen
nötig.
Generalsekretär Kofi Annan hat vor wenigen Tagen
bei der Eröffnung der UN-Generalversammlung vor der
Gefahr gewarnt, dass sich der „Einsatz einseitiger
Gewalt ohne Rechtsgrundlage ausbreiten“ könne. Ein
solches Vorgehen, so Annan, könne das Gesetz des
Dschungels über die Welt bringen.
Ich stimme ihm zu, dass wir alles daransetzen müssen,
um die Autorität und das Ansehen der UN zu stärken. Sie
sind das kostbarste Instrument, das die Weltgemeinschaft
hat, um Frieden zu stiften und um Globalisierung gerecht
gestalten zu können.
({4})
Gerade nach der gescheiterten Cancun-Konferenz haben alle Konferenzen, sowohl die Weltbank- und IWFJahrestagung vor wenigen Tagen in Dubai als auch die
UN-Generalversammlung, die Entschlossenheit betont,
die multilateralen Organisationen zu stärken. Der Unilateralismus ist gescheitert. Es ist gut, dass auch in den betreffenden Ländern selbst die Diskussionen über die Ursachen dieses Scheiterns geführt werden. Es geht darum,
die multilateralen Organisationen zu reformieren, sie zu
stärken, damit die Globalisierung gerecht gestaltet werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich
eine Zahl vor Augen halten: Im Jahre 2015 - das hat uns
Jim Wolfensohn vor wenigen Tagen in Erinnerung gerufen - wird die Hälfte der Weltbevölkerung unter
25 Jahren sein. 3 Milliarden Menschen auf der Welt werden unter 25 Jahren sein. Wir sind es ihnen, ihrer Zukunft und ihren Hoffnungen schuldig, dass wir alles tun,
um Kriege zu verhindern und dazu beizutragen, dass Armut in der Welt bekämpft und dem Terrorismus entschlossen entgegengetreten wird.
Ich bedanke mich.
({5})
Zur einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Guido Westerwelle das Wort.
Herr Präsident! Frau Ministerin, ich habe Sie am Anfang Ihrer Rede etwas fragen wollen, weil Sie mich im
Hinblick auf meine Kritik an der Bundesregierung und
insbesondere darauf direkt angesprochen haben, dass ich
den Eindruck habe, dass das Thema Bekämpfung von
Aids anders als in zwei anderen Ländern nicht Chefsache ist. Da Sie mir die Möglichkeit der Zwischenfrage
nicht gegeben haben, will ich eine kurze Bemerkung
dazu machen.
Am Tag, bevor der Bundeskanzler bei den Vereinten
Nationen in New York gesprochen hat, hat es dort eine
große globale Debatte über die Bekämpfung von Aids
gegeben. Das ist in nahezu allen Regierungen der Welt
ein Thema, das dort nicht nur unter humanistischen, sondern durchaus auch unter massiven ökonomischen und
politisch-geostrategischen Gesichtspunkten diskutiert
wird.
Der Bundeskanzler - anders als der amerikanische
Präsident und anders als der französische Präsident verliert kein einziges Wort darüber. Das kritisiere ich.
Ich glaube auch, dass das eine berechtigte Kritik ist.
({0})
- Sie handeln eben nicht, Herr Kollege.
({1})
Der amerikanische Präsident hat nicht aus einem ausschließlichen Akt der humanistischen Nächstenliebe heraus, sondern weil er seine eigenen Interessen politisch
definiert hat, mit das Programm ausgerufen: 3 Milliarden Dollar für diesen Fonds. Die Voraussetzung ist, dass
die Vereinigten Staaten von Amerika 1 Milliarde Dollar
bringen und die Europäer ebenfalls 1 Milliarde Dollar
bringen. Der französische Staatspräsident hat sofort geantwortet und spontan seine Leistungen zugesagt.
In Deutschland hinken wir leider immer noch unseren
eigenen - wie ich finde - vernünftigen Zielen deutlich
hinterher. Es ist beschämend für ein reiches Land wie
Deutschland, dass das Zustandekommen eines solchen
weltweiten Fonds zur Bekämpfung von Aids bei uns in
Wahrheit mehr Bremser als Förderer hat.
({2})
Es ist das Recht der Opposition, das hier anzusprechen. Sie haben die Demonstrationen gegen die Regierung und gegen uns Politiker vor dem Brandenburger
Tor erlebt. Wir haben am Dienstag direkt nach dieser
Debatte Professor Feachem in der Fraktion der Freien
Demokraten zu Gast gehabt. Für uns als Freie Demokraten ist es ernüchternd und peinlich gewesen, dass der
Leiter des Fonds Deutschland bei den Bremsern einsortiert, wenn es um die Bildung dieses Fonds geht. Wir
müssten vielmehr einer der Motoren sein. Es handelt
sich bei Aids nämlich um eine der großen Menschheitsbedrohungen.
Wenn wir dieses Thema immer nur an die Seite drängen, weil wir uns in der Tagespolitik mit allem Möglichen, auch mit innerparteilichem Streit, aufhalten und
diese Dimension nicht mehr begreifen, dann machen wir
meines Erachtens einen ganz großen Fehler. Da wir hier
über Außenpolitik reden, möchte ich festhalten, dass dieses Thema in der Rede des Bundeskanzlers in New York
gefehlt hat. Das kritisieren wir ausdrücklich.
({3})
Zur Erwiderung Frau Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Westerwelle, Sie haben das Thema Aids-Bekämpfung
angesprochen. Ich will auf folgenden Umstand hinweisen: Als wir die Regierung übernommen haben, haben
wir im Haushalt, den uns die vorige Regierung unter
CDU/CSU und FDP hinterlassen hat, Mittel zur Aids-Bekämpfung in Höhe von 19 Millionen DM vorgefunden.
({0})
- Ja, genau! - Diese Bundesregierung hat die Mittel zur
Aids-Bekämpfung insgesamt auf heute durchschnittlich
300 Millionen Euro erhöht.
Das zeigt: Wir reden über solche Fragen nicht nur,
sondern handeln.
({1})
Wir haben nicht auf einen globalen Fonds gewartet, den
wir im Übrigen ausdrücklich unterstützen - das habe ich
gestern Herrn Feachem deutlich gemacht -, sondern waren schon vorher tätig und haben 1999 die Mittel aufgestockt.
({2})
Ich habe nicht gewartet, bis die internationale Gemeinschaft einen Fonds eingerichtet hat, sondern habe dafür
gesorgt, dass in allen Instrumenten der Entwicklungszuammenarbeit, in jedem Projekt die Bekämpfung von
Aids und die Prävention berücksichtigt wird; denn ich
betrachte es - wie Sie - als ein Drama, als eine menschliche Katastrophe, dass Millionen von Menschen daran
sterben können. Für viele Länder ist es darüber hinaus
auch eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe. Lassen Sie uns darüber also bitte nicht in einer solchen Debatte streiten.
({3})
Nehmen Sie vielmehr zur Kenntnis, dass wir engagiert
sind und dass wir etwas tun. Wir reden darüber vielleicht
nicht so viel wie der eine oder andere, aber wir machen
etwas.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundeskanzler hat gestern mit seiner Rede vor der
UNO viel Aufmerksamkeit erlangen wollen und hat sie
auch bekommen. Es gibt Passagen, denen stimmen auch
wir, die PDS im Bundestag, zu. Oder soll ich sagen „sogar wir“?
Sie haben gemahnt - ich zitiere -:
Wir werden scheitern, wenn wir unser Denken und
Handeln auf militärische und polizeiliche Aspekte
verengen. Wir müssen an den Wurzeln des Terrorismus und an den Ursachen von Unsicherheit ansetzen.
Sie haben erinnert - ich zitiere noch immer -:
Um Fanatismus zu bekämpfen, müssen wir für soziale und materielle, aber auch für kulturelle Sicherheit sorgen.
Weiter haben Sie gesagt - auch das ist noch Zitat -:
Um die Menschen für den Weg der Freiheit, des
Friedens und der gesellschaftlichen Offenheit zu
gewinnen, müssen wir ihnen helfen, in gesicherten
Strukturen mehr Teilhabe und mehr Wohlstand zu
erreichen.
Das finde ich richtig, auch wenn es ein wenig dröge
klingt.
Wir gehen sogar noch weiter. Sie haben nach fast jedem dieser klugen Sätze leider ein dummes Aber gesetzt, um die große Bedeutung der NATO zu begründen.
Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen.
({0})
Weniger Aber und weniger NATO, das hätte sogar unseren Beifall gefunden.
Nun hat der Bundeskanzler natürlich eine diplomatische Rede gehalten, also eine Rede, die diese, aber auch
eine andere Deutung zulässt. Deshalb habe ich eine Bitte
an Sie, Herr Bundeskanzler: Widersprechen Sie mir
deutlich, wenn ich Ihre Rede falsch interpretiere. Sie haben gewarnt - ich zitiere wieder -:
Um Ruchlosigkeit zu bekämpfen, müssen wir der
Rechtlosigkeit Einhalt gebieten.
Ich gehe davon aus, dass Sie damit auch und ausdrücklich die USA gemeint haben; denn die USA haben ruchund rechtlos einen Krieg gegen den Irak begonnen, was
bekanntlich weltweit zu Protesten geführt hat.
({1})
Herr Bundeskanzler, Sie haben dem internationalen
Recht und einem internationalen Strafgerichtshof das
Wort geredet. Auch das interpretiere ich als eine klare
Kritik an den USA; denn es sind vor allem die USA, die
sich internationalem Recht und einem Strafgerichtshof
verweigern. Daneben haben Sie für überfällige Reformen der Vereinten Nationen plädiert. Auch das habe ich
als deutliche Distanz zu den USA vernommen; denn es
waren die USA, die die UNO im Zusammenhang mit
dem Irakkrieg für nichtig und überflüssig erklärt haben.
Wie gesagt: Sollte ich den Bundeskanzler falsch verstanden haben, so bitte ich ihn ausdrücklich, das klarzustellen - auch gegenüber den Medien.
({2})
Sie haben die Rede von UNO-Generalsekretär Kofi
Annan gewürdigt. Auch ich fand sie bemerkenswert, zumal er auf den großen historischen Rückschritt verwies,
den die USA mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak beschleunigt haben. Zur Erinnerung: Am
26. Juni 1945 wurde die Charta der Vereinten Nationen beschlossen. Sie galt als Lehre aus dem verheerenden Zweiten Weltkrieg sowie als Maßstab für eine künftige Weltordnung ohne Kriege und durch sie wurde ein
zivilisatorisches Projekt beschrieben.
Diese Grundsätze wurden inzwischen - vor allem
durch die USA, aber nicht nur durch sie - vollends aufgekündigt und torpediert. Das Recht des Stärkeren
herrscht über die Stärke des Rechts. Das ist die Position
der USA, die sie auch vor der UNO nicht revidiert haben. Deshalb schwant mir nichts Gutes, wenn der Herr
Bundeskanzler sagt, die Konflikte mit den USA rund um
den Irakkrieg seien beigelegt und man wolle nun gemeinsam nach vorne schauen. Wenn Sie richtig hinschauen, wo die USA vorn wähnen, dann werden Sie erkennen: Es ist ganz weit hinten und auf keinen Fall da,
wo Willy Brandt, auf den sich der Bundeskanzler in seiner Rede vor der UNO ja ausdrücklich berufen hat, die
Zukunft sah.
Der Irakkrieg war dafür nur ein schlimmes Beispiel.
Deshalb verbietet sich alles, was diese Aggression im
Nachhinein legitimieren könnte. Das sage ich allerdings
auch deutlich an die Adresse der CDU/CSU, die versucht, Deutschland im Rahmen der NATO in die USStrategie einzubinden. Das sage ich auch angesichts der
rot-grünen Pläne, die Bundeswehreinsätze in Afghanistan auszuweiten, um die USA militärisch zu entlasten
und dafür ein Bravo zu empfangen. Das sage ich schließlich auch mit Blick auf die EU; denn nach dem vorliegenden Verfassungsentwurf sollen die Mitgliedstaaten
auf eine Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet werden, die auf militärische Stärke baut und Präventivkriege
ausdrücklich nicht ausschließt.
Das alles lehnt die PDS ab. Ich hätte heute gerne Gleiches von Ihnen gehört - grundsätzlich und fürderhin.
Danke schön.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Christian Ruck von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz aller
freundlichen Deutungsversuche kann der Besuch des
Kanzlers in New York nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten
von heute und die möglichen Konflikte von morgen zwischen der Bundesregierung und der amerikanischen Regierung eben nicht ausgeräumt sind. Das merkt man
auch deutlich an der UNO-Rede des Kanzlers, in der er
das ganz klar ausgesprochen hat. Aber eine Politik der
Bundesregierung für den Wiederaufbau im Irak könnte
einen konkreten Schritt zur Verbesserung der transatlantischen Beziehungen bedeuten. Diese Chance sollten wir
alle nutzen; denn das ist in unser aller Interesse.
({0})
Wir alle sind uns darüber einig, dass die Lage im Irak
nicht nur wegen der Kriminalität und der angespannten
Versorgungslage in der Tat prekär ist, sondern vor allem
auch wegen der bisher noch nicht erkennbaren Perspektiven für einen stabilen und demokratischen Irak. Damit
ist auch das Ende der wachsenden Spannungen im Land
noch nicht absehbar. Die Besatzungsmächte haben die
Herausforderungen im Nachkriegsirak unterschätzt. Sie
müssen nun erkennen, dass es viel schwieriger ist, den
Frieden zu gewinnen, als im Krieg zu siegen. Aber hierfür Gleichgültigkeit oder gar Schadenfreude zu empfinden wäre wirklich dumm. Wie schon angesprochen, sind
der Irak und die gesamte mittelöstliche Region auch
für uns Deutsche von strategischer Bedeutung in ökonomischer Hinsicht, aber vor allem in sicherheitspolitischer Hinsicht. Deswegen haben wir ein herausragendes
Interesse daran, dass sich der Irak zu einem stabilen
Staat mit rechtsstaatlichen, pluralistischen Strukturen
entwickelt, von dem keine Bedrohung mehr ausgeht.
({1})
Aber je mehr Zeit verrinnt ohne eine nachhaltige Stabilisierung, desto schlimmer wird die dortige Situation
und desto größer wird auch das Risiko für uns. Wir haben bereits viel Zeit verloren. Frau Ministerin
Wieczorek-Zeul, hier haben wir definitiv große Meinungsunterschiede, auch was Ihre Politik anbelangt.
({2})
Sie haben vor Monaten noch stolz gesagt: Wer bombt,
muss auch zahlen. - Diese Position vertreten Sie im
Grunde genommen bis heute. Diese Meinung war und ist
für uns verantwortungslos und kurzsichtig.
({3})
Sie ist verantwortungslos, weil sie die Menschen im
Irak, die an den Kriegsfolgen leiden, die aber auch fast
20 Jahren lang unter dem menschenverachtenden Regime von Saddam Hussein genug gelitten haben, im
Stich lässt.
({4})
Es ist kurzsichtig, weil es unsere eigenen Interessen ignoriert. Denn wer sich nicht einbringt, hat keinen Einfluss und kann die Interessen seines Landes nicht vertreten. Das gilt auch für die Stabilisierung des Irak und des
Mittleren Ostens. Deswegen wäre eine politische Kehrtwende wichtig, die halb angekündigt ist, bisher aber nur
in Sonntagsreden.
({5})
Die Wahrheit ist doch, dass bisher im Haushalt des BMZ
über die humanitären Zwecken dienenden Geldmittel hinaus kein einziger müder Euro für die eigentliche Entwicklungszusammenarbeit, für den Aufbau des Landes
eingestellt ist.
({6})
Das ist die Wahrheit und deshalb haben wir bisher auf
die entscheidende Frage, wie der Irak wirklich wiederaufgebaut wird, keinen Einfluss.
Natürlich sind auch wir der Meinung, dass die Stabilitätsbemühungen für den Irak im richtigen internationalen Rahmen erfolgen sollten,
({7})
möglichst unter Koordination der UNO. Aber in der Tat
stellt sich doch die Frage, wie schnell und wie stark der
Einsatz der Vereinten Nationen nun wirklich erfolgen
kann. Wie groß ist die Leistungsfähigkeit der UNO in einem Irak, von dem Sie, Frau Wieczorek-Zeul, selber sagen, dass die Sicherheit bisher in keiner Weise gewährleistet ist?
Ich glaube, wir sollten in unserer Politik nicht fragen:
Wer weiß es besser? Wer hat Recht behalten? Wir sollten
eine Politik machen, die pragmatisch das Ziel der Stabilisierung und des nachhaltigen Friedens im Irak im Auge
behält und eine Antwort auf die Frage gibt, was den
Menschen im Irak langfristig wirklich hilft.
Nach dem Auftritt des Bundeskanzlers in New York
stellt sich uns die Gretchenfrage: In welchem Umfang
leisten wir tatsächlich einen Beitrag? Die Geberkonferenz in Madrid steht an und es gibt erhebliche Widersprüche. Vor der UNO sagt der Kanzler vollmundig: Wir
leisten humanitäre, technische und ökonomische Hilfe
und Polizeiausbildung. - Das klang heute ganz anders.
Der heutige O-Ton lautete: Wir führen die humanitäre
Hilfe weiter - was gut ist -, wir werden prüfen, ob wir
zusätzlich noch Entwicklungsprojekte ausführen, und
gegebenenfalls kann man auch über Polizeiausbildung
reden.
({8})
Das ist etwas ganz anderes. Natürlich können wir nicht
zulassen, dass man vor der UNO große Reden hält
({9})
und danach hier als Papiertiger landet.
({10})
Wir sind dafür, dass der Kanzler zu dem steht, was er in
der UNO gesagt hat, und wir würden es außerordentlich
begrüßen, wenn er diese Linie dann auch der Entwicklungshilfeministerin verordnete.
Bisher gibt es im BMZ - das sage ich noch einmal nicht nur kein Geld für die Entwicklungszusammenarbeit im Irak, sondern auch keine Konzeption
({11})
und keine Vorausplanung. Eines ist sicher: Mit leeren
Taschen und ohne Konzeption brauchen wir uns auf der
Geberkonferenz in Madrid nicht blicken zu lassen, wenn
wir wirklich Einfluss nehmen wollen. Ihr Argument,
dass die Weltbank eine Mission ausschickt, ist eine Ausrede. In anderen Fällen hat dies das BMZ zu Recht nicht
davon abgehalten, eine Vorausplanung mit Schwerpunkten auszuarbeiten.
Deutschland hat genug Expertise und Erfahrung in
vielen Bereichen, die für den Irak wichtig sind.
({12})
- Das ist doch Unsinn. Wir haben das, was wir uns vorstellen, in einem Antrag, den Sie hoffentlich gelesen haben, zusammengefasst.
({13})
Es geht uns um die Beteiligung am Aufbau der materiellen Infrastruktur,
({14})
aber vor allem darum, uns bei den Weichenstellungen
beim Aufbau des irakischen Staats- und Gemeindewesens einzubringen, nämlich bei der Administration,
bei der Justiz und natürlich auch bei der Polizei. Auch
beim Aufbau eines funktionierenden Wirtschafts- und
Finanzsystems und bei der Stärkung der irakischen Zivilgesellschaft könnten wir einen Beitrag leisten. Daraus
könnte man schon jetzt ein vernünftiges Konzept stricken, mit dem man auf der Geberkonferenz Einfluss
nehmen könnte.
({15})
Auf der Geberkonferenz muss auch von Deutschland
ein Beitrag geleistet werden, mit dem politische Weichenstellungen vorgenommen werden können. Sie haben
gerade einen Finanzierungsvorschlag angemahnt.
({16})
Der Kanzler hat jüngst erklärt: Armutsbekämpfung ist
ein Teil der Sicherheitspolitik. Warum hat er dann nicht
mehr Einfluss genommen und ein Scheitern von Cancun
verhindert?
({17})
Warum lässt er zu, dass der Entwicklungshaushalt im
Verhältnis zum Gesamthaushalt ein Rekordtief erreicht
hat?
({18})
All das ist Nebelkerzenwerferei und hat mit der Realität
nichts zu tun.
({19})
Sie fragen: Woher soll das Geld kommen? Ich sage es
Ihnen. Die Haushaltslage ist in der Tat desaströs. Deswegen ist es überfällig, dass auch in der Entwicklungspolitik
eine durchdachte und strategische Schwerpunktsetzung
erfolgt. Aber solange sich die rot-grüne Entwicklungspolitik in unzähligen Empfängerländern inklusive Kuba
({20})
und in zahllosen internationalen Töpfen verzettelt, haben
wir natürlich keine Kraft, kein Personal und kein Geld
mehr, um auf strategisch wichtige Herausforderungen
schnell zu reagieren.
({21})
Dies schmerzt besonders dort, wo - wie im Irak auch deutsche Interessen berührt sind. Dies ist leider für
die gesamte Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik symptomatisch. Die politischen Schwerpunkte werden verwässert oder falsch gesetzt. Statt überlegter Strategie herrschen Zufall und Reparaturversuche. Statt eng
verzahnter Zusammenarbeit der Ressorts regieren Zwietracht und Doppelarbeit.
({22})
Dies ist leider auch in Afghanistan der Fall. Ich verweise
auf die gestrige Sitzung des Entwicklungsausschusses,
in der keine einzige unserer Fragen auch nur annähernd
ordentlich beantwortet wurde.
({23})
Eine solche Politik der auswärtigen Beziehungen
schadet unseren Interessen und unserem Ruf. Die Renaissance des Irak wäre eine neue Chance zu einer qualitativen Verbesserung. Ich kann nur sagen: Nutzen Sie
diese Chance!
({24})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1011 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 o sowie
Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit
- Drucksache 15/1521 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen der Vereinten
Nationen vom 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
- Drucksache 15/1507 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Übergangsregelung zum KindVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
schaftsrechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete Eltern
- Drucksache 15/1552 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 29. April 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich
der Niederlande über die Durchführung der Flugverkehrskontrolle durch die Bundesrepublik
Deutschland über niederländischem Hoheitsgebiet und die Auswirkungen des zivilen Betriebes
des Flughafens Niederrhein auf das Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande ({3})
- Drucksache 15/1522 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 18. September 2002 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land, den Vereinten Nationen und dem Sekre-
tariat des Übereinkommens zur Erhaltung der
wandernden wild lebenden Tierarten über den
Sitz des Sekretariats des Übereinkommens
- Drucksache 15/1473 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1467 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1469 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Investmentwesens und zur Besteuerung von Investmentvermögen ({6})
- Drucksache 15/1553 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung
- Drucksache 15/904 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Kultur und Medien
j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Sozialgesetzbuches
- Achtes Buch - ({9})
- Drucksache 15/1406 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur effektiveren Nutzung von Dateien im Bereich der Staatsanwaltschaften
- Drucksache 15/1492 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Innenausschuss
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Kahrs, Eckhardt Barthel ({12}),
Wilhelm Schmidt ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({14}), Claudia Roth
({15}), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen
- Drucksache 15/1320 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({16})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({17}), Eduard Oswald, Norbert
Königshofen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Wirtschaftliche und organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft
verbessern
- Drucksache 15/1322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({19}), Klaus Brähmig, Ernst
Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Sicherheit im Busverkehr
- Drucksache 15/1528 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
o) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer
Ebene festigen - Verstärkte Förderung von
Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland
- Drucksache 15/1574 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({21})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland
- Drucksache 15/1561 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und
Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln
- Drucksache 15/1568 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({24})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt 25 k, Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses zur Sammelübersicht 58 zu Petitionen, von der
Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 b bis 25 j und
25 l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Zulassungs- und Prüfungsverfahrens des Wirtschaftsprüfungsexamens
({25})
- Drucksache 15/1241 ({26})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({27})
- Drucksache 15/1585 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Lange ({28})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1585,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die
Stimmen der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rheinund Binnenschifffahrt
- Drucksache 15/1056 ({29})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({30})
- Drucksache 15/1580 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 15/1580, den Gesetzentwurf
anzunehmen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom
9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rheinund Binnenschifffahrt
- Drucksache 15/1061 ({31})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({32})
- Drucksache 15/1581 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1581, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. Februar 2002 über die Änderung des Grenzvertrages vom 8. April 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der
Niederlande
- Drucksache 15/1053 ({33})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({34})
- Drucksache 15/1577 Berichterstattung:
Abgeordneter Gerhard Wächter
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 15/1577, den Gesetzentwurf
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Juni
2000 über ein Europäisches Fahrzeug- und
Führerscheininformationssystem ({35})
- Drucksache 15/1058 ({36})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({37})
- Drucksache 15/1578 Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 15/1578, den Gesetzentwurf
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 g:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
24. Juni 2002 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Thailand
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1054 ({38})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 17. August 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen
Republik Iran über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1055 ({39})
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 30. März 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Brunei Darussalam
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1057 ({40})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({41})
- Drucksache 15/1366 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom
24. Juni 2002 mit dem Königreich Thailand über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksache 15/1054. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
vom 17. August 2002 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Islamischen Republik Iran über die
gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz
von Kapitalanlagen, Drucksache 15/1055. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
vom 30. März 1998 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Brunei Darussalam über die Förderung
und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen,
Drucksache 15/1057. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Arbeit empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich
zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist
nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42})
Sammelübersicht 55 zu Petitionen
- Drucksache 15/1533 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 55 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43})
Sammelübersicht 56 zu Petitionen
- Drucksache 15/1534 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 56 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44})
Sammelübersicht 57 zu Petitionen
- Drucksache 15/1535 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand. Die Sammelübersicht 57 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45})
Sammelübersicht 59 zu Petitionen
- Drucksache 15/1537 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 59 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu Rufen aus
der Koalition nach personellen Konsequenzen
angesichts immer neuer Finanzausfälle und
Verzögerungen bei der LKW-Maut
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dirk Fischer von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine geehrten Kolleginnen und Kollegen! „Der Rücktritt von Manfred Stolpe hat mich nicht
überrascht“ - so Bundeskanzler Schröder am 22. Juni
2002 nach Stolpes Amtsaufgabe als brandenburgischer
Ministerpräsident. Heute wäre kein Mensch in Deutschland überrascht, würde Stolpe als Verkehrsminister zurücktreten.
({0})
Dirk Fischer ({1})
Es ist zwar auch sinnvoll, wenn der SPD-Kollege
Dr. Danckert die zuständigen Staatssekretäre Frau
Mertens und Herrn Nagel auffordert, persönliche Konsequenzen aus dem Mautdesaster zu ziehen, aber hauptverantwortlich für die Probleme mit der LKW-Maut ist Verkehrsminister Stolpe. Er hat das dilettantische Gemurkse
seines Vorgängers Bodewig noch gesteigert.
({2})
Rot-Grün hat auf allen Ebenen versagt:
„Eklatante Benachteiligung“ von Bewerbern bei der
Vergabe des Auftrages zum Aufbau des elektronischen
Mautsystems - so wörtlich das OLG Düsseldorf Anfang
2002. Das Gericht hat den Bund gezwungen, alles noch
einmal von vorn zu beginnen.
Die Einigung zwischen Toll Collect und dem Wettbewerber Ages kam zu spät, mit der Folge eines zusätzlichen Entwicklungsaufwandes bei der Abrechnungssoftware.
Dann der Freitag vor der Bundestagswahl: hektische
Vertragsunterzeichnung aus Angst vor einem Regierungswechsel, verbunden mit einem hohen Zeitdruck für
die Industrie, den Mautbetrieb schon zum 31. August
2003 statt zum Januar 2004 zu ermöglichen; stattdessen
offenbar großzügige Freistellung von Haftung und Vertragsstrafen für die ersten drei Monate nach diesem Einführungstermin. Durch die Exklusivbeauftragung von
Firmen kam es zu Engpässen beim Einbau der On Board
Units. Der Minister hat den Fehler inzwischen eingestanden und korrigiert.
Danach folgte der Alleingang Stolpes bei der Unterzeichnung des Eckpunktepapiers am 30. Juli 2003: Die
zweimonatige Einführungsphase und die beiden ersten
Monate der Betriebsphase sind vertragsstrafen- und haftungsfrei gestellt worden. Erst Anfang 2004 soll eine
Verständigung über eine angemessene jährliche Haftungshöchstgrenze erfolgen. Wenn Stolpe erklärt - was
durchaus versucht worden ist -, nur die Industrie habe
versagt, stellt sich die Frage, warum er sie dann mit einer
weiteren Haftungsfreistellung belohnt, statt endlich die
Zügel fester anzuziehen.
({3})
Das ist doch völlig widersprüchlich, Herr Minister.
Ende August 2003 erfolgte die Trennung der Mauteinführung und der von der Bundesregierung zugesagten
Harmonisierung für das deutsche Transportgewerbe. Der
Ausgang des Beihilfeverfahrens ist ungewiss.
„Und wenn
sie“ - die Verkehrskommissarin - „negativ votiert, gibt
es gar nichts.“ Wer sich auf Schröders Wort verlässt, ist
ein armer Hund.
({0})
Das wissen die Rentner, das wissen die Autofahrer, das
wissen die Spediteure.
Die vorläufige Betriebserlaubnis wird erteilt, wenn
die technische Funktionsfähigkeit gegeben ist. Diese
steht immer noch aus. Im Gegenteil: Nach der „Deutschen Verkehrs-Zeitung“ stellt das Bundesamt für Güterverkehr in einem Schreiben an das Ministerium fest,
dass „ein Wirkbetrieb zum 2. November nicht mehr realisiert werden kann“.
Das hat folgende Konsequenzen: Jeder Monat Mautverzug kostet 156 Millionen Euro. Das ist die Zahl, die
Sie aktuell angegeben haben. Im Ausschuss hatten Sie
uns noch die Zahl von 163 Millionen Euro genannt.
Hinzu kommen Rückforderungsansprüche des Transportgewerbes aus der Eurovignette in Höhe von 65 Millionen Euro für 2003 und zusätzliche Ausgaben für das
Bundesamt für Güterverkehr in Höhe von fast 45 Millionen Euro, ohne dass Mauteinnahmen kassiert werden
können. Eine Verschiebung zumindest auf Januar 2004
- dieser Termin erscheint realistisch - würde die Ausfälle somit auf 733,7 Millionen Euro summieren.
Die Kündigung des Vignettenabkommens zum
31. August 2003 führt im Übrigen dazu, dass deutsche
und ausländische LKW zurzeit gratis auf deutschen Straßen fahren können. Wichtige Verkehrsprojekte sind dadurch gefährdet, dass zusätzliche Mittel aus der Maut
nicht in baureife Projekte fließen können. Der Schaden
zulasten der für Infrastrukturmaßnahmen eingeplanten
Haushaltsansätze soll in den Haushalten ab 2004 begradigt werden.
Rot-Grün hat eine sinnvolle Einführung der LKWMaut verpfuscht. Es gab keine ausgereifte technischlogistische Vorbereitung, keine Harmonisierungsmaßnahmen und keine Zweckbindung der Mauteinnahmen
für die Verkehrsinfrastruktur zusätzlich zu den Haushaltsansätzen. 2004 werden mit der eingeplanten Maut
weniger Mittel für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stehen, als es 2003 ohne die Maut der Fall war. Das
ist doch ein Schuss in den Ofen!
({1})
Herr Dr. Stolpe, Sie haben kein hinreichendes Vertragscontrolling betrieben. Sie haben erst viel zu spät
ernsthaft mit der Verkehrskommissarin verhandelt. Es
war unverantwortlich, den ab 16. Juni geplanten Probebetrieb abzusagen. Er hätte die Mängel viel früher offenbart.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!
Es war unverantwortlich, die Haftungsfreistellung in
der Vereinbarung noch zu erweitern. Sie haben die
LKW-Maut viel zu spät zur Chefsache erklärt.
Das Projekt sollte eine deutsche Erfolgsstory und das
europäische Leitsystem der Mauterhebung werden. Nun
ist der Standort Deutschland dem europäischen Gespött
ausgesetzt worden. Das ist kaum zu ertragen.
Dirk Fischer ({0})
Verkehrsminister Stolpe hat auf ganzer Linie versagt.
Sein Rücktritt ist unausweichlich.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Manfred Stolpe.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich muss es aushalten, als Dilettant, als Schlafmütze, als Versager dargestellt zu werden. Das gehört
schließlich zum politischen Geschäft; das habe ich schon
mitbekommen. Aber ich wende mich entschieden gegen
Ihren Vorwurf, Herr Fischer - hier möchte ich Sie direkt
ansprechen -, der bei Ihrer Rede deutlich herausklang,
dass wir ein Zukunftssystem deutscher Wissenschaft und
Technik kaputtreden. Das haben Sie eben gemacht.
({0})
Ich bitte Sie herzlich, meine Damen und Herren von
der Opposition: Lassen Sie uns bei der Grundlinie bleiben, die schon einige Jahre alt ist. Wir haben 1997 begonnen, entschlossen den Weg zur Einführung einer
LKW-Maut zu gehen. Das war eine richtige Entscheidung. Wir sind diesen Weg weitergegangen. Es mussten
Entscheidungen darüber getroffen werden, welches System man nimmt und mit wem man zusammenarbeitet.
Ich bin der Letzte in der Reihe, der daran arbeitet. Den
beißen bekanntlich die Hunde. Aber ich sage Ihnen ganz
klar: Den Staffelstab werde ich nicht fallen lassen. Hier
gibt es für mich keine Alternative.
({1})
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine LKWMaut brauchen. Die technische Idee ist international anerkannt, gar keine Frage. In dem Entwurf der Richtlinie
der Europäischen Union ist ausdrücklich vorgesehen,
dass eine Maut bis zum Jahr 2008 europaweit eingeführt
werden soll. Wir stehen momentan in den Mühen der
Ebene; das liegt auf der Hand. Aber noch heute Vormittag, vor wenigen Stunden also, haben wir einen intensiven Gedankenaustausch auf einer Telematikkonferenz in
Berlin gehabt. Dabei ist klar geworden, dass niemand,
der sich intensiv mit den Fragen der Mauterhebung befasst, ernsthafte Zweifel daran hat, dass man das jetzige
Mautsystem auf die Beine bringen wird.
Eine Maut ist auch noch aus einem anderen strategischen Grund notwendig. Da wir trotz eines relativ hohen
Sockels an Investitionsmitteln für die Verkehrsinfrastruktur erkennen können, dass die Gelder der öffentlichen Hand nicht ausreichen werden, brauchen wir zusätzliche Finanzierungssysteme. Wir brauchen deshalb
eine Maut genauso wie die entsprechenden Betreibersysteme, die wir schon in Gang gesetzt haben. Wir haben
mit den Ländern bereits eine Vereinbarung über 20 Modelle getroffen. Wir brauchen außerdem weitere Schritte
bei Public Private Partnership wie diejenigen, die wir
unlängst gemacht haben.
Wir haben am 23. Mai dieses Jahres mit großer Mehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine
Entscheidung über die Notwendigkeiten getroffen. Das
ist die Arbeitsgrundlage, nach der ich mich richte. Ich
sehe drei Operationsfelder, auf denen weiter entschlossen gehandelt wird. Hier ist die Harmonisierung ein
wichtiger Punkt. Darauf haben Sie schon eben hingewiesen. Auch auf meiner Agenda steht sie ganz vorne. Ich
füge hinzu, weil das gelegentlich vergessen wird - ich
habe darauf auch in mehreren Gesprächen mit den Verbänden hingewiesen -: Ich stehe zu der Grundlage vom
23. Mai; denn die Unternehmen brauchen Verlässlichkeit. Ich muss den Text vom 23. Mai sicherlich nicht
vorlesen; denn Sie alle kennen ihn. Auch Sie wissen, in
welcher Schrittfolge wir vorgehen müssen. Ich habe bereits am Abend des 13. November letzten Jahres - ich
war damals noch ganz frisch im Geschäft - fünf Stunden
lang mit der zuständigen EU-Kommissarin darüber geredet und ihr die Dinge dargelegt. Das habe ich danach erneut im April, im August und im September dieses Jahres sowie vorgestern getan. Ich werde das auch wieder
am 1. Oktober tun. Ich bin mir sicher, dass wir die Probleme lösen werden.
Ich möchte im Übrigen darauf aufmerksam machen,
dass Ihr eigener Beschluss ausdrücklich vorsieht, dass
wir uns die Genehmigung für das Mautverfahren einholen und dass wir bis dahin die Maut auf 12,4 Cent pro
Kilometer festlegen. Ich bitte Sie deshalb herzlich, nicht
bei den Spediteuren den Eindruck zu erwecken, dass
noch etwas anderes kommen wird. Bitte halten Sie sich
an den Text, den wir damals gemeinsam vereinbart haben.
({2})
Die Technik ist in Arbeit. Mein Ministerium, das uns
zugeordnete Bundesamt für Güterverkehr, aber auch die
Partner der Industrie wollen - das ist das klare Ziel einen zeitnahen und stabilen Systemstart. Für mich heißt
das: so schnell wie möglich, aber nur - am besten wären
natürlich gar keine Fehler - mit einer möglichst geringen
Fehlerquote. Denn alles andere würde auf dem Buckel
der Unternehmen ausgetragen. Das würde ich für nicht
vertretbar halten.
Gestern hat es zwischen dem Bundesamt für Güterverkehr und den Unternehmern eine Verabredung gegeben. Infolgedessen kann ich heute feststellen, dass das
im Juli von uns eingeführte verschärfte Kontrollsystem
- uns gegenüber ist vorher zugegeben worden, dass Probleme bestehen - mittlerweile ein gutes Stück vorangekommen ist und dass ab morgen eine neue Phase der Erprobung des Mautsystems startet. Die Unternehmen
haben sich verpflichtet, bis zum Wochenende alle noch
offenen Fragen zu klären und Funktionsüberprüfungen
vorzunehmen. Die Unternehmen werden unseren Fachleuten die Ergebnisse am 29. und am 30. September in
einem Workshop darstellen. Danach werden das BAG
und die Unternehmen gemeinsam festlegen, wie der Probebetrieb gestartet werden kann.
Der Probebetrieb ist wichtig. In der Auswertung wird
noch herauszufinden sein, welche Probezeit man
braucht. Uns hat das Bundesamt noch einmal erklärt: Bei
Erfüllung aller Voraussetzungen ist auch ein Start am
2. November erreichbar. Ich kann nur sagen: Ich fordere
das nicht, auch auf die Gefahr hin, dass wieder eine
Welle von Beschimpfungen auf mich zukommt. Mir ist
nämlich viel wichtiger, dass dieses System verlässlich
startet, als dass wir einigermaßen stotternd in die Gänge
kommen. Das würde keinem helfen.
({3})
Durch die Nichteinhaltung des Starttermins
31. August gibt es natürlich Vertragsverletzungen. Das
liegt auf der Hand, das weiß jeder und das bedeutet für
uns auch Einnahmeausfälle: jeden Monat 156 Millionen
Euro. Aber bevor es nicht losgeht, gibt es auch keine
weiteren Leistungen, weder eine Beteiligung an den Betreiberkosten noch eine Beteiligung an den Investitionskosten, die wohl bei etwa 0,5 Milliarden Euro liegen.
Wir konnten im Hinblick auf die Einnahmeausfälle
mit dem Bundesfinanzministerium eine Auffangregelung vereinbaren. Sie sieht vor, dass wir bis etwa 2006
die Mittel zur Deckung der Einnahmeausfälle erwirtschaften werden. Ich erkläre hier feierlich und verbindlich:
({4})
Damit ist ganz sicher, dass es keine Verzögerungen von
Infrastrukturinvestitionen durch fehlende Mauteinnahmen geben wird. Das werden wir durchsetzen können,
allein schon deshalb, weil wir diese Infrastrukturmaßnahmen brauchen.
({5})
Wir stehen jetzt vor der Vertragsanpassung. Sie ist
zwingend. Wir befinden uns aufgrund der vereinbarten
Vertraulichkeit noch - ich hoffe, nicht mehr lange - ein
bisschen in Verlegenheit; es wird ständig über all die
Fehler im Vertrag und über die nicht genutzten Möglichkeiten gesprochen. Ich bin an einer Offenlegung sehr interessiert, sodass ein faires Urteil darüber getroffen werden kann, wie der erste große Vertrag über Public Private
Partnership in Deutschland gestaltet worden ist. Dieser
Vertrag ist kein Staatsvertrag; dahinter steht vielmehr
das Bemühen, private Partner - auch als Betreiber - in
ein gesellschaftlich wichtiges Vorhaben einzubeziehen.
Wir werden eine neue Grundlage finden müssen. Sie
haben dankenswerterweise auf die Eckpunkte hingewiesen. Das ist eine erste Disposition, die aufzeigt, was
noch geklärt werden muss. Zur Vertragsanpassung
kommt also noch einiges hinzu: Die Termine müssen besprochen werden und die Zahl der OBUs muss noch angepasst werden. Wir haben ursprünglich 150 000 vorgesehen; inzwischen sind mindestens 450 000 geplant.
Herr Fischer, auch Sie haben schon erwähnt: Aufgrund
des veränderten Starttermins wird über die Vertragsstrafen geredet werden müssen. Wir werden natürlich auch
über Haftungsfragen reden müssen, die bei Störungen
und Systemausfällen eintreten.
({6})
Wir haben mit den Partnern natürlich die Finanzausfälle zu erörtern. Sie können davon ausgehen, dass der
Vertrag keine haftungsfreie Zeit vorsieht. Ich hoffe, es
gibt bald einen Weg, dass Sie in den Vertrag hineinsehen
können. Die Lasten durch die Nichterfüllung werden
nicht vom Bund allein getragen werden. Wir befinden
uns also noch sozusagen mitten auf der Baustelle;
({7})
aber der Wille zum Erfolg und zur Zusammenarbeit ist
vorhanden. Der Zeitpunkt der Klärung und damit auch
die Sichtung von Verantwortlichkeit sind nahe.
Natürlich wird der Minister der Allererste sein, der
sich der Verantwortung zu stellen hat. Es wird zu überlegen sein, wo Versäumnisse und Schäden aufgetreten
sind, die er mit zu verantworten hat. Auch die anderen
Mitarbeiter werden sich der Verantwortung stellen; niemand duckt sich.
Solange noch Klärungen notwendig sind, ist die erste
Aufgabe, dass wir die Maut in Gang setzen, dass wir
dort unserer Verpflichtung nachkommen und uns auch
nicht irremachen lassen. Wir können uns hinterher alles
sehr genau ansehen.
({8})
Aber jetzt gilt meine Bitte: Reden Sie das System nicht
schlecht! Wir brauchen es in Deutschland.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister, das war ja nun Manfreds Märchenstunde auf hohem Niveau.
({0})
Allerdings frage ich mich, ob ich mehr erschrocken sein
muss über die Blauäugigkeit, mit der Sie, Herr Minister,
immer noch glauben, dass der 2. November auch nur den
Hauch einer Realisierungschance hat, oder über die
Dreistigkeit, mit der Sie hier Tatsachen verdrehen und
vor allem versuchen, uns als Opposition vorzuwerfen,
wir würden die arme deutsche Industrie, die ausgewiesenen Mittelständler Daimler-Chrysler und Telekom,
schlecht reden. Das ist doch gar nicht der Punkt, Herr
Minister!
Horst Friedrich ({1})
Sie haben als Vertragspartner ein Controllingsystem
aufzubauen, das Schwächen aufzeigt. Sie haben die Verpflichtung gegenüber dem Deutschen Bundestag, aufzuzeigen, wo Haushaltsrisiken bestehen.
({2})
Offensichtlich werden Sie in beiden Fällen Ihrer Verantwortung in keiner Weise gerecht.
({3})
Im Vertrag steht, dass am 16. Juni ein Probebetrieb
beginnen soll. Der konnte gar nicht beginnen, weil die
technischen Voraussetzungen überhaupt nicht vorhanden
waren. Weder gab es funktionierende OBUs, also On
Board Units, wie es Neudeutsch so schön heißt, noch
gab es alternativ entsprechende Terminals an den Autobahnen, noch gab es eine irgendwie geartete und geeignete Software, die man nachprüfbar hätte installieren
können. Wir haben jetzt immer noch - Stand: gestern Geräte, die neben der Autobahn Gebührenpflicht anzeigen, aber auf der Autobahn anzeigen, dass Mautfreiheit
besteht. Das Gegenteil sollte eigentlich der Fall sein.
Ich habe das in dieser Woche extra noch einmal eigenhändig getestet.
({4})
Nach 15 Minuten haben sowohl das Terminal als auch
ich entnervt aufgegeben, obwohl ich die Sprachen beherrsche, die vorgegeben sind,
({5})
und auch in der Lage bin, mit dem Gerät einigermaßen
umzugehen. Ich frage mich nur, was passiert, wenn jemand das anwenden soll, der nicht eine der vier Sprachen spricht.
({6})
- Deutsch ist eine der vier Sprachen, Herr Kollege Weis;
darauf können wir uns hier im Deutschen Bundestag
vielleicht einigen.
Es ist also so, dass schon bei der Installation der
Hardware, also der technischen Ausstattung, Probleme
bestehen. Wenn das zutrifft, was zu lesen ist, dann hat
das Konsortium - nicht der Deutsche Bundestag, nicht
seine Abgeordneten - gestern wieder eine große Rückrufaktion für diese Geräte gestartet; mehr als 20 000 sind
zurückgerufen worden.
({7})
- Ich habe ja gar nicht vom Minister gesprochen.
({8})
- Das Konsortium hat die Geräte zurückgerufen. Das
führt Sie aber nicht dazu, noch einmal nachzufragen,
sondern Sie stellen sich heute hier hin und sagen: Wir
sind weiter in einem Workshop und werden das Ganze
betreuen. - Diese Diktion kenne ich schon aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zu diesem Thema, in der Sie formuliert haben:
Die Bundesregierung hat sich mit der Betreibergesellschaft TC darauf verständigt, dass das Mautsystem am 31. August 2003 mit einer Einführungsphase starten und zum 2. November 2003 mit der
Mauterhebung begonnen werden soll.
Jetzt kommt es:
Die Betreibergesellschaft TC hat zugesichert, dass
die dazu erforderlichen technischen Voraussetzungen geschaffen werden.
Das ist die offizielle Antwort der Bundesregierung auf
unsere Kleine Anfrage.
({9})
Nun frage ich Sie: Wie bewerten Sie denn das, was
das Konsortium Ihnen an technischen Zusagen bisher
gegeben hat? Ist das das, was Sie uns da geschrieben haben, oder ist das, was tatsächlich Realität ist, das Gegenteil von dem, was Sie uns deutlich zu machen versuchen?
({10})
Ich sage noch einmal: Das hat nichts damit zu tun,
dass irgendjemand die Maut schlechtreden will. In diesem Punkt sind wir uns einig: Das System muss funktionieren. Nein, die Maut - dieser Meinung sind auch wir muss kommen. Nur: Im Unterschied zu Ihnen sehen
wird den Start der Maut - so haben wir es politisch immer gesehen - als einen echten Einstieg in den Umstieg
der Finanzierungssysteme. Sie wollen politisch aber etwas ganz anderes. Sie wollen den Straßenverkehr teurer
machen, damit der Verkehrsträger Schiene - angeblich Chancen hat,
({11})
die er durch dieses System aber nie erreichen wird. Das
ist der eigentliche gravierende politische Unterschied.
({12})
Blauäugig, wie Sie nun einmal sind, erklären Sie - heute
wieder -, dass der Maut-Einnahmeausfall, der sich in
diesem Jahr sicherlich auf schätzungsweise 700 Millionen Euro summieren wird, im nächsten und übernächsten Jahr ohne Probleme in Ihrem Haushalt ausgeglichen
werden kann, ohne dass Projekte gestrichen werden
müssen oder sonst etwas verändert werden muss. Dazu
kann man als Gesetzgeber, vor allem als Haushaltsgesetzgeber, nur sagen: Bei den Haushaltszahlen, bei den
Ansätzen des Jahres 2004 ist das, Herr Minister, eigentlich die größte Frechheit.
({13})
Horst Friedrich ({14})
Demjenigen, der sich dann hinstellt und sagt, wir sollten
doch alle zusammenstehen und nicht so kritisch sein,
kann ich nur sagen: Er ist entweder blauäugig oder lebt
völlig losgelöst von der Realität.
Wir behalten uns vor diesem Hintergrund nach wie vor
die Möglichkeit vor, am Ende des Tages, wie Sie immer so
schön sagen, vielleicht auch einmal über einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss nachzudenken.
({15})
Das, was hier geboten wird, kann nicht das letzte Wort
sein. Sie als Verkehrsminister sind hierfür politisch verantwortlich. Da macht es auch keinen Sinn, wenn der
Kollege Danckert die Kollegin Mertens und den Herrn
Nagel zum Rücktritt auffordert. Das ist ja bloß ein Ablenkungsmanöver. Sie sind derjenige, der die Verantwortung trägt. Sie werden an dieser auch gemessen.
Danke sehr.
({16})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,
dass ich schon so viele Zwischenrufe von allen Seiten
des Hauses bekommen habe, obwohl ich noch gar keinen Satz gesagt habe. Das ehrt mich. Danke schön.
Was in diesen Tagen auf den Bildschirmen zur Einführung des Mautsystems zu sehen ist, erinnert mich - das
muss ich ehrlich sagen - manchmal an die Sendung
„Versteckte Kamera“.
({0})
Da wurde behauptet, es gebe Mautterminals an Stellen,
wo gar keine waren. Da wurden On Board Units geliefert, die beim Umdrehen des Zündschlüssels durchbrannten, weil kein Spannungsregler eingebaut war. Da
musste erst vom Kartellamt durchgesetzt werden, dass
auch freie Firmen On Board Units einbauen dürfen,
nachdem es die Vertragswerkstätten nicht geschafft hatten. Da gibt es On Board Units, die beginnen, rückwärts
zu laufen; das heißt, sie zählen Guthaben, statt gefahrene
Strecken abzurechnen. Da werden jetzt, wie Sie alle gelesen haben und auch schon angesprochen wurde,
20 000 On Board Units zurückgerufen, weil die Software defekt ist.
Meine Damen und Herren, es fällt mir manchmal
schwer, daran zu glauben bzw. mich daran zu erinnern,
dass wir es hier nicht mit Seifenblasenfirmen des Neuen
Marktes, sondern mit Marktführern mit Namen von
Weltklang zu tun haben: Daimler-Chrysler, Telekom; inzwischen sind auch Grundig und Siemens mit im Boot.
({1})
Für mich ist das eigentliche Problem - das sage ich allen
Ernstes -, dass das Konsortium - und nicht diejenigen,
die es schlechtreden - selbst dabei ist, aus einem Begriff
mit einem guten Klang, nämlich „Made in Germany“,
ein „Fake in Germany“ zu machen
({2})
und damit das Image der deutschen Industrie massiv zu
beschädigen und Exportchancen für die Zukunft zu verspielen.
Ich kritisiere auch, dass die Firma Toll Collect bis
heute keine für mich erkennbare und akzeptable Kommunikationsstrategie hat. Sie versteckt sich selbst. Mir
kommt die Firma Toll Collect im Moment wie eine
große Blackbox vor, so, als wäre sie selbst eine große,
nicht funktionierende On Board Unit.
({3})
Deshalb verstehe ich jeden, der hier Kritik daran übt,
was nicht funktioniert, und Verbesserungen fordert, und
zwar von denen, die Fristen zugesagt haben, sich vertraglich verpflichtet und jetzt auch die Leistung zu erbringen haben.
Ich verstehe aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass man ausgerechnet den Minister, der den Widerstand der EU-Kommissarin in Brüssel ausgeräumt hat, der durch intensives Controlling die
Zügel in die Hand genommen und durch Arbeitsgruppen
auf allen Ebenen fester gezogen hat, der sich die Dinge kritischer anschaut und prüft, ohne sie sofort schlechtzureden, jetzt zum Hauptschuldigen der ganzen Misere erklärt.
({4})
Sie tun doch so, als hätte der Minister von vornherein
mit der Grundeinstellung an das Geschäft herangehen
müssen: Diese Firmen haben zwar einen Vertrag unterschrieben; aber ich weiß schon heute, sie können ihn
nicht erfüllen. Eine solche Haltung, liebe Kolleginnen
und Kollegen, zeugt von einer Selbstgerechtigkeit, die
zum Himmel stinkt.
({5})
Ich erinnere Sie daran, dass Sie alle, als Toll Collect
im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages dieses System vorgeführt hat, mit glänzenden Äuglein dagestanden und geglaubt haben, dass alles wie geschmiert
laufe. Da hat kein Einziger von Ihnen gesagt, das werde
nicht funktionieren. Im Gegenteil!
({6})
Albert Schmidt ({7})
- Herr Fischer, Sie sind doch die Technologiegläubigkeit
in Person. Wie oft haben Sie uns hier im Bundestag das
Wunderwerk Transrapid aufschwatzen wollen!
({8})
Ich bin froh, dass uns wenigstens dieses Experiment erspart geblieben ist.
({9})
Mich stört nicht Ihre Kritik an dem, was nicht funktioniert, sondern mich stört Ihre Selbstgerechtigkeit. Sollen wir jetzt über den Rücktritt von Staatssekretärinnen
und Staatssekretären oder von Ministern diskutieren,
({10})
weil On Board Units ohne Spannungsregler geliefert
worden sind, weil vertragliche Verpflichtungen offenbar
nicht erfüllt worden sind?
Besonders scheinheilig ist die Aussage, wenn auch
der 2. November dieses Jahres von der Industrie nicht zu
halten sei, dann müsse der Minister zurücktreten. Dazu
muss ich Ihnen sagen: Es war niemand anders als der
Minister selbst, der in dem Gespräch am 30. Juli dieses
Jahres dem Konsortium anheim gestellt hat, auf einen
realistischen Termin der Einführung, den sie nur selbst
beurteilen kann, auszuweichen, und sei es Anfang 2004.
Es war das Konsortium, das auf dem Termin
2. November insistiert hat. Daraus jetzt dem Minister einen Strick drehen zu wollen ist zumindest in höchstem
Grade unfair.
({11})
Nein, wir haben hier nicht über das Schicksal zweier
Staatssekretäre zu diskutieren, sondern über das reale
Versagen deutscher Konzerne und - da beißt die Maut
keinen Faden ab - deren Verantwortung bei einem Vorzeigeprojekt der öffentlich-privaten Partnerschaft. Public
Private Partnership funktioniert nur bei gemeinsam
wahrgenommener Verantwortung und nicht bei Verantwortungsverschiebung allein auf den Auftraggeber.
({12})
Ich habe von dem Imageschaden der deutschen Industrie gesprochen. Hinzu kommt eventuell ein Schaden
durch möglicherweise verspielte Exportmärkte und dadurch verlorene Aufträge und Arbeitsplätze von morgen.
Wenn diese vergeigt werden, ist das ein Schaden für den
Standort. Auch die im Bundeshaushalt veranschlagten
Mauteinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe erweisen
sich nun als illusionär.
({13})
Das wird selbstverständlich zulasten von Verkehrswegeprojekten auf der Straße und der Schiene gehen. Da werden Projekte verschoben werden müssen; das ist ganz
klar.
Angesichts dieses dreifachen Schadens muss die Haftungsfrage beantwortet und dieser Vertrag offen gelegt
werden.
({14})
Wir müssen wissen: Wie sieht es aus mit den Fristen, mit
dem Leistungsumfang, mit der Gewährleistung, mit den
Entgelten, mit Haftungsregeln? Mein Eindruck war in
den letzten Tagen nicht, dass der Minister mit der Offenlegung ein Problem hat,
({15})
sondern mein Eindruck ist, dass andere ein Problem damit haben.
({16})
Ich kann zum Schluss an die Adresse des Konsortiums
nur sagen: Ändern Sie Ihre Kommunikationsstrategie!
Machen Sie Schluss mit dem Katz-und-Maut-Spiel gegenüber dem Deutschen Bundestag!
({17})
Jetzt müssen die Karten auf den Tisch. Nennen Sie endlich einen realistischen Starttermin, den Sie wirklich garantieren können! Dann, glaube ich, können wir ernsthaft und auf der Basis solider Informationen miteinander
über Verantwortung reden.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Oswald.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Albert Schmidt, wer die Verantwortung nur den Mautbetreibern zuschiebt, vergisst,
dass es bei diesem Vertrag zwei Partner gibt. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung. Dies kann man
nicht wegreden oder in irgendeiner Weise verwischen.
({0})
Der Kanzler hat den Journalisten auf dem Flug nach
New York erzählt: „Manfred sagt: Die Maut kommt.“
Das glaube auch ich. Aber wann, das ist hier die Frage.
({1})
Ich lese Ihnen einige Meldungen vor: „Die Maut
kommt pünktlich.“ „Vorbereitungen laufen wie geplant.“
„Keine Engpässe bei Abrechnungsboxen.“ Solche Meldungen hätten wir uns hier in Deutschland gewünscht.
Aber es sind Berichte aus unserem Nachbarland Österreich, wo zum Jahresbeginn eine Maut eingeführt wird.
Bei uns klappt das nicht. Die Fachwelt hält den verzögerten Mautstart am 2. November nicht mehr für haltbar.
Herr Bundesminister, niemand von uns in der Opposition redet das System schlecht. Aber Rot-Grün hat eine
beträchtliche Chance für den Wirtschaftsstandort
Deutschland verspielt; das ist eine Tatsache.
({2})
Es wurde versäumt, Maut und Technik zum Exportschlager zu machen. Stattdessen bekommt die Fernsehsendung „Pleiten, Pech und Pannen“ ein neues Highlight.
({3})
Wir haben Ihnen im Vermittlungsausschuss von Bund
und Ländern die Hand gereicht. Wir haben Ja zur LKWMaut gesagt, weil damit eine verursachergerechte Anlastung der Wegekosten möglich wird.
({4})
Wir wollen aber ein störungsfreies System und keine
Flickschusterei. Nur 14 Prozent aller mautpflichtigen
Fahrzeuge verfügen zurzeit über funktionierende On
Board Units. Schon gibt es neue Meldungen über den
Rückruf von 20 000 defekten Mautboxen. Auch von den
Kontrollbrücken ist nur ein geringer Teil einsatzfähig.
({5})
Wir wollen, dass die Maut die Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Transportgewerbe nicht noch weiter verschlechtert. Den Mineralölsteuerrückerstattungen
in einigen EU-Ländern haben Sie zugestimmt. Dann
müssen Sie jetzt auch für einen Ausgleich bei uns sorgen. Deshalb wollen wir die Einhaltung der dem LKWGewerbe gegebenen Entlastungszusagen. Auf dem europäischen Verkehrsmarkt dürfen unsere Unternehmen
nicht weiter zurückfallen. Ohne Harmonisierung wird es
keine Akzeptanz beim deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe geben.
({6})
Wir wollen, dass die Mauteinnahmen zusätzlich der
Verkehrsinfrastruktur, dem Straßenbau zugute kommen,
wie es verabredet war. Wir werden keinesfalls hinnehmen, dass die Mautausfälle zulasten der Verkehrsinfrastruktur gehen.
Für mich ist klar: Das Controlling durch die Bundesregierung hat nicht funktioniert, wenn es überhaupt eines
gab. Das alles wird noch zu prüfen sein.
Noch kurz vor der letzten Bundestagswahl wurden
ganz schnell - ich wiederhole dies immer wieder - die
Verträge unterschrieben, dann in aller Eile Ende Juli
noch ein Eckpunktepapier. Das Ergebnis sehen wir jetzt:
erst „Hopp, hopp!“, dann „Flop, Flop“.
({7})
Vielleicht stellt sich Rot-Grün einmal die Frage, wie
ein Ministerium funktioniert. Bei der rot-grünen Regierungsübernahme 1998 wurden in dem neu gebildeten
Ministerium erst einmal sechs von sieben Abteilungsleitern ausgewechselt. Übrigens hat sich längst gezeigt,
dass parteipolitische Ergebenheit Fachkenntnisse nicht
ersetzen kann.
({8})
Sie, Herr Bundesminister Stolpe, haben auch bei der
LKW-Maut wieder personelle Veränderungen im Hause
vorgenommen. Man braucht gute Leute. Vielleicht haben Sie sich - Sie sind ja ein gebildeter Mann - an
Winston Churchill erinnert, der gesagt hat: „Ein kluger
Mann macht nicht alle Fehler selber. Er gibt auch anderen eine Chance.“
({9})
Aber warum haben Sie eigentlich die Verantwortung
nicht in die Hände eines Ihrer Staatssekretäre gelegt? Sie
verfügen doch über fünf. Das ist schon der Nachfrage
wert.
({10})
Wir brauchen Aufklärung ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Ohne eine völlige Offenlegung der Verträge
- Transparenz auf jeder Seite - wird keine Klarheit geschaffen. Nur wenn wirklich offen gelegt wird, ist zu beweisen, dass die Regierung sich nicht hat über den Tisch
ziehen lassen. Es reicht nicht, zu sagen, man habe lange
telefoniert. Hat die Führung des Hauses wirklich alle
Möglichkeiten bei der EU genutzt oder haben Sie immer
nur die Arbeitsebene vorgeschickt?
Sie haben heute feierlich etwas zu den Finanzen erklärt. Aber wir werden das sehr genau hinterfragen. Wir
brauchen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, damit Deutschland nicht weiter im Stau steht. Sie wissen,
wie notwendig die Mittel sind. Sie müssen sich beim
Präsidenten - - Nein, nicht beim Präsidenten. Das Licht
des Präsidenten leuchtet. ({11})
Sie müssen sich beim Finanzminister durchsetzen.
Helfen Sie auch dem deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe. Das ist entscheidend.
Sie wissen, warum das Licht leuchtet, nicht wahr?
({0})
Das weiß ich.
Daher sage ich den Schlusssatz: Machen Sie die
LKW-Maut systemsicher
({0})
und EU-verträglich! Wahren Sie das Interesse des deutschen LKW-Gewerbes! Sorgen Sie für Finanzmittel für
die deutsche Verkehrsinfrastruktur! Es muss Schluss sein
mit dem Debakel. Deutschland braucht Klarheit, wie es
mit der LKW-Maut weitergeht.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt gerade den Repräsentanten der CDU/CSU erlebt, die in Deutschland lange regiert und keine Maut
oder Ähnliches auf die Beine gebracht hat.
({0})
Gerade die CSU hat zweimal den Verkehrsminister gestellt. Warnke hat von einer Schwerverkehrsabgabe
schwadroniert. Old Schwurhand ist auf die Nase gefallen;
({1})
der Europäische Gerichtshof hat das damals aufgehoben.
Sie haben in dieser Sache immer nur geredet und geschwätzt.
({2})
Die rot-grüne Koalition hat seit 1998 gehandelt. Das ist
der entscheidende Unterschied.
({3})
Jetzt kommen die Unken. Dabei stimmten wir alle darin überein, ein weltumspannendes, neues Netz einzuführen. Leistungsfähige Unternehmen haben sich verpflichtet, das zu machen, und haben uns allen erklärt,
dass sie das können. Aber Ihre Freunde von der Telekom
und von Daimler-Chrysler haben es nicht zustande gebracht; sie haben sich übernommen und wollen die Verantwortung jetzt dem Minister in die Schuhe schieben.
Reden Sie mit Ihren Freunden in der Industrie und sagen
Sie ihnen, dass sie den Mund zu voll genommen haben,
anstatt bei Manfred Stolpe etwas abzuladen, wofür er
nichts kann!
({4})
Jedes große Projekt hat seine Krisen. Da gibt es solche, die wie Sie reagieren: Sie laufen durcheinander wie
eine wilde Horde Federvieh, schreien nach Schadenersatz und Klagen. Da gibt es andere wie Manfred Stolpe,
der danach fragt, wie man die Sache zum Erfolg führen
kann. Das ist der alte Bellheim und Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, sind hier eher die Hanswurste.
({5})
Es ist unglaublich, angesichts des engen Zeitplans
wild durcheinander zu laufen. Jetzt kommt es in erster
Linie darauf an, die Freunde von der Industrie an die
Hand zu nehmen und sie zu zwingen, dass sie das Projekt zum Erfolg führen. Die Partnerschaft sieht so aus
- das sage ich, damit das klar ist -, dass im ersten Teil
die Industrie vorleistungspflichtig ist. Aber nun melden
sich Leute wie ausgerechnet der Oswald zu Wort und
wollen unbedingt den Vertrag einsehen, um zu überprüfen, ob alles in ihm okay ist. Mein lieber Mann! Wer als
Nichtjurist behauptet, einen 12 000-seitigen technischen
Vertrag mit allem Drum und Dran
({6})
- ja, mit Anlagen; daran sieht man, dass Sie keine Ahnung haben - nur aufgrund der Mantelvereinbarung und
ohne Kenntnis der technischen Anlagen auf seine Folgen
hin beurteilen zu können,
({7})
der hat von technischen Verträgen null Ahnung.
({8})
Sie setzen auf die Ahnungslosigkeit der Menschen nach
der Methode: Kinder, recherchiert nicht zu viel; es hetzt
sich dann so schlecht. - So ist doch Ihr Vorgehen.
({9})
Der Minister führt das Projekt zum Erfolg. Er passt
auf, dass hinterher diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die nicht zum Erfolg beigetragen haben.
({10})
Unser Minister hat im Gegensatz zu Ihnen die Harmonisierung vorangebracht.
({11})
Er hat die Kommission überzeugt.
({12})
Sie aber haben nur geschwätzt und Forderungen gestellt.
Damit haben Sie denen in die Hände gespielt, die uns
aufhalten wollen und die in Wahrheit nicht wollen, dass
das Projekt realisiert wird. Das ist doch die Wahrheit.
({13})
Wir müssen alles daransetzen - dafür werden wir uns
einsetzen und kämpfen -, dass die Maut funktioniert und
dass es keine negativen Auswirkungen auf die Investitionen gibt. Ihre schlauen Bemerkungen helfen uns nicht.
Sie werden doch die Ersten sein - gerade die CSU-Vertreter haben im Auto immer den Spaten dabei -, die sich
um Spatenstiche drängen, wenn die Baustellen eröffnet
werden. Aber hier schüren Sie Zweifel.
({14})
Wir werden das Projekt unter Führung von Manfred
Stolpe zum Erfolg führen, der in Ruhe und Festigkeit
- und nicht zappelig wie Sie - die Sache voranbringt.
Herzlichen Dank an den Bundesminister und seine Mitarbeiter!
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach der Lehrstunde von Herrn Stiegler sind
wir in der Verkehrspolitik einen entscheidenden Schritt
weitergekommen.
({0})
Wir werden sehen, was bei der Sache herauskommt.
Heute geht es um die Maut und um deren unendliche
Geschichte. Heute geht es um Einführungstermine, um
die Höhe des finanziellen Schadens und natürlich auch
um einige Randbedingungen.
Dass das Mautdesaster inzwischen gigantische Ausmaße angenommen hat, darüber sind wir uns alle im
Klaren. Bei den Spediteuren herrscht ein komplettes
Durcheinander: Die Geräte reichen nicht. Die Geräte
funktionieren nicht. Die Geräte passen nicht. Über Zusatzkosten spricht keiner.
Herr Schmidt, wir sind uns gewissermaßen einig; Sie
haben vorhin die gleichen Fehler dargelegt. Bloß, den
von Ihnen hergestellten Zusammenhang mit dem Transrapid kann ich nicht nachvollziehen.
({1})
Der Transrapid fährt; die Maut klappt nicht. Er fährt in
China, weil Sie ihn in Deutschland verhindert haben.
Das ist der Unterschied.
({2})
Es rumort im Zusammenhang mit der Maut. Deshalb
sollten wir nicht nur über das Chaos beim Starttermin
sprechen, sondern auch über einige Nebenwirkungen.
Der Bundesverband Güterkraftverkehr hat seit langem
auf Probleme hingewiesen, die existenzielle Bedeutung
für das Gewerbe haben. Neben der Tatsache, dass viele
LKWs aufgrund des Ein- und Ausbaus der Geräte nutzlos in den Werkstätten herumstehen, gibt es nämlich
nicht wenige Unternehmen, die Existenzsorgen haben.
In meinem Land Sachsen fragen sich zum Beispiel
30 Prozent der Unternehmer - denn in diesem Bereich
sind in der Regel kleine und mittelständische Unternehmer anzutreffen, die im Regelfall bis zu vier Beschäftigte haben -, wie sie den Start der Maut überhaupt überleben sollen. In Sachsen haben 70 Prozent dieser
Unternehmen eine solche Betriebsgröße. Viele davon
können nicht an der automatischen Abbuchung teilnehmen, weil ihnen durch die Banken nicht der dafür notwendige Kreditrahmen eingeräumt wird. Angesichts eines Zahlungsziels von durchschnittlich 90 Tagen in
diesem Gewerbe verfügen viele kleinere Unternehmen
nicht über ausreichend Eigenkapital, um den Vorauszahlungen nachkommen zu können.
Von der versprochenen Harmonisierung in Europa ist
relativ wenig zu spüren. Bisher ging es höchstens um
eine Kostendeckung. Das bedeutet für diese kleinen Unternehmen: Anstellen an den Terminals, Zeitverlust,
Zahlung mit Bargeld und Wettbewerbsnachteile.
({3})
Das Ergebnis im Zusammenhang mit der Maut ist für
den Güterkraftverkehr niederschmetternd. Im Landesverband Sachsen stehen 10 000 Arbeitsplätze zur Disposition. Die Maut klappt nicht. Betriebe mit wenig Eigenkapital - hiervon ist vor allem wieder der Osten betroffen kommen nicht voran. Es gibt weitere Versuche, in Richtung Osteuropa umzuflaggen. Vom Ministerium aber
kommen nur Durchhalteparolen und Fehlinformationen.
Joachim Günther ({4})
Ein weiterer Schwerpunkt, der in der Diskussion nach
wie vor fast ausgeklammert wird, ist die Situation der
Unternehmer in strukturschwachen Gebieten. Dort fallen
naturgemäß mehr Leerkilometer an als in Ballungsräumen. Strukturschwache Gebiete gibt es nicht nur im Osten Deutschlands, sondern auch in Schleswig-Holstein
und Oberfranken.
({5})
- Es geht nicht generell um die Maut. Ich habe über eine
Harmonisierung gesprochen. Hier sind wir nicht entscheidend vorangekommen; das muss man in diesem
Zusammenhang deutlich sagen.
({6})
Herr Minister Stolpe, Sie sind sich doch hoffentlich
darüber im Klaren, dass Sie den Hut nicht nur für die
Maut als Ganzes aufhaben, sondern auch für die Arbeitsplätze, um die es in diesem Zusammenhang geht. Viele
dieser Arbeitsplätze sind bedroht; das kann man nicht
wegdiskutieren.
Vor wenigen Tagen haben Sie in der Presse erklärt,
woher der Name Stolpe stammt. Ich fand das ganz interessant. Nicht von stolpern, sondern von Säule, von
Nicht-schnell-umfallen sei er hergeleitet. Ihr Ministerium hat drei tragende Säulen: den Verkehr, den Bau und
den Aufbau Ost. Ihr Handling im Verkehrsbereich bzw.
bei der Maut hat Chaos und leere Kassen hinterlassen.
Der Baubereich steckt in der Krise. Vom Aufbau Ost ist
nichts mehr zu spüren.
All das, was Sie anpacken, scheint wie Pech an Ihnen
zu kleben. Haben Sie also den Mut, an diesen Säulen zu
rütteln! Gehen Sie in den wohl verdienten Ruhestand!
Denn wir brauchen keine starren Säulen. Wir brauchen
Bewegung bei der Maut und eine angemessene Harmonisierung. Wir brauchen wieder Hoffnung im Bauwesen
und wir wollen nicht, dass der Aufbau Ost in der gleichen Katastrophe endet wie Ihre Maut.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind in einer Situation, in der das tägliche Morgengebet der FDP „Die Privaten können und machen alles
besser“ offenbar nicht oder zumindest nicht sehr schnell
in Erfüllung geht. In einer solchen Situation halte ich es
für regelrecht unverantwortlich, davon abzulenken, ständig Minister-Bashing zu machen und so zu tun, als sei
die Politik für das verantwortlich, was die Privaten machen.
({0})
Ich sage das deswegen mit dieser Deutlichkeit, weil
wir in Zukunft in vielen Bereichen mehr Public Private
Partnership wollen. Wenn das dazu führt, dass die Privaten entlastet und quasi heilig gesprochen werden und die
Politik auch für das, was sie überhaupt nicht zu verantworten hat, zur Rechenschaft gezogen wird, tun wir der
Sache nichts Gutes. Wenn ich jetzt Chefin von Toll Collect wäre - was ich glücklicherweise nicht bin -, würde
ich mich zurücklehnen und sagen: Warten wir doch, bis
sie den Minister von seinem Posten geschoben haben;
({1})
ich brauche mich doch nicht darum zu kümmern, dass
das endlich funktioniert. - Es kann doch nicht wahr sein,
dass wir die Verantwortung nicht bei denen lassen, die
sie übernommen haben! Darauf bauen unsere Gesellschaft und unser Rechtssystem auf. Ich erwarte auch von
der Opposition, dass sie klar zwischen den jeweiligen
Verantwortlichkeiten unterscheidet.
({2})
Es geht nicht darum, ob Rot-Grün die Probleme benennen kann. Das können wir. An erster Stelle stehen dabei aber eindeutig die Probleme der Wirtschaft. Diese ist
bis heute nicht in der Lage, das Funktionieren zu gewährleisten. Die Punkte sind alle schon genannt worden.
Was ich aber jetzt bei Toll Collect und dem dahinter
stehenden Konsortium fast noch schlimmer finde, ist,
dass sie auch heute noch ständig das Versprechen abgeben, sie würden es morgen schaffen; wir müssten nur einen Tag warten, dann würde alles klappen. Das halte ich
für zynisch und das werfe ich denen auch vor. So dürfen
Toll Collect und das dahinter stehende Konsortium aus
Daimler-Chrysler, Telekom und Cofiroute nicht mit der
Politik, der deutschen Öffentlichkeit und dem Steuerzahler umgehen. Das darf von Ihnen nicht auch noch ständig
entschuldigt werden. Das ist zurzeit nämlich unser Problem.
({3})
Wir müssen aber auch die Verantwortlichkeiten auf
der politischen Seite ansprechen. Ein großes Problem ist,
dass der Vertrag unter zu große Vertraulichkeit gestellt
wurde. Auch haben wir bis heute keine Klarheit über die
Haftungs- und Schadensersatzregelungen und wahrscheinlich war die Politik, aber nicht nur das Ministerium, sondern auch wir Abgeordneten, zu lange zu gutgläubig.
Ich wiederhole das, was vorhin auch schon Ali
Schmidt gesagt hat: Im Juni hat sich der Verkehrs- und
Bauausschuss alles vorführen lassen.
({4})
Wir alle - nicht nur Sie, sondern wir auch - haben bewundert, wie toll das klappt. Die Industrie hat uns weisFranziska Eichstädt-Bohlig
gemacht, morgen würde alles funktionieren. De facto
war es wie auf dem Jahrmarkt: Drei oder vier Wochen
später wurden wir darüber belehrt, dass das alles nicht
funktioniert. Das war ein falsches Versprechen von
Daimler-Chrysler und der Telekom, von unserer Spitzenindustrie. Das muss man auch laut und deutlich sagen.
({5})
Man muss aber auch sagen, worum sich gerade Minister Stolpe in hohem Maße positiv kümmert. Er macht
enormen Druck und sorgt dafür, dass die Arbeitsgruppe
fast täglich an dem Problem arbeitet. Er ist derjenige, der
uns in der EU hinsichtlich der Einführung der Maut wieder den Rücken freigekämpft hat, Sie haben uns doch die
Schwierigkeiten mit der Harmonisierungsregelung eingebrockt.
({6})
Auch hier sollten Sie nicht so selbstgerecht sein, sondern
zugeben, welche Fehler Sie gemacht haben.
Ich möchte noch einmal sagen: Bei allen unseren
Startschwierigkeiten - ich finde, darüber sollten wir ehrlich reden - dürfen wir das Maut-System als Ganzes
nicht schlechtreden. Damit werden wir über kurz oder
lang einen Exportschlager haben. Wir wollen die anspruchsvollste und modernste Mautregelung haben, eine
technologisch wirklich vorbildliche Systematik, die wir
dann im Wege des Exports an andere Länder weitergeben können. Insofern fördern wir damit letztlich ein großes und wichtiges Forschungs- und Entwicklungsprojekt. Dass wir damit Anlaufschwierigkeiten haben, ist
nicht verwunderlich. Wir hätten uns auch gewünscht,
dass der Plan etwas pünktlicher erfüllt worden wäre, als
es jetzt der Fall sein wird.
Seien Sie daher bitte nicht so euphorisch im Miesmachen, dass wir damit das ganze System schlechtreden.
({7})
Ich warne davor, denn das tut dem Standort Deutschland,
den Sie ja auch so lieben, nicht gut.
Ich sage als Letztes, was mir jetzt besonders wichtig
ist. Herr Minister, Sie haben gestern erklärt, dass mit
dem Betreiberkonsortium aktuelle Nachverhandlungen
geführt werden. Ich erwarte, dass für uns, das Parlament,
für den Steuerzahler und letztlich auch für die Spediteure, die es dann bezahlen sollen, akzeptable Haftungsund Schadensersatzregelungen entweder schon in dem
mir nicht bekannten Vertrag enthalten sind oder im Wege
dieser Ergänzungsverhandlungen in den Vertrag aufgenommen werden. Machen Sie dem Konsortium klar,
dass das Parlament, der Haushaltsgesetzgeber, und der
Rechnungshof hinter Ihnen stehen, dass wir ein Recht
haben, diesen Vertrag einzusehen, und dass wir in diesem Vertrag klare, solide und ordentliche Regelungen
brauchen. Dann werden wir diese Zeit, in der es nicht
recht funktioniert, durchstehen.
Wir werden Druck auf die Industrie ausüben. Dafür
brauchen wir aber eine Regelung auf der politischen
Seite. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir den Standort
Deutschland bald auch beim Mautsystem wieder nach
vorne bringen können und dann sagen können, dass wir
das zwar mit einigen Schwierigkeiten, aber letztlich
doch à la longue auf konstruktive Weise geschafft haben.
({8})
Jetzt hat der Abgeordnete Klaus Lippold das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den
letzten Ablenkungsmanövern müssen wir hier wieder
deutlich machen, wer die Verantwortung hat. Das ist
ganz klar: Die Verantwortung liegt bei der Bundesregierung und bei diesem Minister.
({0})
Frau Eichstädt-Bohlig hat davon gesprochen, dass es
Ablenkungsmanöver gebe. Das stimmt, die gibt es. Die
Ablenkungsmanöver kommen von Ihnen, der Koalition
und der Bundesregierung, obwohl das Ganze in Ihre Zuständigkeit fällt. Ich will einige nennen.
Das erste Ablenkungsmanöver: Sie entdecken Minister Bodewig wieder, den ich hier übrigens lange nicht
mehr gesehen habe. Auf einmal ist es nicht mehr Herr
Stolpe, der in der Kritik steht, sondern Herr Bodewig.
Das stimmt zum Teil; denn ich differenziere stärker als
Sie. Man muss hier daran erinnern - das wurde schon
gesagt -, dass Herr Bodewig den Vertrag ohne sorgfältige Prüfung durchgepeitscht hat,
({1})
nur um im Wahlkampf ein Argument zu haben. Das ist
verantwortungslos. Dieser Vorgang fällt in die Regierungszeit der Regierung Schröder. Das ist aber nur das
erste Ablenkungsmanöver.
({2})
Das zweite Ablenkungsmanöver: Wenn dieser Minister früher mit Frau de Palacio, der Verkehrskommissarin
der EU, gesprochen und verhandelt hätte, hätten wir früher Ergebnisse bekommen. Im Gegensatz zu dem, was
die Koalition sagt, deren Darstellung falsch ist, gibt es
bis jetzt nur eine Startfreigabe. Das Gesamtsystem, bei
der Mauthöhe angefangen, bedarf erst noch der Bestätigung. Das war also eine Falschdarstellung, die wir in der
Form nicht akzeptieren werden.
({3})
Das dritte Ablenkungsmanöver: Wieso soll eigentlich
ausschließlich die Industrie schuld sein? Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung und des Ministeramtes hätte Minister Stolpe sofort ein Projektmanagement und Controlling aufbauen müssen. Das hat er nicht
gemacht. Das liegt eindeutig in seiner Verantwortung.
Dr. Klaus W. Lippold ({4})
Deshalb lassen wir keinerlei Ablenkung zu. Hätten Sie
sich, Herr Stolpe, statt sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, mit diesem Managementsystem, das absolute
Priorität gehabt hätte, auseinander gesetzt, dann wären
wir heute nicht in einer solchen Situation. Sie hätten früher korrigieren können. Das haben Sie nicht gemacht.
Diese Schuld müssen wir Ihnen zuweisen und keinem
anderen.
({5})
Zwischenzeitlich waren Sie so weit, dass Sie die Verantwortung beim Verkehrsgewerbe gesucht haben, das
angeblich nicht genügend Geräte abgerufen habe. Welche Geräte sollten sie denn abrufen? Wie sollten diese
Geräte eingebaut werden? Wir diskutieren heute doch
darüber, dass der Schrott nicht tauglich ist. So einfach ist
das.
({6})
Herr Stiegler, der Sie die so gerne dazwischenrufen,
ich komme nun zu Ihnen. Es wurde hier gesagt, das System solle nicht kaputt geredet werden. Damit meinen
Sie, wir sollten nicht über die Schwächen der Bundesregierung und dieses Ministers sprechen.
({7})
Das System kann man aber auch dadurch kaputtreden,
dass man wie Sie oder gerade Frau Eichstädt-Bohlig
über die Industrie schimpft. Das sind zwei Seiten derselben Medaille: Sie können nicht auf der einen Seite auf
die Industrie schimpfen und auf der anderen Seite sagen,
das sei ein glänzendes System. Herr Stiegler, Sie widersprechen sich mit jedem Satz, den Sie sagen. Ich verstehe, dass Ihre Partei in Bayern so abgeschnitten hat.
Bei Führungspersonen wie Ihnen kann ich die
18 Prozent verstehen. Sie werden in Zukunft mit der
Zahl der FDP noch nicht einmal spotten können. Das
fällt auf Sie selbst zurück.
({8})
Herr Stiegler, Sie Starjurist aus Bayern, ich möchte
noch etwas ansprechen. Sie sagen, wir sollten diesen
Vertrag nicht anfordern, wir seien Stümper. Sie können
noch nicht einmal zwischen Vertragstext und Anlagen
unterscheiden. Der Vertragstext umfasst, wenn ich das
richtig sehe, etwa 100 Seiten, die Anlagen haben Tausende von Seiten. Wir fordern den Vertragstext. Uns
können Sie die Intelligenz zutrauen, einen vernünftigen
Vertrag auch richtig lesen zu können. Wenn Sie sich das
nicht zutrauen,
({9})
dann frage ich mich, warum Ihre Kollegen von Rot-Grün
einen Antrag in den Verkehrsausschuss eingebracht haben, der die Offenlegung der wesentlichen Vertragsteile
vorsieht und der den Ausschuss einvernehmlich passiert
hat. Das haben Sie vermutlich nicht mitbekommen.
Denn Sachfragen stören Sie ja nicht, wenn Sie hier
schimpfen wollen. So geht es nicht, Herr Stiegler.
18 Prozent sind genug für Sie.
({10})
Dabei belassen wir es auch.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, den ich auch noch
einmal deutlich machen wollte. Es gibt Ihrerseits klare
und eindeutige Schuldanerkenntnisse. Ich will jetzt gar
nicht darauf eingehen, dass im Ministerium erst einmal
versucht wurde, mit dem Bauernopfer eines Abteilungsleiters von der wahren Verantwortung an der Spitze abzulenken. Es gab jedoch jemanden in Ihrer Partei, der
zwar völlig richtig erkannt hat, dass diese Bundesregierung schuld ist, der aber gleichzeitig diesen Minister, der
ja so lieb ist, schonen wollte. Deshalb hat er nicht gesagt,
dieser Minister müsse gehen, sondern er hat gesagt, zwei
Staatssekretäre müssten gehen.
Herr Danckert, ich danke Ihnen. Wissen Sie, warum?
Wenn jemand aus Ihren Reihen fordert, dass zwei Staatssekretäre gehen müssen, dann ist doch ganz offensichtlich, dass die Schuld bei der Bundesregierung liegt. Wie
sollten Sie sonst fordern können, dass zwei Staatssekretäre in die Wüste geschickt werden?
Ich gestehe allerdings, dass Sie den zweiten Punkt
nicht bedacht haben. Sie haben in Ihrer lieben Art gedacht, Sie würden Herrn Stolpe helfen. Dass das ein
Schuldeingeständnis war, hat Herr Müntefering erkannt.
Deshalb hat er Sie hinterher in der Fraktionssitzung auch
eingestampft. Er wollte nämlich nicht, dass solche
Schuldanerkenntnisse öffentlich werden.
({11})
Herr Danckert, Sie haben uns damit, dass Sie die Wahrheit gesagt haben, geholfen. Dafür kann man Sie wirklich nur loben.
({12})
Ich will hinzufügen: Herr Stiegler, wir wollen wissen,
was mit den Haftungsregeln ist, was dort vereinbart
wurde. Ich meine, wir haben ein Recht darauf, zu
schauen, wo was wie gestaltet wird, und nach den Fehlern zu suchen, damit wir sie in Zukunft vermeiden können.
Wir wollten dieses Instrument als wegweisendes Verkehrskonzept. Ich muss ganz deutlich sagen: Deshalb
haben wir als Union es gemeinsam mit der FDP damals
angestoßen. Das ist so leider nicht gelungen.
Denken Sie bitte an Ihre nur fünfminütige Redezeit.
Ja. - Wir wollen es auch als industriepolitisches Projekt; daran werden wir weiterhin arbeiten. Daneben wolDr. Klaus W. Lippold ({0})
len wir es als Finanzierungsprojekt PPP. „PPP“ übersetzen wir aber nicht so, wie diese Regierung es tut,
nämlich mit: Pannen, Pech und Pleiten.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis. Noch einmal an alle Kollegen: Die Redezeit in der Aktuellen Stunde beträgt jeweils nur fünf Minuten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Aktuelle Stunde ist von unserem Kollegen Fischer
eröffnet worden. Dessen Ausführungen hat Horst
Friedrich auf der gleichen Linie dadurch ergänzt, dass er
uns die Vermischung der Verantwortlichkeiten von Politik und Industrie präsentiert hat. Es wurde der falsche
Eindruck erweckt, dass Vertragsverletzungen nicht geahndet werden sollen. Daneben wurde mit einem falschen, weil nicht mehr aktuellen Zitat des Präsidenten
des Bundesamtes für Güterverkehr gearbeitet. Es wurde
der Eindruck erweckt, als sei die Verletzung der Terminkette im Haus nicht registriert worden. All das will ich
zurückweisen.
({0})
- Ich will es nicht im Detail zurückweisen, weil das
schon getan wurde und weil noch zwei Redner aus unserer Koalition hier auftreten werden.
({1})
Ich möchte den letzten Aspekt, den Herr Lippold angesprochen hat, aufgreifen. Es geht um die Projekte öffentlich-privater Partnerschaften, also um die PPP-Projekte. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
Opposition, Sie sollten vorsichtiger sein. Die Wirkung
Ihrer vordergründigen Kampagne gegen Bundesminister Stolpe könnte Sie sonst in Widerspruch zu Ihren eigenen Sonntagsreden bringen.
({2})
Sie tun so, als hätte es bei Großprojekten des Bundes
noch nie Anlaufprobleme und Probleme mit Terminen
und Verpflichtungen von Vertragspartnern gegeben. Das
hat es mit trauriger Konsequenz leider auch schon in der
Vergangenheit gegeben.
({3})
Es wurden nicht nur hohe Vorlaufinvestitionen aus dem
Bundeshaushalt ineffizient eingesetzt; eine andere Folge
war auch, dass der erhoffte Nutzen für den Bund bei
manchen Projekten erst verspätet eingetreten ist. Das
soll bei PPP-Projekten ja anders sein.
({4})
Der Betrieb des Mauterfassungssystems ist ein echtes
PPP-Projekt. Die Risiken müssen zwischen der öffentlichen Hand und dem Industriekonsortium fair verteilt
werden. Sie reden zum Beispiel nicht darüber, dass die
Industrie die Kosten für die Errichtung des Systems zu
tragen hat. Entgelte für die Refinanzierung stammen
nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern aus den Einnahmen des Systems. Das bedeutet ein hohes Risiko für das
Konsortium. Hinzu kommen erhebliche Risiken wegen
möglicher finanzieller Verluste und wegen des Imageverlustes, den es zurzeit wegen der Vertragsverletzungen
und der offensichtlichen Pannen natürlich gibt.
({5})
Sie wissen auch, dass es in der Vergangenheit Versuche gab, PPP-Lösungen zu installieren, die gerade an der
Risikoverteilung zwischen der öffentlichen Hand und
den privaten Betreibern gescheitert sind.
({6})
Für uns war es schlicht unakzeptabel, wenn versucht
wurde, alle Risiken bei der öffentlichen Hand abzuladen.
Genauso muss es natürlich auch im umgekehrten Fall,
beim anderen Extrem sein. Ihre jetzige Kampagne mit
Verdächtigungen und Halbwahrheiten gegen den Minister
({7})
führt Sie industriepolitisch in eine Sackgasse. Ihr Vergnügen daran, jeder nicht funktionierenden On Board
Unit hinterherzuhecheln, Ihre Freude daran, dass es Software-Probleme gibt,
({8})
kann für das Interesse an PPP-Projekten doch nur abschreckend wirken. Wie wollen Sie denn mit einer solchen Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland den
Boden für die Verbreitung von PPP-Projekten bereiten?
Der Verkehrsausschuss hat gestern entschieden, dass
er darüber informiert werden will, wie die Risikoverteilung im Vertrag geregelt ist.
({9})
Es geht uns natürlich auch um die Frage, wie mit den
Einnahmeausfällen umgegangen wird. Aber die Spekulationen darüber - und nur Spekulationen können Sie
heute hier anstellen - müssen endlich beendet werden.
Auch die Öffentlichkeit möchte Informationen und sie
hat einen Anspruch darauf. Deshalb verlangte meine
Fraktion gestern im Fachausschuss Einsicht in die Vertragspassagen, die die Risikoverteilung betreffen, und
zwar ohne Beeinträchtigungen und ohne das Siegel von
Reinhard Weis ({10})
Verschwiegenheit. Wir haben das gestern im Ausschuss
gefordert, Sie haben es abgelehnt. Auch der Minister hat
ein Interesse an dieser offenen und transparenten Vorlage des Vertrages und wir erwarten deswegen von der
Industrie, dass sie in diesem Punkt für Transparenz sorgt.
({11})
An die Opposition gewandt möchte ich noch sagen:
Schütten Sie in dieser Situation, in der wir über die Risikoverteilung nur spekulieren können, weil das Industriekonsortium uns die Vertragseinsicht noch nicht ermöglicht hat, nicht das Kind mit dem Bade aus. Verbauen Sie
nicht die Optionen für weitere öffentlich-private Partnerschaften bei der Finanzierung von Investitionen im öffentlichen Interesse,
({12})
die wir brauchen, um beispielsweise Verkehrsprojekte,
für die aufgrund der Haushaltslage des Bundes nicht genügend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, in erforderlichem Maße zu finanzieren.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Für die Gäste darf ich sagen: Ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, Ulrich
Wickert fragt in den „Tagesthemen“ Herrn Schrempp,
den Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Chrysler, zur
LKW-Maut: „Herr Schrempp, Sie verdienen ca.
5,6 Millionen Euro im Jahr und Sie sind nicht in der
Lage, einen Auftrag fristgemäß zu erfüllen. Werden Sie
jetzt aus Scham Ihr Gehalt um 20 Prozent kürzen?“
({1})
Ich glaube, das wäre schlimmer als der damalige Vergleich von US-Präsident Bush mit Bin Laden; es wäre in
Deutschland Majestätsbeleidigung.
In dieser Woche lud der Bundesverband der Deutschen Industrie viele Gäste nach Berlin ein, und eine der
wichtigsten Forderungen der Veranstaltung in der Breiten Straße war: Der Staat soll sich auf seine Kernkompetenzen zurückziehen und mehr und mehr Aufgaben der
Wirtschaft überlassen; die könne doch schließlich alles
billiger und besser.
({2})
Das Beispiel LKW-Maut hat uns eines Besseren belehrt.
Es geht hier nicht um kleine mittelständische Unternehmen, sondern um zwei der größten deutschen Konzerne,
um Daimler-Chrysler und die Deutsche Telekom. Viele
Menschen werden sich fragen, warum sie ganz selbstverständlich Mahnbescheide befolgen und Vertragsstrafen zahlen müssen, wenn diese beiden Unternehmen es
offenbar schaffen, solche Vertragsstrafen vertraglich
ausschließen zu lassen. Das, was man über den Vertrag
bisher erfahren hat, erweckt doch den Eindruck, es sei
den Anwälten dieser großen Unternehmen gelungen, den
Beamten die Texte für die Verträge in den Block zu diktieren. Wenn zuständige Beamte und auch Minister so
fahrlässig mit Steuergeldern umgehen, ist das meiner
Ansicht nach ein Fall für den Staatsanwalt.
({3})
Es stellen sich jedoch auch grundsätzliche Fragen:
Warum wurde ein System neu entwickelt, obwohl in der
Schweiz ein funktionsfähiges Mauterhebungssystem
einwandfrei ohne GPS funktioniert? Warum eigentlich
wurde ein System entwickelt, das die totale Kontrolle ermöglicht und unzählige Daten erfasst, die für die Mauterhebung gar nicht benötigt werden? Was sagt eigentlich
der Datenschutzbeauftragte dazu?
Gestern wurde in verschiedenen Ausschüssen über
diesen Fall gesprochen. Im Haushaltsausschuss wurde
merkwürdigerweise doch nicht über die Anträge aus den
verschiedenen Fraktionen abgestimmt, die Verträge offen zu legen. Aber ich gehe davon aus, Herr Minister
Stolpe, dass es Ihr größter Wunsch ist, die Offenlegung
der Verträge für die Abgeordneten und für die Öffentlichkeit sicherzustellen. Ich gehe weiterhin davon aus,
Herr Minister Stolpe, dass es auch Ihr größter Wunsch
ist, diesen Subventionsskandal aufzudecken.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg
Brunnhuber.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist richtig, was Minister Stolpe sagte: Das Mautsystem zur Erhebung der streckenbezogenen LKW-Gebühr
mit der von uns ausgewählten Technik ist ein Jahrhundertwerk. Aber so, lieber Herr Minister, wie Sie, Ihr
Haus und Ihr Vorgänger es angelegt haben, haben Sie es
fast zum Jahrhundertmurks gemacht. Wenigstens sind
wir kurz davor, dass die Öffentlichkeit in Deutschland
und Europa davon ausgeht, dass die Deutschen nicht einmal mehr in der Lage sind, ein System zu entwickeln,
das in Europa und überall in der Welt schon funktioniert.
Herr Minister, für diesen Murks tragen Sie die Verantwortung.
({0})
Die Murkser sitzen hier.
({1})
Seit Rot-Grün die Verkehrspolitik organisiert, ist der
Murks in dieser Politik an allen Ecken und Enden zu sehen. Immerhin ist es so weit gekommen, dass offensichtlich selbst der Kanzler erkannte, dass drei Minister
Murkser waren; denn er hat sie schon abgelöst. Die Entlassung des vierten Ministers aufgrund seines dilettantischen Vorgehens in dieser Sache ist zumindest schon in
Sichtweite.
Lieber Herr Minister Stolpe, wir alle wissen, dass Sie
erst seit einem Jahr Minister sind. Aber Sie können sich
nicht mit der Behauptung aus der Verantwortung stehlen,
dass Sie von nichts gewusst haben. Als Sie im November des letzten Jahres zum ersten Mal im Verkehrsausschuss waren, haben wir Ihnen genau die Probleme geschildert; denn das ganze Vorgehen bei der LKW-Maut
war vom ersten Tag an Murks. Schon die Ausschreibung
war vermurkst. Die Vergabe war so vermurkst, dass man
drei Gerichte bemühen musste, um sie zu regeln. Wenn
zwei Tage vor der Bundestagswahl ein solcher Milliardenvertrag unterschrieben wird, dann muss man kein
Hellseher sein, um zu wissen, dass in diesem Vertrag offensichtlich erhebliche Fehler und Mängel enthalten
sind.
({2})
Wir haben zwar keine Erkenntnisse, aber eine Information aus verschiedenen Richtungen, dass nicht die
Wirtschaft, sondern Sie die Veröffentlichung dieses Vertrages fürchten.
({3})
Man kann fast schon spüren, dass in diesem Vertrag
wahrscheinlich nicht enthalten ist, wann der Starttermin
sein sollte, wie viele Geräte in die LKWs eingebaut werden müssen und wer zahlt, wenn das System nicht funktioniert.
({4})
Wir vermuten, dass der Auftraggeber den Vertrag nicht
so formuliert hat, dass der Auftragnehmer spuren muss.
({5})
Deshalb müssen wir sagen: Sie und diese Regierung
tragen dafür die Verantwortung, nicht die Industrie.
Wenn Sie dafür nicht die Verantwortung übernehmen
und deshalb Ihren Hut nehmen, dann muss man sich fragen, was in diesem Land noch passieren muss, bevor ein
Minister freiwillig geht, damit sein Nachfolger die Sache
besser regeln kann. Wenigstens einen Teil der Verantwortung sollten Sie übernehmen. Herr Minister, aus dieser Sache kommen Sie nicht mehr heraus.
Ich nenne Ihnen einen zweiten Grund, warum Sie aus
dieser Sache nicht mehr herauskommen. In Ihrem Hause
und im Kanzleramt wurde die Harmonisierung mit den
Unternehmerverbänden besprochen und versprochen.
Man hat im Kanzleramt, nicht in der Opposition, in der
letzten Legislaturperiode festgelegt: Harmonisierung so
groß wie möglich. Die Summe von 600 Millionen haben
nicht wir erfunden.
({6})
Die wurde damals den Unternehmern im Kanzleramt zugesagt.
({7})
- Man merkt, dass Sie es wissen. Deshalb tut es weh.
({8})
Die absolute Unverschämtheit, Lug und Trug in der Politik, kommen zum Tragen, wenn der Bundeskanzler erklärt:
({9})
Wir bemühen uns zwar, in Brüssel Harmonisierungsschritte nach den Vorgaben des Vermittlungsausschusses
umzusetzen, aber wenn das dort nicht akzeptiert wird,
dann gibt es eben nichts.
({10})
Wenn Sie schon nicht in anderen Bereichen die Verantwortung übernehmen wollen, Herr Minister Stolpe, dann
müssen Sie sie in diesem Bereich übernehmen. Sie müssen sagen: Herr Bundeskanzler, entweder Sie nehmen
diesen Satz zurück oder ich trete ab.
({11})
Sie haben doch die Verantwortung für 100 000 Unternehmen. Arbeitsplätze werden in diesem Land im nächsten Jahr verloren gehen, weil wir keine Harmonisierung
und keinen gleichartigen Wettbewerb haben. Dafür sind
Sie der Hauptverantwortliche.
({12})
Ich sage Ihnen, Herr Minister, es gab hier einmal jemanden, der sagte: Avanti Dilettanti. Ich rufe Ihnen das zu.
Nehmen Sie Ihre Staatssekretäre gleich mit. Ich bin
überzeugt, wenn der Pförtner die Arbeit bei Ihnen macht,
wird es mit Sicherheit nicht schlechter.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunter
Weißgerber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Opposition scheint arm dran zu sein. Ohne Steilvorlagen aus der Koalition hätten Sie nicht einmal ein
Thema für die Aktuelle Stunde des heutigen Tages gehabt.
({0})
Von wegen „Rufe aus dem Walde, aus der Koalition“!
Natürlich sind die aktuellen Mautschwierigkeiten extrem
ärgerlich und vor allem kommen sie uns teuer zu stehen.
Aber bei dieser Diskussion sollten wir auf die Gewichtung achten.
Der Vertrag ist die eine Seite. Darüber wollen wir alle
Aufklärung. Ich erinnere an die gestrige Haushaltsausschusssitzung. Der Minister hat angeboten - Sie haben
daraufhin Ihren Antrag zurückgezogen -, in den nächsten zwei Wochen für Aufklärung zu sorgen und mit dem
Konsortium zu reden, dass der Vertrag gänzlich offen
gelegt wird. Ich mache aber eine wichtige Einschränkung: Die Betriebsdaten, das, was patentrechtlich geschützt ist, und technische Details sollen natürlich nicht
in die Öffentlichkeit gelangen.
({1})
Das ist klar, schon aus Gründen des Schutzes vor der
Konkurrenz. Aber die anderen Daten wie Zahlungsmodalitäten, Leistungsverpflichtungen, Gewährleistungen,
Schadensersatz- und Vertragsstrafenregelungen und
Zeitpläne wollen wir wissen. Das alles muss offen gelegt
werden.
({2})
Wichtiger als die Vertragskontrolle und Vertragsvollziehung ist für mich in diesem Moment aber die Frage,
warum wir noch keine Mauteinnahmen haben. Sie wissen, monatlich fehlen 163 Millionen Euro. Es gibt eine
Vereinbarung mit dem Finanzminister, dass er den Betrag vorschießt und wir ihn bis zum Jahr 2006 im Einzelplan 12 wieder erwirtschaften müssen.
({3})
Teil dieser Vereinbarung ist, dass die Ansätze für Verkehrsinfrastrukturmittel nicht angetastet werden.
({4})
Ich bin Haushaltspolitiker der Koalition und stehe dazu.
Sie können auch dazu beitragen, dass das tatsächlich in
den nächsten Jahren geschieht und letztlich ein Erfolg
wird.
({5})
Wer ist denn an den fehlenden Mauteinnahmen tatsächlich schuld? Das ist doch nicht der Vertragspartner,
der zu zahlen hat, sondern der Vertragspartner, der die
Leistungen zugesagt hat.
({6})
Daraus ergeben sich für mich Fragen an die Industrie. Es
sind allesamt Weltfirmen. Davon mache ich keinen Abstrich. Ich unterstelle nicht einmal, dass es anders ist.
Eine Weltfirma muss aber bestimmten Ansprüchen genügen. Ich habe mir den Internetauftritt der Telekom und
den von Daimler-Chrysler angesehen. Bei der Deutschen
Telekom steht:
Die Deutsche Telekom AG setzt als eines der vier
weltweit größten Telekommunikationsunternehmen internationale Maßstäbe.
Auf der Homepage von Daimler-Chrysler steht unter anderem:
Die Strategie von Daimler-Chrysler basiert auf vier
Säulen: globale Präsenz, starkes Markenportfolio,
umfassendes Produktprogramm sowie Technologie- und Innovationsführerschaft.
({7})
Das steht aus meiner Sicht auch berechtigt darin, aber im
Moment genügen sie diesen Ansprüchen nicht. Die Verantwortung für die Misere liegt tatsächlich bei der Partei,
die versprochen hat, die Leistungen zu erbringen. Es
stellt sich für mich schon die Frage: Ist hier der Mund zu
voll genommen worden, wie dilettantisch ist an die Arbeit gegangen worden?
Herr Oswald und andere erwecken ja den Eindruck,
dass auch die Bundesregierung und die Koalitionsabgeordneten - möglicherweise im Fraktionsraum - On
Board Units, selbst zusammenbasteln sollen. Wir scheinen ja diejenigen zu sein, die es nicht zustande bringen.
({8})
- Ja, so ähnlich haben Sie das gesagt!
({9})
- Genau! Deshalb gibt es ja den Vertragspartner, der uns
die Lieferungen zugesichert hat. Die Mauteinführung
hätte von Anfang an Chefsache im Konsortium sein
müssen. Im Moment scheinen die Chefs des Konsortiums das auch zu erkennen, leider zu spät.
({10})
Abschließend bleibt für mich festzustellen: Vertragstreu ist die Bundesregierung, vertragsuntreu ist im
Moment das Konsortium. Das sollten Sie beachten.
Als Haushälter erwarte ich selbstverständlich, dass
der Probebetrieb schnellstmöglich beginnt und wir
schnellstmöglich zu Mauteinnahmen kommen. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!
Vielen Dank.
({11})
Jetzt hat der Kollege Dietrich Austermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Weißgerber hat sich zu dem Thema Mauteinnahmen geäußert. Ich will gleich die konkreten Zahlen nennen, damit man genau weiß, was durch Versäumnisse der Industrie und aufgrund mangelnder Aufsicht des Ministers
bisher an Schaden entstanden ist.
Aber zunächst möchte ich daran erinnern, was eigentlich beabsichtigt war. Es war beabsichtigt, ein Verkehrssystem zu schaffen, das zusätzliche Einnahmen bringen
sollte. Damit wollte man mehr in die Verkehrsinfrastruktur investieren
({0})
und eine stärkere Beteiligung insbesondere des ausländischen Speditionsgewerbes erreichen.
Natürlich hat man unterstellt, dass dann mehr in Straßen investiert wird und mehr Staus beseitigt werden können. Ich erinnere mich noch daran, dass Sie vor drei Jahren Karten veröffentlicht haben, aus denen hervorging,
welche Straße ganz konkret verbreitert und was alles von
dem zusätzlichen Geld, das man einnimmt, gemacht
werden sollte.
Wenn man sich heute die Situation ansieht, muss man
einfach sagen, dass es so ist wie bei fast jedem anderen
Thema: Was Sie machen, machen Sie schlecht!
({1})
- Ja, natürlich! Was Sie machen, machen Sie schlecht!
Der Minister hat gestern im Ausschuss gesagt: Ich
weiß nicht, was ich konkret hätte machen können. Genau
das ist das Problem! Er weiß nicht, was er eigentlich machen müsste. Deswegen sagen wir: Wenn er nicht weiß,
was er machen muss, ist er auf diesem Posten der Falsche. Ein Auftragnehmer, wie gut oder wie schlecht er
auch immer ist, hat den Anspruch darauf, dass der Auftraggeber ihn ernst nimmt, ihn fordert und ihn zum Ergebnis treibt. Einer, der nur dasitzt, zuschaut und nicht
weiß, was er tun soll, hat dann auch konkret den Schaden zu vertreten, den wir heute haben.
Jetzt nenne ich die Zahlen. Herr Stolpe gibt ja jede
Woche, jeden Tag andere Zahlen an. Im Haushalt dieses
Jahres stehen Einnahmen in der Größenordnung von
1 Milliarde Euro durch die Maut. Diese 1 Milliarde wird
in diesem Jahr nicht fließen. Das heißt, der Finanzminister bekommt ein Problem. Weil er dieses Problem hat,
gibt es weniger Geld für Infrastruktur. Weil es weniger
Geld für Infrastruktur gibt, gibt es in Deutschland mehr
Staus. Genau das ist das Problem. Das heißt, alles das,
was einmal beabsichtigt war, ist bisher total gescheitert.
({2})
Wenn Sie dagegenrechnen, welche Erfassungskosten
es gibt, heißt das, dass netto mit Sicherheit mindestens
640 Millionen Euro, mit denen wir gerechnet haben, in
diesem Jahr fehlen werden.
Wenn ich erkenne, dass das Ganze nicht läuft, muss
ich doch wenigstens die Vignette weiterlaufen lassen.
({3})
Die litauischen LKW-Fahrer gehen heute noch an die
Grenzstation Pomellen und wollen ihre Vignette bezahlen. Dieses Geld geht verloren. Das sind in diesem Jahr
allein 170 Millionen Euro, die Sie bei dieser Geschichte
drauflegen müssen.
({4})
- Ja, natürlich. Wenn man erkennt, dass die Einführung
der Maut nicht klappt, hätte man doch sagen müssen:
Wir machen ein Gesetz, das aus einem Satz besteht,
nämlich: Die Vignette gilt weiter, bis die Maut eingeführt ist. Das ist doch eine ganz einfache Geschichte.
({5})
Jetzt brauchen Sie sich nicht weiter aufzuregen. Sie
sind doch auch nicht zufrieden mit dem Verfahren, mit
der Entwicklung und mit dem totalen Scheitern. Weshalb
haben denn die Grünen und die Roten im Haushaltsausschuss gefordert, die Verträge offen zu legen? Das haben
sie doch nicht gefordert, weil sie meinen, dass der Minister alles richtig macht, sondern weil sie glauben, dass die
Verträge zulasten des deutschen Steuerzahlers gehen.
({6})
Genau das ist auch unsere Sorge, weil nämlich ständig
Änderungen zur Entlastung der Industrie vorgenommen
wurden, die diese von jedem Druck und jedem Risiko
befreien.
Sie haben ausgeführt, Herr Stolpe: Wir müssen über
Schadensersatz und Haftung verhandeln; vielleicht können wir auch das BGB anwenden. Das heißt doch, dass
es zu den für jeden Vertrag wichtigen Themen Schadensersatz und Haftung keine vernünftigen gültigen Regelungen gibt. Wer hat denn die Verträge gemacht und was ist
in der Zwischenzeit passiert?
({7})
Sie haben gestern im Haushaltsausschuss und auch
heute darauf hingewiesen, dass Sie sich am
13. November vergangenen Jahres mit Frau de Palacio
getroffen und mit ihr über Harmonisierung - das heißt,
über eine zumindest teilweise Entlastung des deutschen
Güterkraftverkehrs - gesprochen haben.
({8})
Wir wollten schließlich auch, dass die Ausländer endlich
für das Verhunzen unserer Straßen bezahlen.
Was ist seitdem passiert? Inzwischen sind zehn Monate vergangen. Sie haben zwar damals darüber gesprochen, aber dann ist nichts passiert. Was ist das für ein Ergebnis, wenn man zehn Monate lang Minister ist und
sich bis heute nichts bewegt hat?
({9})
Er hoffe, hat er gestern gesagt, dass bis zum Jahresende
ein Ergebnis erzielt wird. Davon, wie dieses Ergebnis
aussehen könnte, hat er bis heute keine Vorstellung.
Das Problem ist, Herr Stolpe - das ist der eigentliche
Vorwurf, den man Ihnen machen muss -, dass Sie immer
wieder feststellen, dass das Ziel fast erreicht ist und gute
Fortschritte erzielt werden. Gestern hat er überraschenderweise festgestellt, dass er schon immer den Beginn
des Mautbetriebs am 1. Januar 2004 befürwortet habe,
({10})
dass das System zeitnah eingeführt werde und das finanzielle Risiko begrenzt sei.
Mit dieser Verniedlichung der bestehenden Probleme
erwecken Sie bei uns den Eindruck, dass Sie das Problem und damit auch die notwendigen Schritte, um das
Problem zu verkleinern, nicht erkennen können. Deswegen stimme ich der Feststellung des Kollegen Fischers
zu. Es tut mir leid, aber Sie sind in Ihrer Position fehl am
Platz.
({11})
Sie hatten vor einem Jahr festgestellt, dass Sie eigentlich genug getan hätten.
Herr Kollege!
Ich bin fast fertig. - Herr Schmidt und Herr Stiegler
haben Sie so gelobt, als hätten Sie einen zweiten Orden
verdient. Sie hätten es aber damals dabei belassen sollen.
Wenn einem der Schwung fehlt, die Dinge zu gestalten,
sollte man abtreten.
({0})
Jetzt hat der Abgeordnete Uwe Beckmeyer das Wort.
Er ist der letzte Redner in der Aktuellen Stunde.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn man, wie ich es getan habe, die Beiträge
der Opposition heute Mittag verfolgt hat, hat man feststellen können, dass es nur um eines geht, nämlich darum, diesen Minister zu beschädigen. Sie wollen nur
draufhauen. Ihnen geht es nicht darum, eine Sache zu
fördern; Sie wollen vielmehr einer Person schaden. Sie
reduzieren das gesamte Problem auf eine Person. Das ist,
denke ich, völlig unangemessen.
({0})
Erstens. Es gibt - das ist durch die Presse seit Monaten bekannt - Probleme. Aber es handelt sich dabei nicht
um ein Personalproblem, sondern um ein Technikproblem. Zu den Personen, die den Vertrag unterschrieben
haben, gehören unter anderem die Herren Mangold und
Brauner. Zu diesen Herren haben Sie sich aber heute mit
keinem Wort geäußert.
Zweitens. Ich halte an dieser Stelle fest, dass wir alles
tun müssen, um den Vertragspartner zu veranlassen, die
technischen Schwierigkeiten zu überwinden und sein
Werk zu vollenden, und zwar zeitnah.
({1})
Drittens. Es ist immer wieder angesprochen worden,
dass Rot-Grün eine Chance vertan habe. Weshalb hat
Rot-Grün eine Chance vertan, Herr Oswald? In DeutschUwe Beckmeyer
land wird seit 20 Jahren über die Maut gesprochen.
16 Jahre davon hatten Sie die Regierungsverantwortung.
Bis auf die Eurovignette - das war ein Selbstläufer - haben Sie aber nichts erreicht.
({2})
Danach kam etwas Schwung in die Angelegenheit.
Wir haben einen Vertrag unterzeichnet und sind jetzt
- die EU-Kommission hat vor einigen Tagen einen
Richtlinienentwurf vorgelegt, wodurch deutlich wird,
dass dem satellitengesteuerten System in Europa die Zukunft gehören soll - technisch auf dem Weg, ein solches
System zu entwickeln. Wir werden dieses System in
Deutschland einführen, und zwar, wie ich hoffe, zeitnah.
({3})
Viertens. Sie fordern Transparenz und weisen darauf
hin, dass Deutschland Klarheit braucht. Natürlich braucht
Deutschland Klarheit. Wenn aber die relevanten Vertragsbestandteile aufgedeckt werden sollen - darauf hat
Reinhard Weis vorhin zu Recht hingewiesen -, dann
stimmen Sie im zuständigen Ausschuss dagegen. Ihnen
ist es letztlich egal, ob die Öffentlichkeit oder das Parlament den Vertrag einsehen kann. Ihnen geht es doch nur
darum, in der Bude Qualm und Rauch zu erzeugen, damit entsprechende Personen beschädigt werden.
({4})
Ich gebe zu, dass man mit dem, was bisher in technischer Hinsicht abgelaufen ist, überhaupt nicht zufrieden
sein kann. Bislang haben wir das mit Großmut ertragen.
Aber unser Großmut ist nun zu Ende. Wir werden uns
darum zu bemühen haben, dass auch die finanziellen
Fragen, die Sie, Herr Austermann, angesprochen haben,
geklärt werden. Es muss geklärt werden, was nun geschehen soll, da uns in diesem Jahr 640 Millionen Euro
durch den - so muss man es wohl nennen - Vertragsbruch des Konsortiums drohen abhanden zu kommen.
Auch darum geht es bei der Auseinandersetzung mit Toll
Collect bzw. mit den entsprechenden Firmen, die das
Konsortium bilden, über das Vertragswerk.
Ich möchte keinen Spott in diese Diskussion hineinbringen. Man kann sicherlich über das spotten, was dort
in technischer Hinsicht abgelaufen ist. Aber es ist unsere
Pflicht - Ludwig Stiegler hat das bereits gesagt -, dieses
für Deutschland ausgesprochen wichtige technologische
Projekt zu befördern und so nach vorne zu bringen, dass
es in Zukunft - hoffentlich - ein Exportschlager wird,
von dem wir in Deutschland in arbeitsmarktpolitischer
Hinsicht profitieren können.
({5})
Ich finde es unerhört, Herr Austermann, wenn Sie sagen, dass man die Eurovignette kurzfristig habe weiterlaufen lassen können. Sie haben keine Ahnung von dem
Verbundstaatenvertragswerk bezüglich der Eurovignette.
Null Ahnung!
({6})
In § 17 steht, dass neun Monate vorher gekündigt werden muss. Das können Sie doch nicht einfach außer Acht
lassen.
({7})
Sie behaupten, dass das, was Sie fabulieren, die Wahrheit sei. Nein, das ist falsch. Rot-Grün hat in diesem Fall
richtig gehandelt. Das gilt auch im Hinblick auf das Vertragswerk.
({8})
Über die Harmonisierungsbeiträge gibt es ständig
Auseinandersetzungen mit Ihnen, Herr Fischer. Der Beschluss des Bundestages und des Bundesrates auf der
Grundlage des Ergebnisses im Vermittlungsausschuss
legt fest, dass der Mautsatz vorab - das ist Ihr Vorschlag
gewesen - im Umfang von 600 Millionen Euro gesenkt
werden muss.
({9})
Die Maut kann erst erhöht werden, wenn europaweit
eine entsprechende Harmonisierung durch Konsultationen erzielt worden ist. Wenn Sie dem deutschen Volk
und in diesem Hause erklären, es gebe keinen Harmonisierungsbeitrag, dann muss ich sagen, dass das falsch ist.
Der entsprechende Harmonisierungsbeitrag ist bereits
per Beschluss dieses Hauses - dem haben Sie zugestimmt - umgesetzt worden.
({10})
Ich kann Ihnen die entsprechende Stelle vorlesen:
Zur Erreichung dieses Ziels hält es der Deutsche
Bundestag für angemessen, dass der Eingangssatz
für die LKW-Maut auf zunächst durchschnittlich
12,4 Cent pro Kilometer festgelegt wird und dass
dieser Mautsatz je nach Wirksamwerden und nach
Umfang der Maßnahmen, die in den voranstehenden Punkten aufgeführt sind und die teilweise einer
vorherigen Zustimmung der EU-Kommission bedürfen, auf das ursprünglich vorgesehene Niveau
der Mautsätze von durchschnittlich 15 Cent festgesetzt wird.
({11})
Dass in diesem Zusammenhang konsultiert werden
muss, wussten sowohl Sie als auch wir. Wir sind nicht
säumig, sondern es wird verhandelt.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit schon weit
überschritten. Sie können höchstens noch einen halben
Satz sagen.
Liebe Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung. Ich komme zum Schluss. Ich habe versucht, darzulegen,
dass man sich nicht wie die Opposition wie Ochsenfrösche aufblasen und kein falsches Zeugnis ablegen darf.
Das, was die Opposition gemacht hat, lassen wir ihr
nicht durchgehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Stärkung der dualen Berufsausbildung in
Deutschland durch Novellierung des Berufsbildungsrechts
- Drucksache 15/1348 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2003
- zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,
Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Offensive für Ausbildung - Modernisierung
der beruflichen Bildung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - Lehrstellenmangel bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann ({2}), Ulrike
Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland - mehr Chancen durch
Flexibilisierung und einen individuellen
Ausbildungspass
- Drucksachen 15/1000, 15/741, 15/653, 15/587,
15/1302 Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Brase
Werner Lensing
Christoph Hartmann ({3})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,
Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert,
Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina
Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann ({6}), Ulrike
Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt
Warteschleifen finanzieren
- Drucksachen 15/1090, 15/925, 15/1130,
15/1304 Berichterstattung:
Abgeordneter Ernst Küchler
Werner Lensing
Cornelia Pieper
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es
gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Wir debattieren heute über den Berufsbildungsbericht 2003 und die dazugehörigen Anträge der verschiedenen Fraktionen zur Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung. Hinzu kommen die
verschiedenen Vorschläge zu der Frage, ob wir in unserem Land eine neue Finanzierungsregelung brauchen,
um ein der Nachfrage entsprechendes Ausbildungsplatzangebot sicherstellen zu können. Das ist die formale
Seite dieser Debatte.
Ich will aber gleich zu Beginn an Folgendes nachdrücklich erinnern: Wir sprechen heute in erster Linie
über Berufs- und Lebenschancen junger Menschen. Wir
sprechen über annähernd zwei Drittel der Jugendlichen
in unserem Land, für die eine gute, qualifizierte Berufsausbildung nicht nur der Schlüssel zum Arbeitsmarkt ist,
sondern auch die Basis für soziale Integration und für
gesellschaftliche Teilhabe darstellt.
({0})
Wir sprechen damit auch über die wirtschaftliche und
die gesellschaftliche Zukunft unseres Landes, kurz: über
unser Land. Eines ist nämlich vollkommen klar: Wenn
wir in Deutschland den vorhandenen Wohlstand sichern
wollen, wenn wir ihn weiter ausbauen wollen, wenn wir
im Innovationswettbewerb Schritt halten und vorne sein
wollen, dann brauchen wir dazu vor allem gut ausgebildeten Nachwuchs, qualifizierte, engagierte und motivierte Menschen, Fachkräfte genauso wie Ingenieure
und Naturwissenschaftler.
Die Bundesregierung hat deshalb bereits zu Beginn
des Jahres alle Verantwortlichen zusammengerufen, um
mit ihnen gemeinsam zu beratschlagen, wie wir in diesem Jahr sicherstellen können, dass alle Jugendlichen
eine Chance erhalten, sozusagen den Schlüssel zu einem
erfolgreichen Berufsleben in die Hand zu bekommen;
denn wir wussten seit dem letzten Winter, dass wir in
diesem Jahr - im Gegensatz zu den vorherigen Jahren eine extrem schwierige Situation vorfinden.
Wir haben bereits Ende April gemeinsam mit den Sozialpartnern, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, die
Ausbildungsoffensive 2003 gestartet und eine ganze
Reihe von Maßnahmen durchgeführt, um mehr Betriebe
für berufliche Ausbildung zu gewinnen. Wir beteiligen
uns mit rund 95 Millionen Euro an der Finanzierung von
circa 14 000 betriebsnahen Ausbildungsplätzen in den
neuen Bundesländern, weil die dortige Ausbildungssituation nach wie vor sehr schwierig ist. Wir fördern Jugendliche mit schlechten schulischen Voraussetzungen
- Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, Jugendliche
mit einem schlechten Hauptschulabschluss -, damit auch
sie die Voraussetzungen dafür erhalten, erfolgreich ins
Berufsleben zu starten.
Wir unterstützen die Kammern, Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern, durch den
Einsatz von Ausbildungsplatzentwicklern. Wir lassen
die Betriebe mit ihren Anstrengungen und Aufgaben
nicht allein; wir unterstützen sie, und zwar nicht nur bei
der Suche und bei der Einstellung von Auszubildenden,
sondern auch im gesamten Zeitraum der Ausbildung.
Wir haben die Ausbilder-Eignungsverordnung außer
Kraft gesetzt und damit vielen Betrieben, die bereit und
auch in der Lage sind, auszubilden, den Zugang zur Ausbildung ermöglicht. Mit all diesen Anstrengungen ist es
uns gelungen, allein in den letzten Monaten circa 12 000
zusätzliche Ausbildungsstellen zu gewinnen.
({1})
Das zeigt auf der einen Seite: Es ist etwas geschafft
worden; aber es ist nicht genug geschafft worden. Es gab
am Ende des Monats August immer noch viel zu viele
Jugendliche, die noch keine Lehrstelle gefunden hatten
und denen noch kein Ausbildungsplatzangebot vorlag.
Das treibt uns alle miteinander um. Das ist auch einer
der Gründe, weshalb wir diese Debatte - zu Recht - führen.
Ende August gab es 167 640 Jugendliche, die noch
keinen Ausbildungsplatz hatten. Ihnen standen 54 500
unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Die so genannte rechnerische Lücke betrug also 113 000. Das
liegt jetzt fast einen Monat zurück. In diesen letzten vier
Wochen - das wissen wir - hat sich noch eine ganze
Menge getan. Wir wissen noch nicht, wie die konkrete
Ausbildungsplatzsituation jetzt aussieht. Nichtsdestotrotz sage ich ausdrücklich: Es gibt keinerlei Anlass, ein
Zeichen der Entwarnung zu geben und zu sagen: „Es ist
geschafft“, weil wir nach allen Daten, die uns zur Verfügung stehen, feststellen müssen, dass rund 35 000 weniger Ausbildungsplätze als im vergangenen Jahr vorhanden sind. Das ist das, was mir jedenfalls wirklich ganz
große Sorge macht. Wir können es nicht zulassen - das
sage ich noch einmal ausdrücklich, auch für die Bundesregierung, und, ich denke, für den Bundestag -, dass
50 000, 60 000 Jugendliche vor dem Nichts stehen,
({2})
die nämlich keine berufliche Ausbildung haben und damit nicht den Schlüssel zu einem erfolgreichen Berufsleben in der Hand haben. Das ist nicht verantwortbar.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir
alles dafür tun, dass das Blatt noch gewendet wird. Wenn
das Blatt noch gewendet werden soll, dann müssen vor
allem die Unternehmen und die Betriebe zu einem außerordentlichen Engagement bereit sein. Ich weiß,
dass viele Unternehmen in den vergangenen Monaten
eine Menge getan haben, aber es sind noch nicht genug.
Es sind noch nicht genug Unternehmen beteiligt und es
gibt auch noch nicht genug Ausbildungsplätze in den
einzelnen Betrieben.
Eines steht außer Frage: Der Staat tut eine ganze
Menge. Zu nennen sind die Programme, die ich aufgezählt habe, die umfangreiche Unterstützung, die wir zum
Beispiel benachteiligten Jugendlichen geben, die schulischen Angebote, die wir Jugendlichen machen. Der Staat
tut eine ganze Menge, aber der Staat kann nicht alles
leisten.
({3})
Wir können im Grunde nicht ausbilden. Wir tun es in
den Ministerien, wir tun es in den Behörden, wir unterstützen auch die Betriebe, aber wir können nicht in großem Maßstab ausbilden.
({4})
Wir brauchen die Wirtschaft und wir brauchen die
Betriebe, die zu ihrem eigenen Vorteil gut ausbilden
müssen und für gut ausgebildete Arbeitskräfte sorgen
müssen.
({5})
Ausbildung ist eine lohnende Investition in die Zukunft. Sie rechnet sich für die Unternehmen, übrigens
auch dann, wenn man es streng betriebswirtschaftlich
betrachtet. Es ist in der Regel teurer, Fachkräfte über den
Arbeitsmarkt zu gewinnen, als den Fachkräftenachwuchs selbst auszubilden. Wer nicht ausbildet, schadet
also nicht nur der gesamten Branche, sondern er schadet
auch seinem eigenen Unternehmen.
({6})
Das müsste doch letztlich jeder begreifen können.
Für die Stabilität und damit auch für den dauerhaften
Erfolg in der beruflichen Ausbildung ist es unverzichtbar, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ausgebildet wird. Ausbildung darf nicht konjunkturabhängig sein.
({7})
Wenn sie es ist, funktioniert das System der dualen Ausbildung nicht mehr, weil es nämlich von der Kontinuität,
von der Verlässlichkeit abhängt.
({8})
Genau das tun wir. In unseren staatlichen Programmen
bieten wir genau das an, aber auch Unternehmen und
Betriebe müssen das gewährleisten.
Wenn alle Unternehmen und Betriebe diese Aufgabe
wirklich als ihre wichtigste Aufgabe begreifen und ernst
nehmen würden, so wie das viele, gerade kleine und mittlere Unternehmen in unserem Land, tun - die will ich ausdrücklich loben und ihnen ausdrücklich Dank
aussprechen -, dann hätten wir in Deutschland kein Ausbildungsplatzproblem, dann hätten wir genügend Ausbildungsplätze, dann hätte die Branche und auch jedes Unternehmen die Sicherheit, über qualifizierten Nachwuchs
zu verfügen, damit hätten auch alle Jugendlichen die Ausbildungschance, die sie brauchen. Aber das tun nicht alle.
500 000 Betriebe, die ausbilden könnten, tun es nicht.
({9})
Das ist nicht akzeptabel. Das ist nicht hinnehmbar. Auch
diese Unternehmen müssen ihren Anteil leisten.
({10})
Wenn wir das System der dualen Ausbildung, das davon
lebt, dass Unternehmen und Betriebe mitmachen, erhalten wollen - ich will das -, dann müssen die Betriebe
mitmachen.
Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Chemiebranche und in der niedersächsischen Metallindustrie haben
vorbildlich vorgemacht, wie man die Probleme über Tarifverträge und freiwillige Initiativen lösen kann.
({11})
Ich hätte mir gewünscht, dass in den vergangenen Monaten alle Branchen in allen Regionen diese Chance ergriffen hätten.
({12})
Ich verstehe es nicht - das sage ich ausdrücklich an
die Adresse der Tarifpartner - und halte es auch nicht für
akzeptabel, dass nicht alle Tarifpartner nicht genau diesen Weg gegangen sind.
({13})
Wir hätten ihnen dafür alle Unterstützung gegeben. Das
tun wir nach wie vor, aber die Tarifpartner stehen genauso wie wir in der Verantwortung. Daran werde ich
auch nicht rütteln lassen.
({14})
Eine gesetzliche Regelung - ich sage das ausdrücklich ist das letzte Mittel; dieses Mittel erübrigt sich im Übrigen, wenn die Tarifvertragsparteien in der Wirtschaft ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommen und ihre
eigene Zukunftssicherung nun endlich auch energisch
vorantreiben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung stellt wie in den vergangenen Jahren auch
künftig erhebliche Haushaltsmittel bereit, um allen jungen Menschen eine Chance auf Ausbildung zu geben.
Wir werden die in der vergangenen Legislaturperiode
begonnenen Reformen zur Weiterentwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung mit Nachdruck vorantreiben. Die Anträge der Oppositionsfraktionen bieten hier
leider nicht viel Neues: Sie legen entweder umfangreiche Forderungskataloge vor, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundesregierung auf all diesen Feldern
längst gehandelt hat - ein Beispiel ist die Lockerung
bzw. Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung -,
({15})
oder Sie schütten gleich das Kind mit dem Bade aus - das
ist auch nicht besonders hilfreich -, indem Sie die totale
Modularisierung der dualen Berufsausbildung vorschlagen. Damit würden Sie zugleich das Berufskonzept aufgeben. Das alles führt nicht zu einer Verbesserung des
dualen Systems.
({16})
Deshalb sage ich ausdrücklich: Die Bundesregierung
setzt auf moderne, zukunftsfähige Berufe, auf neue Qualifikationsmöglichkeiten und Flexibilität. Wir haben inzwischen über die Hälfte der gängigen Berufe modernisiert und dabei insbesondere im wachsenden
Dienstleistungssektor neue Berufe geschaffen. Wir werden genau diese Politik fortsetzen. Wir wollen eine exzellente berufliche Ausbildung, wir wollen die notwendige Flexibilität sicherstellen und zugleich das
Berufskonzept erhalten. Darüber befinden wir uns in intensiven Gesprächen mit den Sozialpartnern, mit Wissenschaftlern, mit Ländervertretern, mit Experten und
natürlich auch mit den Abgeordneten in den Ausschüssen; diesen Austausch werden wir auch fortsetzen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dagmar Wöhrl.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir wollen
die wirtschaftliche Position unseres Landes im globalen Wettbewerb stärken, neue Arbeitsplätze
schaffen und unseren Lebensstandard sichern und
ausbauen.
({0})
So lautete der erste Satz im Bildungskapitel Ihres Koalitionsvertrags. Das ist einwandfrei, hervorragend; da können wir alle zustimmen, auch wir von der Union.
({1})
Dieser Satz stammte allerdings nicht von Rot-Grün,
wenn nicht sofort wieder ein Aber nachgeschoben
würde, dort fordern Sie nämlich die Bundesregierung
auf - ich zitiere -:
für den Fall, dass die Wirtschaft nicht in der Lage
ist, für das … ausreichende Angebot an qualifizierten Nachwuchskräften … zu sorgen …, umgehend
eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die darauf
zielt, Lasten gerecht zu verteilen.
So lautet Ihre Forderung in dem Antrag zur heutigen Debatte.
({2})
Dem können wir nicht zustimmen. Das werden Sie auch
verstehen; es ist nämlich ein wirtschaftspolitischer Irrwitz, den Sie hier auf den Weg bringen.
({3})
Liebe Kollegen, Sie haben mit dieser Forderung gezeigt, dass Sie immer noch nicht verstanden haben, wohin die Reise gehen muss, damit wir endlich aus der
Wirtschaftskrise in unserem Land herauskommen. Sie
kennen die Zahlen; ich brauche sie nicht extra zu erwähnen: 559 000 junge Menschen unter 25 Jahren sind noch
immer arbeitslos gemeldet. Ich rede gar nicht über die
70 000, die sich in Maßnahmen des JUMP-Programms
befinden und so aus der Statistik herausgefallen sind.
Frau Bulmahn hat eben angesprochen, dass wir noch immer eine sehr große Lehrstellenlücke haben. Wir hoffen, dass wir sie verkleinern können, aber die Lücke ist
immerhin um 45 Prozent größer als die im letzten Jahr.
Hier müssen wir eine Trendwende zu mehr Lehrstellen
und mehr Jobs hinbekommen, sonst schaffen wir sozialen Sprengstoff, der unsere Zukunft bedroht.
In dieser Situation geht es nicht immer nur um irgendwelche Korrekturen. Es geht hier wirklich um klare
Richtungsentscheidungen. Wohin wollen wir gehen?
Auf der einen Seite plädieren Sie für staatlichen Dirigismus. Sie hoffen wirklich, damit etwas zu bewirken, wo
Sie nichts bewirken werden.
({4})
Auf der anderen Seite stehen wir von der Union für mehr
Freiheit, mehr Verantwortung und Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Einzelnen.
Es ist bezeichnend für Ihre Denkweise. Bei Ihnen gibt
es immer wieder die eine Überschrift: Verteilung. Aber
es geht nicht um gerechte Lastenverteilung, wie Sie sie
in Ihrem Antrag fordern, sondern es geht um die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen und mehr Jobs insgesamt. Für mich ist es unbegreiflich, dass Sie kleine und
mittlere Betriebe, die zwei Drittel aller Ausbildungsplätze stellen und nicht in der Lage sind, noch mehr Ausbildungsplätze zu schaffen, zusätzlich mit einer Ausbildungsplatzabgabe bestrafen wollen.
({5})
Wenn der Mittelstand nicht weitere Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen kann, müssen Sie doch einmal fragen: Warum kann er das nicht? Das liegt doch
auch an den Rahmenbedingungen, die Sie schaffen, an
den steigenden Abgaben, den steigenden Steuern, dem
Zuwachs an Bürokratie.
({6})
Deswegen müssen staatliche Zwangsmaßnahmen abgebaut werden, statt neue zu schaffen, wie Sie es vorschlagen.
Vor allem brauchen wir ein erstklassiges Bildungssystem.
({7})
Warum investieren denn die Unternehmen nicht mehr?
Warum stellen sie keine neuen Mitarbeiter mehr ein?
Warum werden keine neuen Lehrstellen mehr geschaffen?
({8})
Die Antwort ist einfach und einleuchtend - das wissen
auch Sie -: Eingestellt wird nur, wenn es sich lohnt und
wenn geeignete Bewerber vorhanden sind. Das sind die
beiden entscheidenden Kernvoraussetzungen, die aber
von Ihnen und in Deutschland leider immer weniger erfüllt werden.
Nur rund ein Drittel aller deutschen Unternehmen
macht in diesem Jahr überhaupt noch Gewinne, ein Drittel wird mit plus/minus null aus dem Geschäftsjahr gehen und ein Drittel tiefrote Zahlen schreiben. Auf die
40 000 Insolvenzen, die die Statistik ausweist, will ich
jetzt gar nicht näher eingehen. Die volkswirtschaftlichen
Verluste gehen in die Milliarden. Das wirkt sich natürlich auch auf den Arbeitsmarkt und den Ausbildungsmarkt aus.
Sie kennen doch die Zahlen aus Nürnberg: Im Vergleich zum Juli des letzten Jahres waren es im Juli dieses
Jahres 622 000 Beschäftigte weniger. Das bedeutet nicht
nur 622 000 Einzelschicksale, sondern auch 622 000
Beitragszahler weniger und 622 000 Steuerzahler weniger. Gleichzeitig steigen die Arbeitslosenzahlen.
Wie geht es nun mit dem Bildungssystem in unserem
Land weiter? Wir müssen unser Bildungssystem zukünftig grundlegend verbessern und uns dabei den neuen Herausforderungen anpassen. Noch nie zuvor waren die
Faktoren Wissen und Humankapital so essenziell für den
ökonomischen Erfolg wie heute.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, da wir uns einig sind, dass das ein
wichtiges Thema ist: Wie beurteilen Sie die Tatsache,
dass das Wirtschaftsministerium auf der Regierungsbank
heute nicht vertreten ist?
({0})
Ich denke, dadurch wird das geringe Interesse des
Wirtschaftsministeriums an diesem Thema deutlich.
({0})
- Ich begrüße ganz herzlich den Staatssekretär, Herrn
Staffelt. Nun können wir, glaube ich, im Thema fortfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben angesprochen, wie wichtig die Faktoren Wissen und Humankapital gerade für den ökonomischen Erfolg sind.
Es ist im Sinne einer hohen Arbeitsproduktivität immens
wichtig für unsere Zukunft, dass wir hervorragend ausgebildete Mitarbeiter haben; denn nur so werden wir zukünftig in der Lage sein, hohe Löhne zu finanzieren,
({1})
unseren Lebensstandard zu erhalten, Herr Kollege, und
die Mittel für einen Sozialstaat zu erwirtschaften. Wir
alle haben doch ein gemeinsames Ziel: Wir wollen wettbewerbsfähig sein, auch international. Dafür müssen wir
nicht nur gut sein, sondern dafür brauchen wir exzellent
qualifizierte Beschäftigte, die wir selbst ausbilden, aber
auch anlocken.
Wie schaut es momentan aus? Früher kamen die Besten der Besten in unser Land. Heute verlassen jährlich
100 000 Topleute unser Land. Der neue Bericht der EUKommission spricht hier eine klare Sprache. Jeder siebte
in Deutschland promovierte Nachwuchswissenschaftler
wird inzwischen von den USA abgeworben. Dieser
Braindrain, diese Abwanderung der Köpfe, findet ganz
leise, still und heimlich statt und ist hochgefährlich.
10 Prozent unserer Schulabgänger schaffen nicht
einmal einen Elementarabschluss.
({2})
OECD-Durchschnitt: 6 Prozent. Die Folge dieser Katastrophe sind immer mehr junge Menschen ohne Qualifikation, ohne Job. Mehr als zwei Drittel aller jungen
Arbeitslosen haben nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Aber statt hier anzupacken und diese Misere zu
beenden, werden inzwischen 40 Prozent mehr für die
Arbeitslosen als für Investitionen in die Schulen ausgegeben.
Dieser Abwärtstrend zeigt sich auch an den Hochschulen. Auch Sie wissen: Jeder vierte Student verlässt
heute ohne ein Examen die Universität. Noch viel
schlimmer ist es bei den Geistes- und Sprachwissenschaften: Es scheitern vier von zehn Kandidaten. Uns ist
doch in den letzten Wochen von der OECD ins Stammbuch geschrieben worden, dass unsere Investitionen im
Bildungsbereich viel niedriger sind als in anderen Ländern. Es ist doch besorgniserregend, wenn wir unsere
Bildungsausgaben senken und weniger als andere Länder investieren.
({3})
Es geht nicht nur um den finanziellen Aspekt, sondern
auch um unser gesellschaftliches Klima. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungfraktionen, Sie setzen
permanent auf Neid. Sie bringen immer wieder neue
Steuern und Abgaben für Vermögende ins Spiel. Warum
fördern Sie nicht ganz gezielt Eliten? Das sind doch gerade unsere besten und hellsten Köpfe. Wir müssen endlich weg von dem Negativmix aus harten und weichen
Faktoren, der uns immer wieder nach unten gebracht hat.
Deshalb ist eine Diskussion um eine Zwangsabgabe, um
immer mehr staatlichen Einfluss, Bürokratie und Verwaltung Gift.
Es gibt viele Argumente gegen die Ausbildungsplatzabgabe. Ich will nur einige davon nennen.
Erstens: Mehrkosten, die die Unternehmen sich nicht
mehr leisten können. Sie können nicht mit noch mehr
Kosten belastet werden.
({4})
Wir sind mit unseren Arbeitskosten schon jetzt Weltmeister.
Zweitens: unproduktive Verwaltungskosten aufgrund
der Ausbildungsplatzabgabe, die das Institut für Wirtschaft auf 700 Millionen Euro schätzt.
({5})
Die Abgabe führt zu Mehrarbeit, aber nur auf Beamtenebene und nicht im Bereich der Unternehmer.
({6})
Drittens. Die Eignung der Bewerber wird vollkommen außer Acht gelassen.
Es wird außer Acht gelassen, dass die Unternehmen
vollständig verschiedene Anforderungen stellen. Viele
hoch spezialisierte Unternehmen brauchen weniger
Facharbeiter, dafür mehr Akademiker. Sie bieten daher
Praktika, aber keine Lehrstellen an. Das kostet, wird allerdings nicht honoriert.
Ihre Politik trimmt die Mentalität unserer Gesellschaft auf Staatswirtschaft.
({7})
Das lässt sich nicht leugnen. Die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie planen, ist volkswirtschaftlich total schädlich und ein ordnungspolitischer Quatsch. Das wissen
auch Sie.
({8})
Sie bringen hier ein gigantisches Ablenkungsmanöver
auf den Weg, um vom Versagen Ihrer Politik abzulenken. Wir brauchen keine neue Strafsteuer.
({9})
Wir brauchen Unterstützung für junge, kreative Menschen. Vor allem brauchen wir Motivation. Die geben
Sie ihnen leider nicht.
({10})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wöhrl, der Staat kann in unserer Gesellschaft nicht für alles die Verantwortung tragen.
Schon gar nicht kann er qualifizierte Fachkräfte selbst
ausbilden.
({0})
Was ist das für ein Denkmodell, dem Sie hier unterliegen? Der Staat hat das Risiko und die Wirtschaft macht
den Gewinn - oder was?
Sie sollten sich der Realität nicht verschließen. Sie
sollten sich dem Populismus der Wirtschaft nicht beugen. Das ist zu billig und liegt nicht im Interesse der jungen Menschen in unserem Land.
({1})
Alle Jahre wieder gibt es das gleiche Bild: Jeden
Sommer warnen die Arbeitsämter vor fehlenden Lehrstellen, rufen Gewerkschaften sowie Politikerinnen und
Politiker die Betriebe auf, mehr Ausbildungsplätze zu
schaffen. In diesem Jahr ist die Lage besonders trist.
Schon seit April erinnern wir die Arbeitgeber an ihre
Pflicht, Ausbildungsplätze zu schaffen und somit genügend Lehrstellen für die jungen Menschen in unserem
Land bereitzustellen. Wir haben eine Frist gesetzt: Falls
es bis zum 30. September dieses Jahres auf freiwilliger
Basis nicht genügend Lehrstellen gibt, wird der Gesetzgeber handeln, um endlich ein konjunkturunabhängiges Ausbildungsmodell für Deutschland zu entwickeln.
({2})
Selbst wenn sich bis zum Ende dieses Monats herausstellen sollte - das hoffen wir alle -, dass kein Jugendlicher ohne Lehrstelle bleibt, so gilt doch: Es kann nicht
sein, dass fast die Hälfte der Schulabgängerinnen und
Schulabgänger monatelang in Unsicherheit lebt, ob und
wo sie einen Ausbildungsplatz bekommt. Über eine
Freiheit bei der Berufswahl brauchen wir erst gar nicht
zu reden. Hohe Abbrecherquoten sind schon vorprogrammiert.
Wir müssen die Ausbildung der jungen Menschen unabhängig von konjunkturellen Unwägbarkeiten sichern.
Grundsätzlich sind die Betriebe, ist die Wirtschaft in der
Pflicht, genügend Lehrstellen in Deutschland zu schaffen. Dieser Aufgabe kommen sie Jahr für Jahr immer
weniger nach. Bund und Länder tragen hingegen immer
stärker die Kosten für Maßnahmen der beruflichen Qualifikation.
Mit unserem grünen Modell der „Stiftung betriebliche Bildungschance“ wollen wir diesen Trend stoppen.
Die Idee der Stiftung ist: Wir wollen die ausbildenden
Firmen finanziell unterstützen. Jeder Ausbildungsbetrieb
bekommt pro Lehrling die Nettokosten einer Lehrstelle
aus den Mitteln der Stiftung erstattet. Von allen ausbildungsfähigen Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten
erheben wir eine Umlage in gleicher Höhe. Wer also
mehr ausbildet als erforderlich, bekommt demzufolge
auch mehr aus der Stiftung heraus, als er eingezahlt hat.
Einige von Ihnen befürchten, die Unternehmen könnten sich bei einem solchen Modell, ohne mit der Wimper
zu zucken, freikaufen. Ich frage Sie: Was passiert denn
momentan mit den Ausbildungsverweigerern unter den
Unternehmen? - Es passiert nichts. Gerade die großen
Konzerne drücken sich vor ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung zur Ausbildung, ohne auch nur 1 Cent zu zahlen. Als Dank werben sie dann auch noch dem Mittelstand die ausgebildeten Fachkräfte ab. Wenn sich jedoch
unser Stiftungsmodell durchsetzen sollte, müssen Ausbildungsmuffel unter den Konzernen zumindest Lehrstellen in anderen Betrieben finanzieren. Sie können sich
dann nicht mehr so billig ihrer Ausbildungspflicht entziehen.
Frau Kollegin Wöhrl, Sie behaupten, allein die wirtschaftliche Lage sei daran schuld, dass sich die Wirtschaft die Ausbildung nicht mehr leisten könne.
({3})
Ich halte das für ein sehr oberflächliches Argument.
({4})
Denn schon jetzt ist der Fachkräftemangel ein Faktor
der derzeit schlechten Wirtschaftslage. Wenn Betriebe
Aufträge nicht annehmen können, weil ihnen die hoch
qualifizierten Fachkräfte fehlen, dann ist das ein hausgemachtes Problem der Wirtschaft.
({5})
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat
mittlerweile die Zeichen der Zeit erkannt und eine Ausbildungsoffensive gestartet. In einer Umfrage Anfang
September gaben die regionalen Kammern in einigen
Regionen bis zu 10 Prozent weniger Ausbildungsverträge als im Vorjahr an. Auch in den angeblich wirtschaftlich so starken Regionen wie Baden-Württemberg
oder Bayern wird derzeit mit einem Minus von 5 Prozent
bei den Lehrstellen gerechnet.
Dabei sind Investitionen in die Ausbildung von Arbeitskräften nicht nur gesellschaftlich dringend erforderlich; sie lohnen sich auch für die Betriebe. Es ist kurzsichtig von den Unternehmen, sich aus der betrieblichen
Ausbildung zurückzuziehen und andere Betriebe und
immer stärker den Staat die Lasten der beruflichen Ausbildung tragen zu lassen. Ein besonders schlimmes Beispiel bietet die Telekom. Im kommenden Jahr reduziert
sie die Zahl ihrer Auszubildenden von 4 000 Lehrlingen
auf zwei einsame Auszubildende. Ein solches Verhalten
ist aus meiner Sicht sowohl gesellschaftlich als auch
wirtschaftspolitisch absolut unverantwortlich.
({6})
In Zukunft wird ein solches Konzept nicht mehr
aufgehen. Entweder die Unternehmen bieten Ausbildungsplätze an oder sie werden Lehrstellen in anderen
Betrieben bezahlen. Dann werden sich auch die Lehrstellenverweigerer unter den Betrieben wieder auf den
Nutzen einer eigenen Ausbildung besinnen.
Nun zu den vorliegenden Anträgen, die wir seit einiger Zeit im Haus diskutieren. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, Sie können in Ihrem Antrag zur
beruflichen Bildung doch nicht ernsthaft fordern, dass
gerade die Auszubildenden auf Teile ihres Einkommens
verzichten, damit die Wirtschaft wieder ihrer Ausbildungspflicht nachkommt.
({7})
Wenn Ihre Pläne Wahrheit werden, bildet die Wirtschaft bald nur noch aus, wenn es wieder Zugeständnisse
zulasten der jungen Menschen gibt. Eine lustige Logik,
die Sie von der CDU/CSU da haben: Irgendwann werden Ausbildungsplätze unter den jungen Menschen versteigert oder wie soll das funktionieren?
({8})
Genauso verfehlt ist Ihre Forderung, die Gelder aus
dem JUMP-Programm für die Senkung der Lohnnebenkosten zu nutzen. Sie finanzieren auf Kosten der Jungen
die veralteten Strukturen, deren Reform Sie in Ihrer Regierungszeit verschlafen haben.
({9})
Es kann uns aber nicht nur um die bloße Sicherung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen gehen.
Wir müssen uns auch um die Qualität der Ausbildung
und die Sicherung einer individuellen Berufsberatung
bemühen. Eine flexiblere Ausbildungsstruktur ist notwendig. Der Arbeitsmarkt wandelt sich, und zwar nicht
zuletzt durch die zunehmende Internationalisierung und
die steigende Geschwindigkeit der technischen Entwicklung.
Darauf muss unser Ausbildungssystem schnell reagieren können, ohne aber kurzfristigen Trends zu erliegen. Unternehmen brauchen individuell qualifizierte
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit spezifischen Fähigkeiten. Diese müssen aber gleichzeitig auf einen
Grundstock allgemeiner Fähigkeiten bauen können, um
sich auch in andere Betriebe oder Bereiche schnell einarbeiten zu können.
Diese Flexibilisierung muss nach unserer Vorstellung
auch denjenigen nützen, die derzeit besondere Schwierigkeiten auf dem Ausbildungsmarkt haben. Gerade benachteiligten jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten
wollen wir mit Qualifizierungsbausteinen bessere Chancen bieten. Eine Modularisierung darf es aber nur unter
der Beibehaltung voller Berufsbilder geben. Berufe minderer Qualifikation sind keine Antwort auf steigende
Anforderungen. Flexibel sollten wir in Art und Dauer
der Ausbildung sein, nicht aber in unseren Ansprüchen
an Qualität.
({10})
Hierin, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
sehe ich die Schwachstelle Ihres Antrages. In ihm wird
keine Antwort auf die entscheidende Frage gegeben, wie
mit Bausteinen vollständige, qualitativ hochwertige
Ausbildungen gesichert werden können. Die völlige Gestaltungsfreiheit der Betriebe, wie Sie sie fordern, ist ein
absoluter Irrweg. Die große Gefahr ist dann, dass junge
Menschen unter dem Etikett einer Ausbildung nur noch
für die Bedürfnisse eines einzelnen Betriebes angelernt
werden.
Wir müssen den jährlichen Hype um den Ausbildungsplatz mit einem dauerhaft wirksamen Instrumentarium endgültig beenden. Unser Stiftungsmodell ist hier
ein gangbarer Weg. Wir müssen das duale System mit
der Reform des Berufsbildungsgesetzes fit für die Zukunft machen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, damit wir Tausenden junger Menschen in diesem Land einen Weg in eine hoffnungsvolle berufliche Zukunft
ermöglichen können.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph
Hartmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Ausbildungsjahr hat begonnen, aber nicht
für jeden, der ausbildungswillig und ausbildungsfähig
ist. Gerhard Schröder hat im April 1998 angesichts einer
Bilanz von 466 000 jugendlichen Arbeitslosen davon gesprochen, dass das die Herzlosigkeit von Schwarz-Gelb
sei. In diesem April hatten wir 520 000 jugendliche Arbeitslose, also 12 Prozent mehr. Wenn das damals eine
schwarz-gelbe Herzlosigkeit war, dann ist das, was im
Moment in diesem Land passiert, rot-grüne Grausamkeit.
({0})
Das ist eine Bilanz, die Sie zu verantworten haben.
Auch für die Ursachen sind Sie verantwortlich. Das ist
die Quittung für eine vollkommen verfehlte Wirtschaftspolitik in den letzten fünf Jahren. Die Abgabenquote und
die Steuerlast sinken nicht. Die Wirtschaft stagniert im
dritten Quartal hintereinander. Der Internationale Währungsfonds sagt deutlich: Deutschland ist zur Wachstumsbremse in der Welt geworden. Im letzten Jahr hatten
wir 37 000 Insolvenzen; in diesem Jahr sind es 40 000.
Allein diese Pleiten kosten bei einer angenommenen
Ausbildungsquote von 5 Prozent die Zahl an Ausbildungsplätzen, die fehlen.
({1})
Bitter rächt sich, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dass Sie eines nicht bemerken: Ausbildungsplätze kann man nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur
mit der Wirtschaft schaffen.
({2})
Ein funktionierendes Bildungssystem ist ein weiterer
Punkt, der nötig wäre, um Ausbildung zu sichern. Hier
ist die Situation nicht besser: Die Hauptschule verkommt
immer mehr zur Restschule. Unsere Lehrer brauchen
mehr pädagogisches Wissen, um jeden entsprechend seinen Fähigkeiten individuell zu fördern. Die Ganztagsschulen in diesem Land verwahren viel zu häufig, statt
zu bilden. All das sind die Ursachen dafür, dass
15 Prozent eines Altersjahrgangs überhaupt nicht ausbildungsfähig sind, weil ihnen elementare Grundkenntnisse
fehlen. Viele Betriebe finden keine geeigneten Bewerber. Es kann aber nicht sein, dass die Betriebe das auslöffeln müssen, was ihnen andere eingebrockt haben.
({3})
Die Instrumente, die die Bundesregierung zur Bekämpfung der Misere einsetzt, sind allesamt untauglich.
Beginnen wir mit den Ausbildungsplatzentwicklern,
die bei ihrer Einführung nach der Wende sehr wichtig gewesen sind, um den Betrieben in den neuen Bundesländern ein Stück weit unter die Arme zu greifen und sie in
das neue System zu integrieren. Heute jedoch benutzen
Sie dieses System als Verkaufsargument. Es geht hier
aber nicht um eine bessere Verkaufsmöglichkeit oder
eine schönere Verpackung, sondern es geht um den Inhalt. Der Inhalt muss besser werden im Sinne einer besseren Wirtschaftspolitik und nicht, indem Sie versuchen,
Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik besser zu verkaufen.
({4})
Dazu kommt JUMP plus: Die Bundesregierung
nimmt 200 Millionen Euro in die Hand, um langzeitarbeitslosen Jugendlichen eine Beschäftigung zu verschaffen. Leider finanzieren Sie damit häufig Warteschleifen,
die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder gleich in die
Arbeitslosigkeit führen. JUMP plus hilft nur wenigen
jungen Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt, in
den sie wirklich hineingehören.
Als Höhepunkt der ganzen Geschichte drohen Sie mit
der Ausbildungsplatzabgabe. Bei den Grünen nennt
sich das Ganze Stiftungsmodell. Dieses Stiftungsmodell
bedeutet eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, also genau das, was wir in Deutschland nicht brauchen.
({5})
Frau Kollegin Bettin, ich sage Ihnen ganz offen - denn
das ist bei Ihren Worten vorhin ganz deutlich geworden -:
Dahinter steht die Denke von Rot-Grün. Sie heißt: Ist die
Wirtschaft nicht artig, dann wird sie bestraft - wie böse
Kinder. In dieser Art und Weise kann die Bundesregierung mit der mittelständischen Wirtschaft, mit den Handwerkerinnen und Handwerkern und den kleinen Betrieben in diesem Land nicht umgehen!
({6})
Mit einer Strafe - nichts anders ist es; Frau Sager hat gesagt: Das sind die Folterinstrumente, die wir der Wirtschaft zeigen müssen - werden Sie keinen einzigen
Christoph Hartmann ({7})
zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen. Wollen Sie einen Mittelständler dafür bezahlen lassen, dass er keinen
ausbildungsfähigen Bewerber findet? Wollen Sie einem
kleinen Unternehmer, dem das Wasser bis zum Hals
steht und der deswegen nicht ausbilden kann, weitere
Belastungen aufbürden? Dadurch wird sich die Situation
noch verschärfen und das führt zu weiteren Insolvenzen
in diesem Land. Das ist kontraproduktiv und der falsche
Weg.
({8})
DIHK-
Eine Strafabgabe bringt keinen einzigen zusätzlichen Ausbildungsplatz, sondern Verunsicherung
und weniger Gerechtigkeit.
Sie dürfen nicht die Opfer zu Tätern machen. Bürden
Sie der Wirtschaft nicht zusätzliche Belastungen auf,
sondern senken Sie die Belastungen der Wirtschaft.
({0})
Statt dieser staatsgläubigen Konzepte, die Sie hier
verkaufen wollen, brauchen wir eine neue Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik und
wir brauchen eine Flexibilisierung in der Berufsausbildung. Dazu gehören individuelle Ausbildungslängen, die
auch den praktisch begabten Jugendlichen die Möglichkeit geben, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.
Dazu gehören Berufe mit zweijähriger und theoriegeminderter Ausbildung.
({1})
Wir brauchen eine Modularisierung, um eine flexible
Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten. Dazu gehören
auch Berufe mit dreieinhalbjähriger Ausbildung für
Jugendliche, die einen längeren Zeitraum benötigen, bis
sie den Stoff beherrschen.
Wir brauchen eine Internationalisierung, um Leistungen, die in anderen Ländern erbracht worden sind, mittels eines Credit-Point-Systems in Deutschland anrechnen zu können. Wir brauchen eine Flexibilisierung der
möglichen Beschäftigungszeiten beim Jugendarbeitsrecht. Wir müssen die Ausbildungshemmnisse auch in
den Tarifverträgen beseitigen. Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Ausbildungsvergütung.
({2})
Lassen Sie mich abschließend zu dem Bereich originäre Bildungspolitik noch etwas sagen. Viel zu häufig
verlassen Schüler unsere Schulen, ohne ein Mindestmaß
an Kompetenz erworben zu haben. Darauf müssen wir
einwirken. Umgekehrt gibt es aber auch besonders
starke Schüler, die zwar die oxidative Decarboxylierung
in Strukturformeln darstellen können, aber bei einem
Dreisatz überfordert sind. Auch dabei muss umgedacht
werden. Es muss ein entsprechendes Basiswissen vermittelt werden. Dann wird ein Schuh daraus und nicht
dadurch, dass wir nur über die Reform der Oberstufe in
den einzelnen Ländern nachdenken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Situation ist zu wichtig, als dass diese Bundesregierung nur
weiter an den Symptomen herumdoktern könnte. Wir
brauchen richtige Reformen, einen Kurswechsel in der
Wirtschaftspolitik, eine bessere Bildungspolitik sowie
eine Flexibilisierung und Modernisierung der Berufsausbildung. Handeln Sie! Werfen Sie das Ruder herum!
Aber tun Sie das mit den Betrieben und nicht gegen sie.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung zu dem
machen, was der Redner und die Rednerin von der Opposition hier formuliert haben. Angesichts der Situation,
in der wir uns momentan befinden - es fehlen Ausbildungsplätze -, ist es völlig unangemessen, hier nur zu
beschreiben, wie die Situation ist, was Ihnen nicht passt
und was nicht geht, und jugendlichen Menschen, die
heute zum Beispiel zuhören, keinen einzigen Vorschlag
zu machen, wie die Ausbildungsplatzsituation konkret
verbessert werden kann.
({0})
Einige Bemerkungen zur Rede von Frau Wöhrl, die
leider schon weg musste. Man darf in einer solchen Situation nicht mit falschen Behauptungen operieren. Sie
hat beispielsweise behauptet, die Bildungsausgaben des
Bundes seien in den letzten Jahren gesunken. Das ist
völliger Unsinn. In den Jahren 1998 bis 2003 sind zum
Beispiel die Ausgaben des Bundes für Hochschulen um
23,4 Prozent gestiegen, die der Länder durchschnittlich
um 12,9 Prozent.
({1})
In Bayern dagegen sind sie - das sage ich, obwohl der
Wahlkampf vorbei ist - nur um 2,9 Prozent gestiegen.
Frau Wöhrl sollte sich zunächst die Tatsachen ansehen,
anstatt einfach falsche Zahlen auf den Tisch zu legen
und wieder einmal zu erzählen, was alles nicht geht.
({2})
Umso mehr verwundert mich dieses Verhalten, weil
wir heute eigentlich, wenn wir es genau nehmen, über
folgende zwei Themen reden wollen: zum einen über die
Reformen im Bereich der beruflichen Bildung und zum
anderen über die Ausbildungsplatzsituation. Der Bericht
des Ausschusses zum Bereich berufliche Bildung spiegelt nicht wider, was Sie uns heute vorführen wollten.
({3})
In Wirklichkeit bestehen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Bereich Reform der beruflichen Bildung viele
Gemeinsamkeiten. Ich halte es im Interesse der jungen
Menschen für falsch, nicht deutlich zu machen, dass dieses Parlament in dieser Frage gemeinsame Ziele hat.
Wir verfolgen gemeinsam das Ziel, die duale Ausbildung aufrechtzuerhalten. Sie ist noch immer die tragende Säule unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
({4})
Vergessen Sie nicht: Wenn Wirtschaftsexperten nach den
Standortvorteilen Deutschlands gefragt werden, nennen
sie noch immer - das suche ich mir nicht aus; das ist belegt - gute Infrastruktur, wenige Streiktage, gut ausgebildete Ingenieure und insbesondere das System der dualen
Ausbildung.
Umso wichtiger muss es allen gemeinsam sein, dass
dieses System weiterentwickelt wird; denn wenn sich, so
wie es gerade der Fall ist, die Faktoren rund um das System verändern, dann muss sich dieses System natürlich
mitentwickeln.
({5}))
Genau deshalb ist es richtig und wichtig, dass die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und des Berufsbildungsgesetzes bereits durch die Koalitionsvereinbarungen auf die Agenda gesetzt haben. Ich muss Ihnen
deutlich sagen: Wir brauchen Ihre spät gestellten Anträge nicht, um genau dies in den Mittelpunkt der Reformbewegungen im Bereich der beruflichen Bildung zu
stellen.
({6})
Zu dieser Weiterentwicklung wird eine bessere Verzahnung der beiden Lernorte Schule und Betrieb gehören. Wir alle wissen aus der Praxis, dass in diesem Bereich durchaus noch ein Verbesserungsbedarf besteht.
Daneben müssen wir deutlich machen, dass berufliche
Qualifikation keine Sackgasse ist, sondern dass sie in
Zukunft noch stärker Voraussetzung für den Zugang zu
einer weiteren und besseren Qualifikation und auch zu
Studiengängen sein wird.
({7})
Schließlich müssen wir durch die Reform die berufliche
Bildung für den internationalen Wettbewerb fit machen.
Deshalb werden wir alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich die Berufsbildung in Deutschland den internationalen Veränderungen öffnen und sie auch im
europäischen Berufsbildungsraum weiterhin bestehen
wird.
Das war nur eine kurze Zusammenfassung der notwendigen Veränderungen, die wir brauchen. Wenn wir
uns mit den Veränderungen der Strukturen im Bereich
der Berufsbildung befassen, dann müssen wir uns - so
wie bei anderen Reformen, zum Beispiel die der Systeme der sozialen Sicherung - auch mit der Ausgestaltung der Finanzierungsstrukturen befassen. Man kann
sich nicht immer nur eine Seite anschauen. Auch die Finanzierungsstrukturen gehören zu dieser Debatte.
Wir sehen, dass sich bei den Finanzierungsstrukturen etwas verändert hat. Die berufliche Bildung und die
berufliche Qualifikation werden immer stärker auch von
staatlicher Seite mitgetragen.
({8})
Wir halten diese Entwicklung für falsch.
({9})
Sie fragen nach dem Warum.
({10})
Ich kann es Ihnen sagen: Wir haben von staatlicher Seite
her die Verantwortung dafür übernommen. Die Wirtschaft fordert den Staat immer wieder auf, er habe sich
immer mehr herauszuhalten. Aber staatliche Gelder sollen in die berufliche Bildung gesteckt werden, weil die
Wirtschaft sich von ihrer Verantwortung für die betriebliche Ausbildung entfernt.
({11})
Das werden wir nicht zulassen.
Im Übrigen: Wer für die Staatsferne eintritt, der muss
auch die Konsequenzen, die aus seiner Verantwortung
im Bereich der Ausbildung erwachsen, selbst tragen.
Dieses doppelgleisige Fahren werden wir von der politischen Seite her nicht mehr zulassen. Wir sagen deutlich:
Wir wissen, wo unsere Verantwortung liegt. Die Verantwortung zur Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungsplätzen liegt aber auf der Seite der Wirtschaft. Das
hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil noch einmal sehr deutlich niedergelegt.
Deshalb gilt für uns: Wir unterstützen jede politische
Aktion - wie zum Beispiel die Ausbildungsoffensive -,
die zum Ziel hat, dass ausreichend viele Ausbildungsplätze für junge Menschen zur Verfügung gestellt werden.
({12})
Wir entziehen uns dieser Verantwortung nicht. Ich sage
Ihnen: Wir lassen die Verantwortung in diesem Bereich
aber auch nicht verschieben.
({13})
Wir stellen noch einmal fest: Wir würden uns freuen,
wenn zum Ende des Monats tatsächlich ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen vorhanden wäre.
Aber auch hier gilt: Wir lassen uns nicht hinhalten. Wir
müssen hier Verantwortung übernehmen und dafür
sorgen, dass junge Menschen Startchancen erhalten.
Chancen auf Bildung und Ausbildung - das war für die
Sozialdemokraten schon immer der Kern sozialer Gerechtigkeit.
({14})
Dies wird auch der Kern sozialer Gerechtigkeit bleiben.
Wir werden dafür sorgen, dass junge Menschen ausreichende Lebenschancen erhalten.
({15})
Ich sage es sehr deutlich: Eine gesetzliche Regelung
zur Finanzierung von Ausbildungsplätzen ist natürlich
nie ein Wert an sich. Sollte die Wirtschaft ihre Verantwortung aber nicht tragen, dann wäre eine gesetzliche
Regelung für uns nichts weiter als ein Instrument, dafür
zu sorgen, dass die Wirtschaft ihrer Verantwortung nachkommt. Wir sehen uns verpflichtet und werden auch entsprechend handeln. Wir werden die Verantwortung von
der Wirtschaft einfordern.
({16})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael
Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, Berufsausbildung ist kein Wettbewerb so
ähnlich wie „Schönere Städte und Gemeinden“, bei dem
man als Unternehmen oder als Azubi mitmachen oder
nicht mitmachen kann. Ausbildung ist, so wie Sie es gesagt haben, eine Investition in die Zukunft. Genauso
wie die Investitionen in Deutschland in anderen Bereichen der Wirtschaft sinken, sinken auch die Investitionen der Unternehmen in die Ausbildung. Das kann nicht
anders sein in einer Zeit, in der wir 78 000 Unternehmenspleiten zählen, die Umsätze im Handwerk und in
anderen Bereichen zurückgehen, wo wir auf dem
Arbeitsmarkt Rekordzahlen bei der Arbeitslosigkeit erreichen, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zurückgeht und das Wirtschaftswachstum
stagniert. Es kann keine konjunkturunabhängige Ausbildung geben. Das ist schon vom Ansatz her falsch,
({0})
es sei denn, Sie führen staatliche Zwangsmaßnahmen
ein. Das wollen wir auf keinen Fall.
({1})
113 000 Jugendliche suchen derzeit einen Ausbildungsplatz, sagt uns das Arbeitsamt. Was macht die
Bundesregierung? - Sie schaltet Anzeigen, klebt Plakate
mit der Aufschrift „Mehr Jobs“, „Chancen geben“,
„Deutschland bewegt sich“. 2,3 Millionen Euro kostet
diese Kampagne der Bundesregierung und sie hilft den
Jugendlichen kein bisschen.
({2})
Die Kampagne ist falsch. Deutschland bewegt sich nicht,
sonst hätten Sie das Problem der Ausbildungsplätze in
den vergangenen Monaten gelöst.
Betriebliche Ausbildungsplätze in den neuen Ländern
wurden in der Vergangenheit durch das Programm
„Ausbildungsplatzentwickler“ akquiriert. 14 400 Jugendliche haben dadurch eine Chance bekommen. Wir
haben lange gefordert, dieses Programm auf die alten
Bundesländer auszuweiten. Das tun Sie mit dem kommenden Haushalt; in dem Sie 2 Millionen Euro dafür zur
Verfügung stellen. Allerdings soll der Ansatz in den
neuen Ländern um 1,5 Millionen Euro reduziert werden.
Das kritisieren wir ganz massiv und wir fordern Sie auf,
diese Reduzierung zurückzunehmen. Das kann nicht
sein, denn die Situation in den neuen Bundesländern ist
noch genauso dramatisch wie in den vergangenen Jahren.
Deswegen ist es auch falsch, Frau Bundesministerin,
das Programm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze wie im vergangenen Jahr zu kürzen. Auf unseren
Druck hin - so deutlich muss man das sagen - ist das
Programm aufgestockt worden. Sie hatten im Haushaltsansatz für dieses Jahr 12 000 Ausbildungsplätze vorgesehen und wir haben eine Aufstockung auf 14 000 gefordert, die auch vorgenommen wurde. Das fordern wir
auch für das kommende Jahr. Lassen Sie die Jugendlichen nicht allein.
({3})
Solange die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als
Folge Ihrer Wirtschaftspolitik so sind, wie sie sind, brauchen wir solche Programme.
({4})
Meine Damen und Herren, mit hektischem Treiben
versucht die Bundesregierung, die Misere um ihre Wirtschaftspolitik zu vertuschen. Sie macht Ausbildungstouren, Frau Bulmahn und Herr Clement sind unterwegs.
Das ist ganz hervorragend, sie lernen das Land kennen.
Sie helfen dadurch den Jugendlichen aber nicht, sondern
sie drohen den Unternehmen, die sie überzeugen wollen,
mehr auszubilden, mit einer Ausbildungsplatzabgabe.
In ihrer heutigen Rede hat die Ministerin das Wort Ausbildungsplatzabgabe nicht ein einziges Mal in den Mund
genommen. Ich glaube, Frau Bettin und Frau Kressl, Sie
sind nicht auf der Höhe der Zeit. Ich glaube nicht, dass
die Regierung diese Ausbildungsplatzabgabe einführt,
weil sie erkannt hat, dass sie sich damit in das politische
Abseits manövriert.
({5})
Alle Ökonomen und alle Ausbilder haben ihr gesagt und
sagen permanent: Eine Ausbildungsplatzabgabe führt
dazu, dass große Firmen sich freikaufen und kleine
Firmen umso mehr belastet werden. Außerdem hätte sie
einen unverantwortlich großen bürokratische Aufwand
zur Folge.
({6})
Deshalb, Herr Tauss, meine Damen und Herren, will
die Regierung offenbar einen anderen Weg gehen und
eine kleine Umlage einführen, um ihr Gesicht zu wahren. Das könnte sie tun, indem sie die Prüfungsgebühren, die bisher von den ausbildenden Unternehmen an
die IHKs gezahlt werden, einfach auf die Betriebe umlegt, die nicht ausbilden. Durch eine andere Formulierung im Berufsbildungsgesetz wäre das möglich.
({7})
Meine Damen und Herren, diese Prüfungsgebühren
betragen zwischen 100 und 300 Euro, je nach Beruf und
Kammerbezirk. Schon jetzt schlagen die Wellen bei den
IHKs in Deutschland, besonders in den strukturschwachen Regionen, hoch, weil man weiß, dass eine solche
Maßnahme zu wirtschaftlichen Problemen in den Kammern führen würde. Folge wäre eine Erhöhung der
Pflichtbeiträge, die niemand will, und damit eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, also eine weitere der Belastung der Unternehmen. Dies aber hilft den Unternehmen,
die ausbilden, kein bisschen, weil die Entlastung viel zu
gering ist. Dies ist eine Farce, weil schon heute maximal
40 Prozent der Kosten durch die Prüfungsgebühren finanziert werden.
({8})
Der Rest wird bereits solidarisch finanziert. Deswegen
sagen wir Ihnen: Lassen Sie von diesem Tun ab und verabreichen Sie den Jugendlichen nicht wieder eine Beruhigungspille, was Sie schon mit der Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung getan haben.
In unserem Antrag fordern wir - das ist richtig - mehr
Flexibilität, wie sie in den neuen Bundesländern schon
jetzt angewendet wird: Unternehmer, die keine Ausbildereignung hatten, konnten trotzdem ausbilden. Die
IHKs waren dabei sehr flexibel. Dies wollten wir auf die
alten Bundesländer übertragen. Aber wir wollten nicht,
dass Sie die Ausbilder-Eignungsverordnung abschaffen.
Wir sind der Meinung, dass gerade in Zeiten der PISAStudie - das wurde uns dabei sehr deutlich - die Qualität
der Ausbilder wichtig ist. Darauf müssen wir ganz besonderen Wert legen. Sie sind über das Ziel hinausgeschossen, weil Sie einen politischen Erfolg brauchten,
aber Sie helfen damit keinem einzigen Jugendlichen.
Ich wage zu bezweifeln, dass viele Unternehmen deswegen ausbilden werden. Ich frage Sie, Frau Ministerin:
Wie viele Unternehmen werden deswegen wohl ausbilden? Zur Lösung des Lehrstellenmangels brauchen wir
mehr. Wir haben in unseren Anträgen konkrete Vorschläge gemacht. Dabei haben wir auch die Erfahrungen
aus den neuen Ländern zugrunde gelegt. Sie zeigen, dass
man mit viel Flexibilität in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen
kann.
Wir möchten bei der Höhe der Ausbildungsvergütung ansetzen. Es ist heute schon gesagt worden, dass
dies ein ganz entscheidender Punkt ist. In § 10 des Berufsbildungsgesetzes steht
({9})
- hören Sie mir zu, dann sage ich es Ihnen -, dass die
Ausbildungsvergütung maximal 20 Prozent - zumindest
wird es nach Richterrecht so ausgelegt - nach oben oder
unten von den Tarifverträgen abweichen kann. Wenn
nun als Beispiel der Spannungsmechaniker bei Siemens
in Passau 717 Euro im Monat erhält, dann mag das für
diesen Global Player in Ordnung sein. Wenn aber die
kleine Stahlbaufirma 100 Meter weiter dasselbe Lehrlingsentgeld bezahlen muss, dann hat sie zwei Möglichkeiten: Entweder sie bildet nicht aus, was viele machen,
weil es zu teuer ist, oder sie bildet nur so viele Lehrlinge
aus, wie sie unbedingt muss. Das hilft uns in der derzeitigen Situation nicht viel weiter.
({10})
Es ist deswegen vollkommen richtig, das Problem des
Lehrlingsentgelts anzugehen. Das Dramatische ist, dass
gerade in der Metall- und Elektroindustrie das Problem
der Flächentarifverträge am größten ist, während dort
gleichzeitig das Potenzial für Ausbildungsplätze am
höchsten ist. Aus diesem Grunde müssen wir dieses Problem angehen, wie wir es in unserem Antrag vorgeschlagen haben.
Ein anderer Vorschlag in unserem Antrag bezieht sich
auf die Vorbereitung zur Berufsausbildung. Diese Reparatur ist aufgrund des rot-grünen Missmanagements in
der Vergangenheit notwendig. In § 50 des Berufsbildungsgesetzes wird festgelegt, dass Betriebe, die einen
der 90 000 Jugendlichen, die jedes Jahr die Schule ohne
einen Abschluss verlassen, zur Berufsvorbereitung einstellen, dessen sozialpädagogische Betreuung sicherstellen und finanzieren müssen. Nur Sozialdemokraten können auf solche Ideen kommen. In der Praxis führt dies
dazu, dass kein Unternehmen einen solchen Jugendlichen einstellt. Diese Regelung wirkt als Einstellungshemmnis. Wir wollen, dass dieses Hemmnis abgebaut
wird. Das Geld, das für die Betreuung der Jugendlichen
richtigerweise benötigt wird, muss vom Arbeitsamt oder
vom Staat kommen. Wir wollen, dass die Jugendlichen
in einem Unternehmen eine Chance zur Berufsvorbereitung erhalten.
({11})
Das Berufsbildungsgesetz muss durchlässiger werden. Es muss endlich Schluss sein mit Berufen, die Auszubildende in eine Sackgasse führen. Stillstand kann
sich kein Land leisten, das Wissen, Fortschritt und Innovation braucht. Warum kann ein Bankkaufmann mit
mittlerer Reife nach seiner Lehre und einiger Zeit im Beruf nicht Betriebswirtschaft studieren?
({12})
Warum kann ein Elektriker kein Studium der Elektrotechnik beginnen? Die Zugangsvoraussetzungen dafür
müssen verbessert werden.
Umgekehrt muss der Ausbildungsmarkt für jene
durchlässiger gemacht werden, die über wenig theoretische Fähigkeiten verfügen. Für diese Jugendlichen müssen endlich praxisorientierte Berufsausbildungen mit
zweijähriger Lehre eingeführt werden, und zwar modular gestaltet, sodass sie die Möglichkeit haben, sich zum
Beispiel später vom Maschinenführer zum Werkzeugmechaniker zu qualifizieren.
Deutschland muss sich mit seinem Bildungssystem
am internationalen Markt positionieren. Ein Problem ist,
dass deutsche Bildungsabschlüsse international immer
noch viel zu wenig anerkannt sind. Aber ist ein deutscher Industriemeister tatsächlich geringer qualifiziert
als ein 20-jähriger Student in England nach zwei oder
drei Jahren Bachelor-Studium? Deutsche Bildungsabschlüsse müssen internationalisiert werden. Dazu gehört,
dass mehr Lehrlinge als bisher die Möglichkeit erhalten,
eine Station ihrer Ausbildung in einem Betrieb im Ausland zu verbringen. Deshalb kann es nicht sein, dass
Auslandsaufenthalte von Lehrlingen geringer gefördert
werden als die von Studenten. Auch für Auszubildende
ist eine Station im Ausland wichtig. Die Kürzungen in
Ihrem Haushalt um 23 Prozent für das kommende Jahr,
Frau Bulmahn, müssen dringend rückgängig gemacht
werden. Die dramatische Situation auf dem Ausbildungsmarkt erlaubt keinen Aufschub. Deutschland
braucht eine Novelle des Berufsbildungsrechts.
Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und den Regierungsfraktionen, auf: Werden Sie
endlich Ihrer Verantwortung für die Jugendlichen in diesem Land gerecht.
({13})
Hören Sie auf, von einer Ausbildungsplatzabgabe zu reden und ändern Sie stattdessen die entscheidenden Stellen im Berufsbildungsgesetz. Wir haben eine ganze
Reihe von Vorschlägen gemacht. Wenn Sie diese umsetzen, ist den Jugendlichen in Deutschland schon viel geholfen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat die Abgeordnete Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über Berufsausbildung, über diesbezügliche
Probleme und Vorhaben reden, dann geht es immer auch
um Zahlen. Auch ich werde zwei, drei Zahlen bemühen,
aber erst einmal geht es mir um etwas Weitergehendes.
Ich kenne Jugendliche, die sich zehn bis einhundert
Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben und immer
wieder Absagen erhalten, sofern man ihnen überhaupt
antwortet. In ihnen reifen Enttäuschung, Frust, Resignation. Das ist die menschliche Dimension des Themas Berufsausbildung. Darüber ist hier zu reden, zumal das Problem nicht neu ist.
Seit Jahren gibt es weniger Lehrstellen als Bewerberinnen und Bewerber, allemal in Betrieben. Diese Differenz muss tiefer liegende Ursachen haben und das wissen Sie auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer
jedoch die Konjunktur zum Dreh- und Angelpunkt der
Ausbildung macht, der befördert einen Doppelfehler.
Zum einen signalisiert er den betroffenen Jugendlichen:
Weil die Konjunktur schlecht ist, gehört deine Generation zu den Verlierern, du bist zur falschen Zeit geboren
und damit überflüssig; zum anderen widerspricht die
Konjunkturbegründung der von links bis rechts anerkannten Tatsache, dass Bildung eine, wenn nicht gar die
Zukunftsfrage ist. Mehr noch: Bildung und Ausbildung
sind Menschenrechte. Sie sind zu gewähren und nicht
etwa zu beschränken.
({0})
Ebenso falsch sind Vorstöße, Ausbildungszeiten zu
straffen und auf bestimmte Inhalte zu verzichten, etwa
auf Wirtschaftskenntnisse oder Sozialkompetenz. Ich
frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wohin soll
das führen? Wir wollen doch keine lebenden Roboter,
wir wollen kluge Fachleute.
Die PDS im Bundestag teilt deshalb die Ansprüche,
die von Bildungsexperten, von weiter blickenden Unternehmern und auch von Gewerkschaften erhoben werden.
Wir brauchen eine große Reform, um die Qualität der
Ausbildung zu heben. Übrigens haben die Gewerkschaften ihre Ausbildungskampagne mit dem Zusatz versehen: Reform ist, wenn es besser wird. Früher hätte man
gesagt: Das weiß man doch. Aber ich muss zugeben, seit
Rot-Grün den Reformbegriff permanent umdeutet und
Schlechtes als gut verkauft, ist diese Erinnerung wohl
richtig und überfällig.
({1})
Nun komme ich wie versprochen auf die wenigen Zahlen zurück. Es gab Ende August rund 168 000 Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz suchten, und es waren
knapp 55 000 freie Stellen im Angebot. Rein rechnerisch
heißt das: Zwei von drei, die noch suchen, können die
Hoffnung auf eine gute Ausbildung in den Wind schreiben. In manchen Regionen sind es sogar neun von zehn,
allemal im Osten der Republik. Das programmiert Auslese, es zwingt Jugendliche in die Ferne und entvölkert
ganze Landstriche.
Nun hörten wir in den letzten Wochen von der FDP,
mehr Jugendliche sollten ihr Glück im Ausland suchen
und sich doch dort ausbilden lassen.
({2})
Mit Verlaub, Sie bleiben die Partei der Besserverdienenden und sind damit auch die Partei der Zyniker. Das Problem lösen Sie mit dieser Empfehlung überhaupt nicht.
({3})
Nun noch zu einem Ereignis, welches wir in dieser
Woche in Berlin erleben durften und welches selbst in
Berlin nicht alle Tage zu besichtigen ist. Der BDI hatte
zum Reformkongress und obendrein zu einer Kundgebung unter freiem Himmel geladen. Wer wirklich Sorgen
hat, arbeitslos ist oder eine Lehrstelle sucht, konnte sich
dort vortrefflich wundern. Da standen gut betuchte Herren und wenige Damen herum, die einen mit einem Sektkelch, die anderen mit Kofferträgern, und alle forderten
gemeinsam: Den Reformstau auflösen!
Ich finde auch, dass der Reformstau aufgelöst werden
sollte. Deshalb war auch die PDS dabei, jenseits der Absperrung. Unsere Forderung hieß: Reformstau auflösen Umlagefinanzierung jetzt!
Dabei bleiben wir. Wer ausbilden könnte und nicht
ausbildet, der soll endlich einen Solidarbeitrag für jene
leisten, die ausbilden, obwohl es ihnen finanziell schwer
fällt. Das ist - wir erinnern uns - eine Uraltforderung der
SPD. Selbst Bundeskanzler Schröder hat sie schon drohend in den Raum gestellt. Nur, dort steht sie nun herum,
diese Drohung, wie bestellt und nicht abgeholt.
Am 30. September, also in knapp einer Woche, endet
die Lehrstellenkampagne 2003. Sie war durchaus werbeträchtig inszeniert, um Minister Clement ins grelle
Licht zu stellen, aber sie löst nicht die bestehenden Defizite.
({4})
Deshalb wiederhole ich: Die PDS im Bundestag
drängt auf eine Reform in der Berufsausbildung und wir
bestehen auf einer Ausbildungsumlage, um insbesondere
die großen Unternehmen wieder in die soziale Verantwortung zu zwingen.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Heinz
Schmitt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut reden wir heute im Deutschen Bundestag über fehlende
Lehrstellen. Es ist wieder einmal eine große Kraftanstrengung nötig, um einer eigentlich selbstverständlichen gesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden,
nämlich ausbildungswilligen Jugendlichen eine berufliche Qualifikation zu ermöglichen.
Wieder einmal - so scheint es mir - muss die Wirtschaft daran erinnert werden, dass es im Interesse aller
liegt, junger Menschen eine berufliche Perspektive zu
eröffnen.
({0})
Es liegt aber auch - oder es sollte wenigstens so sein im ureigenstem Interesse der Unternehmen selbst, junge
Menschen auszubilden. Wer heute aus kurzfristigen Erwägungen heraus keinen qualifizierten Nachwuchs ausbildet, darf sich morgen nicht über einen Mangel an
Fachkräften beschweren.
({1})
Wenn ich hier die Ausbildungsdefizite der Wirtschaft anspreche, so möchte ich ausdrücklich die Betriebe und Unternehmen ausnehmen, die auch in diesem
Jahr wieder Lehrstellen zur Verfügung stellen und die
ausbilden.
({2})
Dafür gebührt jedem einzelnen der ausbildenden Betriebe, den Verantwortlichen dort auch unsere Anerkennung und unser Dank.
Die Politik hat aber sehr wohl auch wahrgenommen,
dass es Probleme gibt, die eine Entscheidung für die
Ausbildung von Lehrlingen in der jetzigen Situation sicherlich nicht immer leicht machen. Wir kennen auch
den Anpassungs- und Modernisierungsbedarf innerhalb des dualen Systems und innerhalb des Bildungssystems insgesamt.
Wir kennen die Mängel. Deshalb haben wir ein ganzes
Bündel von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die
Bedingungen für Unternehmen und für mehr Ausbildung
zu verbessern. Dass wir die Verbesserung der Lehrstellensituation als eine gemeinsame Aufgabe begreifen, zeigt
sich ja auch in der bundesweiten Ausbildungsoffensive,
die die Regierung zusammen mit der Wirtschaft und mit
den Gewerkschaften in diesem Jahr gestartet hat.
Dies als Antwort auf die Anmerkungen der beiden
Herren in der ersten Reihe von Blau-Schwarz. Herr
Hartmann und sein Kollege von der CDU haben ja immer
wieder gesagt, es werde nur zusammen mit der Wirtschaft gehen. Ich habe hier einen Zwischenbericht der
IHK, in dem von den bundesweit erzielten Erfolgen berichtet wird. Darin wird deutlich, wie gemeinsam mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen nach jeder Lehrstelle
gesucht wird. Hierbei gibt es durchaus schon eine erfolgreiche Bilanz, die sich innerhalb dieses halben Jahres ergeben hat. Also, das geht zusammen mit der Wirtschaft.
({3})
Sie sollten nicht versuchen, einen Keil zwischen Politik
und Wirtschaft zu treiben, und Sie sollten nicht den Weg
der Konfrontation beschreiten.
Diese Offensive umfasst also viele Maßnahmen, aber
auch praktische finanzielle Hilfe für ausbildende Betriebe. Ich nenne unser Programm „Kapital für Arbeit“, mit dessen Hilfe neue, zusätzliche Ausbildungsplätze mit einem zinsgünstigen Investitionskredit von bis
zu 100 000 Euro gefördert werden.
Wir haben aber auch die Botschaft verstanden, dass
die Defizite bei Schulabgängern immer wieder deutlich
Heinz Schmitt ({4})
erkennbar sind. Deswegen laufen die Programme weiter,
um benachteiligte und behinderte Jugendliche auch in
diesem Jahr zu fördern und sie auf eine Ausbildung vorzubereiten.
({5})
Wir haben die weitere Finanzierung von ausbildungsbegleitenden Hilfen organisiert, damit schulische Probleme vor Ort auch während der Lehre überwunden werden können.
Mit unserem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ fördern wir die Einrichtung von
Ganztagsschulen. Auch das ist ein Thema, das Sie immer wieder verdrängen. Mit den Ganztagsschulen ermöglichen wir schon sehr früh die Zusammenarbeit von
Schulen und Betrieben. Damit haben die jungen Menschen frühzeitig die Möglichkeit, sich zu orientieren und
Interesse am Beruf zu entwickeln.
Wir haben außerdem mit der Reform der beruflichen
Bildung begonnen. Wir wollen damit die Ausbildungsnetzwerke stärken und die Ausbildungsordnungen
modernisieren. Weitere Bestandteile der Reform sind die
Modernisierung des Prüfungswesens und die internationale Öffnung der beruflichen Bildung.
Wir lassen die Ausbildungsbetriebe bei dieser wichtigen Aufgabe nicht allein. Es gibt aber - das wurde heute
schon ausgeführt - Grenzen, die das staatliche Engagement nicht überschreiten darf. Der Staat kann die Ausbildungsdefizite der Wirtschaft nicht auf Dauer übernehmen.
Das duale System ist - darüber sind wir uns einig am besten im Bereich Schule und Betrieb angesiedelt.
Letztlich geht es um die qualifizierten Arbeitskräfte von
morgen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe in
Zukunft zu organisieren.
Auch wenn im Zuge der Globalisierung immer wieder von Jugendlichen als Humankapital gesprochen
wird, geht es mir bei diesem Thema darum, dass die Jugendlichen spüren, dass wir sie nicht allein lassen und
dass es den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft tatsächlich noch gibt.
({6})
Denn nur dann werden die jetzigen Jugendlichen später
als Erwachsene bereit sein, ebenfalls Leistungen zu erbringen und Verantwortung für unsere Gesellschaft zu
übernehmen. Nur so werden sich die Jugendlichen auf
Dauer in unserer Gesellschaft wiederfinden und sich darin engagieren.
Herzlichen Dank.
({7})
Nun hat der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! Werte Damen! Werte
Herren! 113 000 Lehrstellen fehlten rechnerisch im September dieses Jahres. Das sind 113 000 Schicksale von
jungen Menschen, die ihr Zeugnis bekommen haben und
in die Arbeitswelt einsteigen wollen, wo sie aber offenkundig keine Perspektive finden. Diese Zahl war und ist
zugleich die höchste Zahl, die in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands in diesem Bereich erreicht wurde.
Das ist ein einsamer und trauriger Nachkriegsrekord dieser Bundesregierung.
Trotz der Nachvermittlung, einer großen Ausbildungsoffensive und des gemeinsamen Handelns mit der
Wirtschaft rechnet die Bundesanstalt für Arbeit damit,
dass die Zahl der nicht versorgten Schulabgänger Ende
Dezember bei 60 000 liegen wird. Diese Zahl ist doppelt
so hoch wie im letzten Jahr.
Zum zweiten Mal haben Sie als Regierung gemeinsam mit den Sozialpartnern eine Ausbildungsgarantie
gegeben und sie gebrochen. Nach fünf Jahren rot-grüner
Regierung steckt die berufliche Ausbildung offenkundig
in der Krise. Die Ursache liegt nicht bei fremden Mächten, sondern sie liegt auch in der Politik, die in Deutschland verantwortlich - oder vielmehr unverantwortlich gestaltet wird.
Es ist ein Faktum: 40 000 betriebliche Insolvenzen
bedeuten einen Verlust von über 400 000 Arbeits- und
Ausbildungsplätzen. Die Unternehmer melden betriebliche Insolvenz an, weil es an Aufträgen fehlt und keine
ausreichende Liquidität vorhanden ist. Denn der wirtschaftliche Rahmen ist falsch gesetzt worden, und zwar
nicht nur in betriebswirtschaftlicher Hinsicht, sondern
auch in den Bereichen, in denen der Bund mit zu entscheiden hat, auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht.
Seit Helmut Kohl 1983 die erste Ausbildungsgarantie
gegeben hat, lag sie immer in der Gesamtverantwortung
aller Akteure, das heißt der Wirtschaft, der Gewerkschaften und auch der Politik. Aus dieser Verantwortung
können Sie sich nicht herausstehlen. Schieben Sie nicht
alles auf die Betriebe, die jährlich 28 Milliarden Euro in
die berufliche Bildung investieren, also mehr als Bund
und Länder zusammen!
({0})
Dass der Bundeskanzler dem letzten Ausbildungsgipfel fernblieb, lieber Kollege, zeigt, wie fern ihm die
Schicksale der 113 000 jungen Menschen ohne Ausbildungsplatz wirklich sind.
({1})
Wie wenig der Bundeskanzler von seinen eigenen Appellen hält, zeigt, dass im Kanzleramt zum 1. September
dieses Jahres nur ein Auszubildender eingestellt worden
ist.
({2})
Insgesamt sind es zehn. Wenn Sie Ihre eigenen Kriterien
im Kanzleramt erfüllen würden, dann müssten Sie 30
einstellen. Wenn Sie dem Handwerk nacheifern würden,
dann müssten Sie 90 Ausbildungsplätze schaffen. Anspruch und Wirklichkeit machen deutlich, dass die Politik versagt. Trotzdem machen Sie der Wirtschaft entsprechende Vorwürfe.
Herr Kollege Schmitt, Sie haben die Offensive „Kapital für Ausbildung“ angesprochen. Ich habe heute
noch einmal nachgefragt, wie viele Ausbildungsplätze
durch dieses Programm im Laufe dieses Jahres geschaffen worden sind. Es sind gerade einmal 750. So viele
Ausbildungsplätze haben allein die Bürgermeister in
meinem Wahlkreis Viersen geschaffen. Dafür brauchte
es keine Bundesinitiative. Viel Nebel, viel weiße Salbe,
aber wenig effektive Wirkung - das ist das Problem Ihrer
Politik!
In Ihrer Regierung gibt es nur eine schwache Lobby
für die berufliche Bildung. Es gibt zwar genügend verbale Lautsprecher - mit Herrn Tauss verlässt gerade einer dieser den Plenarsaal -, die aber politische Leisetreter sind, wenn es um die Durchsetzung der Interessen
junger Menschen geht.
Die Union will eine tief greifende Reform der Berufsausbildung. Es darf aber nicht um Ideologie, sondern nur um die Zukunft der Menschen gehen. Im letzten
Jahr der Regierung Schröder waren über 300 000 Arbeitslose zusätzlich zu verzeichnen. Jeder zweite von ihnen ist ausbildungslos. Es führt ein direkter Weg von der
Ausbildungslosigkeit in die dauerhafte Arbeitslosigkeit.
Keine Lösung ist eine Ausbildungsabgabe, über die momentan debattiert wird. Sie haben ein erotisches Verhältnis zu Steuern und Abgaben. Das ist eines der Probleme
unserer Wirtschaft.
({3})
- Geduld, Herr Kollege Schmitt!
({4})
- Die habe ich besser im Blick als Sie, Herr Schmitt.
Eine tarifliche Umlagefinanzierung gibt es im Rahmen eines Feldversuchs bereits seit Mitte der 70er-Jahre
in der Bauwirtschaft. Sie wissen, dass der stärkste Ausbildungsplatzeinbruch gerade im Baubereich stattgefunden hat. Dort ist die Zahl der Ausbildungsplätze seit
1998 von über 100 000 auf unter 40 000 abgestürzt.
({5})
Dies zeigt offenkundig, dass Abgaben keine Ausbildungsplätze schaffen. Das kann nur eine vernünftig
funktionierende Wirtschaft.
({6})
- Ich habe noch vier Minuten und 44 Sekunden. Für Sie
reicht das, Herr Schmitt.
Ich kann Ihnen sagen, was geschehen wird, wenn eine
Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird. Die großen
Unternehmen würden sich freikaufen. Im Bund würde
eine neue Verteilungsmaschine etabliert und am Ende
stünde die völlige Verstaatlichung der beruflichen Bildung.
Wir, die Union, wollen eine wirkliche Reform, das bedeutet, dass wir zwar am Berufsbild festhalten, aber das
Berufsprinzip dynamischer und flexibler gestalten wollen. Wir brauchen neben der Beschleunigung von Wissen
und Innovation auch eine Beschleunigung bei den neuen
Berufsbildern. Es gibt derzeit insgesamt 350 Ausbildungsberufe, aber nur 32 zweijährige, praktisch orientierte Ausbildungsberufe. In den letzten Jahren kamen
18 neue Berufsbilder hinzu. Über 100 neue Berufsbilder
liegen in der Schublade. Beim jetzigen Tempo wären
diese etwa im Jahr 2013 abgearbeitet. Das Tempo muss
beschleunigt werden, wenn man mehr Dynamik und
Flexibilität in der beruflichen Bildung haben will.
({7})
Nach dem Berufsbildungsbericht der Bundesregierung gibt es jährlich 125 000 Ausbildungsabbrecher.
Viele davon sind schulmüde. 90 000 Schüler verlassen
die Schule ohne Abschluss. Jeder zweite ausländische
Jugendliche bleibt ohne Ausbildung. Für sie wäre eine
zweijährige, praktisch orientierte Berufsausbildung eine
Chance, die sie heute offenkundig nicht haben.
({8})
Wir brauchen mehr Ausbildungsstufen: vom Verkäufer zum Einzelhandelskaufman, vom Baufacharbeiter zum Maurer, von der Fachkraft für ambulante Pflege
in zwei Jahren zum Krankenpfleger im dritten Jahr.
Diese Stufen sind keine Sackgassen. Wem die Puste in
der Ausbildung ausgeht, der darf nicht wieder bei nichts
landen. Er sollte sich über die berufliche Praxis weiterentwickeln können.
Im Saarland - ein Land, aus dem seit einem Jahr wieder vernünftige Botschaften kommen - hat Frau Ministerin Görner im Bereich der Pflege ein Stufenmodell geschaffen, das sich eng an der dualen Ausbildung
orientiert.
({9})
- Das beruhigt mich ungemein, Herr Tauss. Herzlich
willkommen! - Jugendliche werden bei Pflegeeinrichtungen eingestellt und absolvieren einen stark praktischen Ausbildungsteil. Nach der ersten Stufe kommt
dort die Prüfung zum Altenpflegehelfer; nach der zweiten Stufe folgt der Abschluss als Altenpfleger.
Letztes Jahr wurden im Saarland 204 angehende Altenpfleger nach dem neuen Konzept eingestellt. Darunter sind sehr viele Hauptschüler, denen der Weg in die
Pflegeausbildung durch immer mehr Theorie und immer
mehr Verschulung letztendlich verbarrikadiert worden
ist. Nun haben auch Hauptschüler dort die Möglichkeit,
in Pflegeberufe einzusteigen.
({10})
Nach den Zahlen aus dem saarländischen Ministerium
haben in den letzten Wochen 202 Auszubildende die
erste Stufe erfolgreich abgeschlossen. Alle beginnen die
zweite Stufe, um sich dort zum Altenpfleger ausbilden
zu lassen.
Ab Oktober wird es dieses - im Saarland entwickelte Modell auch in Brandenburg geben. Die CDU-Fraktion
in Düsseldorf hat eine entsprechende Vorlage in den nordrhein-westfälischen Landtag eingebracht. Ich hoffe
sehr, dass man auch dort bereit ist, die Pflegeausbildung
zu modernisieren und ein Arbeitsfeld zu schaffen, in
dem praktisch begabte Menschen wieder eine Zukunft
finden. Bundesweit fehlen 20 000 Pflegekräfte. Anstatt
Greencards auszugeben, um Abhilfe zu schaffen, wäre
es besser, den Arbeitslosen wieder eine Perspektive zu
geben.
Wenn Sie Ende Oktober einen neuen Ausbildungsgipfel veranstalten, dann sorgen Sie bitte dafür, dass auch
der Bundeskanzler anwesend ist und dieses Thema zur
Chefsache macht. Außerdem bitte ich Sie, dafür zu sorgen, dass der andere wichtige Akteur der beruflichen
Bildung, die Bundesländer, vertreten sein wird, damit
auf diesem Gipfel auch darüber gesprochen wird, wie
die flächendeckende Modernisierung der beruflichen
Bildung konkret gestaltet werden kann.
Der größte Ausbilder ist das Handwerk mit über
540 000 Ausbildungsplätzen. 18 Prozent aller Betriebe
sind Handwerksbetriebe; sie stellen aber fast 40 Prozent
der Ausbildungsplätze. Ihr jüngster Vorschlag, den
Meisterbrief zu reformieren, hat einen Großteil der Ausbildungsmotivation zerstört. Wichtiger und besser wäre
es - dementsprechend sieht unser Angebot im Vermittlungsausschuss aus -, dass Sie neben der Gefahrengeneigtheit die Ausbildungsleistung bei Handwerksberufen
anerkennen, um den Meisterbrief als Voraussetzung für
die Selbstständigkeit zu erhalten.
({11})
Die Handwerksberufe befinden sich in einem Zweifrontenkrieg: Auf der einen Seite droht zwei Dritteln dieser Berufe, dass der Meisterbrief weitgehend entfällt; auf
der anderen Seite stehen ihnen rund 60 000 Ich-AGs gegenüber, die hoch subventioniert handwerksähnlichen
Tätigkeiten nachgehen und in direkte Konkurrenz zum
Handwerk treten. Daher wäre es besser, die Ausbildungsleistung als eigenes Kriterium anzuerkennen. Jeder
Handwerksbereich, der mehr als die übrige Wirtschaft
ausbildet, kann durch seine Ausbildungsleistung den
Meisterbrief erhalten.
Alle sieben Jahre findet eine Überprüfung statt, sodass die Bereitschaft zur Ausbildung in diesen Berufen
nachhaltig gewährleistet ist. Wenn Sie unseren Vorstellungen folgen, dann hätten Sie zwei Probleme gelöst: Ihren Zoff mit dem Handwerk und das Fehlen der Ausbildungsmotivation in diesem Bereich.
Lassen Sie uns miteinander vernünftig und praktisch
orientiert reden! Das Saarland zeigt: Es geht in der Praxis. Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Willi
Brase, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich,
dass dann, wenn es um die Zukunftsmöglichkeiten von
jungen Menschen geht, von Neid, von Flexibilisierung,
von persönlicher Verantwortung und vor allen Dingen
vom Senken der Ausbildungsvergütung als zentralem
Element zur Schaffung von weiteren Ausbildungsplätzen
die Rede ist.
({0})
Dies ist eine Politik, die nur zulasten der jungen Leute
geht und nicht beachtet, dass auch andere eine Verantwortung und eine Bringschuld haben.
({1})
- Ich will Ihnen sagen, was wir wollen, Herr Kollege.
Wir wollen, dass alle jungen Leute eine vernünftige
Chance erhalten und, wenn es Not tut, auch eine zweite
Chance. Was sie daraus machen, müssen sie selbst sehen. Wir sind sicher, dass sie etwas daraus machen können.
Wir setzen uns dafür ein, dass die jungen Leute auch
zukünftig eine qualifizierte Ausbildung erhalten, die vor
allem auch eine Beschäftigungsmöglichkeit mit sich
bringt. Die Ausbildung muss nach wie vor auf einem hohen Qualifikationsniveau stattfinden.
({2})
Sie haben die Tätigkeit der Ausbildungsplatzentwickler angesprochen. Schon seit zig Jahren, schon weit
vor unserer Regierungszeit, noch zu Zeiten von Helmut
Kohl,
({3})
haben wir in vielen Regionen im Zusammenhang mit der
aktiven Arbeitsmarktpolitik, über den § 10 und Ähnliches, Ausbildungsplatzentwickler, Lehrstellenentwickler
eingestellt, ohne dass der Bund dazu Mittel zur Verfügung gestellt hat. Dazu haben wir keine Anweisung von
oben gebraucht. Das hat in manchen Regionen von 1994
bis zum Jahr 2002, ja bis zum Jahr 2003 mehr als
60 Prozent, mehr als 70 Prozent neue qualifizierte Ausbildungsplätze gebracht. Da brauchen wir keine Belehrung, sehr geehrte Damen und Herren!
({4})
Das Schöne war, dass die Industrie- und Handelskammern und die Arbeitgeberverbände das nachher selbst
mitgetragen haben. Wir haben drei Jahre über ABM gefördert. Im vierten Jahr und in den folgenden Jahren
muss der vorherige ABM-Mitarbeiter dann vernünftig
angestellt werden. Das war eine sehr gute Maßnahme.
({5})
Die Ausbildungsvergütung soll - so habe ich es im
Antrag der FDP und auch in den Anträgen der CDU/
CSU gelesen - gesenkt werden. Sie haben in anderem
Zusammenhang darauf hingewiesen, dass wir eine hohe
Zahl von arbeitslosen Jugendlichen haben, dass viele
junge Menschen einen Ausbildungsplatz suchen, und
hervorgehoben, dass dahinter Menschen stehen. Ich sage
Ihnen sehr deutlich: Bei dem Durchschnittsalter, in dem
die jungen Menschen sind, wenn sie eine Ausbildung
machen, müssen wir davon ausgehen, dass sie schon alleine leben. Mit ihrer Ausbildungsvergütung müssen sie
ihren Lebensunterhalt und das, was sie möchten, bestreiten. Schon allein aus diesem Grund verbietet es sich, gerade bei ihnen Geld einzusparen, damit andere einen
Vorteil davon haben. Das können und werden wir nicht
mitmachen.
({6})
Über die beabsichtigte Senkung der Ausbildungsvergütungen, die ja in Tarifverträgen geregelt sind, wird der
weitere Versuch unternommen, einen Angriff auf die
Tarifautonomie zu starten und die Tarifautonomie auszuhebeln.
({7})
Das hat ja Methode. Auch in anderen Zusammenhängen,
über die Veränderung beim Günstigkeitsprinzip und ähnlichem, wird versucht, die Tarifautonomie anzutasten
und sie so zu gestalten, dass sie nur noch aus Sicht der
Unternehmen gut funktioniert. Das können und werden
wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({8})
- Darum, ob das typisch Gewerkschaftssekretär ist, geht
es gar nicht.
({9})
Es geht darum, dass auch in dieser Republik, in dieser
Gesellschaft starke Gewerkschaften sozialen Fortschritt
für die abhängig Beschäftigten erreichen.
({10})
Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der
in der Debatte immer wieder eine Rolle spielt, nämlich
die Frage der Ausbildungen mit vermindertem Theorieteil, der Kurzausbildungen und der zweijährigen Ausbildungen. Es wird behauptet, dass sich die Tarifpartner
bisher so gut wie nie auf die Schaffung neuer Berufe mit
zweijähriger Ausbildung mit weniger anspruchsvollem
Profil verständigt haben und dass dies ausbildungswillige Betriebe hemmt. Gleichzeitig müssen wir zur
Kenntnis nehmen, dass Unternehmen immer mehr dazu
übergehen, Ausbildungsstellen nicht zu besetzen, wenn
es den Bewerberinnen und Bewerbern an grundlegenden
Qualifikationen fehlt. Ich meine, dass man über diesen
Widerspruch trefflich streiten kann und dies auch sicherlich tun muss.
({11})
Empirisch ist der Zusammenhang zwischen Ausbildungsplatzabbau und Mangel an geeigneten Bewerbern
bis heute nicht nachgewiesen worden. Deshalb halte ich
es für sinnvoll, noch einmal auf Folgendes hinzuweisen:
Ich glaube, dass es notwendig und richtig ist, den jungen
Menschen eine voll qualifizierende Ausbildung zu ermöglichen, die sich daran orientiert, dass eine spätere
Beschäftigungsfähigkeit hergestellt wird. Wenn wir für
gute Qualität sorgen, können wir das duale Ausbildungssystem weiter voranbringen.
Personen wie Herr Braun oder Herr Philipp, die sagen, dass über 90 000 junge Leute - ob angeblich oder
tatsächlich, sei dahingestellt - nicht fähig sind, eine Ausbildung zu beginnen, bekommen mit § 50 ff. Berufsbildungsgesetz ein Instrument in die Hand, womit sie dieses Manko in den Griff bekommen und bekämpfen
können. Nehmen Sie doch bis Ende März nächsten Jahres 10 000 bis 15 000 junge Leute in die betriebliche Berufsausbildung auf, wie es die IG Metall und andere im
Zusammenhang mit dem Lernpakt vorgeschlagen haben!
Wenn Sie das machen, helfen Sie den jungen Leuten
ganz konkret und wir kommen bei der Bewältigung dieser Krise ein Stück weiter.
({12})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1348 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Diesbezüglich
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 b: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1302.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des Berufsbildungsberichts
2003 der Bundesregierung auf Drucksache 15/1000 die
Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Offensive für
Ausbildung - Modernisierung der beruflichen Bildung“
auf der Drucksache 15/741. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das Erste war die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
Berufsbildungsberichts 2003 die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/653 mit
dem Titel „Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - Lehrstellenmangel bekämpfen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, wiederum unter Bezugnahme auf den Berufsbildungsbericht, die Ablehnung
des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/587
mit dem Titel „Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland - mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 c: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1304.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
15/1090 mit dem Titel „Lasten gerecht verteilen - Mehr
Unternehmen für Ausbildung gewinnen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrages der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache
15/925 mit dem Titel „Ausbildungsplatzabgabe zerstört
Ausbildungsmotivation“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1130 mit dem Titel
„Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den
unlauteren Wettbewerb ({0})
- Drucksache 15/1487 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Brigitte Zypries.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Reform des Gesetzes gegen den
unlauteren Wettbewerb steht unter dem Motto „Wirtschaft stärken - Verbraucherrechte sichern“. Wir sehen
in der Stärkung der Wirtschaft und der Sicherung der
Verbraucherrechte keine Gegensätze. Die Aufgabe eines
modernen Wirtschaftsrechtes besteht gerade darin, allen
am Wirtschaftsleben Beteiligten einen auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Rechtsrahmen zur Verfügung zu
stellen.
Dabei hatten wir drei Ziele klar vor Augen: erstens
den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, wo
er nötig ist, zweitens die Stärkung der Eigenverantwortung. Wir gehen davon aus, dass die Verbraucherinnen
und Verbraucher mündig sind.
({0})
- Es ist so, Herr Abgeordneter, dass der Verbraucherschutz nicht alleine von Frau Künast vertreten wird,
({1})
sondern auch von anderen Ministerien. Wir vertreten die
Verbraucher insofern, als es um unlauteren Wettbewerb
geht. Insoweit hat alles seine Ordnung
({2})
Wir wollen die Eigenverantwortung der Bürgerinnen
und Bürger stärken. Wo sie oder die Wirtschaft gesellschaftliche Aufgaben genauso gut oder sogar besser als
der Staat wahrnehmen können, sollen sie es auch tun.
Das dritte Ziel, das uns geleitet hat, ist ebenso wichtig, nämlich die Liberalisierung der Wirtschaft. Wir wollen keine Gängelung der Wirtschaft durch bevormundende Vorschriften. Gesetze soll es nur da geben, wo es
für einen fairen Wettbewerb notwendig ist.
({3})
Genau das haben wir, wie wir meinen, mit dem Ihnen
jetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auch verwirklicht.
({4})
Wir erreichen alle drei Ziele und haben das richtige Verhältnis zwischen den verschiedenen Mitteln, die zur
Auswahl standen, gefunden.
Lassen Sie mich bei unserem Ziel der Liberalisierung des Wettbewerbsrechts beginnen. Wie Sie wissen, ist das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb fast
100 Jahre unverändert geblieben und gilt im internationalen Vergleich als ganz besonders restriktiv. Dies führt
für deutsche Unternehmer zu Wettbewerbsnachteilen im
europäischen Binnenmarkt. Ebenso hat es die beim Bundesministerium der Justiz eingerichtete Expertenarbeitsgruppe, die uns beim Entwurf des Gesetzes beraten hat,
gesehen. Bei allen Unterschieden im Detail waren sich
alle darin einig, dass die mit der Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung begonnene Liberalisierung des Wettbewerbsrechts fortgesetzt werden
muss.
Diesen Ansatz greift der Regierungsentwurf auf. Im
neuen UWG soll die Reglementierung von Sonderveranstaltungen wie Sommerschlussverkauf, Winterschlussverkauf, Jubiläumsverkauf und Räumungsverkauf ersatzlos entfallen. An dieser Stelle ist es mir wichtig, deutlich zu machen, dass wir nicht wollen, dass
Sommer- und Winterschlussverkäufe zukünftig nicht
sind. Es liegt vielmehr in der freien unternehmerischen
Entscheidung des Handels, sich auf Schlussverkaufstermine zu einigen und Schlussverkäufe durchzuführen. Es
wird nicht mehr wie bisher im Gesetz stehen, welche
14 Tage im Jahr dafür erlaubt sind. Wir meinen, dass es
das neue Gesetz den Gewerbetreibenden ermöglicht, mit
neuen Geschäftsideen Kunden zu finden und an sich zu
binden. Rabattaktionen können künftig auch lokal auf
Stadtebene, auf Gemeindeebene oder sogar nur für einzelne Stadtteile verabredet werden, zum Beispiel anlässlich von Stadtfesten. Ferner können auch Händlerpools
gebildet oder Kundencoupons für Stadtbezirke herausgegeben werden.
Die von uns vorgeschlagene Liberalisierung entspricht auch der Zielsetzung einer verbraucherfreundlichen Politik. Wir orientieren uns dabei am Leitbild des
mündigen Verbrauchers, der künftig selbst entscheiden
soll, welches Angebot sich für ihn lohnt. Besonders
wichtig ist mir, dass wir den Verbraucher in § 1 des Gesetzentwurfs erstmals als Schutzobjekt benannt haben.
Denn auch hier wollen wir den Weg der Eigenverantwortung und der Selbstregulierung gehen. Dieser Weg
ist für den Verbraucherschutz deutlich wirksamer, als
wenn weitere behördliche Eingriffsmöglichkeiten bei
bestimmten Verkaufsaktionen geschaffen würden. Wir
setzen darauf, dass Verbraucherinnen und Verbraucher
zu unterscheiden lernen, welche Aktionsangebote für sie
wirklich attraktiv sind und bei welchen Verkaufsaktionen ihnen gegebenenfalls minderwertige Waren angeboten werden. Unsere Politik will der Wirtschaft wieder
Mut zu interessanten Angeboten und den Verbrauchern
Mut zur Entscheidung machen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich hatte es bereits gesagt:
Man muss sehen, wo doch Regelungen nötig sind.
Unlautere Geschäftspraktiken bleiben nach wie vor
verboten. Denn da müssen wir zum Schutz der Verbraucher klare Grenzen ziehen. Es gibt dafür einen nicht abschließenden Katalog von Beispielsfällen. Ich möchte
ausdrücklich auf das Verbot der Schleichwerbung, auf
das Verbot der Ausnutzung der Unerfahrenheit von
Kindern und Jugendlichen und auf das Verbot der Kopplung von Gewinnspielen mit dem Erwerb einer Ware
hinweisen.
Als irreführende Werbung werden wir die Werbung
mit vermeintlichen Preisnachlässen verbieten: erst mit
so genannten Mondpreisen ganz hoch ausgezeichnet,
dann ganz stark heruntergesetzt. Auch Lockvogelangebote - es heißt „so lange der Vorrat reicht“ und im Geschäft erfährt man, dass nur ein Stück vorhanden war sollen untersagt werden.
({6})
Ein Thema, das uns alle in verschiedenen Gebieten
beschäftigt, ist die belästigende Werbung. Wir sagen:
Eine unzumutbare Belästigung ist die Werbung ohne
Einwilligung des Adressaten mittels Telefonanrufen,
mittels Faxgeräten oder bei elektronischer Post.
({7})
Das Stichwort Spamming ist Ihnen allen längst bekannt,
nicht nur aus der Wirtschaftspresse.
Wir wollen außerdem gegen betrügerische Aktionen
vorgehen, in denen der Schaden für den einzelnen Verbraucher mit ein paar Euro gering ist, der Täter aber eine
Menge Geld verdient. Denn bei hunderttausend Leuten,
die ein Fax zurücksenden, um künftig von Werbung befreit zu werden, ist der Gewinn schon enorm. Für solche
Fälle, wenn jemand vorsätzlich gegen das UWG verstößt
und dadurch die Kunden übervorteilt, haben wir einen
Gewinnabschöpfungsanspruch vorgesehen, den die
Verbraucherschutzverbände geltend machen sollen. Die
Klage ist - insofern muss man keine Sorge haben - für
die Verbände völlig uneigennützig; denn der Erlös fließt
in die Staatskasse.
Meine Damen und Herren, dieses neue Gesetz gegen
den unlauteren Wettbewerb wird uns auch im europäischen Rahmen wieder die Stellung geben, die wir brauchen. Wo wir bisher weniger vorbildhaft waren, werden
wir jetzt an der Spitze der Bewegung stehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unseren Ansatz der Versöhnung
von Wirtschaft und Verbrauchern auch im Rahmen der
Europäischen Kommission werden durchsetzen können.
Sie wissen, dass dieser Ansatz dort noch nicht so gepflegt
wird. Vielmehr gibt es dort immer noch gegenläufige Interessen. Wir werden also auch auf europäischer Ebene
dafür werben, dass die Verbindung von Wirtschaft, Wettbewerb und Verbraucherrechten durchgesetzt wird.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ingo
Wellenreuther, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Entwurf einer Novelle des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb wird am heutigen Tag die
erste größere Gesetzesvorlage beraten, die die Bundesregierung seit der Bundestagswahl vor einem Jahr zustande gebracht hat. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
- Das ist wahr.
Im Unterschied zum altehrwürdigen UWG aus dem
Jahre 1909 wird in der Novelle nun erstmals, Frau
Künast - - Jetzt sage ich schon Frau Künast zu Frau
Zypries.
({1})
- Herr Stünker, heute komme ich ausnahmsweise nicht
zu Ihnen. Aber lassen Sie mich fortfahren.
Frau Zypries, Sie haben es angesprochen: In der
Novelle wird nun erstmals der Verbraucher als Schutzobjekt des Gesetzes ausdrücklich erwähnt. Man könnte
also schnell der Versuchung erliegen, den Entwurf als
„Meilenstein“ zu bezeichnen, wie Sie es, Frau Justizministerin, in Ihrer Rede am 7. Mai hier im Bundestag
schon einmal getan haben. Dabei wurde aber lediglich
das niedergeschrieben, was seit Jahrzehnten ständige
Rechtsprechung in Deutschland ist. Neben dem eigentlichen Ziel des Gesetzes, nämlich den freien und fairen
Wettbewerb zu gewährleisten, wird bisher schon außer
den Mitbewerbern und der Allgemeinheit auch der Verbraucher geschützt. Diese Schutzzwecktrias ist daher
keine Erfindung der Bundesregierung, sondern Verdienst
richterlicher Rechtsfortbildung.
Gescheitert ist die Bundesregierung mit dem Versuch,
diese Gesetzesnovelle als Maßstab für ein europäisches
Lauterkeitsrecht im Wettbewerb vorzulegen. Frau
Zypries, Sie kommen damit zu spät. Sie stehen gerade
nicht „an der Spitze der Bewegung“, wie Sie gerade ausgeführt haben. Bereits im Juni dieses Jahres lag nämlich
ein Vorschlag der Europäischen Kommission für eine
Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vor. Darin
sind als Schutzobjekte ausschließlich die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher niedergelegt und eben
nicht die im deutschen Recht verankerten Schutzobjekte
wie die Allgemeinheit und die Mitbewerber. Deshalb
sind erhebliche Abgrenzungsprobleme zwischen dem
deutschen Wettbewerbsrecht und den EU-Richtlinien
vorprogrammiert. Dies wird zu einer verstärkten Rechtsunsicherheit und zu Wettbewerbsnachteilen von deutschen Unternehmen führen, die bei der europäischen
Harmonisierung des Wettbewerbsrechts beseitigt werden
müssen. Wie Sie vorhin schon angesprochen haben: Es
wird da noch einiges zu tun sein.
Meine Damen und Herren, ich möchte einige konkrete Regelungen der Gesetzesnovelle ansprechen, die
noch Veränderungen bedürfen. Ich nenne das Thema der
Sonderveranstaltungen; auch Sie, Frau Justizministerin, haben gerade davon gesprochen. Noch einmal zur
Erinnerung: Nach dem Fall des Rabattgesetzes und der
Zugabeverordnung vor circa zwei Jahren entstand in der
Praxis Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Werbung mit
Sonderaktionen und mit Preisnachlässen. Diese Arten
der Werbung sind zwar nach dem Rabattgesetz nicht
mehr, aber nach dem geltenden UWG verboten, weil sie
eine unzulässige Sonderverkaufsveranstaltung darstellen
können. Deshalb meinen auch wir, dass eine Abschaffung der §§ 7 und 8 des UWG konsequent ist.
Dann entsteht aber genau das Problem, dass die in § 7
verankerten zulässigen Ausnahmetatbestände - Sommer- und Winterschlussverkauf - nicht mehr zu bestimmten Zeiten im Jahr geschützt wären. Gerade der
diesjährige Sommerschlussverkauf hat wieder gezeigt,
dass Verbraucher und Unternehmen diesen Sonderverkauf nutzen. Diese Tradition hat sich beim Handel zur
Lagerräumung bewährt, ist bei Verbrauchern und Medien beliebt und ist als bundesweiter Aktionszeitraum
anerkannt. Wir glauben nicht, dass eine Verständigung
der Wirtschaft ausreichend ist,
({2})
um diese Verkäufe zu ermöglichen. Wir fordern Sie deshalb auf, den Gesetzentwurf so zu ändern, dass Sommerund Winterschlussverkäufe - auch begrifflich - weiterhin im UWG geschützt werden.
({3})
Umstritten ist der zweite Punkt, den ich ansprechen
möchte, der Gewinnabschöpfungsanspruch in § 10 UWG;
auch davon haben Sie gesprochen, Frau Zypries. Auf
den ersten Blick ist dieser Anspruch zu begrüßen. Nach
dem Motto „Wettbewerbswidriges Handeln darf sich
nicht lohnen“ soll unlauteres Werben auch dann bestraft
werden, wenn der einzelne Verbraucher mit relativ geringen Kosten belastet wird, er diese wegen Geringfügigkeit nicht einklagen würde, der Gewinn in der
Summe aber erheblich ist. Ordnungspolitisch ist dies
vertretbar, weil dadurch ein wettbewerbswidriger und
damit ungerechtfertigter Vorteil neutralisiert würde. Wir
vertreten allerdings - immer noch - die Auffassung, dass
ein solcher Anspruch unpraktikabel und für Gerichte und
Parteien nicht zu handhaben ist; denn dem klagebefugten
Verband wird die Gewinnermittlung sehr schwer fallen.
Es ist bekanntermaßen bereits unmöglich, den Erfolg einer zulässigen Werbemaßnahme in konkrete Zahlen zu
fassen. Es gilt wohl der Satz: Die Hälfte des Geldes, das
man in die Werbung steckt, ist zum Fenster herausgeworfen - man weiß nur nicht, welche. Erst recht unmöglich wird es sein, festzustellen, welcher Mehrerlös gerade auf der Unlauterkeit einer Werbeaktion beruht.
Deswegen meinen wir, dass diese Regelung sehr schwer
handhabbar ist.
Außerdem besteht die Gefahr der Betriebsspionage;
denn zur Errechnung der Gewinnspanne sind Kenntnisse
über Umsätze und Kosten des Unternehmens nötig. Um
diese zu erlangen, müsste der Gläubiger eine Auskunftsklage erheben und verlangen, dass der Unternehmer
seine Kalkulationen, Einkaufspreise, Erträge, Vorratsmengen und so weiter offen legt und damit seine Betriebsgeheimnisse preisgibt.
({4})
Das kann nicht gewollt sein. Die Probleme bei der Gewinnermittlung können auch nicht - wie es bereits mehrfach beschrieben worden ist - durch richterliche Schätzung gelöst werden. Die Gewinnermittlung kann nur auf
der Grundlage von Tatsachen und nicht einfach ins
Blaue hinein erfolgen. Auch der Nachweis des Vorsatzes
wird große Schwierigkeiten bereiten.
Rechtssystematisch ist der Gewinnabschöpfungsanspruch am Ende aber auch systemwidrig. Die Verpflichtung, den wettbewerbswidrig erlangten Gewinn an den
Bundeshaushalt abzuführen, hat nach Ihrer Begründung
Strafcharakter, der dem deutschen Zivilrecht aber
fremd ist. Die Verhängung rein strafender Sanktionen für
ein verbotenes Verhalten ist eine Aufgabe, die bisher der
Staat übernommen hat und gerade nicht private Verbände.
Frau Zypries, der geplante Gewinnabschöpfungsanspruch ist zwar eine gut gemeinte, aber eine schlecht gemachte Regelung, um vor Wettbewerbsverstößen abzuschrecken oder sie jedenfalls nicht zu belohnen. Er ist in
den überwiegenden Fallkonstellationen unpraktikabel.
Jedenfalls ist er ungeeignet, dem Staat eine neue Einnahmequelle zu verschaffen. Dieses Ansinnen, Frau Zypries,
ehrt Sie zwar sehr. Aber den Haushalt muss Herr Eichel
anders finanzieren.
Zum Schluss noch ein Punkt, der geändert werden
muss. Es geht um die vorgesehene Regelung zum Telefonmarketing. In den meisten Staaten der EU setzt man
hier auf den mündigen Bürger. Auch Sie haben vorhin
davon gesprochen, dass das ein Anliegen in der Gesetzesnovelle war. Europa hat sich für eine liberale und
wirtschaftsfreundliche Regelung entschieden. Das heißt,
wer nicht mit Telefonwerbung belästigt werden möchte,
kann dies im Verlauf des Telefonats kundtun und darf
erst dann nicht mehr telefonisch beworben werden.
Sie dagegen haben sich für eine Regelung ausgesprochen, wonach man nur angerufen werden darf, wenn
man vorher sein Einverständnis dazu gibt.
({5})
Damit haben Sie fahrlässig einen immensen Wettbewerbsnachteil für die deutschen Direktvermarkter in
Kauf genommen. Gerade in einer Zeit der großen Konsumzurückhaltung wird der deutschen Wirtschaft eine
ganz wichtige Möglichkeit der Kundenwerbung entzogen, die in den übrigen EU-Staaten bereits Standard ist.
({6})
Auf die vielen Arbeitsplätze, die die Bundesregierung
damit gefährdet, möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.
Frau Justizministerin, helfen Sie uns, den Markt zu liberalisieren, Rechtssicherheit zu schaffen und Arbeitsplätze zu schützen! Überarbeiten Sie den Gesetzentwurf
noch einmal!
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kollegen! Ich wiederhole es: Frau
Zypries, es ist ein Meilenstein im Wettbewerbsrecht,
dass der Verbraucher als von unlauterer Werbung unmittelbar betroffener Marktteilnehmer endlich ebenfalls
vom UWG geschützt wird. Verbraucher als Marktteilnehmer nun endlich auch mit einzubeziehen ist ein
Wechsel in der Sichtweise. Dafür verdienen Sie wirklich
Dank und Unterstützung. Auch die CDU/CSU sollte einsehen, dass Verbraucher gleichberechtigte Marktteilnehmer sein sollten.
({0})
Die Forderung der Grünen nach mehr Chancengleichheit
für Verbraucher findet hier den entsprechenden Widerhall. Es ist Ausdruck der Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz, dass sich die gesamte Bundesregierung dieses Ansinnen zu Eigen gemacht hat.
Unlauter ist jetzt die Ausnutzung der geschäftlichen
Unerfahrenheit insbesondere von Kindern und Jugendlichen oder der Leichtgläubigkeit und Angst von Verbrauchergruppen; darauf hat die Ministerin bereits hingewiesen. Dies ist in Deutschland ein ganz relevanter
Markt. Es gibt bei 6- bis 13-jährigen Kindern und Jugendlichen ein Konsumpotenzial von etwa 5,1 Milliarden Euro. Das zeigt, wie relevant eine solche Maßnahme
ist. Dies ist ein gesellschaftlich hochaktuelles Thema.
Unlauter sind zukünftig auch - darüber ist hier im
Parlament diskutiert worden; Herr Kollege
Wellenreuther, ich verstehe Ihre Einwände nicht - unzumutbare Belästigungen wie die Zusendung offensichtlich unerwünschter Werbung sowie telefonische Werbegespräche und die automatisierte Werbung per Fax, E-Mail
oder Anrufmaschinen, so genannte Spammings.
Sie sollten sich einmal vor Augen führen, was Ihre
Fraktion in diesem Bereich fordert - dies ist keinesfalls
ein Widerspruch zu uns -: ein ausdrückliches Verbot,
klare Definitionen, Sanktionen, Verantwortlichkeiten
usw. Das sind ganz klar ordnungspolitische Maßnahmen, übrigens nicht ganz falsch. Aber sie stellen keinesfalls - Sie tun hier so - eine völlige Liberalisierung dar.
Die, so sagen Sie, sei der beste Weg. Das ist eben nicht
der Fall.
Es gilt vielmehr, im UWG einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen. Wie dieser durchgesetzt wird - dies ist
tatsächlich nicht ganz einfach -, muss noch durch einzelne Maßnahmen bestimmt werden und muss sich in
der Praxis zeigen. Wir haben natürlich beim Spamming
Probleme durch ausländische Anbieter, die nicht ohne
weiteres erfasst werden können. Aber das UWG bietet
nun erst einmal einen gesetzlichen Rahmen.
Der Grundsatz, dass ohne vorherige Einwilligung des
Marktteilnehmers - ich meine das Opt-in-Verfahren keine Werbung erfolgen darf, ist wichtig. Hier unterstützen wir ganz ausdrücklich die Haltung der Bundesregierung und nicht die des Bundesrates. Denn das entspricht
im Übrigen der BGH-Rechtsprechung. Darum kann das
Argument der Vernichtung von Arbeitsplätzen gar nicht
richtig sein.
({1})
Denn solche Praktiken, auch wenn durch sie Arbeitsplätze geschaffen werden, sind schon jetzt rechtswidrig.
Insofern sagen wir: Hier hat die Bundesregierung genau
den richtigen und im Übrigen rechtskonformen Ansatz
gewählt.
({2})
Unerwünschte Werbe-E-Mails, so genannte Spams,
nerven - das kennen wir alle -, machen - auch das wissen
viele von uns - inzwischen 50 Prozent des elektronischen
Postverkehrs aus und verursachen Kosten in Milliardenhöhe für Beseitigung, Schutzmaßnahmen, Leitungskosten und Serverbetrieb. Das sind Produktivitätsverluste in
Höhe von etwa 2,5 Milliarden Euro. Ich denke, es ist gerechtfertigt, sich im UWG dieses Problems anzunehmen.
({3})
Wir wollen mit diesem neuen UWG auch für neue
Technologien Anreize schaffen. Die Filtertechnik müsste
verfeinert werden. Während der Umsetzung muss man
sicherlich noch einmal darüber diskutieren, ob es noch
weiterer Maßnahmen in Form von Bußgeldern gegen das
Versenden von Werbespams und Ähnlichem bedarf.
Die Bundesregierung will darüber hinaus weiteren
Missständen im Wettbewerbsrecht entgegentreten. Das
betrifft zum Beispiel Lockvogelangebote. Es ist natürlich unangenehm, wenn ein Verbraucher oder eine Verbraucherin, die frühmorgens in der Zeitung eine Anzeige
sieht und sich zum Laden begibt, dann dort auf leere Regale stößt.
({4})
Auch das ist hier neu geregelt. Das heißt, gegen die
Mondpreise wird nun endlich vorgegangen.
Ihr Argument, das Sonderveranstaltungen wie
Schluss-, Jubiläums- oder Räumungsverkäufe betrifft,
entbehrt jeder Grundlage. Die Reglementierung wird ersatzlos gestrichen. Das heißt, es wird tatsächlich ein größerer Freiraum, eine Liberalisierung geschaffen. Das
hindert den Handel ja keinesfalls daran, entsprechende
Aktionen durchzuführen. Es gibt auch keine Bestimmung im Kartellrecht, die dagegen spräche, entsprechende Absprachen zu treffen. Die Bestimmung im Kartellrecht greift bei Preisabsprachen, aber sie verbietet
doch nicht gemeinsame Aktionen in dem Bereich
Schlussverkäufe durchzuführen. Diese sind nach wie vor
möglich. Darum halte ich die Stellungnahme des HDE
für nicht gerechtfertigt.
Mit dem neu eingeführten Rechtsinstrument der
Unrechtsgewinnabschöpfung soll die Wirksamkeit des
Gesetzes verbessert werden, indem die Abschreckung
entsprechend groß gehalten wird. Diese Regelung soll
nur bei vorsätzlichem Handeln der Unternehmen gelten.
Die Verbraucherverbände haben heute Morgen darauf
hingewiesen, dass bei der Einführung dieses Instrumentes möglicherweise noch Praktikabilitätsüberlegungen
angestellt werden müssen. Dem können wir durchaus
beipflichten. Das Wichtige ist, dass dieses Instrument
überhaupt eingeführt wird und dass damit ein Anreiz geschaffen wird, nicht mehr schwarzes Schaf zu sein. Denn
dadurch wurden nicht nur die Verbraucher geschädigt,
sondern alle seriösen Anbieter. Insofern unterstützen wir
mit großer Leidenschaft die Bundesregierung bei der
Einführung dieses Instrumentes.
Fazit: Mit der vorgelegten Modernisierung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb erreicht die Bundesregierung wichtige Verbesserungen zum Schutz der
Verbraucher. Unlautere Werbung schadet Verbrauchern
und der Wirtschaft gleichermaßen. Deswegen ist es gut,
dass wir endlich diese Vorlage bekommen haben und sie
im parlamentarischen Verfahren behandeln können.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Funke,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Höfken, Sie haben eben gesagt: Endlich ist dieses
Gesetz da.
({0})
Das kann man unterstreichen. Frau Ministerin Zypries,
wir haben dieses Gesetz schon in der letzten Legislaturperiode angemahnt. Wir sind froh, dass es jetzt in dieser
Legislaturperiode - vier Jahre verspätet - gekommen ist.
({1})
Ob wir mit dem Inhalt einverstanden sein können,
darüber werden wir sicherlich noch in den Beratungen
zu diskutieren haben. Aber im Grundsatz hat sich das
UWG in den meisten Teilen durchaus bewährt. Die §§ 1
und 3 UWG sind Generalklauseln, zu denen der BGH
eine ausgewogene Rechtsprechung gefunden hat. Nicht
bewährt haben sich die §§ 7 und 8 UWG. Deswegen
werden sie jetzt auch gestrichen. Das ist eine alte Forderung auch der FDP. Wir sind damit also sehr zufrieden.
({2})
Ich bin auch damit zufrieden, Frau Ministerin, dass
Sie vorhin klargestellt haben, dass sich Organisationen
oder Kaufleute auf regionaler oder örtlicher Ebene zusammenfinden können, um einen Sommerschlussverkauf durchzuführen. Diese Klarstellung werden wir im
Rechtsausschuss in den Bericht aufnehmen. In diesem
Punkt wären unsere Bedenken also auch ausgeräumt.
Sie nehmen beim UWG einen Systemwechsel vor.
Bislang war das UWG als Gesetz so angelegt, dass es
die Wettbewerber untereinander und gegeneinander
schützte. Wir Verbraucher kamen darin nicht vor; das ist
richtig. Das kann man aber durchaus auch begrüßen. In
den zahlreichen zivilrechtlichen und handelsrechtlichen
Nebengesetzen gibt es Verbraucherschutzbestimmungen, die in der letzten Legislaturperiode überwiegend im
BGB untergebracht worden sind. Wir haben genügend
Verbraucherschutzgesetze, die wir zum großen Teil auf
dem Weg über die Europäische Union bekommen haben.
Es bedarf meines Erachtens also nicht dieses Systemwechsels vom Wettbewerbsrecht hin zum Verbraucherschutz im UWG. Sie müssten das Wettbewerbsrecht, also
das Recht der Kaufleute untereinander und gegeneinander, eher ausbauen und nicht, wie Sie es jetzt tun, durch
Verbraucherschutzbestimmungen relativieren.
({3})
Der Punkt Telefonwerbung ist von Herrn Kollegen
Wellenreuther bereits angesprochen worden. Darauf
brauche ich meine Zeit also nicht mehr zu verwenden.
Ich möchte nun auf den Gewinnabschöpfungsanspruch eingehen, den Sie jetzt ins UWG aufnehmen
wollen. Bislang gab es im UWG auch schon Sanktionsmöglichkeiten; dazu brauchten wir keinen Gewinnabschöpfungsanspruch. Wenn ein Kaufmann gegen einen anderen Kaufmann beispielsweise wegen einer
wettbewerbswidrigen Handlung geklagt hat, wurde diese
Klage im Erfolgsfall mit einer größeren Sanktion versehen, als der Gewinnabschöpfungsanspruch wahrscheinlich wäre. Insofern war das im Wettbewerbsrecht bislang
schon hinreichend geregelt.
Ich warne vor diesem Gewinnabschöpfungsanspruch; einige Argumente sind schon gebracht worden.
Darin liegt zumindest ein gewisser Systemwechsel.
({4})
Wir kommen zu amerikanischen Verhältnissen.
({5})
Wenn man den Fall betrachtet, der bei Lidl mit dem Olivenöl passiert ist - davon wurde heute berichtet -, dann
sieht man, dass es Möglichkeiten gibt, in anderen Bereichen Sanktionen zu verhängen, zum Beispiel auch im
Strafrecht. Wir sollten erst einmal sehen, dass wir die
Sanktionsmöglichkeiten, die das Wettbewerbsrecht bietet, ausnutzen, und keine neuen Sanktionsmaßnahmen
einführen, die nicht hilfreich sind.
Ich bin der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf noch
sehr unvollständig ist. Wir werden im Rechtsausschuss
noch kräftig daran arbeiten müssen. Aber ich hoffe, dass
wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen werden.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Manzewski,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
hier heute andebattierten Gesetzentwurf soll das Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb umfassend reformiert
werden. Ich glaube, Frau Ministerin, dass der Bundesregierung dabei der schwierige Spagat zwischen der weiteren Liberalisierung des Wettbewerbsrechts einerseits
und der Beibehaltung des Lauterkeitsgrundsatzes andererseits recht gut gelungen ist.
({0})
Mit der Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung ist bereits in der letzten Legislaturperiode ein
wichtiger Schritt für die Liberalisierung des Wettbewerbsrechts getan worden. Insoweit ist es nur konsequent, auch andere noch bestehende starre Regelungen
dem anzupassen.
So wird durch das Gesetz zum Beispiel die Reglementierung für Sonderveranstaltungen weitgehend ersatzlos aufgehoben. Damit - es ist schon angesprochen worden - dürften auch die Irritationen beendet sein, die
zuletzt durch Rabattaktionen auf den gesamten Warenbestand, die rechtlich eigentlich nicht als solche, sondern als
Sonderveranstaltungen einzuordnen sind, hervorgerufen
wurden. Eine Preissenkung des gesamten Warenangebots
wird damit zukünftig also zulässig sein.
Für die Händler bedeutet dies weitere Freiräume. Nicht
nur sie, sondern auch die Verbraucher werden allerdings
in vielen Bereichen umdenken müssen. Dinge, an die wir
in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit gewöhnt
waren und die eine wichtige Rolle in unserem Käuferverhalten gespielt haben, werden sich verändern. So wird es
zum Beispiel den guten alten Sommer- bzw. Winterschlussverkauf - jedenfalls so, wie wir ihn kennen - bald
nicht mehr geben.
({1})
Kollege Wellenreuther, mich wundert es schon sehr,
dass Sie das plötzlich kritisieren. Ich erinnere mich noch
an die Debatte, die ich in der Vergangenheit mit Herrn
Schauerte und Frau Kopp, die jetzt den Plenarsaal verlässt, geführt habe. Damals klang es auf der FDP- und
auch auf der Unionsseite noch ganz anders. Wir wurden
damals gescholten, dass wir nicht noch weitergegangen
sind und endlich den alten Zopf des Winter- und Sommerschlussverkaufs gekappt haben. Dass Sie sich nun
praktisch für den Erhalt einsetzen, ist schon sehr verwunderlich. Man lernt offensichtlich nie aus; ich weiß es
nicht.
({2})
All diese Veränderungen dürfen auf alle Fälle nicht
dazu führen, dass der Schutz von Mitbewerbern und Verbrauchern völlig aufgehoben wird. Ich halte es daher für
sehr richtig, den Verbraucher erstmals als Schutzobjekt
ausdrücklich zu erwähnen. Ich halte es auch für wichtig,
dass die Generalklausel als Kernstück des neuen UWG
erhalten bleibt, insbesondere weil durch diese Generalklausel deutlich gemacht wird, dass unlauterer Wettbewerb verboten ist. Hierzu gehört zum Beispiel - auch
dies beinhalten eben Preisklarheit und Preiswahrheit -,
dass Preissenkungen nicht irreführend sein dürfen, das
heißt, dass nicht mit Preissenkungen geworben werden
darf, wenn der vermeintlich heruntergesetzte ursprüngliche Preis nicht auch tatsächlich über eine längere Zeit
gegolten hat.
({3})
- Sie haben völlig Recht: Auch das ist momentan schon
Rechtsprechung. Ich finde es aber gut, dass es im Gesetz
ausdrücklich eine Erwähnung findet.
({4})
Kollege Funke, dass der Händler, der letztendlich dafür
verantwortlich ist, dafür auch darlegungs- und beweispflichtig ist, halte ich nur für gerecht und billig.
Lassen Sie mich noch zwei Problembereiche ansprechen, die kurz hier, aber insbesondere auch vom Bundesrat kritisiert worden sind.
Zum einen geht es um die Frage, wie wir in Deutschland Telefonmarketing behandeln. Die Bundesregierung hat sich für die so genannte „Opt-in-Regelung“ entschieden, das heißt, Telefonwerbung darf nur im
vorherigen Einverständnis mit dem Empfänger erfolgen.
Anders als Sie, Kollege Funke - und, ich glaube, auch
als Kollege Wellenreuther -, halte ich das für richtig.
({5})
Einen Wettbewerbsnachteil für die inländischen Unternehmen, wie es immer suggeriert wird, sehe ich nicht.
Das reformierte UWG würde innerhalb Deutschlands
auch für die ausländische Konkurrenz gelten und in den
EU-Nachbarländern, in denen dies lockerer gehandhabt
wird, könnten deutsche Unternehmen nach den dort geltenden Regelungen ebenso auftreten. Wie darin ein
Nachteil gesehen werden kann, vermag ich nicht zu beurteilen.
({6})
- Ja, natürlich nicht, Herr Kollege.
Ich möchte allerdings nicht - das halte ich für ziemlich schwerwiegend - zu jeder Tages- und Nachtzeit von
unzähligen Telefonanrufen belästigt werden - gleich wo
man sich gerade befindet -, um sodann mit frohen und
unsinnigen Werbebotschaften und -angeboten beglückt
zu werden. Weil man das Gespräch zunächst annehmen
muss, halte ich das für einen schwerwiegenden Eingriff
in die Privatsphäre.
Man kann nicht damit argumentieren, dass man sagt:
Na ja, Sie können das Telefonat ja beenden. Ich meine:
Allein die Tatsache, dass ich aufstehen und zum Telefon
gehen sowie das Gespräch, nicht wissend, wer dort dran
ist, annehmen muss und dann - diese Leute sind ja geschult - möglicherweise unfreundlich reagieren und den
Telefonhörer auflegen muss - Kollege Wellenreuther, das
mögen wir so machen, die Zielgruppe dieser Unternehmen mit Sicherheit aber nicht -, stellt einen Eingriff dar.
Kollege Wellenreuther, die Rechtsprechung sieht das
genauso. Für den BGH stellt das einen groben Missbrauch durch unkontrollierbares Eindringen in die häusliche Sphäre dar. Ich finde, dem ist nichts hinzuzufügen.
Einen etwaigen Vorteil der Wirtschaft durch die gezielte
Kundenwerbung wiegt das meiner Auffassung nach
nicht auf. Mit Ausnahme der Werbewirtschaft natürlich
wird das übrigens - das ist hier nicht gesagt worden von der Wirtschaft genauso gesehen.
Im Übrigen habe ich ohnehin Probleme mit der Werbung mittels der neuen Medien. Die Bombardierung mit
Faxen oder E-Mails - der Rekord in meinem Wahlkreisbüro in Bad Doberan betrug am vorletzten Wochenende
über 300 E-Mails; diese habe ich an einem einzigen Wochenende erhalten - kostet Zeit und Geld und beinhaltet
immer die Gefahr, dass man wichtige Mitteilungen übersieht oder fälschlicherweise löscht. Völlig zu Recht ist
dies dann auch als unzumutbare Belästigung eingestuft
worden.
({7})
- Sie da hinten sagen, man könne das einfach sperren.
Beschäftigen Sie sich einmal ein wenig mit den technischen Vorgängen! Ich denke nur daran, was hier in meinem Büro in Berlin alles versucht wird, um bestimmte
E-Mails zu sperren. Das kriegen Sie gar nicht hin, weil
allein kleine Veränderungen ausreichen, diese Sperren
zu umgehen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns
- damit möchte ich abschließen - wohl noch einmal über
den Gewinnabschöpfungsanspruch unterhalten müssen. Ich halte den Gewinnabschöpfungsanspruch grundsätzlich für geeignet, Rechtsgutsverletzungen durch Wettbewerbsverstöße zu begegnen. Dies gilt meiner
Auffassung nach insbesondere für die Fälle, in denen eine
Vielzahl von Abnehmern mit jeweils kleinen Beträgen
geschädigt wird, immer in der Hoffnung, dass der Einzelne aufgrund des individuell ja nur geringen Schadens
von der Rechtsdurchsetzung absieht und selbst bei einem
Unterlassungsanspruch der bereits gemachte Gewinn behalten werden kann.
Wir werden jedoch in den nächsten Wochen darüber
diskutieren müssen, inwieweit ein solcher Gewinnabschöpfungsanspruch tatsächlich praktikabel ist. Die Bedenken des Bundesrates sind ernsthaft zu überprüfen.
Ich weise jedoch darauf hin, dass es bereits Rechtsgebiete gibt, in denen Gewinnermittlung schon jetzt durchgeführt wird.
Ich danke Ihnen.
({9})
Nun hat das Wort die Kollegin Julia Klöckner, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Die Union verfolgt einen modernen, europatauglichen und durchaus wettbewerbsnahen Verbraucherschutz. Wir möchten eine Reform unseres deutschen
Wettbewerbsrechts. Darin sind wir uns schon einig, liebe
Kollegin Höfken, das streben auch wir an. Wir wollen
den Verbraucher schützen und es ist also falsch, uns immer in die jene Ecke zu stellen, als hätten wir etwas gegen den Verbraucher. Schließlich sind wir selbst Verbraucher.
Deshalb ist für uns die ausdrückliche Aufnahme der
Verbraucher in den Schutzzweck des Gesetzes sehr
wichtig.
({0})
- Sie fragen, wo die Kollegen sind. Dann frage ich mich,
wo die Ministerin ist. Ich glaube, dies ist noch wichtiger.
Wir sind weiterhin für die Abschaffung nicht mehr
zeitgemäßer Werbebeschränkungen und wir sind natürlich dafür, dass Regelungslücken geschlossen werden,
um Wettbewerbsverzerrungen und Wettbewerbsverstöße zu bekämpfen, die meistens auf Kosten und zulasten der Verbraucher gehen.
Nun endlich - wir sind ja froh - legt die Bundesregierung einen Entwurf zur Reform des UWG vor. Wir sagen
„endlich“ und wir freuen uns wirklich mit Ihnen, denn
wir haben diese nach dem Wegfall des Rabattgesetzes
und der Zugabeverordnung längst überfällige Reform
schon mehrmals gefordert.
({1})
Durch die Liberalisierung des Sonderveranstaltungsrechts bekommt der Verbraucher endlich das, worauf er
schon lange genug gewartet hat, nämlich dauerhaft günstige Preise. Es ist nichts Schändliches, wenn man so etwas möchte.
Allerdings gilt bei diesem Gesetzentwurf, wie sonst
auch bei der Regierung: Was lange währt, muss nicht unbedingt auch gut werden. Aus verbraucherpolitischer
Sicht ist der von der rot-grünen Bundesregierung vorgelegte Entwurf nämlich in vielen Punkten sehr enttäuschend.
({2})
- Das haben Sie noch nicht mitbekommen. Aber es ist
sehr wichtig für unsere Verbraucher, dass es die Union
gibt und dass wir darauf achten.
({3})
Schauen wir uns die unlauteren Wettbewerbshandlungen an, die im Übrigen zur ständigen Rechtsprechung
geführt haben und damit nicht wirklich etwas Neues
sind. Etwas abschreiben zu können ist schon mal positiv,
es hätte ja auch schief gehen können.
({4})
Hier sticht ins Auge, dass bei den Beispielen für irreführende Werbung die bestehenden, von der Rechtsprechung entwickelten Verbraucherschutzstandards von
Ihnen sogar unterschritten werden.
({5})
- Das gibt es nicht? Wir haben es gefunden.
({6})
Ein Beispiel hierfür sind die Lockvogelangebote. Nach
bisheriger Rechtsprechung wird in diesem Fall von einer
Irreführung des Verbrauchers gesprochen, wenn für eine
Ware geworben wird, obwohl diese nicht mehr in angemessener Menge vorhanden ist. Das verstehen Sie sicher
noch. Als angemessen wird nach ständiger Rechtsprechung ein Vorrat für drei Tage angesehen. Der Entwurf
der Bundesregierung hingegen wischt diese Ansicht
einfach vom Tisch. Jetzt soll es ausreichen, dass die
beworbene Ware lediglich für zwei Tage vorrätig ist.
Verbraucherschutz ist also wieder einmal nur ein Lippenbekenntnis.
({7})
Weitere Beispiele für mangelndes Engagement der
Bundesregierung für die Verbraucher sind der Bereich
des Telefonmarketings und der Werbung mittels Fax,
E-Mail und sonstiger elektronischer Medien, allgemein
bekannt unter dem Begriff „Spam“.
Die EU-Datenschutzrichtlinie für elektronische
Kommunikation muss nun endlich umgesetzt werden.
Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Die Umsetzungsfrist endet bereits am 31. Oktober - und zwar
nicht nächsten, sondern dieses Jahres.
({8})
Wieder wird die Frist zur Umsetzung einer europäischen
Richtlinie auf Kosten der Verbraucher nicht eingehalten.
Da nützen auch viele schöne Worte nichts. Sie müssen
einfach handeln.
({9})
Bereits in unserem Positionspapier Verbraucherschutz
forderten wir vor Monaten, gegen unverlangte Fax- und
Spamwerbung vorzugehen. Weil sich vonseiten der Regierung nichts getan hat, haben wir nun ein „Bündnis gegen Spam“ ins Leben gerufen. Gestern haben wir Wirtschaftsvertreter, Politikvertreter und Verbraucherschützer
an einen Tisch gebeten, um Lösungsansätze zu erarbeiten. Wenn schon bei Ihnen nichts passiert, dann nehmen
Sie wenigstens unsere Vorschläge an!
({10})
Ich komme zu einem weiteren Beispiel der aus Sicht
der Verbraucher mangelhaften Ausgestaltung des Gesetzentwurfs. Sie regeln einen Gewinnabschöpfungsanspruch. Das hört sich zwar beeindruckend an; aber sagen
Sie uns doch bitte, wie Sie das umsetzen wollen. Erklären Sie uns doch bitte, wer bestimmt, wo Unlauterkeit
festgestellt worden ist, und wie deren Vorsatz nachgewiesen werden kann, vor allen Dingen, wie diese Gewinne ermittelt werden.
Insofern ist dieser Gesetzentwurf nach unserem Dafürhalten zwar gut gemeint, aber unreif und unausgewogen.
Frau Kollegin Klöckner, möchten Sie Ihre abgelaufene Redezeit durch die Zusatzfrage des Kollegen
Manzewski verlängern?
Da er so nett lächelt, ja.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihr Kollege Wellenreuther im Zusammenhang
mit dem Telefonmarketing eine völlig andere Position
vertritt als Sie?
Es stimmt überhaupt nicht, dass er eine völlig andere
Position vertritt. Er hat nur eine differenziertere Haltung.
({0})
Darf ich noch einen Schlusssatz formulieren?
Aber selbstverständlich.
Kurzum: Wir sind für ein Gleichgewicht zwischen
Verbrauchern und Anbietern. Wir dürfen den Verbraucher nicht gegen die Anbieter ausspielen. Es muss ein
gemeinsames Miteinander von Marktanbietern, die lauteren Wettbewerb betreiben, und Verbrauchern möglich
sein. Vor allen Dingen darf der Verbraucher nicht bevormundet und für dumm verkauft werden.
Letztlich sollten Sie sich eines merken: Es können
noch so viele Tiefpreisangebote die Runde machen, die
besten Wettbewerbsregeln nützen überhaupt nichts,
wenn der Verbraucher nichts in der Tasche hat. Angesichts Ihrer Finanzpolitik wäre es gut, wenn Sie sich das
noch einmal vor Augen führen.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Jella Teuchner,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Vor zwei Wochen haben wir hier über den Haushalt des
Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft diskutiert. Wir mussten uns die Kritik gefallen lassen, wir würden Verbraucherschutz nicht
als Querschnittsaufgabe anpacken - und das, obwohl in
den meisten Beiträgen der Opposition deutlich wurde,
dass der Verbraucherschutz bei Ihnen beim Thema gesunde Lebensmittel endet. Ich denke, dass wir uns diesen
Schuh überhaupt nicht anziehen müssen.
Wir diskutieren heute den Entwurf des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, der eine ganz deutliche
Sprache spricht. Wir sehen die Verbraucherinnen und
Verbraucher als Teil des Wettbewerbs an und setzen
diese Sichtweise um. Verbraucherschutz ist Teil unserer
Politik und vor allem eine Querschnittsaufgabe. Im
Mittelpunkt des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes
steht die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher
auf den Märkten. Das haben wir schon oft betont.
Mit dem neuen UWG stärken wir die Position der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie werden - das ist
ein wichtiger Schritt - explizit zum Schutzobjekt. Wir
stellen damit klar: Wettbewerb braucht nicht nur Fairness zwischen den Anbietern; Wettbewerb braucht auch
einen fairen Umgang mit den Kunden. Das Ziel hierbei
ist klar: Wer unlauter handelt, darf davon nicht profitieren. Unlauteres Handeln führt immer wieder zu schlechterer Qualität und zu hohen Preisen für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Für die Mitbewerber ist dies ein
Wettbewerbsnachteil.
Insbesondere mit der Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung steuern wir dem entgegen. Das heißt, nicht
unlauteres Verhalten, sondern Fairness gegenüber dem
Kunden muss ein Wettbewerbsvorteil sein. Gerade diese
Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung wird auch von den
Verbraucherverbänden positiv bewertet. Sie haben allerdings weitere Anregungen vorgelegt, die wir im Gesetzgebungsprozess noch diskutieren werden.
Dennoch: Die Novelle des UWG ist ein wichtiger
Schritt nach vorn und - daran gibt es keinen Zweifel mit der Novelle des UWG nehmen wir die bestehende
Rechtsprechung zum Wettbewerbsrecht in das Gesetz
auf und passen es an die europäischen Harmonisierungsprozesse und an die Entwicklung der Märkte an.
Verbraucher brauchen funktionierende Märkte. Notwendig ist dazu das Lauterkeitsrecht, das ihrer Position
auf den Märkten Rechnung trägt. Genau dies setzen wir
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass wir ein Gesetz zum Wettbewerb beraten
können, ist geboten und vernünftig. Wir können auch erkennen: Es ist gut, dass wir einen solchen Entwurf in
Deutschland vorlegen, weil damit der Beratungsprozess
in Europa besser beeinflussbar wird. Man hat auch schon
einmal argumentiert: Lasst uns die Entwicklung auf europäischer Ebene abwarten; dann können wir uns anpassen. - Ich halte es also für vernünftig, dass wir jetzt ein
solches Gesetz beschließen.
Aus Sicht der Wirtschaft legen wir großen Wert darauf, dass die Ziele Verbraucherschutz und Wettbewerbsschutz nicht in einem Nachrangigkeitsverhältnis stehen,
sondern gleichrangig behandelt werden. Wir können unseren Frieden damit machen, dass man den Verbraucherschutz mit in das Ziel aufnimmt, aber das Gesetz bleibt
in seinem Wesen Wettbewerbsrecht.
({0})
Das hat Konsequenzen für alles, was in das Gesetz hineinzuschreiben ist. Die Wettbewerbsfragen sind ernst
zu nehmen. Wir müssen bei aller Sorge um den Verbraucherschutz immer wieder darauf achten, dass wir Wirtschaft und Wettbewerb nicht mit Fesseln binden, welche
die Märkte belasten. Das führt nicht zu vernünftigen Ergebnissen. Ich meine die Bürokratie, die falsche Handhabung der Vorschriften und die Vermehrung von
Rechtsstreitigkeiten und Rechtsunsicherheit, die sich aus
einem solchen Gesetz ergeben können.
Das wird eine zentrale Fragestellung für die jetzt beginnenden Beratungen einschließlich der Anhörung sein,
die wir machen wollen, um genau diese Fragen zu klären. Ich bitte also darum, dass dieser Punkt immer wieder untersucht wird. Wir diskutieren immer vor dem
Hintergrund von Entbürokratisierung und Deregulierung. Dabei sollten wir vor Augen haben: Wenn wir stets
gezielten Interessen von Interessengruppen nachgeben,
die gerne noch eine präzise gesetzliche Regelung haben
wollen, so brauchen wir uns am Ende der Legislaturperiode nicht zu wundern, dass wir den Berg der Bürokratie
vergrößert haben. Um das zu vermeiden, sind wir daran
interessiert, das Gesetz schlank zu halten.
Ich will einen anderen Punkt ansprechen, der mir
ganz interessant erscheint. Wir schützen mit diesem Gesetz - das taten wir wohl schon in der Vergangenheit Verbraucherinteressen auch dann, wenn gegen eine andere Rechtsnorm verstoßen wird. Wenn jemand, der
nicht als Arzt zugelassen ist, eine derartige Behandlung
vornimmt - also eine Tätigkeit ausübt, obwohl er die Voraussetzung dafür nicht erfüllt -, dann verstößt er nach
altem und nach neuem Recht gegen § 1 des UWG. Denn
man sagt, dass er gegen den Verbraucherschutzansatz
verstößt, der in diesem Gesetz seinen Ursprung hat. In
der Übertragung auf den Wettbewerbsteil hingegen fehlt
die Bereitschaft, das so zu sehen. Dazu gibt es ein BGHUrteil. Ich will das entsprechende Beispiel bilden: Wenn
steuersubventionierte öffentlich-rechtliche Unternehmen
unter Verstoß gegen Gemeindeordnungen in ihren Ländern den Wettbewerb stören und Wettbewerber schädigen, dann gilt das nicht als eine Verletzung des § 1
UWG.
Ich möchte also, dass wir in den Beratungen noch einmal prüfen, ob wir den Wettbewerbsschutz so in dieses
Wettbewerbsschutzgesetz einbauen können, dass zum
Beispiel Übergriffe von subventionierten öffentlichrechtlichen Unternehmen, Stadtwerken etc., die den
Wettbewerb stören, unter die Schutznorm dieses Gesetzes fallen. Das wäre für die Wirtschaft und für den Mittelstand eine wichtige Fragestellung.
({1})
- Wir werden uns darüber unterhalten und das prüfen.
Ich will mit einem Gedanken abschließen, der mir
stets kommt, wenn ich sehe, was wir für die Wirtschaft
tun, was wir ihr zumuten und wie wenig wir uns selber
zumuten. Wenn Sie sich einmal anschauen, was in den
§§ 3 und 4 zum Schutz der Verbraucher formuliert wird,
und dann einmal überlegen, was wir zum Schutz der
Bürger, der Wähler tun und wie wir uns in der Politik im
Umgang mit der Lauterkeit benehmen, werden Sie ins
Staunen kommen.
Ich will Ihnen einen Passus des Entwurfs vorlesen
und bitte Sie, ihn politisch zu sehen:
Unlauter … handelt, … wer Wettbewerbshandlungen vornimmt, die geeignet sind, … die Leichtgläubigkeit, die Angst oder die Zwangslage von Verbrauchern auszunutzen …
Setzen Sie statt „Verbraucher“ das Wort „Wähler“ ein
und beziehen Sie es auf die Politik - und Sie haben ein
Problem! Wie unlauter ist ein Haushalt, den ein Finanzminister vorlegt, der die Verbraucher täuscht? Ist das eigentlich nicht geschützt? Sollten wir nicht einmal darüber nachdenken und von dieser Seite an das Thema
herangehen?
({2})
Ich will es noch einmal auf den Punkt bringen - das
gibt es viel häufiger, als wir glauben -: Wir muten allen
anderen alles Mögliche zu, nur bei uns selbst machen
wir eine Ausnahme, dort soll es nicht gelten. Ich möchte,
dass Lauterkeitsgesichtspunkte in den politischen Wettbewerb einfließen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht
ein Lauterkeits- und Wettbewerbsschutzgesetz für politische Prozesse brauchen. Das wäre etwas! Ich lade Sie
ein, darüber verschärft nachzudenken.
({3})
- Wir haben immerhin mit dem Nachdenken schon angefangen, indem wir Ihnen diesen Vorschlag machen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache, auch wenn die letzte
Überlegung ganz offenkundig zu vielfältigen spontanen
Reaktionen führt. Diese können bei den Beratungen in
den Ausschüssen sicherlich noch vertieft werden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das scheint nicht der Fall zu
sein. Dann ist mit Ihrem Einverständnis die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Konsequente Abschiebung ausländischer Extremisten sicherstellen
- Drucksache 15/1239 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Niemand kann wollen, dass ein Mensch in den Folterkammern eines Unrechtsregimes landet, und niemand
kann einen Prozess gutheißen, in dem Aussagen verwendet werden, die durch Folter erzwungen werden.
({0})
Dies vorausgeschickt, zeigt aber der Fall des kriminellen Extremistenführers Kaplan beispielhaft, woran
das deutsche Ausländerrecht krankt. Es ist der Fall eines
kriminellen islamistischen Hasspredigers, der in Deutschland Asyl bekam, der sich offen gegen unsere Verfassung stellt und der wegen öffentlicher Aufforderung zum
Töten vier Jahre in Haft war.
({1})
Inzwischen ist zwar der Asylstatus gerichtlich aberkannt, dennoch darf Kaplan weder in seine Heimat Türkei ausgeliefert noch dorthin abgeschoben werden, weil
ihn dort nach richterlicher Auffassung menschenrechtswidrige Behandlung durch ein nicht rechtsstaatliches
Verfahren drohe. Entscheidender Grund: Das Ausländerrecht gewährt in diesen Fällen absoluten Abschiebungsschutz ohne Einschränkung. Die Folge mithin: Kaplan
erhält in Deutschland ein Bleiberecht.
({2})
Trotzdem lässt die Regierung das Ausländerrecht unverändert, ja, sie zeigt nicht einmal Änderungsbereitschaft. Sie will diesen Gewalttäter zwar loswerden, doch
dies gelingt nicht. Die Voraussetzungen für die Abschiebung von Kaplan - so die Bundesregierung - müsse jetzt
die Türkei schaffen. Diese müsse zusichern, dass ein zu
erwartender Kaplan-Prozess in der Türkei nach rechtsstaatlichen Kriterien erfolge.
({3})
Die deutsche Bevölkerung fragt sich: Handelt es sich bei
der Türkei nicht immerhin um einen Staat, dessen Aufnahme in die EU gerade diese Bundesregierung betreibt?
({4})
Trotzdem trauen deutsche Richter der Türkei nicht zu,
einen Straftäter rechtsstaatlich korrekt zu behandeln.
({5})
Dabei ist die Türkei selbst Vertragsstaat der Menschenrechtskonvention und daher zur Anwendung der Konvention verpflichtet.
Unerträglich ist übrigens auch, dass Deutschland türkische kriminelle Intensivtäter kaum noch in die Türkei
abschieben kann, weil die Türkei diese einfach ausbürgert und damit die Abschiebung verhindert.
({6})
Der Fall Kaplan zeigt beispielhaft, wie sich kriminelle
Extremisten die Schwächen des deutschen Rechtsstaats zunutze machen, um hier einen Schutz zu finden,
der ihnen eigentlich nicht zustehen sollte. Damit werden
falsche Signale an die rund 30 000 anderen islamistischen Extremisten in unserem Land gesendet: Deutschland, so sehen sie, kann nicht einmal diejenigen loswerden, die seine Verfassungsordnung offen angreifen. Die
Bürgerinnen und Bürger unseres Landes fragen sich:
Bleibt unserem Land also nichts anderes übrig, als Extremisten im wahrsten Sinne des Wortes auszuhalten?
Das alles zeigt, dass es bei der Extremismusbekämpfung einen erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt.
Das deutsche Ausländerrecht muss gewährleisten, dass
ausländische Extremisten, die sich offen gegen unseren
Rechtsstaat stellen, dieses Land auch wieder verlassen
müssen.
({7})
Wenn es nicht möglich ist, einen wegen Mordaufrufs
rechtmäßig verurteilten kriminellen Extremisten in sein
Heimatland, das noch dazu EU-Beitrittskandidat ist, zurückzubringen, dann ist das für unser Land nicht hinnehmbar. Eine derartige Schwäche im Kampf gegen den
islamistischen Extremismus kann sich Deutschland nicht
leisten.
In dem von uns vorgelegten Antrag geht es natürlich
nicht allein um den Fall des Gewalttäters Metin Kaplan.
Es geht vielmehr um die diesem Fall zugrunde liegende
Problematik, die darin besteht, dass Extremisten wegen
der absoluten Sperre des § 53 unseres Ausländergesetzes
in Verbindung mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Regelfall nicht abgeschoben werden können.
({8})
Diese Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Ausländergesetz haben nach der derzeitigen deutschen Rechtslage keine Grenze. Dies führt dazu, dass Ausländer - unabhängig davon, ob sie politisch verfolgt sind oder nicht,
unabhängig davon, ob sie schwerste Straftaten begangen
haben - nach dieser Vorschrift absoluten Abschiebungsschutz genießen. Das gilt auch in Extremfällen, in denen
jemand eine fortwährende Gefahr darstellt, weil er zu
extremistischen oder gar terroristischen Handlungen bereit war bzw. ist.
Wir meinen, dass sich unser Land dieser Problematik
grundsätzlich stellen muss, wenn man es mit der Extremismus- und Terrorismusbekämpfung ernst meint.
({9})
Ansonsten - das sagen wir Ihnen voraus - werden deutsche Gerichte auch weiterhin zu solchen Entscheidungen
wie im Fall Kaplan kommen müssen, weil das Ausländerrecht sie dazu verpflichtet.
Herr Minister Schily, es ist ehrenhaft, dass Sie versuchen, Kaplan im Wege einer Zusicherung der Türkei abschieben zu können. Sie haben bei diesen Bemühungen
auch die volle Unterstützung unserer Fraktion. Aber,
Herr Minister, Sie wissen doch genauso gut wie wir, dass
eine solche Zusicherung, die es zwar im Auslieferungsrecht, nicht aber bei der Abschiebung gibt und die Sie im
Wege einer fantasievollen Rechtsschöpfung quasi analog
übertragen haben, nur ein Notnagel ist. Damit wird
Handlungsfähigkeit vorgespiegelt, aber das Grundproblem wird nicht gelöst.
({10})
Herr Minister, wenn diese Rechtslage so bleibt, werden
Sie weiterhin gezwungen sein, wegen jedes kriminellen
Extremisten mit Ihrem Beamtenapparat durch die Welt
zu jetten und den entsprechenden Herkunftsstaat um dessen Rücknahme zu bitten, weil Deutschland selbst keine
rechtlichen Möglichkeiten hat. Das ist der falsche Weg.
Wir meinen, dass es an der Zeit für den Versuch ist, hier
eine klare Rechtslage zurückzuerlangen.
Herr Minister Schily, Sie selbst haben den Fall Kaplan zum Testfall für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie gemacht. Ich halte das für falsch, solange Sie
nicht zur Änderung der Rechtslage bereit sind; denn Sie
laufen Gefahr, Herr Minister, zu unterliegen und
Deutschland dem Hohn extremistischer Gewalttäter
preiszugeben. Sätze wie: „Kaplan könnte zu einem Symbol für die Schwäche unseres Staates werden“, fordern
Extremisten geradezu heraus, mit allen Rechtsmitteln
unseren Staat schwach erscheinen zu lassen.
In unserem Antrag findet sich die Forderung, national
und supranational zu prüfen, wie in Extremfällen die
Schutzpflichten aus § 53 des Ausländergesetzes und der
Europäischen Menschenrechtskonvention mit den Sicherheitserfordernissen Deutschlands in Einklang gebracht werden können. Das ist sicherlich ein heißes Eisen. Aber, Herr Minister Schily, diese Frage ist nicht nur
von der CDU/CSU-Fraktion, sondern auch schon bei der
Behandlung der Antiterrorpakete von einer Persönlichkeit wie Herrn Professor Hailbronner öffentlich gestellt
worden, der, glaube ich, Ihr Haus in schwierigen Fragen
berät. Wir glauben, dass Deutschland, wie Hailbronner
das einmal vorgeschlagen hat, die Initiative ergreifen
muss, damit sich die Hauptmitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention zusammensetzen, um
sich über die Auslegung des betreffenden Artikels Gedanken zu machen.
Denn es geht letztlich um die existenzielle Frage:
Müssen die Sicherheitsinteressen des Staates und der
Allgemeinheit auch bei der Gefährdung der inneren
Sicherheit durch terroristische Gewalttäter oder militante Extremisten schlechthin gegenüber der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung als Folge einer Abschiebung zurücktreten? Oder gibt es - ähnlich wie bei
der asylrechtlichen Schutzgewährung in Art. 33 Abs. 2
der Genfer Flüchtlingskonvention - auch im Rahmen
des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention
eine Opfergrenze? Wir meinen, dass man sich an die Beantwortung dieser Frage heranwagen muss. Ich darf hier
eine Äußerung des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Professor Zeidler in Erinnerung rufen, wonach „in der Demokratie bestimmte Rechtsbereiche nicht in einen Zustand geraten dürfen, dass ihre
Praktizierung dem skeptischen Bürger als Fahrt auf einer
Geisterbahn staatlich veranstalteten groben Unfugs erscheinen kann“.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast,
SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Koschyk,
ich muss Ihnen wohl in Erinnerung rufen, dass es sich
bei dem Ausländerrecht, dessen angebliche Schwächen
Sie im Moment kritisieren, um ein Gesetzeswerk handelt, das während Ihrer Regierungszeit mit Ihrer Mehrheit beschlossen worden ist.
Niemand muss uns auf die Sprünge helfen, wenn es
um die Abschiebung ausländischer Extremisten unter
rechtsstaatlichen Bedingungen geht. Metin Kaplan
- kein Zweifel - bedroht unsere Sicherheit. Der so genannte Kalifatstaat zielt auf unser gesamtes System. Er
tritt unsere Demokratie mit Füßen und will die Scharia
durchsetzen. Kaplan, wegen Anstiftung zum Mord zu
vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, ist ein politischer
Krimineller, wie es die türkische Gemeinde einmal ausgedrückt hat. Er will außerdem den Umsturz der türkischen Staatsordnung. Er hetzt seine Anhänger in
Deutschland auf und verbreitet widerwärtige antisemitische und antiisraelische Parolen. Dieser Mann - kein
Zweifel - muss aus Deutschland verschwinden.
({0})
Herr Kollege Grindel, hier gibt es einen Weg, den der
Bundesinnenminister auch konsequent beschreitet, nämlich gegen das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichtes
Berufung einzulegen und von der türkischen Regierung
eine absolut bindende Zusicherung zu erwirken, dass
Kaplan nach seiner Abschiebung ein rechtsstaatlich faires Verfahren gewährt wird. Das erfordert intensive Verhandlungen. Sie sind beim Besuch des Innenministers in
der vergangenen Woche mit Nachdruck vorangetrieben
worden und werden fortgesetzt.
Übrigens hat es solche Bemühungen schon vorher
- nicht erst im Falle Metin Kaplans - gegeben, wenn es
um die Durchsetzung der Ausweisung von Straftätern
türkischer Staatsangehörigkeit ging.
Zentraler Punkt ist die notwendige Absicherung dafür, dass die türkische Justiz im Gerichtsverfahren gegen
Kaplan Aussagen, die im Jahre 1998 unter Folter erpresst wurden - darum geht es eigentlich -, nicht verwertet. Dafür reichen die bislang gegebenen Zusagen
noch nicht aus. Das Verbot der Folter und das Verbot
der Verwendung von Aussagen, die unter Misshandlungen erpresst wurden, sind tragende Grundsätze unserer
Gerichtsbarkeit.
Ich erinnere an Folgendes: Vor nicht allzu langer Zeit
mussten wir hier in Deutschland diese Debatte führen,
weil sogar einige - auch hochrangige Juristen und Politiker - meinten, man könne gegenüber dem Mörder des
kleinen Jakob von Metzler von diesem Prinzip abweichen. Aber: Das Folterverbot duldet keine Aufweichung
und keine Ausnahmen.
({1})
Das entspricht unserem Rechtsstaat und dem Rechtsstaat
anderer Demokratien. Herr Grindel, das heißt, ausgerechnet ein Täter, der diesen Rechtsstaat aus den Angeln
heben will - das sage ich mit aller Deutlichkeit -, kann
sich auf dessen unumstößliche Menschenrechtsstandards
berufen. Das ist manchem Bürger schwer zu erklären;
aber so muss es nach unseren Regeln sein.
({2})
Die Türkei hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, die Todesstrafe abgeschafft und
umfangreiche Rechtsreformen vollzogen. Sowohl das
Düsseldorfer als auch das Kölner Gericht hegen Zweifel
daran, dass diese Veränderungen in vollem Umfang
praktiziert werden. Sie trauen der positiven Entwicklung
in der Türkei nicht.
Ich bin da anderer Meinung. Mein Optimismus hat
sich nach einer Rede, die der türkische Ministerpräsident
Erdogan kürzlich bei seinem Besuch hier in Berlin vor
der Friedrich-Ebert-Stiftung sehr überzeugend gehalten
hat, verstärkt. Er zeigte sich darin sehr entschlossen, den
neuen Gesetzen in seinem Land nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität Geltung zu verschaffen.
Deswegen halte ich es für einen großen Fehler, dass
Sie in Ihrem Antrag den Fall Kaplan sozusagen zum
Kronzeugen für die angebliche Unfähigkeit und Ungeeignetheit der Türkei für einen EU-Beitritt heranziehen.
So steht es in Ihrem Antrag und so formulierte es Ihr außenpolitischer Sprecher, Friedbert Pflüger. Er sagte gegenüber der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“, er
sehe die Türkei weit davon entfernt, die Kriterien für
eine Mitgliedschaft in der EU zu erfüllen. Wenn
Deutschland einen selbst ernannten Terroristenführer
wie Kaplan wegen drohender Folter nicht in die Türkei
abschieben könne, dann sage das genug über den Zustand dieses Landes.
Jetzt frage ich mich: Was wollen Sie eigentlich, meine
Kollegen von der Union? Sie verwickeln sich doch in
Widersprüche. Entweder ist es richtig und erfolgversprechend, in der Türkei über verbindliche Zusicherungen zu
verhandeln - dann hat der Innenminister, wie Sie es verlangen, alles Notwendige eingeleitet -, oder die Türkei
ist kein Rechtsstaat; dann wären Hopfen und Malz verloren und die Abschiebung auch solch eines schlimmen
Straftäters würde sich verbieten, was Applaus für das
Gerichtsurteil bedeuten würde. Nur eines von beidem
kann richtig sein.
Wir setzen dem entgegen: Es ist grundfalsch, der Türkei die Tür zum Beitritt - wie Sie es wollen -, zuzuschlagen. Natürlich wird der Verhandlungsprozess lange
dauern - lange dauern müssen. Die Verhandlungen sollen überhaupt erst im kommenden Jahr beginnen. Eine
Option aber, ein Signal der Gemeinschaft an diesen
Staat, ist richtig und wichtig. Sie kann eine starke Sogwirkung gerade für die Durchsetzung menschenrechtlicher Normen - dafür gibt es genug Anzeichen - entfalten. Dafür gibt es genug Anzeichen.
Eine Ablehnungsfront gegen jegliche Beitrittsperspektiven aber arbeitet den Europakritikern und den radikalen Kräften in die Hände. Das sollten Sie nicht tun. Ich
kann davor nur warnen.
({3})
- Herr Kollege Zeitlmann, ich verwahre mich dagegen,
dass Sie der Bundesregierung einen so genannten
Schmusekurs in Sachen Türkei vorwerfen. Lassen Sie
diese Worte bitte weg!
Ein Resümee: Ihr Antrag ist untauglich, er ist überflüssig und er ist bedenklich.
Der Antrag ist untauglich in seinen Vorschlägen zur
Verhinderung der Einreise möglicher Extremisten und in
der Forderung nach einer Verschärfung des Staatsangehörigkeitsrechts, um Verfassungsfeinden die Einbürgerung zu verwehren. Sie wissen doch selbst, dass diese
Koalition bei der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts das Bekenntnis zur Verfassungstreue überhaupt
erst zur Bedingung gemacht hat.
({4})
Eine Änderung dieses Gesetzes steht für uns überhaupt
nicht zur Debatte.
({5})
- Sie bemühen sich sehr, Herr Kollege Grindel, aber ich
habe hier das Mikrofon.
Überflüssig - um zum zweiten Punkt zu kommen - ist
Ihre Mahnung betreffend die Einführung weiterer biometrischer Merkmale in Pässen und Visa; denn die
Bundesregierung ist doch gerade diejenige, die - das
wissen Sie doch aus unseren vielfältigen Beschäftigungen mit dem Thema - in Europa darauf drängt, dass
diese Maßnahme europaweit möglichst schnell und
möglichst einheitlich realisiert wird.
Bedenklich - das ist der dritte und letzte Punkt - ist
schließlich Ihr Versuch - Sie haben es heute auch noch
einmal artikuliert, Herr Kollege Koschyk -, im Zusammenhang mit dem Fall Kaplan die absolute Schutzwürdigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention
anzutasten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht in
unserem Rechtsstaat nicht!
({6})
Ich möchte am Schluss einen Appell aussprechen:
Hüten Sie sich davor, den Fall Kaplan als Argumentationspolster für pauschale Türkeifeindlichkeit in unserem Land zu nutzen!
({7})
Missbrauchen Sie diesen Fall bitte nicht dazu! Sie sind
leider auf dem besten Wege, das zu tun.
({8})
Hüten Sie sich davor, für den Europawahlkampf eine
Kampagne gegen den möglichen EU-Beitritt der Türkei
anzuzetteln!
({9})
Sie richten schweren außenpolitischen Schaden, aber
auch innenpolitischen Schaden an; denn Sie stoßen die
größte hier lebende Migrantengruppe, nämlich die Menschen aus der Türkei, vor den Kopf und Sie betreiben damit eine handfeste Desintegration. Davor können wir Sie
nur dringend warnen.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Kollege Koschyk und die CDU/CSU-Fraktion haben anhand des Falls Kaplan, in Wahrheit dann
aber auch wieder unabhängig davon, mit ihrem Antrag
hier ein, wie ich finde, sehr schwieriges Problem zur
Sprache gebracht. Der Kollege Koschyk hat diesen Antrag in einer Form begründet, die nachdenklich macht
und die einen überlegen lässt, wie die richtige Antwort
lautet. Die richtige Antwort kann aber niemals darin bestehen, den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention zu relativieren. Das würde die FDP nicht
mitmachen.
({0})
Erstens. Auch wir sagen: Der Verbleib Kaplans in der
Bundesrepublik Deutschland ist nahezu unerträglich.
Dies hat Guido Westerwelle klar erklärt, Werner Hoyer
aus Köln ebenso. Dies ist auch meine Meinung.
({1})
Zweitens. Wir unterstützen daher den Bundesinnenminister bei seinen - bisher allerdings erfolglosen - Bemühungen, in der Türkei die tatsächlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kaplan dorthin abgeschoben
werden kann.
Drittens. Wir betreiben aber keine Richterschelte. Äußerungen wie die vom bayerischen Innenminister Beckstein,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln sei skandalös,
liegen wirklich völlig neben der Sache. Ich lasse dabei
dahingestellt, ob die Entscheidung wirklich richtig ist;
das mag auf Rechtsmittel hin von den Obergerichten
überprüft werden.
Die Türkei befindet sich in einem Wandel. Sie ist,
auch was ihre rechtsstaatliche Qualität angeht, nicht mit
dem Staat vergleichbar, der sie noch vor zehn oder
15 Jahren gewesen ist. Aber die Entscheidungen des
Verwaltungsgerichts in Köln und des Oberlandesgerichts
Düsseldorf sind jedenfalls nachvollziehbar.
Das führt zu dem eigentlichen Grundproblem. Das
Grundproblem lautet doch unabhängig von diesem Einzelfall: Wie geht ein Staat mit Extremisten um, wenn er,
wie die Bundesrepublik Deutschland, bei Ausweisung
und Abschiebung solcher Extremisten selbst an ein
rechtsstaatliches Verfahren gebunden ist und Menschenrechte beachten will, ja beachten muss? Da müssen wir
den Mut haben, zuzugeben, dass man sich hier in einem
echten Dilemma befindet. Wir sind - das wissen auch
Sie von der CDU/CSU-Fraktion genau - international
gebunden. Wir sind an die Anti-Folter-Konvention der
UNO und an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Weil Sie gesagt haben, das könne
man international neu verhandeln, noch Folgendes: Wir
sind vor allem an unser eigenes Recht gebunden, an den
Art. 1 des Grundgesetzes, an den Schutz der Menschenwürde.
({2})
Der Schutz der Menschenwürde steht allen zu, auch denen, die selbst, wie Kaplan mit seinem Mordaufruf, die
Menschenwürde anderer bedauerlicherweise mit Füßen
getreten haben. Das unterscheidet ja gerade den Rechtsstaat von dem, der ihn bekämpft.
Daraus ergibt sich die Folge: Ein Asylrecht ist durchaus verwirkbar. Kaplan hat kein Asyl mehr. Ein Aufenthaltsrecht ist verwirkbar, aber dennoch muss ein Rechtsstaat bei Abschiebungen Grenzen beachten. Wir dürfen
und können nicht Menschen sehenden Auges in Länder
schicken, in denen ihnen Tod oder Folter drohen. Das ist
ganz klar in § 53 des Ausländergesetzes normiert; das ist
lange geltendes Recht, das CDU/CSU und FDP gemeinsam bei der Novelle des Ausländergesetzes im Jahre
1997 aus gutem Grund belassen haben.
Von daher bin ich der Meinung, man sollte all die
Maßnahmen im Antrag der CDU/CSU unterstützen, die
schon einen Schritt vorher ansetzen. Es liegt in unserem
Interesse, Extremisten möglichst erst gar nicht ins Land
zu lassen. Die Maßnahmen, die Sie dazu vorschlagen
- Regelanfragen beim Verfassungsschutz zum Beispiel -,
sind entweder richtig und werden von uns unterstützt
oder sie sind diskutabel. Über letztere werden wir uns im
Ausschuss unterhalten.
({3})
Trotzdem wird es immer wieder den Fall geben - ich
hoffe, dass es möglichst wenige sein werden, aber es ist
jedenfalls denklogisch nicht ausgeschlossen -, dass sich
jemand, der sich schon in Deutschland aufhält, erst hier
zum Extremisten entwickelt und aus einem Herkunftsland stammt, wo ihm Todesstrafe oder Folter droht. Wir
müssen dann Farbe bekennen, wie wir das von mir beschriebene Dilemma in diesen Fällen lösen wollen.
Wenn Sie, Herr Koschyk, sagen, es dürfe nicht zugelassen werden, dass sich so jemand weiter in Deutschland
aufhält, dann stellt sich für mich sofort die einfache und
schlichte Frage: Wohin wollen Sie ihn denn abschieben,
wenn Sie, wie ich hoffe, mit uns der Meinung sind, dass
es nicht geht, ihn in ein Land abzuschieben, wo ihm Tod
oder Folter droht? Es bliebe dann ja nur die Aufnahme in
Drittstaaten, das Abschieben in Niemandsland oder exterritoriales Gelände übrig. Alle diese Möglichkeiten
scheiden praktisch aus.
Deswegen sagt die FDP: Ein Rechtsstaat bleibt an das
Verbot gebunden, Menschen in Länder abzuschieben,
wo ihnen Folter und Tod drohen. Hier darf es keine Relativierung und Aufweichung geben. Der Rechtsstaat ist
deswegen aber nicht schutzlos: Er hat die Polizei, die
solche Personen genau überwacht, und ihm stehen geheimdienstliche Möglichkeiten und ein Strafrecht zur
Verfügung, das dann greift, wenn jemand tatsächlich gegen unsere Gesetze verstößt. So stellt sich das Spannungsfeld dar. Nur auf dieser Basis kann nach Meinung
der FDP ein liberaler Rechtsstaat ein solches Problem lösen.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Probleme mit der Abschiebung von Extremisten gibt es
nicht erst seit dem Fall Kaplan. Sie gibt es auch nicht nur
in Deutschland. Vor wenigen Jahren bereits mussten wir
in Europa, also nicht nur in Deutschland - das war auch
für mich nur schwer erträglich -, algerischen Gewalttätern Schutz gewähren, während wir gleichzeitig die Opfer dieser algerischen Gewalttäter ausgewiesen haben.
Wir haben immer wieder die Situation gehabt, dass beide
Bürgerkriegsparteien aus afrikanischen Ländern in Europa Schutz gesucht haben. Die Frage, wem letztendlich
Asyl gewährt wurde, war oft an die Bedingungen im
Herkunftsland gekoppelt.
Meine Damen und Herren, die Fälle in Europa sind
bekannt. Auch England, Frankreich, die skandinavischen Länder und die Niederlande würden gerne einige
extremistische islamistische Führer verbotener Organisationen loswerden. Sie haben dazu aber keine Handhabe. Ich erinnere die CDU/CSU nicht gerne daran, dass
es ihr Bundesinnenminister Kanther war, der einem
Großteil der damaligen PKK-Funktionäre - diese Organisation hat sich ja mittlerweile umbenannt - nicht nur
hier Asyl gewährt, sondern ihn auch ohne genauere
Überprüfung eingebürgert hat. Damit hat er sichergestellt, dass sie dauerhaft hier bleiben konnten. Frau
Sonntag-Wolgast hat in ihrem Redebeitrag deutlich gemacht, dass es Rot-Grün war, die überhaupt erst den Aspekt der Verfassungstreue bei der Einbürgerung ins Gesetz aufgenommen haben.
({0})
Wenig hilfreich ist der Antrag der CDU/CSU, weil sie
nicht anerkennen will, dass wir im nationalen, deutschen
Recht keine Schutzlücken haben. Sie haben offensichtlich auch nicht zur Kenntnis genommen, dass es - obwohl Sie 16 Jahre regiert haben - die rot-grüne Bundesregierung war, die das deutsche Recht dahin gehend
ergänzt hat, dass Personen, die die Sicherheit in
Deutschland gefährden, abgeschoben werden können.
Wir haben hier keine Schutzlücken in der deutschen Gesetzgebung, sondern das Dilemma, das Herr Stadler genau richtig beschrieben hat - ein Dilemma, das Politik
auch einmal zugeben muss -, dass einem Rechtsstaat
Grenzen gesetzt sind. Wenn Sie hier geeignete Maßnahmen fordern, müssten Sie eigentlich selbst sagen, welche
Maßnahmen das sein sollen. Sie müssten die Frage beantworten, ob sich die CDU/CSU von dem Rechtsstaat
Europa, von den Rechtsgütern des alten Europas verabschieden will. Sie müssten die Frage beantworten, ob die
Europäische Menschenrechtskonvention für Sie unabdingbare Gültigkeit hat.
Meine Damen und Herren, auch ich sehe den offensichtlichen Widerspruch, wenn einerseits festgestellt
wird, dass die deutschen Gerichte - da schließe ich mich
der Meinung von Herrn Stadler an - rechtsstaatlich sehr
gut begründet zu diesem Urteil gekommen sind - deswegen würde ich hier nicht von einem Fehlurteil reden -,
und andererseits - wie von mir - gerade wegen der
rechtsstaatlichen Probleme der EU-Beitritt der Türkei
befürwortet wird. Das Gericht stellt immerhin fest, dass
die Erpressung der Geständnisse unter Folter aus der
Zeit vor 1998 erfolgte.
Ich denke, dass wir die stark veränderten Realitäten in
der Türkei nach 1998 nicht nur zur Kenntnis nehmen,
sondern ein Stück von der Begeisterung mit übernehmen
sollten. Die Türkei ist gerade mit vollem Ernst und großem Nachdruck dabei, den Weg in die EU-Beitrittverhandlungen zu beschreiten. Sie hat wie kein anderes Beitrittsland ihre Verfassung und Gesetze geändert und geht
gegen Folter vor. Das ist jetzt auch vom Europäischen
Gerichtshof bestätigt worden. Die Türkei gibt zu, dass
sie Probleme im Menschenrechtsbereich hat und dass es
vor 1998 Folter gab. Demgegenüber muss aber auch
deutlich gesehen werden, dass die Türkei sehr große Anstrengungen unternimmt, um sich den rechtsstaatlichen
Standards in Europa anzunähern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grindel?
Ja.
Frau Kollegin Stokar, können Sie mir nach Ihrer
Hymne auf die rechtsstaatliche Entwicklung in der Türkei einmal erklären, wieso Sie das Urteil aus Köln in
rechtsstaatlicher Hinsicht für gerechtfertigt halten? Denn
wenn die Menschenrechte in der Türkei neuerdings tatsächlich so viel Beachtung fänden, dann wäre es doch
völlig unverständlich, dass Herr Kaplan nicht in die Türkei abgeschoben wird.
({0})
Um das richtig zu verstehen, müssten Sie nur die Gerichtsurteile und ihre Begründungen nachlesen.
({0})
In den Begründungen sowohl zum Auslieferungsverfahren als auch zum Abschiebungsverfahren bezieht sich
das Gericht auf Vernehmungen und polizeilich erpresste
Geständnisse von Kaplan-Anhängern in der Türkei im
Zusammenhang mit dem Kalifstaat aus der Zeit vor 1998
und sieht heute begründet die Gefahr, dass diese Geständnisse in dem in der Türkei drohenden Verfahren
verwertet werden. Es geht hier ja nicht nur darum, dass
wir Herrn Kaplan loswerden wollen, sondern auch darum, dass Herrn Kaplan in der Türkei ein Verfahren wegen Hochverrats droht.
Jetzt sagt das Gericht: Solange nicht sichergestellt ist,
dass die Geständnisse von vor 1998 keinen Einfluss auf
dieses Verfahren haben, besteht die Gefahr, dass das Verfahren nicht rechtsstaatlich gemäß der europäischen
Menschenrechtskonvention durchgeführt werden wird.
({1})
- Da ist das Dilemma. Das Gericht kann in dieser Begründung natürlich nicht die heute veränderten Realitäten in der Türkei würdigen.
({2})
- Ich habe nicht erwartet, dass Sie eine so differenzierte
Ausführung verstehen. Sie dürfen sich aber trotzdem setzen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Aber gerne doch.
({0})
Frau Stokar, wenn das Gericht befürchtet, dass heute
erpresste Aussagen in das Verfahren eingeführt werden das haben Sie gerade erläutert - Silke Stokar von Neuforn ({0}):
Nein.
({1})
Vor 1998 durch Folter erpresste Aussagen werden
heute in das Verfahren wegen Hochverrats eingeführt.
Das ist Ihre Ausführung gewesen.
({0})
Handelt es sich bei der möglichen Einführung solcher
Aussagen nicht um einen heutigen Vorgang, der für die
heutige Beurteilung rechtsstaatlicher Verhältnisse relevant ist? Oder handelt es sich, wie Sie gerade versucht
haben, zu suggerieren, um einen Vorgang, der vor 1998
liegt?
({1})
Haben Sie es jetzt verstanden?
Ich habe das sehr gut verstanden. Ich glaube, Ihre
Frage beschreibt das Dilemma bei den Begründungen
der beiden Gerichtsurteile und der folgerichtigen Politik
unseres Innenministers.
({0})
Es gilt ja gerade jetzt, sicherzustellen, dass diese der Begründung zugrunde liegenden Gesichtspunkte des Gerichtes, das nach wie vor von einer beachtlichen Gefahr
aufgrund einer früheren Praxis ausgeht,
({1})
bis zur nächsten Berufungsinstanz ausgeräumt werden.
({2})
Wenn das alles so einfach wäre, dann müsste der Innenminister nicht in die Türkei fahren, um weitere Zusicherungen zu bekommen.
({3})
Ich habe nicht gesagt - das ist auch nicht grüne
Position -, die Türkei habe alles abgearbeitet, der
Rechtsstaat Türkei entspreche heute europäischen Standards. Ich habe nur gesagt, dass wir die Realität wahrnehmen sollten, dass die Türkei sehr große Bemühungen
unternimmt.
Ich bin ganz konkret der Meinung, dass eine weitere
gesetzliche Änderung in der Türkei erforderlich ist. Ich
weiß auch, dass darüber diskutiert und daran gearbeitet
wird: nicht nur die Anti-Folter-Konvention zu unterschreiben und das Folterverbot gesetzlich zu verankern,
sondern auch die Verwertung polizeilich erpresster Geständnisse in Gerichtsverfahren zu verbieten. Dafür
reicht eine Erklärung der Regierung, eine Erklärung der
unabhängigen und freien Justiz nicht aus.
({4})
- Auch Sie dürfen sich setzen. Aber wenn man eine
komplizierte Frage stellt, bekommt man auch eine komplizierte Antwort. So einfach, wie Sie das hier populistisch aufzuziehen versuchen, ist es nicht.
Vonseiten der Türkei muss noch einiges geliefert und
gemacht werden,
({5})
damit wir in einer Berufungsinstanz die Chance haben,
nach europäischen Rechtsstaatsgrundsätzen das Ergebnis zu bekommen, das wir alle wollen, nämlich dass Herr
Kaplan unser Land verlassen muss.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Michael GrosseBrömer, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren, insbesondere Frau Stokar und Frau SonntagWolgast! Sie können natürlich noch doppelt so lange
drum herum reden, es ändert nichts daran, dass der Fall
dieses Extremistenführers überhaupt nichts dazu beigetragen hat, das Vertrauen der Menschen in Deutschland
in unseren Rechtsstaat in irgendeiner Weise zu stärken.
Das Gegenteil ist eingetreten: Der Rechtsstaat hat einmal
mehr an Glaubwürdigkeit und Überzeugung eingebüßt.
Wir müssen schon ein Stück weit fragen: Warum ist
das so? Der Grund dürfte darin zu sehen sein, dass die
deutsche Bevölkerung an Recht und Justiz - im Zweifel
auch an den Justizminister - berechtigte Ansprüche
stellt, die aber sehr häufig enttäuscht werden, spätestens
durch die öffentliche Berichterstattung über die meist
spektakulären Fälle. So erhält der Frührentner in
Florida - höchstrichterlich entschieden - die deutsche
Sozialhilfe, während in Deutschland junge Familien darüber nachdenken, wie sie finanziell überleben. Im vorhin genannten Fall darf der islamistische Extremist nicht
ausgewiesen werden, obwohl er in Deutschland zum
Mord aufgerufen hat und rechtskräftig zu vier Jahren
Haft verurteilt wurde. Herr Kaplan darf nicht in seine
Heimat, die Türkei, abgeschoben werden, weil ihm dort
möglicherweise menschenrechtswidrige Behandlung
droht. In Deutschland darf er aber bleiben, obwohl er
hier massiv gegen humanitäre Grundsätze und Strafgesetze verstoßen hat. Das ist der Sachverhalt. Ich kann es
niemandem verübeln, wenn er über dieses Thema nur
noch den Kopf schüttelt.
Die Kritik an der Gerichtsentscheidung allein, Frau
Sonntag-Wolgast und vor allem auch Herr Bundesinnenminister, greift zu kurz. Der Senat hat natürlich zu Recht
die Europäische Menschenrechtskonvention und das
Anti-Folter-Abkommen der UNO im konkreten Fall als
Abschiebehindernisse geprüft.
({0})
Das sollten wir bei aller Entrüstung über das Ergebnis
nicht vergessen. Wenn der Herr Minister mit dieser Entscheidung unzufrieden ist, kann ich persönlich das gut
verstehen. Er sollte dann aber nicht die Auffassung der
Richter infrage stellen, sondern selbst in seinem Hause
Überlegungen anstellen, wie sich so etwas zukünftig
verhindern lässt.
({1})
Meiner Meinung nach liegt das Problem noch ein
Stück tiefer. Die Menschen in Deutschland wollen einen
Rechtsstaat, auf den man sich verlassen kann, einen
Staat, der sie wirksam vor Terrorismus, Extremismus
und Straftätern schützt.
({2})
Natürlich wird das nicht zu 100 Prozent möglich sein keine Frage. Unsere Bürgerinnen und Bürger fordern
aber zu Recht einen Staat, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, diesem Ziel möglichst
nahe zu kommen.
({3})
Genau hier liegen das Problem und das Versäumnis dieser Bundesregierung: Statt konsequent zu handeln, hat
diese Regierung mit falsch verstandener Toleranz zur
Salonfähigkeit von Extremisten beigetragen.
({4})
- Sie brauchen sich nicht aufzuregen; das ist nicht meine
Feststellung, sondern die Feststellung des stellvertretenden Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in
Deutschland, Kenan Kolat, nachzulesen in der „TAZ“
vom 29. August 2003.
({5})
Da Sie im Zweifel diese Zeitung häufiger lesen als ich,
wundere ich mich schon ein bisschen, dass Sie sich so
aufregen.
({6})
Herr Kolat macht sich verständliche Sorgen um die
weltoffenen türkischen Mitglieder seiner Gemeinde angesichts des - wieder ein Zitat von ihm - „zu lockeren
Umgangs deutscher Behörden mit Islamisten“.
({7})
Bereits im Mai dieses Jahres - leider waren Sie offensichtlich nicht da, sonst müssten Sie diese Frage nicht
stellen - habe ich mit anderen Mitgliedern meiner Fraktion genau an dieser Stelle auf die massiven Gesetzeslücken in unserem Land aufmerksam gemacht. Ich frage
Sie, meine Damen und Herren: Was ist seitdem geschehen? Die Antwort ist einfach: Nichts, überhaupt nichts!
Wir haben immer noch dieselben Mängel und dieselben
Vorschriften wie vor knapp einem halben Jahr, als hier
über den Antrag meiner Fraktion zum wirksameren
Schutz vor Terrorismus und Extremismus debattiert
wurde. Nichts hat sich verändert, außer vielleicht einer
Sache: Das Unverständnis der Menschen in Deutschland
ist größer geworden, nicht zuletzt aufgrund des genannten Urteils. Ich glaube nicht, dass irgendjemand Verständnis dafür hat, dass diese Sympathiewerbung für ausländische Terroristen in Deutschland nach wie vor straffrei ist.
({8})
Auch dieser Aspekt ist ein Mosaikstein im Bild der innen- und rechtspolitischen Fehlleistungen dieser Regierung.
({9})
Sie sind offenkundig nicht in der Lage, eine innenund sicherheitspolitische Entscheidung aus einem Guss
zu machen. Unsere Aufforderung an die Bundesregierung, speziell an den Bundesinnenminister, lautet deshalb: Ergreifen Sie endlich geeignete Maßnahmen, um
unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung entschlossener als bisher verteidigen zu können.
({10})
Ausländische extremistische Straftäter haben in
Deutschland nichts zu suchen. Wenn Herr Schily das alleine nicht hinbekommt, muss er mit seinem Kabinettskollegen im Auswärtigen Amt endlich einmal reden und
ihn auffordern mitzuwirken. Wir brauchen endlich eine
konsequente nationale und europäische Außenpolitik
gegenüber den Staaten, die sich weigern, ihre eigenen
Staatsangehörigen zurückzunehmen.
({11})
National und international müssen endlich geeignete
Maßnahmen ergriffen werden, damit die Rechtslage
künftig sicherstellt, dass Extremisten in Deutschland abgeschoben werden können.
Die rot-grüne Innen- und Sicherheitspolitik kapituliert stattdessen vor den Rückführungsschwierigkeiten.
Das verdeutlichen übrigens sehr schön Ihre Vorstellungen zum neuen Zuwanderungsgesetz.
({12})
Danach soll der unrechtmäßige Aufenthalt ausreisepflichtiger Ausländer legalisiert werden, indem man diesen Personen Daueraufenthaltsrechte in Aussicht stellt.
({13})
Sie sehen: schon wieder ein Mosaikstein im Bild Ihrer
verkorksten innenpolitischen Grundhaltung. Darum geht
es doch.
({14})
- Wollen wir über mein Staatsexamen sprechen oder
über die Probleme, die Sie innenpolitisch verursachen?
Ich glaube, darüber sollten wir uns einig werden.
({15})
Ich will beispielhaft einige weitere Sicherheitslücken ansprechen, die dringend geschlossen werden müssen; das sollten Sie sich anhören. Wir müssen alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um schon die Einreise
von ausländischen Extremisten nach Deutschland zu
verhindern. Wir bekommen keine Ausweisungs- und
Abschiebungsprobleme, wenn wir gewaltbereite Extremisten oder Fundamentalisten gar nicht erst nach
Deutschland einreisen lassen. Dies ist keine populistische Forderung, wie wiederholt falsch vonseiten der Koalitionsparteien behauptet wird, sondern eine präventive,
wirksame Sicherheitspolitik im Interesse der Menschen
in unserem Land.
Zur Verweigerung der Einreise muss nach unserer
Ansicht schon ein tatsachengestützter Extremismusverdacht ausreichen. Es muss genügen, wenn sich extremistische Anhaltspunkte verdichten und von Gerichten
überprüfbar sind. In diesem Fall sollten wir also nicht
weiter herumphilosophieren, sondern endlich handeln.
Es ist doch absurd, mit vorgeschobenen rechtsstaatlichen
Prinzipien möglichen gewaltbereiten extremistischen
Ausländern mehr Unterstützung zuteil werden zu lassen
als der Sicherheitslage in unserem Lande.
({16})
Wir als CDU/CSU wollen zum Schutz unserer Bürger, dass vor der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und einer Aufenthaltsberechtigung
grundsätzlich Regelanfragen beim Verfassungsschutz
gestellt werden, und zwar bundeseinheitlich. Ich freue
mich, dass die FDP diesem Gedanken näher treten kann.
Warum erlauben wir uns eigentlich überhaupt den
Verzicht auf Maßnahmen, die schnell, wirksam und effizient dem Schutz dieses Staates und seiner Bürger dienen können? Insbesondere bei Ausländern aus Staaten,
bei denen Rückführungsschwierigkeiten bestehen, sind
vor der Erteilung von Aufenthaltstiteln auch für Kurzaufenthalte als Regelfall identitätssichernde Maßnahmen durchzuführen.
({17})
Wir fordern weiterhin, das geltende Recht so auszugestalten, dass ausländische Extremisten sicher und
frühzeitig identifiziert werden können, Stichwort: biometrische Daten und all das, was damit zusammenhängt.
Sie wissen, dass nach der jetzigen Gesetzeslage identitätssichernde Maßnahmen nur bei einem Aufenthalt von
mehr als drei Monaten möglich sind. Wer kann mir erklären, warum die Gefahr, die von einem Fundamentalisten ausgeht, von der Dauer seines Aufenthaltes abhängig ist? Das habe ich bis heute nicht verstanden.
Deswegen sagen wir: Die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen muss nach unserer Ansicht im
Gegensatz zur jetzigen Rechtslage den Regelfall bilden.
Wir müssen der Entwicklung entgegenwirken, dass immer mehr vollziehbar Ausreisepflichtige nicht freiwillig
aus Deutschland ausreisen und ihre Rückführung dadurch verhindern, dass sie über ihre Identität und Staatsangehörigkeit täuschen oder an der Beschaffung von Dokumenten für die Rückreise nicht mitwirken. Die
Bundesregierung hat diese Maßnahmen bislang lediglich
angekündigt; geschehen ist nichts, auch nicht auf europäischer Ebene.
Es ist ein weiterer Fehler der Regierung, sich bei den
Daten, die im Ausländerzentralregister gespeichert
werden, mit der freiwilligen Angabe der Religionszugehörigkeit zu begnügen. Damit das Risiko bei der Einreise wesentlich besser abgeschätzt werden kann, ist es
unerlässlich, sowohl die Religionszugehörigkeit als auch
die Volkszugehörigkeit von Ausländern zu erfassen. Die
ethnische Zugehörigkeit ist schließlich für die Rückführung in das Heimatland von besonderer Bedeutung.
Meine Damen und Herren, unser Antrag bietet einen
weiteren Vorteil, nämlich im Hinblick auf den deutschen
Strafvollzug. Die Anzahl ausländischer Insassen in den
deutschen Haftanstalten ist enorm. Sie kann verringert
werden, wenn kriminelle Extremisten schnell abgeschoben werden
({18})
und ihre Haft gegebenenfalls im Heimatland verbüßen.
Wir müssen deshalb die rechtlichen Voraussetzungen für
eine Haftverbüßung im Herkunftsland verbessern.
Dieser Aspekt macht meiner Auffassung nach auch
rechtsdogmatisch Sinn. Die Betroffenen sollen ja resozialisiert werden. Angesichts dessen, dass manche gar
nicht sozialisiert sind oder sich gar nicht sozialisieren
lassen, stellt sich schon die Frage, warum der Haftvollzug in Deutschland stattfinden soll.
Wir müssen letztlich verhindern, dass ausländische
Extremisten deutsche Staatsbürger werden. Und
Deutschland zum Austragungsort ihrer Aktivitäten machen.
Deswegen zum Schluss: Die Menschen in Deutschland haben es satt, dass es in ihrem Land keine klare politische Führung gibt. Diese gibt es mittlerweile auf
kaum einem politischen Feld. Sie fordern zu Recht eindeutige Vorschriften, die dann auch konsequent vollzogen werden. Mit unserem Antrag kommen wir dem
Wunsch der Menschen innen- und rechtspolitisch entgegen. Der Bundesinnenminister muss aufhören, nur zu gackern und kein Ei zu legen.
({19})
Es wird Zeit, zu handeln. Stimmen Sie unserem Antrag
zu!
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege, mit Metaphern kann man sehr danebengreifen. Wenn Sie schon die Tätigkeit des Bundesinnenministers mit dem Hühnervolk vergleichen, dann
sollten Sie doch die Geschlechtszugehörigkeit beachten.
Eier legen können Hähne nun einmal nicht.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, der Hahn hat andere
Aufgaben, falls Ihnen das geläufig ist. So viel verstehe
ich noch von der Landwirtschaft, Frau Kollegin Künast.
({1})
Ich will gern einen erfreulichen Sachverhalt an den
Anfang stellen, auch wenn der Kollege, der zuletzt gesprochen hat, eine Tonlage in diese Debatte gebracht hat,
die ich nicht für richtig halte. Ich gehe davon aus - das
ist ein erfreulicher Sachverhalt -, dass alle Seiten des
Hauses darin übereinstimmen, dass Extremisten, die verurteilt worden sind - ich nenne beispielsweise Kaplan,
der zu vier Jahren Freiheitsstrafe wegen Aufforderung
zum Mord verurteilt wurde; übrigens ein Aufruf, der
Folgen hatte - außer Landes gehören und in unserem Vaterland nichts zu suchen haben.
({2})
Das ist eine allgemeine Auffassung.
Nun will ich versuchen, anhand des Falles Kaplan zu
erläutern, wo die Unterschiede liegen.
({3})
- Herr von Klaeden, nun fangen Sie nicht an, zu lachen;
wir sind doch noch nicht im Fasching, das kommt noch.
Der entscheidende Punkt ist, ob wir zwischen Rechtsfragen und Tatsachenfragen unterscheiden können. Ich
bleibe zunächst einmal bei der Rechtsfrage. Die Ausweisung von Herrn Kaplan - ich glaube in diesem Zusammenhang ist Ihre Wortwahl etwas durcheinander geraten; Sie wollten sicher das richtige Wort sagen - ist kein
Problem. Die Entscheidung des Asylwiderrufs ist nach
unserem Gesetz bestätigt worden. Wir haben diesen Widerruf vollzogen.
Hinsichtlich der Abschiebung stellt sich die Frage:
Kann er abgeschoben werden? Hier müssen wir uns jetzt
über die rechtlichen Grenzen verständigen. Die Koalition, Herr Stadler und auch ich sagen: Wir haben Bindungen an internationale Vereinbarungen und wir haben
Bindungen an unsere Verfassung - die übrigens diese internationalen Vereinbarungen zum geltenden Recht qua
Verfassungsrecht macht -, die es uns verbietet, Menschen, denen Folter oder die Todesstrafe drohen, in dieses Land abzuschieben. Gleich ob Abschiebungsgründe
vorliegen oder nicht.
({4})
Herr Koschyk, dann müssen Sie klar erklären, ob Sie
diese Grenze überschreiten wollen.
({5})
Wenn Sie sagen: nein, dann sind wir uns einig.
({6})
- Moment. Da gibt es keine Abwägung. Wer in Bezug
auf Folter abwägt, der kommt auf ein abschüssiges Gelände. Das werde ich niemals zulassen.
({7})
Deshalb bin ich auf der Seite des Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts, Herrn Papier, der ebenfalls
geltend gemacht hat, dass wir uns aufgrund der Rechtskultur Deutschlands hinsichtlich der Folter keinen einzigen Millimeter von diesen Grundsätzen wegbewegen
dürfen.
({8})
Die indirekte Frage, ob eine durch Folter erzwungene
Aussage in einem Gerichtsverfahren verwertet wird oder
nicht, hängt damit zusammen. Das sind die Rechtsfragen. Wenn wir uns da einig sind, dann haben wir eine
gute Grundlage.
({9})
- Moment, Herr Zeitlmann, hören Sie doch einen Moment zu! Wir können über die Fragen ganz offen und
nüchtern reden. Wir können uns auch Polemik um die
Ohren hauen; auch das ist interessant. Aber ich denke,
die Bürgerinnen und Bürger wollen lieber die Sachfrage
erörtert haben.
({10})
- Herr Grindel, ich versuche es doch. Sie können es ja
auch versuchen. Dann melden Sie sich noch einmal und
wir verlängern die Debatte ausnahmsweise.
({11})
Daneben ist die Tatsachenfrage zu klären. Das Verwaltungsgericht Köln - das selbstverständlich, wie jedes
Gericht, Respekt verdient, auch wenn es ein Fehlurteil
trifft; ich würde dann nie zur Polemik greifen, wie es ein
Kollege in Bayern tut - hat rein tatsächlich auf der
Grundlage der offenbar gemeinsamen Rechtsauffassung
dieses Hauses angenommen, dass Kaplan, wenn er in die
Türkei zurückgeführt wird, ein Verfahren droht, in dem
durch Folter erzwungene Aussagen verwertet werden.
Das Gericht stützt diese Voraussage auf die Annahme,
dass in einem früheren Verfahren - das hat die Rechtsvertretung von Herrn Kaplan vorgetragen; da geht es um
einen Verwandten von Kaplan, der auch vor Gericht gestanden hat - angeblich durch Folter erzwungene Aussagen bei dem Fällen eines Gerichturteils verwertet worden sind.
Das ist eine Tatsachenfrage. Ich halte die Annahme
des Gerichts für falsch - das sage ich, damit das klar
ist -, weswegen ich auch das Urteil für falsch halte.
Die Türkei hat in dem Verfahren einige Erklärungen
abgegeben - insofern waren wir keineswegs erfolglos -,
die ich für glaubwürdig halte: Es droht keine Todesstrafe; es droht nicht die Folter; er wird auch sonst menschenrechtskonform behandelt; es werden keine Geständnisse Dritter verwendet, die unrechtmäßig zustande
gekommen sind; er wird von einem Richter vernommen;
er kann sich einen Verteidiger seiner Wahl nehmen; er
kann in der Untersuchungshaft selbstverständlich Kontakte haben, zum Beispiel Briefkontakte und Telefonate
mit den Angehörigen. - Das alles sind Schutzgarantien,
die nach unserer Auffassung eine rechtsstaatliche Behandlung in der Türkei sicherstellen, zumal die Türkei
die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben hat. Herr Ministerpräsident Erdogan hat bei seinem
letzten Treffen in Berlin noch einmal bekräftigt, dass er
diese Garantien durchsetzen will.
Man kann natürlich der Auffassung sein, dies alles
seien schöne Erklärungen, an deren Einhaltung man aber
nicht glaube. Damit trifft man eine Voraussage. Frau
Kollegin Stokar, entschuldigen Sie, dass ich darauf hinweise,
({12})
dass in Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen etwas
durcheinander geraten ist.
({13})
Es geht um die gegenwärtige Beurteilung und um die
Frage, ob die Vergangenheit zu einer anderen Beurteilung der Gegenwart führt.
Vor diesem Hintergrund - manchmal schadet es nicht,
einem Tisch, der schon auf vier Beinen gut steht, noch
ein fünftes Bein hinzuzufügen - und nicht deswegen,
weil ich das Urteil für richtig halte, bin ich in die Türkei
gereist und habe die türkischen Behörden gebeten, eine
zusätzliche Erklärung zu diesem früheren Fall abzugeben. Dort sind die Erklärungen, die ich eben angesprochen habe, bekräftigt worden und man hat noch einmal
versichert, dass keine rechtsstaatlich bedenkliche Behandlung drohe. Bei dieser Gelegenheit habe ich aber
auch Fragen zu dem früheren Verfahren gestellt. Ich
hoffe, dass dazu klare Erklärungen abgegeben werden.
Das ist die Grundlage, auf der wir handeln. Es geht nicht
um eine Rechtsveränderung. Ich wüsste nicht, was an
dieser Stelle zu verändern wäre, Herr Kollege Koschyk.
({14})
In diesem Zusammenhang muss man noch einen anderen Punkt berücksichtigen; darüber haben wir hier im
Hause häufig genug diskutiert. Sie schlagen immer vor,
es müsse bei Verdacht auf eine terroristische oder extremistische Betätigung eine Ausweisung möglich sein. Ich
sage, das ist nicht das Problem. Es gibt eine polizeirechtliche Bestimmung, die besagt, dass eine Person, die eine
Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellt,
ausgewiesen und im Vollzug abgeschoben werden kann.
Damit werden aber die bestehenden Abschiebehindernisse wie Folter und Todesstrafe nicht überwunden.
Diese Sachverhalte müssen wir auseinander halten.
Sonst muss ich Sie, Herr Koschyk, verdächtigen, dass
Sie hier nur eine Show abziehen und nur scheinbar die
Muskeln zeigen wollen, aber an der echten Sachlage
vorbeireden.
({15})
Sie haben für Ihre Politik keinen Bündnispartner. Mit
wem wollen Sie eine solche Politik, die Sie hier vorschlagen, machen? So etwas haben Sie in Ihrer Regierungszeit, vielleicht dank der FDP, nicht gemacht. Die
FDP wird nach allem, was ich höre, Ihnen nie die Hand
dazu reichen, diese Schranke zu überwinden. In diesem
Fall verlasse ich mich auf die FDP, falls die Gefahr drohen sollte, dass Sie mehr zu sagen haben als heute in der
Opposition.
Ich glaube, dass das, was Sie in Zusammenhang mit
der Türkei gesagt haben, sehr bedenklich ist. Ihre Politik, die Türkei auf Distanz zu halten und ihr die Tür zu
weisen, stellt eine Abkehr von der Politik des früheren Bundeskanzlers Kohl dar.
({16})
- Doch, natürlich. Lesen Sie die Erklärung von Bundeskanzler Kohl aus dem Jahr 1997 nach. Ich kann aus ihr
wörtlich zitieren. Mit dieser Abkehr von der Politik des
gesamten Europas - es war eine einstimmige Entscheidung aller Regierungschefs der europäischen Mitgliedstaaten - sind Sie in Europa völlig isoliert.
({17})
Wenn Sie diese Politik für richtig halten, dann treiben
Sie die Türkei dahin, dass sie diesen Verpflichtungen
nicht in dem Maße nachkommt, wie es wünschenswert
wäre. Dann werden die Möglichkeiten, Personen in die
Türkei abzuschieben, in der Tat sehr viel geringer. Das
hat Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wie ich finde, völlig
richtig ausgeführt.
Auf die anderen Einzelheiten, die leider alle in die falsche Richtung und an den Tatsachen vorbei gehen, will
ich jetzt nicht weiter eingehen. Nur so viel: Wir haben
im Staatsangehörigkeitsrecht die strikte Überprüfung
der Verfassungstreue von Personen, die deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden wollen, eingeführt.
Die Problemfälle, die wir geerbt haben, sind aufgrund
der von Ihnen erlassenen Rechtsvorschriften entstanden.
Diese Personen können wir nicht außer Landes bringen.
Das haben Sie zu verantworten.
({18})
Wir haben dafür gesorgt, dass die Sicherheitsbehörden
am Visumverfahren beteiligt werden. Die Unterstellung, wir würden leichtfertig Personen hereinlassen, die
eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellen, ist schlichter Unsinn. Wir haben Gegenmaßnahmen verabredet.
Übrigens, Herr Koschyk, auch das müssten Sie wissen: Die Visaerteilung ist unsere freie Entscheidung. Die
Gruppe, die einen Anspruch auf eine Visaerteilung hat,
ist begrenzt. Bei dieser spielt die besondere Überprüfung
eine Rolle. Ansonsten ist die Visaerteilung unsere freie
Entscheidung. Bei dem leisesten Verdacht liegt es in unserem Belieben, ob wir eine Person in unser Land lassen
oder nicht. Intern findet eine sehr sorgfältige Prüfung
statt. Selbstverständlich haben Sie in diesem Punkt
Recht: Es ist am besten, bei der Einreise zu prüfen, ob
Bedenken vorliegen; das geschieht auch. Gleiches gilt
auch für die Möglichkeiten, eine Person wieder außer
Landes zu bringen.
Selbstverständlich müssen wir zur Überprüfung der
Identität neue Methoden einführen. Meine Redezeit ist
schon überschritten, weshalb ich Ihnen nicht alle Einzelheiten der Aktivitäten Deutschlands dazu nennen kann.
Ich will Sie nur auf eine Meldung, die gerade in diesen
Tagen bekannt wurde, hinweisen. Es ist auf eine deutsche Initiative zurückzuführen, dass die Frist zur Einfügung eines Lichtbildes in das EU-Visum verkürzt wird.
Die Kommission ist dem deutschen Vorschlag gefolgt.
Der Vorschlag der Kommission liegt jetzt auf dem Tisch
und ich hoffe, dass er die Zustimmung der Mitgliedsländer der Europäischen Union finden wird.
({19})
Das Gleiche gilt für die biometrischen Merkmale.
Gerade in diesen Fragen sind wir die treibende Kraft auf
europäischem Gebiet. Das ist die Wahrheit; das müssen
Sie nun einmal zur Kenntnis nehmen.
({20})
Ich kann nicht auf alle Sachverhalte eingehen, weil
die Redezeit das leider nicht hergibt. Ich will Ihnen zum
Schluss aber noch einmal etwas bezüglich der Ausweisungstatbestände sagen. Wir haben die richtige Regelung
gefunden. Es geht um einen polizeirechtlichen Gefährdungssachverhalt. Man muss sich allerdings die Frage
stellen, ob der Vollzug ausreichend ist. Erkundigen Sie
sich einmal auch in den Ländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, ob der Vollzug immer so
funktioniert, wie er funktionieren sollte.
({21})
- Sie nennen Baden-Württemberg. Da bekommen Sie
sogar ein Lob von mir; so fair bin ich. In BadenWürttemberg ist Folgendes passiert: Der ehemalige so
genannte Gebietsemir des verbotenen Kalifatstaats,
Osman Ünal, ist durch die zuständige Ausländerbehörde
in Baden-Württemberg wegen der Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sofort vollziehbar
ausgewiesen worden. Der Tatbestand reicht also völlig
aus. Sie brauchen keine Verdachtsformulierung. Das,
was bereits im Gesetz vorhanden ist, reicht aus. Ich muss
aber an die Länder appellieren - ich hoffe, dass Sie sich
dem anschließen -, dass der Vollzug zum Teil besser geregelt wird.
({22})
- Nein, das hat mit Abschiebehindernis gar nichts zu tun.
Es kommt zunächst darauf an, dass ein rechtskräftiger
Ausweisungsbescheid zustande kommt. Dem folgt der
Vollzug durch die Abschiebung.
Bringen Sie bitte nicht die Begriffe Abschiebung und
Ausweisung durcheinander, sonst können Sie den Sachverhalt den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln.
({23})
Sie versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck zu vermitteln, es werde nicht alles im Interesse der
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland getan. Das
ist die schlichte Unwahrheit. Die Bundesregierung ist
ein Garant für eine rechtsstaatliche Ordnung und die innere Sicherheit. Dabei halten wir uns an das Grundgesetz und an die internationalen Vereinbarungen. Natürlich erfüllen wir dabei auch unsere Verantwortung, dass
der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf die Gewährleistung ihrer Sicherheit erfüllt wird.
Vielen Dank.
({24})
Ich gebe dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort zu
einer Kurzintervention.
Herr Minister Schily, ich möchte noch einmal versuchen, deutlich zu machen, worum es mir bei der Frage
ging. Wir müssen darüber nachdenken, in Deutschland,
aber auch übernational, ob es nicht Grenzen für eine absolute Sperre im Hinblick auf § 53 Ausländergesetz in
Verbindung mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt.
Ich habe darauf hingewiesen, Herr Minister Schily,
dass eine im Bereich der deutschen Staatsrechtslehre
doch unangreifbare Persönlichkeit wie Professor Kay
Hailbronner - ich glaube, da sind wir uns doch einig diese Frage im Zusammenhang mit den Antiterrorpaketen bereits aufgegriffen hat.
Laut einem Bericht der „Rheinischen Post“ vom
26. Oktober 2001 sagte Herr Professor Hailbronner - er
hat es auch in seinem Rechtsgutachten zu den Sicherheitspaketen so formuliert - zur Resolution 1373, des
UN-Sicherheitsrats vom 28. September 2001:
Die UN-Sicherheitsresolution steht in deutlichem
Kontrast zu dem, was der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention gesagt hat. Es
gibt hier eindeutigen politischen Handlungsbedarf
…
Dann macht er einen Vorschlag, den auch ich gemacht
habe, Herr Minister Schily. Die „Rheinische Post“ zitiert
ihn wie folgt:
Die Haupt-Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention sollten sich zusammensetzen und über die Auslegung des betreffenden Artikels Gedanken machen.
Professor Hailbronner fordert eine Art Güterabwägung.
Der stimme ich zu. Ich zitiere jetzt weiter aus der „Rheinischen Post“ vom 26. Oktober 2001:
Nicht jeder könne den Schutz der Menschenrechtskonvention genießen, „egal, was er gemacht hat“.
Hailbronners Vorschlag: „In Extremfällen, in denen
jemand eine fortwährende Gefährdung darstellt,
weil er zu terroristischen Handlungen bereit ist,
sollte die Schutzpflicht, die sich aus der EMRK ableitet, ihre Grenzen haben.“
Professor Hailbronner nennt auch eine Quelle, auf die
man sich berufen kann, nämlich dass in der Genfer
Flüchtlingskonvention eine solche Einschränkung zu
finden ist.
Ich frage Sie, Herr Minister Schily: Warum haben Sie
nicht diese Auffassung eines Sie beratenden Rechtslehrers - ich glaube, er berät Sie auch in diesen Tagen bis
hin zu dem schwierigen Fall Kaplan - einmal zum Anlass genommen, als Verfassungsminister dieser Frage
nachzugehen und darüber auch mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention in
eine Diskussion zu treten? Herr Minister Schily, es ist
kein konservativer Regierungschef, sondern es ist der
britische Labour-Regierungschef Tony Blair, einer der
besten Freunde dieses Bundeskanzlers, der die Frage der
Grenzen von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser UN-Resolution ebenfalls aufgeworfen hat. Dieser
Diskussion können Sie sich nicht einfach entziehen, indem Sie dieses Thema tabuisieren.
({0})
Herr Kollege Koschyk, Sie haben ganz sachlich angefangen und ich will in einem sachlichen Ton antworten,
nicht in dem Crescendo, das Sie am Schluss noch angestimmt haben.
({0})
- Nun hören Sie doch zu! Ich habe Ihnen auch geduldig
zugehört. Nun lassen Sie mich antworten!
({1})
Dass ein Professor eine Auffassung vertritt, garantiert
noch nicht ohne weiteres, dass sie richtig ist. Auch Professoren können sich irren. Wenn ich Herrn Professor
Hailbronner - Sie haben ihn zitiert - richtig verstehe,
dann sagt er: Es gibt natürlich in einem Bereich ein
Spannungsverhältnis zwischen den Garantien der Menschenrechtskonvention und bestimmten Entscheidungen,
die wir treffen. Das trifft auch auf Art. 33 der Genfer
Flüchtlingskonvention zu. Deshalb geben wir den
Flüchtlingsstatus unter bestimmten Voraussetzungen
nicht.
Aber, Herr Kollege Koschyk, damit ist der Abschiebeschutz an dieser Stelle nicht aus der Welt. Sie kommen
also wieder an derselben Stelle an. Wir können Herrn
Professor Hailbronner zu einer Sitzung des Innenausschusses einladen. Ich möchte gerne hören, was er zu
diesem Punkt sagt. Ich bin überzeugt, dass Herr Professor Hailbronner nicht die Auffassung vertritt - Sie können auch nicht den britischen Premierminister dafür in
Anspruch nehmen -, einen Menschen, der sich schwerster Straftaten schuldig gemacht hat, entweder der Folter
auszusetzen oder in den Tod zu schicken.
Sehen Sie, genau das ist der Punkt. Was wollen Sie
denn sonst? Im Fall Kaplan nutzt Ihnen alles andere
nichts. Sie reden immer nur abstrakt über Art. 3 des
Grundgesetzes und die Menschenrechtskonvention. Hier
geht es aber um die Frage, ob ich jemanden abschieben
kann, dem Folter oder ein rechtsstaatswidriges Verfahren
aufgrund von durch Folter erpressten Geständnissen
droht. Genau darum geht es. Lassen Sie uns doch konkret werden und weichen Sie der Frage nicht aus!
Sagen Sie uns ganz klar, wenn Sie diese Regelungen
aufweichen wollen. Wenn Sie das wollen, dann werden
Sie auf meinen erbitterten Widerstand stoßen.
({2})
- Was wollen Sie? Was glauben Sie denn, hilft hier weiter? Sie wollen eine allgemeine Auslegung. All das ist
doch - entschuldigen Sie, Herr Koschyk - Larifari. Ich
habe aufgrund meiner Tätigkeit einige Kenntnisse sammeln können: Sie werden da bei den Innenministern der
europäischen Länder keine Zustimmung finden. Sie sind
wohl schon zu lange aus der Regierungverantwortung,
um das zu erkennen.
Sie haben keine Chance, die Regelungen hichsichtlich
der Abschiebung bei der Gefahr von Folter, menschenrechtswidriger Behandlung oder der Todesstrafe aufzuweichen. Sie sagen nicht klar, was Sie eigentlich wollen.
Sie müssen einmal die Karten auf den Tisch legen. Sie
tun so, als gäbe es eine Möglichkeit, diese Barriere zu
überwinden. Für mich gibt es sie nicht. Sie müssen einmal die Alternative benennen, Herr Kollege.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte, weil ich
merke, dass auch Sie einen Kompromiss suchen. Lassen
Sie uns das einmal in aller Ruhe im Innenausschuss mit
einigen Sachverständigen - wir können auch gerne eine
Anhörung machen - klären.
({3})
Ich bin überzeugt, dass Sie dann merken werden, wo Sie
an die Grenzen stoßen. An dieser Stelle kommen wir
einfach nicht weiter.
Damit Sie mich nicht missverstehen: Wir müssen die
Vorgaben der Menschenrechtskonvention nicht überdehnen. Bestimmte Interpretationen gehen über das hinaus,
was bisher Rechtspraxis war.
({4})
Da bin ich sehr auf der Hut. Aber das hilft Ihnen im Fall
Kaplan und auch in den anderen Fällen, die zur Debatte
stehen, überhaupt nicht weiter.
({5})
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Demagogie im
Fall Kaplan aufgeben, sodass wir wieder eine sachliche
Basis der Zusammenarbeit finden.
({6})
Dann können wir uns verständigen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1239 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tierschutzbericht 2003
Bericht über den Stand der Entwicklung des
Tierschutzes
- Drucksache 15/723 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta
Connemann, Peter H. Carstensen ({1}),
Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermöglichen
- Drucksache 15/1210 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun
Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in
nationales Recht umsetzen
- Drucksachen 15/226, 15/1035 Berichterstattung:
Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier
Abg. Peter Bleser
Abg. Friedrich Ostendorff
Abg. Hans-Michael Goldmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wie ich sehe, ist der Kollege, der gerade noch so
schön über das Gackern der Hühner sprach, leider nicht
mehr anwesend. Offensichtlich ist er doch nicht am Tierschutz interessiert; wen wundert es.
Deutschland ist Vorreiter in Sachen Tierschutz. Das
können Sie an der breiten Unterstützung der Bevölkerung bei diesem Thema sehen. Das hat sich auch an der
großen Mehrheit im Bundestag gezeigt, als es darum
ging, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Das
kann man am vorliegenden Bericht erkennen und das
lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Käfighaltung von Legehennen - ich spreche damit ein aktuelles
Thema an - in Deutschland nur noch übergangsweise erlaubt ist.
({0})
- Sehen Sie, Herr Deß, da sind Sie Fachmann. Es freut
mich, dass Sie sich nicht nur mit der Landwirtschaft beschäftigen. Die Zahl der Versuchstiere hat zwar zugenommen. Wir entwickeln aber ein Programm, um die
Zahl zu reduzieren. Sie wissen auch, warum die Zahl in
einigen Bereichen zugenommen hat. Wenn man bestimmte Produkte auf ihre Gefährlichkeit für den Menschen testet, gibt es mehr Tierversuche. Das ist im Ergebnis nicht okay, obwohl der Ansatz, zu schauen, ob es
Nebenwirkungen gibt, nicht falsch ist.
({1})
Ich will, dass Deutschland seine Vorreiterrolle beim
Tierschutz behält. Deshalb habe ich wenig Verständnis
für die Haltung und das Ansinnen einiger Bundesländer,
das Verbot der Käfighaltung wieder rückgängig zu machen und stattdessen so genannte ausgestaltete Käfige in
die Diskussion zu bringen. Ich sage eines ganz klar:
Auch der ausgestaltete Käfig ist immer noch ein Käfig,
mit dem wir die Probleme für die Tiere nicht lösen.
({2})
Die Käfighaltung gehört der Vergangenheit an, einer
Vergangenheit, in der die kurzfristigen wirtschaftlichen
Interessen einiger Tierhalter wichtiger als der Schutz der
Tiere waren. Wir erinnern uns alle an die besondere Ausformung, die diese Interessen in der Vergangenheit erfahren haben, zum Beispiel die Begasung von Tieren mit
Nikotin, damit über den entsprechenden Effekt die Produktion indirekt erhöht wurde.
({3})
Wir wissen, was für Zeiten das waren, als Verbraucherschutz und Verbraucherinteressen Fremdwörter waren.
({4})
Im Gegensatz zu denjenigen in der Wirtschaft, die zurück wollen, gibt es Wirtschaftsunternehmen, die auf
den Tierschutz setzen und sich mit ihm beschäftigen.
Eine bekannte Fast-Food-Kette aus den USA hat sich
umgestellt. Sie verändert ihre Produktlinien, weil sie wegen Klagen über Fehlernährung in den USA unter Druck
gesetzt wird. Diese Fast-Food-Kette verarbeitet in
Deutschland und in anderen europäischen Ländern nur
noch Eier aus Freilandhaltung.
Einer der größten deutschen Discounter, derjenige,
der in Nord und Süd aufgeteilt ist - ich soll keine Namen
nennen -, will ab Mai 2006 ganz auf Eier aus Käfighaltung verzichten. In den Niederlanden nimmt bereits die
Mehrheit der großen Lebensmittelketten nur noch Eier
aus Freiland- und Bodenhaltung ins Sortiment. Selbst in
den Zügen der Deutschen Bahn - auch die Deutsche
Bahn ist einmal vorne - werden nur Freilandeier verwendet. Sie sehen, wohin sich Wirtschaft entwickeln
kann.
({5})
Anstatt der Abwanderung von Hühnerbaronen ins Ausland nachzutrauern, die übrigens schon abgewandert
sind, bevor die Legehennenverordnung im Bundesrat
verabschiedet wurde, sollte man lieber dafür Sorge tragen, dass die Gastronomie ihre Freilandeier nicht aus
dem Ausland beziehen muss. Ich war vor kurzem bei der
Fast-Food-Kette, von der ich eben gesprochen habe.
Dort wurde mir gesagt: Wir würden liebend gern Freilandeier in großen Mengen in Deutschland einkaufen,
aber niemand bietet sie an.
({6})
Warum? - Weil sich einige lieber mit Klagen vor dem
Bundesverfassungsgericht und politisch-ideologischen
Debatten beschäftigen, statt dieser Nachfrage nachzukommen.
({7})
Wir versuchen ja auch, Fast-Food-Ketten dazu zu bewegen, Rindfleisch aus Deutschland zu kaufen. Das ist
ein normales Ansinnen. Ich würde das bei den Eiern
auch gern erleben. Da diese Fast-Food-Kette nicht mehr
auf Käfigeier setzt, wird sich dieser Wirtschaftszweig
bewegen müssen oder die Eier kommen weiter aus Ungarn.
({8})
Mittlerweile führt die Trotzköpfigkeit der Opposition
schon dazu, dass selbst der BDI-Präsident Rogowski
auffordert, keine Blockadehaltung einzunehmen. Das hat
man früher auch nicht erlebt.
Ich darf Sie daran erinnern, dass sich im letzten Jahr
alle Fraktionen und über zwei Drittel der Abgeordneten
dieses Hohen Hauses für die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz ausgesprochen haben. Dann darf
man aber auch nicht kneifen, wenn es an die Umsetzung
geht.
({9})
Die Verfassung funktioniert nicht, indem man etwas Verfassungstheoretisches in das Grundgesetz schreibt, sich
aber über die Verwirklichung in der Praxis keine Gedanken macht. Wir dürfen an dieser Stelle nicht hinter das
Erreichte zurückfallen. Wir müssen im Gegenteil den
Blick nach vorne richten und den Tierschutz weiter verbessern.
Ich will Ihnen einige Beispiele dafür nennen, was uns
beschäftigt. Einmal ist das der Dauerbrenner Tiertransporte. Wir haben viel Druck gemacht und jetzt liegt endlich eine Vorlage der Europäischen Kommission vor,
über deren Details wir noch diskutieren müssen. Dort
fängt man an, erste Grenzen - das reicht aber noch nicht
aus - bei den Zeiten des Transports zu setzen und sich
mit der Frage zu beschäftigen, wie viel Platz, wie viel
Luft, welche Art der Ernährung und welche Fütterung
ein Tier während des Transports braucht.
({10})
- Ja, ich weiß, meine Damen und Herren, dass sich die
deutschen Landwirte an dieser Stelle freuen. Selbst im
Zusammenhang mit dem QS-Zeichen wurde gesagt, man
wolle mit daran arbeiten, dass die Transportzeiten in
Grenzen gehalten werden. Auch dies wird positiv bewertet.
({11})
Wir haben einen zweiten Punkt eben schon angesprochen, nämlich die Tierversuche. Wir beginnen an dieser
Stelle nicht nur mit der Auswertung von Statistiken, sondern wir wollen auch tatsächlich ein Programm zur Minderung der Versuchstierzahlen auflegen. Wir versuchen
ebenfalls herauszufinden, wo es in der Wissenschaft andere Möglichkeiten der Forschung gibt. Das ist ein sehr
schwieriges Geschäft.
Ich muss Ihnen sagen, Herr Deß, dass da zwei Dinge
aufeinander prallen. Auf der einen Seite sagen wir, dass
wir im Chemiebereich die Tests brauchen. Wenn schädliche Nebenwirkungen auftreten, wollen wir die betreffenden Substanzen nicht mehr zulassen. Das Problem ist
aber Folgendes: Sobald Sie testen, stehen Sie wieder vor
Tierversuchen. Das ist eine höchst unbefriedigende Situation, aber einmal eine, hinsichtlich deren wir übereinstimmend der Meinung sind, dass dort reduziert werden
muss.
Ein dritter Punkt ist die Veränderung der TierschutzNutztierhaltungsverordnung bei Schweinen. An dieser
Stelle ist die Umsetzung der Richtlinie der EU überfällig. In diesem Zusammenhang werden wir sicherlich
noch einige Debatten über die Frage führen, wie viel
Platz ein 100-Kilo-Schwein braucht. Meine Vorstellung
ist - ich habe mir die Zahlen angesehen und das einmal
umgerechnet -, dass ein Platz von 1 bis 1,1 Quadratmeter pro 100-Kilo-Schwein angemessen ist. Ich weiß, dass
einige anders darüber denken. Überlegen Sie, welchen
Umfang ein 100-Kilo-Schwein hat.
({12})
Aber denken Sie mal an einen Quadratmeter! Das
Schwein muss ja längs wie quer stehen können und es
steht auch nicht hochkant, wie wir wissen. Dann würde
man mit dieser Fläche vielleicht auskommen.
Also, ich glaube, da werden wir noch einiges zu diskutieren haben. Ich meine, dass die von manchen geforderte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie an dieser Stelle gar nicht mehr sinnvoll ist, weil selbst die
Beratung der Landwirtschaftskammern nicht mehr auf
der Ebene der alten EU-Richtlinie erfolgt, da alle Landwirte, die heute in einen Stall investieren, genau wissen,
dass wahrscheinlich in anderthalb Jahren ein neuer Entwurf für eine Richtlinie aus der EU kommt. Meines Erachtens macht es Sinn, dass sich die Landwirte nicht auf
veraltete Richtlinien einstellen, sondern dass sie ein
Stück über dem EU-Niveau liegen.
({13})
- Genau das habe ich vorgeschlagen und darüber diskutiere ich gerne mit Ihnen.
({14})
Wir alle reden gern über Wettbewerbsfähigkeit.
Aber Wettbewerbsfähigkeit soll nicht Stillstand heißen,
sondern Wettbewerbsfähigkeit muss sich meines Erachtens darauf einstellen, dass wir zur Kenntnis nehmen,
dass sich in der Welt etwas verändert. Es gibt andere
Länder, von Argentinien bis Dänemark, die ihre Fleischprodukte auf dem internationalen Markt anbieten und die
uns sagen, dass wir gut beraten sind, nicht immer die
Letzten in der Frage der Tierhaltung zu sein. Stattdessen
müssen wir zeigen, dass wir in der Lage sind, dem russischen und dem japanischen Markt zum Beispiel
Schweine auf allerhöchstem Qualitätsniveau anzubieten.
Dazu, meine Damen und Herren, gehört eben auch die
Platzfrage.
Wir bemühen uns darum, weil wir wissen, dass das im
Tierhaltungsbereich und im Veredelungsbereich einer
der Standortfaktoren ist, um tatsächlich im Rahmen von
Modulation und Agrarinvestitionsförderung die Landwirte zu unterstützen. Ich glaube, genau so kann etwas
daraus werden. Weiterentwicklung kann man nicht verhindern, sondern man sollte sich gleich dafür entscheiden, sie zu nutzen. Das wird gut sein für die Landwirte
und für die Tiere.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war
der Bericht der für den Tierschutz zuständigen Ministerin. Wer aufmerksam zugehört hat, hat im Grunde genommen herausgehört, dass dies eine einzige Entschuldigung für mangelnde Leistungen auf diesem Gebiet
war.
Ich will Folgendes in Erinnerung rufen: Wir haben
schon 1986 unter der alten Kohl-Regierung ein Tierschutzgesetz verabschiedet, in das wir die Formulierung
„Tiere sind Mitgeschöpfe des Menschen“ aufgenommen
haben. Wir haben damals auch das Zivilrecht geändert,
den Tieren den Status Lebewesen zugestanden und das
Sachenrecht aus diesem Bereich entfernt.
Meine Damen und Herren, seitdem gibt es auch den
Tierschutzbericht, wie er heute vorliegt. Ich muss Ihnen
sagen, Frau Künast, das, was Sie hier als Erfolge vorweisen zu können glauben, ist in Wahrheit ein Rückschritt.
Sie haben es zu verantworten, dass in den letzten vier
Jahren die Zahl der Tierversuche dramatisch angestiegen ist.
Ich will Ihnen die Zahl nennen. Wir haben in den
90er-Jahren einen Rückgang der Zahl der Versuchstiere
um 10 Prozent erreicht. 1997 waren es noch 1,5 Millionen Tiere im Jahr. Zurzeit verlieren jährlich 2,1 Millionen Tiere ihr Leben für Versuche.
({0})
Die Zahl der getöteten Versuchstiere ist zwischen
2000 und 2001 um 67 Prozent - von 314 000 auf
524 000 - angestiegen. Das ist eine enorme Steigerungsrate. Auch hierbei klaffen Anspruch und Wirklichkeit
meilenweit auseinander.
Sie haben zu verantworten, dass die Zahl der Tierversuche in Ihrer Regierungszeit dramatisch angestiegen ist.
Sich angesichts dieser Zahlen in den Medien mit Trauermiene als oberste Tierschützerin Deutschlands zu präsentieren ist der Gipfel der Scheinheiligkeit. Das muss
einmal deutlich gesagt werden.
({1})
Frau Ministerin, Sie haben sich damit gebrüstet, eine
Hennenhaltungsverordnung verabschiedet und damit
dem Tierschutz gedient zu haben. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ich zitiere:
Die Frühstückseier kommen seit In-Kraft-Treten
der Legehennenverordnung keineswegs von glücklicheren Hühnern.
({2})
Diese Äußerung könnte von mir stammen. Das ist aber
nicht der Fall. Sie stammt vielmehr vom Tierschutzbeauftragten der SPD-Fraktion, Herrn Dr. Priesmeier.
Seine Kompetenz als Tierarzt und seine Kenntnis der
Praxis machen diese Aussage zu einer Ohrfeige für Sie,
Frau Künast.
({3})
Wenn ein Mann wie Dr. Priesmeier, der das Geschäft
versteht und die Praxis kennt, feststellt, dass die Sterberate in der Bodenhaltung mehr als 20 Prozent beträgt,
dass sich Kannibalismus ausbreitet, den man durch das
Abschneiden der Schnäbel zu minimieren versucht, und
dass längst ausgerottete Krankheiten wieder auftreten,
für deren Bekämpfung ein zunehmender Medikamenteneinsatz nötig ist, dann sollten Sie das ernst nehmen.
Wir haben Ihnen das übrigens vor der Verabschiedung der Hennenhaltungsverordnung ebenfalls mitgeteilt. Sie haben aber diese Hinweise aus der Praxis
schlichtweg beiseite gewischt; denn Sie sind beratungsresistent. Dem Tierschutz haben Sie damit einen Bärendienst erwiesen.
({4})
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie die Kleingruppenhaltung in ausgestalteten Käfigen mit Nistplätzen und
Scharrmöglichkeiten für die Hühner zu! Das ist anerkanntermaßen die humanere Form der Hühnerhaltung,
die Sie leider ab dem Jahr 2011 verbieten. Das führt
dazu, dass die Hühnerhaltung ins Ausland abwandert.
Schon jetzt ist erkennbar, dass deutsche Erzeuger in osteuropäischen Ländern investieren, um später die dort erzeugten Produkte nach Deutschland zu exportieren.
Lösungen lassen sich angesichts offener Grenzen nur
auf europäischer Ebene und im Kontext mit den anderen
EU-Mitgliedstaaten finden. Anderenfalls treiben Sie die
Produktion aus dem Land. Deshalb bitte ich Sie: Geben
Sie Ihren Starrsinn bei der Hennenhaltungsverordnung
auf und ändern Sie diese zugunsten der Tiere, der Verbraucher, aber auch zugunsten der Betriebe und Arbeitsplätze in diesem Bereich!
({5})
Frau Künast, ich will Ihnen an dieser Stelle eine Warnung mit auf den Weg geben. Sie haben angekündigt,
dass Sie die Schweinehaltungsverordnung ebenfalls
ändern und in gleicher Weise wie bei der Hennenhaltung
vorgehen wollen. Sie wollen in Deutschland besondere
Erschwernisse einführen, die mit dem Tierschutzbedürfnis nichts zu tun haben. Auch damit vertreiben Sie die
Produktion in andere Länder, aus denen dann die ProPeter Bleser
dukte nach Deutschland exportiert werden. Damit benachteiligen Sie die Erzeuger hierzulande und dienen
dem Tierschutz in keiner Weise. Denn wenn die Tiere in
anderen Ländern gehalten werden, haben sie dort mit
den gleichen Leiden - nach Ihrem Verständnis - zu
kämpfen, die Sie mit Ihrer Verordnung in Deutschland
verhindern wollen.
Wir fordern die Eins-zu-eins-Umsetzung der EURichtlinie in eine nationale Schweinehaltungsverordnung, damit europaweit die gleichen Bedingungen gelten. Ich denke, das ist von entscheidender Bedeutung.
({6})
Ich möchte dieser Warnung die Bitte um eine Novellierung des Tierarzneimittelgesetzes hinzufügen. Ich
bitte Sie zu veranlassen, dass Leiden von Haustieren zukünftig minimiert werden. Wie Sie wissen, bestehen
durch das Verbot des Umwidmens von Medikamenten
oder der Anwendung von Rohstoffen für Teilgruppen
unter den Tieren keine Behandlungsmöglichkeiten mehr.
So ist zum Beispiel derzeit die Verabreichung eines
Kontrastmittels zur Diagnostik eines Magen-Darm-Leidens bei einem Hund nicht mehr möglich. Aber eine
Krankheit, die man nicht erkennt, kann man nicht behandeln. Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Für
die Behandlung einer von Leberegeln befallenen Ziege
gibt es keine zugelassenen Medikamente. Die Medikamente, die für die Behandlung dieser Krankheit bei anderen Tierarten zugelassen sind, dürfen nicht angewendet
werden. Ich bitte Sie herzlich, das Tierarzneimittelgesetz so zu ändern, dass das Leiden der Tiere beendet werden kann und die Todesspritze nicht länger der letzte
Ausweg für viele Tierärzte sein muss.
({7})
Sie haben in Ihrem Tierarzneimittelgesetz - das geht
in die gleiche Richtung - verboten, Arzneimittel länger
als sieben Tage zu lagern. Auch hier gilt: In den Fällen,
in denen ein Tier erkrankt ist, in denen es Schmerzen hat
und leidet, kann häufig nicht eingegriffen werden, weil
die entsprechenden Medikamente nicht vorrätig sind und
deshalb nicht unter Anleitung oder Vorgabe eines Tierarztes eingesetzt werden können. Auch diese gesetzliche
Regelung ist praxisfremd und führt zu unnötigen
Schmerzen. Sie sollten sich mit den Kollegen aller Fraktionen verständigen, die hier initiativ geworden sind, um
eine Änderung herbeizuführen. Das sind in unserer Fraktion Frau Klöckner und in der FDP-Fraktion Herr
Goldmann gewesen. Die Namen der Abgeordneten aus
den Koalitionsfraktionen möchte ich nicht nennen, weil
ich ihnen nicht schaden möchte. Ich weiß von den betreffenden Kollegen, die ich persönlich sehr schätze,
nämlich, dass die Bundesregierung massiven Druck auf
sie ausgeübt hat, um diese Initiative zu stoppen.
({8})
Ich hoffe, dass sie es dennoch schaffen werden, in den
Beratungen, die sicherlich Ende des Jahres anstehen
werden, die notwendigen Änderungen durchzusetzen.
Sie haben uns dabei an ihrer Seite. Sie können sich darauf verlassen, dass wir hinter ihnen stehen werden und
dass wir alles tun werden, damit sie innerhalb ihrer Fraktion keinen Schaden erleiden werden.
({9})
Ich muss nach der Aufnahme des Tierschutzes in das
Grundgesetz noch ein anderes Thema ansprechen. Sie
wissen, dass es nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt ist, Tiere zu schächten. Sie haben
dies in einem Schreiben an die Bundestagsfraktionen unter anderem damit gerechtfertigt, dass die Zulassung des
Schächtens die Integration muslimischer Mitbürger fördere. Mit dieser Aussage zum Abtrennen des Kopfes eines unbetäubten, lebenden Tieres rechtfertigen Sie eine
der übelsten Tierquälereien überhaupt. Dort, wo es darauf ankommt - die Frau Ministerin ist leider schon gegangen -, entziehen Sie sich der Verantwortung und ist
Ihre Vorreiterrolle beim Tierschutz, auf die Sie sonst immer hinweisen, plötzlich abhanden gekommen. Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass nach der Aufnahme
des Staatszieles Tierschutz in das Grundgesetz eine entsprechende Vereinbarung mit den muslimischen Mitbürgern getroffen wird, damit die Interessen des Tierschutzes endlich auch in diesem Bereich eingehalten werden
können.
({10})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt vortragen,
den Sie schon angesprochen haben. Es steht eine Änderung der Chemikalienrichtlinie auf europäischer Ebene
an. Es ist vorgesehen, dass Altstoffe, die schon vor 1981
im Verkehr waren - ihre Anzahl dürfte bei rund 100 000
liegen -, neu überprüft werden sollen. Man geht davon
aus, dass deswegen Tierversuche in einer Größenordnung von 100 000 bis 25 Millionen - je nach Schätzung notwendig sind. Ich glaube, es ist des Schweißes der Edlen wert, dafür zu sorgen, dass hier alle Möglichkeiten
ausgeschöpft werden, um die Bewertung dieser Altstoffe
mit anderen Methoden sicherzustellen. Ich erinnere nur
an die Erkenntnisse und die Praxiserfahrungen, die man
im Rahmen des Arbeitsrechts gewonnen hat und die man
hier ohne Weiteres anwenden könnte.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich möchte zusammenfassen: Die nüchterne Bilanz
dieser Bundesregierung
Nein, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
- habe ich bereits vorgetragen. Ich hoffe sehr, dass in
Zukunft die ideologischen Verblendungen abnehmen
werden, damit wir den Tieren mit Sacharbeit nutzen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Wilhelm Priesmeier,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr
verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Peter Bleser,
ich habe - so kennen mich die Menschen - ein gerades
Kreuz und breite Schultern. Aus diesem Grunde stehe
ich hier und mache Politik. Man kann ruhig deutlich sagen: Ich vertrage auch etwas.
Du hast eben bis zu einem gewissen Grade auf den
Falschen eingeschlagen; denn die augenblicklich geltende elfte Novelle des Arzneimittelgesetzes ist im Wesentlichen von den Ländern, also auch von CDU-geführten Landesregierungen, zu verantworten. Die in dieser
Novelle vorgenommenen Änderungen wurden letztendlich nicht nur von der Berliner Politik, sondern, im Gegenteil - ich denke in diesem Zusammenhang an die
Restriktionen -, vor allem von Bayern und anderen unionsgeführten Ländern initiiert.
({0})
Wir sind mit unserer Absicht, gerade diesen Bereich
in Angriff zu nehmen, natürlich auf dem richtigen Weg,
Herr Kollege. Ich bin noch hoffnungsfroh. Ich glaube,
dass, wenn man sich ernsthaft bemüht und eine sachorientierte Politik ohne Polemik betreibt, eine vernünftige
Regelung im Interesse der Betroffenen und auch im Interesse des Tierschutzes gefunden werden kann, damit bestimmte Missstände in diesem Bereich ausgeräumt werden können.
({1})
Dass das klar erkannt worden ist, macht auch die Stellungnahme des BMVEL deutlich. Ich erkenne das Bemühen, in diesem Zusammenhang einen vernünftigen
Kompromiss zu finden. In diesem Sinne sollten wir das
gemeinsame Projekt, die 13. Novelle auf den Weg zu
bringen, zielgerichtet zu Ende führen.
({2})
In Bezug auf den Tierschutz haben Sie hier eines unerwähnt gelassen: Sie sind viele Jahre - das Tierschutzgesetz in allen Ehren - in die falsche Richtung marschiert. Ich darf hier an die Entscheidung aus dem Jahre
2000 erinnern: Sie, Kollege Bleser, und auch einige andere haben gegen eine Vorlage gestimmt, weil Sie ganz
einfach nicht hinnehmen und erkennen wollten, wie
wichtig der Tierschutz in dieser Gesellschaft ist und dass
die Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel im
Grundgesetz durchaus hilfreich ist.
({3})
Wir Sozialdemokraten haben hier zusammen mit den
Grünen und der FDP deutlich gemacht, welch hohen
Stellenwert der Tierschutz hat. Das ist in der Bevölkerung unbestritten. Die Novelle des Grundgesetzes war
eine der wichtigsten Entscheidungen der letzten zwei
Jahre. Das findet sich auch im Tierschutzbericht wieder.
Rückwärts gewandte Politik schafft selten vernünftige
Grundlagen für die Zukunft. Wenn wir heute wiederum
einen von der FDP vorgelegten Antrag diskutieren, dann
zeigt das auch, inwieweit die Politik der FDP gerade im
Bezug auf Tierschutz rückwärts gewandt ist.
Herr Goldmann, bewegen Sie sich doch einmal ein
bisschen! Sie haben in einer Ihrer letzten Reden zur gleichen Problematik - ich glaube, es war im Januar - gesagt, dass Schweine Tiere sind, die sich, außer zur Nahrungssuche, nicht gerne bewegen. Machen Sie nicht den
gleichen Fehler: Bewegen Sie sich einmal - aber natürlich im übertragenen Sinne!
({4})
Wir Sozialdemokraten und wir, die Mitglieder dieser
Koalition, nehmen in Deutschland und in Europa eine
Vorreiterrolle ein.
({5})
Das müssen Sie klar erkennen; daran führt kein Weg
vorbei. Das wird auch im Tierschutzbericht deutlich. Wir
haben Zielvorstellungen in Bezug auf die Schweinehaltungsverordnung auf den Tisch gelegt - die Haltung
der Sozialdemokraten war ein bisschen abweichend -,
die sich - so schätze zumindest ich es ein - als kompromissfähig erweisen dürften. Angesichts der Sprachregelungsänderung, auch auf der Ebene der Länder, bin ich
in diesem Zusammenhang durchaus hoffnungsfroh. Ich
glaube, dass damit Ihr Antrag, sofern er bis zum Vorliegen einer Neuregelung beschlossen worden ist, letztendlich überflüssig wird.
({6})
Wir beziehen zur Problematik der Tiertransporte - Frau
Ministerin hat sie hier angesprochen - klar und deutlich
Position. Dieser Bereich war viele Jahre umstritten. Dort
hat es Missstände gegeben, die es bei uns heutzutage in
dieser Form vielleicht nicht mehr gibt; in anderen Ländern gibt es sie aber durchaus noch. Dazu haben wir auf
der europäischen Ebene Initiativen ergriffen. Es ist maßgebliche Folge der deutschen Politik und des deutschen
Engagements, dass die Standards und die Richtlinien auf
der EU-Ebene entsprechend verändert werden und man
heute darüber diskutiert, den Transportzeitraum so zu
begrenzen, dass Tierschutzaspekte gewahrt bleiben, aber
auch wirtschaftliche Aspekte nicht zu kurz kommen; da
muss man - Sie wissen das - immer einen gewissen
Ausgleich finden. Wir sind da auf dem richtigen Weg.
({7})
Das sage ich, auch wenn es natürlich wenig Sinn macht,
sich ständig in die Brust zu werfen oder auf die Schulter
zu klopfen.
Es gibt einen Bereich, der hier schon angesprochen
worden ist, den ich als Tierschutzbeauftragter sehr kritisch sehe. Natürlich will niemand zur Käfighaltung im
herkömmlichen Sinne zurück, aber man muss letztlich
erkennen, dass auch alternative Haltungsformen nicht
ganz unproblematisch sind. Fakt ist - das konzediere ich
Ihnen -, dass es in Boden- und Freilandhaltungsformen
Mortalitätsraten von 20 Prozent - teilweise auch mehr gibt.
({8})
Auch unter bislang relativ idealisierten Bedingungen,
wie man sie sich zum Beispiel auf einem Lehr- und Versuchsgut der Tierärztlichen Hochschule Hannover anschauen kann, gibt es nicht akzeptable Mortalitätsraten.
Deshalb müssen wir uns kritisch fragen, ob das, was
wir im Sinne des Tierschutzes entschieden haben, in guter Absicht,
({9})
unter Umständen in gewisser Weise modifiziert werden
muss, damit auch insofern dem Tierschutz Genüge getan
wird. Dazu bedarf es entsprechender Aufwendungen,
dazu bedarf es entsprechender Forschung. Weder Sie
noch andere werden mir heute wissenschaftlich fundierte Kriterien sagen können, an denen man das Wohlbefinden von Tieren exakt messen kann. Das kann im
Augenblick niemand; da bedarf es der Forschung. Solche Ansätze - das geht aus dem Tierschutzbericht hervor - werden von der rot-grünen Bundesregierung umfangreich befördert.
({10})
- Es ist mir unbenommen, dahin zu gucken, wohin es
mir im Augenblick Spaß macht.
({11})
Sie sind ein so sympathische Mann und Kollege, Herr
Bleser, gestatten Sie mir doch, dass ich gelegentlich
auch einmal Sie anschaue.
Es gibt also noch einiges zu tun. Wir müssen unsere
Ansätze im Sinne des Tierschutzes weiterentwickeln, damit die Voraussetzungen für qualitätsorientierte, anerkannte, geprüfte Systeme der Boden- und Freilandhaltung geschaffen werden, die den Tierschutzstandards,
die man im Augenblick realisieren kann, gerecht werden.
({12})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich möchte hier eines dementieren. Ich bin weiß Gott
nicht derjenige, der hier Steilvorlagen an die Opposition
liefert. Ich bin auch nicht derjenige, der sich als Kronzeuge missbrauchen lässt. Das wird von Ihnen hier vielleicht falsch eingeschätzt.
Wir können hier gerade im Interesse des Verbraucherschutzes, des Tierschutzes und auch der Betroffenen Wesentliches voranbringen. Das hat die rot-grüne Bundesregierung geleistet und das wird sie auch in Zukunft
leisten.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist immer schön, wenn man hier im
Bundestag zu einem Thema sprechen kann, von dem
man richtig Ahnung hat - ich bin schließlich Tierarzt und bei dem man sich in vollem Einklang mit der Partei
befindet.
Ich will vorweg sagen: Dass der Tierschutz heute im
Grundgesetz verankert ist, ist nicht nur Ihr Verdienst,
liebe Freunde von der CDU/CSU, sondern vor allem das
Verdienst der FDP, die das nämlich immer wieder vorangetrieben hat.
({0})
Wir hatten nicht gleich die Mehrheit dafür - das trifft
zu -, aber die Formulierung, die heute im Grundgesetz
verankert ist, stammt aus unserer Feder. Das sollte hier
einmal erwähnt werden. Wir sind wirklich aktive Tierschützer.
Ich will noch etwas zu den Versuchstieren sagen. Ich
bin dafür, dass man sich in einer solchen Diskussion um
Sachlichkeit bemüht. Dass die Zahl der Tierversuche gestiegen ist, finde ich - das sage ich ganz ehrlich - gut.
Dieser Anstieg rührt nämlich daher, dass die transgenen
Tiere, mit denen in zunehmendem Maße gearbeitet wird,
mittlerweile statistisch erfasst werden. Auf diese Weise
sind gewaltige Fortschritte bei der Erforschung von Gegenmitteln für BSE, für Krebskrankheiten, Alzheimer
und multiple Sklerose erzielt worden. Man muss sich
jetzt schon fragen, wie man die Chancen, die sich für
Menschen bieten, im Vergleich zu den Schmerzen, die
Tieren bei Tierversuchen zugefügt werden, gewichtet.
Aber wir alle gemeinsam bemühen uns ja darum, diese
Schmerzen besonders gering zu halten. Ich glaube, auch
in dieser Frage sind wir uns einig.
In einem weiteren Punkt sind wir uns einig, nämlich
in der Frage der Tiertransporte. Natürlich bin ich dafür,
dass Tiertransporte nach Möglichkeit vermieden werden
bzw. bei notwendigen Transporten für den größtmöglichen Standard gesorgt wird. Wir sollten hier gemeinsam
zur Kenntnis nehmen, dass sich in Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern viel bewegt
hat. Vergleichen Sie einmal die heutigen Tiertransportfahrzeuge mit denen von vor einigen Jahren oder Jahrzehnten. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Nun
müssen wir dafür sorgen, dass die positiven Errungenschaften, die bei uns auf den Weg gebracht wurden, auch
in anderen Ländern Einzug halten. Es hilft uns ja überhaupt nicht, wenn aufgrund unserer Vorschriften Tiere
auf Umwegen über solche Länder transportiert werden,
die diese Standards nicht verlangen.
({1})
Nächster Punkt: Ausgestaltung der Käfige. Wilhelm
Priesmeier, wir können uns gerne einmal über die
Meldungen von dir unterhalten, die im offiziellen Organ
des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft
- das kennst du ja auch - erschienen sind. Da hast du
klipp und klar gesagt, dass Freilandhaltung eine Katastrophe für Tiere sein kann. Ich verstehe nicht, warum du
davon abrückst.
({2})
Recht hast du gehabt, als du mit dieser Auffassung in die
Presse gegangen bist und dich als Tierschutzbeauftragter
profiliert hast. Du hast tosenden Beifall geklatscht, als
der frühere niedersächsische Landwirtschaftsminister,
Herr Bartels, hier gesagt hat, dass das, was bei der Legehennenhaltungsverordnung passiert ist, auf keinen Fall
bei der Schweinehaltungshygieneverordnung noch einmal passieren darf. Du hast damals, kurz vor der niedersächsischen Landtagswahl, hier darüber gejubelt. Das
hat zwar nichts geholfen, aber ein bisschen mehr Ehrlichkeit und Geradlinigkeit in einer solchen Frage
wünschte ich mir von dir schon.
({3})
Nun nehme ich noch einmal das auf, was Frau
Künast, die ja nun zu einer Konferenz musste, vorhin
sagte. Eine Meldung von Aldi besagt - das ist richtig -,
dass man auf Freilandeier setze. Nebenbei gesagt: Zur
Umsetzung brauchen sie allerdings 32 Monate; diese
lange Dauer hat etwas mit den veränderten Rahmenbedingungen in Deutschland zu tun. Zugleich gibt es aber
noch eine weitere Meldung von Aldi, denn gleichzeitig
hat man dort erklärt, man wolle jede Menge polnisches
Schweinefleisch verkaufen, was über einen amerikanischen Betrieb, der Hunderttausende von Schweinen hält,
auf den europäischen Markt gebracht werden soll. Was
soll also dieses nationale Betrachten von Problemen?
Nach Cancun wissen wir doch alle, dass eine nationale
Agrarpolitik nicht mehr möglich ist, sondern höchstens
eine europäische bzw. eine globale. Hier gibt es bezüglich der Frage der Nutztierhaltung nur eine Lösung;
diese besteht darin, dass die europäischen Vorgaben eins
zu eins umgesetzt werden. Dabei entsteht überhaupt kein
Schaden.
Es verhält sich ja nicht so, wie Frau Künast es vorhin
bezüglich der Schweine dargestellt hat. Es gibt sehr
wohl Empfehlungen von den Kammern; ich werde meinem Kollegen eine von der Landwirtschaftskammer Weser-Ems in Oldenburg, in deren Gebiet relativ viele
Schweine und Geflügel gehalten werden, zukommen
lassen.
({4})
- Die Stellungnahme der Kammer aus Westfalen-Lippe
kann ich Ihnen auch zuschicken, Herr Ostendorff. Sie ist
mit der der Landwirtschaftskammer Weser-Ems in Bezug auf Licht- und Raumangebot sowie Einstreu absolut
identisch. Das ist hochinteressant.
Ich habe zwar nicht mehr viel Redezeit, aber eines
möchte ich doch sagen: Ich hatte einmal ein Schwein in
einem Stall ohne Spaltenboden gehalten. Ich war erstaunt, dass ich jeden Abend diesen Stall sauber machen
musste, weil es dort bestialisch roch und sich das
Schwein in der Einstreu nicht mehr wohl fühlte. Hätte
ich einen Spaltenboden gehabt, hätte ich nicht jeden Tag
sauber machen müssen und das Schwein hätte wesentlich bessere Rahmenbedingungen vorgefunden.
({5})
Über solche Fragen sollten wir uns hier einmal fachlich
auseinander setzen; so könnten wir auch zu vernünftigen
Lösungen kommen.
({6})
Eine Anmerkung zum Tierarzneimittelgesetz, danach bin ich auch fertig, Frau Präsidentin. Liebe Kollegen Priesmeier und Ostendorff, wir wollen hier doch in
einem Boot bleiben.
Aber Tatsache ist: Wir vier wollten zusammen einen
Brief schreiben und darum bitten, dass sich die Erkenntnisse aus der Anhörung in dem neuen Gesetz niederschlagen. Dieser Brief ist nicht zustande gekommen,
weil Sie von Herrn Berninger und Co. zurückgepfiffen
worden sind.
({7})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist massiv überschritten.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, und komme zum
Schluss.
Wir werden uns weiter um eine gemeinsame Lösung
bemühen; aber von sieben auf 31 Tage zu gehen unter
Ausnahme der Antibiotika ist schlicht und ergreifend
fachlicher Blödsinn, den wir nicht mitmachen.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen
Sie sich vor, alle laufen los und haben ein gemeinsames
Ziel direkt vor Augen, verfehlen es aber doch. So etwas
gibt es. Ich nenne ein ernüchterndes Beispiel aus dem
Tierschutz: 70 Prozent der europäischen Bevölkerung
lehnen Tierversuche für kosmetische Zwecke ab.
({0})
Trotzdem werden pro Jahr mehr als 38 000 Tiere in Versuchslabors, zum Teil unter unsagbaren Qualen, verbraucht,
({1})
und das, obwohl es bereits über 8 000 getestete Rohstoffe und anerkannte Alternativmethoden gibt. Trotz
der breiten Ablehnung von Tierversuchen zu kosmetischen Zwecken hat es zehn Jahre gedauert, die EU-Kosmetikrichtlinie im Sinne des Tierschutzes zu verändern.
Was lange währt, wird endlich gut, könnte man meinen.
Doch weit gefehlt! Erst ab 2009 sieht die geänderte Kosmetikrichtlinie endlich ein Tierversuchsverbot in Europa
vor.
({2})
Doch selbst dieses spät kommende Verbot ist noch nicht
abgesichert und steht auf sehr wackligen Beinen. Das ist
das traurige Ergebnis eines zehnjährigen Kampfes. Dieses Beispiel zeigt, auf welch massiven Widerstand Tierschutz stößt, insbesondere wenn es um wirtschaftliche
Interessen geht.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass es der Bundesregierung in den letzten Jahren trotz dieser Schwierigkeiten
gelungen ist, eine Vorreiterrolle im Tierschutz einzunehmen.
({3})
Ich greife zwei Beispiele heraus. Erstens. Im letzten
Jahr hat der Bundestag die Aufnahme des Tierschutzes
ins Grundgesetz beschlossen und dem Tierschutz damit
deutlich mehr Gewicht verliehen.
({4})
Das Verwaltungsgericht Gießen hat vor wenigen Tagen
die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Tierversuchsvorhabens auch mit dem neuen Status des Tierschutzes
begründet. Das ist ein toller Erfolg für den Tierschutz.
({5})
Zweitens. Zur Verminderung der Anzahl von Tierversuchen wurden Alternativverfahren endlich gefördert
und anerkannt. Sie haben das nicht geschafft, Herr
Bleser. Zur Vermeidung von Mehrfachversuchen wurden
Referenzdatenbanken aufgebaut.
({6})
Das sind positive Ansätze, die wir ausdrücklich unterstützen. Das reicht aber alles noch nicht aus. Der Tierschutz ist weder bei uns in Deutschland noch in Europa
ein Selbstläufer. Das haben wir beim Kampf um die Änderung der Kosmetikrichtlinie erfahren. Den landwirtschaftlichen Nutztierbereich hat bereits mein Kollege
Wilhelm Priesmeier beleuchtet.
({7})
Ich stelle vier weitere zentrale Forderungen meiner
Fraktion zum Tierschutz vor:
Erstens wollen wir die Einflussmöglichkeiten der
Verbraucher auf das Marktgeschehen stärken. Wie machen wir das, meine Damen und Herren? Wir fordern
eine klare und vor allem seriöse Produktkennzeichnung, aus der zum Beispiel auch die Haltungsform der
Tiere deutlich hervorgeht. Wir brauchen vor allem auch
deutlich erkennbare Produktalternativen im Supermarkt.
Bei den Eiern ist das schon gut gelungen. Ab Januar
nächsten Jahres muss die Haltungsform auf Eierverpackungen gekennzeichnet sein.
({8})
Heute passiert das schon freiwillig. Das Kaufverhalten
hat sich dadurch verändert, Herr Goldmann. Eier aus Käfighaltung bleiben in den Regalen. Die Nachfrage nach
Eiern aus Freiland- und Bodenhaltung ist inzwischen so
groß, dass sie nicht mehr allein aus deutscher Produktion
gedeckt werden kann.
({9})
Aldi Nord schmeißt jetzt die Eier aus Käfighaltung aus
den Regalen und setzt auf Boden- und Freilandhaltung.
Das ist das richtige Signal für den Tierschutz.
({10})
Diese klare Erkennbarkeit und Wahlmöglichkeit brauchen wir aber auch bei allen anderen Produkten. Ich
bleibe einmal bei den Eiern.
({11})
Auch in Nudeln oder Fertiggebäck ist Ei enthalten. Der
Verbraucher findet aber weder auf der Nudeltüte noch
auf der Keksdose eine Aussage über die Haltungsform.
Das muss verbessert werden.
({12})
Zweite Forderung. Wir brauchen bessere gesetzliche
Regelungen im Heimtierbereich. In Deutschland gibt es
rund 90 Millionen Heimtiere. Das bedeutet, dass jeder
von uns - auch Sie, Herr Goldmann, und ich - statistisch betrachtet, mehr als ein Heimtier besitzt.
({13})
Wie diese 90 Millionen Heimtiere jedoch leben und gehalten werden, wissen wir nicht.
({14})
Wir fordern deshalb eine klare Regelung auf Bundesund Länderebene, die Zucht, Ausbildung, Haltung und
Handel von Heimtieren umfasst.
({15})
Dritte Forderung. Wir fordern den nachhaltigen
Schutz der Schweinswale in Nord- und Ostsee. In der
Ostsee sind die Kleinen Tümmler bereits fast vollkommen ausgestorben.
({16})
In der Nordsee gibt es noch Bestände, doch auch sie sind
massiv bedroht. Jährlich sterben mehr als 7 000 Tümmler als Beifang in den Stellnetzen der Fischer.
({17})
Eine besondere Bedrohung geht hier von den Stellnetzen
der dänischen Fischer aus. Knüpft man die Stellnetze der
Fischer zusammen, so kommt man auf eine Gesamtlänge
von deutlich mehr als 5 000 Kilometern. Das ist eine
Länge von hier in Berlin aus bis zum Kap Hoorn.
({18})
Die Europäische Kommission erarbeitet zurzeit eine
Richtlinie zum Schutz der Kleinwale. Wir fordern eine
rasche Umsetzung dieser Richtlinie.
({19})
Vierte Forderung. Wir unterstützen das Bemühen der
Bundesregierung, die Zahl der Tierversuche zu minimieren. Wir sehen, dass in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen wurden, um ihre Zahl zu minimieren. Trotzdem gibt es einen kontinuierlichen
Anstieg. Das ist auf die verstärkte biologische Grundlagenforschung in Deutschland zurückzuführen.
({20})
Wir sind inzwischen bei der gigantischen Zahl von
2,2 Millionen Versuchstieren im Jahr angekommen.
({21})
Ein Ende ist nicht abzusehen.
({22})
Die Chemikalienpolitik der EU, die langfristig zu verbessertem Chemikalienmanagement in Europa führen
soll, wird die Tierversuchszahlen in den nächsten Jahren
leider weiter nach oben treiben.
({23})
Wir fordern deshalb, dass Tierversuche an den Nachweis
ihrer Unvermeidbarkeit gebunden werden.
({24})
Das ist das Mindeste, was wir tun können. Tierversuche
für die Produktion von Kosmetika lehnen wir klar ab.
({25})
Meine Damen und Herren, wir haben einen Entschließungsantrag mit einem umfassenden Forderungskatalog
zum vorliegenden Tierschutzbericht ausgearbeitet und
werden ihn in die zuständigen Ausschüsse einbringen.
({26})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich schließe mit einer persönlichen Bemerkung. Ich
habe drei misshandelte Hunde aufgenommen und wünsche mir auch aus ganz persönlicher Betroffenheit heraus, dass wir beim Tierschutz bis zum nächsten Bericht
in zwei Jahren ein deutliches Stück vorankommen werden.
Danke schön.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestalten in Schutzanzügen laufen hektisch herum. Sie tragen
Atemmasken, Handschuhe und Gummistiefel. Der Tag
X scheint eingetreten zu sein.
Eine Szene aus der Science-Fiction? Nein, Realität im
Frühjahr 2003. Mitten in Europa war eine Seuche ausgebrochen, die aviäre Influenza, Geflügelpest. Das Virus
breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Auch
Menschen erkrankten. Die Gefahr einer Supergrippe
drohte. Der „Spiegel“ titelte: „Killervirus aus der Löffelente“. Am Ende war die Bilanz: einige Hundert erkrankte Menschen, mehr als 30 Millionen getötete Tiere
in den Niederlanden. Gott sei Dank breitete sich die Seuche in Deutschland nicht aus. Es kamen bei uns nur - relativ gesehen - wenige Tiere zu Tode. Von den Leiden
dieser Tiere will ich erst gar nicht sprechen. Der volkswirtschaftliche Schaden blieb begrenzt. Bei einem Geflügelbestand von 35 Millionen Tieren hätte sich allein
für Niedersachsen eine horrende Kostensumme von
mehr als 300 Millionen Euro für Tötung und Entsorgung
der Tiere ergeben können. Bäuerliche Existenzen und
Arbeitsplätze wären vernichtet worden. Das einzige, was
uns und die Tiere davor bewahrt hat, war Glück - Glück,
das nicht planbar, nicht kalkulierbar und nicht verlässlich ist.
Meine Damen und Herren, wir können uns nicht darauf verlassen, dass es keinen neuen Seuchenzug geben
wird. Wir müssen uns aber darauf verlassen können,
dass wir für diesen Fall gewappnet sind und dass den
Behörden, den Tierärzten und den Ärzten in diesem Fall
geeignete Instrumente zur Verfügung stehen.
({0})
Daran fehlt es, weil das deutsche Tierseuchenrecht Lücken hat. Deshalb haben die Bundesländer die Bundesregierung bereits 2001 parteiübergreifend aufgefordert,
kurzfristig zu handeln - ohne Erfolg, es geschah nichts.
Im April dieses Jahres kündigte die Bundesregierung
endlich an, handeln zu wollen. Was ist geschehen? Wieder einmal nichts.
Was muss geschehen? Die Bundesländer haben es uns
gesagt: Wir brauchen ein einheitliches Recht für das gesamte Bundesgebiet. Zurzeit muss jedes Bundesland im
Seuchenfall auf sein eigenes Gefahrenabwehrrecht zurückgreifen. In dem einen Land ist erlaubt, was in dem
anderen Land verboten ist. Das kann und darf nicht sein;
denn Viren kennen keine Landesgrenzen.
({1})
Es muss auch schnelleres Handeln möglich sein. Zurzeit
müssen Eingriffe wie ein Standstill in den amtlichen
Verkündungsblättern bekannt gemacht werden; das bedeutet einen Zeitverzug von mehreren Tagen. Wäre die
Veröffentlichung über Medien wie Fernsehen oder Radio
bei uns erlaubt, könnte sofort reagiert werden. Bei einer
Seuche ist es nun einmal erforderlich, schnellstmöglich
zu handeln.
Meine Damen und Herren aus der Koalition, Sie haben hier in vielen Redebeiträgen gesagt, was Sie alles für
den Tierschutz tun wollen. Frau Kollegin Hiller-Ohm,
gestatten Sie mir aber einen Hinweis: Zum einen hätte
ich es begrüßt, wenn Sie tatsächlich Anträge vorgelegt
hätten. Zum anderen bin ich nicht der Auffassung, dass
eine Polizei für Heimtiere oder gegebenenfalls die
Schulpflicht für Wale zu einem ausgeprägten Tierschutz
gehört.
({2})
Wenn Sie wirklich etwas für den Tierschutz tun wollen, können Sie unseren Antrag unterstützen. Ich habe
von der Ministerin kein Wort dazu gehört, ob sie Tierseuchen effektiver bekämpfen will - sie hat dazu
geschwiegen -; denn damit könnten Sie den Tieren helfen, weil eine effektive Seuchenbekämpfung immer auch
Tierschutz bedeutet.
({3})
Diesen Schutz wollen wir alle und haben ihn deshalb mit
Verfassungsrang ausgestattet.
Was braucht es aber weiter dazu? Für den einen oder
die andere ist offensichtlich nur ein ökologisch gehaltenes Schwein ein glückliches Schwein. Ob Frau Ministerin Künast zu den Verfechtern eines idealisierten Menschenbildes gehört, vermag ich nicht zu sagen. Ich
vermute aber, dass sie ein idealisiertes Schweinebild
hat - jedenfalls kommt das in ihrem Entwurf der
Schweinehaltungsverordnung zum Ausdruck. Natürlich, ein Ferkelchen mit seinem Ringelschwänzchen ist
lieb anzusehen und fotogen. Aber dort, wo mehrere
Schweine zusammen gehalten werden, wird es von anderen Schweinen abgebissen.
({4})
Deshalb wird der Schwanz gekürzt und werden die
Zähne abgeschliffen. Wie dies zu geschehen hat, ist im
deutschen Tierschutzgesetz im Sinne des Bündnisses für
Tierschutz geregelt. Die deutschen Landwirte halten ihre
Tiere nach diesen Regelungen und damit tierschutzgerecht.
({5})
Sie verdienen damit ihr Geld - Geld, das vor Ort investiert wird, Geld, mit dem Arbeitsplätze geschaffen werden. Das gilt jedenfalls bislang; sollten nämlich die
Pläne der Bundesregierung für den Bereich der
Schweinehaltung Realität werden, so ist die Zukunft dieser Betriebe ungewiss.
({6})
Einmal mehr wird ein nationaler Alleingang mit zusätzlichen Auflagen angestrebt. Solche Alleingänge führen
zu höheren Kosten und damit zu Wettbewerbsverzerrungen in einer globalisierten Welt.
Kollege Goldmann hat bereits erwähnt, dass in dieser
Woche ein bekannter Discounter polnisches Schweinefleisch anbietet. Er hat nicht erwähnt, zu welchem Preis:
zu einem Kilopreis von 3,97 Euro. Werte Kolleginnen
und Kollegen aus der Koalition, meinen Sie denn wirklich, dass sich der Verbraucher in diesem Discounter entrüstet abwenden wird, weil es sich um polnisches
Fleisch handelt? Nein, er wird dieses Fleisch kaufen,
weil er nach seinem Geldbeutel entscheidet - häufig
auch entscheiden muss.
Schon jetzt ist es für den deutschen Bauern schwer,
damit zu konkurrieren. Mit Ihren Plänen würden Sie es
ihm unmöglich machen. Schweine in Polen, wahrscheinlich irgendwann Schweine im Weltall, nur keine
Schweine in Deutschland.
({7})
Meinen Sie denn wirklich, dass ein Schwein in der
Ukraine bessere Bedingungen vorfindet als in Deutschland? Aber unter anderem dahin würde eine Produktion
auswandern. Das dürfen wir nicht zulassen. Es gibt dafür
auch keinen Grund.
Die EU hat ihre Nutztierhaltungsverordnung auf
wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Dazu zählen
auch Gesichtspunkte des Tierschutzes. Bei einer Einszu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben wird damit nicht
nur dem Tierschutz Rechnung getragen. Gleichzeitig
werden damit auch Wettbewerbsverzerrungen zulasten
der deutschen Landwirtschaft vermieden.
({8})
Springen Sie über Ihren Schatten! Überwinden Sie Ihren inneren Schweinehund! Stimmen Sie den Anträgen
von CDU/CSU und FDP zu!
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/723 und 15/1210 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1035 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/226
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ralf Göbel,
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr
2003 einleiten
- Drucksachen 15/816, 15/1260 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Einführung des Digitalfunks ist kein Streitthema gewesen. Es wird auch keines werden, da es Ihnen nicht
gelingen wird, es zu einem zu machen. Denn hinsichtlich
der Notwendigkeit der Einführung des Digitalfunks gibt
es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Wir sind uns völlig einig darin, dass wir ihn
brauchen und er flächendeckend eingeführt werden
muss.
Der analoge Funk ist inzwischen fast 30 Jahre alt.
Ich habe damals bei der Polizei die Einführung miterlebt. Wir haben ihn für einen großen Fortschritt gehalten.
Inzwischen hat sich die ganze Sache überholt. Denn man
sieht deutlich, wo der analoge Funk an seine Leistungsgrenzen stößt. Insbesondere das Hochwasser an Elbe
und Mulde im letzten Jahr hat deutlich gemacht, wo es
Funklöcher gibt, wo der analoge Funk nicht mehr leistungsfähig ist. Es ist zu massiven Funkausfällen mit
durchaus gefährlichen Folgen für die Bürger und die eingesetzten Kräfte gekommen.
Vor diesem Hintergrund haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir rüsten das veraltete analoge Funksystem für viel Geld nach oder wir investieren in ein
neues, zwar sehr kostenintensives, aber auch sehr modernes Funksystem mit guter Sprachqualität, optimalem
Datentransfer, grenz- und organisationsüberschreitenden Möglichkeiten und einer großen Abhörsicherheit.
Fälschlicherweise wird dieses Funksystem immer nur
mit der Polizei in Verbindung gebracht. Es gilt allerdings
für alle Organisationen und Behörden, die mit Sicherheitsaufgaben betraut sind, also für Feuerwehr, THW
und alle Katastrophenschutzorganisationen.
Wenn das alles so toll ist, dann fragt man sich natürlich, warum wir es nicht längst eingeführt haben. Da
lohnt sich ein Blick zurück. Erstmals wurde im Schengener Durchführungsübereinkommen 1990 beschlossen, dass die Einführung genormter, kompatibler Kommunikationssysteme, die eine grenzüberschreitende
Zusammenarbeit der BOS-Dienste ermöglichen, zu prüfen sei. Anschließend erschien dann dieses Problem in
schöner Regelmäßigkeit - alle zwei bis drei Jahre - auf
der Tagesordnung der Innenministerkonferenzen. Es gab
ja kaum eine IMK, auf der nicht darüber geredet wurde.
Zunächst war unsere Traumvorstellung: Wir wollen
ein europaweites kompatibles, modernes Sicherheitsnetz. Dieser Traum ist längst ausgeträumt. Die europäischen Staaten haben sich nach nationalen GesichtspunkHans-Peter Kemper
ten orientiert. Ein einheitliches europäisches
Funksystem ist nicht mehr zu erreichen.
Heute reden wir vielmehr darüber, zumindest ein
bundesweit einheitliches System hinzubekommen.
Auch das ist schon jetzt fraglich geworden. Wir reden
ebenfalls über die Finanzierung. Das System wird nicht
billig; das wissen wir alle. Es wird auch deshalb teuer,
weil zumindest in der Übergangsphase eine Parallelführung beider Systeme erfolgen muss, um Sicherheitslecks
in diesem Bereich zu vermeiden. Die Bürger erwarten
aber von den Sicherheitsdiensten, von der Polizei zu
Recht ein optimales System. Sie erwarten zu Recht, dass
ihre Sicherheit optimal geschützt wird.
Auch vor diesem Hintergrund ist der Versuch des
Bundeskanzlers zu sehen. Er hat am 26. Juni dieses Jahres die Ministerpräsidenten der Länder zusammengeholt,
um diese Sache wieder in Gang zu bringen. Es ist beschlossen worden, eine Dachvereinbarung auf den Weg
zu bringen.
({0})
Weil es nicht flächendeckend gelang, die Bundesländer
zum Beitritt zu bewegen, sollte eine Startergruppe gebildet werden. Der Bund und mein Bundesland Nordrhein-Westfalen, das in Fragen der inneren Sicherheit zu
meiner Freude immer besonders gut ist,
({1})
haben diese Startergruppe ins Leben gerufen und sollten
auf der Basis dieser Dachvereinbarung arbeiten.
Inzwischen ist das alles wieder Makulatur; die Bundesländer haben ihre Bereitschaft zurückgezogen. Sie
sind hinter den Stand vom 26. Juni 2003 zurückgegangen, weil sie - das ist völlig unrealistisch - eine Beteiligung des Bundes zu 50 Prozent an den Gesamtkosten
fordern. Der Bund betreibt aber nur 8,5 Prozent der Endgeräte. Er nutzt also weniger als 10 Prozent des ganzen
Systems. Daher ist es eine nicht verständliche Blockade
der Länder, solch eine Kostenaufteilung zu fordern.
Diese Forderung missachtet in eklatanter Weise auch
den Grundsatz der aufgabengerechten Lastenverteilung.
Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU, die diesen Antrag eingebracht haben, lautet: Beschleunigen Sie das Ganze. Wir unterstützen Sie dabei
dadurch, dass Sie nun Ihren Bundesländern endlich den
Marsch blasen und ihnen endlich sagen, wo es langgeht,
({2})
und dass sie für die Kosten, die sie verursachen, aufkommen müssen.
Ich sehe hier das Zeichen, Frau Präsidentin, es blinkt
schon.
Ja, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja, Frau Präsidentin, meine Redezeit ist zu Ende. Es
geht mir genau wie meinem Innenminister, Otto Schily.
Ich hätte noch viel zu sagen. Ich habe aber immer eine
zu kurze Redezeit. Ich verlasse jetzt dieses geliebte Pult.
Schönen Dank an alle.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ralf Göbel, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Einführung des Digitalfunks für die Behörden und Organisationen, die für die innere Sicherheit in
Deutschland Verantwortung tragen, ist eines der wichtigsten technischen Projekte für die Sicherheit unseres
Landes. Bundesgrenzschutz, Bundesamt für Verfassungsschutz, Zollkriminalämter, Bundeskriminalamt,
Technisches Hilfswerk, auch die Bundeswehr, die bei
Katastrophenlagen im Innern tätig wird, alle betonen seit
Jahren die Notwendigkeit der Einführung des Digitalfunks. Gleiches gilt für die Polizeien der Länder, die
Feuerwehren und die Rettungsdienste.
({0})
Die Bundeswehr - dies sei nur am Rande erwähnt - benutzt den Digitalfunk bereits, allerdings nur bei Auslandseinsätzen.
({1})
Durch die Schwachstellenanalysen von Katastrophenschutzeinsätzen zieht sich wie ein roter Faden die Feststellung, dass unser Funksystem, das aus den 70er-Jahren stammt, völlig überlastet ist, teilweise gänzlich
versagt und schwierige, für Menschenleben gefährliche
Situationen herbeiführt. Hierzu ein Zitat von General
von Kirchbach im „Stern“ vom 31. Juli 2002:
Beim Augusthochwasser ist das Netz dauernd zusammengebrochen, was die Verständigung erheblich erschwerte. Das alte Funknetz ist den Belastungen einer Katastrophe noch immer nicht
gewachsen. Im Ernstfall bedeutet das, dass sich
Einsatzleitung und Hilfskräfte sowie Hilfskräfte untereinander nur völlig unzureichend verständigen
können.
Im Alltag der Sicherheitsbehörden wird über Funklöcher und Überlastung der Funknetze geklagt und nicht
zuletzt darüber, dass das Kommunikationssystem der Sicherheitsbehörden nicht abhörsicher ist und den Anforderungen des Datenschutzes in keiner Weise mehr genügt,
({2})
ganz davon abgesehen, dass auch die Ersatzteilbeschaffung und die Reparatur von Jahr zu Jahr teurer werden.
Ein Blick über die Grenzen zeigt zudem, dass in Europa allein Deutschland und Albanien mit technologisch
veralteten Kommunikationsnetzen im Bereich der inneren Sicherheit arbeiten. Selbst die im nächsten Jahr hinzutretenden neuen Länder verfügen bereits über ein digitales Funksystem oder sind dabei, dieses einzuführen.
Die neuen Länder haben also bereits vor dem Beitritt die
Anforderungen des Schengenabkommens erfüllt.
Deutschland hingegen trägt wieder einmal, wie so häufig, die rote Laterne. Das ist schlicht und ergreifend blamabel.
({3})
Die Bundesregierung und die Landesregierungen wie
auch der Deutsche Bundestag, und zwar dieser fraktionsübergreifend, betonen immer wieder die Notwendigkeit
der Einführung des digitalen Funks; Herr Kollege
Kemper hat darauf hingewiesen. Wir haben eine gemeinsame Presseerklärung zu diesem Thema erarbeitet. Über
das Ob gibt es also keinen Streit.
Bundesminister Schily gab das Ziel vor, bis
Ende 2005 den Aufbau des digitalen Netzes abschließen
zu wollen und 2006, bei der Fußballweltmeisterschaft,
den Sicherheitsbehörden ein leistungsfähiges und modernes Funknetz zur Verfügung zu stellen.
({4})
Es ging auch flugs voran: Es wurden eine Zentralstelle
für die Vorbereitung der Einführung des Digitalfunks
eingerichtet und im Raum Aachen ein Pilotprojekt gestartet. Seitdem wissen wir, dass Digitalfunk auch in
Deutschland reibungslos funktioniert. Wir wissen, welche Anforderungen wir an ein digitales Sprech- und Datenfunknetz stellen müssen.
Wir wissen aber auch - und das seit geraumer Zeit -,
dass Investitionsmittel von ganz erheblichem Umfang
notwendig werden; Herr Kemper hat darauf hingewiesen.
Nach heutigem Stand muss mit einer Summe von bis zu
4,5 Milliarden Euro für Netz und Geräte gerechnet werden, allerdings auf einen Zeitraum von zehn Jahren verteilt und durch eine Teilnehmerzahl von 17 Teilnehmern
geteilt. Damit wird das Ganze schon wieder etwas überschaubarer.
Hier setzt die Kritik an. Der Bundesinnenminister hat
als Zielvorgabe zwar das Jahr 2006 genannt, hat aber offensichtlich die Finanzierungsfrage mit den Ländern
nicht rechtzeitig genug verhandelt.
({5})
Jedenfalls ist seit September 2002 die Realisierung des
Projektes ins Stocken geraten. Es haben mehrere Konferenzen der Innen- und der Finanzstaatssekretäre stattgefunden. Man war nicht in der Lage, eine vernünftige, der
Sache angemessene und konsensfähige Lösung der Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern herbeizuführen.
({6})
Der Bundeskanzler - Sie haben es erwähnt - hat sich
auf der CeBIT genötigt gesehen, das Versprechen abzugeben, sich persönlich für die zügige Einführung des Digitalfunks einzusetzen. Das ist ein halbes Jahr her. Es
gab auch eine Besprechung des Bundeskanzlers mit den
Ministerpräsidenten der Länder,
({7})
mit dem Ergebnis, dass sich wieder alle über das einig
waren, worin wir uns sowieso einig sind, dass nämlich
der Digitalfunk einzuführen ist. Es gab ein paar Modalitäten bezüglich der Dachvereinbarung und der Startergruppe - Sie haben es angesprochen -, über die man sich
verständigt hat. Über die zentrale Frage, wie die Kosten
verteilt werden, hat man aber auch bei dieser Besprechung kein Einvernehmen erzielt. Daher dümpelt die Sache seit September letzten Jahres vor sich hin. Bis heute
ist keine Einigkeit erzielt worden.
Die Dachvereinbarung, die seitens der Bundesregierung vorgelegt worden ist, wird von den Ländern deswegen abgelehnt, weil bezüglich der Kosten wieder einmal
kein Vorschlag gemacht wurde. Es bedurfte wiederum
weiterer Konsensrunden der Innen- und Finanzstaatssekretäre, um zu dem Ergebnis zu kommen - das ist der
aktuelle Sachstand -, dass sich die Ministerpräsidentenkonferenz im Dezember erneut mit diesem Thema befassen muss, bevor weitere wesentliche Schritte in die
Wege geleitet werden können.
({8})
Der gesamte Vorgang ist nicht nur ärgerlich, durch die
starre Haltung der Bundesregierung gerät auch ein für
die Sicherheit der Menschen in diesem Land wichtiges
Projekt in Verzug.
({9})
In der Dachvereinbarung wird jetzt das Jahr 2010 als
das Realisierungsjahr genannt.
({10})
Der Bundesinnenminister, ein Optimist, wie er uns in der
letzten Sitzungswoche hat wissen lassen, hat den Optimismus abgelegt, ist von seinem Ziel abgerückt und
spricht nun von einer Teileinführung zur Fußballweltmeisterschaft 2006.
({11})
Folgt man den Erklärungen der Industrie, ist selbst das
wohl nicht mehr zu halten.
({12})
Das sind im Übrigen keine Unkenrufe, wie es Bundesminister Schily bezeichnet hat.
({13})
Die Landesregierung Rheinland-Pfalz, die die Verantwortung für den Austragungsort Kaiserslautern trägt,
erklärte in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage, dass
sie sich darauf einstellt, das vorhandene Gleichwellenfunknetz durch ein modernes analoges Funknetz zu ersetzen. Die Planungen hierzu seien bereits abgeschlossen. Hier zeigt sich, dass eine Landesregierung, die nicht
von der CDU geführt wird, offensichtlich das Vertrauen
in die zügige Einführung des Digitalfunks verloren hat
und dies sogar öffentlich bekennt.
({14})
Ich will nicht darüber spekulieren, warum der erste
Entwurf des diesjährigen Bundeshaushaltes keinen Ansatz für den Digitalfunk aufweist.
({15})
Die Erklärung des Kollegen Veit in der Haushaltsdebatte, die Drucklegung des Haushaltes sei bereits vor
dem 26. Juni dieses Jahres erfolgt, möchte ich nicht weiter kommentieren.
({16})
Ich will nur darauf hinweisen - deswegen brauchen wir
auch unseren Bundesländern nicht den Marsch zu blasen -,
dass Hamburg und Baden-Württemberg für das nächste
Jahr bereits Mittel in die Finanzplanung eingestellt haben. Im Übrigen gilt das auch für das Land Berlin, das in
den nächsten zwei Jahren jeweils 10 Millionen Euro zur
Verfügung stellt.
({17})
Nordrhein-Westfalen hat die haushaltsmäßigen Voraussetzungen bereits geschaffen und Baden-Württemberg
und Rheinland-Pfalz sind gerade dabei, dies ebenfalls zu
tun. Deswegen ist das bemühte Argument der Totalblockade der Länder
({18})
inzwischen obsolet geworden. Wie die Innenminister aller Länder uns mittlerweile mitteilen, liegt die Blockade
beim Bund.
({19})
Auf die Berechnungsmodelle, deren es viele gibt,
und auf die Berechnungsansätze, deren es noch mehr
gibt, will ich im Detail gar nicht eingehen. Nur so viel:
Der Bund hat vorgeschlagen, einen Eigenanteil von
10 Prozent an den Gesamtkosten zu tragen.
({20})
Das bedeutet: Rechnet man die Rückflüsse der Umsatzsteuer dazu, dann liegt der effektive Anteil bundesweit
bei 3,1 Prozent. Das ist aus der Sicht von Finanzminister
Eichel, der einen desaströsen Haushalt zu verwalten hat,
natürlich ein gutes Ergebnis. Ich glaube aber nicht, dass
sich auch nur ein einziger Landesfinanzminister zu diesem Ergebnis bekennen würde und es akzeptieren
könnte. Die Länder werden dem Vorschlag in dieser
Form also nicht zustimmen können.
({21})
Daher ist zunächst einmal Bewegung aufseiten des Bundes angesagt. Ich fordere aber natürlich auch, dass es zu
einer Bewegung aufseiten der Länder kommt. Das Projekt liegt im nationalen Interesse und es kann nicht der
Föderalismus am Ende dafür sorgen, dass es ins Stocken
gerät.
({22})
Es ist notwendig, dass sich der Innenminister gegenüber dem Finanzminister durchsetzt. Die Einstellung
von Mitteln haben Herr Innenminister Schily und Herr
Parlamentarischer Staatssekretär Körper in der letzten
Haushaltswoche zugesagt. Im Innenausschuss wurden
gestern noch keine Beträge genannt. Ich weiß aber, dass
dem Finanzministerium zugeleitet worden ist, man wolle
in diesem Jahr 5 Millionen Euro in den Haushalt einstellen und in den nächsten beiden Folgejahren 200 Millionen Euro Verpflichtungsermächtigungen. Wenn die heutige Debatte diesen Betrag veranlasst hat, war es eine
sehr sinnvolle Debatte. Es wird ein gutes Signal gegeben,
({23})
jedenfalls dann, wenn der Finanzminister - Herr Parlamentarischer Staatssekretär Diller ist ja da - zustimmt.
Aber ich sage auch: Es löst nicht das Problem der Kostenverteilung, darüber wurde noch kein Einvernehmen
erreicht.
Ich betrachte es in diesem Zusammenhang schon als
ein Trauerspiel, wenn man beobachten muss, wie Hunderte von Millionen Euro wegen Unzulänglichkeiten bei
der LKW-Maut verloren gehen und andererseits Geld,
das wir für die innere Sicherheit und die Sicherheit unserer Bürger brauchen, nur so schwer zu erreichen ist.
({24})
Der Bundesinnenminister hat die Führungsverantwortung übernommen, ihm obliegt die Federführung.
Deswegen fordern wir Herrn Innenminister Schily auf,
mit den Ländern die notwendige Basis zu schaffen, damit der Digitalfunk jetzt endlich zügig eingeführt werden kann - im Interesse der Sicherheit der Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes und im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden.
Vielen Dank.
({25})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar von
Neuforn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Digitalfunk wurde übrigens schon im Jahre 2000 im Zuge
der Expo 2000 in Hannover außerordentlich erfolgreich
erprobt. So weit hinten ist Deutschland nun doch wieder
nicht.
Meine Damen und Herren, ich würde gern etwas sehr
Ernsthaftes sagen, damit wir hier nicht eine Debatte über
Technikdetails führen. Ich glaube, die CDU sollte sich
überlegen, ob jetzt wirklich der geeignete Zeitpunkt für
eine solche parlamentarische Auseinandersetzung ist.
({0})
Wir stehen kurz vor einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren
({1})
und ich glaube, die Politik wäre gut beraten, weil wir
Parlamentarier die Verantwortung für diesen Haushalt
tragen,
({2})
vor einem Ausschreibungsverfahren in einer öffentlichen Debatte nicht bereits mit Zahlen zu jonglieren und
damit eventuell die Kosten eines Ausschreibungsverfahrens in die Höhe zu treiben.
({3})
- Ich erlaube jetzt keine Zwischenfrage, ich möchte gern
mit meinen Ausführungen hier weitermachen.
Wir befinden uns, wie gesagt, in einem Ausschreibungsverfahren, in dem es um zwei Dinge geht. Einmal
soll über das Ausschreibungsverfahren die Systemfrage
geklärt werden. Wer sich etwas mit dem Thema befasst
hat, kennt die Situation und weiß, dass Bayern ein anderes Digitalfunksystem haben möchte als zum Beispiel
Niedersachsen. Wir haben die Auseinandersetzung um
zwei technisch mögliche Systeme, einmal Tetra Pol und
zum anderen Tetra 25. Auch hier soll über das Ausschreibungsverfahren eine Entscheidung gefunden werden.
Meine Damen und Herren, ich finde, Politik wäre gut
beraten, wenn wir die Kriterien für solche Ausschreibungsverfahren entsprechend fassen und nicht mit Vorinformationen in irgendeiner Weise versuchen, Einfluss
zu nehmen oder auch Hinweise zu geben, weil es exekutives Geschäft ist.
({4})
Wir haben alle ein Interesse daran, dass die Einführung
des Digitalfunks für Bund und Länder finanzierbar
bleibt.
Ich halte den Weg für richtig. Wenn man ausgeschrieben und sich für ein System entschieden hat, dann sollten sich Bund und Länder zusammensetzen.
({5})
- Ich habe Ihnen auch zugehört. Sie benehmen sich hier
wirklich wie die Lümmel von der ersten Bank.
({6})
Sie sind nicht in der Lage, zu akzeptieren, dass Ihnen
eine Frau von den Grünen ein Problem differenziert und
weniger populistisch versucht nahe zu bringen. Das geht
mir langsam auf die Nerven.
({7})
Ich finde es richtig, dass man nach dem Ausschreibungsverfahren und der Entscheidung für ein System die
Verhandlungen mit den Ländern aufnimmt und dann die
Kostenfrage klärt. Wir haben in der Bund-Länder-Finanzierung und auch mit der Finanzierung des analogen
Funksystems Erfahrung. Daher werden wir uns bei der
Aufteilung der Kosten zur Einführung des digitalen
Funksystems schon einigen.
Ein anderer Punkt. Wir sollten aufhören - ich sehe,
meine Redezeit läuft ab -,
({8})
in der Innenpolitik Symbol- und Eventpolitik zu betreiben.
({9})
Alle, die ein bisschen Ahnung haben, wissen, dass dies
eine ernsthafte Herausforderung ist. Für die WM 2006
brauchen wir erst einmal ein Sicherheitssystem ohne Risiken und ohne Experimente. An den WM-Standorten
wird keine verantwortliche Landespolizei für das Prestigedatum WM 2006 ein Digitalfunksystem fordern, das
zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift ist.
({10})
Für Niedersachsen zum Beispiel ist es viel wesentlicher,
dass Niedersachsen und Bremen im Zuge der Alltagskriminalität eng zusammenarbeiten können und die
Funkverbindung funktioniert.
({11})
In den Ländern und auf Bundesebene täten alle gut
daran, dafür zu sorgen, dass die Debatte versachlicht
wird. Digitalfunk eignet sich einfach nicht zur parteipolitischen Profilierung.
({12})
Wir müssen uns alle dafür einsetzen, dass wir möglichst
bald ein bezahlbares und gut funktionierendes digitales
Funknetz in Deutschland haben.
Für mich ist aufgrund der Kosten des Bundes Bedingung, dass nur die Länder zur Startergruppe zählen, die
nicht länger ein landeseigenes Digitalsystem einführen
wollen, das mit dem BGS-System nicht kompatibel ist.
Einen solchen Quatsch an föderaler Kleinstaaterei wird
unsere Fraktion nicht mitmachen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Gebiet, über das wir heute Abend reden, ist tatsächlich sehr ernst.
({0})
Ich erinnere Sie an das Hochwasser vom letzten Jahr.
Damals hätten wir mit einem digitalen Funksystem wesentlich mehr erreichen können.
({1})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Region:
Etwa 20 bis 30 Kilometer von der Schweizer Grenze
entfernt brannte eine Sporthalle. Nach Aussage der verantwortlichen Feuerwehrleute hätte vieles gerettet werden können, wenn wir ein entsprechendes Funksystem
gehabt hätten. Aber die Alarmierung der Schweizer Feuerwehr war viel zu kompliziert.
Heute befinden wir uns in einer Situation, die schier
unglaublich ist. In verschiedenen europäischen Ländern
wurden verschiedene Systeme eingeführt, die nicht miteinander kompatibel sind. Wenn ich richtig informiert
bin, sind wir neben Albanien das einzige Land, das noch
keine Entscheidung getroffen hat und noch nicht dabei
ist, ein System einzuführen. Das können wir uns
schlichtweg nicht leisten.
({2})
Nun ist völlig richtig: Wir haben die Schwierigkeit,
dass wir zwar deutschlandweit ein System einführen
wollen, aber um uns herum schon ein Flickenteppich besteht. Das zweite Problem sind die gewaltigen Kosten,
die auf uns zukommen. Ich zitiere dazu, lieber Herr
Staatssekretär Körper, Ihren Minister Schily:
Der Digitalfunk ist ein absolutes Muss und kein
kostspieliger Luxus.
Daran sollten wir uns halten.
({3})
Ich werfe der Bundesregierung vor, dass sie ihrer
Pflicht, initiativ zu werden, nicht nachkommt.
({4})
Lieber Herr Körper, wir hatten eine Kleine Anfrage gestellt. Auf sieben Fragen, darunter die Frage, ob mit der
Einführung des digitalen Funksystems die flächendeckende Erreichbarkeit auch der nichtpolizeilichen Behörden usw. gewährleistet ist, antwortete die Bundesregierung, das sei Sache der Länder und darauf könne sie
nicht antworten.
({5})
Dann lassen Sie es doch bleiben. Es kann doch nicht
sein, dass Sie zu inhaltlichen Fragen schlichtweg nichts
sagen können und darauf verweisen, das sei Sache der
Länder. Sie entziehen sich Ihrer Verantwortung.
({6})
- Ich sage Ihnen: Hier hat auch der Bund eine gewisse
Koordinierungsfunktion. Es gibt genügend andere
Fälle, bei denen wir vor großen Schwierigkeiten stehen.
Der Bundesinnenminister hat die Pflicht, die Entwicklung zu beschleunigen und alles daran zu setzen, dass es
zu einer Einigung kommt.
({7})
Ich sage Ihnen ein Zweites: Es kann nicht sein, dass
uns ein Bundeshaushalt vorgelegt wird, in dem für die
Einführung des Digitalfunks Mittel in Höhe von null
Euro angesetzt sind. Wir werden entsprechende Anträge
stellen. Das zeigt auch, dass die Bundesregierung nicht
wirklich willens ist, etwas zu tun.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Körper, wir erwarten von Ihnen erstens, dass Sie jetzt auf den Tisch legen,
welche Mittel im Haushalt eingestellt werden sollen, wir
erwarten von Ihnen zweitens, dass Sie uns jetzt in Ihrer
Rede sagen, welchen Terminplan Sie verfolgen, und wir
erwarten von Ihnen drittens, dass Sie uns sagen, in welchem Zeithorizont wir die Einführung eines bundesweiten Digitalfunksystems schaffen können. Das sind Sie
uns und den Bürgerinnen und Bürgern dieser Republik
schuldig.
({8})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
die Redebeiträge aus den Reihen der CDU/CSU und der
FDP gehört und komme zu einem einfachen Ergebnis:
({0})
Sie haben von dieser schwierigen Materie absolut keine
Ahnung.
({1})
Das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit. Sie wissen, dass
bei diesem schwierigen Projekt die Zahl von 50 Prozent
im Raum steht. 50 Prozent der Kosten soll der Bund
übernehmen. Einige Herren und Damen aus Ihren Reihen haben diese Forderung übernommen. Wer dies fordert, verhält sich gegenüber der Bundesregierung unverantwortlich,
({2})
denn es ist in keiner Weise zu rechtfertigen, dass bei dieser technischen Anlage 50 Prozent vom Bund zu übernehmen sind. Ich wüsste gerne, was Sie uns vorwerfen
würden, wenn wir die Bereitschaft dazu erklären würden. Denn man muss wissen, dass der Bund letztendlich
nur 8,5 Prozent der Endgeräte betreibt. An dieser Messlatte müssen wir uns bei der Verteilung der Kosten orientieren.
({3})
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Sie gehen in einer
unverantwortlichen Art und Weise mit Bundesinteressen
um.
Der zweite Punkt ist - das ist Ihnen wohl entgangen -,
dass es auch unter den Bundesländern selbst eine heftige
Debatte über die Kostenverteilung gibt, denn wir haben
es auf der einen Seite mit Flächenstaaten zu tun und auf
der anderen Seite mit Stadtstaaten. Wenn Sie sich einmal mit dieser Frage auseinander setzen würden, dann
würden Sie wissen, welch eine schwierige Situation für
die Technikentscheidung diesbezüglich entsteht, denn
Tetra Pol ist mehr für die Fläche und Tetra mehr für städtische Regionen geeignet. Da gibt es einen Konflikt und
den kann beispielsweise der Bundesinnenminister auch
nicht par ordre du mufti lösen, sondern die Länder müssen sich verständigen, wie sie mit dieser Frage umgehen.
({4})
Ich finde schon, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten versuchen, mit diesem Thema etwas
sachlicher umzugehen und nicht reflexartig Schuldzuweisung zu betreiben. Schauen Sie sich an, wie die Entscheidungen in Europa getroffen worden sind, auch diejenigen technischer Art: in Frankreich Tetra Pol, in
Dänemark Tetra. Deswegen ist es für Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein so schwer, sich zu entscheiden. Es wäre viel besser gewesen, wenn wir in Gesamteuropa eine einheitliche technische Entscheidung
gehabt hätten.
({5})
Das ist gar keine Frage. Aber dies war nicht zu erreichen.
({6})
Herr Binninger, schade, dass diese Chance verloren gegangen ist.
Ich will Ihnen noch etwas zu dem Thema Geld sagen:
Wir haben einen guten Maßstab. Analogfunk kostet
nämlich auch Geld. Wir wissen auch, dass das erstens
sehr viel Geld kostet, lieber Kollege Kemper. Sie kennen
sich in dieser Materie ein bisschen aus.
({7})
Wir wissen auch, dass die Ersatzteilbeschaffung für
Oldtimer in und auf der Zeitschiene eine sehr teure Angelegenheit wird.
({8})
Deswegen ist es dringend notwendig, dies zu tun.
Meine Damen und Herren, ich sage hier auch ganz
deutlich: Die Bundesregierung, der Bundesinnenminister hat auf diesem Gebiet bisher eine vorzügliche Arbeit
auch in der Vorbereitung der Ausschreibungsunterlagen geleistet. Da gibt es überhaupt nichts zu meckern.
Das sage ich Ihnen ganz deutlich.
Im Übrigen geht das nur miteinander, denn dieses
System und seine Einführung sind eine Bund-LänderSache. Es gibt 17 Beteiligte. Wir sind übrigens der Auffassung, dass der Langsamste hierbei nicht das Tempo
bestimmen darf.
({9})
Wir werden auch - das ist an diesem Punkt schon einmal deutlich gesagt worden - den Verpflichtungen nachkommen, die für den Haushalt 2004 anstehen werden.
Wir werden auch den Verpflichtungen nachkommen, die
sich für die Haushaltsjahre 2005 und 2006 ergeben werden. Denn wir sind der Auffassung, dass es notwendig
ist, dieses System einzuführen. Ich möchte auch keine
Abstriche an der Technik machen.
Richtig ist, dass es in diesem Bereich Kommunikationsprobleme technischer Art gibt. Das haben Großschadenslagen eindeutig gezeigt.
Genauso wichtig ist, denen, die nicht so in der Materie stehen, noch einmal deutlich zu machen, dass man
das nicht einfach per Handy über die entsprechenden
Netze machen kann, sondern dass wir für diesen Sicherheitsbereich eine entsprechende Technik, die uns auch
zur Verfügung steht, einführen und nutzen müssen.
Dies sollten wir anpacken. Wenn Sie die Gelegenheit
haben, in diesen Bund-Länder-Diskussionsprozess werbend einzuwirken, will ich Ihnen dazu gratulieren. Tun
Sie das! Ich bin der Auffassung, dass dieses Thema nicht
dafür geeignet ist, sich parteipolitisch zu streiten.
Schönen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete
Binninger das Wort.
Herr Kollege Körper, ich weiß nicht, was Sie erreichen wollen, wenn Sie eine Debatte mit dem Satz eröffnen: Sie haben alle keine Ahnung. Das bringt uns nicht
weiter.
Wir waren uns darüber einig, dass wir den Digitalfunk brauchen und dass der Analogfunk veraltet ist. Wir
waren uns darüber einig, dass wir ihn bald brauchen. Der
einzige Streitpunkt, in dem 16 Länder, egal wie regiert,
dem Bund gegenüberstehen, ist die Finanzierung.
Wenn Sie sagen, es gehe um 8,5 Prozent Endgeräte,
muss ich Ihnen vorhalten, dass Ihre Ahnung nicht allzu
groß ist. Bei den Kosten geht es nämlich zunächst um
das Netz. Da spielt die Zahl der Endgeräte noch keine
Rolle. Die Bundesdienststellen haben mehr Vorteile von
diesem Netz, weil sie dann durch das gesamte Netz miteinander funken können.
({0})
Der zweite Punkt betrifft die Summen, die hier im
Raume stehen. Sie sagen, wir würden unverantwortlich
handeln, wenn wir dem 50:50-Prozent-Finanzierungsvorschlag der Länder näher träten. Einmal davon abgesehen, dass Kollege Göbel das zu keinem Zeitpunkt gemacht hat, dass aber in diese Sache Bewegung kommen
muss, muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie einen 50-prozentigen Anteil übernehmen würden, müssten Sie pro Jahr
für ein modernes Funksystem der Polizei und des BGS
0,1 Prozent des Bundeshaushaltes investieren. 0,1 Prozent sind Ihnen zu viel? Das glaubt Ihnen in der Öffentlichkeit niemand mehr.
Ich will Ihnen aber sagen, wer blockiert. Es blockieren nicht die Länder, sondern es blockieren zwei Personen. Die eine will nicht, Finanzminister Eichel, und die
andere kann nicht, Innenminister Otto Schily.
Ich prophezeie Ihnen schon jetzt etwas: Wenn Otto
Schily so weitermacht, kann er bald zu Recht der
Manfred Stolpe der Innenpolitik genannt werden,
({1})
weil wir keinen Digitalfunk bekommen werden, auch
nicht im Jahr 2010.
Deshalb fordere ich Sie, Herr Staatssekretär Körper,
auf: Zwar muss vonseiten der Länder Bewegung in das
Vorhaben kommen, aber auch vonseiten des Bundes. Sie
müssen mehr als 10 Prozent der Kosten übernehmen,
sonst kommen wir keinen Schritt weiter. Diese Entscheidung kann nur der Bund treffen. Dafür müssen Sie sorgen, sonst werden wir den Digitalfunk nie bekommen.
({2})
Herr Staatssekretär, möchten Sie auf die Kurzintervention eingehen?
Ich sehe keine Veranlassung dazu.
({0})
Das steht jedem frei und es verkürzt auch unsere Sitzungsdauer etwas. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/1260 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ausschreibung
des BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/816 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung
des Ausschusses? - Die Gegenprobe! ({0})
- Nein. - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 15/1506 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatsministerin Christina Weiss das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! „Good bye, Lenin!“ ist ein Film, wie man ihn in
Deutschland gemeinhin nicht erwartet: erfolgreich im
Kino, beliebt beim Publikum, lukrativ für den Exporteur,
wegen seiner künstlerischen Qualität preisgekrönt und
Oscar-nominiert, aber dennoch staatlich gefördert. Er ist
ein Paradebeispiel unserer Filmförderung, die wir mit
dem heute eingebrachten Gesetzentwurf noch maßgeschneiderter, effektiver und leistungsstärker machen
wollen.
Denn der Erfolg von „Goodbye, Lenin!“ darf uns
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Lage der
deutschen Filmwirtschaft seit der letzten Gesetzesnovelle 1998 zugespitzt hat. Sie alle kennen die Ursachen
dafür: Die Börsen - vor allem der Neue Markt - haben
eine schmerzliche Talfahrt hinter sich. Das Eigenkapital
der Produzenten stagniert bei steigenden Produktionskosten. Viele Fernsehveranstalter verzichten auf Spielfilmproduktionen, während ihre Kosten für Werbung
und Filmkopien in den letzten Jahren auf mehr als das
Doppelte gestiegen sind. Kurz: Das risikoreiche Filmgeschäft ist zu einer Kletterpartie mit erhöhter Absturzgefahr geworden.
Das kann uns nicht gleichgültig sein. Immerhin beschäftigt die Filmwirtschaft in mehr als 8 000 Unternehmen rund 150 000 Menschen und hat trotz aller Probleme noch immer ein überproportional großes
Wachstumspotenzial von gut 6,6 Prozent.
Meine Damen und Herren, wir sind uns sicherlich darin einig, dass wir auch in der Filmbranche einen enormen Reformstau aufzulösen haben. Deshalb konzentriert sich der vorliegende Gesetzentwurf sowohl auf die
Verbesserung des Fördersystems als auch auf die Stärkung dessen finanzieller Basis.
Ich möchte drei Punkte hervorheben: erstens den Ausbau der Referenzfilmförderung. Auch wenn er Ihnen
bekannt ist, so muss dieser Begriff doch immer wieder
erklärt werden. Dahinter verbirgt sich ein Bonussystem
für Produzenten, denen es gelungen ist, wirtschaftlich
und künstlerisch erfolgreich zu arbeiten
({0})
und die in der Lage sind, Publikum ins Kino zu locken
oder auf Filmfestivals künstlerisch zu reüssieren.
Zweitens. Das neue Filmförderungsgesetz wird die
Förderstruktur neu gewichten. Die Mittel für die Absatzförderung steigen um 110 Prozent auf 14,5 Millionen Euro.
({1})
Die Produktionsförderung erhält 40 Prozent mehr Geld,
also 17,5 Millionen Euro.
({2})
Die Kinoförderung - vielleicht hören Sie hier mit besonderer Aufmerksamkeit zu - wird um 20 Prozent auf über
4 Millionen Euro aufgestockt.
({3})
Drittens. Da der deutsche Film international zu bescheiden auftrifft, wollen wir mit unserer Novelle dafür
sorgen, dass unsere Produktionen im Ausland bekannter
werden. Mit „Nirgendwo in Afrika“ und mit „Good bye,
Lenin!“ ist das gelungen. Die jüngste Erfolgsmeldung
kommt übrigens aus Frankreich. Dort hat „Good bye,
Lenin!“ am ersten Wochenende 120 000 Besucher in die
Kinos gelockt.
({4})
Unser Ziel ist, diesen Erfolg für den Ausbau des Filmexportgeschäftes zu nutzen.
Das alles ist nur möglich, wenn wir die Mittel für die
Filmförderungsanstalt erhöhen. Niemand hätte es geglaubt, dass es meinem Haus und mir in diesen schwierigen Zeiten gelingen wird, die finanzielle Basis der
Filmförderungsanstalt um rund 40 Prozent aufzustocken, also von 46,2 Millionen Euro auf 64,7 Millionen Euro.
Doch genau das ist gelungen.
({5})
Ich danke an dieser Stelle ganz besonders den Fernsehveranstaltern, die ihre Leistungen verdoppeln werden
und künftig rund 22,4 Millionen Euro zur Verfügung
stellen werden. Diese Verdoppelung entspricht bei den
öffentlich-rechtlichen Veranstaltern etwa 7 Prozent des
Kinofilmetats. Sie sind also faire Verhandlungspartner.
Da diese Summe nicht ausreichen würde, um unser
ambitioniertes Ziel zu erreichen, sieht die Novelle auch
eine maßvolle Erhöhung - ich betone: maßvolle - der
Film- und Videoabgabe vor. Wie Sie wissen, gibt es
darüber derzeit Unmut bei den Kinobetreibern, aber
auch eine Reihe von Missverständnissen. Worum geht es
wirklich? Es geht um eine Abgabe, die wir um genau
3 Cent - ich betone: 3 Cent - pro verkaufter Kinokarte
erhöht haben. Davon zahlen die Kinobetreiber etwa die
Hälfte. Die andere Hälfte zahlen die Verleiher. 1,5 Cent
mehr für die Zukunft des deutschen Films nenne ich moderat. Ich glaube nicht, dass man deswegen unsere Verfassungsrichter bemühen muss, wie das manche planen.
({6})
Zum Vergleich: In Frankreich beträgt die Abgabe auf
jede verkaufte Kinokarte 11 Prozent. Wir erreichen
- und das nach der Anhebung - gerade einmal
2,7 Prozent vom Bruttoumsatz. Vergessen Sie nicht: Die
Kinoabgabe ist das Herzstück der Filmförderung in ganz
Europa!
Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung.
Obwohl wir mit der FFG-Novelle die wirtschaftlichen
Instrumente der Filmförderung im Blick haben, wird
sich mein Haus weiterhin auch und gerade denjenigen
Filmen widmen, die künstlerisch besonders ambitioniert
und innovativ sind und die nicht immer auf Anhieb ein
großes Publikum erreichen können. Wie Sie wissen,
kann nicht jeder gute Film ein Kassenschlager werden.
Mit unserer Gesetzesnovelle wollen wir aber dafür sorgen, dass Kassenschlager in jedem Fall auch gute Filme
sind. Unterstützen Sie uns bitte dabei!
Vielen Dank.
({7})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete
Bernd Neumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Lage des deutschen Films mit einem durchschnittlichen
Marktanteil zwischen 10 und 15 Prozent in den Kinos ist
nach wie vor unbefriedigend.
({0})
Darüber können auch die beiden letzten großen Einzelerfolge - der Oscar für „Nirgendwo in Afrika“ und die
6 Millionen Zuschauer, die „Good bye, Lenin!“ gesehen
haben - nicht hinwegtäuschen. Frau Weiss selbst hat soeben festgestellt, dass sich die Lage der deutschen Filmwirtschaft zuspitze.
Nun soll mit der Novellierung des Filmförderungsgesetzes - so Ihre Aussagen, Frau Weiss - ein neuer Schub
für den deutschen Film erfolgen. Vorweg muss man erst
einmal feststellen, dass die Hauptprobleme des deutschen Films weniger in der Filmförderung als vielmehr
in den darüber hinausgehenden Rahmenbedingungen
für Filmproduzenten liegen, die in Deutschland deutlich schlechter sind als in vielen anderen Ländern. Stichworte wie „Behinderung internationaler Koproduktionen
durch den Medienerlass des BMF“, „unzureichende Finanzierung deutscher Produktionen aus Medienfonds“,
„Vernachlässigung von Interessen der Filmwirtschaft im
Zusammenhang mit dem Urheberrecht“ und „fehlende
steuerliche Anreize“ rufen in Erinnerung, dass die von
der Bundesregierung - unter anderem in mehreren
Bündnissen für den Film - seit langem zugesagten Verbesserungen bisher nicht eingetreten sind. Dabei sind
nach meiner Meinung die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Films und die von mir genannten
Punkte viel wichtiger als die Änderung von Paragraphen
im Filmförderungsgesetz.
({1})
Im Übrigen hat meine Fraktion diese Rahmenbedingungen zum Gegenstand einer Großen Anfrage gemacht; die Antwort darauf liegt jetzt vor. Obwohl die
Debatte erst im November stattfindet, möchte ich bereits
jetzt feststellen, dass die Antwort der Bundesregierung
- das werden Sie dann auch noch von der Filmwirtschaft
hören - völlig unbefriedigend ist. Das heißt, die versprochene Lösung der für die Filmwirtschaft entscheidenden
Probleme bleibt weiterhin offen.
Ich komme nun zum Filmförderungsgesetz, das im
ganzen System der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr als
eine Säule darstellt. Lassen Sie mich hier eine grundsätzliche Bemerkung machen, auch wenn ich meinen Kollegen Otto von der FDP damit erneut provoziere: Ohne
Förderung, die im Übrigen zu einem beträchtlichen Teil
von der Filmwirtschaft selbst und - das gilt für den größten Anteil - von den Bundesländern getragen wird, gäbe
es den deutschen Kinofilm praktisch nicht.
({2})
Da es sich beim Kinofilm um ein wichtiges öffentliches
Kulturgut handelt, ist die öffentliche Förderung wie bei
anderen Kulturgütern voll berechtigt.
Vergleichen wir die jährliche Zahl der Kinobesucher,
die sich deutsche Filme anschauen, mit der Zahl der
Theaterbesucher in Deutschland: Sie ist mit circa
20 Millionen in etwa gleich. Vergleichen wir allerdings
die öffentlichen Subventionen, so ist die Summe der
Subventionen für die Theater in Deutschland mit circa
2 Milliarden Euro um ein Vielfaches höher als die
Summe von knapp 150 Millionen Euro für den deutschen Film. Ich sage nicht, dass die Theater genug Geld
haben; ich mache nur deutlich, dass die These, die deutsche Filmwirtschaft werde über Gebühr subventioniert,
angesichts anderer Subventionen nicht richtig ist.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf, den Sie preisen
- dazu sind Sie allein qua Amt verpflichtet -, enthält
Licht und Schatten.
({4})
Frau Weiss, ich stelle deswegen fest: Es ist nicht der
große Wurf; aber er kann es in Anbetracht objektiver
Tatbestände wahrscheinlich auch nicht sein. Positiv ist
unter anderem zu erwähnen, dass die Kapitalkraft von
Produzenten mit dem neuen Gesetz gestärkt wird. Es
gibt Möglichkeiten längerfristiger Kapitalaufstockung
durch die FFA. Außerdem gibt es Zwischenfinanzierungsgarantien. Das alles sind sehr wichtige Instrumente, die den Produzenten das Leben erleichtern.
Die Reduzierung des Rechterückfalls im Verhältnis
von Fernsehen und Produzenten von sieben auf fünf
Jahre ist ebenfalls zu begrüßen. Allerdings höre ich, dass
sich die privaten Fernsehanstalten dagegen noch wehren;
insofern müssen wir sehen, was daraus wird. Zu bedauern ist auch - das werden Sie gleichermaßen tun -, dass
das nur für von der FFA geförderte Filme gilt, nicht für
die anderen. Aber immerhin: Dies ist besser als gar
nichts.
Nun zu den Mittelerhöhungen: Staatsministerin Weiss
stellte eben als besonderen Erfolg heraus, dass das
Bernd Neumann ({5})
Fördervolumen der Filmförderungsanstalt voraussichtlich um über 40 Prozent erhöht werde. Unabhängig
davon, ob diese Erhöhung am Ende tatsächlich erreicht
wird - ich bezweifele das -, muss ganz sachlich festgestellt werden, dass dies wahrlich keine besondere Leistung der Bundesregierung darstellt, sondern dass im Wesentlichen andere - per Gesetz oder per Vertrag - dazu
angehalten werden, mehr zu zahlen, damit mehr in die
Kasse kommt. Ich finde das nicht schlecht; aber es ist
keine besondere Leistung der Bundesregierung, wenn
andere mehr zahlen.
({6})
Im Gegensatz zum Fernsehen, das seinen Beitrag zur
Filmförderung im Rahmen einer so genannten freiwilligen Vereinbarung erbringt, müssen Kino- und Videowirtschaft eine gesetzlich fixierte Abgabe leisten. Es ist
nachvollziehbar, dass die Ungleichbehandlung zugunsten des Fernsehens von der Filmwirtschaft beklagt wird.
Sie haben das jüngste Gutachten des HDF angesprochen.
Darin wird diese Praxis sogar als verfassungswidrig festgestellt. Ich will das jetzt aber nicht im Einzelnen werten. - Umso wichtiger ist es deshalb, dass der so genannte freiwillige Beitrag der Fernsehanstalten in einem
angemessenen Verhältnis zu der Höhe der Zwangsabgabe der Kino- und Videowirtschaft steht.
Nach dem durch Staatsministerin Weiss veröffentlichten Verhandlungsstand - das haben wir noch nicht
schriftlich; sie hat es eben noch einmal mündlich dargestellt - sieht es so aus, dass der öffentlich-rechtliche
Rundfunk seinen jährlichen Beitrag von zurzeit
5,5 Millionen Euro ab 2005 verdoppeln will. Einerseits
ist erfreulich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk
überhaupt zu einer Erhöhung seines Beitrags veranlasst
werden konnte - das haben Sie, Frau Weiss, durch Zähigkeit in den Verhandlungen sicherlich ein Stück mit
bewirkt -, andererseits ist die Summe von
11 Millionen Euro, selbst wenn man die höheren Leistungen des Fernsehens bei den Filmförderungen der Länder einbezieht, im Hinblick auf die jährliche Gebühreneinnahme von 6,5 Milliarden Euro
({7})
verschwindend gering, wenn man bedenkt, in welch hohem Maße das Fernsehen vom deutschen Kinofilm profitiert. Deshalb habe ich volles Verständnis, wenn die
Kino- und Videowirtschaft den Beitrag des Fernsehens
im Verhältnis zu ihrem Beitrag, auch nominal, nicht für
ausreichend hält. Auf keinen Fall - da sind wir uns
einig - kann die Wiedereinführung der Fernsehbindung
der Abgaben von ARD und ZDF - das Geld wird indirekt letztlich nur für das Fernsehen ausgegeben - akzeptiert werden.
Das Ergebnis der Verhandlungen mit den privaten
Fernsehanstalten, Frau Weiss, ist im Augenblick noch
völlig vage. Normalerweise müssten diese ihren Beitrag
von jetzt 5,5 Millionen Euro ebenfalls verdoppeln. Dies
wird aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten der privaten Sender nicht möglich sein. Deshalb soll ihr Beitrag
durch Sachleistungen, das heißt durch Werbung für Kinofilme, erbracht werden. Aber die Konkretisierung ist
bisher nicht erfolgt. Im Übrigen: Diese Summe, die in
Form von Werbung geleistet wird und nicht in Form von
Fördermitteln fließt, haben Sie bei der Erhöhung gleich
mit eingerechnet.
Abschließend will ich Ihnen noch etwas sagen, liebe
Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, die Sie ja den Beitrag der Staatsministerin pflichtgemäß mit Beifall bedacht haben.
({8})
- Ich habe das gar nicht kritisiert. Wenn Sie Ihre Pflicht
erfüllen, ist das gut.
({9})
- Gut. - Wenn man bedenkt, dass der Vorgänger von
Frau Weiss - Sie erinnern sich vielleicht gar nicht mehr
an ihn;
({10})
sie hatte ja mehrere Vorgänger -, Staatsminister NidaRümelin, noch in seinem Zwischenbericht des letzten
Jahres davon ausging, dass das Fernsehen circa
40 Millionen Euro zusätzlich erbringen soll - jetzt sollen
es 5,5 Millionen mehr sein -, relativiert sich das jetzige
Verhandlungsergebnis.
Ganz wichtig ist - ich hoffe, da sind wir uns einig -,
dass das Verhandlungsergebnis in jedem Fall verankert,
per Unterschrift besiegelt werden muss, bevor wir die
Änderung des Filmförderungsgesetzes verabschieden,
damit auch jeder sichergehen kann, dass die Leistungen
erfolgen.
({11})
In der neuen Fassung des FFG ist eine Erhöhung der
Abgabe der Kino- und Videowirtschaft festgelegt,
zum Teil um bis zu 33 Prozent. Sie sagen: 3 Cent pro Kinokarte ist nicht viel. - Wenn man die Gesamtsumme in
Millionen oder auch den Einzelfall betrachtet, beträgt
die Erhöhung aber 33 Prozent. Das macht wohl insbesondere den vielen kleinen und mittelständischen Kinobetreibern sehr zu schaffen, die sich aufgrund der derzeitigen Entwicklung ohnehin in einer Existenzkrise
befinden. Frau Weiss, wenn Sie den heutigen Wirtschaftsteil der „Welt“ lesen, dann stellen Sie fest, dass
selbst ein großer Kinobetreiber in Bedrängnis gerät. Es
kann nicht der Sinn sein, durch die Erhöhung der Abgabe dazu beizutragen, dass insbesondere in kleinen und
mittleren Städten der ohnehin stattfindende Prozess des
Kinosterbens noch gefördert wird. Deswegen werden
wir, auch bei dem Hearing, sehr sorgsam darauf achten,
dass das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Herr Kollege Neumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?
Das wird mir ja von der Redezeit nicht abgezogen.
Nein, nein. Wir stoppen das ganz präzise.
({0})
Manches vergisst man, Herr Kollege.
Lieber Herr Kollege Neumann, sagen Sie doch bitte,
wie Sie auf diese 33 Prozent kommen. Selbst mit den allertollsten Rechenkünsten kann ich nicht auf eine Erhöhung von 33 Prozent pro Kinokarte kommen, nicht einmal bei mittelständischen Kinos. Ich wohne in einer
Kleinstadt, in der es zu meiner Freude noch ein Kino
gibt. Da kostet der Eintritt etwa 8 Euro. Wenn ich 3 Cent
aufschlage, komme ich nie und nimmer auf 33 Prozent.
Da wird der Kartenpreis nicht gleich um 3 Euro erhöht
werden.
Sehen Sie, Frau Kollegin, ich habe nur die Abgabe
gemeint, Sie aber haben die Erhöhung auf die ganze Kinokarte bezogen. Nach den Grundrechenarten kann man
nur die Summe als Bezug nehmen, um die es geht. So ist
es überhaupt nicht streitig - auch Frau Weiss wird es
nicht bestreiten -, dass Ihr Vorhaben dazu führt, dass die
Abgabe, deren Höhe jetzt zwischen 1,5 und 2 Prozent
liegt, um 1 Prozentpunkt steigt. Das entspricht einer Erhöhung der Abgaben um bis zu 33 Prozent. Ihren Kollegen, die jetzt nicken, bin ich dankbar, dass sie meine
Aussage bestätigen.
({0})
- Das sagen Sie. Ihre Frage habe ich damit beantwortet.
Ich will jetzt nicht viel zu den Gremien sagen, Frau
Weiss. Vor fünf Jahren haben wir in Bonn im Plenum
ebenfalls das Filmförderungsgesetz diskutiert und waren
uns einig, dass die Gremien eher verschlankt werden
sollten, indem die Zahl der Mitglieder verringert wird.
Mit dem, was jetzt vorliegt, wird an manchen Stellen leider das Gegenteil bewirkt. Sie wollen einen Filmrat einführen. Es gibt schon genug Räte im Bereich des deutschen Films; das ist überflüssig. Sie wollen die
Gremienzahl erhöhen. Wir werden darüber im Einzelnen
im Ausschuss reden. Ich halte es für falsch, in Zeiten, da
man über Entbürokratisierung und Entschlackung von
Gremien spricht und es eine Krise in der Filmwirtschaft
gibt, nun noch die Zahl der Gremien zu erhöhen.
({1})
Eine letzte Bemerkung zur Referenzförderung: Die
vorgesehene Veränderung bei der Referenzförderung ist
prinzipiell zu begrüßen. Dass dabei insbesondere die den
Zuschauererfolg ergänzenden Kriterien wie Festivalerfolge berücksichtigt werden sollen, ist gut. Die Einbeziehung der Prädikate der Filmbewertungsstelle - Frau
Kollegin Schröter, wir haben schon einmal darüber gesprochen -, die den kulturellen Aspekt der Filmförderung besonders garantiert, sollte aus unserer Sicht beibehalten und nicht abgeschafft werden.
Wenn auch bei der Referenzförderung die Einbeziehung kultureller Kriterien außerordentlich wichtig ist, so
muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die
Referenzförderung primär wirtschaftliche Filmförderung
ist, bei der der Zuschauererfolg honoriert werden soll.
Insofern ist die Überlegung richtig, die Schwelle bei der
Referenzförderung zu erhöhen. Wir müssen aber während des Hearings da noch einmal nachfragen. Ich höre,
dass die große Mehrheit der Branche dieser Erhöhung
kritisch gegenübersteht; insbesondere die Kreativen befürchten, dass sie dann nicht ausreichend Förderung bekommen.
Weil meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich einen
letzten Satz sagen: Meine Damen und Herren, es sind
noch eine Reihe von Einzelfragen zu klären. Wir werden
das beim Hearing am 15. Oktober tun. Ziel sollte es sein,
am Ende das neue Filmförderungsgesetz ausschließlich
unter Sachgesichtspunkten und ebenso wie das letzte mit
großer Mehrheit zu beschließen. Ein von breiter Mehrheit getragenes Fundament für die Filmförderung der
nächsten fünf Jahre wäre der beste Dienst, den wir dem
deutschen Film erweisen können. Wir sind dazu bereit.
({2})
Über die letzten Sätze in Parlamentsreden könnte man
auch einmal eine Doktorarbeit schreiben. Da gibt es
viele Varianten.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Mocca-Fix? - Ham wa nich mehr. - Filinchen-Knäcke? Nicht mehr im Angebot. - Und Spreewaldgurken? Mensch, Junge, wo lebst du denn? Wir haben jetzt die DMark und da kommst du mir Mocca-Fix und Filinchen!“
- Erkannt? Ja, das war aus „Good bye, Lenin!“, dem
deutschen Erfolgsfilm des Jahres, gefördert von der
Filmförderungsanstalt.
„Katharina die Große hetzt während der Proben zu ihrem eigenen Theaterstück umher; die Familie des letzten
Zaren sitzt - unbeirrt von der heranrollenden Revolution gemeinsam am Tisch und diniert; Hunderte von Gästen
tanzen Walzer beim letzten großen königlichen Ball von
Claudia Roth ({0})
1913 …“ Kommt Ihnen diese Szene auch bekannt vor?
Wahrscheinlich nicht so bekannt wie die aus „Good bye,
Lenin!“. Sie stammt aus „Russian Ark“ vom russischen
Regisseur Alexander Sokurov, produziert von der deutschen Egoli-Tossell-Film aus Berlin, gefördert von
- richtig! - der Filmförderungsanstalt.
({1})
Was mich - wie Christina Weiss - aber besonders
freut, ist der große Erfolg von beiden Produktionen im
Ausland. Deutsche Filmplakate auf den Champs-Élysées
und gemeinsame Produktionen mit Russland sind bislang ein eher seltenes Bild. Das gilt auch für die Premiere von „Luther“ in den USA in dieser Woche. Von
solchen Ereignissen brauchen wir mehr. Wir wünschen
uns deutsche Filme, die mitten ins europäische und auch
ins außereuropäische Herz treffen.
({2})
Der Erfolg macht deutlich, dass wir uns mit diesen
wunderbaren Filmen im internationalen Vergleich
nicht zu verstecken brauchen. „Nirgendwo in Afrika“
und „Rosenstraße“, übrigens von zwei Regisseurinnen,
seien hier stellvertretend als weitere Beispiele genannt.
Dennoch gibt es große Probleme in der Branche. Es
besteht Reformbedarf. Der deutsche Film braucht - da
sind wir uns alle einig - eine starke regionale und bundesweite Förderung, um sich im Wettbewerb mit internationalen Produktionen messen zu können.
({3})
Mit der anstehenden Novellierung des Filmförderungsgesetzes wollen wir die Chancen des deutschen
Films im internationalen Wettbewerb verbessern und
eine positive Außendarstellung erreichen. Mit einer verstärkten Referenzförderung werden wir wirtschaftlichen Erfolg und Auszeichnungen bei Festivals zukünftig
stärker berücksichtigen. Wir sind uns wohl der Schwierigkeit bewusst, die Balance zwischen dem künstlerischen und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Filmes zu
halten. Ökonomische Faktoren dürfen beim Kunstwerk
Film nicht den künstlerischen Anspruch verdrängen. Sie
sind aber auch nicht zu ignorieren. Sie stehen auch nicht
notwendigerweise im Widerspruch dazu.
Deshalb haben wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf dafür gesorgt, dass insbesondere Erstlings-, Dokumentar- und Kinderfilme weiterhin breit in den Genuss
von Fördermitteln kommen. Darüber, ob die Zahlen nun
der Weisheit letzter Schluss sind, kann man sicher noch
einmal reden; hier sehe auch ich noch Beratungsbedarf.
Ich denke, dass zum Beispiel auch beim Kurzfilm noch
nachzubessern ist.
Eine vielfältige Filmförderung ist für uns bei der
FFG-Novelle wichtig und steht weiterhin im Vordergrund. Aber Filmförderung braucht Geld. Deswegen
freue ich mich, dass insgesamt mehr Geld für die Filmförderung bereitgestellt wird. Das Fördervolumen der
Filmförderungsanstalt steigt insgesamt um 40 Prozent.
Das ist für die Branche ein wichtiges Signal.
Aus den Reihen der Filmwirtschaft gibt es Bedenken
gegenüber der Novelle, die wir ernst nehmen. Wir sind
mit den Betroffenen im Dialog über die Referenzförderung, über Leistungskriterien, über die Bewertung von
Festivals, über die Rolle und den Beitrag des Fernsehens.
Auch wir haben noch Kritikpunkte:
({4})
Während Produzenten, Filmtheater oder die Videowirtschaft gleich mit mehreren Verbänden im Aufsichtsrat
der Filmförderungsanstalt vertreten sind, sind weder
der Verband Deutscher Drehbuchautoren noch der Bundesverband der Fernseh- und Filmregisseure in Deutschland oder die Kurzfilmer dort mit Sitz und Stimme vertreten.
({5})
Diese Erweiterung des Aufsichtsrats - dabei geht es um
Kreativität, Herr Otto - erscheint uns sinnvoll und dringend nötig. Das erscheint uns jedenfalls sinnvoller als
die Schaffung eines neuen Gremiums wie des geplanten
Deutschen Filmrats.
Insgesamt, denke ich, konnten wir einen ausgewogenen Entwurf vorlegen, der vor allem dem deutschen
Film nachhaltig zugute kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wir auch künftig „Good bye, Lenin!“ sagen können, einen „impotenten
Mann fürs Leben“ suchen dürfen und „Der alte Affe
Angst“ und „Herr Wichmann von der CDU“ uns genauso
begegnen wie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“,
brauchen wir ein Filmförderungsgesetz, das Außenseiter
genauso fördert, wie es Publikumserfolge belohnt. Dafür
werden wir sorgen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle explizit Christina
Weiss für ihre nachhaltige, konsequente, manchmal
zähe, kompetente Leidenschaft für den deutschen Film
danken.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Otto.
({0})
Liebe Frau Kollegin Roth! Schon die Kürze der mir
zur Verfügung stehenden Zeit - drei Minuten - verbietet
es mir, diese Eloge auf die Filmförderung fortzusetzen.
({0})
Das wäre auch der Rolle der FDP und meiner Person in
der Filmpolitik nicht zuträglich. Aber um die Feierstunde für den deutschen Film hier nicht zu stören,
Hans-Joachim Otto ({1})
möchte ich ausdrücklich erklären, dass drei der vier
Ziele, die die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf
verfolgt, auch von uns unterstützt werden:
({2})
die Verbesserung der Außenrepräsentanz, die Neugewichtung der Förderungsbereiche und vor allen Dingen
die Verbesserung des Förderungssystems.
({3})
- Jetzt kein Aber.
Das Letzte - die Verbesserung des Förderungssystems - ist am wichtigsten. Die stärkere Gewichtung der
Referenzfilmförderung - Frau Dr. Weiss hat darauf hingewiesen - belohnt den Erfolg und ist sozusagen ein
marktwirtschaftliches Element. Wir Liberalen sind natürlich immer für eine Stärkung des Marktes.
({4})
Meine Damen und Herren, hier setzt meine konstruktive Kritik ein. Wie man das vierte Ziel - die Erhöhung
der Einnahmen der FFA, also die Erhöhung der Umlagen, der Subventionen - damit verbinden will, ist schon
erstaunlich. Mehr Markt durch höhere Subventionen das hört sich fast so an, als wollte man den Teufel mit
dem Beelzebub austreiben.
({5})
Das geht schlecht zusammen.
({6})
Wir alle wollen den deutschen Film fördern. Aber wir
können doch nicht jedes Mal 50 Prozent mehr Subventionen verteilen. Sie haben „Good bye, Lenin!“ und andere Filme erwähnt. Der Erfolg des deutschen Filmes
wächst aber nicht mit der Höhe der Subventionen; das ist
leider nicht der Fall.
Wir haben inzwischen eine Förderhöhe - Frau
Griefahn, wenn Sie mir Ihr geschätzes Ohr leihen würden - pro Kinokarte deutscher Film von rund 12 Euro.
Das ist mehr, als die Karte kostet. Bereits heute werden
rund zwei Drittel der Kosten der deutschen Filme über
öffentliche Abgaben bestritten. Wollen wir diesen Anteil
jetzt noch erhöhen? Wir sind an einer Grenze angekommen. Der Kollege Neumann hat völlig Recht: Wir müssen in erster Linie die Rahmenbedingungen stärken.
({7})
- Das hat er schon gesagt.
({8})
Wir dürfen uns nicht darauf versteifen, die Abgaben zu
erhöhen.
Ich möchte in der Kürze der Zeit noch einen zweiten
Kritikpunkt ansprechen. Der Deutsche Filmrat ist
schon ein tolles Ding. Film 20 hat ihn als „die überraschende Supernova“ des Regierungsentwurfes bezeichnet. Wir haben so viele schöne, glamouröse Gremien:
das Bündnis für den Film, die Filmakademie, die FFA
usw. Jetzt kommt dieses tolle Gremium hinzu. Da fragt
sich der geneigte Leser: Was soll denn das?
Im Gesetzentwurf steht:
Der Deutsche Filmrat hat insbesondere die Aufgabe, grundsätzliche Fragen der Filmpolitik und der
öffentlichen Förderung des deutschen Films zu beraten …
Meine Damen und Herren, das ist unsere Aufgabe hier
im Parlament. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen.
Wir können sie nicht an irgendeinen Filmrat delegieren.
17 Mitglieder soll der Filmrat haben. Der Deutsche
Bundestag, der zuständig wäre, benennt ein einziges: einen Jubelperser von der Koalition.
({9})
Nicht einmal die Opposition ist vertreten. Und da sollen
die „grundsätzlichen Fragen der Filmpolitik“ geklärt
werden!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, lassen Sie uns diese Tendenz der Entparlamentarisierung stoppen!
({10})
Wir sind für die Bedingungen des deutschen Filmes verantwortlich. Wir müssen uns dem stellen.
Liebe Frau Präsidentin, da meine Redezeit zu Ende
ist, mein letzter Satz: Auch wir Freien Demokraten werden unseren Beitrag in der Debatte leisten, um den deutschen Film zu stärken. Wir werden uns konstruktiv an
den Debatten und insbesondere an der Anhörung am
15. Oktober beteiligen. Am Ende werden wir sehen, ob
wir das große Ziel erreichen: einen gemeinsamen, von
allen Fraktionen getragenen Gesetzentwurf. Wir sind zu
dieser Auseinandersetzung und dieser konstruktiven Zusammenarbeit bereit.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über den deutschen Film wird wieder gesprochen, nicht
nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in diesem Hohen
Hause. Der deutsche Film hat es verdient.
Auch wenn ich hier als Letzte spreche, möchte ich
noch einmal die wichtigen Filme, die in diesem Jahr gelaufen sind und die es verdient haben, dass man immer
wieder über sie spricht, benennen.
({0})
Denken wir an den Oscar für „Nirgendwo in Afrika“ - es
wäre doch schlimm, wenn wir dies heute nicht erwähnt
hätten -, denken wir noch einmal an „Good bye,
Lenin!“ - ich wäre traurig, wenn ich das nicht hätte sagen dürfen, auch wenn das bereits alle meine Vorrednerinnen und Vorredner getan haben - oder auch an den
Film „Rosenstraße“ von Margarethe von Trotta, der in
Venedig sehr viel Beachtung gefunden hat und für den
Katja Riemann den Preis für die beste Darstellerin bekommen hat. Ich gratuliere ihr dazu, ich finde das toll.
({1})
Auch die Gründung der Deutschen Filmakademie ist
auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Ich wünsche der
Filmakademie viel Erfolg. Noch ist sie ein sehr zartes
Pflänzchen, das keineswegs unter Artenschutz steht. Ich
hoffe, dass sie zur Stärkung des deutschen Films im Inland und Ausland beitragen wird.
Alle diese Beispiele sind für mich ein Zeichen gewachsenen Selbstbewusstseins des deutschen Films.
({2})
Darüber freue ich mich ganz besonders; denn ein gesundes Selbstbewusstsein ist die beste Voraussetzung für einen stabilen Erfolg. Die Lage des deutschen Films lässt
sich eben nicht nur mit der Entwicklung von Marktanteilen beschreiben. Sicherlich waren die Besucherzahlen in
den Kinos in diesem Supersommer nicht berauschend
und sicherlich müssen wir hellwach sein, was die zunehmende Internetpiraterie angeht. Ich denke aber, es hat
sich eine Menge bewegt.
Wie sah es denn bis 1998 aus, liebe Kolleginnen und
Kollegen? - Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern:
Da wurde zum Beispiel der Filmpreis vom Innenminister, gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit,
vergeben
({3})
und das Filmförderungsgesetz wurde im Innenausschuss
beraten.
({4})
- Hören Sie mir doch einmal weiter zu! - Heute haben
wir einen Ausschuss, der sich schwerpunktmäßig mit
dem Film befasst.
({5})
Am 15. Oktober werden wir in diesem Ausschuss
eine große Anhörung zur Novellierung des Filmförderungsgesetzes durchführen. 18 Branchenexperten werden uns Rede und Antwort stehen; das wird eine Mammutveranstaltung. Es haben sich noch viel mehr
Experten gemeldet, die sich hier einbringen wollen. Ich
hoffe, alle werden dazu beitragen - ich gehe davon
aus -, dass wir diese Novelle so gestalten, dass wir damit
das Beste für den deutschen Film herausholen können.
Ich möchte an die Branchenexperten appellieren, dass
sie dann nicht ihre Brancheninteressen regieren lassen,
sondern im Gesamtinteresse des deutschen Films agieren
werden - das ist für mich im Hinblick auf diese Anhörung eine ganz wichtige Bitte -,
({6})
genau so wie es beim hier vorliegenden Gesetzentwurf
der Fall ist. Die Beauftragte der Bundesregierung hat
hier, denke ich, wirklich eine gute Arbeit geleistet.
({7})
Jetzt kommt es darauf an, wie wir weiter damit umgehen.
Die Ergebnisse der Gespräche im Bündnis für den
Film sind also in den Gesetzentwurf eingeflossen. Ich
möchte daran erinnern, dass natürlich auch diese Bündnisgespräche, an denen so viele beteiligt waren, nicht
immer alle befriedigen konnten. Die Ergebnisse sind immer wieder auf Kritik gestoßen, was bei dieser großen
Beteiligung auch kein Wunder ist. Sie sind aber auch
Grundlage für die heutige Novelle.
Uns liegt ein Gesetzentwurf vor - ich möchte das
noch einmal zusammenfassen -, der die Fördermittel
um ein Drittel erhöht, der die Produzenten und damit die
Filmwirtschaft als Ganzes stärkt, der klare Anreize für
erfolgsorientiertes Filmschaffen setzt, der Erfolg nicht
nur als Erfolg an der Kinokasse definiert, sondern zugleich kulturelle Kriterien mit einbezieht, der den
Filmabsatz kräftig stärkt, der auch die Kreativen stärker
einbezieht und der die Nachwuchsförderung ernst
nimmt.
({8})
Die Stärkung der Produzenten ist ein Kernanliegen dieser Novelle. Ich meine, das ist gelungen.
({9})
Ich möchte daran erinnern, dass das FFG im Kern
- Herr Kollege Neumann, darin sind wir uns einig - ein
Wirtschaftsförderungsgesetz ist. Diese Aufgabe kann
aber nur dann erfüllt werden, wenn die kreative Seite des
Filmschaffens nicht aus dem Blick verloren wird. Deshalb schreibt sich das neue FFG die Verbesserung der
„kreativ-künstlerischen Qualität des deutschen Films als
Voraussetzung für seinen Erfolg im Inland und im Ausland“ auf die Fahnen.
({10})
Hier sind erste wichtige Schritte gemacht worden. Auch
weiterhin wird dieses Thema auf der Tagesordnung bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor allen
Dingen auf die Anhörung im Ausschuss gespannt. Ich
erwarte eine sehr fruchtbare Debatte und von den
Sachverständigen - ich betone es noch einmal - jenseits
allen Lobbyismus wichtige Impulse. Einer guten Tradition dieses Hauses folgend
Jetzt ist es Zeit für den letzten Satz.
- ich bin dabei, Frau Präsidentin -, werden wir hoffentlich gemeinsam - ich komme auf Herrn Otto und
Herrn Neumann zurück - zu einem tragfähigen Ergebnis
bei der Reform der Filmförderung kommen, und zwar
im Interesse des deutschen Films.
({0})
Die Abgeordnete Gesine Lötzsch bittet darum, ihre
Rede zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1506 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“
- Drucksache 15/473 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Abgeordneten Bätzing, Kahrs, Gehb, ScheweGerigk und van Essen haben darum gebeten, ihre Reden
zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie einverstanden? - Dann
verfahren wir so.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/473 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend liegen soll. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Lothar
Mark, Hans Büttner ({2}), Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Dr. Ludger Volmer, Volker
Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien
- Drucksachen 15/742, 15/1136 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Mark
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Werner Hoyer
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß ({5}), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert
Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen
- Drucksachen 15/203, 15/1559 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Kortmann
Peter Weiß ({6})
Markus Löning
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich von Ihrer Seite nicht. Dann
ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Lothar Mark.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Monaten war die Aufmerksamkeit
der Weltöffentlichkeit allein durch den Irakkrieg und die
sich anschließenden Befriedungsabsichten absorbiert.
Andere Krisenherde wurden dadurch völlig an den Rand
gedrängt. Umso begrüßenswerter ist es, dass alle Fraktionen im Deutschen Bundestag Interesse an einer Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien haben.
Daher weiß ich alle Fraktionen mit mir einig, dass es angesichts der festgefahrenen Situation in Kolumbien notwendig ist, sowohl von unserer Seite als auch vonseiten
der Europäischen Union neue Impulse zu geben.
Von diesem Interesse zeugt auch der Antrag der CDU/
CSU-Fraktion, der in erster Lesung am 20. Februar 2003
im Plenum beraten, jedoch von allen damit befassten
Ausschüssen abgelehnt wurde. Der Oppositionsantrag
weist aus unserer Sicht erhebliche Mängel auf und setzt
ein falsches politisches Signal: die politische und finanzielle Unterstützung des „Plans Colombia“, der faktisch einen zu starken militärischen Ansatz verfolgt und
auch chemische Besprühungsaktionen mit einschließt.
Hierauf wiesen in der ersten Lesung schon meine
Kolleginnen Karin Kortmann und Anke Hartnagel hin.
Wir sahen uns in den Koalitionsfraktionen deshalb gezwungen, unsererseits einen Antrag vorzulegen und diesen einseitig militärischen Akzent des „Plans
Colombia“ - auch wenn die CDU/CSU dies bestreitet ebenso wie die Besprühungsaktionen als kontraproduktiv abzulehnen.
Wie mir kürzlich im persönlichen Gespräch mit Präsident Uribe bestätigt wurde, wird dieser Antrag nicht als
Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Kolumbien angesehen. Im Gegenteil: Die kolumbianische
Regierung hat ausdrücklich um ein stärkeres internationales Engagement gebeten. Aus zahlreichen persönlichen Gesprächen - darunter, wie erwähnt, mit Präsident
Uribe, Vizepräsident Santos und Oppositionsführer
Holguín, denen ich auch die wesentlichen Aspekte unseres Antrages vorstellte - ist mir bekannt, dass insbesondere ein aktiveres Engagement Europas uneingeschränkt
begrüßt würde. Momentan setze Kolumbien verstärkt
auf die Hilfe der USA, so Präsident Uribe und Vizepräsident Santos, weil die EU bisher ein allzu geringes Interesse für die Situation zeige.
Ich freue mich, dass ihre Exzellenz, Frau Botschafterin Mejía Marulanda von Kolumbien, dieser Debatte
beiwohnt.
({0})
Exzellenz, ich begrüße Sie mit Erlaubnis der Präsidentin
auf das Herzlichste und danke Ihnen für die bisherigen
freundschaftlichen, offenen und konstruktiven Gespräche. Ihre Anwesenheit zeigt, dass unsere Bemühungen
auf Ihr Interesse stoßen und wir gemeinsam den längst
begonnenen kritischen Dialog fortsetzen können.
({1})
In dem angesprochenen Sinne ist der Grundtenor unseres Antrages wie folgt zu verstehen: Unterstützung der
Doppelstrategie von Präsident Uribe. Die Vergangenheit
hat gezeigt, dass der Konflikt allein auf dem Verhandlungsweg und durch guten Willen der Regierung
Pastrana nicht gelöst werden konnte.
In Kolumbien sind derzeit rund 2,5 Millionen Menschen auf der Binnenflucht. Jährlich finden circa
3 000 Entführungen statt, darunter auch von zahlreichen Mandatsträgern, Gewerkschaftern, Unternehmern
und Journalisten. Erst vor einer Woche wurden in Nordkolumbien acht ausländische Touristen von Rebellen
entführt. An dieser Stelle appelliere ich an alle Parlamentarier in der Welt, sich entschlossen für eine Ächtung dieser Praxis und Taktik einzusetzen. Die Bewegungsfreiheit innerhalb eines Landes muss für alle
sichergestellt sein und Parlamentarier wie Mandatsträger
müssen ihr Mandat uneingeschränkt ausüben können.
Die Einschränkung der politischen Bewegungsfreiheit
ist ein elementarer Verstoß gegen die Menschenrechte.
Die genannten Zahlen verdeutlichen uns eine dahinter
stehende humanitäre Katastrophe, die uns alle eigentlich
beschämen muss. Daher ist die Demonstration der
Stärke des Staates durch Wiederherstellung seines Gewaltmonopols richtig. Dies gilt allerdings nur, wenn das
staatliche Gewaltmonopol als Grundlage für Bemühungen zur Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen
verstanden wird, um mittel- bis langfristig eine politische Lösung des bewaffneten Konflikts zu erreichen.
Unserer festen Überzeugung nach kann es Frieden in
Kolumbien nur auf dem Verhandlungswege geben. Ich
denke, dass die kolumbianische Regierung dies ebenfalls
so sieht.
In diesem Zusammenhang ist zu sagen, dass es unserer Erachtens richtig ist, alle bewaffneten illegalen Gruppen in diese Verhandlungen einzubeziehen. Friedensverhandlungen sind also auch weiterhin mit den
Paramilitärs, der FARC und dem ELN notwendig. Man
muss feststellen, dass alle illegalen bewaffneten Gruppen im Laufe des Konflikts Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Aber wenn wir auf eine friedliche
Lösung des Konflikts durch Verhandlungen setzen, dann
müssen wir diese Verhandlungen notgedrungen mit den
dafür Verantwortlichen akzeptieren.
Während Präsident Pastrana bestehende Verbindungen der Paramilitärs zu staatlichen Ordnungskräften
leugnete, gibt Präsident Uribe diese zu und stellt somit
die Paramilitärs erstmals auf eine Stufe mit den Guerillaorganisationen und bezieht sie richtigerweise in seine
Verhandlungen ein. Entscheidend ist dabei aus unserer
Sicht: Man muss den illegalen Kräften eine Perspektive
für ein Leben nach dem Bürgerkrieg und einen Anreiz
geben, dass sie aus der Teufelsspirale aussteigen.
Wie will man einen Guerillero, der in seinem Leben
nichts anderes als das Kriegshandwerk gelernt hat, davon überzeugen, seine Waffe abzugeben? Der Staat muss
ihm zumindest die Chance eröffnen, sich wieder in die
Gesellschaft zu integrieren.
Wenn ich hier eine teilweise Amnestie bzw. ein differenziert zu betrachtendes Amnestiesystem anspreche,
wie von der kolumbianischen Regierung durch das
Dekret 128 und durch Gesetzesvorhaben im Übrigen bereits in Angriff genommen, möchte ich keinesfalls der
bislang weitverbreiteten Straflosigkeit Vorschub leisten.
Ganz im Gegenteil: Unser Antrag macht deutlich, dass
ein stärkerer kolumbianischer Staat Garant für die Ahndung von Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts sein muss.
({2})
Straflosigkeit und die Schwäche entscheidender rechtsstaatlicher Institutionen wie Justiz und Ombudsmann
sind eines der Schlüsselprobleme des bewaffneten Konflikts. Sie stellen die größte Bedrohung einer jeden Demokratie dar, weil sie zu weiteren Gewalttaten geradezu
ermutigen.
Ich weiß, wie schwierig es ist, sich Amnestierungsfragen zu stellen, sie in einem gebeutelten Land zu diskutieren und Amnestie durchzusetzen. Die beiden Möglichkeiten lauten nur: Fortsetzung der Entführungen und
des Mordens oder Reintegration betreiben mit ordentlichen juristischen Verfahren und Amnestierungsaussicht
zumindest in sehr vielen Fällen, die vorher aber klar definiert werden müssen.
Wir haben zur Kenntnis genommen, dass seit Einbringung des Antrags der darin erwähnte Ausnahmezustand
vom kolumbianischen Verfassungsgericht aufgehoben
wurde. Dennoch geben Berichte von internationalen
Menschenrechtsorganisationen zu der Vermutung Anlass, dass die Zahl der Verletzungen der Menschenrechte
und des humanitären Völkerrechts durch illegal bewaffnete Gruppen, aber zum Teil auch durch staatliche Sicherheitskräfte nicht abgenommen hat. Vor diesem Hintergrund ist die Aufforderung an die Bundesregierung zu
verstehen, den kolumbianischen Staat bei der Entwicklung eines Aktionsplans zum Schutz der Menschenrechte und der Einhaltung des humanitären Völkerrechts
zu unterstützen.
Der Antrag erkennt die bedeutende Rolle der Zivilgesellschaft für eine nicht militärische Konfliktlösung an.
Wir möchten gerade in dieser Frage dem kolumbianischen Wunsch nach einem stärkeren Engagement Europas Rechnung tragen, indem wir die Einsetzung eines
EU-Sondergesandten für Kolumbien anregen. Wie Kollege Dr. Hoyer bereits in der ersten Lesung des CDU/
CSU-Antrags zu Kolumbien richtig bemerkt hat, hat sich
in dieser Frage leider noch immer kein europäisches Profil entwickelt.
({3})
Europa würde durch einen Sondergesandten erheblich an
Gewicht gewinnen und könnte unter Beweis stellen, dass
es fähig ist, mit einer Stimme zu sprechen, und sich Problemlösungen in der Welt annimmt.
Ich möchte noch folgendes Anliegen des Antrags herausstellen. Wir sehen den Schlüssel zum Erfolg im Gegensatz zur CDU/CSU-Fraktion in einem entschlossenen
Herangehen an die sozioökonomischen Ursachen des
Konflikts.
({4})
Daher fordern wir im Antrag unter anderem die Umsetzung einer sozial gerechten und ökonomisch sinnvollen
Landreform, die auch eine Zuteilung von Land an
Kleinbauern beinhalten muss.
Ein weiterer Punkt ist die Abwanderung von Intelligenz aus Kolumbien. Es kann unseres Erachtens nicht
sein, dass die kolumbianischen Eliten in ihrem Land zu
einem großen Teil keine Zukunft sehen und ihr Können
und Wissen im Ausland einbringen. Natürlich sind hier
die kolumbianische Gesellschaft und die Regierung gefordert, aber mindestens ebenso sehr die internationale
Gemeinschaft.
Was nützt dem Kleinbauern sein alternatives Anbauprodukt, wenn er es nicht Gewinn bringend absetzen
kann und wenn er nicht vor den Guerilleros geschützt
wird? Er benötigt verstärkt Hilfen, unter Umständen
auch internationale Subventionen. Gerade nach dem
Scheitern der WTO-Ministerkonferenz in Cancun erscheint es umso wichtiger, innerhalb der EU auf eine
umfassende Marktöffnung zu drängen. Man kann es
nicht oft genug betonen: Marktöffnung ist die beste Hilfe
zur Entwicklung.
Ich weise darauf hin, dass dieser Konflikt inzwischen
von allen als eine regionale Problematik anerkannt worden ist. Er stellt kein Thema dar, das Kolumbien isoliert
betrifft. Alle Nachbarn sehen das inzwischen so. In diesem Zusammenhang weise ich besonders erfreut darauf
hin, dass der brasilianische Präsident Lula dem kolumbianischen Präsidenten Uribe ein Assoziierungsangebot in
Bezug auf Mercosur unterbreitet hat. Ich denke, dass damit die Bereitschaft, den Konflikt in Kolumbien zu lösen, größer geworden ist.
({5})
Wir kommen bei der Suche nach einer friedlichen Lösung für Kolumbien nicht umhin, in Bezug auf die Drogenproblematik von unserer teilweise scheinheiligen
Position in den Konsumentenländern abzurücken.
({6})
Es ist nicht vertretbar, dass die Industrienationen mit
dem Zeigefinger auf die Drogenproduzentenländer zeigen, solange sie selbst nicht in der Lage sind, die Nachfrage und den Drogenkonsum zu reduzieren.
({7})
Auch wir als Konsumenten- und Nachfrageländer müssen uns der Verantwortung stellen und gemeinsam mit
den Transport- und Produzentenländern nach Lösungen
suchen.
Ich denke, die in unserem Antrag ausgewogenere Betrachtung wird der Problematik in Kolumbien gerechter
und bietet hilfreiche Ansatzpunkte für die Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts, die wir uns alle für
das kolumbianische Volk so sehr wünschen.
({8})
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, damit der Friedensprozess in Kolumbien weiter- und zu
Ende geführt werden kann.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen
Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Mark, wenn der Antrag dem aktuellen Stand der Entwicklungen entsprechen würde und
Sie zumindest Ergänzungen vorgelegt hätten, würden
wir ihm gerne zustimmen. Wenn man sich den Antrag
einmal anschaut, kann man feststellen, dass mindestens
drei Dinge nicht der aktuellen Situation entsprechen:
Erster Punkt. Sie haben in Ihrem Antrag die Guerillabewegungen aus ideologischen Gründen mit der Regierung auf eine Stufe gestellt. Das ist unakzeptabel.
Zweiter Punkt. Sie haben es in Ihrem Antrag an einer
eindeutigen Unterstützung der Regierung von Alvaro
Uribe vermissen lassen.
Dritter Punkt. Sie haben wieder eine falsche Darstellung des „Plans Colombia“ gewählt. Ohne das nun übertreiben zu wollen, habe ich manchmal den Eindruck,
dass wohl nur sehr wenige Mitglieder dieses Hohen
Hauses diesen Plan wirklich einmal gelesen haben; denn
sonst würde man nicht ständig die militärische Komponente betonen. Dieser Plan ist mangelhaft, er ist aber
eine unverzichtbare Grundlage für die Weiterentwicklung in Kolumbien.
({0})
Vor diesem Hintergrund verweise noch einmal auf
drei besondere Ereignisse:
Erstes Ereignis. Die Bundesregierung hat im Rahmen
der Vorbereitungen der Konferenz der G 8 in Evian eindeutig festgestellt, dass die Position von Alvaro Uribe
zur Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols unterstützt wird. Davon steht in Ihrem Antrag kein
Wort.
Zweites Ereignis. Auf dem Präsidentengipfel in
Cusco haben sich alle lateinamerikanischen Präsidenten
eindeutig hinter Alvaro Uribe gestellt. Dass ein gewisser
Herr aus Caracas dieser Entscheidung nicht zugestimmt
hat, wundert einen kaum. Es gab also ein klares Bekenntnis Lateinamerikas zu Alvaro Uribe. Auch das
wird in Ihrem Antrag nicht deutlich.
({1})
- Dann hättet ihr ihn ergänzen müssen. Man kann doch
keinen Antrag aufrechterhalten, der von der politischen
Entwicklung überholt wurde. Das ist doch der Punkt.
({2})
Drittes Ereignis. Dieses ist, wie ich glaube, von herausragender Bedeutung. Ich meine die Konferenz von
London am 10. Juli dieses Jahres, auf der sich die Gebergemeinschaft ebenfalls mit großem Nachdruck hinter die
Position des Präsidenten und seiner Regierung gestellt
hat. Dass hier gerade auch die Bundesregierung eine
klare Position eingenommen hat, wird von uns nachhaltig begrüßt; denn auch wir kennen natürlich die dahinter
stehenden die Mechanismen. Als Sie Ihren Antrag eingebracht haben, werter Kollege Mark, haben sie das natürlich nicht tun können, ohne sich vorher mit dem Auswärtigen Amt und dem BMZ, dessen Leitungsebene
heute nicht vertreten ist, abzustimmen.
Wir nehmen mit Interesse zur Kenntnis, dass die Bundesregierung in ihren Überlegungen zur Lösung des von
Ihnen zu Recht als Regionalkonflikt bezeichneten Konfliktes bereits viel weiter ist, als das in Ihrem Antrag
zum Ausdruck gebracht wird. Die Weiterentwicklung
der Position der Bundesregierung, um keine andere Formulierung zu wählen, hin zu einer klaren Unterstützung
der Position von Alvaro Uribe wird von uns sehr begrüßt.
In diesem Zusammenhang ist übrigens ein weiterer
Punkt wichtig. Die lateinamerikanischen Präsidenten haben in der von mir bereits erwähnten Resolution von
Cusco ausdrücklich die Vereinten Nationen um Vermittlung in diesem Regionalkonflikt gebeten. Das ist
umso wichtiger, als natürlich die kolumbianische Regierung einer solchen Einschaltung der Vereinten Nationen
- das sage ich in aller Deutlichkeit - ohne die Zustimmung der Amerikaner, also Washingtons, ihrerseits nicht
zugestimmt hätte. Das erwähne ich deshalb, weil häufig
den Amerikanern unterstellt wird, sie seien per definitionem gegen die Mitwirkung der Vereinten Nationen in
Kolumbien. In diesem Regionalkonflikt ist das in keiner
Weise erkennbar.
In diesem Zusammenhang ist weiterhin von Bedeutung, dass dieser regionale Konflikt nur lösbar ist, wenn
alle Anrainerstaaten das gleiche Ziel verfolgen wie die
Regierung Uribe selbst. Wir haben gestern eine Kleine
Anfrage an die Bundesregierung zu der gesamten Problematik eingereicht.
Inzwischen gibt es mit Peru eine Vereinbarung, einen
„hot pursuit“, wonach kolumbianische Streitkräfte in der
Verfolgung von Guerillaverbänden auf peruanisches Gebiet überwechseln dürfen. Ich halte das für einen bemerkenswerten Vorgang. Ähnliche Dinge sind inzwischen
mit Panama vereinbart. Die Brasilianer haben eine bemerkenswerte Kurskorrektur ihrer Außenpolitik vollzogen, denn sie haben festgestellt, dass sie auf Dauer vor
diesem Regionalkonflikt die Augen nicht verschließen
dürfen, weil inzwischen ein Großteil des Drogenhandels über brasilianisches Gebiet, weitestgehend über den
Amazonas, läuft.
Völlig aus der Reihe tanzt Hugo Chávez. Hier können
wir einfach feststellen, dass dieser Herr nicht nur Schritt
für Schritt zuhause eine faschistische Diktatur aufbaut,
sondern dass er wissentlich Kräfte der FARC auf seinem
Territorium duldet. Dieses darf auf Dauer - das ist mein
Appell an alle Fraktionen dieses Hauses und auch an die
Bundesregierung - nicht nur von Kolumbien, sondern
auch von der internationalen Gemeinschaft nicht geduldet werden, weil sonst der Kampf gegen die Guerilla in
Kolumbien ins Leere läuft. Das ist nicht zu tolerieren.
({3})
Deshalb mein Appell, hier auch ein deutliches Wort
gegenüber der Regierung von Venezuela zum Ausdruck
zu bringen. Herr Kollege Mark, Sie haben zu Recht darauf verweisen, dass wir uns um kolumbianische Kollegen kümmern sollten. Der Deutsche Bundestag könnte
das in besonderer Weise dadurch tun, dass alle vier Fraktionen dieses Parlaments ihre nachhaltige Sympathie mit
der Opposition in Venezuela bekunden. Das wäre ein
Beitrag zur Befriedung in der Region.
Herzlichen Dank.
({4})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat ist die Lage in Kolumbien äußerst besorgniserregend. Massaker, Vertreibungen, Zwangsrekrutierungen
auch von Kindern, Entführungen, Terrorakte gegen die
Zivilbevölkerung sind dort an der Tagesordnung. Die
Gewalt richtet sich dabei nicht nur gegen kolumbianische Bürgerinnen und Bürger, sondern auch gegen Ausländer vor Ort. Das wurde schon erwähnt. Unter den
jüngst im Norden des Landes entführten acht Touristen
befindet sich auch eine Deutsche.
Ich will hier zu Anfang meiner Ausführungen versichern, dass die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit
den anderen betroffenen Regierungen die intensiven Bemühungen der kolumbianischen Regierung zur Freilassung der Geiseln unterstützt.
Neben Entführungen und Erpressungen ist Drogenkriminalität ein weiteres großes Problem in Kolumbien.
Schließlich alimentieren sich die Guerillagruppen wesentlich aus dem Drogenhandel. Ich meine, gerade hier
ist eine enge internationale Zusammenarbeit gefordert,
um dem profitreichen grenzüberschreitenden illegalen
Handel einen Riegel vorzuschieben.
Verständlicherweise versuchen die Menschen in Kolumbien, diesen Problemen zu entkommen, indem sie
die Unruheherde verlassen. Mittlerweile gibt es mehr als
2 Millionen Binnenvertriebene - Sie haben es erwähnt -,
deren katastrophale Lage sich inzwischen zu einem der
drängendsten Probleme Kolumbiens entwickelt. Wie soll
man diese Probleme bekämpfen, wenn zeitweise die
Hälfte des Landes unter der Kontrolle einer der drei großen Guerillagruppen steht?
Angesichts von Entführungen, Drogenkriminalität
und Vertreibungen sind wir uns in diesem Hause alle darin einig: Die Terror- und Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung Kolumbiens sind scharf zu verurteilen. Kolumbien braucht endlich eine friedliche Lösung, bei der
die Menschenrechte eingehalten werden.
({0})
Wir werden - da können Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sicher sein - gemeinsam mit unseren EU-Partnern und den Vereinten Nationen darauf
drängen, dass die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen und fortgesetzt werden. Wir werden die Regierung von Präsident Uribe bei allem unterstützen, was auf
eine friedliche Lösung abzielt.
({1})
Vor kurzem brachte die kolumbianische Regierung
einen Gesetzentwurf über Maßnahmen gegen terroristische Gewalt ein. Außerdem erarbeitet sie derzeit ein
Weißbuch zur Umsetzung der Empfehlungen und Forderungen der VN-Menschenrechtskommission vom April
dieses Jahres. Wir erkennen auch die Bedeutung der
praktischen Hilfsprogramme der kolumbianischen Regierung an. Allerdings können diese in ihrer Wirksamkeit noch verbessert werden. So erreichen zum Beispiel
Flüchtlingsprogramme die Bedürftigen oft deshalb nicht,
weil sich diese aus Angst vor Diskriminierung in ihren
neuen Dorfgemeinschaften gar nicht als Flüchtlinge zu
erkennen geben.
Die kolumbianische Regierung ist zudem auf die Zusammenarbeit der Nichtregierungsorganisationen angewiesen; auch das will ich sehr deutlich sagen.
({2})
Dies hat Präsident Uribe in seiner Rede vom
8. September dieses Jahres anerkannt. Allerdings kritisierte er gleichzeitig angebliche Gruppierungen, die
- ich zitiere - „unter dem Deckmantel angeblicher Verteidigung der Menschenrechte den Terrorismus unterstützen“. Ich will hier sehr deutlich sagen: Wir werden
nicht zulassen, dass die schwierige Situation in Kolumbien noch dadurch verschlechtert wird, dass Nichtregierungsorganisationen, die sich aktiv für Menschenrechte
einsetzen, in ihrer Arbeit behindert werden.
({3})
Wir werden uns daher dafür einsetzen, dass Nichtregierungsorganisationen ohne Angst um die persönliche Sicherheit ihrer Mitarbeiter ihre wichtige Arbeit fortsetzen
können.
Ich hatte dieses Jahr bereits Gelegenheit, mich über
die schwierige Lage in Kolumbien sowohl mit Vizepräsident Santos Calderon, der zugleich Menschenrechtsbeauftragter seiner Regierung ist, als auch mit Kardinal
Rubiano Saenz, der sich aktiv für die Einhaltung der
Menschenrechte einsetzt, auszutauschen. Ich habe in
diesen Gesprächen deutlich darauf hingewiesen, wie
wichtig der Bundesregierung die Einhaltung der Menschenrechte und Fortschritte beim Friedensprozess in
Kolumbien sind. Dabei unterstützen wir natürlich die katholische Kirche in ihrer sehr schwierigen vermittelnden
Rolle. Oft sind deren Angehörige Verfolgungen ausgesetzt. Einige sind bei diesem Engagement umgebracht
worden.
Anfang Oktober wird Claudia Roth, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, nach Kolumbien
reisen, um sich vor Ort ein Bild von der derzeitigen Situation zu machen. Für uns ist das ein ganz wichtiges
Thema.
Die Bundesregierung befürwortet eine stärkere Rolle
der Vereinten Nationen bei der Lösung des kolumbianischen Binnenkonfliktes. Dabei kommt dem Sondergesandten des VN-Generalsekretärs, LeMoyne, eine ganz
wichtige Rolle zu. Wir hoffen, dass er durch Treffen mit
der größten Guerillagruppe FARC dem Verhandlungsprozess künftig neue Impulse geben kann. Angesichts
der bisher ablehnenden Haltung der Guerilla sind die
Aussichten dafür allerdings eher zurückhaltend einzuschätzen; auch das muss man sagen.
Wir unterstützen mit unseren EU-Partnern in Kolumbien einen eigenständigen, vom „Plan Colombia“ unabhängigen Ansatz, der auf nachhaltige, strukturelle und
soziale Reformen abzielt.
Ich habe die Drogenproblematik angesprochen. Drogenhandel wird man letztlich nur bekämpfen können,
wenn wir alternative Einkommensquellen für die ländliche Bevölkerung erschließen und wenn eine Landreform
durchgeführt wird, so wie es in dem Antrag steht. Deshalb ist dies ein Schwerpunkt der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Wir haben uns auch erfolgreich
gegen den Wegfall der EU-Zollpräferenzen für kolumbianische Schnittblumen eingesetzt. Darüber hinaus leistet
die Bundesregierung schon seit mehreren Jahren jährlich
über 1 Million Euro an humanitärer Hilfe.
({4})
Die Bundesregierung wird ihr Engagement für den
Frieden in Kolumbien auch in Zukunft fortsetzen. Ihr
Antrag auf Wiederbelebung des Friedensprozesses,
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
der auch von der FDP unterstützt wird, findet die volle
Unterstützung der Bundesregierung. Ich habe der Debatte entnommen, dass wir auch mit den Damen und
Herren der CDU/CSU in wesentlichen Punkten eine
Übereinstimmung haben. Wir sollten auf allen Ebenen
alles für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses tun.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Leibrecht.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 30 000 Morde, 3 000 Entführungen pro Jahr und
Hunderttausende von Binnenflüchtlingen - das ist Kolumbien heute. Es ist richtig, hier von einer humanitären
Katastrophe zu sprechen,
({0})
einer Katastrophe, die eine Gefahr für die ganze Region
ist.
Sämtliche Versuche, mit der Rebellenarmee, der international geächteten Terrorgruppe FARC, ein Friedensabkommen zu schließen, schlugen in den letzten
drei Jahren fehl. Erst durch die Unterstützung der USA
gibt es Fortschritte, aber leider keinen wirklichen Erfolg;
wir sind noch weit weg von einem Frieden.
Präsident Uribe sucht jetzt sein Glück in Verhandlungen mit der 13 000 Mann starken paramilitärischen
AUC. Wenn es gelänge, die AUC zu entwaffnen, wäre
dies in der Tat ein großer Erfolg und ein Segen für das
Land. Das würde sowohl die Gewalt in Kolumbien reduzieren als auch die Friedensgespräche mit der FARC
voranbringen.
({1})
Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, wird die dringend notwendige wirtschaftliche und humanitäre Hilfe aus dem
Ausland kommen. Viele Nichtregierungsorganisationen
stehen bereit und würden sich noch sehr viel stärker engagieren, wäre es dort sicherer. Wir dürfen nicht länger
von Kolumbien wegschauen. Zusammen mit der Europäischen Union muss Deutschland die Friedensbemühungen von Präsident Uribe unterstützen.
({2})
Vieles am „Plan Colombia“ ist gut, wie die Herstellung
der inneren Stabilität und der Aufbau von Polizei und
Rechtsstaat. Was uns aber, der FDP-Fraktion, am „Plan
Colombia“ nicht gefällt, ist der Ansatz, den Konflikt verstärkt militärisch mit Unterstützung der USA lösen zu
wollen.
({3})
Allerdings: Militärische Aktionen werden nicht ausbleiben; auch das ist uns bewusst. Wir müssen in Zukunft
mehr auf politische Waffen setzen, auf humanitäre Hilfe
und vor allem auf wirtschaftliche Perspektive. Nur so
kann der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt
durchbrochen werden. Nur ein Frieden, der von allen
Seiten gewollt wird, wird ein Frieden sein, der hält. Ein
erzwungener Frieden wird neue Konflikte schüren. Davon bin ich überzeugt.
({4})
Wenn man von Kolumbien redet, muss man auch die
Drogenfrage ansprechen. Der Drogenhandel muss bekämpft werden, und zwar - es ist schon vorhin gesagt
worden - mit Polizisten und nicht mit Pestiziden.
({5})
Pestizide machen eine spätere landwirtschaftliche Nutzung unmöglich und zerstören dort die Lebensgrundlage
für Mensch und Tier. Bauern, die heute Drogen anbauen,
um ihre Familien über die Runden zu bringen und um sie
ernähren zu können, müssen morgen alternative Produkte anbauen und - was noch viel wichtiger ist - verkaufen können.
({6})
Gerade in der längst überfälligen Landreform und in einer gerechten Landverteilung für die Kleinbauern liegt
der Schlüssel zum sozialen Frieden in Kolumbien. Außerdem müssen die landwirtschaftlichen Produkte einen
fairen Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten.
({7})
Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und
der Einkommensperspektiven für alternative landwirtschaftliche Produkte wird zum Anbau des Drogenanbaus
führen. Statt nur auf militärische Mittel zu setzen, müssen wir auf eine Kombination aus Verhandlungen und
gezielten Aktionen setzen.
({8})
- Unsere Debatte scheint endlich die gebotene Aufmerksamkeit zu finden, was die Anzahl der anwesenden Parlamentarier betrifft. Das unterstreicht auch die Wichtigkeit dieser Debatte über Kolumbien. Ich würde mich
freuen, wenn Sie sich schnell hinsetzen und unsere Debatte interessiert und aufmerksam folgen würden. Danke
schön!
({9})
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Der „Plan
Colombia“ -
Nein, Herr Kollege, die Anzahl der anwesenden Parlamentarier ist gestiegen, aber nicht die Ihnen zur Verfügung stehende Redezeit. Sie ist zwei Minuten überschritten.
({0})
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Der „Plan
Colombia“ ist zu einseitig. Er muss geändert werden,
weg von der Betonung militärischer Schritte, hin zu
mehr humanitärer Hilfe. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.
Deshalb unterstützen wir den Antrag der SPD und
lehnen den der CDU/CSU ab. Insgesamt gehen wir aber
doch, denke ich, in die gleiche Richtung, um diesem
Land wieder auf die Beine zu helfen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Weiß.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Koalitionsfraktionen dafür gesorgt
haben, dass sie die anschließende Abstimmung gewinnen werden,
({0})
möchte ich etwas Generelles feststellen. Egal welcher
Antrag heute eine Mehrheit bekommt, unsere Botschaft
aus dieser Kolumbiendebatte sollte sein: Kolumbien und
seine Regierung unter Präsident Uribe brauchen und verdienen unsere Unterstützung, die Unterstützung der Europäischen Union und der internationalen Staatengemeinschaft ({1})
um das Land und die gesamte Region zu befrieden, um
Freiheit und Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger
zu gewährleisten und den internationalen Terrorismus
einzudämmen.
Zunächst möchte ich die rot-grüne Koalition zu ihrem
Antrag beglückwünschen. Denn dieser Antrag stellt in
bemerkenswerter Weise eine Abkehr dar von der sehr
kritischen, vor allem gegenüber Uribe kritischen Haltung, wie sie noch in der ersten Kolumbiendebatte dieser
Legislaturperiode seitens der Rednerinnen und Redner
der Koalition zum Ausdruck gekommen ist.
Noch mehr hätte ich mir gewünscht,
({2})
lieber Kollege Mark, dass Sie unserem Antrag näher gekommen wären und wir einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten. Wenn ich die offiziellen Erklärungen
der Bundesregierung zur Unterstützung Kolumbiens und
seiner Regierung lese, habe ich den Eindruck, Frau
Staatsministerin, dass der Antrag der CDU/CSU der Regierungsposition mittlerweile näher kommt als der Antrag der Koalitionsfraktionen.
({3})
Ich glaube, es gibt immer noch viel zu viele, die meinen, das, was in Lateinamerika geschieht, habe noch etwas mit lateinamerikanischer Revolutionsromantik und
Guerillanostalgie zu tun. Nein, es ist nichts anderes als
die brutale Vergewaltigung der Menschen in diesen Ländern, vor allen Dingen in Kolumbien, zugunsten nicht
politischer, sondern rein terroristischer und wirtschaftlicher Ziele, die von der Guerilla verfolgt werden.
({4})
Wenn wir uns - zugegebenermaßen zu später Stunde im Deutschen Bundestag mit Kolumbien beschäftigen,
können viele fragen: Was soll das eigentlich? Ich glaube,
man muss an dem Beispiel Kolumbien noch einmal
deutlich machen: Das ist längst kein innerstaatlicher
Konflikt mehr. Das nimmt Gott sei Dank auch der Antrag der Koalition zur Kenntnis. Vielmehr ist eine konsequente Politik der Stabilisierung Kolumbiens gleichzeitig ein Beitrag zur Bekämpfung des internationalen
Terrorismus.
({5})
Gerade der Anschlag auf den Klub „El Nogal“ in Bogotá im Februar 2003 hat gezeigt, dass diese internationale Vernetzung des Terrorismus auch und gerade in Kolumbien Realität ist; denn dort hat die IRA das Knowhow für diesen Anschlag geliefert. Das zeigt: Das ist kein
kolumbianisches, kein regionales Problem, sondern hier
geht es um einen Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Das ist auch mit unsere Aufgabe.
({6})
Peter Weiß ({7})
Zweitens. Der Konflikt in Kolumbien hat regionale
Auswirkungen. Es ist positiv, dass der brasilianische
Präsident Lula - Lothar Mark hat es erwähnt - wie auch
Peru konsequent mithelfen, die Grenzen zu kontrollieren
und gegen die Guerilla abzuschotten. Es ist dagegen
höchst gefährlich, dass Venezuela unter seinem neopopulistischen Präsidenten Chavez das venezolanische
Grenzgebiet als Rückzugsraum für die Guerilla öffnet
und damit dem Terrorismus zusätzlich Vorschub leistet.
({8})
Ich möchte unterstreichen: Wir erwarten von der kolumbianischen Regierung - sehr geehrte Frau Botschafterin, es ist schön, dass Sie heute anwesend sind -, dass
sie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte achtet und dass sie die Wächterfunktion von
Menschenrechtsorganisationen respektiert und nicht behindert.
({9})
Aber gleichzeitig verdient eine solche demokratische
Regierung, die die breite Unterstützung der Mehrheit der
Kolumbianerinnen und Kolumbianer hat, auch unsere
konsequente Unterstützung bei der Durchsetzung des
staatlichen Gewaltmonopols.
({10})
Kritik am „Plan Colombia“ hin oder her - ich finde es
unangemessen, ja ungeheuerlich, dass der kolumbianischen Regierung in dem Antrag von Rot-Grün vorgeworfen wird, dass sie auf eine militärische Lösung im
Sinne eines „Siegfriedens“ setze. Solche Formulierungen müssen von denjenigen, die nach einer Begründung
für ihre abstrusen und menschenverachtenden Terrorakte
suchen, geradezu als Steilvorlage gewertet werden. Deswegen können wir dem Antrag nicht zustimmen.
({11})
Kolumbien braucht in seiner Situation mehr Unterstützung, unter anderem durch eine verstärkte statt einer
reduzierten Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb
finde ich es sehr verwunderlich, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in dieser Debatte durch Abwesenheit glänzt.
Das möchte ich ausdrücklich kritisieren.
({12})
Kolumbien braucht Unterstützung nicht nur in Worten, wie sie heute zu hören waren oder im Antrag zu lesen sind, sondern auch in Taten, mit denen wir einen
Beitrag zur Befriedung Lateinamerikas und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus leisten. Darum
sollte es uns gehen.
Vielen Dank.
({13})
Sind Sie damit einverstanden, dass wir die Rede der
Abgeordneten Petra Pau zu Protokoll nehmen? - Das ist
der Fall. Dann schließen wir damit die Aussprache.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 15/1136 zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien“:
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/742 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP
gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf
Drucksache 15/1559 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen“: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstim-men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen
der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürftigen ({0})
- Drucksache 15/308 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({2})
- Drucksache 15/1314 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Selg
Es wird gebeten, alle Reden zu diesem Tagesord-
nungspunkt - und zwar von den Abgeordneten Ober,
Sehling, Selg und Bahr - zu Protokoll zu nehmen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Sicherung der Hilfsmittelver-
sorgung von Pflegebedürftigen. Der Ausschuss für Ge-
sundheit und Soziale Sicherung empfiehlt auf
Drucksache 15/1314, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidi Wright, Reinhard Weis
({4}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck
({5}), Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
Ergänzung der Fahrerlaubnisverordnung
- Drucksachen 15/1093, 15/1397 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gero Storjohann
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/1496 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Ausschuss für Tourismus
Auch hier sollen, so wird gebeten, alle Reden genommen werden: der Abgeordneten Wright, Storjohann,
Hofbauer, Hettlich und Friedrich sowie der Parlamentarischen Staatssekretärin Gleicke. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Tagesordnungspunkt 12 a: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1093 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 b: Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
15/1496 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
13 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({7}), Karl-Josef
Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetterlage in sicheres Fahrwasser leiten
- Drucksache 15/1101 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, Gerd
Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz
({9}), Volker Beck ({10}), Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung von Standort und Know-how des
deutschen Seeschiffbaus
- Drucksache 15/1575 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Auch hier sollen, so wird gebeten, alle Reden zu Protokoll genommen werden: der Abgeordneten Kahrs,
Wetzel, Börnsen, Hajduk und Goldmann. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/1101 und 15/1575 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/1101 soll zusätzlich an
den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Sind
Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz ({12})
- Drucksache 15/1508 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({13})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort
der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes der
Bundesregierung werden Gerichtsverfahren einfacher,
effizienter und flexibler gestaltet, ohne den Rechtsschutz
der Bürgerinnen und Bürger zu beeinträchtigen. Das
unterscheidet diesen Gesetzentwurf von dem Entwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes der CDU/CSU,
({0})
der wieder mit untauglichen und bürgerfeindlichen Mitteln wie der Erhöhung der Berufungssumme aufwartet.
Hierüber haben wir ja schon vor einigen Wochen in diesem Haus das Notwendige gesagt.
Lassen Sie mich die wesentlichen prozessualen
Neuerungen dieses Entwurfs eines Justizmodernisierungsgesetzes kurz vorstellen. Wir greifen ein wichtiges
Anliegen der Praxis mit der Reform der Unterbrechungsregelungen für die Hauptverhandlung in § 229
StPO auf. Das Gericht wird in die Lage versetzt, Verhandlungstage flexibler als bisher festzulegen. Dadurch
kann es besser auf die Belange der übrigen Beteiligten
eingehen.
Die wichtigste Neuerung betrifft die nach jedem
Hauptverhandlungstag mögliche Unterbrechung. Die
bisherige Unterbrechungsfrist von zehn Tagen wird auf
drei Wochen verlängert. Die Neufassung ermöglicht es
dem Gericht außerdem, in umfangreicheren Verfahren
jeweils nach zehn Verhandlungstagen die Verhandlung
um bis zu einem Monat zu unterbrechen. Außerdem soll
der Lauf der Unterbrechungsfristen nicht nur bei einer
Erkrankung des Angeklagten, sondern auch bei der Erkrankung eines Richters oder eines Schöffen gehemmt
werden.
({1})
Insgesamt werden diese Fristenregelungen die Gefahr
deutlich verringern, dass mit der Hauptverhandlung aus
rein formalen Gründen völlig neu begonnen werden
muss, mit all den Belastungen, die für die Prozessbeteiligten damit einhergehen.
({2})
Entsprechend den tatsächlichen Verhältnissen in der
Praxis sollen die Regelvereidigung im Strafverfahren abgeschafft und die Vereidigungsregelungen insgesamt neu
und übersichtlicher gestaltet werden.
Auch die Vorschriften über die Verlesung von
Schriftstücken sollen verständlicher und weiter gefasst
werden. So können Erklärungen allgemein vereidigter
Sachverständiger sowie Protokolle und Erklärungen von
Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen,
soweit sie nicht eine Vernehmung zum Gegenstand haben, künftig verlesen werden. Mithilfe dieser Änderungen wird in vielen Fällen, vor allem in Massensachen,
das Verfahren gestrafft, die Justiz entlastet; vor allen
Dingen werden Kosten eingespart, auch Kosten der Angeklagten.
Ein Beitrag zur weiteren effizienten Gestaltung ist die
Möglichkeit, in der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter von der bislang obligatorischen Hinzuziehung eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abzusehen. Damit kann Personal dort eingesetzt werden, wo es
tatsächlich nötig ist. Die Kritik, die dieser Vorschlag
nicht zuletzt seitens der Richterschaft erfahren hat, teile
ich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass es sich um
keine zwingende Regelung handelt; es steht vielmehr
noch immer im Ermessen des selbstbewussten Richters,
ob er allein oder mit einem Protokollführer verhandelt.
({3})
Von den Änderungen in der Zivilprozessordnung
ist die erhöhte Beweiskraft eines rechtskräftigen Strafurteils hervorzuheben. Dieses Urteil soll künftig für einen
Zivilprozess vollen Beweis für die Feststellungen entfalten, die der Strafrichter für erwiesen hält. Damit wird
dem Straftatopfer die Durchsetzung seiner Schadenersatzansprüche erheblich erleichtert. Bisher trägt das
Opfer - auch nach einer strafrechtlichen Verurteilung
des Täters - im späteren Zivilprozess das volle Beweisrisiko.
({4})
- Herr Kauder, ich denke, Sie müssten sich darüber
freuen. - Wenn es keine anderen Beweise für die Tat
gibt, dann ist das Opfer als Kläger bisher darauf angewiesen, seine eigene Vernehmung als Partei anzubieten.
Das ist nur in streng begrenzten Fällen möglich.
({5})
Es kann natürlich vorkommen, dass die Feststellungen in einem Strafprozess, die in einem Zivilverfahren
künftig verwertet werden dürfen, dem Zivilrichter problematisch erscheinen. Deshalb wird ihm gestattet, einen
vollen Beweis zu erheben.
Durch das Justizmodernisierungsgesetz wird der
Richter ferner befugt, anstelle einer erneuten Vernehmung eines Zeugen auf das Protokoll der richterlichen
Vernehmung in einem anderen Gerichtsverfahren zurückzugreifen. Diese Neuregelung wird nicht nur zur
Entlastung der Justiz führen, sondern auch dem Straftatopfer bei der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche helfen. Auch ein Sachverständigengutachten,
das in einem Parallelverfahren erstellt worden ist, kann
der Zivilrichter künftig ohne die vorherige Zustimmung
der Parteien als Sachverständigenbeweis und nicht nur,
wie bisher, als Urkundsbeweis verwerten.
Wie Sie gemerkt haben, habe ich mich - nicht nur wegen der späten Stunde - auf die Darstellung der wesentlichen prozessualen Änderungen im Justizmodernisierungsgesetz beschränken müssen. Auf die in diesem
Gesetz gleichfalls angelegte strukturelle Binnenreform der Justiz durch die Übertragung richterlicher
Aufgaben auf den Rechtspfleger kann ich leider nicht
mehr eingehen; dieses Vorhaben wäre eine eigene Rede
wert. Wir werden darauf in den Beratungen im Rechtsausschuss zurückkommen.
({6})
Meine Damen und Herren, die Justiz wird sich künftig dem Innovationsdruck in allen Bereichen unserer Gesellschaft stellen müssen. Mit diesem Gesetz setzen wir
Vorschläge um, die in den Ländern bei Praktikern und
Rechtspolitikern auf einen breiten Konsens stoßen. Umfassendere Reformvorhaben, bei denen es eine kontroverse Diskussion geben wird, haben wir zunächst bewusst ausgeklammert; aber auch diese Punkte bleiben
auf der Agenda.
Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns unsere Verantwortung für eine funktionierende Justiz ernst nehmen! Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen ein.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Justizmodernisierungsgesetz“,
({0})
was darf man sich eigentlich darunter vorstellen? Kollege Stünker und ich sind nicht immer einer Meinung,
aber ich gebe ihm Recht in dem, was er am 27. Juni dieses Jahres hier vor diesem Hohen Hause gesagt hat: „Der
Name ist vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll.“
({1})
Nein, meine Kolleginnen und Kollegen, er ist nicht nur
ein bisschen zu anspruchsvoll, er ist voll daneben.
({2})
Ginge es der Bundesregierung um ein modernes Gesetz, wäre sie sich bewusst, dass dieses Gesetz auf dem
Prüfstand eines sozialen und gesellschaftlichen Wandels
bestehen muss, und dann wäre man auch sofort auf eine
offene Flanke des Strafprozesses gestoßen, die
Schumann schon im Jahre 1977 in der Monographie
„Handel mit der Gerechtigkeit“ abgehandelt hat. Der
Deal im Strafverfahren - damals und heute ein Dorn
im Auge der Rechtspolitiker, aber auch ein Dorn im
Auge der interessierten Öffentlichkeit.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat den Deal im Strafverfahren legitimiert. Der Bundesgerichtshof hat den
Deal im Strafverfahren legitimiert.
({4})
Erlauben Sie mir, Herr Kollege Ströbele, aus dem Praktikerkommentar von Lutz Meyer-Goßner zur Strafprozessordnung die Randziffer 119 b, der Einleitung zu zitieren:
Es ist aber heute allgemeine Erkenntnis, dass die
Absprachepraxis, die sich praeter legem entwickelt
hat, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Deswegen ist sie aber trotzdem nicht Gesetz.
Es wird weiter erwähnt:
Die überlastete deutsche Strafjustiz wäre ohne die
Absprachepraxis oftmals auch nur schwer in der
Lage, die Vielfalt von Großverfahren … zu erledigen.
Das macht den Deal verdächtig. Knickt die Justiz ein,
um die Überfülle von Strafverfahren in angemessener
Zeit abschließen zu können? Ist das eine Einbuße an
Recht? Ist das eine Einbuße an Gerechtigkeit?
Wenn man diese Kommentarstelle noch einmal liest,
erkennt man, was sie bedeutet: Da ist der Gesetzgeber
gefordert.
({5})
Es wäre ein modernes Gesetz, wenn man sich den Herausforderungen der Rechtsfortbildung stellte, die erstmals im Jahr 1977 diskutiert wurden.
({6})
- „Warten Sie doch mal ab!“, das höre ich von Ihnen,
Herr Stünker, und von der Regierungskoalition immer
wieder. Manchmal warten wir fünf Jahre und noch mehr.
Beim Strafvollzugsgesetz warten wir auch schon seit
fünf Jahren. Es kommt ebenfalls nicht. Soll ich Ihnen
noch mehr erzählen? Auf das Gesetz zum Opferschutz
warten wir schon seit acht Jahren. Das Adhäsionsverfahren kommt auch nicht. Wie lange sollen wir denn jetzt
noch warten? Wir müssen reagieren und dürfen nicht zuwarten.
({7})
Wenn man die Paragraphen des Justizmodernisierungsgesetzentwurfs und die Begründung anschaut,
merkt man sehr schnell: Es geht nicht um Modernisierung, es geht darum, vorhandene Ressourcen effektiver
einzusetzen. Das ist ein legitimes rechtspolitisches Interesse, nur muss man es dann auch sagen.
Was die Regierung mit diesem Entwurf bezweckt,
wird sie im Ergebnis nicht erreichen können. Ich möchte
Ihnen das an wenigen Beispielen erläutern.
Der Strafrichter soll in Zukunft eine Hauptverhandlung ohne Urkundsbeamten durchführen können.
({8})
Das entscheidet der Richter selbst. Zeigen Sie mir mal
den Richter, der sich mehr Arbeit macht, als er muss!
Zeigen Sie mir mal den Richter, der sich der Gefahr aussetzt, dass ein Verteidiger diese Situation ausnützt und
einen ellenlangen Beweisantrag nicht ausformuliert
Siegfried Kauder ({9})
vorlegt, sondern zu Protokoll gibt! Herr Kollege
Ströbele, darüber brauchen wir zwei uns nicht zu unterhalten; Herr Stünker, ich glaube, wir auch nicht.
({10})
Das wird nicht funktionieren.
Ein weiterer Aspekt. Schriftliche Gutachten aus anderen Verfahren sollen im Zivilprozess verwendet werden können. Ich frage mich: Was meint der Gesetzgeber
mit „anderen Verfahren“? Doch wohl auch den Strafprozess. Jetzt wissen wir aber, dass im Strafprozess ganz andere Beweisgrundsätze gelten als im Zivilprozess. Im
Strafprozess gilt der Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten. Im Zivilprozess haben wir Beweis- und Beweislastregeln.
({11})
Nehmen Sie einmal ein Sachverständigengutachten über
einen Verkehrsunfall aus dem Strafverfahren in ein Zivilverfahren! Das funktioniert hinten und vorne nicht!
Das heißt also, es ist nur heiße Luft, eine gesetzliche
Vorschrift, die nicht greifen wird.
Nicht anders sieht es mit der im Entwurf vorgesehenen Bindungswirkung von Tatsachenfeststellungen
im Strafverfahren auch für das Zivilverfahren aus.
Diese ist im Entwurf zwar bewusst eingeschränkt: Stellt
der Richter im Urteil fest, dass eine Tatsache als erwiesen zu gelten hat, bindet das auch den Zivilrichter. Sie
verlagern damit aber dennoch den Zivilprozess in den
Strafprozess.
Ob ein Richter eine Tatsache als bindend festgestellt
hat, ergibt sich nicht aus der mündlichen Urteilsbegründung, sondern erst aus der nachfolgenden schriftlichen
Urteilsbegründung, die nach Ablauf der Rechtsmittelfrist erfolgt. Das bedeutet also, es wird fast keine Urteile
mehr mit abgekürzten Urteilsgründen geben. Sie machen
damit den Strafrichtern nicht weniger, sondern mehr Arbeit, weil jeder verantwortungsvolle Verteidiger dem
Verurteilten anraten muss, gegen das Urteil vorsorglich
einmal Berufung einzulegen, weil er sonst Rechtsnachteile im Zivilverfahren befürchten muss. Auch das greift
also nicht.
Um aber ein Gesetz unter den Gesichtspunkten von
Beschleunigung und Effektivitätssteigerung von Strafverfahren zu verbessern, finden sich genügend Anhaltspunkte, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch nicht einmal angedacht haben. Warum um Gottes willen gibt es
im Falle einer Wirtshausschlägerei die Möglichkeit, über
drei Instanzen zu gehen, während es bei Mordverfahren
nur eine gibt?
({12})
- Das weiß jeder Jurist, dass wir drei Instanzen haben:
erste Instanz, Berufung und Revision. Schließlich gibt es
noch die Zurückverweisung nach gewonnener Revision.
({13})
Sie wissen es, Herr Kollege. Ansonsten schauen Sie
doch noch einmal im Gesetz nach.
Warum schaffen wir es nicht, endlich ein Wahlrechtsmittel wie im Jugendstrafrecht einzuführen, gemäß dem
man nach der ersten Instanz entscheiden kann, ob man in
Berufung oder in Revision geht? Damit wäre dann
Schluss. Das bedeutete keine Einschränkung der Rechtsweggarantie.
Warum schaffen wir nicht dieses unsägliche Rechtsinstitut des Privatklageverfahrens ab? Einem betroffenen Bürger, der eine Privatklage einreicht, wird ja nicht
zu seinem Recht verholfen, sondern er läuft in eine
Sackgasse; denn das Verfahren wird nach langer Zeit
eingestellt und verursacht ihm nur Kosten.
Warum erweitern wir das Strafbefehlsverfahren
nicht auf eine zweijährige Bewährungsstrafe? Der Einwand, dass es eine Bewährungsstrafe von ein bis zwei
Jahren nur unter besonderen Voraussetzungen gibt, greift
nicht. Auch das kann man aus den Ermittlungsakten ersehen.
Nicht befasst haben Sie sich mit dem Adhäsionsverfahren. Es wäre viel sinnvoller, anstelle der Bindungswirkung von Tatsachen dieses Verfahren im Strafverfahren besser zu verankern. Mit dem Adhäsionsverfahren
kann das Opfer einer Straftat auf einfachem Weg seine
zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche reguliert bekommen. Ich weiß, dass im Justizministerium ein Entwurf zu einem Opferrechtsreformgesetz herumgeistert,
({14})
das sich durch eine besondere Hypotrophie von Rechtsmitteln auszeichnet. Da ist hinten und vorne nichts praktikabel. Ich würde bitten, darüber noch einmal nachzudenken.
({15})
Eine ganz einfache Möglichkeit, den Strafprozess zu
straffen, wäre folgende: Lassen wir doch wie im Zivilprozess das Zugestehen von Tatsachen auch im Strafprozess zu. Das Zugestehen von Tatsachen ist derzeit
nicht möglich, weil eine Teileinlassung so gewürdigt
werden kann, dass sich das übrige Schweigen des Angeklagten nachteilig auswirkt. In Kriegswaffenkontrollverfahren führt das zum Beispiel dazu, dass wir ellenlange
Ladelisten und Bilanzen verlesen müssen, weil der Angeklagte nicht unbeschadet zugestehen kann, dass er
Kriegswaffen ins Ausland transportiert habe. Mit solchen Mitteln könnten Strafprozesse effektiver durchgeführt werden.
Wir Strafrechtler kennen die Vorschrift des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Strafprozessordnung.
Jetzt fragen Sie einmal die Strafrechtler unter uns, wie
oft sie ein Selbstleseverfahren erlebt haben. Dass es so
selten angewandt wird, liegt daran, dass nach den bisherigen gesetzlichen Regelungen ein Selbstleseverfahren
erst in der Hauptverhandlung und nicht schon in der
Siegfried Kauder ({16})
Vorbereitung der Hauptverhandlung möglich ist. Warum
lassen wir nicht zu, dass die Schöffen schon in Vorbereitung der Hauptverhandlung die Anklageschrift bekommen? Das ist derzeit nicht möglich. Eine einfache
Änderung der Nr. 126 RiStBV würde das schon bewerkstelligen können.
Meine Damen und Herren, man könnte den Katalog
der Beschleunigungsmöglichkeiten noch um ellenlange
Aufzählungen erweitern. Das will ich Ihnen aber zu dieser späten Stunde nicht antun. Eines überrascht und
beeindruckt mich zugleich: Der Seite der Koalitionsfraktionen, die mir, wenn ich im Parlament Vorschläge unterbreite, immer entgegenhält, dass damit Verteidigungsrechte eingeschränkt würden, danke ich, dass dieser
Einwand heute Abend nicht gekommen ist. All meine
Lösungsansätze erhalten die Verteidigungsmöglichkeiten aufrecht.
Nur ein Vorschlag aus dem Justizmodernisierungsgesetz schränkt Verteidigungsrechte ein, nämlich die Lockerung der Möglichkeiten der Vereidigung. Jeder Verteidiger weiß, dass die Vereidigungsmöglichkeiten ein
Einfallstor für Revisionsgründe sind und das Gericht
dem Druck aussetzen, sich zu bekennen, ob es einem
Zeugen glaubt oder nicht. Das heißt, die Verteidigung
muss sich andere Felder suchen, um Möglichkeiten für
Revisionen zu eröffnen. Auch da nur Steine statt Brot.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition
und Frau Ministerin - der ich das auszurichten bitte -,
ich ersuche Sie dringend, sich Gedanken darüber zu machen, ob meine Lösungsansätze nicht zu einer deutlichen
Beschleunigung des Strafverfahrens führen würden.
Wenn dies nicht geschieht, kann ich Ihnen leider keine
recht gute Nacht wünschen, sondern kann nur sagen:
Gute Nacht, Recht!
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Ströbele vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Abend, Herr Präsident! Guten Abend, verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, Sie
haben auf der Diskussion zu dieser späten Stunde bestanden. Deshalb habe ich mir eigentlich viel mehr davon erwartet.
({0})
Ich dachte, Sie machen jetzt zu dem vorliegenden Gesetzentwurf gravierende Einwendungen, die es ja tatsächlich gibt und über die wir in den Ausschüssen sicher
noch diskutieren werden.
Ich kann Ihnen versichern: Der Deal im Strafverfahren liegt uns allen am Herzen. Ich hatte in meiner
30-jährigen Praxis als Strafverteidiger sehr viel damit zu
tun. Aber wenn Sie das gesetzlich regeln wollen, treffen
Sie auf ungeheuer viele Schwierigkeiten. Deshalb stellt
sich hier die Frage: Beschränken wir uns nicht lieber auf
allgemeine Hinweise auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der eine ganze Reihe von grundsätzlichen Erwägungen angestellt hat? Diese können Sie nicht
alle im Gesetz verankern.
({1})
Dann wären wir dabei. Ich kann Sie trösten: Sie brauchen nicht mehr lange zu warten, dann haben Sie einen
Vorschlag dazu auf dem Tisch, an dem Sie sich abarbeiten können.
({2})
Ich meine, dass das Justizmodernisierungsgesetz eine
ganze Reihe von echten Verbesserungen bringt. Ein
Punkt, über den wir alle hier nicht diskutiert haben
- auch der Kollege Hartenbach hat ihn nur angedeutet -,
ist, dass sich die Richter, vor allen Dingen die Zivilrichter am Amtsgericht, auf den eigentlichen Kern der
Rechtsprechung konzentrieren können, indem viele Aufgaben,
({3})
für die heute ein Richter zuständig ist, auf den Rechtspfleger übertragen werden, so etwa in Nachlassangelegenheiten, aber auch in Handelssachen. Das ist ein wichtiger Fortschritt.
Wichtig ist auch - damit komme ich zum Strafverteidiger -, dass eine Möglichkeit geschaffen wird, gegen
die ich früher war, nämlich dass nach Durchsuchungen
in Zukunft auch Polizeibeamte Schriftstücke und
Datenträger durchsehen dürfen. Denn wir haben sehr
häufig festgestellt, dass weder der Verteidiger, der vielleicht anwesend ist, noch der Staatsanwalt über das technische Wissen und die Kompetenz verfügen, um an diese
Daten heranzukommen, weshalb sie oft wochen-, monate- oder manchmal sogar jahrelang nicht geprüft werden. Die Kompetenz haben in der Regel die Polizeibeamten, die der Staatsanwalt dann aufsuchen muss. Im
Allgemeinen gehen sie die Daten dann doch gemeinsam
durch. Es wäre ehrlicher, wenn das in Zukunft direkt
durch den Polizeibeamten, den Fachmann, erfolgen
könnte, der mit einem solchen Datenträger umgehen
kann. Das bringt eine Erleichterung.
Es bringt ebenfalls eine Erleichterung, wenn Sie dem
Richter in Zukunft die Möglichkeit eröffnen - ich weiß
nicht, warum Sie das kritisieren -, eine Hauptverhandlung auch ohne Protokollführer durchzuführen, wenn
dieser nicht greifbar ist. Er könnte dann die wesentlichen
Förmlichkeiten der Hauptverhandlung notieren und sie
anschließend ins Reine schreiben. Wenn Sie das für den
falschen Weg halten, bitte ich Sie, das dem Justizminister Ihres Landes, Baden-Württemberg
({4})
- Entschuldigung -, vorzutragen und zu erklären, warum Sie das nicht mittragen. Das wäre eine echte Erleichterung und würde in vielen Fällen dazu führen,
dass einfache Hauptverhandlungen auch dann durchgeführt werden könnten, wenn Mangel an Personal
herrscht oder jemand plötzlich krank geworden ist.
({5})
Sie können sich dabei auch technischer Mittel bedienen. Es ist jetzt vorgesehen - ich glaube nicht, dass das
so schnell greift, weil die Justiz erst noch die Geräte anschaffen muss -, dass der Richter in Zukunft auf einen
Knopf drücken und spontan etwas mitschneiden und hinterher schnell abdiktieren kann, wie auch Sie das in Ihrer
Praxis wahrscheinlich machen. Dann hat er eine verlässliche Grundlage für die Anfertigung des Protokolls.
Es gibt eine sehr pfiffige Weiterung im Zivilprozess.
Es soll in Zukunft möglich sein, dass der Richter von
dem Unmittelbarkeitsgrundsatz absieht. Wenn er einen Zeugen fragen will, ob er überhaupt etwas gesehen
habe, oder er von einem Sachverständigen wissen will,
was dessen Gutachten ergeben habe oder was sich ändere, wenn diese oder jene Variante eintrete, dann kann
er einfach anrufen oder sich mit ihm per E-Mail in Verbindung setzen und während der Hauptverhandlung
diese Frage klären. Dadurch wird eine Verzögerung vermieden.
Ich gestehe Ihnen zu, dass dazu natürlich die Justiz
mit den entsprechenden Apparaten ausgerüstet werden
muss. Es darf einfach nicht so lange dauern wie etwa
hier in Berlin, wo wir zehn Jahre darauf gewartet haben,
dass ein zweites Faxgerät für die gesamte Justiz angeschafft wird.
({6})
Das muss relativ zügig geschehen.
Als jemand, der viel in Großverfahren verteidigt hat,
weise ich auf einen dritten und letzten ganz wichtigen
Punkt hin. Es ist und war schon lange an der Zeit, die
Möglichkeiten der Unterbrechung der Hauptverhandlung in Großverfahren endlich auszudehnen. Es ist ein
Unwesen, was Sie heute noch jede Woche hier in Moabit
am Gericht erleben können: Es finden so genannte
Schiebetermine statt, zu denen die Prozessbeteiligten
sich treffen und für eine Viertelstunde oder für zehn Minuten ungeheuer hohe Kosten verursachen - nur weil sie
keine längere Unterbrechung durchführen können. Dadurch sind die Kosten vieler Prozesse erheblich aufgebläht worden.
Das beenden wir jetzt, indem wir den Gerichten sehr
viel flexiblere Handlungsmöglichkeiten schaffen, länger
zu unterbrechen oder zu vertagen, zum Beispiel wenn
ein Angeklagter, ein Staatsanwalt, ein Richter oder ein
Verteidiger krank geworden ist.
Denken Sie bitte an die Zeit.
Letzter Punkt, Herr Präsident.
In einem Punkt gebe ich Ihnen allerdings Recht: Die
Frage der Übertragung von Urteilen aus Strafverfahren in Zivilverfahren ist ein echtes Problem. Darüber
müssen wir uns auseinander setzen. Eine Reihe von problematischen Punkten dazu haben Sie genannt.
Trotzdem ist das Justizmodernisierungsgesetz ein
wichtiger Schritt in die richtige Richtung, die Justiz effektiver zu gestalten.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hartenbach, richten Sie bitte den Wortschöpfern in
Ihrem Justizministerium unsere besten Grüße aus. Denn
was wir in letzter Zeit im Bereich der Justizreform, der
Justizbeschleunigung, der Justizentlastung und der Justizanpassung erlebt haben, ist ganz fantastisch, aber mehr
Schein als Sein.
({0})
Dasselbe gilt natürlich auch für die letzte Justizreform, die hier noch im letzten Jahr von den damaligen
Koalitionsfraktionen, die auch die heutigen sind, durchgepeitscht wurde. Ich glaube, wir wären gut beraten, ehe
wir mit dem Justizmodernisierungsgesetz ein neues Reformwerk anpacken, erst einmal zu evaluieren, was aus
den alten, vor einem Jahr beschlossenen Justizreformen
eigentlich geworden ist und ob das alles Sinn gemacht
hat.
({1})
Zum Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung hat sich die FDP bereits mehrfach geäußert. Es war
sicherlich zu begrüßen, dass Bundesregierung und Bundesländer zunächst einen Konsens gefunden haben. Wir
verkennen auch nicht, dass der Gesetzentwurf einige
sinnvolle Regelungen enthält. Sie, Herr Staatssekretär,
haben zu Recht auf die Verlängerung der Zehntagefrist
aufmerksam gemacht. Sie ist sicherlich sinnvoll.
An anderer Stelle sind die Reformen von rein fiskalischen Überlegungen geprägt. Dies darf aber nicht der
Schwerpunkt der Reformüberlegungen sein. Die Reformen im Bereich der Justiz können eigentlich nur dann
Sinn machen, wenn sie geeignet sind, die Justiz stark,
bürgernah und leistungsfähig zu machen.
({2})
Wenn darüber hinaus Kosteneinsparungseffekte erzielt
werden können, dann begrüßen wir das. Das kann aber
nicht der einzige Zweck sein.
Lassen Sie mich einen besonders kritischen Punkt ansprechen. Die geplante Tatsachenbindung der Zivilrichter an die Ergebnisse der Strafgerichte begegnet
unseren großen Bedenken - offensichtlich auch den Bedenken der Grünen, das begrüßen wir sehr. Diese Forderung, die die Bundesregierung erhebt, verkennt, dass die
Beweisziele im Zivil- und Strafprozess völlig unterschiedlich sind. Während im Strafprozess der Untersuchungsgrundsatz sowie der Grundsatz „in dubio pro reo“
gilt, herrschen im Zivilprozess der Dispositions- und der
Verhandlungsgrundsatz. Da im Strafverfahren künftig in
der Beweiserhebung zusätzlich sämtliche zivilrechtlichen Fragestellungen berücksichtigt werden müssten,
kann das Ziel der Justizentlastung in keinem Fall erreicht
werden.
({3})
Auch das Argument einer Verbesserung des Opferschutzes ist eigentlich nur vorgeschoben. Bereits heute
kann das Opfer seine Entschädigungsansprüche im Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO geltend machen.
({4})
- Herr Stünker, es ist ja gerade das Problem, dass die
Strafrichter kein Zivilrecht anwenden können oder wollen.
({5})
- Das ist sehr unterschiedlich. Wenn sie zeit ihres Lebens nur mit Strafrecht befasst waren, möchte ich diesen
Richtern auch nicht zumuten - im Übrigen auch den Prozessbeteiligten nicht -, ein Urteil im zivilrechtlichen
Sinne zu fällen.
Herr Kollege Funke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme sofort zum Schluss.
Wir teilen die Auffassung der Grünen, dass wir im
Rechtsausschuss in diesem Punkt nachbessern müssen.
Ich glaube, das wird uns gemeinsam auch gelingen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Funke,
in einer Einschätzung, die Sie hier abgegeben haben,
kann ich Sie nur ausdrücklich unterstützen: Justizpolitik
und Rechtspolitik können nur funktionieren, wenn sie
Rechtspolitik im wahren Sinne des Wortes ist und nicht
Fiskalpolitik.
({0})
Da haben Sie völlig Recht; an der Stelle stimmen wir Ihnen ohne weiteres zu. Nur, ich muss Ihnen offen sagen:
Ich hatte den Eindruck, dass Sie an der Stelle nicht über
das Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung
reden, sondern über das Justizbeschleunigungsgesetz der
CDU/CSU, das an dieser Stelle schon mehrfach eine
Rolle gespielt hat.
({1})
Wir sind - das ist auch der Ausgangspunkt für unsere
Überlegungen - zumindest in der ersten Lesung und, so
denke ich, auch in den Beratungen, die folgen werden,
auf dem gleichen Weg wie die Bundesregierung. Die
Justizreform - so sie denn im geplanten Umfang stattfindet - entspricht genau den Vorgaben, die wir als Juristen
für eine Justizpolitik definieren. Diese Vorgaben sind
zum einen eine Stärkung der Justiz, zum anderen aber
auch eine Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger bei der Verfolgung ihrer Rechte vor den Gerichten.
Das sage ich an dieser Stelle auch ausdrücklich vor dem
Hintergrund, dass wir beschleunigen wollen, dass Beschleunigung aber gerade nicht auf dem Rücken derjenigen ausgetragen werden soll, die Recht suchen. Sie sollen ihr Recht weiterhin bekommen. Wir wollen
versuchen, die Reform so zu gestalten und so zu formulieren, dass dies schneller, dass dies effektiver, aber weiterhin unter Bewahrung rechtsstaatlicher Grundsätze geschieht. Deshalb begrüßen wir den vorgelegten Entwurf.
({2})
Wir haben über die Frage der Verwertung von vorausgegangenen strafrechtlichen Urteilen und Vernehmungen in einem Zivilprozess diskutiert und werden darüber auch in Zukunft kritisch diskutieren. Ich
glaube, da sind wir - möglicherweise über die Fraktionen hinweg - unterschiedlicher Auffassung. Ich habe gerade sehr wohl vernommen, was Sie gesagt haben, und
glaube auch, dass an Ihrer Kritik das eine oder andere
berechtigt ist.
Nur, an einer Stelle muss man aus meiner Sicht auch
einmal innehalten und hinterfragen, gerade wenn man in
der Praxis ist - ich bin noch nicht so lange aus der Praxis; im Gegenteil, ich mache das, so gut es geht, noch etwas weiter -: Gerade bei den viel zitierten Verkehrsunfällen findet relativ zeitnah zu dem Unfallereignis die
Vernehmung des Zeugen im Bußgeld- oder Strafverfahren statt. Diese wird protokolliert. Dann dauert es - das
sind unsere Erfahrungswerte - bis zur ersten Beweisaufnahme im Zivilprozess ein halbes Jahr, ein Jahr oder
auch länger. Derselbe Zeuge wird wieder vernommen
und er sagt - auch wegen der möglicherweise unterschiedlichen Beweisgrundsätze - etwas völlig anderes
als in seiner Vernehmung vor der Polizei, vor der Ordnungsbehörde oder vor dem Strafgericht. Jetzt wird ihm
in der mündlichen Verhandlung vor dem Zivilgericht
das, was er damals gesagt hat, vorgehalten. Dann sagt er:
Jawohl, wenn ich mich richtig erinnere, war meine erste
Aussage unmittelbar nach dem Ereignis wohl richtig.
Ich bitte, das zu bedenken, wenn man in Bausch und
Bogen über unterschiedliche Ansätze bei der Beweisermittlung und bei der Ermittlung der Wahrheit in diesem
Verfahren spricht. Wir werden über diese Probleme reden; aber ich halte diese Regelung nicht für völlig abwegig.
Einen weiteren Punkt will ich nur in aller Kürze ansprechen. Ich wundere mich an dieser Stelle, dass das,
was die Opposition immer gefordert hat und was wir
jetzt vorsehen, von ihr nicht positiv dargestellt worden
ist: Die Unterbrechungsdauer im Strafverfahren aufgrund der vielen Schiebetermine, die wir immer beklagt
haben, wird nun endlich rechtsstaatlich vernünftig unter
den Aspekten des § 229 StPO geregelt. Das betrifft nicht
nur den Gang der Justiz. Damit wird vielmehr auch auf
das Unverständnis der Beteiligten eingegangen, die staunend davor stehen, wie an dieser Stelle in vielen Fällen
in der Strafjustiz verfahren wird.
Zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung
trägt außerdem - auch das ist ein sehr wichtiger Punkt,
der in diesem Gesetzentwurf angegangen wird - die
Möglichkeit des Gerichts bei, in begründeten Einzelfällen - darauf lege ich Wert - mit Einverständnis der Parteien vom Strengbeweis und Unmittelbarkeitsprinzip
abzusehen und die neuen modernen Kommunikationsmittel zu nutzen. Das verschafft dem Richter die nötige
Flexibilität im Verfahren und erspart den Parteien und
den Zeugen Kosten, Zeit und Unannehmlichkeiten.
Auch hierin sehen wir einen positiven Ansatz, der sich
jedenfalls aus unserer Sicht durchaus mit dem Begriff
„modern“ umschreiben lässt.
Ich will einen Bereich ansprechen, der heute noch
keine Rolle gespielt hat - vielleicht deswegen, weil es
sich hierbei nur um Ordnungswidrigkeiten handelt -,
wobei er in der Praxis eine ganz evidente Bedeutung hat,
weil gerade Ordnungswidrigkeitenverfahren mit bestimmten Verzögerungstaktiken gegen das Rechtsbewusstsein der Betroffenen verstoßen. Dabei handelt es
sich im Wesentlichen um Verfahrenstricks, die auch ich
kenne und die ich angewendet habe - ich bekenne mich
ausdrücklich dazu -, um beispielsweise die Tilgung alter
Verstöße zu erreichen.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird
versucht, eine Neufassung des § 25 StVG zu formulieren. Es wird auf diese Weise solchen Verfahrenstricks
mit guten Methoden und Mitteln entgegengetreten. Hiernach gilt grundsätzlich die Tatzeit als objektives Anknüpfungsmerkmal und nicht das mehr oder weniger zufällige Datum der letzten tatrichterlichen Entscheidung.
Wenn aber in Zukunft die Tatzeit und nicht das Urteil
oder der Strafbefehl entscheidet, wird die Justiz - so
empfinden wir das - von einer ganzen Reihe von am
Rande des Rechtsmissbrauchs geführten Rechtsbehelfen
befreit werden. Auch das entlastet die Justiz und begünstigt den rechtstreuen Bürger.
Meine Damen und Herren, wir wollen über diesen
Gesetzentwurf kritisch diskutieren. Ich freue mich auf
die Diskussion im Ausschuss. Wir sagen auch: Verfahrensbeschleunigungen an sich sind nichts Negatives. An
dieser Stelle möchten wir uns aber deutlich von dem abgrenzen, was die Opposition in den letzten Wochen und
Monaten zum so genannten Justizbeschleunigungsgesetz
vorgelegt hat.
({3})
- Die größere Oppositionspartei.
Zum Abschluss will ich feststellen: Es hat einmal in
Nordrhein-Westfalen den Versuch gegeben - das weiß
ich aus eigener leidvoller Erfahrung -, das Justizressort
zu entmachten und einem anderen Ressort zuzuschlagen.
({4})
Das ist glücklicherweise - so sage ich einmal - von der
Verfassungsgerichtsbarkeit gekippt worden. Wir allerdings wollen - das unterscheidet uns deutlich von der
CDU/CSU -, dass die Justiz- und Rechtspolitik als eigenständiger politischer Faktor erhalten bleibt und keine
Unterabteilung des Finanzministeriums wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 15/1508 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Für eine schnelle rechtsstaatliche Information
betroffener Rentner über die fehlerhafte maschinelle Vergleichsrentenberechnung der BfA
nach § 307 b SGB VI
- Drucksache 15/839 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Für eine gerechte Versorgungsregelung für
das ehemalige mittlere medizinische Personal
in den neuen Ländern
- Drucksache 15/842 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Klaus Haupt von der FDP-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beide heute vorliegenden Anträge haben eine Gemeinsamkeit: Sie betreffen Anliegen älterer Menschen in den
neuen Bundesländern. Ihre Themen werden dort mit großer Sensibilität und Interesse verfolgt.
Im Rentenrecht der DDR gab es die Besonderheit,
die Mitglieder des mittleren medizinischen Personals
- also Krankenschwestern, Hebammen, Physiotherapeuten, Fürsorgerinnen und andere Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialwesens - durch die Aussicht auf eine
höhere Rente im Beruf zu halten. Die Arbeit selbst
wurde nicht gut bezahlt. Dazu kamen Belastungen durch
Schichtdienst, Nacht- und Wochenendeinsätze. Per Gesetz wurde diesen Beschäftigten daher ein Rentenanspruch mit dem Steigerungsfaktor von 1,5 Punkten bei
der Berechnung berücksichtigt. So wurde es auch nach
1990 gehandhabt; bis 1996 gab es Bestandsschutz. Aber
für alle, die ab 1. Januar 1997 ins Rentenalter eintraten,
sollte diese Regelung - in der Erwartung, dass die Einkommensverhältnisse in den neuen Ländern bis dahin
das Westniveau erreicht haben - nicht mehr gelten.
Dies ist jedoch bis heute nicht der Fall. Rund 340 000
Menschen sind von dieser Rentenkürzung betroffen.
Der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion fordert ein faires Rentenrecht auch für die, die ab 1997 in Rente gegangen sind. Ihre derzeitige Schlechterstellung ist inakzeptabel, da der Steigerungsbetrag zu den erworbenen
Rentenansprüchen gehört und dem Eigentumsschutz unterliegt.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
durch gesetzgeberische Eingriffe in Rentenanwartschaften diese durchschnittlich um nicht mehr als 10 Prozent
gemindert werden dürfen. Dieses Postulat wird für Bedienstete des mittleren medizinischen Personals der
DDR, die ab dem 1. Januar 1997 in das Rentenalter eintraten, verletzt.
Hier geht es um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann es
nicht einfach nach Kassenlage geben. Rechtmäßig erworbene, erarbeitete Ansprüche müssen auch erfüllt
werden. Es geht nicht darum, unseren Antrag unbedingt
eins zu eins umzusetzen. Es geht hier auch nicht um Parteipolitik. Es geht um eine Anschlusslösung für die Betroffenen - egal welcher Art -, die wir gemeinsam schaffen sollten.
({0})
Das andere Problem sind die Anwartschaften von Rentnern aus den neuen Bundesländern, die einen Anspruch
auf eine Zusatz- und Sonderversorgung als Lehrer mit
Hochschulabschluss, als Ärzte bzw. Wissenschaftler der
ehemaligen DDR hatten. Diese mussten im Jahre 2001
neu berechnet werden, was die BfA auch tat. Nur: Die
Behörde nahm nicht - wie vorgeschrieben - die tatsächlichen Verdienste als Grundlage, sondern gekürzte Verdienste, weil sie nur auf die Daten der Rentenversicherung, nicht jedoch auf die Daten der Zusatzversicherung
zurückgriff.
Angesichts des hohen Alters der betroffenen 250 000
Rentner in den neuen Ländern war es unser gemeinsames Anliegen als Gesetzgeber, durch ein schnelles, maschinelles Berechnungsverfahren eine zeitnahe Neuberechnung zu erreichen. Die maschinelle Berechnung
sollte die Verfahrensdauer abkürzen; jedoch nicht, um
die Renten der Betroffenen zu kürzen. Eine systematische Fehlberechnung hat der Gesetzgeber nicht gewollt.
Schnell, aber nicht falsch war unser gemeinsames Ziel.
Wir sind uns einig: Die fehlerhaften Berechnungen
der BfA sind eine Zumutung für die hochbetagten Betroffenen, die nach langer Wartezeit fehlerhafte Bescheide erhalten, deren Fehler sie aber nicht erkennen
können, weil sie nicht darauf hingewiesen werden. Das
schädigt aus unserer Sicht das Vertrauen der Bürger in
den Rechtsstaat.
Eine komplette neue Einzelfalldurchführung scheint
uns allerdings nicht im Interesse der Betroffenen zu sein,
da dies zu unnötigen Zeitverzögerungen führt. Deshalb
fordern wir in unserem Antrag erstens, dass in Zukunft
eine maschinelle Berechnung nur zulässig ist, wenn die
Betroffenen über die mögliche Fehlerhaftigkeit umfassend belehrt werden. Zweitens fordern wir, dass diese
Information natürlich auch an die Rentner gegeben wird,
die seit 2001 möglicherweise fehlerhafte Bescheide erhalten haben. Ich meine, dass alle hier im Hause vertretenen Fraktionen dieser Forderung zustimmen können,
und bitte Sie alle deshalb herzlich, dieses berechtigte
Anliegen der Betroffenen ohne Vorbehalt sachlich zu
prüfen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in den beiden Anträgen nicht um Parteipolitik - ich wiederhole
mich -, es geht auch nicht darum, irgendwelche Privilegien für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu erzielen,
sondern darum, dass rechtmäßig erworbene Ansprüche
erfüllt werden. Es geht zum einen um Gerechtigkeit und
um rechtstaatliche Verfahren zum anderen. Deshalb bitte
ich um Unterstützung, damit das Vertrauen in den
Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bei den
Menschen in den neuen Bundesländern keinen Schaden
nimmt.
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Herr Haupt, bei den Anliegen der FDP machen wir eine
ganz neue Erfahrung. Normalerweise setzen Sie sich
stärker für die Besserverdienenden ein,
({0})
bei diesem Antrag liegen Ihnen die Menschen mit geringerem Einkommen am Herzen. Ich will festhalten, dass
wir diesen Antrag vor einem Jahr im Parlament schon
einmal beraten haben. Auf der gestrigen Sitzung des
Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung allerdings waren die Änderungsanträge der FDP ein Beleg
dafür, dass sie doch eher die Interessen der Pharmaindustrie, der Zahnärzte und der Kassenärztlichen Vereinigungen vertritt.
Ihr wortgleicher Antrag wurde am 12. Juni im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung beraten und am
Ende abgelehnt. Die CDU/CSU hatte sich der Stimme
enthalten. Die Argumente sind im Grunde genommen
ausgetauscht. Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass man den
Menschen hinsichtlich ihrer Anliegen, die verständlich
sind, Hoffnung macht. Denn ich sehe keinen Weg, wie
wir sie erfüllen können.
({1})
Auch Ihr zweiter Antrag über die Vergleichsrentenberechnung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte verunsichert höchstens. Der Antwort auf Ihre
Kleine Anfrage vom 13. März dieses Jahres konnten Sie
entnehmen, dass das, was getan werden muss, getan
wird. Trotz allem fordern Sie, dass die Rentnerinnen und
Rentner, die in der ehemaligen DDR Zusatz- oder Sonderversorgte waren und deren Rentenbeginn vor dem
1. Januar 1992 lag, über etwaige Ungenauigkeiten bei
ihren Vergleichsrenten informiert werden. Es muss Ihnen
doch bekannt sein, dass bisher nur wenige Bescheide berichtigt werden mussten und dass die BfA, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, mit Informationsveranstaltungen und mithilfe der Medien dafür gesorgt
hat, dass die infrage kommenden Menschen informiert
wurden und sich in der Zwischenzeit an die BfA zwecks
Überprüfung wenden konnten.
Als der Bundestag die Neufassung von § 307 b des
Sozialgesetzbuches VI beschlossen hat, wurde damit
ausdrücklich legitimiert, maschinelle Bescheide zu verschicken.
({2})
Man hat den Weg der maschinellen Bescheiderteilung
auch deshalb gewählt - darin bestand Einigkeit -, um
den bereits älteren Rentnerinnen und Rentnern möglichst
zeitnah Verbesserungen bei der Vergleichsberechnung
zukommen zu lassen.
({3})
Es war allen klar, dass hierbei nicht immer die tatsächlichen Verdienste berücksichtigt wurden, zumal die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erst seit
Herbst 1997 über diese Daten verfügt. Ich denke, Ihr
Antrag verunsichert nur.
Aber auch mit dem Antrag, dem mittleren medizinischen Personal - damit ist vor allen Dingen das Pflegepersonal gemeint - in der Rente den besonderen Steigerungssatz zuzugestehen, weckt Hoffnungen und schürt
neue Unsicherheiten bei Rentnerinnen und Rentnern in
Ost und auch in West. Mir ist nicht ganz klar, warum wir
das nach einem Jahr wieder debattieren müssen. Ein
gleich lautender Antrag wurde vor einem Jahr abgelehnt.
Die Grundlagen haben sich seitdem nicht verändert.
Eine der Grundlagen ist das Renten-Überleitungsgesetz, das unter CDU/CSU und FDP beschlossen wurde.
Es basiert auf derselben Grundlage wie das
Sozialgesetzbuch VI: Für die Rentenberechnung sind die
Arbeitseinkünfte maßgebend, für die Beiträge gezahlt
worden sind.
Nun fordern Sie, von fiktiven zusätzlichen Arbeitsentgelten auszugehen und damit den besonderen Steigerungssatz des 1,5fachen des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes zu übernehmen. Ich denke, das lässt sich mit
dem Äquivalenzprinzip nicht vereinbaren, obwohl natürlich klar ist, warum es für Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal in der ehemaligen DDR diesen besonderen Steigerungssatz für die Rente gegeben
hat: Sie wurden schlecht bezahlt, hatten hohe Belastungen und konnten sich die Beiträge zur freiwilligen Zusatzversicherung meistens nicht leisten. Ich denke aber,
dass es auch im Westen niedrig entlohnte Dienste im Bereich der Pflege gibt.
Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass das alles in Ordnung ist. Ich meine, wir tun uns allen keinen
guten Dienst damit, dass wir diese Diskussion erneut beginnen und Hoffnungen wecken, die nachher nicht erfüllt werden können.
({4})
Lieber Herr Haupt, wir können doch nicht nur mit einer
Personengruppe beginnen. Sie wissen ganz genau, dass
es im Bereich der Zusatzversorgungsrente noch ganz andere Personengruppen gegeben hat. Wir würden also mit
der einen Gruppe beginnen und Sie kämen dann mit der
nächsten Gruppe und dem nächsten Antrag. Ich denke,
Ihr Verhalten ist an dieser Stelle - gelinde gesagt - doch
recht populistisch.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In wenigen Tagen begehen wir zum 13. Mal den
Tag der Deutschen Einheit. Im Einigungsvertrag wurde
festgelegt, die Rentenansprüche aller Menschen aus dem
Beitrittsgebiet in das bundesdeutsche Recht zu überführen - eine Aufgabe nie gekannten Ausmaßes. Die Kompliziertheit dieser Problematik ist heute schon angerissen
worden.
Mit dem Renten-Überleitungsgesetz war dieser Prozess 1992 zunächst abgeschlossen. Die Rentner in den
neuen Bundesländern, insbesondere auch die Frauen, haben vornehmlich aufgrund der vielen Arbeitsjahre eine
Aufwertung erhalten. Sie verstehen sich bis heute mehrheitlich als die Gewinner der deutschen Einheit. Das haben sie auch verdient. Bestimmte Berufsgruppen fühlen
sich aber benachteiligt bzw. sind es objektiv bis heute
noch. Opfer des SED-Unrechts beklagen zum Beispiel,
dass sie weniger Rente erhalten als die Mitarbeiter des
Staatsapparates. Gerade diesen Aspekt dürfen wir bei
dieser Diskussion nicht aus den Augen verlieren.
({0})
Gerichtliche Entscheidungen haben den Gesetzgeber
immer wieder gezwungen, nachzubessern. So entstanden
neue Ungereimtheiten. Das ist eine Tatsache, die uns
auch heute wieder beschäftigt. Vielleicht ist eine abschließende hundertprozentige Regelung überhaupt
nicht möglich. Wir müssen uns aber immer wieder darum bemühen. Wir Abgeordnete sind verpflichtet, diese
Fragen weiter zu begleiten. Der vorliegende Antrag „Für
eine schnelle rechtsstaatliche Information betroffener
Rentner über die fehlerhafte maschinelle Vergleichsrentenberechnung der BfA nach § 307 b SGB VI“ ist deshalb berechtigt.
Zum Hintergrund: Am 28. April 1999 hat das Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen zu der Überleitung der DDR-Rentenansprüche,
speziell zur Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der DDR in bundesdeutsches Recht, Stellung genommen. Zwei Verfassungsbeschwerden befassten sich
mit der Neuberechnung von Bestandsrenten, also von
Renten sonder- und zusatzversorgter Personen, die schon
am 31. Dezember 1991 Rente erhalten haben. Das müssen wir immer wieder klarstellen.
In Folge hat also die rot-grüne Bundesregierung im
Zweiten Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz im Jahre 2001 die Umsetzung der Rechtsprechung vorgenommen, aber eben nur diese, nicht
mehr. Bei der Neuberechnung von Bestandsrenten aus
Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatz- und Sonderversorgungssystem der DDR wurden für die Ermittlung
der persönlichen Entgeltpunkte Ost die während der gesamten Versicherungszeit bezogenen tatsächlichen Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen zugrunde gelegt,
während nach DDR-Recht nur der Schnitt der letzten
20 Jahre berücksichtigt wurde. Daraus ergaben sich bei
den Rentnern mit Zusatzversorgungen Benachteiligungen. Deshalb muss nunmehr eine Neuberechnung vorgenommen werden.
Der Gesetzgeber hat der BfA erlaubt, für die Neuberechnung ein maschinelles Verfahren anzuwenden.
Praktisch bedeutet dies, dass die BfA auf den vorhandenen Versicherungsverlauf zurückgreifen kann, ohne dass
eine inhaltliche Prüfung erfolgen muss. Das sollte der
Beschleunigung des Verfahrens dienen, wie heute schon
erwähnt wurde, weil es in der Regel um Betroffene im
hohen Alter geht.
Problematisch ist also, dass die BfA nur eine Neuberechnung nach den tatsächlichen Entgelten vornimmt,
wenn die Betroffenen Widerspruch einlegen. Deshalb
fragen wir, warum die Rentner in den Bescheiden nicht
über die Möglichkeit einer falschen Vergleichsberechnung durch dieses maschinelle Verfahren informiert
wurden.
({1})
Hier steht das Ministerium in der Pflicht, wir sehen eine
Verantwortung des Ministeriums.
({2})
Der Wirrwarr der vielen Regelungen ist selbst für uns
kaum noch überschaubar. Wie dann für die Betroffenen?
Eine Informationskampagne wäre deshalb wirklich
notwendig gewesen. Es muss ja nicht gleich eine solche
sein wie gegenwärtig zur Agenda 2010.
Das Ministerium hätte gegenüber der BfA zumindest
einen entsprechenden Hinweis in den Rentenbescheiden
durchsetzen müssen. Man kann nicht rund 250 000 Rentnern eventuell höhere Ansprüche - nicht jeder hat einen
höheren Anspruch - aus ihrem Arbeitsleben vorenthalten. Deshalb ist die Forderung korrekt, bei maschinell erstellten Bescheiden wenigstens in Zukunft den Hinweis
auf das Recht der Überprüfung anzubringen.
Die Zahl der bisher korrigierten Bescheide lässt sich
nicht ermitteln, zumindest habe ich keine Hinweise darauf gefunden. Das Argument, eine nachträgliche Information an die betroffenen Rentner könnte erhebliche Irritationen auslösen oder falsche Erwartungen wecken,
nehmen wir ernst, Frau Lotz. Aber wir stellen uns der
Verantwortung, weil wir der Gerechtigkeit verpflichtet
sind und deshalb auch eine Informationspflicht haben.
({3})
Im zweiten Antrag geht es um die gerechte Versorgungsregelung für das ehemalige mittlere medizinische
Personal in den neuen Bundesländern. Wer im Gesundheitswesen arbeitete, hatte einen schönen, aber anstrengenden Job. Das gilt auch heute. Nachtschichten und
Sonntagsdienste sind völlig normal. Weil in DDR-Zeiten
das so genannte mittlere medizinische Personal wie
Krankenschwestern, Hebammen oder Physiotherapeuten
nicht besonders gut verdient hat, wurde es mit der Aussicht auf eine höhere Rente im Beruf gehalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass man dieses Personal händeringend suchte. Die Beschäftigten haben sich seinerzeit auf
die gesetzliche Zusage verlassen, dass ihre in dieser Zeit
erworbenen Rentenansprüche um die Hälfte erhöht werden. Wie allerdings die DDR-Regierung dies begleichen
wollte, bleibt ungeklärt, denn sie war, wie wir wissen,
pleite.
({4})
Das muss man natürlich sagen. Das haben aber nicht die
Betroffenen zu verantworten; das müssen wir politisch
lösen.
Dennoch müssen wir anerkennen - das gebe ich zu -,
dass diese Personengruppe auf diese Zusage baute. Bis
Ende 1996 ging diese Regelung auch in das Rentenrecht
ein. Das wurde heute schon gesagt. Allerdings sind die
zusätzlichen Summen als Auffüllbeträge gewährt worden und wurden mit jeder Rentenerhöhung abgeschmolzen. Deshalb gilt die Regelung seit 1997 nicht mehr, wie
Herr Haupt zu Recht schon festgestellt hat.
Etwa 340 000 Mitarbeiter des Gesundheits- und
Sozialwesens sind davon betroffen, darunter eine große
Anzahl von Frauen. In meiner Sprechstunde kann ich
immer wieder erleben, dass dies als ungerecht empfunden wird. Gerade bei allein stehenden Frauen und Witwen wirkt sich die eher bescheidene Rente gravierend
auf die Lebensführung aus. Ich habe sehr verbitterte
Menschen kennen gelernt, die die Hoffnung auf eine
Nachbesserung nicht aufgegeben haben und nicht aufgeben wollen. Man muss bedenken, dass die gesetzliche
Rente in der Regel die einzige Einnahmequelle der Menschen in den neuen Bundesländern ist.
Ich will aber auch darauf hinweisen, dass es bei der
Rentenbewertung von bestimmten Berufsgruppen im
heutigen Rentensystem systematische Probleme gibt,
zum Beispiel bei Ingenieuren, Diplom-Naturwissenschaftlern, Postlern, Hochschullehrern und Eisenbahnern. Dies muss man natürlich sehen. Wenn wir für eine
Gruppe Nachbesserungen durchsetzen, dann benachteiligen wir die anderen zusätzlich. Deshalb hat die rot-grüne
Bundesregierung eine Chance vertan, als sie mit dem
Zweiten Überleitungsgesetz ausschließlich die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt und sich anderen Änderungen verschlossen hat. Die ist uns in der
Zwischenzeit durch die Einzelbeispiele, von denen wir
in unseren Büros hören, bewusst geworden.
Wir erkennen ausdrücklich die sozialpolitischen
Gründe der betroffenen Berufsgruppen an und wollen an
einer Lösung mitarbeiten. Vor allem wegen der moralischen Verpflichtung, altes DDR-Unrecht nicht durch
neue Verwerfungen fortleben zu lassen, stehen wir in der
Pflicht. Die Rentensystematik verpflichtet uns aber
auch, nicht durch Korrekturen für eine Berufsgruppe bei
anderen Gruppen Enttäuschungen zu verursachen. Das
gehört ebenso zu unserem Gleichheitsgrundsatz. Doch
wir müssen das Ganze sehen.
Auf eines will ich noch hinweisen: Wir dürfen nicht
verkennen, dass die jetzt vereinbarte Regelung den größeren Anteil des finanziellen Mehrbedarfs für die schon
getätigten Korrekturen den Ländern auferlegt. Wir müssen uns mit der Tatsache beschäftigen, dass es sich hierbei um erkannte, weitere einigungsbedingte Mehraufwendungen handelt, für die es eine gesamtdeutsche
Verantwortung gibt. Von daher wird uns auch die bevorstehende grundsätzliche Diskussion der Alterssicherung
Gelegenheit geben, ausgehend von der Bestandsaufnahme vernünftige Regelungen für die Zukunft zu suchen und, wie ich zumindest hoffe, gemeinsam zu beschließen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde
es schon merkwürdig, mit welchen rentenrechtlichen
Feinheiten sich die FDP im Nachtprogramm des Bundestages befasst. Vielleicht hätte es auch eine Ausschussberatung getan. Das wäre der Sache dienlicher gewesen. Im Übrigen möchte ich deutlich sagen, Herr
Kollege Haupt: Ihre Anträge sind auch inhaltlich nicht
überzeugend. Sie wollen angebliche soziale Härten für
Rentnerinnen und Rentner aus der DDR ausgleichen.
Ich kann diese nicht erkennen.
Halten wir doch einmal fest: Die deutsche Einheit hat
gerade für diejenigen, die ihr Arbeitsleben in der DDR
verbracht haben und entweder schon in Rente sind oder
inzwischen in Rente gegangen sind, einen großen ökonomischen Gewinn gebracht. Die Verdienste, die im Gebiet der neuen Bundesländer erzielt wurden, wurden
hoch gewertet. Deswegen gab es eine besonders günstige Ausgangsbasis für die Rentenberechnung. Die meisten Menschen im Ruhestand haben auch von der Systematik des westdeutschen Rentenrechtes profitiert. So
werden heute Renten gezahlt, die den Lebensstandard sichern. Heute werden die Renten an die Entwicklung des
Wohlstandes angepasst, Herr Kollege. Sie wissen, dass
es dies in der DDR nicht gab.
({0})
Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Haupt?
Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung zu
Ende führen. Im Ausschuss hätten Sie das haben können; das wollten Sie aber nicht.
Nun reichen der FDP die bis zum Jahr 1996 geltenden
und wahrlich großzügigen Übergangsregelungen
nicht. Sie wollen die besonderen Aufschläge für das
mittlere medizinische Personal noch darüber hinaus erhalten. Dass dies der Systematik des Rentenrechts widerspricht, hat das Bundessozialgericht noch am
30. Januar 2003 bestätigt.
Politisch ist festzuhalten: Die FDP fordert die jahrzehntelange Anwendung von zweierlei Rentenrechten,
und das nach der Rosinentheorie. Derjenige, für den das
westdeutsche Rentenrecht günstiger ist, soll sich auf dieses berufen können, derjenige, für den das DDR-Rentenrecht günstiger ist, soll sich darauf berufen können. So
kann man mit den Rentenfinanzen nicht umgehen.
({0})
Vielleicht sollten Sie einmal mit den Rentenexperten Ihrer Fraktion darüber reden. Dann würde sich die Situation etwas anders darstellen.
Um wen geht es denn in Ihrem zweiten Antrag zur
Rentenberechnung? - Es geht um Leute, die in der DDR
einen hohen Verdienst gehabt haben.
({1})
Das war ein Betrag, der nach unserem Recht oberhalb
der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Sie machen sich
um das Einkommen der alten DDR-Eliten sorgen. Man
kann heutzutage wahrlich andere Sorgen haben, als sich
ausgerechnet um die Alterseinkommen der alten DDREliten zu sorgen. Vielleicht sollte sogar die FDP noch
andere sozialpolitische Probleme erkennen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silvia Schmidt von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich werde meine Redezeit nicht voll
in Anspruch nehmen, Herr Haupt; denn es wurde schon
sehr viel gesagt.
({0})
- Wir nehmen das auch sehr ernst. Auch ich bin eine
Ehemalige aus dem Gesundheitswesen. Glauben Sie mir,
ich weiß, wie nicht nur wir gearbeitet haben. In meinen
Sprechstunden sitzen dieselben Damen und Herren und
auch sie sind verbittert. Wir müssen uns aber über einige
Punkte im Klaren sein.
Ich gehe deswegen noch einmal auf einen ganz wesentlichen Punkt ein. Sie nennen in Ihrem Antrag weder
die Zahl der Betroffenen noch beziffern Sie die Höhe der
zu erwartenden Mehrbelastung für die Rentenkasse.
Das ist nicht seriös, Herr Haupt.
Im Übrigen ist es mehr als scheinheilig, den Antrag
auf eine höhere Rentenwertfestsetzung nur auf eine
ausgewählte Berufsgruppe, nämlich das mittlere medizinische Personal, zu beziehen. Es wurde hier schon gesagt, dass sich die Sonderregelung des DDR-Rentenrechtes zum besonderen Steigerungssatz nicht nur auf
Krankenschwestern oder auf das mittlere medizinische
Personal bezog, sondern auf alle Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR. Vergleichbare
Regelungen galten auch für die Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn, wie bereits erwähnt, der Deutschen
Post, für die Beschäftigten in Betrieben mit spezieller
Produktion und zum Beispiel bei der Landesverteidigung.
Sie wissen - Frau Bender hat es eben gesagt -, dass das
Bundessozialgericht erst im Januar den Antrag einer Klägerin auf Berücksichtigung des besonderen Steigerungssatzes bei der Rentenberechnung nach dem Sechsten Sozialgesetzbuch zurückgewiesen hat. Die Begründung des
Gerichts war, das Begehren der Klägerin liefe auf die Einführung einer neuen Rentenformel hinaus. Das muss man
sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Berechnungselement des aus guten Gründen am 1. Januar 1992
abgelösten Rentenrechts der DDR müsste in das lohn- und
beitragsbezogene Rentenrecht übernommen werden. Das
ist in einem System mit Lohnersatzfunktion nicht möglich. Auch für die Deutschen Reichsbahner hat das
höchste deutsche Sozialgericht die Berücksichtigung des
Steigerungssatzes abgelehnt.
Jedem, der eine solche Forderung für das mittlere medizinische Personal stellt, muss klar sein, dass die entsprechenden Leistungsverbesserungen auch für andere
Berufsgruppen gelten müssen. Genaue Zahlen über die
Anzahl der Betroffenen liegen uns nicht vor und sind
wohl auch kaum zu ermitteln. Man muss sich darüber im
Klaren sein, dass diese Bereiche sehr beschäftigungsintensive Bereiche waren. Ich meine damit alle bereits erwähnten Bereiche. Eine rentenrechtliche Aufwertung
dieser Beschäftigungszeiten würde zu nicht unerheblichen beitragssatzrelevanten Kosten führen. Sagen Sie
das bitte einmal Ihrem Fraktionsvorsitzenden und dann
reden wir noch einmal darüber.
Vor dem Hintergrund der finanziellen Schwierigkeiten, die wir jetzt nicht nur in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern in allen sozialen Sicherungssystemen
haben, enthalte ich mich an dieser Stelle jeder weiteren
Wertung. Wir von der SPD-Fraktion beschäftigen uns
mit diesem Thema. Aber wir debattieren dieses Thema
nicht nur auf einer Schaubühne, sondern wir wollen das
Thema in die Gremien zurückbringen, wo es hingehört.
Wir werden natürlich die Betroffenen anhören. Das ist
vollkommen klar.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/839 und 15/842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 26. September 2003, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.