Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/25/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Zunächst möchte ich der Kollegin Ilse Falk im Namen des Hauses nachträglich zu ihrem am vergangenen Sonntag begangenen 60. Geburtstag herzlich gratulieren. Sodann teilt die Fraktion der CDU/CSU mit, dass für den ausgeschiedenen Kollegen Paul Breuer nunmehr der Kollege Martin Hohmann stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Hohmann als stellvertretendes Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden: 1 Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage im Irak 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({0}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland - Drucksache 15/1561 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln - Drucksache 15/1568 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu Rufen aus der Koalition nach personellen Konsequenzen angesichts immer neuer Finanzausfälle und Verzögerungen bei der LKW-Maut 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß ({5}), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen - Drucksachen 15/203, 15/1559 Berichterstattung: Abgeordnete Karin Kortmann Peter Weiß ({6}) Markus Löning 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({7}), Volker Beck ({8}), Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Seeschiffbaus - Drucksache 15/1575 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({9}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neuordnung der Bundesanstalt für Arbeit - Drucksache 15/1576 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Redetext Präsident Wolfgang Thierse Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ressortforschungseinrichtungen des Bundes regelmäßig im Hinblick auf internationale Qualitätsanforderungen an das deutsche Forschungssystem evaluieren - Drucksache 15/222 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Des Weiteren ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 15 - ERP-Wirtschaftsplangesetz 2004 -, 23 - Wehrpflicht aussetzen - und 25 a - Entschädigungsrechtsänderungsgesetz - abzusetzen. Die Tagesordnungspunkte 18 - Energiepolitik und 19 - Arbeitsmarktpolitik - am Freitag sollen getauscht und der Tagesordnungspunkt 20 soll bereits heute mit der vereinbarten Debatte zur Lage im Irak aufgerufen werden. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze - Drucksache 15/1313 überwiesen: Finanzausschuss ({13}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 Geschäftsordnung Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung zu den Ergebnissen der europäischen Bildungsministerkonferenz am 18./19. September 2003 in Berlin Dazu liegen ein gemeinsamer Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn. ({14})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Meine sehr geehrten Herren und Damen! Sehr geehrter Herr Präsident! In der letzten Woche haben in Berlin 40 Minister aus 40 europäischen Staaten, Hochschulpräsidenten, Vertreter der europäischen Hochschulorganisationen und Vertreter der Studierendenverbände gemeinsam über die Zukunft der Hochschulen in Europa beraten und sie haben wichtige Entscheidungen getroffen. Die Bologna-Konferenz in Berlin war ein Erfolg. ({0}) Wir sind einen großen Schritt vorangekommen: von guten Wünschen zu konkreten Maßnahmen und Selbstverpflichtungen. Wir haben mit dieser Konferenz einen wichtigen Grundstein für ein Europa des Wissens gelegt, aber auch die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum, für internationale Wettbewerbsfähigkeit und für unsere kulturelle Entwicklung in Europa geschaffen. ({1}) Hochschulen sind der Ort, an dem neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. In Hochschulen wird leistungsstarke Forschung betrieben, exzellent ausgebildet und das Fundament für die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft gelegt. Ohne leistungsfähige Hochschulen, in denen hervorragend ausgebildet, neues Wissen generiert und die Umsetzung der Forschung mit hohem Engagement betrieben wird, werden wir weder unseren Wohlstand sichern - das gilt für Deutschland genauso wie für Europa - noch die Herausforderungen bewältigen können, vor denen wir stehen. Deshalb bestimmen heute Hochschulen in zunehmendem Maße über die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft, über ihren Fortschritt und über ihren Wohlstand. Gerade heute, im Zeitalter schnellen Wissenszuwachses, weltumspannender Kommunikation und globaler Märkte haben Hochschulen mehr denn je eine strategische Bedeutung für unsere Zukunft. Sie nehmen im internationalen Wettbewerb eine entscheidende Rolle ein. Sie stellen die entscheidenden Schnittstellen zwischen Bildung, Forschung und Innovation dar. Sie sind gleichzeitig Zentren des grenzüberschreitenden Austausches und der internationalen Verständigung. Sie sind der Ort, an dem sehr viele Menschen im In- und Ausland, nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihre berufliche Laufbahn beginnen und hoffentlich erfolgreich fortsetzen, egal ob in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder in den Parlamenten. Es ist daher unsere Aufgabe, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Leistungsfähigkeit unserer Hochschulen zu steigern und die Qualität von Lehre und Forschung zu verbessern. ({2}) Genau das war und ist das Anliegen der europäischen Forschungs- und Bildungsminister. Hierzu muss Europa seine geistigen, kulturellen und intellektuellen Energien mobilisieren und diese Kräfte zielgerichtet und strategisch richtig einsetzen. Europa soll auf dem Weg in ein Zeitalter der Wissenschaft und Technologie den Takt der Entwicklung mitbestimmen. Wir wollen ein Europa schaffen, in dem wissenschaftliche Forschung, technologische Entwicklung und konsequente Innovationsförderung zu zentralen strategischen Elementen für die Entwicklung Europas, für mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und sozialen Ausgleich werden. Kulturgeschichtlich betrachtet ist dieses Vorhaben übrigens keineswegs etwas Neues, sondern teilweise sogar eine Rückbesinnung auf eine Gemeinsamkeit, die die Entwicklung der europäischen Länder über viele Jahrhunderte geprägt hat. Europa war über viele Jahrhunderte ein einheitlicher geistiger und kultureller Raum. Genau das stand auch im Mittelpunkt der Bologna-Konferenz. ({3}) In einer Zeit, in der weltweit um die besten Köpfe geworben wird, ist die Internationalisierung, also die Schaffung eines europäischen Hochschulraums, ein dringend notwendiges Desiderat, das wir zügig und konsequent umsetzen müssen. Deshalb haben die Bildungsminister von mittlerweile 40 europäischen Ländern ganz konkrete Vereinbarungen für den europäischen Hochschulraum geschaffen. In Bologna sind 1999 von zunächst 29 Ministern dafür die Weichen gestellt und ist der so genannte Bologna-Prozess eingeleitet worden; seither befinden sich die europäischen Hochschulen in einer Phase größter Veränderungen. So etwas hat es in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben. In vielen Staaten finden umwälzende, radikale Veränderungen von Studium und Forschung statt. Überall geht es um eine Neuausrichtung hin zu mehr Qualität und Leistungsfähigkeit, mehr Internationalität und mehr Wettbewerb. Deutschland wird und muss hierbei eine Vorreiterrolle spielen. Das ist einer der Gründe, warum wir vonseiten der Bundesregierung seit 1998 die für Investitionen in die Hochschulen vorgesehenen Ausgaben um knapp 24 Prozent erhöht haben. ({4}) Diese Anstrengungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden und müssen wir fortsetzen. Die Länder haben übrigens im gleichen Zeitraum ihre Investitionen um 12 Prozent erhöht. Deshalb sage ich ausdrücklich: Bund und Länder müssen ihre Anstrengungen fortsetzen. ({5}) Wir wollen unseren Hochschulen echte Perspektiven geben für exzellente Forschung und hervorragende Ausbildung. Das sind wir den Jugendlichen, uns selber und unserem Land schuldig. ({6}) Wir wollen unsere Hochschulen für die Studierenden und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland attraktiv machen. Nur wenn uns das gelingt, können von den Hochschulen auch die notwendigen Impulse ausgehen, die wir für den wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt unseres Landes brauchen. Bildung und Forschung haben für diese Bundesregierung Priorität. Das haben wir in den vergangenen Jahren durch viele Entscheidungen immer wieder deutlich gemacht. Wir haben die notwendigen Strukturreformen durchgeführt und die entsprechenden finanziellen Prioritäten gesetzt. Mit der Ausrichtung der Bologna-Konferenz in Berlin haben wir diese Bedeutung einmal mehr unterstrichen. Damit haben wir auch gezeigt, dass wir Verantwortung übernehmen, wenn es darum geht, Europa voranzubringen. Europa muss ein Kontinent werden, der nicht nur einen Markt für Millionen von Menschen darstellt, sondern auch ein Ort ist, in dem hervorragende Wissenschaft betrieben wird, die Menschen exzellent ausgebildet werden, neue Erkenntnisse gewonnen und Forschungsergebnisse zügig umgesetzt werden. ({7}) Mit der Errichtung des europäischen Hochschulraums leisten wir dazu einen wichtigen Beitrag. An unseren Hochschulen können wir besser als irgendwo sonst den Grundstein für mehr europäische Zusammenarbeit legen. Mit der bei der Berlin-Konferenz beschlossenen Aufnahme von Albanien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien sowie von Russland, Andorra und dem Vatikan geht die Zusammenarbeit im Hochschulbereich weit über die aktuellen Grenzen der EU hinaus. Damit setzen wir nicht nur ein Signal für den Bologna-Prozess, sondern geben auch der europäischen Einigung neue Dynamik. Die Berlin-Konferenz war ein ganz wichtiger Meilenstein. Sie zeugt auch - das halte ich für genauso entscheidend - von der politischen Kraft Europas, die es möglich gemacht hat, dass 40 Staaten reines Wunschdenken überwunden und sich auf die Eckwerte einer sehr tief greifenden Hochschulreform geeinigt haben, ({8}) die konkrete Selbstverpflichtungen beinhaltet. Aber noch etwas möchte ich an dieser Stelle deutlich machen: Die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes ist ohne die engagierte Mitwirkung der Studierenden und Universitäten nicht möglich. Nur durch das aktive Engagement von Hochschulen, Studierenden und der politisch Verantwortlichen wird dieses Ziel erreichbar sein. Deshalb war es so wichtig, dass in die BolognaKonferenz nicht nur die Regierungen, sondern auch die Hochschulen und die Studierendenverbände selber eingebunden waren. ({9}) So wünsche ich mir Europa: nicht nur als Europa der Regierenden, sondern als Europa der Menschen, die dort leben. Wir haben uns auf ein sehr ehrgeiziges Kommuniqué verständigt. Mit der Ausrichtung wesentlicher Reformschritte auf das Jahr 2005 haben wir im Übrigen das Reformtempo deutlich erhöht; denn bisher galt als Zielmarke immer das Jahr 2010. Alle 40 Länder verpflichten sich, für die Hochschulen auf nationaler und institutioneller Ebene, das heißt auf Hochschulebene, ein umfassendes Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwicklungssystem zu verankern. Hohe Qualität, attraktive Studienbedingungen und attraktive Wissenschaftsbedingungen - das muss das Aushängeschild des europäischen Hochschulraums sein. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Nur so wird es uns gelingen, auch international attraktiv zu sein. Alle 40 Länder verpflichten sich dem Ziel einer gegenseitigen Anerkennung von Studien- und Prüfungsleistungen. ({10}) Das europäische Kreditpunktesystem ECTS wird nun flächendeckend umgesetzt. Zusätzlich haben wir die Einführung eines einheitlichen fremdsprachigen Diploma Supplement beschlossen, welches eindeutigen Aufschluss über die im Studium erworbenen Qualifikationen geben kann. Damit schaffen wir die Grundlage für mehr Transparenz und Vergleichbarkeit. Mit der vereinbarten wechselseitigen Anerkennung von Hochschulabschlüssen, der Akkreditierung von Studiengängen und der Einführung des European Credit Transfer Systems schaffen wir die wichtigsten Voraussetzungen für Mobilität, Leistungssteigerung und Vergleichbarkeit. ({11}) Alle 40 Länder verpflichten sich, bis 2005 die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge als Regelstudiengänge einzuführen. Die Bundesregierung hat die Entwicklung und Einführung der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge bereits seit 1999 massiv unterstützt. Wir haben im Bundesrahmengesetz die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen. Ich hoffe, dass die Länder jetzt auch in ihren Landeshochschulgesetzen zügig die Voraussetzungen schaffen. ({12}) Das ist leider noch nicht überall der Fall. Wir haben gleichzeitig die Hochschulen bei der Einführung dieser neuen Bachelor- und Masterabschlüsse mit rund 42 Millionen Euro finanziell unterstützt. Gleichzeitig haben wir in Deutschland mit der Akkreditierung wichtige Grundlagen für die Qualitätssicherung der neuen Studiengänge geschaffen. Ich sage ausdrücklich: Die Akkreditierung der neuen Studiengänge ist unabdingbar. Sie ist zwingend notwendig, weil wir sonst nicht die internationale Leistungsfähigkeit erreichen, weil wir sonst nicht die Vergleichbarkeit sicherstellen und weil wir sonst sträflich vernachlässigen würden, dass B. A. und M. A. nicht nur neue Namen bedeuten. ({13}) Es geht also nicht darum, alten Wein in neue Schläuche zu füllen, sondern darum, die Studiengänge zu verändern, sodass sie ein qualitativ hohes Niveau haben und die Chancen, die sie darstellen, von den Studierenden wahrgenommen werden können. Die Akzeptanz der Bachelor- und Masterabschlüsse bei den Hochschullehrern, bei den Studierenden und am Arbeitsmarkt ist eine Schlüsselfrage der Internationalisierung. Sie hängt in hohem Maße von der Akkreditierung und damit von transparenter Anerkennung von Leistung und Qualität ab. Dann werden diese Abschlüsse nachgefragt und gefördert. Dann haben wir auch international damit die besten Möglichkeiten. Bisher sind 18 Prozent der neuen Studiengänge akkreditiert. Ich sage ausdrücklich: Das ist nicht ausreichend. ({14}) Die Hochschulen selber wie auch die Länder müssen ihre Anstrengungen verstärken, damit wir hier zu einem guten Ergebnis kommen. Dabei muss es eine klare Profilbildung beider Abschlüsse geben, um den unterschiedlichen Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Hochschulen gerecht zu werden. Um die Chancen dieses neuen Systems zu eröffnen, brauchen wir grundlegende Veränderungen in den Studiengängen. Die Chancen sind gewaltig, weil die Entscheidungsmöglichkeiten der Studierenden erweitert werden. Das neue System gibt den Studierenden die Chance, durch Kombination attraktiver Qualifikationen ein für die eigene Karriere maßgeschneidertes Studium zu wählen. Es gibt die Chance weltweiter Beweglichkeit, weil sie nicht mehr um die Anerkennung der Abschlüsse kämpfen müssen, sondern diese vereinbart und gewährleistet wurde. Es gibt unseren Studierenden die Chance, jünger als bisher in den Beruf einzusteigen. Es gibt die Chance kürzerer Ausbildungszeiten und die Chance, die Abbrecherquote, die in unserem Land in vielen Fächern viel zu hoch ist, deutlich zu senken. ({15}) Meine sehr geehrte Damen und Herren, alle 40 Länder haben sich darauf geeinigt, die Mobilität von Studierenden und Wissenschaftlern in Europa zu fördern. Eine hinreichende soziale Absicherung, also eine hinreichende Studienfinanzierung, wie wir sie in Deutschland mit dem BAföG geschaffen haben, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass junge Menschen die Chancen eines Studiums wirklich nutzen können. In einem geeinten Europa ist zwingend notwendig, dass diese Studienfinanzierung in jedes andere europäische Land mitgenommen werden kann. ({16}) Wir haben mit der BAföG-Reform die Voraussetzung dafür geschafften, dass nach einem zweisemestrigen Studium in Deutschland jeder Studierende seine Studienförderung in jedes andere EU-Land mitnehmen kann. Aber diese Entscheidung darf nicht nur einseitig sein. ({17}) Vielmehr müssen alle anderen Kolleginnen und Kollegen in Europa ebenfalls ihre Studienfinanzierungen entsprechend verändern. Die skandinavischen Länder haben dies im Übrigen schon geleistet. Aber hier gibt es noch eine ganze Menge zu tun. Derzeit verbringen rund 14 Prozent der deutschen Studierenden einen Teil ihres Studiums im Ausland. Diese Quote auf 20 Prozent zu steigern ist ein ganz wichtiges Ziel dieser Regierung. Denn Auslandserfahrung, Austausch und Zusammenarbeit zwischen Studierenden aus den verschiedenen europäischen Ländern - das sage ich ausdrücklich - sind wichtige Faktoren für die Entwicklung eines Europas des Wissens. ({18}) Sie sind heute auch wichtige Voraussetzungen für den Erfolg im Beruf. Das Gleiche gilt umgekehrt. Wir haben in den vergangenen drei, vier Jahren erfolgreich sehr viele Anstrengungen unternommen, die Zahl der ausländischen Studierenden in Deutschland zu erhöhen. Die Steigerungsraten liegen inzwischen bei 15 Prozent pro Jahr. Auch das ist notwendig. Denn jeder, der in Deutschland gute Erfahrung gemacht hat, hier gern studiert und gelebt hat und der hier Freunde gewonnen hat, ist zukünftig ein wichtiger Partner für uns. ({19}) Egal ob in der Wirtschaft oder in der Politik: Wir können auf diese wichtigen Partner nicht verzichten. Deshalb war es so fahrlässig, dass diesem wichtigen Gesichtspunkt der Internationalisierung über viele Jahrzehnte zu wenig Augenmerk geschenkt worden ist. Wir haben das geändert. ({20}) Wir müssen nicht nur das Studium, sondern auch die Forschung internationaler und leistungsfähiger gestalten. Deshalb bin ich froh darüber, dass nunmehr das Doktorandenstudium als dritte Stufe in das europäische Studienkonzept aufgenommen wurde. Wir stellen damit zwei Dinge sicher: Erstens können wir dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine dritte exzellente wissenschaftliche Karrierestufe anbieten. Zweitens stellen wir mit dem Doktorandenstudium eine enge Verknüpfung des europäischen Hochschul- und Forschungsraums sicher; denn beide gehören zusammen und spiegeln zwei Seiten eines Europas des Wissens wider. Wir brauchen also einen europäischen Forschungsraum und einen europäischen Hochschulraum. ({21}) Beide tragen dazu bei, die Bedingungen für Spitzenleistung in Forschung und Innovation zu verbessern. Wir wollen einen europäischen Hochschulraum, in dem Studierende und Wissenschaftler ganz selbstverständlich zwischen den Hochschulen verschiedener Ländern wechseln können, in dem sie wegen der guten Studienbedingungen gerne studieren und in dem sie gute berufliche Möglichkeiten haben. Die deutsche Hochschulpolitik steht mit dem Bologna-Prozess im Einklang. Für die Bundesregierung ist die Internationalisierung von Wissenschaft, Forschung, Hochschule und Ausbildung auch weiterhin ein zentraler Punkt. Wir haben in den letzten Jahren vonseiten des Bundes viele Initiativen gestartet. Eine Initiative will ich ausdrücklich hervorheben: die Initiative zur Internationalisierung der Hochschulen. Wir haben hierfür rund 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt - ebenfalls mit Erfolg. Unsere Hochschulen sind heute mit Unterstützung meines Ministeriums weltweit mit Studienangeboten präsent. Am 5. Oktober werden der Bundeskanzler und der ägyptische Staatspräsident Mubarak die „German University“ in Kairo eröffnen. Deutsche Hochschulen nehmen inzwischen unter dem Logo „Hi! Potentials“ einen gewichtigen Platz auf großen internationalen Messen ein. Mit der 2001 gestarteten Marketingoffensive bauen wir die Präsenz auf dem internationalen Bildungsmarkt kontinuierlich aus und werben gezielt für den Studien- und Forschungsstandort Deutschland. ({22}) Die eingeleiteten Initiativen haben greifbare Erfolge gebracht. Die Zahl der ausländischen Studierenden und die Zahl der ausländischen Wissenschaftler an unseren Hochschulen und in unseren Forschungseinrichtungen sind gestiegen. Wir sind in Europa und weltweit inzwischen ein anerkannter Hochschulstandort, auf den man schaut und wohin man gerne geht. Ich sage aber auch ausdrücklich, dass wir bei weitem noch nicht das erreicht haben, was notwendig ist. ({23}) Wir sind zwar einen wichtigen Schritt vorangekommen; aber wir sind noch lange nicht am Ziel. Deshalb werden wir unsere neuen internationalen Preise - wie beispielsweise den Sofja-Kovalevskaja-Preis -, die dazu beitragen, dass hervorragende junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Deutschland kommen, weiterhin verleihen. Europa wird nur als leistungsfähiger Wissenschaftsstandort mit modernen und international ausgerichteten Hochschulen attraktiv bleiben können. Die Berlin-Konferenz hat dafür ein Zeichen des Aufbruchs gesetzt und den Weg, den wir gehen müssen, klar aufgezeigt. Ich wünsche mir dafür Ihre Unterstützung und wünsche vor allen Dingen uns allen viel Erfolg. Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche, CDU/ CSU-Fraktion.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Stanford University hat einen klassisch-deutschen Leitspruch und der heißt: „Die Luft der Freiheit weht.“ ({0}) Das ist auch die politische Kernbotschaft der BolognaFolgekonferenz. Auch im europäischen Hochschulraum soll die Luft der Freiheit wehen. Bis zum Jahr 2005 soll das zweistufige System von Bachelor- und Masterabschlüssen vollständig eingeführt sein. Ein dritter Studiengang ist beschlossen: das Doktorandenstudium. Studierende und Wissenschaftler sollen, ohne bürokratische Hürden überwinden zu müssen, zwischen den Ländern wechseln können. Der rasante Wettbewerb um die besten Köpfe und Talente ist voll im Gange. Europa wächst hochschulpolitisch zusammen. Dazu gibt es keine Alternative. Frau Ministerin, zur Wahrheit gehört auch, dass es Jürgen Rüttgers war, der 1998 diesen Prozess mit der Sorbonne-Erklärung initiiert hat. ({1}) Der gemeinsame Hochschulraum Europa ist ein weiterer Schritt im europäischen Einigungsprozess. Angeschoben hat ihn die Bundesregierung unter Helmut Kohl. Die Schaffung eines europäischen Hochschul- und Forschungsraumes ist traditionelle christlich-demokratische Politik. ({2}) Die ehrgeizigen Ziele des Bologna-Prozesses sind Startschuss für mehr Freiheit, für Autonomie, Deregulierung und Wettbewerb. All das, Frau Ministerin, kam in Ihrer Rede nicht vor. Dabei heißt es bereits in der gemeinsamen Erklärung der europäischen Bildungsminister: Die Vitalität und Effizienz jeder Zivilisation lassen sich an der Attraktivität messen, die ihre Kultur für andere Länder besitzt. Wir müssen sicherstellen, dass die europäischen Hochschulen weltweit ebenso attraktiv werden wie unsere außergewöhnlichen kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen. Frau Bulmahn, was haben Sie eigentlich seit 1999 für die Attraktivität der deutschen Hochschulen getan? - Sie haben es ihnen in erster Linie schwer gemacht. ({3}) Der Staat muss die Hochschulen in die Freiheit entlassen, damit sie sich im Wettbewerb bewähren. Das hat bereits Professor Klaus Landfried bei seinem Abschied als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz gefordert. Zentralismus und Gängelung, das sind die Kennzeichen Ihrer Politik. Ziel muss ein wettbewerbliches Hochschulsystem sein. Was tun Sie? - Die Universitäten und die Länder werden mit einem Studiengebührenverbot überzogen - und das, obwohl die Sicherung der Qualität des Studiums durch Studienbeiträge in allen führenden Nationen bis hin zur Schweiz und Australien ein zentrales hochschulpolitisches Thema ist. Sie führen die Juniorprofessur als Regelvoraussetzung für den Beruf des Professors ein. Sie schaffen die Habilitation faktisch ab. Warum lassen Sie keinen Wettbewerb zu? ({4}) Sie lehnen es ab, das Auswahlrecht der Hochschulen zu stärken und einen Wettbewerb um die qualifiziertesten Studenten zu ermöglichen. Für Sie gilt der Satz, den einmal ein ehemaliger Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Professor Gerd Roellecke, gesagt hat: Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen: die Gefängnisse und die Universitäten. Die Unionsfraktion begrüßt ganz ausdrücklich die Länderinitiative von Baden-Württemberg und Bayern, das Recht der Hochschulen, die qualifiziertesten Bewerber auswählen zu können, zu stärken. ({5}) Auch SPD-geführte Länder wie Rheinland-Pfalz oder Nordrhein-Westfalen und sogar das rot-rote Mecklenburg-Vorpommern möchten dies. Was tun Sie? - Sie lehnen diese Initiative mit fadenscheinigen Argumenten ab. Wir brauchen dringend eine Strategie für eine ganzheitliche Hochschulentwicklung und kein Klein-Klein mehr. Unser Ziel muss es sein, dass auch aus den international führenden Wissenschaftsländern, insbesondere aus den USA, mehr Studierende zu uns kommen. Frau Bulmahn, Sie haben ausgeführt, dass die Quote der Studierenden, die aus dem Ausland kommen, gestiegen ist. Das ist richtig. Dabei handelt es sich vor allem um Chinesen, Polen und Russen. Sie alle sind herzlich willkommen. Aber junge US-Amerikaner stehen an Stelle 16. Junge Briten und junge Schweizer sind unter den ersten 20 nicht zu finden. Das ist kein Zufall. Ich verstehe die Verwunderung von Hans-Olaf Henkel, der nach einem Vortrag an der London School of Economics in eine Diskussion verwickelt wurde und dem in bestem Deutsch Fragen gestellt wurden. Auf die Frage, warum die Briten so gut deutsch sprechen, wurde ihm geantwortet: Das sind doch alles Deutsche. Ihre Rechnung, Frau Bulmahn, geht nicht auf: Sie wollen 40 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen holen. Den Universitäten werden aber im gleichen Atemzug mehr Aufgaben übertragen, und Sie fahren die finanzielle Ausstattung der Hochschulen zurück. Der Etat für den Hochschulbau wird beispielsweise um 135 Millionen Euro gekürzt. Das ist ein schlechtes Signal an den Bologna-Prozess. ({6}) Das Korsett des Hochschulrahmengesetzes muss dringend gelockert werden. Wir setzen uns für eine rasche Novelle, für eine Hochschulreform aus einem Guss ein. Wir brauchen mehr Autonomie für die Hochschulen. Das gilt ebenso für das im 6. HRG verankerte Verbot von Studiengebühren. Es muss weg. Auf Dauer wird in Deutschland niemand an Studienbeiträgen vorbeikommen. ({7}) Die Entwicklung des europäischen Hochschulraumes ist kein Selbstläufer. Sie haben gesagt, man müsse die Studenten integrieren. Einer der Studenten, die Sie angesprochen haben, bemerkte etwas kritisch, dass dabei möglicherweise nichts als heiße Luft herauskommen würde. Es gibt in der Tat noch viel zu tun: Wir haben in Deutschland 15 000 Studiengänge. Davon sind bisher 1 900 auf das Bachelor- und Master-Studium umgestellt worden. Davon sind nur 400 akkreditiert. Stellenweise hat man schlicht Vordiplom und Zwischenprüfung in Bachelor umfirmiert und Studiengänge nur mit einem neuen Namen versehen. Auch das European Credit Transfer System ist noch weit von seinen optimalen Möglichkeiten entfernt. Es geht nicht, dass das bloße Ansammeln von Punkten nachher nicht akzeptiert wird. Hochschulen, die etwas auf sich halten, verlassen sich übrigens nicht auf dieses System, sondern überprüfen die Fähigkeiten der Studienbewerber zusätzlich selbst. Die Umstellung auf die Bachelor- und Master-Abschlüsse ist zweifelsohne ein ganz wichtiger Baustein. Wichtig ist, dass sich diese Umstrukturierung von unten entwickelt. Die Hochschulen wollen und müssen in diesen Prozess eingebunden sein. Ich kann die Bundesregierung nur ausdrücklich davor warnen, diesen Prozess mit zusätzlichen staatlichen Reglementierungsmaßnahmen zu überziehen. Deutschland gibt im Zuge des Bologna-Prozesses aber auch Traditionen auf, die sich bewährt haben. So ist der deutsche Diplom-Ingenieur weltweit anerkannt. Er ist ein Markenzeichen für Qualität. Der große Vorzug des deutschen Studiums ist auch die breite Bildung. ({8}) Der Magister mit einem Hauptfach und zwei Nebenfächern vermittelt durchaus eine Bildung weit über den Tellerrand eines Faches hinaus. Somit hat unser deutsches Hochschulsystem auch Vorteile. Ich finde, auch hier ist Wettbewerb angesagt. Von den Studierenden, von den Hochschulen, aber auch von der Wirtschaft werden enorme Anpassungsleistungen verlangt. Das betrifft insbesondere die Wirtschaft, die die neuen Studiengänge und die neuen Abschlüsse anerkennen muss. Frau Bulmahn, ich sage Ihnen noch einmal: Entlassen Sie die Hochschulen in die Freiheit! Nutzen Sie Ihre Gestaltungsmöglichkeiten, damit der Bologna-Prozess ein Erfolg wird. Weniger ist oftmals mehr. ({9}) Die Union wird diesen Prozess mit einer entsprechenden Initiative zur Novelle des Hochschulrahmengesetzes begleiten. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen: Die Luft der Freiheit ist nicht aufzuhalten. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Reiche, leider haben Sie sich in Ihren Ausführungen wieder darauf beschränkt, das Haar in der Suppe zu finden, und haben nur pathetische Aufforderungen formuliert, aber keine konstruktiven Gestaltungsvorschläge gemacht. ({0}) Aber das kennen wir bei Ihnen. Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Das hat der ausgewiesene Pragmatiker und frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt vor vielen Jahren einmal gesagt. Ich widerspreche ihm an diesem Punkt nachdrücklich; ({1}) denn ich bin der festen Überzeugung, dass Politik beides braucht: Pragmatismus und Visionen. ({2}) In einem langwierigen Prozess müssen Schritte auf ein angestrebtes politisches Ziel, auf ein für die Zukunft entworfenes Bild hin unternommen werden. In diesem Prozess wird das Bild immer klarer, gewinnt die Vision Konturen. ({3}) Eine solche Vision haben die europäischen Bildungsminister gehabt, als sie 1999 die Bologna-Erklärung verfassten. Sie riefen darin zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Hochschulraumes und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Europa auf. Die konkrete Zielsetzung des Bologna-Prozesses lautet: Die Studierenden Europas sollen die Möglichkeit bekommen, in allen Ländern Europas zu studieren. Sie sollen dabei vergleichbare Studienbedingungen vorfinden. Daher müssen Qualitätsstandards vereinbart werden, die von allen europäischen Hochschulen anerkannt werden. Konsequenterweise muss es dann auch ein transparentes, wechselseitig anerkanntes System von Studienabschlüssen geben. Vorausgegangen war der Bologna-Erklärung der Bildungsminister ein historischer Prozess, der eine unglaubliche Dynamik entfacht hatte. Die politischen Umbrüche Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre - ich nenne als Stichwort den Fall der Mauer - verstärkten den Wunsch nach einem vereinten Europa. Diese Entwicklung veränderte auch die Hochschulen nachhaltig und führte zu einer zunehmenden Mobilität der Studierenden. So hat sich zum Beispiel zwischen 1991 und 2001 die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen mehr als verdoppelt: ({4}) 1991 waren es nur gut 53 000 Studierende, 2001 bereits über 117 000. Ein Jahr nach Unterzeichnung der Bologna-Erklärung der Bildungsminister trafen sich die europäischen Regierungschefs in Lissabon. Ihnen war bewusst, dass Europas Zukunft in der Wissensgesellschaft liegt und dass nur diejenigen, die in diesem Bereich Vorreiter sind, auch wirtschaftlich stark bleiben werden. Deshalb erweiterten sie die Zielsetzung der Bologna-Erklärung und formulierten: Bis 2010 soll Europa zum größten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Ungeachtet dessen, dass Bildung einen Eigenwert besitzt, gilt die bereits im 19. Jahrhundert von Alfred Nobel formulierte Einsicht, Wissen zu verbreiten sei Wohlstand zu verbreiten. Diesen Zusammenhang hat die in der letzten Woche veröffentliche OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ eindrucksvoll unterstrichen. Sie macht deutlich: Investitionen in Köpfe lohnen sich für den Einzelnen und für die Volkswirtschaft insgesamt. Wenn wir das Bildungsniveau unserer Gesellschaft erhöhen, fördern wir damit auch das Wirtschaftswachstum. Daran sollte uns gelegen sein. ({5}) Daher müssen wir als Politikerinnen und Politiker aus sozialem wie aus ökonomischem Interesse heraus die Grundlage dafür legen, dass die Verbreitung von Wissen reibungslos und dynamisch erfolgen kann. Das gilt für den nationalen Bereich genauso wie für den europäischen Raum. Diese Bundesregierung hat entsprechend gehandelt. Frau Reiche, Sie fragten vorhin, was sie denn getan habe. Ich werde Ihnen einige Punkte nennen: Seit ihrem Amtsantritt hat diese Bundesregierung die Ausgaben des Bundes für Bildung und Forschung um insgesamt 25 Prozent erhöht; das dachte ich jedenfalls, Frau Bulmahn dagegen hat von 23 Prozent gesprochen. ({6}) - Das gehört dazu. - Gleichzeitig hat sie mit Ministerin Bulmahn durch strukturell notwendige Veränderungen die Internationalisierung des deutschen Hochschulwesens vorangetrieben. Sie hat den Reformprozess zum Teil initiiert, zum Teil unterstützt und begleitet. ({7}) So hat die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes zur internationalen Attraktivität des Hochschulstandortes Deutschland beigetragen. ({8}) Durch die Einführung gestufter Studiengänge haben Studierende die Möglichkeit bekommen, mit einem berufsqualifizierenden akademischen Abschluss, dem Bachelor, frühzeitig in die Berufspraxis einzusteigen und, wenn sie das Interesse haben, nach längeren Praxisphasen eine Studienphase, nämlich den Master, anzuschließen. ({9}) - Auf den Bereich Qualifikation werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Sie müssen so qualifiziert sein, etwas warten zu können. ({10}) Eine weitere Strukturveränderung, die wir eingeführt haben, betrifft die Lehrenden an den Hochschulen. Mit der Einführung leistungsbezogener Elemente in die Besoldungsstruktur und der Einrichtung von Juniorprofessuren stärken wir die Wettbewerbsfähigkeit unseres Hochschulsystems. Speziell die Juniorprofessur ist notwendig, damit wir im internationalen Wettbewerb um die besten Nachwuchswissenschaftler bestehen können; ({11}) denn so erhalten junge Forscherinnen und Forscher frühzeitig die Gelegenheit, selbstständig zu arbeiten. Das alte System der Habilitation steht diesem Ziel entgegen und ist international nicht konkurrenzfähig. Entgegen den Hiobsbotschaften der Kollegin Flach von der FDP-Fraktion ({12}) wird durch die jüngsten Zahlen des BMBF unterstrichen: Die Juniorprofessur war und ist ein Erfolg. Auf eine Stelle bewerben sich durchschnittlich 7,3 Personen. Für 15 Prozent der bisher besetzten Stellen konnten Nachwuchskräfte aus dem Ausland gewonnen werden und ({13}) - auch das ist bemerkenswert - die Juniorprofessur ist ein Beitrag zur Frauenförderung an den Hochschulen; ({14}) denn der Frauenanteil beträgt hier 25 Prozent, während er bei den „normalen“ Professuren nur 11,11 Prozent beträgt. ({15}) Aber auch verschiedene Förderprogramme haben zur Internationalisierung der deutschen Studiengänge beigetragen; die Ministerin hat eben schon einige genannt. Hier sind das Modellprogramm „International ausgerichtete Studiengänge“, das „Master-Plus“-Programm, durch das die Mobilität deutscher und ausländischer Studierender mit einem ersten Hochschulabschluss unterstützt wird, und das Bund-Länder-Kommissions-Modellversuchsprogramm „Neue Studiengänge“ zu nennen. Auch das professionelle Hochschulmarketing mit werbewirksamen Hochschulauftritten auf internationalen Messen unter dem Motto „Hi! Potentials - International careers made in Germany“ hat zu einem Erfolg geführt und dafür gesorgt, dass der Hochschul- und Forschungsstandort Deutschland noch stärker als bisher wahrgenommen wurde. ({16}) Das Ergebnis: Die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen steigt stetig. In der eben bereits zitierten OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ wird das bescheinigt, was gerade gesagt wurde, dass nämlich der Anstieg der Zahl ausländischer Studierender hier in Deutschland extrem hoch war. Im Vergleich zu allen anderen Ländern mit einem höheren Anteil ausländischer Studierender handelte es sich um die dynamischste Entwicklung. Umgekehrt ist dasselbe zu verzeichnen: Auch deutsche Studierende gehen verstärkt ins Ausland. Ich denke, das ist genau das, was wir erreichen wollten, nämlich eine Internationalisierung und ein verstärktes Streben von deutschen Studierenden in andere Länder und umgekehrt. Die vor wenigen Tagen beendete Berlin-Konferenz hat den Prozess dieser Internationalisierung weiter gefördert und war ein zusätzlicher entscheidender Meilenstein auf dem Weg zu einem europäischen Hochschulraum; denn im Unterschied zu den bisherigen Konferenzen wurden in Berlin Ziele vorgegeben, die mittels fest vereinbarter Umsetzungsstrategien bis zur nächsten Konferenz im Jahre 2005 in Bergen erreicht werden können. Ich nenne nur noch einmal die wichtigsten drei Punkte: Erster Punkt. In allen 40 Bologna-Staaten soll bis zu diesem Zeitpunkt die Einführung des zweistufigen Graduierungssystems in Angriff genommen werden. Laut Hochschulrektorenkonferenz sind bei uns bis jetzt 1 764 solcher Studiengänge geschaffen worden. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Prozentsatz der akkreditierten Studiengänge natürlich unbedingt weiterhin erhöht werden muss; denn bisher gibt es erst 338 dieser Studiengänge. Zweiter Punkt. Die Entwicklung und Durchsetzung von vergleichbaren Qualitätsstandards soll auf europäischer und nationaler Ebene forciert werden. Frau Reiche, jetzt komme ich noch einmal ganz explizit auf die von Ihnen angesprochene Qualität: Dazu wurde das European Network of Quality Assurance - das ist ein Zusammenschluss von Qualitätssicherungsagenturen ins Leben gerufen. Es wird in Abstimmung mit den europäischen Hochschul- und Studentenverbänden Verfahren und Leitlinien für die europäische Qualitätssicherung entwickeln. Am Ende muss man - salopp formuliert sagen können: Ein Hochschulstudium „Made in Europe“ ist ein weltweit anerkanntes Gütesiegel. ({17}) Dritter Punkt. Die kostenlose Ausstellung eines Diploma Supplement zu jedem Studienabschluss ist wichtig, weil damit die Abschlüsse erst richtig vergleichbar werden. In dieser Ergänzung zum Abschlusszeugnis wird genau festgehalten, welche Leistungen während des Studiums erbracht wurden und über welche Qualifikationen der Absolvent verfügt. Das Endziel lautet: Wo Master draufsteht, ist auch Master drin - und zwar europaweit. Wir streben diesem Endziel Schritt für Schritt mit einer Geschwindigkeit entgegen, die bisher von keiner anderen Regierung in Deutschland vorgegeben wurde. ({18}) Ich komme nun auf zwei weitere Aspekte, die sicherlich im Laufe der nächsten Phase noch an Bedeutung gewinnen werden. Die Unterzeichnerstaaten betonen in dem Abschlusskommuniqué die Notwendigkeit lebenslangen Lernens in einem europäischen Hochschulraum und fordern, die Bedingungen dafür zu schaffen. Ein erweiterter Hochschulzugang und flexible Bildungswege bieten hier Möglichkeiten. Der zweite Punkt ist die Verknüpfung des europäischen Hochschulraums mit dem europäischen Forschungsraum. In diesen Zusammenhang gehört auch die Integration der Doktorandenausbildung in den Bologna-Prozess als dritte Stufe des Graduierungssystems. Ich persönlich hätte mir an dieser Stelle noch etwas mehr gewünscht, nämlich die Forderung nach der strukturierten Doktorandenausbildung. In jedem Fall muss aber Exzellenz ein herausragendes Markenzeichen des europäischen Hochschulraums sein. ({19}) Vergleicht man den Bologna-Prozess mit der Geschichte eines Hausbaus, so können wir den jetzigen Stand wie folgt beschreiben: Das Fundament ist gelegt, der Termin der Endabnahme ist bestimmt und wir bauen zurzeit Stockwerk für Stockwerk auf und haben die Detailgestaltung und den Zeitrahmen für die Erstellung der Gewerke festgelegt. Wer schon einmal gebaut hat, der weiß: Man muss immer wieder Zwischenabnahmen verabreden, wenn es nicht zu bösen Überraschungen kommen soll. Diese Verabredungen bzw. Bestandsaufnahmen, das so genannte „stock taking“, wurden in Berlin am 18. und 19. September beschlossen. Bis zur Endabnahme im Jahr 2010 gibt es zugegebenermaßen noch viel zu tun. Dabei wird auch der Koordinations- und Kooperationsbedarf von Bund und Ländern enorm groß sein. ({20}) Die Aufkündigung der Zusammenarbeit, wie insbesondere von den CDU/CSU-regierten Ländern angekündigt, wäre genau das Gegenteil dessen, was bildungspolitisch jetzt geboten ist. ({21}) Wenn es dazu überhaupt noch eines Beweises bedurft hätte, der Bologna-Prozess liefert ihn, Frau Reiche. ({22}) Wenn wir international erfolgreich sein wollen, sind wir gut beraten, die Vereinbarungen, die auf der BerlinKonferenz getroffen wurden, auf nationaler Ebene jetzt zügig umzusetzen. Für ein kooperatives und planvolles Vorgehen sind dabei drei Schritte besonders wichtig: Die Bundesregierung muss zeitnah zu einer nationalen Umsetzungskonferenz einladen. Länder, Hochschulen, ihre Verbände und Vereine und weitere hochschulpolitische Akteure müssen dort eine Strategie für die Umsetzung der gemeinsam definierten Ziele erarbeiten und festlegen, bis wann diese Ziele erreicht werden sollen. Der Zeitrahmen ist ganz wichtig. Darüber hinaus ist die Einrichtung einer ständigen nationalen Bologna-Task-Force sinnvoll. Bund, Länder, Hochschulen und Studierende - es wurde ja schon betont, wie wichtig auch die Integration der Studierenden in diesen Prozess ist - sollen hier vertreten sein, um die Umsetzung der Ziele zu begleiten und zu kontrollieren. Damit der Deutsche Bundestag an dem Reformprozess beteiligt wird, fordern wir die Bundesregierung auf, das Parlament rechtzeitig vor den anstehenden BolognaFolgekonferenzen über die Erfolge, die auf nationaler Ebene erzielt wurden, zu unterrichten. ({23}) Bologna, die Hauptstadt der norditalienischen Region Emilia Romagna, steht für den Ausgangspunkt des europäischen Universitätswesens im 12. Jahrhundert. Der Bologna-Prozess zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der nicht von ungefähr in dieser italienischen Stadt seinen Ursprung nahm und nach ihr benannt wurde, kennzeichnet eine Entwicklung hin zu einem gemeinsamen europäischen Hochschulraum. Dieser europäische Hochschulraum zeichnet sich durch Transparenz und vergleichbare Standards aus. In ihm werden sich Lehrende und Lernende ohne Einschränkungen bewegen und arbeiten können. Dieser internationale Hochschulraum wird sich im internationalen Wettbewerb erfolgreich behaupten. Er wird einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass Europa sich bis zum Jahr 2010 tatsächlich zum größten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt entwickelt. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten sich überlegen, ob Sie in diesem Prozess zu den Architekten oder zu den Blockierern zählen wollen. ({24}) Ich werbe dafür, dass wir gemeinsam dafür eintreten, dass dieser Prozess im vorgesehenen Zeitraum zu einem Erfolg für den Wissens- und Bildungsstandort Europa wird. Nur so können wir in einem rohstoffarmen Land international konkurrenzfähig bleiben. Dafür, meine ich, lohnt es sich, engagiert zu streiten. ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion, das Wort.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bologna-Erklärung war ein erster Schritt zu einem qualitätsorientierten, transparenten und einheitlichen europäischen Bildungsraum. Liebe Frau Berg, diese Entwicklung wurde von denjenigen eingeleitet, die Sie eben als Blockierer bezeichnet haben. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass dies in den 90er-Jahren ein wichtiger und entscheidender Schritt war. ({0}) Es war eine Art bildungspolitische Zielvereinbarung der EU-Partner. Die Berliner Vereinbarungen - auch darin sind wir uns völlig einig - gehen darüber hinaus. Es ist wichtig, dass man jetzt endlich konkret wurde, Termine setzte und gemeinsam erklärte, was man wirklich will. Für uns Liberale sind dabei einige Meilensteine besonders wichtig: die interne und externe Qualitätssicherung an den Hochschulen bis 2005 und die vollständige Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge bis 2010. Darin unterscheiden wir uns grundsätzlich von der CDU/ CSU, liebe Frau Reiche. Wenn wir jetzt anfangen, Diplom-, Bachelor- und Masterstudiengänge gegeneinander auszuspielen, haben wir schon verloren. Ich hoffe, ich habe Sie in diesem Punkt missverstanden. Das ist nicht in unserem Sinne. Wir wollen diesen Übergang. Wir alle sollten gemeinsam an einem Strang ziehen. ({1}) Wichtig ist für uns das fremdsprachige Diploma Supplement. Meine Kollegen haben mich gebeten, diesen Begriff zu übersetzen. Es handelt sich um eine fremdsprachige Ergänzung; dies für diejenigen, die es bisher noch nicht wussten. Wichtig ist ein hoch stehendes, möglichst interdisziplinäres Doktorandenstudium. Ganz wichtig - das sehen Sie an unserem Antrag, der Ihnen heute vorgelegt wurde - ist die Mitnahme nationaler Ausbildungsförderung ins Ausland. Die Berliner Konferenz - Frau Ministerin, das erkennen wir gerne an - war vom internationalen Standpunkt her ein Erfolg; das ist gar keine Frage. Die Aufnahme zusätzlicher Staaten wie Russland gibt dem Bologna-Prozess eine wirkliche europäische Dimension. Der europäische Bildungsraum ist damit endlich wieder eine kraftvolle Vision, die gerade zu Beginn des Wahlkampfes für die Europawahl im nächsten Jahr auch junge Leute in diesen Integrationsprozess mitnimmt. Der Bologna-Prozess kann mehr Qualität und Wettbewerb bringen. Das hat die bürgerliche Regierung unter Kohl in den 90er-Jahren bewegt, diesen Prozess überhaupt in Gang zu setzen. Die Berliner Konferenz nimmt diesen roten Faden jetzt wieder auf. Nun gehört aber - Frau Berg, in diesem Punkt bin ich anderer Meinung als Sie; dies hat nichts damit zu tun, immer das Haar in der Suppe zu finden - zu dieser Bewertung auch eine realistische Betrachtung des deutschen Standortes. ({2}) Dabei verliert die Vision leider sehr deutlich und schnell an Kraft. Wie sieht es aus? Von den bereits angeführten circa 15 000 Studiengängen sind erst 338 akkreditiert, Frau Reiche. Wir sind bei der Akkreditierung wirklich deutlich zu langsam und zu bürokratisch. Wenn Sie sich überlegen, dass wir irgendwann einmal fertig werden wollen, dann müssen wir eine geradezu raketenartige Geschwindigkeit vorlegen, damit wir diese Akkreditierung endlich auf den Weg bringen. Deutsche Hochschulen - diesen Vorwurf muss man leider erheben - neigen zum Etikettenschwindel. Dass Diplomstudiengänge einfach nur umbenannt werden - sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen -, darf nicht sein. Wir haben damals eine wirkliche Studienreform auf den Weg gebracht. Wir wollen etwas anderes, etwas Neues. Gerade wir Liberalen erwarten von den Hochschulen, dass sie diesen Weg mitgehen. ({3}) Es gibt nach wie vor kein deutschlandweit einheitliches transparentes Punktebewertungssystem. Manche Universitäten haben dieses Punktesystem überhaupt noch nicht umgesetzt, manche bewerten Seminare mit mehr Punkten, manche Vorlesungen. Das ist nicht die Transparenz, die wir uns wünschen. Das ist an vielen Stellen nach wie vor Kuddelmuddel. Hinzu kommt, dass die Verhältnisse an unseren Universitäten oft schlechter als in den anderen EU-Staaten sind. Bei uns rangeln Studenten nach wie vor um Laborplätze. Es fehlt naturwissenschaftliches Instrumentarium. In England ist das anders. In England geht das einfach schneller. Damit haben wir unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen in den europäischen Staaten. Da muss ich das Gleiche sagen, was ich in der letzten Sitzungswoche an dieser Stelle auch gesagt habe, Frau Bulmahn: Wenn Sie die Hochschulbaufördermittel reduzieren, sind wir auf dem genau entgegengesetzten Weg. Dann werden wir unsere Verhältnisse nicht verbessern. ({4}) Wir müssen im Gleitflug hoch, nicht runter. Wir haben außerdem Probleme mit dem Übergang vom Bachelor zum Master. Deshalb kommt es zu schon abstrusen Vorschlägen wie der Quotierung der Übergänge vom Bachelor zum Master, wie es die von uns so geliebte Kultusministerkonferenz vorgeschlagen hat. An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich sagen: Das ist die zweite wichtige Debatte, bei der kein wichtiger Ländervertreter anwesend ist. ({5}) Das ist ein Skandal, denn wir müssen alle zusammen etwas für diesen Bildungsstandort tun. ({6}) Ein Hemmnis für mehr Internationalität ist auch das verkrustete deutsche Beamtenrecht. Bislang verhindern gesetzliche oder bürokratische Vorgaben, dass ein deutscher Professor nach Frankreich berufen wird. Das hat Herr Professor Gaehtgens sehr richtig als absurd bezeichnet. An dieser Stelle möchte ich ein Zitat vorlesen: Die Überprüfung und Reform des Dienstrechtes und der Personalstruktur ist überfällig ... bis jetzt sind die Vorschläge der Regierung in dieser Frage eine Nullnummer. Liebe Frau Bulmahn, das haben Sie am 13. Februar 1998 diesem Bundestag mitgeteilt. Das war ein Vorwurf an die alte Regierung Kohl. Aber seitdem hat sich nichts verändert, Frau Bulmahn. ({7}) - Es hat sich nichts verändert, lieber Herr Tauss. Wir warten alle voll Spannung auf das Wissenschaftstarifvertragsrecht. Die Liberalen werden entsprechende Vorschläge in den nächsten Wochen machen. Wir werden hier an dieser Stelle über den Wissenschaftstarifvertrag endlich diskutieren und nicht nur theoretische Debatten führen. ({8}) Es ist ja auch sehr schön, dass jetzt Russland Teil des Bologna-Vertragswerkes ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Herr Tauss stimmgeschwächt ist. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Heißt das nun Ja oder Nein?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich liebe Herrn Tauss. Bitte schön. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen. Wegen der Stimmschwäche, liebe Frau Kollegin, benutze ich das Mikrofon. Tarifverträge werden immer noch zwischen Tarifvertragsparteien geschlossen, aber leider oder Gott sei Dank - man kann das bewerten wie man will - nicht hier im Deutschen Bundestag verabschiedet. Dürfen wir damit rechnen, dass von den Ländern, in denen die FDP mitregiert, in den nächsten Tagen und Wochen - so habe ich Ihre Ankündigung verstanden - Initiativen auf den Weg gebracht werden, beispielsweise über die Tarifgemeinschaft der Länder, mit den Forschungsorganisationen und den anderen Beteiligten zu wissenschaftstarifvertraglichen Regelungen zu kommen? Ich würde das übrigens sehr begrüßen. Haben Sie das schon auf den Weg gebracht? Hier hilft uns das relativ wenig. Ich hoffe, meine zarte Stimme ist rübergekommen.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Tauss, meine Sympathie für Sie nimmt gerade ruckartig ab. ({0}) Das Problem ist, dass wir uns hier im Bundestag befinden und dass wir Bundesminister haben. Ich bin übrigens froh, dass Frau Zypries und Herr Schily anwesend sind, denn sie sind diejenigen - das wissen Sie genauso gut wie ich -, die das Problem für die Bundesebene schaffen. Wir müssen den Schritt auf Bundesebene gehen. Wir müssen einen eigenen Spartentarifvertrag zulassen. Herr Schily tut unserer zuständigen Bildungsministerin einiges an. Ich erwarte vom Innenminister, dass er endlich den Weg für das freimacht, was die Wissenschaftsorganisationen und wir Liberalen seit vielen Jahren fordern. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Darf Herr Tauss nachfragen? ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jetzt kommt der Augenblick, wo ich meine Sympathie völlig auf Null herunterfahre. Lieber Herr Tauss, jetzt möchte ich nichts mehr hören, sondern weiterreden. ({0}) - Ja, es ist Liebesentzug, wirklich! Ich möchte jetzt noch etwas über Russland sagen. Unser Antrag bezieht sich darauf, dass ({1}) das Auslands-BAföG endgültig reformiert werden muss. ({2}) Frau Bulmahn, Sie haben das Auslands-BAföG als einen der Hauptschwachpunkte bezeichnet. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Ich erwarte Ihren Vorschlag, damit wir gemeinsam an der Überwindung dieses schweren Mankos arbeiten können. Es kann nicht sein, dass jemand erst in Russland anfangen muss zu studieren, wenn er Auslands-BAföG beziehen möchte, dass es nur für ein Jahr gewährt wird und so viel Bürokratie damit verbunden ist. Hier stößt die schöne Vision eines einheitlichen Bildungsraumes wirklich sehr schnell an harte EUAußengrenzen. ({3}) Nun komme ich leider zum Schluss meiner Rede, meine Damen und Herren. Frau Bulmahn hat auf der Berliner Konferenz in der vergangenen Woche gesagt: Wir dürfen den Schwung gerade angesichts zahlreicher zu bewältigender Aufgaben nicht verlieren. Ich will Ihnen, Frau Bulmahn, an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Sie haben unsere Mitarbeit angefordert. Wir als Liberale sind auf diesem schwierigen europäischen Weg an Ihrer Seite, und zwar ganz dezidiert auch im Hinblick auf den Kampf mit den Ländern, mit den Universitäten und hinsichtlich der Umsetzung in der Wirtschaft; sie ist nämlich der dritte, sehr schwierige Partner. Wir wollen diese Entwicklung und wir sind in keiner Weise bereit, konservativ zurückzugehen. ({4}) Wir wollen nach vorn und wir sind dabei! ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine Vorbemerkung zu Frau Flach und zum Wissenschaftstarifvertrag: Auch wir Grünen stehen hier aufseiten unserer Wissenschaftsministerin und hoffen, dass nun endlich Bewegung in die Sache kommt. ({0}) Wir halten das für ein notwendiges Mittel, um in der Wissenschaft entsprechend flexibel weiterzukommen. Nun aber zu dem eigentlichen Thema, zur BolognaKonferenz. Eines ist Ende letzter Woche deutlich geworden: Für den Stellenwert von akademischer Bildung in Europa war die Konferenz der Bildungsminister in Berlin ein voller Erfolg. Das Abschlusskommuniqué steckt in deutlicher Weise den Rahmen ab, wie ein Studium in Europa in naher Zukunft aussehen wird. Dabei werden wichtige Punkte hervorgehoben. Erstens. Bildung ist ein öffentliches Gut, das auf keinen Fall Marktinteressen untergeordnet werden darf. ({1}) In dieser Hinsicht lässt das Kommuniqué zu meiner großen Freude keinen Zweifel aufkommen. Diese Haltung wird uns auch im weiteren GATS-Prozess helfen. Bildung ist nun einmal keine Ware wie jede andere, sondern muss gesondert be- und verhandelt werden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie mich nicht missverstehen: Auch wir wollen neue internationale Angebote und Ansätze im deutschen Bildungssystem ermöglichen. Das darf aber nur unter der Maßgabe hoher Qualitätsstandards geschehen und das öffentliche Bildungssystem nicht gefährden. Die Qualitätssicherung europaweit schon bis zum Jahr 2005 zu etablieren ist eine ehrgeizige, aber völlig richtige Zielsetzung dieser Konferenz. Alle Beteiligten sollten hier im Interesse der deutschen Hochschulen konstruktiv zusammenarbeiten, um diesem Projekt der Qualitätssicherung zum Erfolg zu verhelfen. ({3}) Ein zweiter wesentlicher Punkt: Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer betonen an vorderster Stelle die soziale Dimension des Bologna-Prozesses. Damit werden die richtigen Prioritäten für die politische Agenda gesetzt. Die wirklichen Grenzen für die Studierenden liegen heute nämlich immer noch in ihrer finanziellen und sozialen Absicherung für ihr jeweiliges Auslandsstudium. Die Berliner Konferenz hat nun begonnen, diese Barrieren niederzureißen. Denn nur so kann es wieder ebenso selbstverständlich werden, in Krakau oder Prag zu studieren wie in Madrid oder Paris, in Budapest genauso wie in London oder Stockholm. Wir müssen diese Mobilität von europäischer Ebene aus für alle Studierenden sichern, egal aus welchem Land sie kommen. Die Bundesregierung hat mit der BAföG-Reform in der letzten Legislaturperiode die Weichen hierzu bereits richtig gestellt. Deutsche Studierende können viel leichter als früher ihr BAföG mit ins Ausland nehmen. ({4}) Meine Damen und Herren, der Zugang zur akademischen Bildung je nach individueller Leistungsfähigkeit ist eine weitere, besonders wichtige gemeinsame Verpflichtung. Genau hierin besteht in Deutschland noch ein erheblicher Nachholbedarf. Wir müssen endlich die soziale Auslese im Bildungssystem beseitigen und den Talenten aller Menschen in Deutschland - nicht nur der Besserverdienenden - die Möglichkeit bieten, sich zu entwickeln. ({5}) In Deutschland müssen endlich so viele Akademikerinnen und Akademiker ausgebildet werden, wie dieses Land braucht. Wenn wir weiter hinterherhinken, dann kann das deutsche Bildungssystem zur Belastung für den europäischen Einigungsprozess werden. Wir wollen dieses Problem nicht kleinreden, wie es die ansonsten von mir durchaus geschätzte Frau Staatsministerin Wolff zuletzt versucht hat. Der Antrag der Koalition greift notwendige Schritte auf. Wir wollen im europäischen Hochschulraum Vergleichbarkeit und Transparenz schaffen, ohne die Vielfalt akademischer Bildungsmöglichkeiten einzuschränken. Wir brauchen eine bundesweite Koordination der durch Bologna, Lissabon, Prag und Berlin angestoßenen Prozesse an den deutschen Hochschulen. Allein die Einführung des so genannten Europäischen KreditpunkteSystems macht noch an vielen Hochschulen Schwierigkeiten. Wir müssen dringend auf Kompatibilität achten. Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum Thema Kompatibilität und Akzeptanz ausführen. Mit der gesellschaftlichen Anerkennung der neuen Bachelorund Masterstudiengänge ist es in Deutschland bislang nicht so weit gediehen, wie wir alle uns das wünschen. Diese Innovation braucht ihre Zeit, um bei den Studierenden, aber vor allem auch bei der Wirtschaft Vertrauen zu gewinnen. Die Beteiligten in Politik und Wissenschaft müssen ihren Beitrag leisten, um dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Die Studienpläne sind in vielen Fächern reformbedürftig. Es ist keineswegs damit getan, den Magister durch den Master zu ersetzen und ansonsten alles beim Alten zu belassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der Integration der europäischen Hochschulen ist eine riesige Chance für alle deutschen Hochschulen und für alle deutschen Studierenden. Wenn wir die Dynamik in diesem Prozess nutzen, gelangen wir im europäischen Verbund wieder zurück an die Weltspitze. Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam ergreifen! Die heutige Debatte lässt uns hoffen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Marion Seib, CDU/CSUFraktion. ({0})

Marion Seib (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Mittelalter ging von Bologna - einer der ältesten Universitätsstädte der Welt - in Sachen Bildung eine Initialzündung mit Auswirkungen auf die gesamte europäische Wissenschaftslandschaft aus. Betrachten wir den heutigen Bologna-Prozess als Synonym für eine Initialzündung zur Weiterentwicklung der Bildungssysteme in Europa. Der Bologna-Prozess hat das Bewusstsein für die Notwendigkeit eines einheitlichen Hochschulraums in Europa geschärft. Ziel ist - darin sind wir uns alle einig; das hat auch jeder meiner Vorredner betont - die größtmögliche Flexibilität, Mobilität und internationale Wettbewerbsfähigkeit für Studierende in Europa. Dieses Anliegen ist von größter Bedeutung und deshalb unterstützenswert. Die europäischen Bildungsminister haben sich über die Schaffung eines europäischen Hochschulraums bis 2001 verständigt. Dieses Ziel soll unter Beachtung der institutionellen Kompetenzen, der nationalen Bildungssysteme und vor allem der Autonomie der Hochschulen umgesetzt werden. Auf der Nachfolgekonferenz in Berlin sollten über die Fortschritte Bilanz gezogen sowie Richtung und Prioritäten festgelegt werden. Positiv zu vermerken ist zunächst, dass das Doktorandenstudium als weiteres Ziel des Bologna-Prozesses festgelegt wurde. Wegen der Tragweite der Entscheidungen und der Tatsache, dass wir in vielen Positionen Neuland betreten, sei auf kritische Punkte der Bologna-Nachfolgekonferenz hingewiesen. Diese Kritik betrifft sowohl inhaltliche Fragen als auch Verfahrensfragen. Ich möchte mich dabei auf drei Schwerpunkte konzentrieren: erstens das fehlende Verständnis bei den Adressaten des Bologna-Prozesses, zweitens die Akkreditierung und Qualitätskontrolle und drittens die Erweiterung des Bologna-Prozesses. Die Umsetzung des Bologna-Prozesses wird nur von Erfolg gekrönt werden, wenn die Adressaten - also die Universitäten, Studenten und späteren Arbeitgeber - von den Zielen überzeugt sind. ({0}) Eines der Kernelemente des Bologna-Prozesses ist die Umstellung unseres Studiensystems auf eine zweistufige Struktur. Die letzte Erhebung der Hochschulrektorenkonferenz weist für das laufende Wintersemester in Deutschland fast 1 800 Bachelor- und Masterstudiengänge aus. Im Zeitraum 2002/03 entschieden sich aber nur 2 Prozent der Studierenden für das neue System. Das ist doch eine recht kleine Anzahl. Mit anderen Worten: Die Universitäten, die Studenten und die Arbeitgeber stehen noch vor einem gewaltigen Umsetzungs- und Verständnisprozess. Alle schönen Worte auf den Konferenzen werden umsonst sein, wenn sich insbesondere die Lehrenden an den Hochschulen nicht konsequent und hoch motiviert daran beteiligen. ({1}) Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge darf nicht mit der einfachen Umwandlung der Vordiplome in Bachelorabschlüsse und der Diplome in Masterabschlüsse verwechselt werden. Gerade die Einführung des Bachelor wird die Hochschullehrer bei der Konzeption der neuen Studiengänge zwingen, sich auf die wesentlichen Kernbereiche der beteiligten Fächer zu einigen, ohne die Berufsbefähigung der Bachelorabschlüsse aus den Augen zu verlieren. Eine wichtige Rolle bei der Motivation der Lehrenden spielt insbesondere der finanzielle Entscheidungsspielraum. Hier gibt der Bund ein schlechtes Vorbild ab. ({2}) Im nächsten Jahr will er beim Hochschulbau 135 Millionen Euro - das sind rund 13 Prozent der bisherigen Mittel - sparen. Durch das Studiengebührenverbot verbaut er darüber hinaus den Hochschulen weitere Einnahmemöglichkeiten. Dies führt auf Dauer zu Frust und Demotivation bei den Entscheidungsträgern an den Hochschulen und kann unserem gemeinsamen Anliegen nicht dienlich sein. ({3}) Der Bologna-Prozess mit all seinen Chancen ist noch nicht in den Köpfen der jungen Menschen angekommen. Die katastrophale Arbeitsmarktlage - das gilt auch in steigendem Maße für Akademiker - zwingt junge Menschen verstärkt auf die berufliche Perspektive eines Hochschulabschlusses zu achten, zumal deutsche Studierende mit 16 Millionen Studierenden europaweit in Konkurrenz um Lohn und Brot stehen. Neue Abschlüsse ohne Rückschluss auf die Tauglichkeit im Berufsalltag entwickeln unter diesen Umständen nur wenig Anziehungskraft. Mit ihrer Verunsicherung stehen die Studenten aber nicht alleine da. Auch ein Großteil der potenziellen Arbeitgeber ist vielfach noch nicht hinreichend über die neuen Abschlüsse und deren Möglichkeiten informiert. Damit meine ich nicht die internationalen Großkonzerne. Ich spreche vielmehr vom deutschen Mittelstand, von dem Rückgrat unserer Wirtschaft. Der Mittelstand sind 3 Millionen Unternehmen mit 20 Millionen Beschäftigten. Diese Unternehmen beschäftigen zwei Drittel aller Arbeitnehmer in Deutschland. Die Mehrheit der Hochschulabsolventen findet hier ihren ersten Arbeitsplatz. ({4}) Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Errichtung eines europäischen Hochschulraums ist die Qualitätssicherung der einzelnen Studiengänge. Die beiden Instrumente zur Qualitätssicherung - Evaluation für die interne Qualitätsverbesserung und Akkreditierung zur Einhaltung extern vorgegebener Standards - stehen im Vordergrund der Diskussion. Auch das Berliner Kommuniqué der Ministerkonferenz geht auf die Qualitätssicherung ein. Bis zum Jahr 2005 sollen in allen Ländern entsprechende Strukturen geschaffen werden, danach sollen die internationalen Qualitätssicherungssysteme in ein europäisches Netzwerk für Qualitätssicherung eingebunden werden. Nur ein solches Netzwerk kann die Vielfalt kultureller Traditionen der verschiedenen Länder widerspiegeln. Bei der hochschulübergreifenden Qualitätssicherung hat sich Deutschland für die Einrichtung eines Akkreditierungsrates entschieden. Dieser Rat hat inzwischen sechs Agenturen zugelassen, die wiederum Studiengänge akkreditieren. Auf den ersten Blick sind wir vorangekommen. Aber ein genauer Blick auf die Zahlen trübt das Bild. Wir haben bis jetzt nur 338 akkreditierte Studiengänge. Bei gut 11 000 Studiengängen an deutschen Hochschulen ist das ein verschwindend geringer Anteil. Es bleibt zu befürchten, dass sich der Akkreditierungsstau nicht so leicht abbauen lässt. Selbst wenn es zu Gruppenakkreditierungen kommt und mehrere Studiengänge in einem Verfahren zusammengefasst werden, frage ich: Woher sollen die für die Akkreditierungsverfahren erforderlichen Gutachter kommen? Schon jetzt klagen die Agenturen über einen Mangel an Gutachtern. Frau Flach, wir müssen - bundesweit - noch einmal über Folgendes reden: Auch wenn Bachelor und Master in Zukunft die wichtigsten Abschlüsse im Hochschulbereich darstellen werden, dürfen sie Diplomstudiengänge nicht völlig verdrängen. Die Kultusministerkonferenz hat dies als richtig erkannt und sich in ihren zehn Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland für die Beibehaltung bewährter Diplomabschlüsse über das Jahr 2010 hinaus ausgesprochen. Dies betrifft vor allem die weltweit anerkannten deutschen Ingenieurdiplome. Hier sollte man Bewährtes nicht fahrlässig aufgeben und über Bord werfen. ({5}) Bei der Umsetzung der Qualitätsabsicherung dürfen wir nicht vergessen, dass wir es nicht nur mit dem EURaum zu tun haben; die internationalen Entwicklungen im Bereich der Hochschulen, die zum Teil gegenläufig sind - wie in den USA -, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Der Erfahrungsaustausch in den supranationalen Netzwerken wird und muss auf die europäische Hochschullandschaft zurückwirken. Der Bologna-Prozess umfasst nicht nur EU-Staaten oder zukünftige EUMitglieder, sondern auch viele weitere Länder; beispielsweise gehören so unterschiedliche Staaten wie Norwegen oder die Türkei zu den Teilnehmern am BolognaProzess. In Berlin wurden weitere Länder aufgenommen, darunter Albanien, Bosnien-Herzegowina, Russland und der Vatikan. Damit ist die Anzahl auf 40 gestiegen. Ganze Regionen, wie die Karibik oder Lateinamerika, sind an einer engeren Zusammenarbeit mit den Ländern, die am Bologna-Prozess teilnehmen, interessiert. Bei dieser Entwicklung sei die Frage erlaubt, ob der Bologna-Prozess nicht über das Ziel hinausschießt. Ist eine Bildungslandschaft von Lissabon bis Wladiwostok oder von Berlin bis Rio noch überschaubar? Ziel des Bologna-Prozesses war und ist es, die weltweite Ausstrahlungskraft und die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulraums zu stärken. In der BolognaErklärung von 1999 heißt es ausdrücklich: Das Europa des Wissens kann seinen Bürgern die notwendigen Kompetenzen für die Herausforderungen des neuen Jahrtausends ebenso vermitteln wie ein Bewusstsein für gemeinsame Werte und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen sozialen und kulturellen Raum. Durch die Erweiterung des Bologna-Prozesses über den europäischen Kontinent hinaus sehe ich das Grundverständnis der Bologna-Idee gefährdet. Die Idee eines gemeinsamen europäischen Hochschulraums wird dadurch eher verwässert als vorangebracht und kann zu herben Enttäuschungen bei allen Beteiligten führen. Sehr geehrte Frau Ministerin, am Ende des Rückblicks auf die Berliner Ministerkonferenz möchte ich Sie auffordern: Erstens. Wecken Sie das Verständnis bei den Adressaten des Bologna-Prozesses in Deutschland, damit die Motivation verbessert und die Kommunikation zwischen Absolventen, Hochschulen und der Wirtschaft fortgesetzt wird! Zweitens. Stärken Sie unsere eigenen Qualitätssicherungssysteme! Fördern Sie aktiv die Zusammenarbeit zwischen den zentralen Akkreditierungsorganisationen in Europa! Drittens. Behalten Sie bei der Neuaufnahme weiterer Mitglieder den Grundansatz der Bologna-Idee im Blick! Wir werden Sie wohlwollend, aber sicher auch kritisch begleiten. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte den Gästen sagen: Ich bin Abgeordnete der PDS. Frau Bulmahn, Sie haben auf Ihrer Internetseite dieses Thema mit „Studieren ohne Grenzen“ überschrieben. Diese Idee ist uns sehr sympathisch. Doch es gibt Befürchtungen, die - soweit ich weiß - auch Sie teilen, dass wir zwar bald eine gemeinsame europäische Hochschullandschaft ohne Grenzen haben werden, aber immer weniger Studierende über die finanziellen Mittel verfügen werden, um diese Grenzen wirklich zu überschreiten. Ich meine, wir dürfen uns in dieser Debatte nicht nur über die Angleichung von Abschlüssen unterhalten, sondern wir müssen uns auch mit der sozialen Situation von Studierenden beschäftigen. Großbritannien ist nur ein Beispiel, das zeigt, dass nach der Einführung von Studiengebühren die Bedingungen für die Studierenden immer schlechter geworden sind: Die Gebühren sind gestiegen und Freibeträge für ärmere Studierende sind gesenkt worden. Eine Verbesserung der Studienbedingungen an den staatlichen Hochschulen und Universitäten konnte selten festgestellt werden. Auch in Deutschland wird das Thema Studiengebühren heiß diskutiert. Die Rednerin der CDU/CSU meinte unbedingt betonen zu müssen, dass Studiengebühren eingeführt werden müssen. Ich denke, es ist ein Irrglaube, dass Studiengebühren die Situation in den Universitäten und Hochschulen verbessern und die Studentinnen und Studenten damit zu nachgefragten Kunden werden. Ich kann nur hoffen, dass man in Deutschland nicht die gleichen Fehler wie in Großbritannien machen wird. Die Diskussion über Studiengebühren ist doch nur ein Vorspiel für diejenigen, die Bildung als Geld bringende Dienstleistung auf den Markt bringen wollen. Es besteht die reale Gefahr, dass mit den GATS-Verhandlungen ein Wettbewerb um die tertiäre Bildung entfesselt wird, der für unsere Gesellschaft nicht gut ist. Die Vermarktung der Bildung wird zwangsläufig die Einschränkung frei zugänglicher Bildung für bestimmte Bevölkerungsgruppen bedeuten. Die Bildungschancen werden wieder vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie an dieser Stelle an den Sputnikschock von 1957 erinnern. Der Schock darüber, dass die Sowjetunion es geschafft hatte, vor den Vereinigten Staaten von Amerika quasi den Weltraum zu erobern, hatte für die USA eine heilsame Wirkung. Sie erkannten, dass ihr Bildungssystem, insbesondere das Hochschulsystem, viel zu elitär war. Es ist zwar schon fast 50 Jahre her, aber trotzdem können wir uns daran erinnern, dass die USA in der Weise reagierten, dass sie ein Gesetz verabschiedeten, das die Hochschulen und Universitäten für breitere Bevölkerungsschichten öffnete. Dieses Gesetz zeigte schnell Wirkung. Die Vereinigten Staaten konnten damals im Bildungsbereich schnell aufholen. Warum dieser geschichtliche Rückblick? Wenn wir in Europa die Gefahren der Kommerzialisierung der Bildung nicht erkennen, wenn wir nicht erkennen, was mit den GATS-Verhandlungen auf dem Bildungssektor geschehen kann, dann können wir in der Wissensgesellschaft nur verlieren; denn für die moderne Wissensgesellschaft braucht man nicht nur die Eliten, dafür braucht man die ganze Gesellschaft, dafür braucht man freien Zugang zur Bildung und dafür sollten sich alle einsetzen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Reiche, Frau Flach, am Anfang möchte ich Ihnen darin Recht geben, dass das ein gemeinsamer Prozess ist, also ein Prozess, der nicht erst mit einer sozialdemokratisch-grünen Regierung begonnen hat. Wenn man anerkennt, dass der Ausgangspunkt Sorbonne, Paris, war, dann erkennt man auch an, dass es schon damals einen Konsens gab und dass Herr Rüttgers an dem ersten Schritt mitgewirkt und dort Einfluss genommen hat. Wenn das so ist, dann kann man genauso anerkennen, auch ausdrücklich, dass eine sozialdemokratisch-grüne Regierung mit einer Bildungsministerin Bulmahn in diesem Prozess ungemein konstruktiv, wirkungsvoll und tief greifend positiv verändernd mitgewirkt hat. ({0}) Die Anerkennung des ersten Schritts von Herrn Rüttgers führt dazu - hoffe ich -, dass das ganze Haus fair die Anerkennung für das ausspricht, was in vier Jahren darauf aufgebaut worden ist. ({1}) Ich meine wohl, dass es da auch Differenzierungen gibt. Wenn wir jetzt eine Parlamentsdiskussion dazu führen, dann müssen wir kritisch reflektieren, dass wir nach 1998, Sorbonne, glaube ich, keine große Parlamentsdebatte zu diesem Thema gehabt haben, dass wir auch Bologna ohne große Parlamentsdebatte haben vorbeigehen lassen - wir haben uns gefreut, aber wir haben das nicht zum parlamentarischen Gegenstand gemacht - und dass für Prag das Gleiche gilt. In Berlin nun sind wir endlich parlamentarisch beteiligt. ({2}) Selbstkritisch müssen wir aber sagen: Wir sind nach Berlin dabei. In Zukunft muss es so sein, dass wir vor der nächsten Konferenz in Bergen, vor dem nächsten Schritt, und vor den weiteren Schritten beteiligt werden. ({3}) Das ist die Selbstverpflichtung, die wir als Parlamentarier haben. Der Antrag, den wir von den Koalitionsfraktionen eingebracht haben, ist einer, der vieles nur begrüßen kann, der aber in manchem Perspektiven aufzeigt. Trotzdem bitten wir darum, dass er nach Beratung im Ausschuss möglichst von allen Fraktionen hier im Parlament mitgetragen wird. ({4}) - Den Wunsch der Parlamentarierin Frau Flach, dass die Abgeordneten zugelassen werden sollten, mögen wir als überzeugte Parlamentarier mittragen; gleichzeitig wissen wir aber, dass es dabei auch um pragmatische Fragen geht. Bologna ist mittlerweile zu einem so großen Prozess geworden - es gibt so viele Beteiligte, zum Beispiel Studenten und Vertreter der Hochschulen aus den jeweiligen Staaten -, dass wir einen Weg der Parlamentarisierung finden müssen, so wie wir das im EU-Bereich erreicht haben, wenn es um einen europäischen Bildungsraum geht. Die Reflexion über das, was eigentlich passiert ist, möchte ich an einer Stelle zuspitzen: beim europäischen Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsraum. Frau Bulmahn hat gesagt, dass die Hochschulen dort eine Schlüsselrolle einnehmen. Frau Berg hat von einer Vision gesprochen. Ich will mich mit dem auseinander setzen, was Frau Seib gesagt hat. Frau Seib, ich teile Ihre Einschätzung, dass es gut und, ich glaube, auch in unser aller Interesse ist, dass Russland in diesen europäischen Bildungsraum mit einbezogen ist, selbst wenn Russland bis Wladiwostok reicht. ({5}) Es ist fast ein Wunder, welche Länder hierbei mitmachen. Dabei müssen wir immer wissen, welche Unterschiede zwischen Ländern wie England, den Niederlanden oder Deutschland als den reichsten Ländern und einem Land wie Albanien, einem der ärmsten Länder, bestehen und wir müssen uns klar machen, dass wir uns in diesem Prozess nicht überfordern dürfen. Es ist gut und wichtig, dass diese Erweiterung über den engeren EU-Rahmen hinausgeht. Die Karibik und andere Staaten, die hier angesprochen wurden, sollen - so habe ich es jedenfalls verstanden - zwar nicht Teil des europäischen Hochschulraums werden, aber es wäre gut, wenn der Prozess, der sich jetzt in Europa vollzogen hat, auch zum Vorbild für andere Regionen wird und sie auf diese Weise auch am Prozess teilhaben können. ({6}) Ich glaube, auf dieser Ebene können wir zusammenfinden, ohne dass irgendwelche Ressentiments geweckt werden. Ein weiterer Punkt, der den Blickwinkel betrifft, ist mir aufgefallen: Wir haben hier im Parlament immer wieder schnell Europa und die USA verglichen und lange darüber diskutiert. Wir haben also das US-amerikanische Hochschul- und Forschungssystem als Bezugspunkt für uns gewählt. Wir haben jetzt aber die Chance, einen eigenen europäischen Bezugspunkt herzustellen. Das gibt neues Selbstbewusstsein und schafft Identität. Dadurch kann man junge Menschen gewinnen und Tradition und Moderne verbinden. Ich glaube, es tut uns gut, wenn wir in Zukunft häufiger fragen, wie es die Niederländer, die Norweger oder die Russen machen, statt immer nur zu fragen, wie es die USA machen. Bei der Gestaltung dieser Dinge geht es auch ein wenig um eine Emanzipation Europas. Frau Ministerin, Sie haben am Anfang gesagt, Wettbewerb, Flexibilität und Freiheit sollen ebenfalls wachsen. Gleichzeitig geht es ja auch darum - ich möchte noch einmal einen Aspekt verstärken, den ich in Ihrer Rede wahrgenommen habe -, festzuhalten, wie die europäische Hochschulidee aussieht. Als Erstes nenne ich die Verbindung bzw. die Einheit von Forschung und Lehre. Diese gibt es nicht in allen anderen Hochschulräumen der Welt, aber sie ist seit den Hochschulgründungen von Bologna und Prag bis in die Gegenwart ein Teil unserer Tradition. Hinzu kommt der freie Zugang zu den Hochschulen. Dies muss auch bei der Debatte um Hochschulgebühren beachtet werden, wenn man anfängt, verschiedene Maßstäbe für Erst- und Zweitstudium anzulegen und festzulegen, wann ein Erststudium ungebührlich überzogen wird. Weiterhin nenne ich die Eigenständigkeit von Hochschulen. Diese muss als Maßstab für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen staatlicher Reglementierung und Autonomie in Form von eigener rechtlicher Gestaltungsfähigkeit der Hochschulen angelegt werden. Außerdem nenne ich die Vielfalt und nicht zuletzt auch als demokratische Komponente die Beteiligung von Professoren, Lehrenden und Lernenden an der Gestaltung der Hochschulen. Wenn man all dieses zusammennimmt, gewinnt der europäische Hochschulraum auch eine eigene Qualität und man unterwirft ihn nicht der rein ökonomischen Betrachtung des einheitlichen Wirtschafts- und Arbeitsraums. Peter Glotz, früherer Vordenker der SPD, sagte vor einiger Zeit einmal auf die Frage, wie man Bildung in Zukunft definieren könne: Sie muss humanistisch, ökologisch und europäisch sein. Ich glaube, dieser 15 Jahre alte Ausspruch von Peter Glotz findet unter anderem im Berlin von heute eine Entsprechung und Erfüllung. ({7}) Der Prozess - das haben Frau Seib und andere angesprochen - beinhaltet einen sehr ehrgeizigen Fahrplan. Es ist ja gut, wenn man schnell vorankommen will, aber man darf sich dabei nicht verhaspeln. Wir müssen die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die die einzelnen beteiligten Länder vorlegen, berücksichtigen. Wir müssen diesen Prozess sicherlich in manchen Punkten beschleunigen, wir müssen uns aber zugleich auch auf bestimmte Fragen konzentrieren, denn man kann nicht alles zur gleichen Zeit anfassen. Die Bildungsminister der beteiligten Staaten haben sich deshalb auch auf drei Schwerpunkte konzentriert: Qualität, Stufung des Studiums und Transparenz, also gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen. Sie, Frau Bettin, sagten, einen weiteren Schwerpunkt stelle die soziale Dimension dar. Wenn man ehrlich ist, muss man dazu sagen, dass dies kein primärer Schwerpunkt ist. Ich möchte hier auch einmal kritisch fragen, ob dieser Frage eine solche Rolle in einem Hochschulraum, der von Russland über Albanien bis zu den Niederlanden reicht, zukommen könne. Wenn wir die soziale Dimension an den Anfang aller Fragen setzen und mit ihrer Hilfe einen europäischen Hochschulraum konstituieren wollten, besteht am ehesten die Gefahr, dass man sich verhaspelt, die Hochschulen überlastet bzw. mit zu hohen Ansprüchen belastet, weil die sozialen Bedingungen, also die Lebensbedingungen, in dieser Vielzahl von Ländern so unterschiedlich sind. Das heißt nicht, dass man nicht in einigen Schlüsselfragen dieses Thema angeht. Aber die soziale Dimension gleich an die erste Stelle der Schwerpunkte zu setzen, birgt aufgrund der Verschiedenartigkeit der Länder in sich die Gefahr der Überforderung. ({8}) Man muss sich darüber austauschen. Wenn es dann an anderer Stelle um bestimmte Schlüsselpunkte geht, wird das hoffentlich Ihre Unterstützung finden. Ich will nicht auf alles Positive eingehen. In Bezug auf die Qualität möchte ich nur erwähnen, dass die Akkreditierung ein komplexer Prozess ist und Zeit braucht. Wir von der SPD-Fraktion fragen uns, ob zur Akkreditierung, zur Qualitätssicherung nicht auch gehört, dass man bei der Bildungsforschung, bei der wissenschaftlichen Betrachtung, nicht nur in den Blick nimmt, was sich an den Schulen vollzieht - siehe PISA - und wie das Thema Ganztagsschulen - eine aktuelle Debatte anzugehen ist, sondern auch das Geschehen im Hochschulbereich: Wie kann dort, im Curricularen, in der Verbindung von Forschung und Lehre für mehr Qualität gesorgt werden? Wie findet man Menschen, die bei der Qualitätssicherung mitwirken können? Diese Fragen sind nicht hinreichend beleuchtet. Wenn wir den Prozess von Bologna fortführen wollen, dann muss Hochschulforschung ein Schwerpunkt sein, der parallel aufgebaut wird. Sonst bleibt Qualitätssicherung eher eine formale Frage. Eine Anmerkung in Bezug auf das in Bachelor und Master gestufte Graduierungsverfahren. Man darf nicht alles als Konsens erscheinen lassen; sonst wird nicht mehr deutlich, dass es im Parlament verschiedene Auffassungen gibt. Deshalb, Frau Reiche, müssen Sie sich an dieser Stelle zwei Kritikpunkte gefallen lassen. Den Abgeordneten und auch den Hochschulen ist teilweise noch bekannt, wie wir das Hochschulrahmengesetz novelliert haben und dass es damals eine Auseinandersetzung über die Frage gab: Soll dort verbindlich geregelt werden, dass die Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt werden, oder soll die Einführung ausschließlich freiwillig geschehen? Die CDU/CSU war für die Freiwilligkeit. Wir haben parlamentarisch die Verbindlichkeit durchgesetzt. Wie stünden wir heute im Bologna-Prozess da, in dessen Rahmen die Einführung bis 2005 beschlossen worden ist, wenn wir uns damals nur auf Freiwilligkeit geeinigt hätten? An dieser Stelle haben Sie die historische Entscheidung verpasst. ({9}) Der zweite Kritikpunkt. Sie haben von der „Luft der Freiheit“ gesprochen; ich dachte immer, es hieße „Wind der Freiheit“. Sie meinten damit, die Hochschulen sollten in die Freiheit entlassen werden, was die Auswahl der Studenten angeht. Sie haben aber doch schon die Freiheit, 25 Prozent der Studierenden selbst auszuwählen. Sie nutzen diese Freiheit aber nicht, können es vielleicht auch nicht, weil Auswahlgespräche eine zusätzliche Last bedeuten. Sie können uns in diesem Zusammenhang nicht vorwerfen, wir würden die Freiheit der Hochschulen beschneiden wollen. Es besteht eher die Gefahr, dass von Ihren Vorstößen nichts als heiße Luft bleibt. ({10}) Eine Frage bleibt: Wo sind Schlüsselstellen, an denen wir wirklich aktiv werden können? Frau Flach, Sie sprachen den Wissenschaftstarifvertrag an. Das ist natürlich eine Frage der Tarifpartner, aber seien wir ehrlich: Wenn Unternehmen nicht wissen, wie sie mit Bachelor- und Masterabschlüssen umgehen sollen, dann müssen Bund, Länder und Kommunen deutlich machen und als Vorbild dienen, wie damit umgegangen werden kann. ({11}) Es geht auch um die Anerkennung und die Gleichwertigkeit von Bachelor- bzw. Masterabschlüssen im Fachhochschul- und Hochschulbereich. Das könnte eine Schlüsselstelle sein, bei der wir die FDP nachdrücklich darum bitten: Sorgen Sie in den Ländern, in denen Sie der CDU in die Hacken treten können, dafür, dass sie dort richtig in Fahrt kommen. Im Moment ist es so, dass die CDU- bzw. CSU-geführten Länder eher bremsen. Den Arbeitgebern müssen wir sagen: Wer auf kürzere Studienzeiten drängt, wer einen ersten berufsorientierenden Abschluss in Form von Bachelor fordert, der darf nicht erwarten, dass das mit einem „Diplom in kurzer Zeit“ gleichzusetzen ist. ({12}) Man darf nicht glauben, man könne plötzlich mit einem geringeren Aufwand zum gleichen Preis ein besseres Ergebnis bekommen. Zusätzlich zum Bachelorabschluss müssen in den Unternehmen Weiterbildungspläne zur Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgestellt werden. Denn dieser Abschluss alleine reicht nicht aus. Das müssen wir ganz klar und hart sagen. Meine vorletzte Bemerkung bezieht sich auf Ihren Antrag, Frau Flach, den Sie bezüglich der Mitnahme von BAföG in den gesamten europäischen Hochschulraum eingebracht haben. Wir sind mit der BAföG-Novelle weit vorangekommen. Auch wir denken darüber nach, aber man muss wirklich gründlich darüber nachdenken. ({13}) Dabei gibt es viele Probleme. Ich möchte Ihnen einige nennen. Bisher gibt es Zuschlagssysteme. Wenn man diese nivelliert und auf das BAföG-Niveau bringt, dann stehen sich viele schlechter. Wollen wir das? Bisher ist nicht geregelt, ob Angehörige von in Deutschland lebenden Ausländern BAföG erhalten können. Wie ist es in Grenzregionen? Wie wirkt sich die neueste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus? Wir nehmen diese Fragen auf; aber wir beantworten sie nicht in einem solchen Schnellschussverfahren, wie Sie es mit Ihrem Antrag vorsehen. Haben Sie dafür bitte Verständnis. ({14}) Auf den Konferenzen von Bologna bis Bergen wird über den europäischen Hochschulraum gesprochen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass der Prozess in der EU mit wegweisenden Programmen wie SOKRATES und ERASMUS begonnen wurde. Es ist die finanzielle Seite, auf der sich die Kernregion für einen europäischen Hochschulraum engagieren kann, damit Studierende in den Austausch einsteigen können. Mittlerweile haben wir, glaube ich, den millionsten von ERASMUS Geförderten. Das ist eine große Zahl, aber im Vergleich zu 16 Millionen noch zu wenig. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, die Finanzdebatte nach Europa zu tragen. Ist es wirklich gut, mit über 50 Prozent der Mittel des europäischen Haushaltes einen europäischen Agrarraum zu konstituieren, während man in Bezug auf den Forschungsraum mit 2,5 Milliarden Euro einen bescheidenen Fortschritt macht und Bildung mit unter 1 Milliarde Euro eine marginale Größe ist? Oder können wir zu Umgewichtungen kommen, sodass der Prozess europäischer Hochschulraum materiell unterfüttert wird? ({15}) Diese Vorstellungen bringen wir in die Debatte ein. Es gibt viel Übereinstimmung. Es muss jetzt ein konzentriertes Zusammenwirken von Bund und Ländern mit Folgekonferenzen und Koordinierung geben. Wenn der Bund sich über das zehnte Ziel - Doktorandenstudium freut, muss er selber Vorschläge machen. Er muss sich auf die soziale Dimension, die Mitnahme von Studienförderung nach dem BaföG, konzentrieren. Ich freue mich, dass die Konferenz in Berlin stattfinden konnte. Jedenfalls mir geht es noch so. Von der konservativen Seite wird häufig suggeriert, Sozialdemokraten seien geschichtslos und gefühllos. Für mich ist es immer noch etwas Besonderes, durch das Brandenburger Tor zu gehen. Als Schüler habe ich an der Mauer gestanden und konnte nach Ostberlin nur hinüberschauen. Dass eine solche Konferenz in Berlin stattfinden kann, hat nicht nur Symbolwert, sondern bedeutet auch eine Verpflichtung: ({16}) Brücke zu sein zwischen Ost und West in einem Hochschulraum Europa, in dem qualitative Hochschulbildung ein gemeinsames und selbstbewusstes Ziel ist. Ich bedanke mich. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Bergner, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich bekenne mich zu Beginn meiner Ausführungen gerne zur Gemeinsamkeit der Zielvorstellungen und zur Kontinuität im Bemühen um das Ziel eines europäischen Hochschulraumes. Wir wollen einen Hochschulraum, in dem Studierende und Wissenschaftler ganz selbstverständlich von einer Hochschule eines Landes zu einer Hochschule eines anderen Landes wechseln können. Es soll keine bürokratischen Hemmnisse geben. Studienund Prüfungsleistungen sollen anerkannt werden können. Wer mit jungen Leuten spricht, die solche Hochschulwechsel, zum Teil durch EU-Programme gefördert, absolvieren, weiß, dass wir an dieser Stelle durchaus noch manches zu tun haben. Aber bei aller Gemeinsamkeit in der Zielstellung gibt das Thema doch auch Anlass zu Debatten und Kontroversen. Ich möchte mit dem Selbstverständnis der Politik bei der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes beginnen. Sie, Frau Bulmahn, haben - wie ich finde, zu Recht - darauf verwiesen, dass wir mit der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes eigentlich ein Stück Rückbesinnung vornehmen. Es ist in der Tat so: Wissenschaft war schon immer grenzüberschreitend. Die Scientific Community hat selbst die Widerstände des Eisernen Vorhangs überwunden. Das heißt, wir als Politiker haben hier nicht die Schulmeister zu spielen und die Wissenschaft in Richtung Internationalität zu drängen. Vielmehr haben wir an Internationalität in der Forschungskommunikation anzuknüpfen und dabei Konsequenzen für Studium, Lehre und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu ziehen. ({0}) Warum sage ich das? Ich sage das, weil ich möchte, dass in diesem Prozess die Hochschulautonomie und die Wissenschaftsfreiheit weitestgehend respektiert werden. Damit knüpfe ich genau an das an, was Kollegin Reiche gesagt hat. Wie wichtig es ist, Wissenschaftsautonomie zu betonen, wird gerade dann deutlich, wenn wir uns dem Problem der Studiengänge zuwenden. Ich weiß, dass dieser Prozess nur erfolgreich sein kann, wenn die Politik Auflagen macht. Ich nenne beispielsweise die Einführung des Credit-Punktsystems und das DiplomSupplement. Ich bin auch dafür, ein zweistufiges Graduiertensystem einzuführen. Aber ich halte es für problematisch, wenn wir aus politischer Perspektive die Realisierung des europäischen Hochschulraums allein an der Quote der eingeführten Bachelor- und Masterstudiengänge messen wollen. ({1}) Ich finde es geradezu abenteuerlich, Frau Flach, wenn wir als politisches Oktroi die Streichung herkömmlicher Studiengänge als Maßstab für den Erfolg bei der Schaffung eines europäischen Hochschulraums machen wollen. ({2}) Deshalb bin ich der Kultusministerkonferenz sehr dankbar, dass sie betont, dass es auch über das Jahr 2010 hinaus gute Gründe für die Beibehaltung bewährter Diplomabschlüsse gibt. Ich will auf wenigstens einen dieser Gründe eingehen. Wir beklagen in unserem Land - wie ich finde, zu Recht - eine Schwäche beim naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Ausbildungspotenzial und einen Mangel an entsprechenden Abschlüssen. Wenn wir dies tun, sollten wir aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die akademische Bildung im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften in ganz besonderer Weise auf Diplomstudiengängen beruht. Ich halte es vor diesem Hintergrund geradezu für leichtfertig, die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengänge auf Kosten der Diplomstudiengänge, die gestrichen werden sollen, als politisches Oktroi durchzusetzen. ({3}) - Entschuldigung, ich habe Frau Flach in ihrer Erwiderung auf die Äußerungen von Frau Reiche so verstanden, dass jetzt den herkömmlichen Studiengängen der Kampf angesagt werden soll. ({4}) Davor kann ich nur warnen. Es wäre schön, wenn wir in diesem Punkt übereinstimmen würden. Dann würden wir vielleicht auch in einem anderen Punkt Einigkeit erreichen, auf den ich jetzt zu sprechen komme. Wir wissen seit PISA, welche Defizite im Bereich der schulischen Bildung auftreten. Ich kann nur davor warnen, die Lehrerausbildung gewissermaßen schockartig und flächendeckend auf ein zweigestuftes System umzustellen, da die Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Ich bin der Meinung - in diesem Punkt unterscheiden wir uns, Frau Flach -, dass der Arbeitsmarkt und nicht der grüne Tisch der Bildungsbürokratie über die Zukunft der Diplomstudiengänge entscheiden sollte. Das ist der Punkt, auf den es uns ankommt. ({5}) Was den Arbeitsmarkt betrifft, so nehme ich zur Kenntnis - das steht übrigens ein wenig im Widerspruch zu offiziellen Verlautbarungen des BDA -, dass Personalchefs die breite theoretische Grundbildung, wie sie im Rahmen von Diplomstudiengängen gegeben ist, sehr wohl zu schätzen wissen, weil sie für die Einsatzmöglichkeiten und Flexibilität im späteren Berufsleben wichtig ist. Auch dies ist ein Gesichtspunkt, den wir nicht ignorieren sollten. Zweiter Punkt. Es geht nicht um Etikette, sondern um die Qualität der Abschlüsse. Auch darin scheinen wir übereinzustimmen. Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Es war wichtig, dass auf der Berliner Konferenz das Akkreditierungssystem - hoffentlich verbindlich - für den gesamten europäischen Raum vereinbart wurde. Aber damit ist natürlich neben der internen Evaluierung nur ein Teil der Qualitätssicherung gegeben. Wir sollten uns darüber klar sein, dass der Bachelorabschluss strukturell in der Gefahr steht, zu einem Abbrecherzertifikat zu werden, das zwar die Statistik der Abbrecherquote verbessert, den jungen Menschen aber im Grunde genommen nicht das mitgibt, was sie auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich brauchen. ({6}) - Ich wende mich nicht gegen diesen Abschluss, Herr Rossmann, ({7}) sondern versuche, uns vor Augen zu führen, wie wichtig die Beachtung der Qualität ist. Wenn wir europäisch denken, kommen wir an dem Umstand nicht vorbei, dass der Abschluss in den Herkunftsländern des Bachelor- und Masterabschlusses, im angelsächsischen Raum, je nach Hochschule, an der er erreicht wird, ein ganz unterschiedliches Gewicht und eine ganz unterschiedliche Bedeutung hat. Frau Bulmahn, ich hätte mir gewünscht, dass auf der Konferenz auch hierzu einmal Stellung genommen wird, damit es nicht so aussieht, als ob nur bei uns Hausaufgaben erledigt werden müssten. Auch in diesem Bereich brauchen wir eine entsprechende Anpassung und bestimmte Veränderungen. ({8}) Beim Gesichtspunkt der Qualität gibt es eine ungelöste Strukturfrage. Es wundert mich, dass dies bisher keiner angesprochen hat. Der Ruf nach verkürzten, praxisnahen Studiengängen, der uns bei der Forderung nach der Einführung eines Bachelorabschlusses begegnet, ist zumindest in der alten Bundesrepublik Deutschland nicht neu. Die Antwort, die die alte Bundesrepublik Deutschland darauf gegeben hat, war die Gliederung des Hochschulwesens in Fachhochschulen und Universitäten. Nun legen wir auf dieses gegliederte Hochschulsystem eine weitere Gliederung in Gestalt gestufter Studienabschlüsse. Wie kritisch dies für uns als Rahmengesetzgeber ist und welcher Klärungsbedarf sich an dieser Stelle ergibt, wird bei der Lektüre der Kleinen Anfrage der FDP zu laufbahnrechtlichen Konsequenzen der Abschlüsse deutlich. Dabei ist hervorgegangen, dass der Masterabschluss an Fachhochschulen einer weiteren Akkreditierung bedarf, damit er laufbahnrechtlich dieselben Konsequenzen hat, wie es ein vergleichbarer Abschluss an den Universitäten ermöglicht. Das heißt, wir werden in nächster Zeit, wenn wir die Europäisierung der Studiengänge ernst nehmen, über die Frage „Profilierung unterschiedlicher Hochschultypen versus zweistufige Studienabschlüsse“ - diese Frage wurde bisher verdrängt - sprechen müssen. Diese ungeklärte Frage will ich zumindest in den Raum stellen, um uns deutlich zu machen, dass die Verkündung von Bildungszielen allein nicht ausreicht. ({9}) - Herr Kollege Tauss, ich kann in den wenigen Minuten Redezeit, die mir noch bleiben, nicht darauf eingehen. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass gute Gründe für eine Gliederung des Hochschulwesens sprechen. Ihr Finanzminister wird Ihnen das bestätigen. ({10}) Wenn gute Gründe für eine Gliederung des Hochschulwesens sprechen, dann werden wir nicht leichtfertig mit der Frage umgehen können, ob die Abschlüsse je nach Hochschule gleichwertig beurteilt werden können. Dies ist meine persönliche Meinung. Ich hoffe, wir haben noch Gelegenheit zur Diskussion über diese Frage. Ich fasse kurz zusammen: Wir sind für eine Europäisierung des Hochschulraumes. Dies ist ein lohnendes Ziel. Es ist prinzipiell richtig, dabei die Grenzen der EU zu überschreiten. Aber ebenso wie meine Kollegin Seib muss ich auf Folgendes hinweisen: Wenn es uns um die Ausstrahlung des europäischen Hochschulraumes geht, müssen wir unsere Kräfte kalkulieren und dürfen unsere Ambitionen nicht bis Wladiwostok ausdehnen. Zweiter Punkt. Eine Europäisierung kann keine Uniformisierung der Studiengänge bedeuten. ({11}) Wir brauchen eine selbstbewusste Haltung zu gewachsenen und erfolgreichen Studiengängen in der Bundesrepublik Deutschland. Letzter Punkt. Hauptakteur in diesem Prozess müssen nach unseren Vorstellungen die Wissenschaft, die Fachbereiche und die Hochschulen selbst, sein. Die Politik hat lediglich die Aufgabe der Rahmensetzung. Diese Bescheidenheit sollten wir in der Diskussion zum Ausdruck bringen. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anna Lührmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die europäische Einigung wird nur Wirklichkeit, wenn auch unsere Lebensentwürfe wirklich europäisch werden. Deswegen wollen wir ein Europa des Wissens, einen europäischen Hochschulraum, schaffen: vernetzt, vergleichbar und vor allen Dingen verfügbar für alle Studierenden. Der europäische Bildungsgipfel in der letzten Woche hat uns diesem Ziel ein gutes Stück näher gebracht. Der Bologna-Prozess ist der richtige Weg. Doch die Bologna-Ziele müssen jetzt schnell umgesetzt werden. Nur dann kann Europa binnen sieben Jahren zu einem Raum des Lernens werden. ({0}) Ich gebe zu: Noch bin ich skeptisch. Ich bin skeptisch, ob wir es beim jetzigen Umsetzungstempo wirklich schaffen, bis 2005 europaweit zweigliedrige Studienzyklen einzuführen, sprich: den Bachelor und den Master. Noch skeptischer bin ich, ob das wirklich dazu führt, dass Studierende bald problemlos beispielsweise von der Uni in Heidelberg an die Uni in Mailand oder Wien wechseln können. Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit den Neuerungen im deutschen Hochschulsystem - das kann ich Ihnen aus erster Hand berichten - bin ich da eher ernüchtert: So war es mir diesen Sommer nicht möglich, meine European Credit Transfer Points aus meinem Bachelorstudiengang an der Berliner Humboldt-Universität an die Fernuni in Hagen zu übertragen - und das, obwohl die Kurse inhaltlich nahezu identisch sind. Wenn also die Anerkennung erbrachter Studienleistungen noch nicht einmal in Deutschland klappt, frage ich mich doch, wie das europaweit funktionieren soll. Klar ist: Der Hochschulwechsel muss einfacher werden. Das ist mehr als notwendig, aber nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis. Also arbeiten wir daran: in Deutschland und in Europa. ({1}) Lesen Sie manchmal Stellenanzeigen? Wenn ja, dann wissen Sie, dass internationale Erfahrung und interkulturelle Kompetenz heute in vielen Arbeitsbereichen ganz selbstverständliche Voraussetzungen sind. Diese gelten als wesentliche Soft Skills. Doch so selbstverständlich ist diese Qualifikation gar nicht. Nur rund 10 Prozent aller deutschen Studierenden studieren im Ausland. Dafür gibt es viele Erklärungen. Die Bundesregierung hat das Problem erkannt. Sie hat das AuslandsBAföG entsprechend reformiert. Ich glaube aber, ein wesentlicher Punkt ist, dass Studierenden stärker vermittelt werden muss, dass Europa für sie wichtig ist: sowohl als Bürgerinnen und Bürger als auch in ihrem späteren Beruf. Deshalb muss die europäische Dimension obligatorischer Bestandteil eines jeden Studienfaches werden. Etwas mehr Europa in jedem Studium würde auch helfen, ein weiteres Problem des europäischen Hochschulraumes zu beheben. Es entsteht eine Zweiklassenmobilität: Die Studienplätze in der alten EU sind heiß begehrt, wohingegen nur wenige im europäischen Osten studieren wollen. Man muss halt nicht unbedingt Slowenisch sprechen, um international Karriere machen zu können. Englisch und Französisch sind da hilfreicher. Deswegen ist auch Deutschland als Studienland kein Favorit. Die Europäisierung des Studiums kann also die Lösung dieser Probleme sein. Dazu mache ich drei konkrete Vorschläge, die teilweise von Frau Bulmahn schon umgesetzt werden: Erstens. Wir brauchen europaweite Netzwerke von Hochschulen und grenzübergreifende Studiengänge. Der Transfer von Wissen, von Studierenden und Ressourcen kann so wesentlich vereinfacht werden. Zweitens. Vor allem müssen wir die Studienangebote auch sprachlich europäisieren. Das heißt ganz konkret: mehr Seminare und Vorlesungen auf Englisch. Drittens. Jedes Studium muss thematisch die europäische Perspektive im Blick haben. Nur dann werden die jungen Leute die Chancen Europas erkennen und auch ergreifen. Die Europäische Union hat sich in Lissabon als strategisches Ziel die Verwirklichung eines wissensbasierten Wirtschaftsraumes gesetzt. Dafür brauchen wir europäische Bildung, dafür brauchen wir europäische Köpfe. Nur so hat Europa eine Chance; nur so kann eine europäische Identität entstehen. Die Weichen sind nach dem Treffen in Bologna gestellt. Jetzt muss der Zug endlich an Fahrt gewinnen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1579 und 15/1582 sollen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss und an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungspunkt 20 auf: ZP 1 Vereinbarte Debatte zur aktuellen Lage im Irak 20. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Den politischen Neubeginn und Aufbau des Irak mitgestalten - Drucksache 15/1011 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({1})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlass der Reise nach New York war der 30. Jahrestag des Beitritts Deutschlands zu den Vereinten Nationen, besser gesagt: der Wiederaufnahme Deutschlands in die Vereinten Nationen. Ich hatte dort deutlich zu machen, was Kern unseres Selbstverständnisses in dieser internationalen Organisation ist. Meine

Not found (Kanzler:in)

Unser Land nimmt im Bewusstsein seiner Geschichte Verantwortung für kooperative Friedenspolitik wahr - mit wirtschaftlichen und politischen, aber, wo erforderlich, auch gemeinsam mit den Partnern in der NATO und der Europäischen Union mit militärischen Mitteln. 9 000 Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland sind für unterschiedliche Friedensmissionen legitimiert, durch die Vereinten Nationen und natürlich durch dieses Hohe Haus. Gerade deswegen wollen wir deutlich machen, dass sich unser Sicherheitsbegriff nicht in militärischen Fragestellungen erschöpft, sondern dass wir bei den Ursachen der Konflikte, die zu lösen anstehen, ansetzen und immer wieder ansetzen wollen. ({0}) Ich lege Wert darauf, dass deutlich wird: Armutsbekämpfung in einem sehr umfassenden Sinne ist Teil vernünftig verstandener Sicherheitspolitik. ({1}) Genauso deutlich muss werden, dass angesichts neuer Bedrohungen eine effektivere multilaterale Zusammenarbeit mehr denn je notwendig ist. Das ist der Grund, warum wir uns in New York für eine Stärkung der Vereinten Nationen und für eine Verbesserung ihres Instrumentariums eingesetzt haben. Wir unterstützen die Reformvorschläge, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, gemacht hat, Reformvorschläge, die zu einer noch besseren Legitimation des Sicherheitsrates führen sollen und - wir sind optimistisch, was die Umsetzung angeht - auch führen werden. ({2}) Dabei geht es insbesondere um die Erweiterung des Sicherheitsrates, und zwar durch Staaten der Dritten Welt, aber unter Umständen auch - das ist in den Diskussionen und Wortbeiträgen aller deutlich geworden - durch eine stärkere Einbeziehung Deutschlands bzw. Japans. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass wir bereit sind, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, dass dies aber im Rahmen des Reformprozesses, um den es dabei geht, geschehen sollte und geschehen wird. Selbstverständlich haben im Mittelpunkt dessen, was diskutiert worden ist, unterschiedliche internationale Fragestellungen gestanden. Diese waren auch Thema der bilateralen Gespräche, die ich sowohl mit dem amerikanischen Präsidenten als auch den Präsidenten Russlands und Frankreichs sowie den Staats- und Regierungschefs anderer betroffener Länder geführt habe. ({3}) Im Mittelpunkt stand zum Beispiel die Entwicklung der Situation in Afghanistan. Ich denke, es ist richtig und wichtig, dass auch in diesem Hause deutlich wird, wie sehr unsere Partner in der internationalen Politik den Beitrag Deutschlands insbesondere in Afghanistan schätzen. ({4}) Ich hatte Gelegenheit, ein ausführliches Gespräch mit dem afghanischen Präsidenten Karzai zu führen, der berichten konnte - es wird von anderen bestätigt -, dass es ihm gelungen ist, zu einer Stabilisierung in seinem Land beizutragen. Er hat deutlich gemacht, dass es Anzeichen für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und natürlich auch für eine verbesserte Sicherheitslage gibt. Genauso klar muss indessen allen sein, dass diese positive Entwicklung in sich zusammenbrechen würde, wenn die internationale Staatengemeinschaft ihre Hilfe einstellte. Besser wäre es, wenn beschlossen würde - das werden wir tun -, diese internationale Hilfe als Beitrag zur Gewährleistung von mehr Sicherheit und verbesserten Aufbaubedingungen in diesem Land auszuweiten. Deswegen haben wir sehr intensiv über verbliebene Probleme gesprochen. Mir liegt daran, dass auch hier deutlich wird, dass insbesondere die Situation im Süden und Südosten Afghanistans nicht der Sicherheitslage entspricht, die nötig ist, um auch dort von einer umfassenden Sicherheit sprechen zu können, soweit man das in diesem Land überhaupt tun kann. Mit den Partnern in der NATO und der EU werden wir dafür sorgen müssen, dass insbesondere der pakistanische Präsident und seine Regierung alle Möglichkeiten der Taliban, sich jenseits der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan aufzuhalten, unterbinden werden. Es wird wichtig sein, dass die pakistanische Regierung in dieser Frage noch besser als in der Vergangenheit kooperiert. Es wurde auch anerkannt - das ist keine Überraschung -, dass wir uns entschlossen haben, unser Engagement in Afghanistan auf Kunduz auszuweiten. Ich kann anmerken, dass es dazu einer Ausweitung des ISAF-Mandats bedarf und dass die Wahrscheinlichkeit, dass dies positiv gesehen wird, sehr groß ist. Wir haben in dieser Frage sowohl die Zustimmung der Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Frankreichs und Russlands, sodass ich davon ausgehe, dass in sehr kurzer Zeit eine entsprechende Ausweitung des Mandats der Vereinten Nationen erfolgt. Selbstverständlich hat die Situation im Irak ebenso im Mittelpunkt der Gespräche gestanden und großen Raum eingenommen. Mir liegt deswegen daran, hier noch einmal die Position der Bundesregierung zur weiteren Entwicklung im Irak deutlich zu machen. Wichtig ist die gemeinsame Überzeugung, dass unabhängig von der Frage, wie man zur Notwendigkeit des Krieges stand - ob zustimmend oder nicht zustimmend -, die Staatengemeinschaft insgesamt - inklusive Europa und naturgemäß auch Deutschland - ein dringendes Interesse daran hat, dass es zu einem freien, demokratischen und in seinen Strukturen natürlich auch stabilen Irak kommt. ({5}) Ich glaube, dass ein stabiler Irak in der Region ein wichtiger Beitrag sein könnte, um auch zu mehr Stabilität in der Region zu kommen. Auch das war Gegenstand der Gespräche. Dabei ist in Bezug auf den Nahostkonflikt klar geworden, dass es zu der Roadmap, die das Quartett vereinbart hat, keine rationale Alternative gibt ({6}) und dass es ungeachtet all der schrecklichen Schwierigkeiten, die es in der Region gibt, unsere gemeinsame Pflicht ist, immer wieder dafür zu sorgen, dass versucht wird, das, was in der Roadmap festgeschrieben worden ist, zu implementieren. Der Wiederaufbau Iraks - das ist gemeinsame Auffassung - ist in erster Linie eine Angelegenheit der Iraker selbst. Es ist Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, verkörpert durch die Vereinten Nationen, ihnen dabei mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu helfen. ({7}) Aus diesem Grund ist es wichtig, die irakische Souveränität so rasch wie möglich und natürlich auch praktisch erfolgreich wiederherzustellen. Hierzu ist nach unserer Auffassung ein realistischer Fahrplan nötig, der einige zentrale Wegmarken enthalten muss. Zum einen geht es um die Ausarbeitung einer Verfassung und zum anderen um die Durchführung freier und demokratischer Wahlen, naturgemäß unter der Ägide der Vereinten Nationen. Dabei ist ein pragmatisches Vorgehen wichtig. Man muss vermutlich trennen zwischen der Übertragung von Souveränität in der eben erläuterten Weise und der Übertragung administrativer Regierungsgewalt an eine notwendigerweise zu schaffende provisorische Regierung des Irak. Wir haben die Hoffnung, dass in diesen Eckpunkten auch im Weltsicherheitsrat Gemeinsamkeit hergestellt werden kann. Das erscheint deshalb möglich, weil es in dieser Frage prinzipiell keine Unterschiede gibt zwischen denen, die im Weltsicherheitsrat zu entscheiden haben. Sowohl Frankreich als auch wir, aber eben auch die Vereinigten Staaten von Amerika, sind der Auffassung, dass es einer Souveränitätsübertragung bedarf. Gegenwärtig verhandeln die Außenminister über die Frage, wie der Zeitplan beschaffen sein sollte. Darüber müsste man Einigkeit erzielen können. Das wird Sache der laufenden Verhandlungen in New York, aber auch der Gespräche, die die Außenminister zu führen haben, sein. Klar ist, dass die internationale Staatengemeinschaft auch materiell wird helfen müssen. Dazu bedarf es natürlich zunächst einmal einer präzisen Bedarfsanalyse. Sie wissen, dass diese Bedarfsanalyse gegenwärtig von der Weltbank und vom IWF erstellt wird. Es geht um die Frage, was gebraucht wird, um den Wiederaufbau realistischer anzugehen. Dabei muss man berücksichtigen, dass der Irak nach Wiederaufnahme seiner Erdölförderung und Wiederherstellung und Absicherung der entsprechenden Ölpipelines ein potenziell reiches Land ist. Natürlich müssen die notwendigen Mittel erst mobilisiert werden, um sie für den Wiederaufbau einzusetzen. Gleichwohl gilt, dass die mittelfristig zu erwartenden Öleinnahmen eingesetzt werden müssen, um den Wiederaufbauprozess voranzubringen und zum Erfolg zu führen. Erst nach Auswertung dieser Analyse macht eine Geberkonferenz, um die es geht, wirklich Sinn. Erst dann kann konkret bestimmt werden, was gebraucht wird und wer was zu leisten imstande ist. Bezogen auf den Beitrag Deutschlands will ich sehr klarmachen, dass wir nicht daran denken, uns im Irak militärisch zu engagieren. ({8}) Angesichts unseres Engagements im Übrigen verstehen die Partner diese Haltung Deutschlands durchaus. Wir haben darüber hinaus klargemacht, dass wir bereit sind, die gegenwärtig durch uns geleistete humanitäre Hilfe - die ist beachtlich, auch im Vergleich zu anderen - weiterzuführen. Es wird in der nahen Zukunft darum gehen, ob und gegebenenfalls welche konkreten Projekte mit deutscher Hilfe durchgeführt werden können. Einige unserer Fachleute vom THW sind bereits im Irak im Einsatz. Natürlich achten wir dabei strikt darauf, dass die Sicherheit dieser Experten garantiert wird. Die internationalen Finanzinstitutionen sind in erster Linie berufen, Leistungen für den Wiederaufbau bereitzustellen. Darüber hinaus wird es um Hilfen von der Europäischen Kommission gehen. Ich habe zudem deutlich gemacht, dass Deutschland bereit ist, beim Aufbau von irakischem Sicherheitspersonal selbst konkrete Hilfe zu leisten. Meine persönliche Überzeugung ist - sie wird von vielen geteilt -, dass es in der jetzigen Phase eben nicht in erster Linie darum geht, die Anzahl der im Irak eingesetzten Soldaten zu erhöhen, sondern dass zusätzliche Sicherheit vor allem dann hergestellt werden kann, wenn irakisches Sicherheitspersonal in ausreichender Zahl zur Verfügung steht; denn ausschließlich diese Menschen haben die Fähigkeit, mit der Bevölkerung umfassend zu kommunizieren, und ausschließlich diese Menschen verfügen über die notwendigen Kenntnisse von Kultur und Mentalität, um auf Dauer erfolgreich Sicherheit garantieren zu können. ({9}) Hier liegt der Grund, warum wir angeboten haben, bei der Ausbildung von Polizei mit bei uns gegebenenfalls vorhandenen Kapazitäten und Fazilitäten hilfreich zu sein. ({10}) Wir können das in durchaus beachtlichem Maße, nicht zuletzt in Deutschland, machen. Wir sind aber auch bereit, dies in einem anderen Land in Zusammenarbeit mit unseren Partnern zu erwägen. Mein Eindruck ist, dass der angebotene Beitrag durchaus Beachtung findet, weil insgesamt gesehen wird, dass vor allen Dingen die Ausbildung von irakiBundeskanzler Gerhard Schröder schem Sicherheitspersonal, sei es schwerpunktmäßig Polizei, sei es aber auch Militär, geeignet ist, einen Sicherheitszuwachs herzustellen. Damit wird deutlich, dass der Beitrag Deutschlands hinsichtlich seiner internationalen Verpflichtungen und seiner Bereitschaft, mitzuhelfen, durch den Wiederaufbau und das Herstellen von Demokratie im Irak Stabilität in der Region zu schaffen, als beachtlich gewürdigt wird. So sollten wir das auch miteinander vertreten. ({11}) In den unterschiedlichen bilateralen Gesprächen sind über diese beiden Problembereiche hinaus insbesondere zwei Themen zutage getreten, bei denen es innerhalb der NATO und anderen internationalen Organisationen große Übereinstimmung gibt. Der erste Punkt ist: Wie schafft man es, in Zukunft besser - ich könnte auch sagen: noch besser - dafür zu sorgen, dass Massenvernichtungswaffen nicht weiterverbreitet werden? Dabei hat sich gezeigt, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika bereit sind, dem VNSicherheitsrat in dieser Frage eine neue Bedeutung zu geben. Dies ist meiner Meinung nach ein positiver Ansatz, der dem entspricht, was Deutschland in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer vertreten hat, und den wir deswegen begrüßen und unterstützen können. ({12}) Der zweite Punkt ist die Sorge um die Entwicklung im Iran gewesen. Hier wird anerkannt, dass der Brief der Außenminister Englands, Frankreichs und Deutschlands klar gemacht hat, dass die Europäer, aber auch andere vom Iran erwarten, mit der Internationalen Atomenergiebehörde umfassend zu kooperieren. Ich denke, dass das ein Feld wichtiger Gemeinsamkeiten innerhalb Europas ebenso wie im transatlantischen Verhältnis ist. Wir haben alle ein Interesse daran, deutlich zu machen, dass wir gemeinsam die Erwartung haben, dass diese Kooperation umfassend geleistet wird und dass Erfolg dieser Kooperation einen umfassenden Verzicht auf die Herstellung von Massenvernichtungswaffen durch den Iran bedeuten muss. ({13}) Deswegen sind wir auf einem guten Weg, insbesondere was den Reformprozess der Vereinten Nationen angeht, was unsere Rolle als Teil der Vereinten Nationen angeht und was die deutsche Rolle in den internationalen Konflikten, über die hier zu berichten war, angeht. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor 30 Jahren, anlässlich des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zur UNO, hat Bundeskanzler Willy Brandt vor der Vollversammlung sinngemäß gesagt: Ich komme aus einem Land mit zwei Staaten, aber einem Land, das sich als eine deutsche Nation versteht. Sie, Herr Bundeskanzler, haben gestern anlässlich des 30. Jahrestages der deutschen Mitgliedschaft wieder vor der UNO gesprochen. Sie kamen als Bundeskanzler einer deutschen Nation, die heute in einem Land wiedervereint ist. Ich glaube, nichts kennzeichnet besser das, was sich in diesen 30 Jahren vollzogen hat: eine großartige Entwicklung. Das sage ich ganz bewusst kurz vor dem 13. Jahrestag der deutschen Einheit. Eine solche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland war nur möglich auf dem Fundament der Arbeit eines Bundeskanzlers wie Konrad Adenauer, der die Westbindung Deutschlands verankert hat, trotz aller Widerstände und großer Debatten, eines Bundeskanzlers wie Willy Brandt, der die Öffnung Richtung Osten durchgesetzt hat, gegen viele Widerstände und mit großen Debatten, und eines Bundeskanzlers Helmut Kohl, der die Vision der deutschen Einheit und der europäischen Einigung nicht aus den Augen verloren und sie weiter verfolgt hat, was uns heute in den Zustand bringt, dass wir hier in Berlin im wiedervereinten Deutschland diese Debatte führen. ({0}) Was diese Tradition deutscher Außenpolitik immer geeint hat, ist, dass sie eine Richtung und einen Kompass hatte. Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern nach 16 Monaten den amerikanischen Präsidenten wieder getroffen. Wenn ein solches Treffen, bei dem, wie im Fernsehen gezeigt wurde, der deutsche Bundeskanzler - vorsichtig formuliert: leicht verkrampft - mit dem amerikanischen Präsidenten, getrennt durch einen runden Tisch, erfreulicherweise zusammen sprechend zu sehen war, ({1}) zum Ereignis des Jahres hochstilisiert wird, dann muss ich zumindest fragen, ob dieser Kompass zeitweise verloren gegangen ist. Ich glaube, etwas schon. ({2}) Für die Opposition, für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sage ich aber auch: Wir wollen, dass deutsche Außenpolitik in der Welt Gewicht hat. Wir wollen, dass man sich auf unser Wort verlassen kann. ({3}) Deshalb haben wir den gestrigen Tag als einen Punkt gesehen, an dem Ansätze zur Besserung zu erkennen waren. ({4}) Es ist ja wahr - Sie, Herr Bundeskanzler, haben es immer wieder gesagt, wir sagen es auch -: Die Welt hat sich dramatisch verändert. Der Kalte Krieg ist zu Ende. Die deutsche Einigung steht symbolisch dafür. Willy Brandt hat 1973 vor der UN-Vollversammlung gesagt: Wir sind hierher gekommen, um auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen. Natürlich haben wir heute als vereinigtes Land eine neue Souveränität gewonnen. Ich persönlich würde nicht von Emanzipation sprechen, wie Sie es tun, weil ich glaube, dass deutsche Außenpolitik immer emanzipiert war, von Konrad Adenauer über Willy Brandt hin zu Helmut Kohl. Aber natürlich haben wir Souveränität und damit auch Verantwortung gewonnen und müssen uns fragen - und zwar ganz anders fragen, als wir es früher getan haben -: Was sind unsere Interessen? Im Übrigen sind wir das größte Land Europas. Wir haben nicht nur Verantwortung, sondern von uns erwartet man auch ein Stück Führung. Die Welt hat sich verändert. Der 11. September steht symbolisch für die neuen Gefährdungen, für terroristische Gefahren, mit denen wir uns auseinander setzen müssen. Deshalb teilen wir vieles von dem, was Deutschland an Verantwortung übernommen hat. Aber, Herr Bundeskanzler, der 11. September 2001 ist gut zwei Jahre vorbei und wir haben die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den Vereinigten Staaten von Amerika erlebt - eine Formulierung, die wir vonseiten der Union so nie gebraucht hätten. ({5}) Wir haben ein Jahr später den „deutschen Weg“ erlebt, von dem wir so auch nie sprechen würden. ({6}) Diese Wellenbewegung, dieses Hin-und-Her-Optieren zwischen Extremen, das darf nach meiner festen Überzeugung deutsche Außenpolitik in der Zukunft nicht kennzeichnen. ({7}) Sie haben gestern gesagt: Aber die Geschichte und unsere unmittelbaren Erfahrungen lehren uns, dass wir scheitern werden, wenn wir unser Denken und Handeln auf militärische und polizeiliche Aspekte verengen. Ich kann diesem Satz uneingeschränkt zustimmen. Aber ich glaube, ({8}) meine Damen und Herren, es gehört eine Ergänzung dazu, nämlich dass unsere Geschichte und unsere unmittelbaren Erfahrungen uns lehren, dass wir auch scheitern werden, wenn wir die militärischen Optionen von vornherein ausschließen. ({9}) Herr Bundeskanzler, dies gilt generell, so wie Ihr Satz generell gilt, und nicht punktuell, je nachdem, wie wir es gerade für richtig befinden. Die Tatsache, dass wir unsere Außenpolitik, unsere Verantwortung für die Welt niemals auf militärische und polizeiliche Aspekte verengen würden, zeigt schon die Existenz von Klaus Töpfer bei der UNO, zeigt die gesamte Handlungsweise der damals CDU/CSU-geführten Bundesregierung im Rio-Prozess, in der Verantwortung für Klimaschutz, zeigt unsere Entwicklungshilfepolitik. Hier gibt es eine große Kontinuität. Deshalb ist es völlig unstrittig, dass über die UNO hinaus internationale Verhandlungsprozesse gestärkt werden müssen. Vorgänge wie jetzt bei der WTOKonferenz in Cancun sollten sich nach Möglichkeit nicht wiederholen. Wir sind völlig einer Meinung, dass hier wieder Fortschritt erreicht werden muss, dass das Scheitern solcher internationalen Verhandlungen ohne jeden Zweifel ein Rückschlag ist. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings auch bedauerlich, wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund beim Scheitern solcher Verhandlungen applaudiert; denn das stärkt den Weltfrieden mit Sicherheit nicht. ({10}) Deshalb sind wir davon überzeugt, dass Krieg niemals ein normales Mittel der politischen Auseinandersetzung werden darf. Darauf haben wir auch immer wieder hingewiesen. Wir sind aber auch überzeugt: Wenn die internationale Staatengemeinschaft Autorität erlangen will und die freien und demokratischen Staaten dieser Welt Gewicht haben sollen, ist es wichtig, dass sie die von ihnen gefassten Beschlüsse schlussendlich auch durchsetzen. Darin lag unser Dissens. Auch wenn wir jetzt nach vorne blicken, darf das nicht vergessen werden. Für mich muss die deutsche Außenpolitik bestimmten Bedingungen genügen: Erstens. Europa darf auf internationaler Ebene nicht gespalten agieren. ({11}) Zumindest muss alles unternommen werden, um im Vorfeld eine gemeinsame europäische Position zu finden. ({12}) Eines der Dilemmata der Auseinandersetzungen im UN-Sicherheitsrat lag doch darin, dass Europäer gegeneinander gestanden haben. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass Sie in Berlin den französischen Präsidenten Chirac und den britischen Premierminister Blair getroffen haben. Es war zwar bedauerlich, dass man sich in Bezug auf die Verhandlungen in der UNO noch nicht auf eine gemeinsame Position verständigen konnte, aber es war erkennbar, dass es Fortschritte gibt. Dieser Weg muss weiter beschritten werden. Ich halte es für sehr vernünftig und für einen unglaublichen Fortschritt, dass das Solana-Papier in der Europäischen Union akzeptiert wurde. Hätte es vor dem Irakkonflikt vorgelegen, wäre uns vieles erspart geblieben. Es sollte auch die Grundlage für die weitere Arbeit bilden. Zweitens glaube ich, dass Deutschland - wenn es seine Interessen vertreten will - nur die Option hat, dafür Sorge zu tragen, dass Europa nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika steht. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts besteht in der Bekämpfung des Terrorismus, der nicht irgendeine Gefahr darstellt, mit der jeder Staat alleine fertig wird; vielmehr erfordert seine Bekämpfung die Gemeinschaft aller demokratischen Staaten der Welt. Selbst dann werden wir noch jahrelang in allen Facetten mit diesem Problem zu tun haben. ({13}) Dass ich der festen Überzeugung bin, Europa und Amerika müssen diesen Kampf gemeinsam durchführen, folgt nicht dem alten Denken, dass Europa und Amerika immer zusammengestanden haben, ({14}) wie das schon zu Zeiten des Kalten Krieges war. Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, dass es die Gemeinsamkeit unserer Werte erforderlich macht, an dieser Stelle unsere Kräfte zu bündeln. Drittens. Wir müssen als Bundesrepublik Deutschland bzw. als größtes Land Europas dafür Sorge tragen, dass Europa Führungsstärke zeigt, und zwar nicht nur in der moralischen Argumentation - das wird nicht reichen -, sondern auch hinsichtlich der Wirtschaftskraft und der militärischen Möglichkeiten. ({15}) Herr Bundeskanzler, in diesem Zusammenhang besteht das Problem - das kann auch nicht wegdiskutiert werden -, dass sich die Fähigkeiten der Bundeswehr und die verfügbaren finanziellen Ressourcen zurzeit nicht an den Bedrohungen, sondern an den nationalen Begebenheiten ausrichten. Auf Dauer muss aber die Frage, welches Maß an Sicherheit und welche Ausstattung wir brauchen, an der Analyse der Bedrohungen ausgerichtet werden. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass andere Staaten militärische Kapazitäten zur Verfügung haben, die die Bedrohung widerspiegeln und von denen wir an hinterer Stelle profitieren können. ({16}) Viertens muss deutsche Außenpolitik ihrerseits gemeinsam mit einer möglichst europäischen Außenpolitik dafür Sorge tragen, dass Europa als so verlässlich gilt, dass die Amerikaner nicht den Fehler machen, zu glauben, sie als Supermacht könnten die Fragen in dieser Welt alleine regeln. ({17}) Das würde in die Irre führen. ({18}) Ich habe im Übrigen bei meinen Amerikabesuchen immer wieder darauf hingewiesen, dass auch wir unseren Beitrag dazu leisten müssen. ({19}) Wir sprechen hier über das, was wir tun können. Entscheidend sind dabei Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, damit Meinungsunterschiede in einem vertrauensvollen Verhältnis ausgetragen werden können. Das ist die Grundlage dafür, dass sich niemand selbst überschätzt. ({20}) Fünftens. Wir sind mit Ihnen der Meinung, dass die UNO der Ort ist, an dem in einer globalen Welt Konflikte ausgetragen und geregelt werden müssen sowie über entsprechende Maßnahmen entschieden werden muss. Wir unterstützen genauso wie Sie das Engagement in Afghanistan. ({21}) Die Frage, was dort weiter zu tun ist, muss erlaubt sein; denn die Lage in Afghanistan ist nicht so, dass sie keinerlei Anlass zur Sorge gibt. Sie haben eben gesagt: bei den verbleibenden Problemen. Das ist eine relativ euphemistische Darstellung der Situation in Afghanistan. ({22}) Es hat sich auch hier herausgestellt - das sollte uns auch zu einer realistischen Betrachtung der Situation im Irak veranlassen -, dass Zeitpläne nicht so eingehalten werden können, wie wir uns das in Deutschland wünschen. Die Prozesse sind vielmehr außerordentlich kompliziert. ({23}) Deshalb habe ich mit Freude gehört, dass Sie gesagt haben, wir könnten uns über die Zeitpläne bei einer UNResolution bezüglich des Iraks einigen. Ich halte das für richtig. Auch wir wollen, dass es in Afghanistan vorangeht. Wenn Sie aber realistisch sind, dann wissen Sie, wie kompliziert das Ganze ist. ({24}) - Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich aufregen. Das ist doch kein Vorwurf an Sie. Ich bitte Sie! Schauen Sie einfach nach Europa! Schauen Sie sich zum Beispiel an, wie schwierig die Situation in Bosnien noch immer ist. Lassen Sie uns die Dinge doch realistisch betrachten! ({25}) Wir alle haben uns doch gewünscht, dass heute kein UNBeauftragter in Bosnien mehr tätig sein muss und dass die Prozesse dort schneller vorangehen. Wenn das aber nicht möglich ist, dann muss man mit viel Geduld und dem Bohren dicker Bretter versuchen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung. ({26}) Es ist entscheidend, dass wir auch den Prozess im Irak zu einem Erfolg führen. Ich kann verstehen, wenn Sie darauf hinweisen, dass wir hier im Gegensatz zu unserem Engagement in anderen Regionen und Ländern auch Restriktionen unterliegen. Aber hier kommt es sehr auf die Argumentation an. Lassen Sie mich aus einem Kommentar, der gestern Abend in der ARD gesendet wurde, zitieren: Doch was wollen wir - gemeint sind die Deutschen zum Beispiel im Irak? Haben wir ein Interesse daran, dass die Region politisch wieder stabil wird? Wenn ja, - das ist hier die gemeinsame Überzeugung dann werden wir uns dort auch finanziell engagieren müssen - und vielleicht eines Tages auch mit Soldaten. Denn in der Außenpolitik gilt der Grundsatz: Leistung und Gegenleistung. Umsonst gibt es nichts. Also - um es mit Adenauer zu sagen -: Die Situation ist da. Dieser Situation können wir uns prinzipiell nicht entziehen. Diese Situation müssen wir annehmen. Wir als Deutsche können nicht prinzipiell sagen: Hier scheren wir vollkommen aus und dort entscheiden wir, dass wir mitmachen. - Wir können unsere Kapazitäten bemessen. Aber prinzipiell können wir uns der Gesamtverantwortung nicht entziehen. Das sollte uns allen in diesem Hause klar sein. ({27}) Wir werden dabei sein, wenn es darum geht, dass Deutschland innerhalb der UNO mehr Verantwortung übernimmt. Wir werden auch dabei sein, wenn der UNSicherheitsrat gestärkt werden soll. Er muss handlungsfähig werden. Es ist unstrittig, dass er noch immer Strukturen aus der Zeit des Kalten Krieges aufweist. Ich unterstütze aus vollem Herzen den Satz: Die Regionen dieser Welt müssen im UN-Sicherheitsrat vertreten sein und ihre Rolle spielen. Es ist wichtig, dass Deutschland in diesen Fragen als ein Motor angesehen wird, der die UNO stärkt und der die Welt voranbringt, der aber auch akzeptiert, dass das Gewaltmonopol bei der UNO liegt und dass die UNO ihre Beschlüsse durchsetzen muss. So wie ein Staat nur unter bestimmten Bedingungen die Achtung seiner Bürger bekommt, so wird die Weltgemeinschaft die UNO nur achten, wenn sie nicht als Lame Duck dasteht, sondern ihre Interessen mit wirklicher Autorität durchsetzt. ({28}) Dazu muss Deutschland seinen Beitrag leisten. Wir werden Sie unterstützen, wenn die Dinge in die richtige Richtung gehen. Das umfasst mehr als Soldaten und Polizisten; das umfasst Engagement in der Entwicklungshilfe und viele andere Verhandlungsbereiche. Aber das heißt eben auch: Wir müssen ökonomisch und militärisch stark sein. Wenn das der Fall ist, dann können wir unser Selbstbewusstsein auch nach außen tragen. Herzlichen Dank. ({29})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Auf der Tribüne hat soeben der Präsident des tunesischen Parlaments M’Bezaa mit seiner Delegation Platz genommen. Herr Präsident, wir begrüßen Sie und Ihre Delegation sehr herzlich. ({0}) Wir hoffen, dass Sie in dieser kurzen Zeit einen aufschlussreichen Eindruck von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können. Für Ihren heutigen Aufenthalt in unserem Haus und für Ihr zukünftiges Arbeiten wünschen wir alles Gute! Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Ludger Volmer vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 11. September 2001 hat die internationale Politik einschneidend verändert. Seit diesen Terroranschlägen haben wir es mit einem neuen politischen Zeitalter zu tun. Die internationale Politik wird aber auch durch die politischen Antworten auf den internationalen Terrorismus bestimmt. In diesem Zusammenhang möchte ich für meine Fraktion festhalten: Wir stehen hinter der Bundesregierung bei ihrem Bemühen, die Probleme in Afghanistan mit den Missionen Enduring Freedom und ISAF sowie mit der Aufbaupolitik zu lösen. Das ist die richtige Reaktion auf den internationalen Terrorismus. Genauso deutlich sagen wir aber auch: Der Krieg gegen den Irak war falsch. ({0}) Der Krieg gegen den Irak hat vielleicht ein Problem gelöst. Saddam Hussein ist gestürzt; darüber können wir alle froh sein. Alle anderen Probleme bestehen allerdings fort oder sie sind sogar noch verschärft worden. ({1}) Es ist vielleicht nicht mehr die richtige Zeit, zurückzublicken. Zumindest wir Außenpolitiker haben uns darauf verständigt, den Blick nach vorne zu richten und nach konstruktiven Lösungen der mit der Lage im Irak und in der gesamten Region verbundenen Probleme zu suchen. Frau Merkel, zum Blick nach vorne gehört auch, dass man sich der richtigen Tonlage befleißigt. ({2}) Es ist nicht mehr die Zeit, rechthaberisch zu sein. Das gilt erst recht, wenn man, wie Sie, eher leise Töne anschlagen sollte, um nicht zu sagen: kleinlaut sein müsste. ({3}) Sie hätten die Reise des Bundeskanzlers nach Washington nicht erwähnen sollen; denn nun bleibt mir nichts anderes übrig, als die Reise zu erwähnen, die Sie vor einem Jahr unternommen haben. ({4}) Das war der Gipfel der Peinlichkeit in der deutschen Außenpolitik in den letzten Jahren. Ich kann hier im Namen meiner Fraktion und, ich denke, der gesamten Koalition sagen: Wir sind froh, dass sich der Bundeskanzler und der amerikanische Präsident gestern getroffen ({5}) und einen neuen Faden der Kooperation gefunden haben. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich sagen: Der Bundeskanzler, der Außenminister und das Kabinett, unterstützt von der Parlamentsmehrheit, haben in einer außerordentlich schwierigen Frage einen sehr schwierigen Disput durchgestanden und mit dem gestrigen Treffen gut zu Ende geführt. ({6}) Während Frau Merkel angestrengt am Thema vorbeigeredet hat - wir wollten heute über den Irak reden ({7}) und eine Art außenpolitischer Bewerbungsrede für die Kanzlerkandidatur abgeliefert hat, die Herr Stoiber vielleicht mit „Drei minus“ bewerten würde, ({8}) möchte ich nach vorne schauen und an das anknüpfen, was der Bundeskanzler gerade vorgeschlagen hat. Im Irak entscheidet sich eine ganz wesentliche Frage, und zwar in den nächsten Monaten. Es hängt auch mit von uns ab, ob in dieser Frage in der richtigen Richtung entschieden wird. Im Irak entscheidet sich die Frage: Mündet das Ende der Despotie in Demokratie oder Staatszerfall? Das ist die wichtigste Frage, vor der wir im Moment stehen, und sie ist vielleicht auch für andere Regionalkonflikte beispielgebend. Daraus ergibt sich unsere Verantwortung. Unsere Verantwortung ergibt sich aus der Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Nach dem 11. September - das möchte ich hier noch einmal betonen - war für uns die Solidarität mit den Vereinigten Staaten absolut selbstverständlich. Davon machen wir gar keine Abstriche. Aber die Dispute darüber, welches die richtigen Methoden sind, waren notwendig und in der einen oder anderen Dimension werden sie auch noch anhalten. Je nachdem, wie wir diese Diskussion führen und zu welchen Antworten wir kommen, wird sich die Frage, die ich gerade formuliert habe: „Mündet das Ende der Despotie in Demokratie oder Staatszerfall?“, entscheiden. Wir haben mit den Amerikanern, mit der Europäischen Union und mit der internationalen Staatengemeinschaft das gemeinsame Interesse, dass es im Irak zu einem selbst tragenden demokratischen Friedensprozess kommt. ({9}) Wenn wir über unseren Beitrag reden, wenn wir darüber reden, welche Hilfe wir leisten können, dann werden wir uns auch Gedanken machen müssen, analytisch zumindest, welcher Schaden durch den Irakkrieg entstanden ist. Beginnen wir bei der Frage: Ist der Krieg eigentlich zu Ende? Präsident Bush hat nach dem Ende Saddam Husseins gesagt: Der Krieg ist vorbei. - Wir sehen aber die Gewalt im Irak. Muss man daraus nicht andere Schlussfolgerungen ziehen? Muss man nicht sagen: „Der Krieg als symmetrischer Staatenkrieg ist vorbei, aber er geht als Guerillakrieg niederiger Intensität weiter, nun noch vermischt mit terroristischen Aktionen, die von außen in das Land hineingetragen werden“? Man kann doch nicht davon reden, dass dort eine Nachkriegszeit existiert, in der wir mit den bekannten und erprobten Mitteln der Entwicklungspolitik ohne weiteres Wiederaufbauhilfe leisten könnten. Wir haben zudem gesehen, dass der Terror, der vor dem Sturz Saddam Husseins im Irak nicht existierte, in das Land eingedrungen ist. Vor dem Krieg gab es keine Verbindung von arabischem Nationalismus, für den Saddam Hussein stand, und islamistischem Terrorismus, für den Bin Laden steht. Nun aber beobachten wir, dass genau das eintritt, vor dem wir immer gewarnt haben, nämlich dass sich diese eigentlich antagonistischen Strömungen der arabisch-islamischen Welt verbünden, und zwar nicht nur gegen die Vereinigten Staaten, sondern gegen den Westen insgesamt und sogar gegen die Vereinten Nationen, der einzigen Kraft, die in der Lage ist, den Widerspruch zwischen Besetzten und Besatzern oder Befreiten und Befreiern aufzuheben, und das ist die tiefe Tragik. ({10}) Für uns ergibt sich daraus die Notwendigkeit, weiterhin intensiv darüber nachzudenken, wie der internationale Terrorismus bekämpft werden kann und muss. Das ist nach wie vor die sicherheitspolitische Aufgabe Numero eins. Der Bundeskanzler hat angedeutet: Wir tun dies auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs. Militär mag dabei eine Rolle spielen, aber die Erfahrungen haben gezeigt, dass dessen Möglichkeiten begrenzt sind. Wir brauchen alle die Mittel polizeilicher und ziviler Strafverfolgung und Konfliktprävention, die insbesondere die deutsche Außenpolitik in den letzten vier Jahren entwickelt hat. Dafür treten wir in den internationalen Diskussionen ein. ({11}) Dazu gehört auch der weitere Kampf gegen Massenvernichtungswaffen, angeblich einer der Gründe, den Irak anzugreifen. Heute wissen wir: Der Irak hat keine Massenvernichtungswaffen, zumindest kann man keine finden. In diesem Zusammenhang beobachten wir eine negative Dialektik: Der Nachbarstaat Iran - das macht uns sehr große Sorge - arbeitet an einem Atomprogramm, was eigentlich nur den Sinn bzw. den Unsinn haben kann, in den Besitz von Atomwaffen zu kommen. Nun frage ich mich aber: Hatte der Irakkrieg bezogen auf iranische Atomprogramme einen präventiven Effekt? Kann Iran für eine Begrenzung seines Atomprogramms im Irakkrieg einen Anreiz sehen? Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Wir sehen auch am Beispiel Nordkorea, dass Staaten, die eine Intervention fürchten, dazu neigen, sich ein atomares Abschreckungs- und Bedrohungspotenzial zuzulegen. Auch aus diesem Grunde war der Irakkrieg falsch. Auch aus diesem Grunde war es falsch, dass aus der Mitte der Union eine Debatte über die Notwendigkeit von Präventivschlägen angezettelt wurde. Ich sage Ihnen hier - der Irakkrieg ist ein Beweis dafür -: Präventivschläge machen die Welt unsicherer. ({12}) Wir sind uns in dieser Frage völlig mit Kofi Annan einig, der das gestern in seiner Rede mit aller Deutlichkeit erklärt hat. Nehmen wir einen weiteren Problempunkt, den Nahostkonflikt. Mit dem Angriff auf den Irak war die Vorstellung verbunden, man könne in einem Zuge den gesamten Nahen Osten neu ordnen und damit auch den Kernkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern lösen. Wie sieht die Situation heute aus? Die Roadmap, eine große Errungenschaft der internationalen Politik, wird im Moment von den Akteuren nicht ernst genommen. Auf beiden Seiten setzen sich die Scharfmacher und Hardliner durch, die die fruchtbaren Ansätze für eine Verständigung wieder zunichte machen wollen. Da soll mir einer sagen, das hätte nichts mit dem Irakkrieg zu tun. Das heißt jetzt aber umgekehrt nicht, dass wir die Roadmap fallen lassen dürfen. Die Roadmap ist für uns nach wie vor der einzig denkbare Orientierungs- und Fixpunkt in diesem Prozess. ({13}) Wenn die amerikanische Administration im Moment durch das Desaster im Irak relativ geschwächt ist, dann ist es noch mehr als bisher Aufgabe der Europäischen Union, auf die Weitergeltung der Roadmap zu drängen. Dies ist nicht nur Aufgabe der staatlichen Außenpolitik, es ist auch Aufgabe des Parlaments. Deshalb fordere ich uns alle und die Gesellschaft insgesamt auf, mehr Berührungspunkte zum israelischen und zum palästinensischen Volk zu suchen und diesen beiden Völkern im intensiven Dialog dabei zu helfen, dass sie endlich aus ihrer Sackgasse herauskommen. ({14}) Meine Damen und Herren, die Terroranschläge gegen die UNO-Einrichtungen im Irak haben uns eines gezeigt: Auf der einen Seite ist die UNO die einzige legitime Kraft, die den Wiederaufbau des Irak koordinieren darf und auch für Rückhalt hierfür in der internationalen Staatengemeinschaft sorgen kann. Auf der anderen Seite ist die UNO verwundbar. Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen. Eine Konsequenz jedoch liegt auf der Hand: Eine Politik, die die UNO stärken und sie in die Lage versetzen will, diese führende Funktion zu übernehmen, ist keine Politik, die gegen die USA gerichtet ist. Die UNO kann nur dann stark sein, wenn die Vereinigten Staaten mitmachen. Deshalb steckt in unserer Forderung nach einer Stärkung der UNO kein Alternativkonzept zu einer gewissen Großmachtpolitik der Vereinigten Staaten. Wir finden vielmehr, dass die Großbzw. Supermacht sich mit den Vereinten Nationen versöhnen muss, weil nur so die UNO stark genug wird und nur so die Amerikaner ihren moralischen Führungsanspruch, den sie in den vergangenen Jahren aufgebaut und danach teilweise selber wieder in Zweifel gezogen haben, wiedergewinnen. ({15}) Aus eben genau dem Sicherheitsdilemma, dass wir zwar die UNO als die organisierende Instanz einsetzen wollen, diese aber von den Konfliktparteien im Irak angefeindet wird, ergibt sich, dass wir einige andere Schritte unternehmen müssen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen und hat dabei unsere volle Unterstützung. Wir müssen im Dialog mit den Vereinigten Staaten und im Rahmen der UNO darauf hinarbeiten, dass es zur Irakisierung des Konfliktes kommt, zu einer schnell einsetzenden und einer Schritt für Schritt, aber systematisch betriebenen Souveränitätsabtretung von der Besatzungsmacht an die irakischen Behörden. Diese Politik scheint mir entscheidend zu sein. Wir wollen sie durch die Angebote, die der Bundeskanzler gestern gemacht hat, unterstützen. ({16}) Meine Damen und Herren, wir haben uns mit diesem Aspekt der amerikanischen Außenpolitik in den letzten Monaten sehr kritisch befasst. Wir sehen auch keinen Anlass, von dieser Kritik etwas zurückzunehmen. Aber genauso entschieden sage ich: Wir sind absolut davon überzeugt, dass die transatlantische Partnerschaft und die deutsch-amerikanische Freundschaft Konstanten der deutschen Außenpolitik sind und bleiben müssen. ({17}) Europa ist keine Gegenmacht zu den USA, sondern ein Pfeiler des transatlantischen Verhältnisses. ({18}) Vielleicht müssen wir dieses Verhältnis - hören Sie einmal zu, Herr Kauder - aber neu definieren. Bisher hat sich das Verhältnis aus den Erinnerungen der Kriegsund Nachkriegsgeneration gespeist. Ich gehöre zwar nicht mehr zur Kriegsgeneration, bin aber - das sind wir alle und das wird auch so bleiben - den Amerikanern dankbar dafür, dass sie, dass die Alliierten uns vom Hitler-Faschismus befreit haben. ({19}) Wir sind den Amerikanern dankbar, dass sie Westberlin gesichert haben. ({20}) Wir sind den Amerikanern - bei allen Disputen, die wir über die Politik der atomaren Abschreckung hatten dankbar, dass sie sich zur Zeit des Kalten Krieges schützend auf unsere Seite gestellt haben. ({21}) Wir sind den Amerikanern dankbar für das, was sie für den deutschen Einigungsprozess getan haben. ({22}) Aber ich sage eines: Dialog und Partnerschaft dürfen nicht bedeuten, dass es aus Dankbarkeit zur Unterwürfigkeit kommt. Dialog heißt immer: Partnerschaft auf Augenhöhe. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb schlage ich vor - das ist mein letzter Satz, Herr Präsident -: Wir sollten einmal offensiv über die Wertegemeinschaft der Europäer und der Amerikaner, die vielfach beschworen wird, aber immer dann, wenn es zu Disputen kommt, auch zu gewissen Enttäuschungen führt, diskutieren. Wir sollten mit den Amerikanern einen grundsätzlichen Dialog darüber beginnen, was westliche Werte sind, was unter Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit zu verstehen ist,

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, das war wohl eher der viertletzte Satz!

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- und zwar bezogen auf unsere Interessen und auf die globale Politik. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Intonierung der Debatte von heute Morgen aufgreifen. Ich finde nämlich, dass das Ziel dieser Debatte auch sein könnte, dass wir in diesem Hause in der Außenpolitik wieder zu dem Konsens zurückfinden, der viele Jahre, ja Jahrzehnte prägend für den Deutschen Bundestag gewesen ist. ({0}) Ich habe den Bundeskanzler und übrigens auch Frau Kollegin Merkel, die ihm geantwortet hat, heute sowohl von der Intonierung als auch vom Inhalt her so verstanden. Wenn man sich die Intonierung und auch den Inhalt bei beiden vor Augen führt, so kann man eines feststellen: Es führt nicht weiter, wenn wir diese Debatte über den Irak und den Krieg im Irak permanent mit einer Schuldfrage verbinden. Das löst kein einziges Problem. ({1}) Es geht auch nicht darum - insofern teile ich, auch von der Schärfe her, nicht das, was der Kollege Volmer hier ausgeführt hat -, dass wir uns gegenseitig vorhalten, warum diese Sprachlosigkeit entstanden ist. Aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung wissen wir: Erstens ist die Sprachlosigkeit, die zwischen Präsident Bush und Kanzler Schröder entstanden ist, nicht gut. Zweitens tragen - so ist es in der Regel - beide Verantwortung dafür. Drittens kann man den gestrigen Versuch, diese Sprachlosigkeit zu beenden, nur vorbehaltlos unterstützen. Mir ist eine verkrampfte Begegnung zwischen den beiden lieber als keine Begegnung. ({2}) Selbst wenn es sich nur um eine symbolische Begegnung gehandelt hätte, wäre sie überfällig und richtig gewesen. Deswegen gibt es aus Sicht der Freien Demokraten an dieser Begegnung zwischen Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder nichts zu bemängeln, nichts zu kritisieren. Es ist gut, dass diese Sprachlosigkeit überwunden wird. Ich fürchte aber, dass das allenfalls ein Anfang gewesen ist. Den Bemühungen um verbesserte transatlantische Beziehungen müssen jetzt konkrete Taten folgen. ({3}) Damit will ich einen Vorgang ansprechen, der viele Kolleginnen und Kollegen hier im Hause über die Parteigrenzen hinweg in dieser Woche erreicht hat. Wenn wir als deutsche Politiker doch der Überzeugung sind, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder normalisiert werden muss, dass die Sprachlosigkeit überwunden werden muss, dann ist es an uns, diesen Worten Taten folgen zu lassen. Wenn jetzt darüber gestritten wird, dass der von Sozialdemokraten und PDS geführte Senat von Berlin die Mittel für das Aspen-Institut streichen will, dann verlangt das unsere höchste Aufmerksamkeit. ({4}) Was heißt das denn? In derselben Stunde, wo sich der Bundeskanzler richtigerweise bemüht, das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder zu verbessern, geht es hier um die Schließung des Aspen-Instituts. Das ist mehr als eine intellektuelle Veranstaltung. Diese Schließung hätte einen verheerenden Symbolwert, auch und gerade in der Wirkung auf Washington und die Vereinigten Staaten von Amerika. ({5}) Frau Staatsministerin - sie ist jetzt nicht da -, Herr Innenminister Schily, dies ist eine herzliche Bitte, ein Appell an Sie, sich dieser Frage anzunehmen. Wir können die Begründung nicht akzeptieren, das gehe Berlin nichts an und sei Aufgabe des Bundes. So argumentiert Berlin. Denken wir diese Art der Argumentation einmal zurück! Nach dieser Logik hätten die Vereinigten Staaten von Amerika niemals Verantwortung für Berlin wahrnehmen müssen. Was hier passiert, ist unhistorisch. Ich will diese Debatte nutzen, um uns alle auf diesen Punkt aufmerksam zu machen. ({6}) Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, an dem wir die Politik ändern müssen. Es hat ja nicht nur eine Begegnung zwischen dem Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten gegeben, sondern unmittelbar danach auch eine Begegnung zwischen den Präsidenten Chirac und Putin und Bundeskanzler Schröder. ({7}) Ich glaube, dass das ein Problem ist. Die Regierung betont in ihrer Außenpolitik immer wieder, wir dürften keine Achsenbildung betreiben. Dann dürfen Sie aber auch nicht zulassen, dass faktisch genau diese Politik der Achsenbildung betrieben wird. ({8}) - Das ist kein Missverständnis. Das ist ein sehr ernster Vorgang. Ein deutscher Bundeskanzler, der mit dem amerikanischen Präsidenten zusammentrifft, hätte zunächst die anderen Europäer informieren müssen, bevor andere Gespräche anstehen. Das ist der entscheidende Kritikpunkt. Die deutsche Außenpolitik muss in die Einbettung in die europäische Außenpolitik zurückfinden. Sonderwege - egal wo sie betrieben werden, in Washington oder in Berlin - sind ein Irrtum in dieser Debatte. ({9}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Achsenbildung ist deswegen verheerend, weil bei der europäischen Einigung zunehmend das Projekt wiederbelebt wird, eine Gegenmacht zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu bilden. In den wenigen Minuten, die wir Freidemokraten in dieser Debatte haben, möchte ich nur einen ernsten Punkt bringen, der uns noch lange beschäftigen wird: Wer glaubt, er könne Europa einigen, indem er das transatlantische Band durchschneidet, indem er Europa quasi zur Gegenmacht zu den Amerikanern aufbaut, wird nur erleben, dass er Europa spaltet. ({10}) Das ist die eigentliche perspektivische Diskussion, die wir führen müssen. Das gestrige Gespräch war ein Beginn. Es ist ein Drama, dass es überhaupt zu dieser Sprachlosigkeit kommen konnte. Irgendwann wird man sich fragen, wie die Staats- und Regierungschefs von zwei befreundeten Demokratien in eine solche Situation der Sprachlosigkeit eigentlich kommen konnten. Man wird mit Kopfschütteln auf diese Zeit zurückblicken. Das setzt natürlich voraus, dass wir von einer reaktiven Außenpolitik wegkommen und zu einer perspektivischen Außenpolitik zurückfinden müssen. Damit bin ich beim letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Die Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen war eine sehr wichtige Grundsatzrede. Sie war zugleich eine große Chance. Aber ich habe den Eindruck, dass wir an wesentlichen Fragen, mit denen sich die deutsche Außenpolitik beschäftigen sollte, zunehmend vorbeidiskutieren. Ich will nur ein Beispiel nennen. Der französische Staatspräsident und der amerikanische Präsident haben den Weltgesundheitsfonds und die Bekämpfung von Aids zu zentralen Anliegen erklärt. Es ist ein wirklich dramatisches Versäumnis, dass das in der Rede des Bundeskanzlers vor den Vereinten Nationen keine Erwähnung gefunden hat; denn das sind die Fragen, die uns in der Weltpolitik in ganz kurzer Zeit intensiv beschäftigen werden. ({11}) Darum geht es in der Außenpolitik. Es muss Schluss sein mit diesen Debatten, wer woran Schuld war. Die klammheimliche Freude auf der einen Seite und das Rechthaben auf der anderen Seite des Hauses bringen niemanden weiter. Die deutsche Außenpolitik muss wieder eine Perspektive haben. Das bedeutet, dass man sich dieser Zukunftsfragen annimmt. Themen wie die Bekämpfung von Aids und die demographische Entwicklung der Weltbevölkerung müssen auch in Berlin Chefsache werden, so wie sie in Paris und Washington Chefsache geworden sind. ({12}) Das verstehen wir unter perspektivischer Außenpolitik. ({13}) Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. ({0})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Herr Westerwelle mit seiner Rede anfing, dachte ich, dass die sachliche Diskussion im Vordergrund stehen würde. Am Schluss gab es aber doch nur Polemik. ({0}) Wer der Bundesregierung vorwirft, dass sie sich auf europäischer Ebene nicht engagiert genug abstimmt und dass sie untätig ist, der hat übersehen, dass in der Zwischenzeit im Rahmen der Mitarbeit im Konvent ein großer und engagierter Beitrag für die europäische Einigung geleistet wurde. ({1}) Für uns war immer klar - und ist es auch jetzt -, dass die Vereinten Nationen eine wichtige und aktive Rolle beim Wiederaufbau des Irak haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Ich möchte zunächst mit meiner Rede fortfahren und nicht gleich zu Anfang eine Zwischenfrage beantworten. ({0}) Wie gesagt: Die Vereinten Nationen müssen beim Wiederaufbau des Irak eine zentrale Rolle spielen; denn nur sie können auf Dauer die Legitimität schaffen, die nötig ist, damit der Aufbau im Irak in der Verantwortung der irakischen Bevölkerung gelingen kann. Die UN müssen vor allen Dingen eine unabhängige Rolle spielen, wenn der politische, wirtschaftliche und soziale Aufbauprozess gelingen soll. Um den friedlichen Aufbau zu gewährleisten, ist eine breite Unterstützung von außen nötig. Dies setzt aber voraus, dass die Sicherheitslage entsprechend verbessert wird. Nach wie vor ist Irak ein Land mit der höchsten Gefährdungsstufe. Wer in Bagdad und in der gesamten Region praktische Hilfe leisten will, der wird jetzt vom Flughafen mit einem Hubschrauber in den geschützten Compound geflogen. Man kann also mit den Menschen, denen man eigentlich helfen will, nicht vor Ort sprechen. Das ist die Realität; die wollen wir ändern. Aber ich bitte, mit zu berücksichtigen: Um vor Ort wirklich in großem Umfang Hilfe leisten zu können, bedarf es einer Verbesserung der Sicherheitslage. Diese ist eng mit der Übergabe der Verantwortung an eine legitimierte irakische Regierung verbunden. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an dieser Stelle - ich denke, ich tue das in Ihrer aller Namen den Tod der irakischen Politikerin al-Haschimi betrauern, die heute ihren Verletzungen erlegen ist. Sie war Mitglied des Regierungsrates. Wir trauern mit den Menschen im Irak und mit ihren Angehörigen. Ich möchte an dieser Stelle auch all derjenigen gedenken, die im Irak Opfer geworden sind und Opfer werden. Dies sind sowohl Zivilisten als auch Soldaten. Ich möchte Sergio de Mellos gedenken, der Opfer eines widerwärtigen Attentats geworden ist und dem wir dafür danken, dass er an vielen Orten in der Welt für Frieden und Demokratie geworben hat. Aus diesem Grunde war er auch im Irak. Wir haben bereits vor dem Krieg im Irak Hilfe geleistet: in den kurdischen Gebieten und auch im Rahmen des Welternährungsprogramms. Wir sind im Rahmen der humanitären Hilfe in Höhe von 50 Millionen Euro mit all unseren Möglichkeiten für dieses Land tätig. Wir beteiligen uns daran, die Ernährung sowie das Funktionieren von Wasserwerken und die Abwasserentsorgung sicherzustellen. Wir unterstützen den UNHCR, wenn es darum geht, dass Menschen, die in den Irak zurückkehren, Unterstützung erhalten, und wir unterstützen die vielen Nichtregierungsorganisationen, die im Irak im Rahmen der Möglichkeiten, die sie selber sehen, tätig sind. Zudem sind wir an der europäischen Hilfe von insgesamt 100 Millionen Euro mit einem Anteil von 25 Millionen Euro beteiligt. Die Weltbank hat bereits im April dieses Jahres mit unserer Stimme den Auftrag gegeben - das vergessen manche -, eine entsprechende Untersuchung über die Aufbaumöglichkeiten im Irak in Gang zu setzen. Zu 14 Bereichen, die eigentlich alle Lebensbereiche umfassen - leider nicht den Ölsektor; den wollte die amerikanische Seite nicht mit einbezogen wissen -, wird eine Bewertung vorgenommen und Anfang Oktober ein Bericht vorgelegt, in dem Hilfs- und Aufbaumöglichkeiten deutlich werden sollen. Deshalb ist es für mich völlig klar, dass auch wir - die Bundesrepublik ist der drittgrößte Anteilseigner der Weltbank - an der Konferenz am 23. und 24. Oktober dieses Jahres in Madrid teilnehmen werden, um Bewertungen vorzunehmen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Um der Menschen willen - auch das will ich ansprechen - wollten wir den Krieg im Irak verhindern. Um der Menschen willen leisten wir humanitäre Hilfe. Um der Menschen willen bemühen wir uns darum, dass nach dem „gewonnenen Krieg“ endlich auch der Frieden gewonnen wird ({2}) und dass die Menschen eine gute Zukunft haben. Es ist auch klar: Je schmaler das UN-Mandat ist, umso weniger werden sich die Geberländer - auch das ist am Rande der Weltbanktagung vor wenigen Tagen deutlich geworden - beteiligen wollen. Ich möchte zudem feststellen: Eine Hilfe der internationalen Gemeinschaft ist notwendig, weil es ansonsten nicht vorangeht und es zu einem Staatszerfall käme. Aber es ist auch klar, dass die Hilfe, die dort geleistet wird, nicht zulasten anderer Regionen gehen darf. ({3}) Sie muss zusätzlich geleistet werden. Denn Hilfe ist auch in Afghanistan, in Afrika und in anderen Regionen nötig. Generalsekretär Kofi Annan hat vor wenigen Tagen bei der Eröffnung der UN-Generalversammlung vor der Gefahr gewarnt, dass sich der „Einsatz einseitiger Gewalt ohne Rechtsgrundlage ausbreiten“ könne. Ein solches Vorgehen, so Annan, könne das Gesetz des Dschungels über die Welt bringen. Ich stimme ihm zu, dass wir alles daransetzen müssen, um die Autorität und das Ansehen der UN zu stärken. Sie sind das kostbarste Instrument, das die Weltgemeinschaft hat, um Frieden zu stiften und um Globalisierung gerecht gestalten zu können. ({4}) Gerade nach der gescheiterten Cancun-Konferenz haben alle Konferenzen, sowohl die Weltbank- und IWFJahrestagung vor wenigen Tagen in Dubai als auch die UN-Generalversammlung, die Entschlossenheit betont, die multilateralen Organisationen zu stärken. Der Unilateralismus ist gescheitert. Es ist gut, dass auch in den betreffenden Ländern selbst die Diskussionen über die Ursachen dieses Scheiterns geführt werden. Es geht darum, die multilateralen Organisationen zu reformieren, sie zu stärken, damit die Globalisierung gerecht gestaltet werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich eine Zahl vor Augen halten: Im Jahre 2015 - das hat uns Jim Wolfensohn vor wenigen Tagen in Erinnerung gerufen - wird die Hälfte der Weltbevölkerung unter 25 Jahren sein. 3 Milliarden Menschen auf der Welt werden unter 25 Jahren sein. Wir sind es ihnen, ihrer Zukunft und ihren Hoffnungen schuldig, dass wir alles tun, um Kriege zu verhindern und dazu beizutragen, dass Armut in der Welt bekämpft und dem Terrorismus entschlossen entgegengetreten wird. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Frau Ministerin, ich habe Sie am Anfang Ihrer Rede etwas fragen wollen, weil Sie mich im Hinblick auf meine Kritik an der Bundesregierung und insbesondere darauf direkt angesprochen haben, dass ich den Eindruck habe, dass das Thema Bekämpfung von Aids anders als in zwei anderen Ländern nicht Chefsache ist. Da Sie mir die Möglichkeit der Zwischenfrage nicht gegeben haben, will ich eine kurze Bemerkung dazu machen. Am Tag, bevor der Bundeskanzler bei den Vereinten Nationen in New York gesprochen hat, hat es dort eine große globale Debatte über die Bekämpfung von Aids gegeben. Das ist in nahezu allen Regierungen der Welt ein Thema, das dort nicht nur unter humanistischen, sondern durchaus auch unter massiven ökonomischen und politisch-geostrategischen Gesichtspunkten diskutiert wird. Der Bundeskanzler - anders als der amerikanische Präsident und anders als der französische Präsident verliert kein einziges Wort darüber. Das kritisiere ich. Ich glaube auch, dass das eine berechtigte Kritik ist. ({0}) - Sie handeln eben nicht, Herr Kollege. ({1}) Der amerikanische Präsident hat nicht aus einem ausschließlichen Akt der humanistischen Nächstenliebe heraus, sondern weil er seine eigenen Interessen politisch definiert hat, mit das Programm ausgerufen: 3 Milliarden Dollar für diesen Fonds. Die Voraussetzung ist, dass die Vereinigten Staaten von Amerika 1 Milliarde Dollar bringen und die Europäer ebenfalls 1 Milliarde Dollar bringen. Der französische Staatspräsident hat sofort geantwortet und spontan seine Leistungen zugesagt. In Deutschland hinken wir leider immer noch unseren eigenen - wie ich finde - vernünftigen Zielen deutlich hinterher. Es ist beschämend für ein reiches Land wie Deutschland, dass das Zustandekommen eines solchen weltweiten Fonds zur Bekämpfung von Aids bei uns in Wahrheit mehr Bremser als Förderer hat. ({2}) Es ist das Recht der Opposition, das hier anzusprechen. Sie haben die Demonstrationen gegen die Regierung und gegen uns Politiker vor dem Brandenburger Tor erlebt. Wir haben am Dienstag direkt nach dieser Debatte Professor Feachem in der Fraktion der Freien Demokraten zu Gast gehabt. Für uns als Freie Demokraten ist es ernüchternd und peinlich gewesen, dass der Leiter des Fonds Deutschland bei den Bremsern einsortiert, wenn es um die Bildung dieses Fonds geht. Wir müssten vielmehr einer der Motoren sein. Es handelt sich bei Aids nämlich um eine der großen Menschheitsbedrohungen. Wenn wir dieses Thema immer nur an die Seite drängen, weil wir uns in der Tagespolitik mit allem Möglichen, auch mit innerparteilichem Streit, aufhalten und diese Dimension nicht mehr begreifen, dann machen wir meines Erachtens einen ganz großen Fehler. Da wir hier über Außenpolitik reden, möchte ich festhalten, dass dieses Thema in der Rede des Bundeskanzlers in New York gefehlt hat. Das kritisieren wir ausdrücklich. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung Frau Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Westerwelle, Sie haben das Thema Aids-Bekämpfung angesprochen. Ich will auf folgenden Umstand hinweisen: Als wir die Regierung übernommen haben, haben wir im Haushalt, den uns die vorige Regierung unter CDU/CSU und FDP hinterlassen hat, Mittel zur Aids-Bekämpfung in Höhe von 19 Millionen DM vorgefunden. ({0}) - Ja, genau! - Diese Bundesregierung hat die Mittel zur Aids-Bekämpfung insgesamt auf heute durchschnittlich 300 Millionen Euro erhöht. Das zeigt: Wir reden über solche Fragen nicht nur, sondern handeln. ({1}) Wir haben nicht auf einen globalen Fonds gewartet, den wir im Übrigen ausdrücklich unterstützen - das habe ich gestern Herrn Feachem deutlich gemacht -, sondern waren schon vorher tätig und haben 1999 die Mittel aufgestockt. ({2}) Ich habe nicht gewartet, bis die internationale Gemeinschaft einen Fonds eingerichtet hat, sondern habe dafür gesorgt, dass in allen Instrumenten der Entwicklungszuammenarbeit, in jedem Projekt die Bekämpfung von Aids und die Prävention berücksichtigt wird; denn ich betrachte es - wie Sie - als ein Drama, als eine menschliche Katastrophe, dass Millionen von Menschen daran sterben können. Für viele Länder ist es darüber hinaus auch eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe. Lassen Sie uns darüber also bitte nicht in einer solchen Debatte streiten. ({3}) Nehmen Sie vielmehr zur Kenntnis, dass wir engagiert sind und dass wir etwas tun. Wir reden darüber vielleicht nicht so viel wie der eine oder andere, aber wir machen etwas. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat gestern mit seiner Rede vor der UNO viel Aufmerksamkeit erlangen wollen und hat sie auch bekommen. Es gibt Passagen, denen stimmen auch wir, die PDS im Bundestag, zu. Oder soll ich sagen „sogar wir“? Sie haben gemahnt - ich zitiere -: Wir werden scheitern, wenn wir unser Denken und Handeln auf militärische und polizeiliche Aspekte verengen. Wir müssen an den Wurzeln des Terrorismus und an den Ursachen von Unsicherheit ansetzen. Sie haben erinnert - ich zitiere noch immer -: Um Fanatismus zu bekämpfen, müssen wir für soziale und materielle, aber auch für kulturelle Sicherheit sorgen. Weiter haben Sie gesagt - auch das ist noch Zitat -: Um die Menschen für den Weg der Freiheit, des Friedens und der gesellschaftlichen Offenheit zu gewinnen, müssen wir ihnen helfen, in gesicherten Strukturen mehr Teilhabe und mehr Wohlstand zu erreichen. Das finde ich richtig, auch wenn es ein wenig dröge klingt. Wir gehen sogar noch weiter. Sie haben nach fast jedem dieser klugen Sätze leider ein dummes Aber gesetzt, um die große Bedeutung der NATO zu begründen. Hier wäre weniger wirklich mehr gewesen. ({0}) Weniger Aber und weniger NATO, das hätte sogar unseren Beifall gefunden. Nun hat der Bundeskanzler natürlich eine diplomatische Rede gehalten, also eine Rede, die diese, aber auch eine andere Deutung zulässt. Deshalb habe ich eine Bitte an Sie, Herr Bundeskanzler: Widersprechen Sie mir deutlich, wenn ich Ihre Rede falsch interpretiere. Sie haben gewarnt - ich zitiere wieder -: Um Ruchlosigkeit zu bekämpfen, müssen wir der Rechtlosigkeit Einhalt gebieten. Ich gehe davon aus, dass Sie damit auch und ausdrücklich die USA gemeint haben; denn die USA haben ruchund rechtlos einen Krieg gegen den Irak begonnen, was bekanntlich weltweit zu Protesten geführt hat. ({1}) Herr Bundeskanzler, Sie haben dem internationalen Recht und einem internationalen Strafgerichtshof das Wort geredet. Auch das interpretiere ich als eine klare Kritik an den USA; denn es sind vor allem die USA, die sich internationalem Recht und einem Strafgerichtshof verweigern. Daneben haben Sie für überfällige Reformen der Vereinten Nationen plädiert. Auch das habe ich als deutliche Distanz zu den USA vernommen; denn es waren die USA, die die UNO im Zusammenhang mit dem Irakkrieg für nichtig und überflüssig erklärt haben. Wie gesagt: Sollte ich den Bundeskanzler falsch verstanden haben, so bitte ich ihn ausdrücklich, das klarzustellen - auch gegenüber den Medien. ({2}) Sie haben die Rede von UNO-Generalsekretär Kofi Annan gewürdigt. Auch ich fand sie bemerkenswert, zumal er auf den großen historischen Rückschritt verwies, den die USA mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak beschleunigt haben. Zur Erinnerung: Am 26. Juni 1945 wurde die Charta der Vereinten Nationen beschlossen. Sie galt als Lehre aus dem verheerenden Zweiten Weltkrieg sowie als Maßstab für eine künftige Weltordnung ohne Kriege und durch sie wurde ein zivilisatorisches Projekt beschrieben. Diese Grundsätze wurden inzwischen - vor allem durch die USA, aber nicht nur durch sie - vollends aufgekündigt und torpediert. Das Recht des Stärkeren herrscht über die Stärke des Rechts. Das ist die Position der USA, die sie auch vor der UNO nicht revidiert haben. Deshalb schwant mir nichts Gutes, wenn der Herr Bundeskanzler sagt, die Konflikte mit den USA rund um den Irakkrieg seien beigelegt und man wolle nun gemeinsam nach vorne schauen. Wenn Sie richtig hinschauen, wo die USA vorn wähnen, dann werden Sie erkennen: Es ist ganz weit hinten und auf keinen Fall da, wo Willy Brandt, auf den sich der Bundeskanzler in seiner Rede vor der UNO ja ausdrücklich berufen hat, die Zukunft sah. Der Irakkrieg war dafür nur ein schlimmes Beispiel. Deshalb verbietet sich alles, was diese Aggression im Nachhinein legitimieren könnte. Das sage ich allerdings auch deutlich an die Adresse der CDU/CSU, die versucht, Deutschland im Rahmen der NATO in die USStrategie einzubinden. Das sage ich auch angesichts der rot-grünen Pläne, die Bundeswehreinsätze in Afghanistan auszuweiten, um die USA militärisch zu entlasten und dafür ein Bravo zu empfangen. Das sage ich schließlich auch mit Blick auf die EU; denn nach dem vorliegenden Verfassungsentwurf sollen die Mitgliedstaaten auf eine Außen- und Sicherheitspolitik verpflichtet werden, die auf militärische Stärke baut und Präventivkriege ausdrücklich nicht ausschließt. Das alles lehnt die PDS ab. Ich hätte heute gerne Gleiches von Ihnen gehört - grundsätzlich und fürderhin. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Christian Ruck von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz aller freundlichen Deutungsversuche kann der Besuch des Kanzlers in New York nicht darüber hinwegtäuschen, dass die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten von heute und die möglichen Konflikte von morgen zwischen der Bundesregierung und der amerikanischen Regierung eben nicht ausgeräumt sind. Das merkt man auch deutlich an der UNO-Rede des Kanzlers, in der er das ganz klar ausgesprochen hat. Aber eine Politik der Bundesregierung für den Wiederaufbau im Irak könnte einen konkreten Schritt zur Verbesserung der transatlantischen Beziehungen bedeuten. Diese Chance sollten wir alle nutzen; denn das ist in unser aller Interesse. ({0}) Wir alle sind uns darüber einig, dass die Lage im Irak nicht nur wegen der Kriminalität und der angespannten Versorgungslage in der Tat prekär ist, sondern vor allem auch wegen der bisher noch nicht erkennbaren Perspektiven für einen stabilen und demokratischen Irak. Damit ist auch das Ende der wachsenden Spannungen im Land noch nicht absehbar. Die Besatzungsmächte haben die Herausforderungen im Nachkriegsirak unterschätzt. Sie müssen nun erkennen, dass es viel schwieriger ist, den Frieden zu gewinnen, als im Krieg zu siegen. Aber hierfür Gleichgültigkeit oder gar Schadenfreude zu empfinden wäre wirklich dumm. Wie schon angesprochen, sind der Irak und die gesamte mittelöstliche Region auch für uns Deutsche von strategischer Bedeutung in ökonomischer Hinsicht, aber vor allem in sicherheitspolitischer Hinsicht. Deswegen haben wir ein herausragendes Interesse daran, dass sich der Irak zu einem stabilen Staat mit rechtsstaatlichen, pluralistischen Strukturen entwickelt, von dem keine Bedrohung mehr ausgeht. ({1}) Aber je mehr Zeit verrinnt ohne eine nachhaltige Stabilisierung, desto schlimmer wird die dortige Situation und desto größer wird auch das Risiko für uns. Wir haben bereits viel Zeit verloren. Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, hier haben wir definitiv große Meinungsunterschiede, auch was Ihre Politik anbelangt. ({2}) Sie haben vor Monaten noch stolz gesagt: Wer bombt, muss auch zahlen. - Diese Position vertreten Sie im Grunde genommen bis heute. Diese Meinung war und ist für uns verantwortungslos und kurzsichtig. ({3}) Sie ist verantwortungslos, weil sie die Menschen im Irak, die an den Kriegsfolgen leiden, die aber auch fast 20 Jahren lang unter dem menschenverachtenden Regime von Saddam Hussein genug gelitten haben, im Stich lässt. ({4}) Es ist kurzsichtig, weil es unsere eigenen Interessen ignoriert. Denn wer sich nicht einbringt, hat keinen Einfluss und kann die Interessen seines Landes nicht vertreten. Das gilt auch für die Stabilisierung des Irak und des Mittleren Ostens. Deswegen wäre eine politische Kehrtwende wichtig, die halb angekündigt ist, bisher aber nur in Sonntagsreden. ({5}) Die Wahrheit ist doch, dass bisher im Haushalt des BMZ über die humanitären Zwecken dienenden Geldmittel hinaus kein einziger müder Euro für die eigentliche Entwicklungszusammenarbeit, für den Aufbau des Landes eingestellt ist. ({6}) Das ist die Wahrheit und deshalb haben wir bisher auf die entscheidende Frage, wie der Irak wirklich wiederaufgebaut wird, keinen Einfluss. Natürlich sind auch wir der Meinung, dass die Stabilitätsbemühungen für den Irak im richtigen internationalen Rahmen erfolgen sollten, ({7}) möglichst unter Koordination der UNO. Aber in der Tat stellt sich doch die Frage, wie schnell und wie stark der Einsatz der Vereinten Nationen nun wirklich erfolgen kann. Wie groß ist die Leistungsfähigkeit der UNO in einem Irak, von dem Sie, Frau Wieczorek-Zeul, selber sagen, dass die Sicherheit bisher in keiner Weise gewährleistet ist? Ich glaube, wir sollten in unserer Politik nicht fragen: Wer weiß es besser? Wer hat Recht behalten? Wir sollten eine Politik machen, die pragmatisch das Ziel der Stabilisierung und des nachhaltigen Friedens im Irak im Auge behält und eine Antwort auf die Frage gibt, was den Menschen im Irak langfristig wirklich hilft. Nach dem Auftritt des Bundeskanzlers in New York stellt sich uns die Gretchenfrage: In welchem Umfang leisten wir tatsächlich einen Beitrag? Die Geberkonferenz in Madrid steht an und es gibt erhebliche Widersprüche. Vor der UNO sagt der Kanzler vollmundig: Wir leisten humanitäre, technische und ökonomische Hilfe und Polizeiausbildung. - Das klang heute ganz anders. Der heutige O-Ton lautete: Wir führen die humanitäre Hilfe weiter - was gut ist -, wir werden prüfen, ob wir zusätzlich noch Entwicklungsprojekte ausführen, und gegebenenfalls kann man auch über Polizeiausbildung reden. ({8}) Das ist etwas ganz anderes. Natürlich können wir nicht zulassen, dass man vor der UNO große Reden hält ({9}) und danach hier als Papiertiger landet. ({10}) Wir sind dafür, dass der Kanzler zu dem steht, was er in der UNO gesagt hat, und wir würden es außerordentlich begrüßen, wenn er diese Linie dann auch der Entwicklungshilfeministerin verordnete. Bisher gibt es im BMZ - das sage ich noch einmal nicht nur kein Geld für die Entwicklungszusammenarbeit im Irak, sondern auch keine Konzeption ({11}) und keine Vorausplanung. Eines ist sicher: Mit leeren Taschen und ohne Konzeption brauchen wir uns auf der Geberkonferenz in Madrid nicht blicken zu lassen, wenn wir wirklich Einfluss nehmen wollen. Ihr Argument, dass die Weltbank eine Mission ausschickt, ist eine Ausrede. In anderen Fällen hat dies das BMZ zu Recht nicht davon abgehalten, eine Vorausplanung mit Schwerpunkten auszuarbeiten. Deutschland hat genug Expertise und Erfahrung in vielen Bereichen, die für den Irak wichtig sind. ({12}) - Das ist doch Unsinn. Wir haben das, was wir uns vorstellen, in einem Antrag, den Sie hoffentlich gelesen haben, zusammengefasst. ({13}) Es geht uns um die Beteiligung am Aufbau der materiellen Infrastruktur, ({14}) aber vor allem darum, uns bei den Weichenstellungen beim Aufbau des irakischen Staats- und Gemeindewesens einzubringen, nämlich bei der Administration, bei der Justiz und natürlich auch bei der Polizei. Auch beim Aufbau eines funktionierenden Wirtschafts- und Finanzsystems und bei der Stärkung der irakischen Zivilgesellschaft könnten wir einen Beitrag leisten. Daraus könnte man schon jetzt ein vernünftiges Konzept stricken, mit dem man auf der Geberkonferenz Einfluss nehmen könnte. ({15}) Auf der Geberkonferenz muss auch von Deutschland ein Beitrag geleistet werden, mit dem politische Weichenstellungen vorgenommen werden können. Sie haben gerade einen Finanzierungsvorschlag angemahnt. ({16}) Der Kanzler hat jüngst erklärt: Armutsbekämpfung ist ein Teil der Sicherheitspolitik. Warum hat er dann nicht mehr Einfluss genommen und ein Scheitern von Cancun verhindert? ({17}) Warum lässt er zu, dass der Entwicklungshaushalt im Verhältnis zum Gesamthaushalt ein Rekordtief erreicht hat? ({18}) All das ist Nebelkerzenwerferei und hat mit der Realität nichts zu tun. ({19}) Sie fragen: Woher soll das Geld kommen? Ich sage es Ihnen. Die Haushaltslage ist in der Tat desaströs. Deswegen ist es überfällig, dass auch in der Entwicklungspolitik eine durchdachte und strategische Schwerpunktsetzung erfolgt. Aber solange sich die rot-grüne Entwicklungspolitik in unzähligen Empfängerländern inklusive Kuba ({20}) und in zahllosen internationalen Töpfen verzettelt, haben wir natürlich keine Kraft, kein Personal und kein Geld mehr, um auf strategisch wichtige Herausforderungen schnell zu reagieren. ({21}) Dies schmerzt besonders dort, wo - wie im Irak auch deutsche Interessen berührt sind. Dies ist leider für die gesamte Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik symptomatisch. Die politischen Schwerpunkte werden verwässert oder falsch gesetzt. Statt überlegter Strategie herrschen Zufall und Reparaturversuche. Statt eng verzahnter Zusammenarbeit der Ressorts regieren Zwietracht und Doppelarbeit. ({22}) Dies ist leider auch in Afghanistan der Fall. Ich verweise auf die gestrige Sitzung des Entwicklungsausschusses, in der keine einzige unserer Fragen auch nur annähernd ordentlich beantwortet wurde. ({23}) Eine solche Politik der auswärtigen Beziehungen schadet unseren Interessen und unserem Ruf. Die Renaissance des Irak wäre eine neue Chance zu einer qualitativen Verbesserung. Ich kann nur sagen: Nutzen Sie diese Chance! ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1011 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 o sowie Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit - Drucksache 15/1521 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus - Drucksache 15/1507 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Übergangsregelung zum KindVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms schaftsrechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete Eltern - Drucksache 15/1552 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. April 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Durchführung der Flugverkehrskontrolle durch die Bundesrepublik Deutschland über niederländischem Hoheitsgebiet und die Auswirkungen des zivilen Betriebes des Flughafens Niederrhein auf das Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande ({3}) - Drucksache 15/1522 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 18. September 2002 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land, den Vereinten Nationen und dem Sekre- tariat des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten über den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens - Drucksache 15/1473 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1467 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1469 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Investmentwesens und zur Besteuerung von Investmentvermögen ({6}) - Drucksache 15/1553 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung - Drucksache 15/904 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Kultur und Medien j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch - ({9}) - Drucksache 15/1406 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur effektiveren Nutzung von Dateien im Bereich der Staatsanwaltschaften - Drucksache 15/1492 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({11}) Innenausschuss l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Kahrs, Eckhardt Barthel ({12}), Wilhelm Schmidt ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({14}), Claudia Roth ({15}), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen - Drucksache 15/1320 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({16}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({17}), Eduard Oswald, Norbert Königshofen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wirtschaftliche und organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft verbessern - Drucksache 15/1322 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({18}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({19}), Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sicherheit im Busverkehr - Drucksache 15/1528 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus o) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer Ebene festigen - Verstärkte Förderung von Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland - Drucksache 15/1574 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({21}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Ulrich Petzold, Dirk Fischer ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Vorsorgender Hochwasserschutz im Binnenland - Drucksache 15/1561 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und Tierärzte bei der Abgabe von Tierarzneimitteln - Drucksache 15/1568 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({24}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt 25 k, Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses zur Sammelübersicht 58 zu Petitionen, von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 b bis 25 j und 25 l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 25 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Zulassungs- und Prüfungsverfahrens des Wirtschaftsprüfungsexamens ({25}) - Drucksache 15/1241 ({26}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({27}) - Drucksache 15/1585 Berichterstattung: Abgeordnete Christian Lange ({28}) Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1585, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit angenommen. Tagesordnungspunkt 25 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rheinund Binnenschifffahrt - Drucksache 15/1056 ({29}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({30}) - Drucksache 15/1580 Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/1580, den Gesetzentwurf anzunehmen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. September 1996 über die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rheinund Binnenschifffahrt - Drucksache 15/1061 ({31}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({32}) - Drucksache 15/1581 Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1581, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 e: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. Februar 2002 über die Änderung des Grenzvertrages vom 8. April 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande - Drucksache 15/1053 ({33}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({34}) - Drucksache 15/1577 Berichterstattung: Abgeordneter Gerhard Wächter Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/1577, den Gesetzentwurf anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 f: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Juni 2000 über ein Europäisches Fahrzeug- und Führerscheininformationssystem ({35}) - Drucksache 15/1058 ({36}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({37}) - Drucksache 15/1578 Berichterstattung: Abgeordneter Gero Storjohann Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/1578, den Gesetzentwurf anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 g: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. Juni 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Thailand über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/1054 ({38}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. August 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Iran über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/1055 ({39}) - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Brunei Darussalam über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/1057 ({40}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({41}) - Drucksache 15/1366 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 24. Juni 2002 mit dem Königreich Thailand über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksache 15/1054. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 17. August 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Iran über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksache 15/1055. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 30. März 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Brunei Darussalam über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksache 15/1057. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1366, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 25 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({42}) Sammelübersicht 55 zu Petitionen - Drucksache 15/1533 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 55 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({43}) Sammelübersicht 56 zu Petitionen - Drucksache 15/1534 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 56 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({44}) Sammelübersicht 57 zu Petitionen - Drucksache 15/1535 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand. Die Sammelübersicht 57 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({45}) Sammelübersicht 59 zu Petitionen - Drucksache 15/1537 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 59 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu Rufen aus der Koalition nach personellen Konsequenzen angesichts immer neuer Finanzausfälle und Verzögerungen bei der LKW-Maut Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dirk Fischer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine geehrten Kolleginnen und Kollegen! „Der Rücktritt von Manfred Stolpe hat mich nicht überrascht“ - so Bundeskanzler Schröder am 22. Juni 2002 nach Stolpes Amtsaufgabe als brandenburgischer Ministerpräsident. Heute wäre kein Mensch in Deutschland überrascht, würde Stolpe als Verkehrsminister zurücktreten. ({0}) Dirk Fischer ({1}) Es ist zwar auch sinnvoll, wenn der SPD-Kollege Dr. Danckert die zuständigen Staatssekretäre Frau Mertens und Herrn Nagel auffordert, persönliche Konsequenzen aus dem Mautdesaster zu ziehen, aber hauptverantwortlich für die Probleme mit der LKW-Maut ist Verkehrsminister Stolpe. Er hat das dilettantische Gemurkse seines Vorgängers Bodewig noch gesteigert. ({2}) Rot-Grün hat auf allen Ebenen versagt: „Eklatante Benachteiligung“ von Bewerbern bei der Vergabe des Auftrages zum Aufbau des elektronischen Mautsystems - so wörtlich das OLG Düsseldorf Anfang 2002. Das Gericht hat den Bund gezwungen, alles noch einmal von vorn zu beginnen. Die Einigung zwischen Toll Collect und dem Wettbewerber Ages kam zu spät, mit der Folge eines zusätzlichen Entwicklungsaufwandes bei der Abrechnungssoftware. Dann der Freitag vor der Bundestagswahl: hektische Vertragsunterzeichnung aus Angst vor einem Regierungswechsel, verbunden mit einem hohen Zeitdruck für die Industrie, den Mautbetrieb schon zum 31. August 2003 statt zum Januar 2004 zu ermöglichen; stattdessen offenbar großzügige Freistellung von Haftung und Vertragsstrafen für die ersten drei Monate nach diesem Einführungstermin. Durch die Exklusivbeauftragung von Firmen kam es zu Engpässen beim Einbau der On Board Units. Der Minister hat den Fehler inzwischen eingestanden und korrigiert. Danach folgte der Alleingang Stolpes bei der Unterzeichnung des Eckpunktepapiers am 30. Juli 2003: Die zweimonatige Einführungsphase und die beiden ersten Monate der Betriebsphase sind vertragsstrafen- und haftungsfrei gestellt worden. Erst Anfang 2004 soll eine Verständigung über eine angemessene jährliche Haftungshöchstgrenze erfolgen. Wenn Stolpe erklärt - was durchaus versucht worden ist -, nur die Industrie habe versagt, stellt sich die Frage, warum er sie dann mit einer weiteren Haftungsfreistellung belohnt, statt endlich die Zügel fester anzuziehen. ({3}) Das ist doch völlig widersprüchlich, Herr Minister. Ende August 2003 erfolgte die Trennung der Mauteinführung und der von der Bundesregierung zugesagten Harmonisierung für das deutsche Transportgewerbe. Der Ausgang des Beihilfeverfahrens ist ungewiss.

Not found (Kanzler:in)

„Und wenn sie“ - die Verkehrskommissarin - „negativ votiert, gibt es gar nichts.“ Wer sich auf Schröders Wort verlässt, ist ein armer Hund. ({0}) Das wissen die Rentner, das wissen die Autofahrer, das wissen die Spediteure. Die vorläufige Betriebserlaubnis wird erteilt, wenn die technische Funktionsfähigkeit gegeben ist. Diese steht immer noch aus. Im Gegenteil: Nach der „Deutschen Verkehrs-Zeitung“ stellt das Bundesamt für Güterverkehr in einem Schreiben an das Ministerium fest, dass „ein Wirkbetrieb zum 2. November nicht mehr realisiert werden kann“. Das hat folgende Konsequenzen: Jeder Monat Mautverzug kostet 156 Millionen Euro. Das ist die Zahl, die Sie aktuell angegeben haben. Im Ausschuss hatten Sie uns noch die Zahl von 163 Millionen Euro genannt. Hinzu kommen Rückforderungsansprüche des Transportgewerbes aus der Eurovignette in Höhe von 65 Millionen Euro für 2003 und zusätzliche Ausgaben für das Bundesamt für Güterverkehr in Höhe von fast 45 Millionen Euro, ohne dass Mauteinnahmen kassiert werden können. Eine Verschiebung zumindest auf Januar 2004 - dieser Termin erscheint realistisch - würde die Ausfälle somit auf 733,7 Millionen Euro summieren. Die Kündigung des Vignettenabkommens zum 31. August 2003 führt im Übrigen dazu, dass deutsche und ausländische LKW zurzeit gratis auf deutschen Straßen fahren können. Wichtige Verkehrsprojekte sind dadurch gefährdet, dass zusätzliche Mittel aus der Maut nicht in baureife Projekte fließen können. Der Schaden zulasten der für Infrastrukturmaßnahmen eingeplanten Haushaltsansätze soll in den Haushalten ab 2004 begradigt werden. Rot-Grün hat eine sinnvolle Einführung der LKWMaut verpfuscht. Es gab keine ausgereifte technischlogistische Vorbereitung, keine Harmonisierungsmaßnahmen und keine Zweckbindung der Mauteinnahmen für die Verkehrsinfrastruktur zusätzlich zu den Haushaltsansätzen. 2004 werden mit der eingeplanten Maut weniger Mittel für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stehen, als es 2003 ohne die Maut der Fall war. Das ist doch ein Schuss in den Ofen! ({1}) Herr Dr. Stolpe, Sie haben kein hinreichendes Vertragscontrolling betrieben. Sie haben erst viel zu spät ernsthaft mit der Verkehrskommissarin verhandelt. Es war unverantwortlich, den ab 16. Juni geplanten Probebetrieb abzusagen. Er hätte die Mängel viel früher offenbart.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es war unverantwortlich, die Haftungsfreistellung in der Vereinbarung noch zu erweitern. Sie haben die LKW-Maut viel zu spät zur Chefsache erklärt. Das Projekt sollte eine deutsche Erfolgsstory und das europäische Leitsystem der Mauterhebung werden. Nun ist der Standort Deutschland dem europäischen Gespött ausgesetzt worden. Das ist kaum zu ertragen. Dirk Fischer ({0}) Verkehrsminister Stolpe hat auf ganzer Linie versagt. Sein Rücktritt ist unausweichlich. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Bundesminister Dr. Manfred Stolpe. ({0})

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss es aushalten, als Dilettant, als Schlafmütze, als Versager dargestellt zu werden. Das gehört schließlich zum politischen Geschäft; das habe ich schon mitbekommen. Aber ich wende mich entschieden gegen Ihren Vorwurf, Herr Fischer - hier möchte ich Sie direkt ansprechen -, der bei Ihrer Rede deutlich herausklang, dass wir ein Zukunftssystem deutscher Wissenschaft und Technik kaputtreden. Das haben Sie eben gemacht. ({0}) Ich bitte Sie herzlich, meine Damen und Herren von der Opposition: Lassen Sie uns bei der Grundlinie bleiben, die schon einige Jahre alt ist. Wir haben 1997 begonnen, entschlossen den Weg zur Einführung einer LKW-Maut zu gehen. Das war eine richtige Entscheidung. Wir sind diesen Weg weitergegangen. Es mussten Entscheidungen darüber getroffen werden, welches System man nimmt und mit wem man zusammenarbeitet. Ich bin der Letzte in der Reihe, der daran arbeitet. Den beißen bekanntlich die Hunde. Aber ich sage Ihnen ganz klar: Den Staffelstab werde ich nicht fallen lassen. Hier gibt es für mich keine Alternative. ({1}) Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir eine LKWMaut brauchen. Die technische Idee ist international anerkannt, gar keine Frage. In dem Entwurf der Richtlinie der Europäischen Union ist ausdrücklich vorgesehen, dass eine Maut bis zum Jahr 2008 europaweit eingeführt werden soll. Wir stehen momentan in den Mühen der Ebene; das liegt auf der Hand. Aber noch heute Vormittag, vor wenigen Stunden also, haben wir einen intensiven Gedankenaustausch auf einer Telematikkonferenz in Berlin gehabt. Dabei ist klar geworden, dass niemand, der sich intensiv mit den Fragen der Mauterhebung befasst, ernsthafte Zweifel daran hat, dass man das jetzige Mautsystem auf die Beine bringen wird. Eine Maut ist auch noch aus einem anderen strategischen Grund notwendig. Da wir trotz eines relativ hohen Sockels an Investitionsmitteln für die Verkehrsinfrastruktur erkennen können, dass die Gelder der öffentlichen Hand nicht ausreichen werden, brauchen wir zusätzliche Finanzierungssysteme. Wir brauchen deshalb eine Maut genauso wie die entsprechenden Betreibersysteme, die wir schon in Gang gesetzt haben. Wir haben mit den Ländern bereits eine Vereinbarung über 20 Modelle getroffen. Wir brauchen außerdem weitere Schritte bei Public Private Partnership wie diejenigen, die wir unlängst gemacht haben. Wir haben am 23. Mai dieses Jahres mit großer Mehrheit sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Entscheidung über die Notwendigkeiten getroffen. Das ist die Arbeitsgrundlage, nach der ich mich richte. Ich sehe drei Operationsfelder, auf denen weiter entschlossen gehandelt wird. Hier ist die Harmonisierung ein wichtiger Punkt. Darauf haben Sie schon eben hingewiesen. Auch auf meiner Agenda steht sie ganz vorne. Ich füge hinzu, weil das gelegentlich vergessen wird - ich habe darauf auch in mehreren Gesprächen mit den Verbänden hingewiesen -: Ich stehe zu der Grundlage vom 23. Mai; denn die Unternehmen brauchen Verlässlichkeit. Ich muss den Text vom 23. Mai sicherlich nicht vorlesen; denn Sie alle kennen ihn. Auch Sie wissen, in welcher Schrittfolge wir vorgehen müssen. Ich habe bereits am Abend des 13. November letzten Jahres - ich war damals noch ganz frisch im Geschäft - fünf Stunden lang mit der zuständigen EU-Kommissarin darüber geredet und ihr die Dinge dargelegt. Das habe ich danach erneut im April, im August und im September dieses Jahres sowie vorgestern getan. Ich werde das auch wieder am 1. Oktober tun. Ich bin mir sicher, dass wir die Probleme lösen werden. Ich möchte im Übrigen darauf aufmerksam machen, dass Ihr eigener Beschluss ausdrücklich vorsieht, dass wir uns die Genehmigung für das Mautverfahren einholen und dass wir bis dahin die Maut auf 12,4 Cent pro Kilometer festlegen. Ich bitte Sie deshalb herzlich, nicht bei den Spediteuren den Eindruck zu erwecken, dass noch etwas anderes kommen wird. Bitte halten Sie sich an den Text, den wir damals gemeinsam vereinbart haben. ({2}) Die Technik ist in Arbeit. Mein Ministerium, das uns zugeordnete Bundesamt für Güterverkehr, aber auch die Partner der Industrie wollen - das ist das klare Ziel einen zeitnahen und stabilen Systemstart. Für mich heißt das: so schnell wie möglich, aber nur - am besten wären natürlich gar keine Fehler - mit einer möglichst geringen Fehlerquote. Denn alles andere würde auf dem Buckel der Unternehmen ausgetragen. Das würde ich für nicht vertretbar halten. Gestern hat es zwischen dem Bundesamt für Güterverkehr und den Unternehmern eine Verabredung gegeben. Infolgedessen kann ich heute feststellen, dass das im Juli von uns eingeführte verschärfte Kontrollsystem - uns gegenüber ist vorher zugegeben worden, dass Probleme bestehen - mittlerweile ein gutes Stück vorangekommen ist und dass ab morgen eine neue Phase der Erprobung des Mautsystems startet. Die Unternehmen haben sich verpflichtet, bis zum Wochenende alle noch offenen Fragen zu klären und Funktionsüberprüfungen vorzunehmen. Die Unternehmen werden unseren Fachleuten die Ergebnisse am 29. und am 30. September in einem Workshop darstellen. Danach werden das BAG und die Unternehmen gemeinsam festlegen, wie der Probebetrieb gestartet werden kann. Der Probebetrieb ist wichtig. In der Auswertung wird noch herauszufinden sein, welche Probezeit man braucht. Uns hat das Bundesamt noch einmal erklärt: Bei Erfüllung aller Voraussetzungen ist auch ein Start am 2. November erreichbar. Ich kann nur sagen: Ich fordere das nicht, auch auf die Gefahr hin, dass wieder eine Welle von Beschimpfungen auf mich zukommt. Mir ist nämlich viel wichtiger, dass dieses System verlässlich startet, als dass wir einigermaßen stotternd in die Gänge kommen. Das würde keinem helfen. ({3}) Durch die Nichteinhaltung des Starttermins 31. August gibt es natürlich Vertragsverletzungen. Das liegt auf der Hand, das weiß jeder und das bedeutet für uns auch Einnahmeausfälle: jeden Monat 156 Millionen Euro. Aber bevor es nicht losgeht, gibt es auch keine weiteren Leistungen, weder eine Beteiligung an den Betreiberkosten noch eine Beteiligung an den Investitionskosten, die wohl bei etwa 0,5 Milliarden Euro liegen. Wir konnten im Hinblick auf die Einnahmeausfälle mit dem Bundesfinanzministerium eine Auffangregelung vereinbaren. Sie sieht vor, dass wir bis etwa 2006 die Mittel zur Deckung der Einnahmeausfälle erwirtschaften werden. Ich erkläre hier feierlich und verbindlich: ({4}) Damit ist ganz sicher, dass es keine Verzögerungen von Infrastrukturinvestitionen durch fehlende Mauteinnahmen geben wird. Das werden wir durchsetzen können, allein schon deshalb, weil wir diese Infrastrukturmaßnahmen brauchen. ({5}) Wir stehen jetzt vor der Vertragsanpassung. Sie ist zwingend. Wir befinden uns aufgrund der vereinbarten Vertraulichkeit noch - ich hoffe, nicht mehr lange - ein bisschen in Verlegenheit; es wird ständig über all die Fehler im Vertrag und über die nicht genutzten Möglichkeiten gesprochen. Ich bin an einer Offenlegung sehr interessiert, sodass ein faires Urteil darüber getroffen werden kann, wie der erste große Vertrag über Public Private Partnership in Deutschland gestaltet worden ist. Dieser Vertrag ist kein Staatsvertrag; dahinter steht vielmehr das Bemühen, private Partner - auch als Betreiber - in ein gesellschaftlich wichtiges Vorhaben einzubeziehen. Wir werden eine neue Grundlage finden müssen. Sie haben dankenswerterweise auf die Eckpunkte hingewiesen. Das ist eine erste Disposition, die aufzeigt, was noch geklärt werden muss. Zur Vertragsanpassung kommt also noch einiges hinzu: Die Termine müssen besprochen werden und die Zahl der OBUs muss noch angepasst werden. Wir haben ursprünglich 150 000 vorgesehen; inzwischen sind mindestens 450 000 geplant. Herr Fischer, auch Sie haben schon erwähnt: Aufgrund des veränderten Starttermins wird über die Vertragsstrafen geredet werden müssen. Wir werden natürlich auch über Haftungsfragen reden müssen, die bei Störungen und Systemausfällen eintreten. ({6}) Wir haben mit den Partnern natürlich die Finanzausfälle zu erörtern. Sie können davon ausgehen, dass der Vertrag keine haftungsfreie Zeit vorsieht. Ich hoffe, es gibt bald einen Weg, dass Sie in den Vertrag hineinsehen können. Die Lasten durch die Nichterfüllung werden nicht vom Bund allein getragen werden. Wir befinden uns also noch sozusagen mitten auf der Baustelle; ({7}) aber der Wille zum Erfolg und zur Zusammenarbeit ist vorhanden. Der Zeitpunkt der Klärung und damit auch die Sichtung von Verantwortlichkeit sind nahe. Natürlich wird der Minister der Allererste sein, der sich der Verantwortung zu stellen hat. Es wird zu überlegen sein, wo Versäumnisse und Schäden aufgetreten sind, die er mit zu verantworten hat. Auch die anderen Mitarbeiter werden sich der Verantwortung stellen; niemand duckt sich. Solange noch Klärungen notwendig sind, ist die erste Aufgabe, dass wir die Maut in Gang setzen, dass wir dort unserer Verpflichtung nachkommen und uns auch nicht irremachen lassen. Wir können uns hinterher alles sehr genau ansehen. ({8}) Aber jetzt gilt meine Bitte: Reden Sie das System nicht schlecht! Wir brauchen es in Deutschland. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von der FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister, das war ja nun Manfreds Märchenstunde auf hohem Niveau. ({0}) Allerdings frage ich mich, ob ich mehr erschrocken sein muss über die Blauäugigkeit, mit der Sie, Herr Minister, immer noch glauben, dass der 2. November auch nur den Hauch einer Realisierungschance hat, oder über die Dreistigkeit, mit der Sie hier Tatsachen verdrehen und vor allem versuchen, uns als Opposition vorzuwerfen, wir würden die arme deutsche Industrie, die ausgewiesenen Mittelständler Daimler-Chrysler und Telekom, schlecht reden. Das ist doch gar nicht der Punkt, Herr Minister! Horst Friedrich ({1}) Sie haben als Vertragspartner ein Controllingsystem aufzubauen, das Schwächen aufzeigt. Sie haben die Verpflichtung gegenüber dem Deutschen Bundestag, aufzuzeigen, wo Haushaltsrisiken bestehen. ({2}) Offensichtlich werden Sie in beiden Fällen Ihrer Verantwortung in keiner Weise gerecht. ({3}) Im Vertrag steht, dass am 16. Juni ein Probebetrieb beginnen soll. Der konnte gar nicht beginnen, weil die technischen Voraussetzungen überhaupt nicht vorhanden waren. Weder gab es funktionierende OBUs, also On Board Units, wie es Neudeutsch so schön heißt, noch gab es alternativ entsprechende Terminals an den Autobahnen, noch gab es eine irgendwie geartete und geeignete Software, die man nachprüfbar hätte installieren können. Wir haben jetzt immer noch - Stand: gestern Geräte, die neben der Autobahn Gebührenpflicht anzeigen, aber auf der Autobahn anzeigen, dass Mautfreiheit besteht. Das Gegenteil sollte eigentlich der Fall sein. Ich habe das in dieser Woche extra noch einmal eigenhändig getestet. ({4}) Nach 15 Minuten haben sowohl das Terminal als auch ich entnervt aufgegeben, obwohl ich die Sprachen beherrsche, die vorgegeben sind, ({5}) und auch in der Lage bin, mit dem Gerät einigermaßen umzugehen. Ich frage mich nur, was passiert, wenn jemand das anwenden soll, der nicht eine der vier Sprachen spricht. ({6}) - Deutsch ist eine der vier Sprachen, Herr Kollege Weis; darauf können wir uns hier im Deutschen Bundestag vielleicht einigen. Es ist also so, dass schon bei der Installation der Hardware, also der technischen Ausstattung, Probleme bestehen. Wenn das zutrifft, was zu lesen ist, dann hat das Konsortium - nicht der Deutsche Bundestag, nicht seine Abgeordneten - gestern wieder eine große Rückrufaktion für diese Geräte gestartet; mehr als 20 000 sind zurückgerufen worden. ({7}) - Ich habe ja gar nicht vom Minister gesprochen. ({8}) - Das Konsortium hat die Geräte zurückgerufen. Das führt Sie aber nicht dazu, noch einmal nachzufragen, sondern Sie stellen sich heute hier hin und sagen: Wir sind weiter in einem Workshop und werden das Ganze betreuen. - Diese Diktion kenne ich schon aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zu diesem Thema, in der Sie formuliert haben: Die Bundesregierung hat sich mit der Betreibergesellschaft TC darauf verständigt, dass das Mautsystem am 31. August 2003 mit einer Einführungsphase starten und zum 2. November 2003 mit der Mauterhebung begonnen werden soll. Jetzt kommt es: Die Betreibergesellschaft TC hat zugesichert, dass die dazu erforderlichen technischen Voraussetzungen geschaffen werden. Das ist die offizielle Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage. ({9}) Nun frage ich Sie: Wie bewerten Sie denn das, was das Konsortium Ihnen an technischen Zusagen bisher gegeben hat? Ist das das, was Sie uns da geschrieben haben, oder ist das, was tatsächlich Realität ist, das Gegenteil von dem, was Sie uns deutlich zu machen versuchen? ({10}) Ich sage noch einmal: Das hat nichts damit zu tun, dass irgendjemand die Maut schlechtreden will. In diesem Punkt sind wir uns einig: Das System muss funktionieren. Nein, die Maut - dieser Meinung sind auch wir muss kommen. Nur: Im Unterschied zu Ihnen sehen wird den Start der Maut - so haben wir es politisch immer gesehen - als einen echten Einstieg in den Umstieg der Finanzierungssysteme. Sie wollen politisch aber etwas ganz anderes. Sie wollen den Straßenverkehr teurer machen, damit der Verkehrsträger Schiene - angeblich Chancen hat, ({11}) die er durch dieses System aber nie erreichen wird. Das ist der eigentliche gravierende politische Unterschied. ({12}) Blauäugig, wie Sie nun einmal sind, erklären Sie - heute wieder -, dass der Maut-Einnahmeausfall, der sich in diesem Jahr sicherlich auf schätzungsweise 700 Millionen Euro summieren wird, im nächsten und übernächsten Jahr ohne Probleme in Ihrem Haushalt ausgeglichen werden kann, ohne dass Projekte gestrichen werden müssen oder sonst etwas verändert werden muss. Dazu kann man als Gesetzgeber, vor allem als Haushaltsgesetzgeber, nur sagen: Bei den Haushaltszahlen, bei den Ansätzen des Jahres 2004 ist das, Herr Minister, eigentlich die größte Frechheit. ({13}) Horst Friedrich ({14}) Demjenigen, der sich dann hinstellt und sagt, wir sollten doch alle zusammenstehen und nicht so kritisch sein, kann ich nur sagen: Er ist entweder blauäugig oder lebt völlig losgelöst von der Realität. Wir behalten uns vor diesem Hintergrund nach wie vor die Möglichkeit vor, am Ende des Tages, wie Sie immer so schön sagen, vielleicht auch einmal über einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss nachzudenken. ({15}) Das, was hier geboten wird, kann nicht das letzte Wort sein. Sie als Verkehrsminister sind hierfür politisch verantwortlich. Da macht es auch keinen Sinn, wenn der Kollege Danckert die Kollegin Mertens und den Herrn Nagel zum Rücktritt auffordert. Das ist ja bloß ein Ablenkungsmanöver. Sie sind derjenige, der die Verantwortung trägt. Sie werden an dieser auch gemessen. Danke sehr. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass ich schon so viele Zwischenrufe von allen Seiten des Hauses bekommen habe, obwohl ich noch gar keinen Satz gesagt habe. Das ehrt mich. Danke schön. Was in diesen Tagen auf den Bildschirmen zur Einführung des Mautsystems zu sehen ist, erinnert mich - das muss ich ehrlich sagen - manchmal an die Sendung „Versteckte Kamera“. ({0}) Da wurde behauptet, es gebe Mautterminals an Stellen, wo gar keine waren. Da wurden On Board Units geliefert, die beim Umdrehen des Zündschlüssels durchbrannten, weil kein Spannungsregler eingebaut war. Da musste erst vom Kartellamt durchgesetzt werden, dass auch freie Firmen On Board Units einbauen dürfen, nachdem es die Vertragswerkstätten nicht geschafft hatten. Da gibt es On Board Units, die beginnen, rückwärts zu laufen; das heißt, sie zählen Guthaben, statt gefahrene Strecken abzurechnen. Da werden jetzt, wie Sie alle gelesen haben und auch schon angesprochen wurde, 20 000 On Board Units zurückgerufen, weil die Software defekt ist. Meine Damen und Herren, es fällt mir manchmal schwer, daran zu glauben bzw. mich daran zu erinnern, dass wir es hier nicht mit Seifenblasenfirmen des Neuen Marktes, sondern mit Marktführern mit Namen von Weltklang zu tun haben: Daimler-Chrysler, Telekom; inzwischen sind auch Grundig und Siemens mit im Boot. ({1}) Für mich ist das eigentliche Problem - das sage ich allen Ernstes -, dass das Konsortium - und nicht diejenigen, die es schlechtreden - selbst dabei ist, aus einem Begriff mit einem guten Klang, nämlich „Made in Germany“, ein „Fake in Germany“ zu machen ({2}) und damit das Image der deutschen Industrie massiv zu beschädigen und Exportchancen für die Zukunft zu verspielen. Ich kritisiere auch, dass die Firma Toll Collect bis heute keine für mich erkennbare und akzeptable Kommunikationsstrategie hat. Sie versteckt sich selbst. Mir kommt die Firma Toll Collect im Moment wie eine große Blackbox vor, so, als wäre sie selbst eine große, nicht funktionierende On Board Unit. ({3}) Deshalb verstehe ich jeden, der hier Kritik daran übt, was nicht funktioniert, und Verbesserungen fordert, und zwar von denen, die Fristen zugesagt haben, sich vertraglich verpflichtet und jetzt auch die Leistung zu erbringen haben. Ich verstehe aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass man ausgerechnet den Minister, der den Widerstand der EU-Kommissarin in Brüssel ausgeräumt hat, der durch intensives Controlling die Zügel in die Hand genommen und durch Arbeitsgruppen auf allen Ebenen fester gezogen hat, der sich die Dinge kritischer anschaut und prüft, ohne sie sofort schlechtzureden, jetzt zum Hauptschuldigen der ganzen Misere erklärt. ({4}) Sie tun doch so, als hätte der Minister von vornherein mit der Grundeinstellung an das Geschäft herangehen müssen: Diese Firmen haben zwar einen Vertrag unterschrieben; aber ich weiß schon heute, sie können ihn nicht erfüllen. Eine solche Haltung, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeugt von einer Selbstgerechtigkeit, die zum Himmel stinkt. ({5}) Ich erinnere Sie daran, dass Sie alle, als Toll Collect im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages dieses System vorgeführt hat, mit glänzenden Äuglein dagestanden und geglaubt haben, dass alles wie geschmiert laufe. Da hat kein Einziger von Ihnen gesagt, das werde nicht funktionieren. Im Gegenteil! ({6}) Albert Schmidt ({7}) - Herr Fischer, Sie sind doch die Technologiegläubigkeit in Person. Wie oft haben Sie uns hier im Bundestag das Wunderwerk Transrapid aufschwatzen wollen! ({8}) Ich bin froh, dass uns wenigstens dieses Experiment erspart geblieben ist. ({9}) Mich stört nicht Ihre Kritik an dem, was nicht funktioniert, sondern mich stört Ihre Selbstgerechtigkeit. Sollen wir jetzt über den Rücktritt von Staatssekretärinnen und Staatssekretären oder von Ministern diskutieren, ({10}) weil On Board Units ohne Spannungsregler geliefert worden sind, weil vertragliche Verpflichtungen offenbar nicht erfüllt worden sind? Besonders scheinheilig ist die Aussage, wenn auch der 2. November dieses Jahres von der Industrie nicht zu halten sei, dann müsse der Minister zurücktreten. Dazu muss ich Ihnen sagen: Es war niemand anders als der Minister selbst, der in dem Gespräch am 30. Juli dieses Jahres dem Konsortium anheim gestellt hat, auf einen realistischen Termin der Einführung, den sie nur selbst beurteilen kann, auszuweichen, und sei es Anfang 2004. Es war das Konsortium, das auf dem Termin 2. November insistiert hat. Daraus jetzt dem Minister einen Strick drehen zu wollen ist zumindest in höchstem Grade unfair. ({11}) Nein, wir haben hier nicht über das Schicksal zweier Staatssekretäre zu diskutieren, sondern über das reale Versagen deutscher Konzerne und - da beißt die Maut keinen Faden ab - deren Verantwortung bei einem Vorzeigeprojekt der öffentlich-privaten Partnerschaft. Public Private Partnership funktioniert nur bei gemeinsam wahrgenommener Verantwortung und nicht bei Verantwortungsverschiebung allein auf den Auftraggeber. ({12}) Ich habe von dem Imageschaden der deutschen Industrie gesprochen. Hinzu kommt eventuell ein Schaden durch möglicherweise verspielte Exportmärkte und dadurch verlorene Aufträge und Arbeitsplätze von morgen. Wenn diese vergeigt werden, ist das ein Schaden für den Standort. Auch die im Bundeshaushalt veranschlagten Mauteinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe erweisen sich nun als illusionär. ({13}) Das wird selbstverständlich zulasten von Verkehrswegeprojekten auf der Straße und der Schiene gehen. Da werden Projekte verschoben werden müssen; das ist ganz klar. Angesichts dieses dreifachen Schadens muss die Haftungsfrage beantwortet und dieser Vertrag offen gelegt werden. ({14}) Wir müssen wissen: Wie sieht es aus mit den Fristen, mit dem Leistungsumfang, mit der Gewährleistung, mit den Entgelten, mit Haftungsregeln? Mein Eindruck war in den letzten Tagen nicht, dass der Minister mit der Offenlegung ein Problem hat, ({15}) sondern mein Eindruck ist, dass andere ein Problem damit haben. ({16}) Ich kann zum Schluss an die Adresse des Konsortiums nur sagen: Ändern Sie Ihre Kommunikationsstrategie! Machen Sie Schluss mit dem Katz-und-Maut-Spiel gegenüber dem Deutschen Bundestag! ({17}) Jetzt müssen die Karten auf den Tisch. Nennen Sie endlich einen realistischen Starttermin, den Sie wirklich garantieren können! Dann, glaube ich, können wir ernsthaft und auf der Basis solider Informationen miteinander über Verantwortung reden. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Oswald. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Albert Schmidt, wer die Verantwortung nur den Mautbetreibern zuschiebt, vergisst, dass es bei diesem Vertrag zwei Partner gibt. Die Bundesregierung steht in der Verantwortung. Dies kann man nicht wegreden oder in irgendeiner Weise verwischen. ({0}) Der Kanzler hat den Journalisten auf dem Flug nach New York erzählt: „Manfred sagt: Die Maut kommt.“ Das glaube auch ich. Aber wann, das ist hier die Frage. ({1}) Ich lese Ihnen einige Meldungen vor: „Die Maut kommt pünktlich.“ „Vorbereitungen laufen wie geplant.“ „Keine Engpässe bei Abrechnungsboxen.“ Solche Meldungen hätten wir uns hier in Deutschland gewünscht. Aber es sind Berichte aus unserem Nachbarland Österreich, wo zum Jahresbeginn eine Maut eingeführt wird. Bei uns klappt das nicht. Die Fachwelt hält den verzögerten Mautstart am 2. November nicht mehr für haltbar. Herr Bundesminister, niemand von uns in der Opposition redet das System schlecht. Aber Rot-Grün hat eine beträchtliche Chance für den Wirtschaftsstandort Deutschland verspielt; das ist eine Tatsache. ({2}) Es wurde versäumt, Maut und Technik zum Exportschlager zu machen. Stattdessen bekommt die Fernsehsendung „Pleiten, Pech und Pannen“ ein neues Highlight. ({3}) Wir haben Ihnen im Vermittlungsausschuss von Bund und Ländern die Hand gereicht. Wir haben Ja zur LKWMaut gesagt, weil damit eine verursachergerechte Anlastung der Wegekosten möglich wird. ({4}) Wir wollen aber ein störungsfreies System und keine Flickschusterei. Nur 14 Prozent aller mautpflichtigen Fahrzeuge verfügen zurzeit über funktionierende On Board Units. Schon gibt es neue Meldungen über den Rückruf von 20 000 defekten Mautboxen. Auch von den Kontrollbrücken ist nur ein geringer Teil einsatzfähig. ({5}) Wir wollen, dass die Maut die Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Transportgewerbe nicht noch weiter verschlechtert. Den Mineralölsteuerrückerstattungen in einigen EU-Ländern haben Sie zugestimmt. Dann müssen Sie jetzt auch für einen Ausgleich bei uns sorgen. Deshalb wollen wir die Einhaltung der dem LKWGewerbe gegebenen Entlastungszusagen. Auf dem europäischen Verkehrsmarkt dürfen unsere Unternehmen nicht weiter zurückfallen. Ohne Harmonisierung wird es keine Akzeptanz beim deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe geben. ({6}) Wir wollen, dass die Mauteinnahmen zusätzlich der Verkehrsinfrastruktur, dem Straßenbau zugute kommen, wie es verabredet war. Wir werden keinesfalls hinnehmen, dass die Mautausfälle zulasten der Verkehrsinfrastruktur gehen. Für mich ist klar: Das Controlling durch die Bundesregierung hat nicht funktioniert, wenn es überhaupt eines gab. Das alles wird noch zu prüfen sein. Noch kurz vor der letzten Bundestagswahl wurden ganz schnell - ich wiederhole dies immer wieder - die Verträge unterschrieben, dann in aller Eile Ende Juli noch ein Eckpunktepapier. Das Ergebnis sehen wir jetzt: erst „Hopp, hopp!“, dann „Flop, Flop“. ({7}) Vielleicht stellt sich Rot-Grün einmal die Frage, wie ein Ministerium funktioniert. Bei der rot-grünen Regierungsübernahme 1998 wurden in dem neu gebildeten Ministerium erst einmal sechs von sieben Abteilungsleitern ausgewechselt. Übrigens hat sich längst gezeigt, dass parteipolitische Ergebenheit Fachkenntnisse nicht ersetzen kann. ({8}) Sie, Herr Bundesminister Stolpe, haben auch bei der LKW-Maut wieder personelle Veränderungen im Hause vorgenommen. Man braucht gute Leute. Vielleicht haben Sie sich - Sie sind ja ein gebildeter Mann - an Winston Churchill erinnert, der gesagt hat: „Ein kluger Mann macht nicht alle Fehler selber. Er gibt auch anderen eine Chance.“ ({9}) Aber warum haben Sie eigentlich die Verantwortung nicht in die Hände eines Ihrer Staatssekretäre gelegt? Sie verfügen doch über fünf. Das ist schon der Nachfrage wert. ({10}) Wir brauchen Aufklärung ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Ohne eine völlige Offenlegung der Verträge - Transparenz auf jeder Seite - wird keine Klarheit geschaffen. Nur wenn wirklich offen gelegt wird, ist zu beweisen, dass die Regierung sich nicht hat über den Tisch ziehen lassen. Es reicht nicht, zu sagen, man habe lange telefoniert. Hat die Führung des Hauses wirklich alle Möglichkeiten bei der EU genutzt oder haben Sie immer nur die Arbeitsebene vorgeschickt? Sie haben heute feierlich etwas zu den Finanzen erklärt. Aber wir werden das sehr genau hinterfragen. Wir brauchen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, damit Deutschland nicht weiter im Stau steht. Sie wissen, wie notwendig die Mittel sind. Sie müssen sich beim Präsidenten - - Nein, nicht beim Präsidenten. Das Licht des Präsidenten leuchtet. ({11}) Sie müssen sich beim Finanzminister durchsetzen. Helfen Sie auch dem deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe. Das ist entscheidend.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie wissen, warum das Licht leuchtet, nicht wahr? ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das weiß ich. Daher sage ich den Schlusssatz: Machen Sie die LKW-Maut systemsicher ({0}) und EU-verträglich! Wahren Sie das Interesse des deutschen LKW-Gewerbes! Sorgen Sie für Finanzmittel für die deutsche Verkehrsinfrastruktur! Es muss Schluss sein mit dem Debakel. Deutschland braucht Klarheit, wie es mit der LKW-Maut weitergeht. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt gerade den Repräsentanten der CDU/CSU erlebt, die in Deutschland lange regiert und keine Maut oder Ähnliches auf die Beine gebracht hat. ({0}) Gerade die CSU hat zweimal den Verkehrsminister gestellt. Warnke hat von einer Schwerverkehrsabgabe schwadroniert. Old Schwurhand ist auf die Nase gefallen; ({1}) der Europäische Gerichtshof hat das damals aufgehoben. Sie haben in dieser Sache immer nur geredet und geschwätzt. ({2}) Die rot-grüne Koalition hat seit 1998 gehandelt. Das ist der entscheidende Unterschied. ({3}) Jetzt kommen die Unken. Dabei stimmten wir alle darin überein, ein weltumspannendes, neues Netz einzuführen. Leistungsfähige Unternehmen haben sich verpflichtet, das zu machen, und haben uns allen erklärt, dass sie das können. Aber Ihre Freunde von der Telekom und von Daimler-Chrysler haben es nicht zustande gebracht; sie haben sich übernommen und wollen die Verantwortung jetzt dem Minister in die Schuhe schieben. Reden Sie mit Ihren Freunden in der Industrie und sagen Sie ihnen, dass sie den Mund zu voll genommen haben, anstatt bei Manfred Stolpe etwas abzuladen, wofür er nichts kann! ({4}) Jedes große Projekt hat seine Krisen. Da gibt es solche, die wie Sie reagieren: Sie laufen durcheinander wie eine wilde Horde Federvieh, schreien nach Schadenersatz und Klagen. Da gibt es andere wie Manfred Stolpe, der danach fragt, wie man die Sache zum Erfolg führen kann. Das ist der alte Bellheim und Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind hier eher die Hanswurste. ({5}) Es ist unglaublich, angesichts des engen Zeitplans wild durcheinander zu laufen. Jetzt kommt es in erster Linie darauf an, die Freunde von der Industrie an die Hand zu nehmen und sie zu zwingen, dass sie das Projekt zum Erfolg führen. Die Partnerschaft sieht so aus - das sage ich, damit das klar ist -, dass im ersten Teil die Industrie vorleistungspflichtig ist. Aber nun melden sich Leute wie ausgerechnet der Oswald zu Wort und wollen unbedingt den Vertrag einsehen, um zu überprüfen, ob alles in ihm okay ist. Mein lieber Mann! Wer als Nichtjurist behauptet, einen 12 000-seitigen technischen Vertrag mit allem Drum und Dran ({6}) - ja, mit Anlagen; daran sieht man, dass Sie keine Ahnung haben - nur aufgrund der Mantelvereinbarung und ohne Kenntnis der technischen Anlagen auf seine Folgen hin beurteilen zu können, ({7}) der hat von technischen Verträgen null Ahnung. ({8}) Sie setzen auf die Ahnungslosigkeit der Menschen nach der Methode: Kinder, recherchiert nicht zu viel; es hetzt sich dann so schlecht. - So ist doch Ihr Vorgehen. ({9}) Der Minister führt das Projekt zum Erfolg. Er passt auf, dass hinterher diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die nicht zum Erfolg beigetragen haben. ({10}) Unser Minister hat im Gegensatz zu Ihnen die Harmonisierung vorangebracht. ({11}) Er hat die Kommission überzeugt. ({12}) Sie aber haben nur geschwätzt und Forderungen gestellt. Damit haben Sie denen in die Hände gespielt, die uns aufhalten wollen und die in Wahrheit nicht wollen, dass das Projekt realisiert wird. Das ist doch die Wahrheit. ({13}) Wir müssen alles daransetzen - dafür werden wir uns einsetzen und kämpfen -, dass die Maut funktioniert und dass es keine negativen Auswirkungen auf die Investitionen gibt. Ihre schlauen Bemerkungen helfen uns nicht. Sie werden doch die Ersten sein - gerade die CSU-Vertreter haben im Auto immer den Spaten dabei -, die sich um Spatenstiche drängen, wenn die Baustellen eröffnet werden. Aber hier schüren Sie Zweifel. ({14}) Wir werden das Projekt unter Führung von Manfred Stolpe zum Erfolg führen, der in Ruhe und Festigkeit - und nicht zappelig wie Sie - die Sache voranbringt. Herzlichen Dank an den Bundesminister und seine Mitarbeiter! ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der Lehrstunde von Herrn Stiegler sind wir in der Verkehrspolitik einen entscheidenden Schritt weitergekommen. ({0}) Wir werden sehen, was bei der Sache herauskommt. Heute geht es um die Maut und um deren unendliche Geschichte. Heute geht es um Einführungstermine, um die Höhe des finanziellen Schadens und natürlich auch um einige Randbedingungen. Dass das Mautdesaster inzwischen gigantische Ausmaße angenommen hat, darüber sind wir uns alle im Klaren. Bei den Spediteuren herrscht ein komplettes Durcheinander: Die Geräte reichen nicht. Die Geräte funktionieren nicht. Die Geräte passen nicht. Über Zusatzkosten spricht keiner. Herr Schmidt, wir sind uns gewissermaßen einig; Sie haben vorhin die gleichen Fehler dargelegt. Bloß, den von Ihnen hergestellten Zusammenhang mit dem Transrapid kann ich nicht nachvollziehen. ({1}) Der Transrapid fährt; die Maut klappt nicht. Er fährt in China, weil Sie ihn in Deutschland verhindert haben. Das ist der Unterschied. ({2}) Es rumort im Zusammenhang mit der Maut. Deshalb sollten wir nicht nur über das Chaos beim Starttermin sprechen, sondern auch über einige Nebenwirkungen. Der Bundesverband Güterkraftverkehr hat seit langem auf Probleme hingewiesen, die existenzielle Bedeutung für das Gewerbe haben. Neben der Tatsache, dass viele LKWs aufgrund des Ein- und Ausbaus der Geräte nutzlos in den Werkstätten herumstehen, gibt es nämlich nicht wenige Unternehmen, die Existenzsorgen haben. In meinem Land Sachsen fragen sich zum Beispiel 30 Prozent der Unternehmer - denn in diesem Bereich sind in der Regel kleine und mittelständische Unternehmer anzutreffen, die im Regelfall bis zu vier Beschäftigte haben -, wie sie den Start der Maut überhaupt überleben sollen. In Sachsen haben 70 Prozent dieser Unternehmen eine solche Betriebsgröße. Viele davon können nicht an der automatischen Abbuchung teilnehmen, weil ihnen durch die Banken nicht der dafür notwendige Kreditrahmen eingeräumt wird. Angesichts eines Zahlungsziels von durchschnittlich 90 Tagen in diesem Gewerbe verfügen viele kleinere Unternehmen nicht über ausreichend Eigenkapital, um den Vorauszahlungen nachkommen zu können. Von der versprochenen Harmonisierung in Europa ist relativ wenig zu spüren. Bisher ging es höchstens um eine Kostendeckung. Das bedeutet für diese kleinen Unternehmen: Anstellen an den Terminals, Zeitverlust, Zahlung mit Bargeld und Wettbewerbsnachteile. ({3}) Das Ergebnis im Zusammenhang mit der Maut ist für den Güterkraftverkehr niederschmetternd. Im Landesverband Sachsen stehen 10 000 Arbeitsplätze zur Disposition. Die Maut klappt nicht. Betriebe mit wenig Eigenkapital - hiervon ist vor allem wieder der Osten betroffen kommen nicht voran. Es gibt weitere Versuche, in Richtung Osteuropa umzuflaggen. Vom Ministerium aber kommen nur Durchhalteparolen und Fehlinformationen. Joachim Günther ({4}) Ein weiterer Schwerpunkt, der in der Diskussion nach wie vor fast ausgeklammert wird, ist die Situation der Unternehmer in strukturschwachen Gebieten. Dort fallen naturgemäß mehr Leerkilometer an als in Ballungsräumen. Strukturschwache Gebiete gibt es nicht nur im Osten Deutschlands, sondern auch in Schleswig-Holstein und Oberfranken. ({5}) - Es geht nicht generell um die Maut. Ich habe über eine Harmonisierung gesprochen. Hier sind wir nicht entscheidend vorangekommen; das muss man in diesem Zusammenhang deutlich sagen. ({6}) Herr Minister Stolpe, Sie sind sich doch hoffentlich darüber im Klaren, dass Sie den Hut nicht nur für die Maut als Ganzes aufhaben, sondern auch für die Arbeitsplätze, um die es in diesem Zusammenhang geht. Viele dieser Arbeitsplätze sind bedroht; das kann man nicht wegdiskutieren. Vor wenigen Tagen haben Sie in der Presse erklärt, woher der Name Stolpe stammt. Ich fand das ganz interessant. Nicht von stolpern, sondern von Säule, von Nicht-schnell-umfallen sei er hergeleitet. Ihr Ministerium hat drei tragende Säulen: den Verkehr, den Bau und den Aufbau Ost. Ihr Handling im Verkehrsbereich bzw. bei der Maut hat Chaos und leere Kassen hinterlassen. Der Baubereich steckt in der Krise. Vom Aufbau Ost ist nichts mehr zu spüren. All das, was Sie anpacken, scheint wie Pech an Ihnen zu kleben. Haben Sie also den Mut, an diesen Säulen zu rütteln! Gehen Sie in den wohl verdienten Ruhestand! Denn wir brauchen keine starren Säulen. Wir brauchen Bewegung bei der Maut und eine angemessene Harmonisierung. Wir brauchen wieder Hoffnung im Bauwesen und wir wollen nicht, dass der Aufbau Ost in der gleichen Katastrophe endet wie Ihre Maut. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in einer Situation, in der das tägliche Morgengebet der FDP „Die Privaten können und machen alles besser“ offenbar nicht oder zumindest nicht sehr schnell in Erfüllung geht. In einer solchen Situation halte ich es für regelrecht unverantwortlich, davon abzulenken, ständig Minister-Bashing zu machen und so zu tun, als sei die Politik für das verantwortlich, was die Privaten machen. ({0}) Ich sage das deswegen mit dieser Deutlichkeit, weil wir in Zukunft in vielen Bereichen mehr Public Private Partnership wollen. Wenn das dazu führt, dass die Privaten entlastet und quasi heilig gesprochen werden und die Politik auch für das, was sie überhaupt nicht zu verantworten hat, zur Rechenschaft gezogen wird, tun wir der Sache nichts Gutes. Wenn ich jetzt Chefin von Toll Collect wäre - was ich glücklicherweise nicht bin -, würde ich mich zurücklehnen und sagen: Warten wir doch, bis sie den Minister von seinem Posten geschoben haben; ({1}) ich brauche mich doch nicht darum zu kümmern, dass das endlich funktioniert. - Es kann doch nicht wahr sein, dass wir die Verantwortung nicht bei denen lassen, die sie übernommen haben! Darauf bauen unsere Gesellschaft und unser Rechtssystem auf. Ich erwarte auch von der Opposition, dass sie klar zwischen den jeweiligen Verantwortlichkeiten unterscheidet. ({2}) Es geht nicht darum, ob Rot-Grün die Probleme benennen kann. Das können wir. An erster Stelle stehen dabei aber eindeutig die Probleme der Wirtschaft. Diese ist bis heute nicht in der Lage, das Funktionieren zu gewährleisten. Die Punkte sind alle schon genannt worden. Was ich aber jetzt bei Toll Collect und dem dahinter stehenden Konsortium fast noch schlimmer finde, ist, dass sie auch heute noch ständig das Versprechen abgeben, sie würden es morgen schaffen; wir müssten nur einen Tag warten, dann würde alles klappen. Das halte ich für zynisch und das werfe ich denen auch vor. So dürfen Toll Collect und das dahinter stehende Konsortium aus Daimler-Chrysler, Telekom und Cofiroute nicht mit der Politik, der deutschen Öffentlichkeit und dem Steuerzahler umgehen. Das darf von Ihnen nicht auch noch ständig entschuldigt werden. Das ist zurzeit nämlich unser Problem. ({3}) Wir müssen aber auch die Verantwortlichkeiten auf der politischen Seite ansprechen. Ein großes Problem ist, dass der Vertrag unter zu große Vertraulichkeit gestellt wurde. Auch haben wir bis heute keine Klarheit über die Haftungs- und Schadensersatzregelungen und wahrscheinlich war die Politik, aber nicht nur das Ministerium, sondern auch wir Abgeordneten, zu lange zu gutgläubig. Ich wiederhole das, was vorhin auch schon Ali Schmidt gesagt hat: Im Juni hat sich der Verkehrs- und Bauausschuss alles vorführen lassen. ({4}) Wir alle - nicht nur Sie, sondern wir auch - haben bewundert, wie toll das klappt. Die Industrie hat uns weisFranziska Eichstädt-Bohlig gemacht, morgen würde alles funktionieren. De facto war es wie auf dem Jahrmarkt: Drei oder vier Wochen später wurden wir darüber belehrt, dass das alles nicht funktioniert. Das war ein falsches Versprechen von Daimler-Chrysler und der Telekom, von unserer Spitzenindustrie. Das muss man auch laut und deutlich sagen. ({5}) Man muss aber auch sagen, worum sich gerade Minister Stolpe in hohem Maße positiv kümmert. Er macht enormen Druck und sorgt dafür, dass die Arbeitsgruppe fast täglich an dem Problem arbeitet. Er ist derjenige, der uns in der EU hinsichtlich der Einführung der Maut wieder den Rücken freigekämpft hat, Sie haben uns doch die Schwierigkeiten mit der Harmonisierungsregelung eingebrockt. ({6}) Auch hier sollten Sie nicht so selbstgerecht sein, sondern zugeben, welche Fehler Sie gemacht haben. Ich möchte noch einmal sagen: Bei allen unseren Startschwierigkeiten - ich finde, darüber sollten wir ehrlich reden - dürfen wir das Maut-System als Ganzes nicht schlechtreden. Damit werden wir über kurz oder lang einen Exportschlager haben. Wir wollen die anspruchsvollste und modernste Mautregelung haben, eine technologisch wirklich vorbildliche Systematik, die wir dann im Wege des Exports an andere Länder weitergeben können. Insofern fördern wir damit letztlich ein großes und wichtiges Forschungs- und Entwicklungsprojekt. Dass wir damit Anlaufschwierigkeiten haben, ist nicht verwunderlich. Wir hätten uns auch gewünscht, dass der Plan etwas pünktlicher erfüllt worden wäre, als es jetzt der Fall sein wird. Seien Sie daher bitte nicht so euphorisch im Miesmachen, dass wir damit das ganze System schlechtreden. ({7}) Ich warne davor, denn das tut dem Standort Deutschland, den Sie ja auch so lieben, nicht gut. Ich sage als Letztes, was mir jetzt besonders wichtig ist. Herr Minister, Sie haben gestern erklärt, dass mit dem Betreiberkonsortium aktuelle Nachverhandlungen geführt werden. Ich erwarte, dass für uns, das Parlament, für den Steuerzahler und letztlich auch für die Spediteure, die es dann bezahlen sollen, akzeptable Haftungsund Schadensersatzregelungen entweder schon in dem mir nicht bekannten Vertrag enthalten sind oder im Wege dieser Ergänzungsverhandlungen in den Vertrag aufgenommen werden. Machen Sie dem Konsortium klar, dass das Parlament, der Haushaltsgesetzgeber, und der Rechnungshof hinter Ihnen stehen, dass wir ein Recht haben, diesen Vertrag einzusehen, und dass wir in diesem Vertrag klare, solide und ordentliche Regelungen brauchen. Dann werden wir diese Zeit, in der es nicht recht funktioniert, durchstehen. Wir werden Druck auf die Industrie ausüben. Dafür brauchen wir aber eine Regelung auf der politischen Seite. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir den Standort Deutschland bald auch beim Mautsystem wieder nach vorne bringen können und dann sagen können, dass wir das zwar mit einigen Schwierigkeiten, aber letztlich doch à la longue auf konstruktive Weise geschafft haben. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Klaus Lippold das Wort.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den letzten Ablenkungsmanövern müssen wir hier wieder deutlich machen, wer die Verantwortung hat. Das ist ganz klar: Die Verantwortung liegt bei der Bundesregierung und bei diesem Minister. ({0}) Frau Eichstädt-Bohlig hat davon gesprochen, dass es Ablenkungsmanöver gebe. Das stimmt, die gibt es. Die Ablenkungsmanöver kommen von Ihnen, der Koalition und der Bundesregierung, obwohl das Ganze in Ihre Zuständigkeit fällt. Ich will einige nennen. Das erste Ablenkungsmanöver: Sie entdecken Minister Bodewig wieder, den ich hier übrigens lange nicht mehr gesehen habe. Auf einmal ist es nicht mehr Herr Stolpe, der in der Kritik steht, sondern Herr Bodewig. Das stimmt zum Teil; denn ich differenziere stärker als Sie. Man muss hier daran erinnern - das wurde schon gesagt -, dass Herr Bodewig den Vertrag ohne sorgfältige Prüfung durchgepeitscht hat, ({1}) nur um im Wahlkampf ein Argument zu haben. Das ist verantwortungslos. Dieser Vorgang fällt in die Regierungszeit der Regierung Schröder. Das ist aber nur das erste Ablenkungsmanöver. ({2}) Das zweite Ablenkungsmanöver: Wenn dieser Minister früher mit Frau de Palacio, der Verkehrskommissarin der EU, gesprochen und verhandelt hätte, hätten wir früher Ergebnisse bekommen. Im Gegensatz zu dem, was die Koalition sagt, deren Darstellung falsch ist, gibt es bis jetzt nur eine Startfreigabe. Das Gesamtsystem, bei der Mauthöhe angefangen, bedarf erst noch der Bestätigung. Das war also eine Falschdarstellung, die wir in der Form nicht akzeptieren werden. ({3}) Das dritte Ablenkungsmanöver: Wieso soll eigentlich ausschließlich die Industrie schuld sein? Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung und des Ministeramtes hätte Minister Stolpe sofort ein Projektmanagement und Controlling aufbauen müssen. Das hat er nicht gemacht. Das liegt eindeutig in seiner Verantwortung. Dr. Klaus W. Lippold ({4}) Deshalb lassen wir keinerlei Ablenkung zu. Hätten Sie sich, Herr Stolpe, statt sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, mit diesem Managementsystem, das absolute Priorität gehabt hätte, auseinander gesetzt, dann wären wir heute nicht in einer solchen Situation. Sie hätten früher korrigieren können. Das haben Sie nicht gemacht. Diese Schuld müssen wir Ihnen zuweisen und keinem anderen. ({5}) Zwischenzeitlich waren Sie so weit, dass Sie die Verantwortung beim Verkehrsgewerbe gesucht haben, das angeblich nicht genügend Geräte abgerufen habe. Welche Geräte sollten sie denn abrufen? Wie sollten diese Geräte eingebaut werden? Wir diskutieren heute doch darüber, dass der Schrott nicht tauglich ist. So einfach ist das. ({6}) Herr Stiegler, der Sie die so gerne dazwischenrufen, ich komme nun zu Ihnen. Es wurde hier gesagt, das System solle nicht kaputt geredet werden. Damit meinen Sie, wir sollten nicht über die Schwächen der Bundesregierung und dieses Ministers sprechen. ({7}) Das System kann man aber auch dadurch kaputtreden, dass man wie Sie oder gerade Frau Eichstädt-Bohlig über die Industrie schimpft. Das sind zwei Seiten derselben Medaille: Sie können nicht auf der einen Seite auf die Industrie schimpfen und auf der anderen Seite sagen, das sei ein glänzendes System. Herr Stiegler, Sie widersprechen sich mit jedem Satz, den Sie sagen. Ich verstehe, dass Ihre Partei in Bayern so abgeschnitten hat. Bei Führungspersonen wie Ihnen kann ich die 18 Prozent verstehen. Sie werden in Zukunft mit der Zahl der FDP noch nicht einmal spotten können. Das fällt auf Sie selbst zurück. ({8}) Herr Stiegler, Sie Starjurist aus Bayern, ich möchte noch etwas ansprechen. Sie sagen, wir sollten diesen Vertrag nicht anfordern, wir seien Stümper. Sie können noch nicht einmal zwischen Vertragstext und Anlagen unterscheiden. Der Vertragstext umfasst, wenn ich das richtig sehe, etwa 100 Seiten, die Anlagen haben Tausende von Seiten. Wir fordern den Vertragstext. Uns können Sie die Intelligenz zutrauen, einen vernünftigen Vertrag auch richtig lesen zu können. Wenn Sie sich das nicht zutrauen, ({9}) dann frage ich mich, warum Ihre Kollegen von Rot-Grün einen Antrag in den Verkehrsausschuss eingebracht haben, der die Offenlegung der wesentlichen Vertragsteile vorsieht und der den Ausschuss einvernehmlich passiert hat. Das haben Sie vermutlich nicht mitbekommen. Denn Sachfragen stören Sie ja nicht, wenn Sie hier schimpfen wollen. So geht es nicht, Herr Stiegler. 18 Prozent sind genug für Sie. ({10}) Dabei belassen wir es auch. Jetzt komme ich zu einem Punkt, den ich auch noch einmal deutlich machen wollte. Es gibt Ihrerseits klare und eindeutige Schuldanerkenntnisse. Ich will jetzt gar nicht darauf eingehen, dass im Ministerium erst einmal versucht wurde, mit dem Bauernopfer eines Abteilungsleiters von der wahren Verantwortung an der Spitze abzulenken. Es gab jedoch jemanden in Ihrer Partei, der zwar völlig richtig erkannt hat, dass diese Bundesregierung schuld ist, der aber gleichzeitig diesen Minister, der ja so lieb ist, schonen wollte. Deshalb hat er nicht gesagt, dieser Minister müsse gehen, sondern er hat gesagt, zwei Staatssekretäre müssten gehen. Herr Danckert, ich danke Ihnen. Wissen Sie, warum? Wenn jemand aus Ihren Reihen fordert, dass zwei Staatssekretäre gehen müssen, dann ist doch ganz offensichtlich, dass die Schuld bei der Bundesregierung liegt. Wie sollten Sie sonst fordern können, dass zwei Staatssekretäre in die Wüste geschickt werden? Ich gestehe allerdings, dass Sie den zweiten Punkt nicht bedacht haben. Sie haben in Ihrer lieben Art gedacht, Sie würden Herrn Stolpe helfen. Dass das ein Schuldeingeständnis war, hat Herr Müntefering erkannt. Deshalb hat er Sie hinterher in der Fraktionssitzung auch eingestampft. Er wollte nämlich nicht, dass solche Schuldanerkenntnisse öffentlich werden. ({11}) Herr Danckert, Sie haben uns damit, dass Sie die Wahrheit gesagt haben, geholfen. Dafür kann man Sie wirklich nur loben. ({12}) Ich will hinzufügen: Herr Stiegler, wir wollen wissen, was mit den Haftungsregeln ist, was dort vereinbart wurde. Ich meine, wir haben ein Recht darauf, zu schauen, wo was wie gestaltet wird, und nach den Fehlern zu suchen, damit wir sie in Zukunft vermeiden können. Wir wollten dieses Instrument als wegweisendes Verkehrskonzept. Ich muss ganz deutlich sagen: Deshalb haben wir als Union es gemeinsam mit der FDP damals angestoßen. Das ist so leider nicht gelungen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Denken Sie bitte an Ihre nur fünfminütige Redezeit.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. - Wir wollen es auch als industriepolitisches Projekt; daran werden wir weiterhin arbeiten. Daneben wolDr. Klaus W. Lippold ({0}) len wir es als Finanzierungsprojekt PPP. „PPP“ übersetzen wir aber nicht so, wie diese Regierung es tut, nämlich mit: Pannen, Pech und Pleiten. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis. Noch einmal an alle Kollegen: Die Redezeit in der Aktuellen Stunde beträgt jeweils nur fünf Minuten.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle Stunde ist von unserem Kollegen Fischer eröffnet worden. Dessen Ausführungen hat Horst Friedrich auf der gleichen Linie dadurch ergänzt, dass er uns die Vermischung der Verantwortlichkeiten von Politik und Industrie präsentiert hat. Es wurde der falsche Eindruck erweckt, dass Vertragsverletzungen nicht geahndet werden sollen. Daneben wurde mit einem falschen, weil nicht mehr aktuellen Zitat des Präsidenten des Bundesamtes für Güterverkehr gearbeitet. Es wurde der Eindruck erweckt, als sei die Verletzung der Terminkette im Haus nicht registriert worden. All das will ich zurückweisen. ({0}) - Ich will es nicht im Detail zurückweisen, weil das schon getan wurde und weil noch zwei Redner aus unserer Koalition hier auftreten werden. ({1}) Ich möchte den letzten Aspekt, den Herr Lippold angesprochen hat, aufgreifen. Es geht um die Projekte öffentlich-privater Partnerschaften, also um die PPP-Projekte. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition, Sie sollten vorsichtiger sein. Die Wirkung Ihrer vordergründigen Kampagne gegen Bundesminister Stolpe könnte Sie sonst in Widerspruch zu Ihren eigenen Sonntagsreden bringen. ({2}) Sie tun so, als hätte es bei Großprojekten des Bundes noch nie Anlaufprobleme und Probleme mit Terminen und Verpflichtungen von Vertragspartnern gegeben. Das hat es mit trauriger Konsequenz leider auch schon in der Vergangenheit gegeben. ({3}) Es wurden nicht nur hohe Vorlaufinvestitionen aus dem Bundeshaushalt ineffizient eingesetzt; eine andere Folge war auch, dass der erhoffte Nutzen für den Bund bei manchen Projekten erst verspätet eingetreten ist. Das soll bei PPP-Projekten ja anders sein. ({4}) Der Betrieb des Mauterfassungssystems ist ein echtes PPP-Projekt. Die Risiken müssen zwischen der öffentlichen Hand und dem Industriekonsortium fair verteilt werden. Sie reden zum Beispiel nicht darüber, dass die Industrie die Kosten für die Errichtung des Systems zu tragen hat. Entgelte für die Refinanzierung stammen nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern aus den Einnahmen des Systems. Das bedeutet ein hohes Risiko für das Konsortium. Hinzu kommen erhebliche Risiken wegen möglicher finanzieller Verluste und wegen des Imageverlustes, den es zurzeit wegen der Vertragsverletzungen und der offensichtlichen Pannen natürlich gibt. ({5}) Sie wissen auch, dass es in der Vergangenheit Versuche gab, PPP-Lösungen zu installieren, die gerade an der Risikoverteilung zwischen der öffentlichen Hand und den privaten Betreibern gescheitert sind. ({6}) Für uns war es schlicht unakzeptabel, wenn versucht wurde, alle Risiken bei der öffentlichen Hand abzuladen. Genauso muss es natürlich auch im umgekehrten Fall, beim anderen Extrem sein. Ihre jetzige Kampagne mit Verdächtigungen und Halbwahrheiten gegen den Minister ({7}) führt Sie industriepolitisch in eine Sackgasse. Ihr Vergnügen daran, jeder nicht funktionierenden On Board Unit hinterherzuhecheln, Ihre Freude daran, dass es Software-Probleme gibt, ({8}) kann für das Interesse an PPP-Projekten doch nur abschreckend wirken. Wie wollen Sie denn mit einer solchen Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland den Boden für die Verbreitung von PPP-Projekten bereiten? Der Verkehrsausschuss hat gestern entschieden, dass er darüber informiert werden will, wie die Risikoverteilung im Vertrag geregelt ist. ({9}) Es geht uns natürlich auch um die Frage, wie mit den Einnahmeausfällen umgegangen wird. Aber die Spekulationen darüber - und nur Spekulationen können Sie heute hier anstellen - müssen endlich beendet werden. Auch die Öffentlichkeit möchte Informationen und sie hat einen Anspruch darauf. Deshalb verlangte meine Fraktion gestern im Fachausschuss Einsicht in die Vertragspassagen, die die Risikoverteilung betreffen, und zwar ohne Beeinträchtigungen und ohne das Siegel von Reinhard Weis ({10}) Verschwiegenheit. Wir haben das gestern im Ausschuss gefordert, Sie haben es abgelehnt. Auch der Minister hat ein Interesse an dieser offenen und transparenten Vorlage des Vertrages und wir erwarten deswegen von der Industrie, dass sie in diesem Punkt für Transparenz sorgt. ({11}) An die Opposition gewandt möchte ich noch sagen: Schütten Sie in dieser Situation, in der wir über die Risikoverteilung nur spekulieren können, weil das Industriekonsortium uns die Vertragseinsicht noch nicht ermöglicht hat, nicht das Kind mit dem Bade aus. Verbauen Sie nicht die Optionen für weitere öffentlich-private Partnerschaften bei der Finanzierung von Investitionen im öffentlichen Interesse, ({12}) die wir brauchen, um beispielsweise Verkehrsprojekte, für die aufgrund der Haushaltslage des Bundes nicht genügend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, in erforderlichem Maße zu finanzieren. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Gäste darf ich sagen: Ich bin Abgeordnete der PDS. ({0}) Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, Ulrich Wickert fragt in den „Tagesthemen“ Herrn Schrempp, den Vorstandsvorsitzenden von Daimler-Chrysler, zur LKW-Maut: „Herr Schrempp, Sie verdienen ca. 5,6 Millionen Euro im Jahr und Sie sind nicht in der Lage, einen Auftrag fristgemäß zu erfüllen. Werden Sie jetzt aus Scham Ihr Gehalt um 20 Prozent kürzen?“ ({1}) Ich glaube, das wäre schlimmer als der damalige Vergleich von US-Präsident Bush mit Bin Laden; es wäre in Deutschland Majestätsbeleidigung. In dieser Woche lud der Bundesverband der Deutschen Industrie viele Gäste nach Berlin ein, und eine der wichtigsten Forderungen der Veranstaltung in der Breiten Straße war: Der Staat soll sich auf seine Kernkompetenzen zurückziehen und mehr und mehr Aufgaben der Wirtschaft überlassen; die könne doch schließlich alles billiger und besser. ({2}) Das Beispiel LKW-Maut hat uns eines Besseren belehrt. Es geht hier nicht um kleine mittelständische Unternehmen, sondern um zwei der größten deutschen Konzerne, um Daimler-Chrysler und die Deutsche Telekom. Viele Menschen werden sich fragen, warum sie ganz selbstverständlich Mahnbescheide befolgen und Vertragsstrafen zahlen müssen, wenn diese beiden Unternehmen es offenbar schaffen, solche Vertragsstrafen vertraglich ausschließen zu lassen. Das, was man über den Vertrag bisher erfahren hat, erweckt doch den Eindruck, es sei den Anwälten dieser großen Unternehmen gelungen, den Beamten die Texte für die Verträge in den Block zu diktieren. Wenn zuständige Beamte und auch Minister so fahrlässig mit Steuergeldern umgehen, ist das meiner Ansicht nach ein Fall für den Staatsanwalt. ({3}) Es stellen sich jedoch auch grundsätzliche Fragen: Warum wurde ein System neu entwickelt, obwohl in der Schweiz ein funktionsfähiges Mauterhebungssystem einwandfrei ohne GPS funktioniert? Warum eigentlich wurde ein System entwickelt, das die totale Kontrolle ermöglicht und unzählige Daten erfasst, die für die Mauterhebung gar nicht benötigt werden? Was sagt eigentlich der Datenschutzbeauftragte dazu? Gestern wurde in verschiedenen Ausschüssen über diesen Fall gesprochen. Im Haushaltsausschuss wurde merkwürdigerweise doch nicht über die Anträge aus den verschiedenen Fraktionen abgestimmt, die Verträge offen zu legen. Aber ich gehe davon aus, Herr Minister Stolpe, dass es Ihr größter Wunsch ist, die Offenlegung der Verträge für die Abgeordneten und für die Öffentlichkeit sicherzustellen. Ich gehe weiterhin davon aus, Herr Minister Stolpe, dass es auch Ihr größter Wunsch ist, diesen Subventionsskandal aufzudecken. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber. ({0})

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, was Minister Stolpe sagte: Das Mautsystem zur Erhebung der streckenbezogenen LKW-Gebühr mit der von uns ausgewählten Technik ist ein Jahrhundertwerk. Aber so, lieber Herr Minister, wie Sie, Ihr Haus und Ihr Vorgänger es angelegt haben, haben Sie es fast zum Jahrhundertmurks gemacht. Wenigstens sind wir kurz davor, dass die Öffentlichkeit in Deutschland und Europa davon ausgeht, dass die Deutschen nicht einmal mehr in der Lage sind, ein System zu entwickeln, das in Europa und überall in der Welt schon funktioniert. Herr Minister, für diesen Murks tragen Sie die Verantwortung. ({0}) Die Murkser sitzen hier. ({1}) Seit Rot-Grün die Verkehrspolitik organisiert, ist der Murks in dieser Politik an allen Ecken und Enden zu sehen. Immerhin ist es so weit gekommen, dass offensichtlich selbst der Kanzler erkannte, dass drei Minister Murkser waren; denn er hat sie schon abgelöst. Die Entlassung des vierten Ministers aufgrund seines dilettantischen Vorgehens in dieser Sache ist zumindest schon in Sichtweite. Lieber Herr Minister Stolpe, wir alle wissen, dass Sie erst seit einem Jahr Minister sind. Aber Sie können sich nicht mit der Behauptung aus der Verantwortung stehlen, dass Sie von nichts gewusst haben. Als Sie im November des letzten Jahres zum ersten Mal im Verkehrsausschuss waren, haben wir Ihnen genau die Probleme geschildert; denn das ganze Vorgehen bei der LKW-Maut war vom ersten Tag an Murks. Schon die Ausschreibung war vermurkst. Die Vergabe war so vermurkst, dass man drei Gerichte bemühen musste, um sie zu regeln. Wenn zwei Tage vor der Bundestagswahl ein solcher Milliardenvertrag unterschrieben wird, dann muss man kein Hellseher sein, um zu wissen, dass in diesem Vertrag offensichtlich erhebliche Fehler und Mängel enthalten sind. ({2}) Wir haben zwar keine Erkenntnisse, aber eine Information aus verschiedenen Richtungen, dass nicht die Wirtschaft, sondern Sie die Veröffentlichung dieses Vertrages fürchten. ({3}) Man kann fast schon spüren, dass in diesem Vertrag wahrscheinlich nicht enthalten ist, wann der Starttermin sein sollte, wie viele Geräte in die LKWs eingebaut werden müssen und wer zahlt, wenn das System nicht funktioniert. ({4}) Wir vermuten, dass der Auftraggeber den Vertrag nicht so formuliert hat, dass der Auftragnehmer spuren muss. ({5}) Deshalb müssen wir sagen: Sie und diese Regierung tragen dafür die Verantwortung, nicht die Industrie. Wenn Sie dafür nicht die Verantwortung übernehmen und deshalb Ihren Hut nehmen, dann muss man sich fragen, was in diesem Land noch passieren muss, bevor ein Minister freiwillig geht, damit sein Nachfolger die Sache besser regeln kann. Wenigstens einen Teil der Verantwortung sollten Sie übernehmen. Herr Minister, aus dieser Sache kommen Sie nicht mehr heraus. Ich nenne Ihnen einen zweiten Grund, warum Sie aus dieser Sache nicht mehr herauskommen. In Ihrem Hause und im Kanzleramt wurde die Harmonisierung mit den Unternehmerverbänden besprochen und versprochen. Man hat im Kanzleramt, nicht in der Opposition, in der letzten Legislaturperiode festgelegt: Harmonisierung so groß wie möglich. Die Summe von 600 Millionen haben nicht wir erfunden. ({6}) Die wurde damals den Unternehmern im Kanzleramt zugesagt. ({7}) - Man merkt, dass Sie es wissen. Deshalb tut es weh. ({8}) Die absolute Unverschämtheit, Lug und Trug in der Politik, kommen zum Tragen, wenn der Bundeskanzler erklärt: ({9}) Wir bemühen uns zwar, in Brüssel Harmonisierungsschritte nach den Vorgaben des Vermittlungsausschusses umzusetzen, aber wenn das dort nicht akzeptiert wird, dann gibt es eben nichts. ({10}) Wenn Sie schon nicht in anderen Bereichen die Verantwortung übernehmen wollen, Herr Minister Stolpe, dann müssen Sie sie in diesem Bereich übernehmen. Sie müssen sagen: Herr Bundeskanzler, entweder Sie nehmen diesen Satz zurück oder ich trete ab. ({11}) Sie haben doch die Verantwortung für 100 000 Unternehmen. Arbeitsplätze werden in diesem Land im nächsten Jahr verloren gehen, weil wir keine Harmonisierung und keinen gleichartigen Wettbewerb haben. Dafür sind Sie der Hauptverantwortliche. ({12}) Ich sage Ihnen, Herr Minister, es gab hier einmal jemanden, der sagte: Avanti Dilettanti. Ich rufe Ihnen das zu. Nehmen Sie Ihre Staatssekretäre gleich mit. Ich bin überzeugt, wenn der Pförtner die Arbeit bei Ihnen macht, wird es mit Sicherheit nicht schlechter. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunter Weißgerber.

Gunter Weißgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002464, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition scheint arm dran zu sein. Ohne Steilvorlagen aus der Koalition hätten Sie nicht einmal ein Thema für die Aktuelle Stunde des heutigen Tages gehabt. ({0}) Von wegen „Rufe aus dem Walde, aus der Koalition“! Natürlich sind die aktuellen Mautschwierigkeiten extrem ärgerlich und vor allem kommen sie uns teuer zu stehen. Aber bei dieser Diskussion sollten wir auf die Gewichtung achten. Der Vertrag ist die eine Seite. Darüber wollen wir alle Aufklärung. Ich erinnere an die gestrige Haushaltsausschusssitzung. Der Minister hat angeboten - Sie haben daraufhin Ihren Antrag zurückgezogen -, in den nächsten zwei Wochen für Aufklärung zu sorgen und mit dem Konsortium zu reden, dass der Vertrag gänzlich offen gelegt wird. Ich mache aber eine wichtige Einschränkung: Die Betriebsdaten, das, was patentrechtlich geschützt ist, und technische Details sollen natürlich nicht in die Öffentlichkeit gelangen. ({1}) Das ist klar, schon aus Gründen des Schutzes vor der Konkurrenz. Aber die anderen Daten wie Zahlungsmodalitäten, Leistungsverpflichtungen, Gewährleistungen, Schadensersatz- und Vertragsstrafenregelungen und Zeitpläne wollen wir wissen. Das alles muss offen gelegt werden. ({2}) Wichtiger als die Vertragskontrolle und Vertragsvollziehung ist für mich in diesem Moment aber die Frage, warum wir noch keine Mauteinnahmen haben. Sie wissen, monatlich fehlen 163 Millionen Euro. Es gibt eine Vereinbarung mit dem Finanzminister, dass er den Betrag vorschießt und wir ihn bis zum Jahr 2006 im Einzelplan 12 wieder erwirtschaften müssen. ({3}) Teil dieser Vereinbarung ist, dass die Ansätze für Verkehrsinfrastrukturmittel nicht angetastet werden. ({4}) Ich bin Haushaltspolitiker der Koalition und stehe dazu. Sie können auch dazu beitragen, dass das tatsächlich in den nächsten Jahren geschieht und letztlich ein Erfolg wird. ({5}) Wer ist denn an den fehlenden Mauteinnahmen tatsächlich schuld? Das ist doch nicht der Vertragspartner, der zu zahlen hat, sondern der Vertragspartner, der die Leistungen zugesagt hat. ({6}) Daraus ergeben sich für mich Fragen an die Industrie. Es sind allesamt Weltfirmen. Davon mache ich keinen Abstrich. Ich unterstelle nicht einmal, dass es anders ist. Eine Weltfirma muss aber bestimmten Ansprüchen genügen. Ich habe mir den Internetauftritt der Telekom und den von Daimler-Chrysler angesehen. Bei der Deutschen Telekom steht: Die Deutsche Telekom AG setzt als eines der vier weltweit größten Telekommunikationsunternehmen internationale Maßstäbe. Auf der Homepage von Daimler-Chrysler steht unter anderem: Die Strategie von Daimler-Chrysler basiert auf vier Säulen: globale Präsenz, starkes Markenportfolio, umfassendes Produktprogramm sowie Technologie- und Innovationsführerschaft. ({7}) Das steht aus meiner Sicht auch berechtigt darin, aber im Moment genügen sie diesen Ansprüchen nicht. Die Verantwortung für die Misere liegt tatsächlich bei der Partei, die versprochen hat, die Leistungen zu erbringen. Es stellt sich für mich schon die Frage: Ist hier der Mund zu voll genommen worden, wie dilettantisch ist an die Arbeit gegangen worden? Herr Oswald und andere erwecken ja den Eindruck, dass auch die Bundesregierung und die Koalitionsabgeordneten - möglicherweise im Fraktionsraum - On Board Units, selbst zusammenbasteln sollen. Wir scheinen ja diejenigen zu sein, die es nicht zustande bringen. ({8}) - Ja, so ähnlich haben Sie das gesagt! ({9}) - Genau! Deshalb gibt es ja den Vertragspartner, der uns die Lieferungen zugesichert hat. Die Mauteinführung hätte von Anfang an Chefsache im Konsortium sein müssen. Im Moment scheinen die Chefs des Konsortiums das auch zu erkennen, leider zu spät. ({10}) Abschließend bleibt für mich festzustellen: Vertragstreu ist die Bundesregierung, vertragsuntreu ist im Moment das Konsortium. Das sollten Sie beachten. Als Haushälter erwarte ich selbstverständlich, dass der Probebetrieb schnellstmöglich beginnt und wir schnellstmöglich zu Mauteinnahmen kommen. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren! Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Dietrich Austermann das Wort.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Weißgerber hat sich zu dem Thema Mauteinnahmen geäußert. Ich will gleich die konkreten Zahlen nennen, damit man genau weiß, was durch Versäumnisse der Industrie und aufgrund mangelnder Aufsicht des Ministers bisher an Schaden entstanden ist. Aber zunächst möchte ich daran erinnern, was eigentlich beabsichtigt war. Es war beabsichtigt, ein Verkehrssystem zu schaffen, das zusätzliche Einnahmen bringen sollte. Damit wollte man mehr in die Verkehrsinfrastruktur investieren ({0}) und eine stärkere Beteiligung insbesondere des ausländischen Speditionsgewerbes erreichen. Natürlich hat man unterstellt, dass dann mehr in Straßen investiert wird und mehr Staus beseitigt werden können. Ich erinnere mich noch daran, dass Sie vor drei Jahren Karten veröffentlicht haben, aus denen hervorging, welche Straße ganz konkret verbreitert und was alles von dem zusätzlichen Geld, das man einnimmt, gemacht werden sollte. Wenn man sich heute die Situation ansieht, muss man einfach sagen, dass es so ist wie bei fast jedem anderen Thema: Was Sie machen, machen Sie schlecht! ({1}) - Ja, natürlich! Was Sie machen, machen Sie schlecht! Der Minister hat gestern im Ausschuss gesagt: Ich weiß nicht, was ich konkret hätte machen können. Genau das ist das Problem! Er weiß nicht, was er eigentlich machen müsste. Deswegen sagen wir: Wenn er nicht weiß, was er machen muss, ist er auf diesem Posten der Falsche. Ein Auftragnehmer, wie gut oder wie schlecht er auch immer ist, hat den Anspruch darauf, dass der Auftraggeber ihn ernst nimmt, ihn fordert und ihn zum Ergebnis treibt. Einer, der nur dasitzt, zuschaut und nicht weiß, was er tun soll, hat dann auch konkret den Schaden zu vertreten, den wir heute haben. Jetzt nenne ich die Zahlen. Herr Stolpe gibt ja jede Woche, jeden Tag andere Zahlen an. Im Haushalt dieses Jahres stehen Einnahmen in der Größenordnung von 1 Milliarde Euro durch die Maut. Diese 1 Milliarde wird in diesem Jahr nicht fließen. Das heißt, der Finanzminister bekommt ein Problem. Weil er dieses Problem hat, gibt es weniger Geld für Infrastruktur. Weil es weniger Geld für Infrastruktur gibt, gibt es in Deutschland mehr Staus. Genau das ist das Problem. Das heißt, alles das, was einmal beabsichtigt war, ist bisher total gescheitert. ({2}) Wenn Sie dagegenrechnen, welche Erfassungskosten es gibt, heißt das, dass netto mit Sicherheit mindestens 640 Millionen Euro, mit denen wir gerechnet haben, in diesem Jahr fehlen werden. Wenn ich erkenne, dass das Ganze nicht läuft, muss ich doch wenigstens die Vignette weiterlaufen lassen. ({3}) Die litauischen LKW-Fahrer gehen heute noch an die Grenzstation Pomellen und wollen ihre Vignette bezahlen. Dieses Geld geht verloren. Das sind in diesem Jahr allein 170 Millionen Euro, die Sie bei dieser Geschichte drauflegen müssen. ({4}) - Ja, natürlich. Wenn man erkennt, dass die Einführung der Maut nicht klappt, hätte man doch sagen müssen: Wir machen ein Gesetz, das aus einem Satz besteht, nämlich: Die Vignette gilt weiter, bis die Maut eingeführt ist. Das ist doch eine ganz einfache Geschichte. ({5}) Jetzt brauchen Sie sich nicht weiter aufzuregen. Sie sind doch auch nicht zufrieden mit dem Verfahren, mit der Entwicklung und mit dem totalen Scheitern. Weshalb haben denn die Grünen und die Roten im Haushaltsausschuss gefordert, die Verträge offen zu legen? Das haben sie doch nicht gefordert, weil sie meinen, dass der Minister alles richtig macht, sondern weil sie glauben, dass die Verträge zulasten des deutschen Steuerzahlers gehen. ({6}) Genau das ist auch unsere Sorge, weil nämlich ständig Änderungen zur Entlastung der Industrie vorgenommen wurden, die diese von jedem Druck und jedem Risiko befreien. Sie haben ausgeführt, Herr Stolpe: Wir müssen über Schadensersatz und Haftung verhandeln; vielleicht können wir auch das BGB anwenden. Das heißt doch, dass es zu den für jeden Vertrag wichtigen Themen Schadensersatz und Haftung keine vernünftigen gültigen Regelungen gibt. Wer hat denn die Verträge gemacht und was ist in der Zwischenzeit passiert? ({7}) Sie haben gestern im Haushaltsausschuss und auch heute darauf hingewiesen, dass Sie sich am 13. November vergangenen Jahres mit Frau de Palacio getroffen und mit ihr über Harmonisierung - das heißt, über eine zumindest teilweise Entlastung des deutschen Güterkraftverkehrs - gesprochen haben. ({8}) Wir wollten schließlich auch, dass die Ausländer endlich für das Verhunzen unserer Straßen bezahlen. Was ist seitdem passiert? Inzwischen sind zehn Monate vergangen. Sie haben zwar damals darüber gesprochen, aber dann ist nichts passiert. Was ist das für ein Ergebnis, wenn man zehn Monate lang Minister ist und sich bis heute nichts bewegt hat? ({9}) Er hoffe, hat er gestern gesagt, dass bis zum Jahresende ein Ergebnis erzielt wird. Davon, wie dieses Ergebnis aussehen könnte, hat er bis heute keine Vorstellung. Das Problem ist, Herr Stolpe - das ist der eigentliche Vorwurf, den man Ihnen machen muss -, dass Sie immer wieder feststellen, dass das Ziel fast erreicht ist und gute Fortschritte erzielt werden. Gestern hat er überraschenderweise festgestellt, dass er schon immer den Beginn des Mautbetriebs am 1. Januar 2004 befürwortet habe, ({10}) dass das System zeitnah eingeführt werde und das finanzielle Risiko begrenzt sei. Mit dieser Verniedlichung der bestehenden Probleme erwecken Sie bei uns den Eindruck, dass Sie das Problem und damit auch die notwendigen Schritte, um das Problem zu verkleinern, nicht erkennen können. Deswegen stimme ich der Feststellung des Kollegen Fischers zu. Es tut mir leid, aber Sie sind in Ihrer Position fehl am Platz. ({11}) Sie hatten vor einem Jahr festgestellt, dass Sie eigentlich genug getan hätten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege!

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin fast fertig. - Herr Schmidt und Herr Stiegler haben Sie so gelobt, als hätten Sie einen zweiten Orden verdient. Sie hätten es aber damals dabei belassen sollen. Wenn einem der Schwung fehlt, die Dinge zu gestalten, sollte man abtreten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Uwe Beckmeyer das Wort. Er ist der letzte Redner in der Aktuellen Stunde.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man, wie ich es getan habe, die Beiträge der Opposition heute Mittag verfolgt hat, hat man feststellen können, dass es nur um eines geht, nämlich darum, diesen Minister zu beschädigen. Sie wollen nur draufhauen. Ihnen geht es nicht darum, eine Sache zu fördern; Sie wollen vielmehr einer Person schaden. Sie reduzieren das gesamte Problem auf eine Person. Das ist, denke ich, völlig unangemessen. ({0}) Erstens. Es gibt - das ist durch die Presse seit Monaten bekannt - Probleme. Aber es handelt sich dabei nicht um ein Personalproblem, sondern um ein Technikproblem. Zu den Personen, die den Vertrag unterschrieben haben, gehören unter anderem die Herren Mangold und Brauner. Zu diesen Herren haben Sie sich aber heute mit keinem Wort geäußert. Zweitens. Ich halte an dieser Stelle fest, dass wir alles tun müssen, um den Vertragspartner zu veranlassen, die technischen Schwierigkeiten zu überwinden und sein Werk zu vollenden, und zwar zeitnah. ({1}) Drittens. Es ist immer wieder angesprochen worden, dass Rot-Grün eine Chance vertan habe. Weshalb hat Rot-Grün eine Chance vertan, Herr Oswald? In DeutschUwe Beckmeyer land wird seit 20 Jahren über die Maut gesprochen. 16 Jahre davon hatten Sie die Regierungsverantwortung. Bis auf die Eurovignette - das war ein Selbstläufer - haben Sie aber nichts erreicht. ({2}) Danach kam etwas Schwung in die Angelegenheit. Wir haben einen Vertrag unterzeichnet und sind jetzt - die EU-Kommission hat vor einigen Tagen einen Richtlinienentwurf vorgelegt, wodurch deutlich wird, dass dem satellitengesteuerten System in Europa die Zukunft gehören soll - technisch auf dem Weg, ein solches System zu entwickeln. Wir werden dieses System in Deutschland einführen, und zwar, wie ich hoffe, zeitnah. ({3}) Viertens. Sie fordern Transparenz und weisen darauf hin, dass Deutschland Klarheit braucht. Natürlich braucht Deutschland Klarheit. Wenn aber die relevanten Vertragsbestandteile aufgedeckt werden sollen - darauf hat Reinhard Weis vorhin zu Recht hingewiesen -, dann stimmen Sie im zuständigen Ausschuss dagegen. Ihnen ist es letztlich egal, ob die Öffentlichkeit oder das Parlament den Vertrag einsehen kann. Ihnen geht es doch nur darum, in der Bude Qualm und Rauch zu erzeugen, damit entsprechende Personen beschädigt werden. ({4}) Ich gebe zu, dass man mit dem, was bisher in technischer Hinsicht abgelaufen ist, überhaupt nicht zufrieden sein kann. Bislang haben wir das mit Großmut ertragen. Aber unser Großmut ist nun zu Ende. Wir werden uns darum zu bemühen haben, dass auch die finanziellen Fragen, die Sie, Herr Austermann, angesprochen haben, geklärt werden. Es muss geklärt werden, was nun geschehen soll, da uns in diesem Jahr 640 Millionen Euro durch den - so muss man es wohl nennen - Vertragsbruch des Konsortiums drohen abhanden zu kommen. Auch darum geht es bei der Auseinandersetzung mit Toll Collect bzw. mit den entsprechenden Firmen, die das Konsortium bilden, über das Vertragswerk. Ich möchte keinen Spott in diese Diskussion hineinbringen. Man kann sicherlich über das spotten, was dort in technischer Hinsicht abgelaufen ist. Aber es ist unsere Pflicht - Ludwig Stiegler hat das bereits gesagt -, dieses für Deutschland ausgesprochen wichtige technologische Projekt zu befördern und so nach vorne zu bringen, dass es in Zukunft - hoffentlich - ein Exportschlager wird, von dem wir in Deutschland in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht profitieren können. ({5}) Ich finde es unerhört, Herr Austermann, wenn Sie sagen, dass man die Eurovignette kurzfristig habe weiterlaufen lassen können. Sie haben keine Ahnung von dem Verbundstaatenvertragswerk bezüglich der Eurovignette. Null Ahnung! ({6}) In § 17 steht, dass neun Monate vorher gekündigt werden muss. Das können Sie doch nicht einfach außer Acht lassen. ({7}) Sie behaupten, dass das, was Sie fabulieren, die Wahrheit sei. Nein, das ist falsch. Rot-Grün hat in diesem Fall richtig gehandelt. Das gilt auch im Hinblick auf das Vertragswerk. ({8}) Über die Harmonisierungsbeiträge gibt es ständig Auseinandersetzungen mit Ihnen, Herr Fischer. Der Beschluss des Bundestages und des Bundesrates auf der Grundlage des Ergebnisses im Vermittlungsausschuss legt fest, dass der Mautsatz vorab - das ist Ihr Vorschlag gewesen - im Umfang von 600 Millionen Euro gesenkt werden muss. ({9}) Die Maut kann erst erhöht werden, wenn europaweit eine entsprechende Harmonisierung durch Konsultationen erzielt worden ist. Wenn Sie dem deutschen Volk und in diesem Hause erklären, es gebe keinen Harmonisierungsbeitrag, dann muss ich sagen, dass das falsch ist. Der entsprechende Harmonisierungsbeitrag ist bereits per Beschluss dieses Hauses - dem haben Sie zugestimmt - umgesetzt worden. ({10}) Ich kann Ihnen die entsprechende Stelle vorlesen: Zur Erreichung dieses Ziels hält es der Deutsche Bundestag für angemessen, dass der Eingangssatz für die LKW-Maut auf zunächst durchschnittlich 12,4 Cent pro Kilometer festgelegt wird und dass dieser Mautsatz je nach Wirksamwerden und nach Umfang der Maßnahmen, die in den voranstehenden Punkten aufgeführt sind und die teilweise einer vorherigen Zustimmung der EU-Kommission bedürfen, auf das ursprünglich vorgesehene Niveau der Mautsätze von durchschnittlich 15 Cent festgesetzt wird. ({11}) Dass in diesem Zusammenhang konsultiert werden muss, wussten sowohl Sie als auch wir. Wir sind nicht säumig, sondern es wird verhandelt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten. Sie können höchstens noch einen halben Satz sagen.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin, ich bitte um Entschuldigung. Ich komme zum Schluss. Ich habe versucht, darzulegen, dass man sich nicht wie die Opposition wie Ochsenfrösche aufblasen und kein falsches Zeugnis ablegen darf. Das, was die Opposition gemacht hat, lassen wir ihr nicht durchgehen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland durch Novellierung des Berufsbildungsrechts - Drucksache 15/1348 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2003 - zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Offensive für Ausbildung - Modernisierung der beruflichen Bildung - zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - Lehrstellenmangel bekämpfen - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({2}), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland - mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass - Drucksachen 15/1000, 15/741, 15/653, 15/587, 15/1302 Berichterstattung: Abgeordneter Willi Brase Werner Lensing Christoph Hartmann ({3}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen - zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({6}), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren - Drucksachen 15/1090, 15/925, 15/1130, 15/1304 Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Küchler Werner Lensing Cornelia Pieper Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Wir debattieren heute über den Berufsbildungsbericht 2003 und die dazugehörigen Anträge der verschiedenen Fraktionen zur Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung. Hinzu kommen die verschiedenen Vorschläge zu der Frage, ob wir in unserem Land eine neue Finanzierungsregelung brauchen, um ein der Nachfrage entsprechendes Ausbildungsplatzangebot sicherstellen zu können. Das ist die formale Seite dieser Debatte. Ich will aber gleich zu Beginn an Folgendes nachdrücklich erinnern: Wir sprechen heute in erster Linie über Berufs- und Lebenschancen junger Menschen. Wir sprechen über annähernd zwei Drittel der Jugendlichen in unserem Land, für die eine gute, qualifizierte Berufsausbildung nicht nur der Schlüssel zum Arbeitsmarkt ist, sondern auch die Basis für soziale Integration und für gesellschaftliche Teilhabe darstellt. ({0}) Wir sprechen damit auch über die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Zukunft unseres Landes, kurz: über unser Land. Eines ist nämlich vollkommen klar: Wenn wir in Deutschland den vorhandenen Wohlstand sichern wollen, wenn wir ihn weiter ausbauen wollen, wenn wir im Innovationswettbewerb Schritt halten und vorne sein wollen, dann brauchen wir dazu vor allem gut ausgebildeten Nachwuchs, qualifizierte, engagierte und motivierte Menschen, Fachkräfte genauso wie Ingenieure und Naturwissenschaftler. Die Bundesregierung hat deshalb bereits zu Beginn des Jahres alle Verantwortlichen zusammengerufen, um mit ihnen gemeinsam zu beratschlagen, wie wir in diesem Jahr sicherstellen können, dass alle Jugendlichen eine Chance erhalten, sozusagen den Schlüssel zu einem erfolgreichen Berufsleben in die Hand zu bekommen; denn wir wussten seit dem letzten Winter, dass wir in diesem Jahr - im Gegensatz zu den vorherigen Jahren eine extrem schwierige Situation vorfinden. Wir haben bereits Ende April gemeinsam mit den Sozialpartnern, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, die Ausbildungsoffensive 2003 gestartet und eine ganze Reihe von Maßnahmen durchgeführt, um mehr Betriebe für berufliche Ausbildung zu gewinnen. Wir beteiligen uns mit rund 95 Millionen Euro an der Finanzierung von circa 14 000 betriebsnahen Ausbildungsplätzen in den neuen Bundesländern, weil die dortige Ausbildungssituation nach wie vor sehr schwierig ist. Wir fördern Jugendliche mit schlechten schulischen Voraussetzungen - Jugendliche ohne Hauptschulabschluss, Jugendliche mit einem schlechten Hauptschulabschluss -, damit auch sie die Voraussetzungen dafür erhalten, erfolgreich ins Berufsleben zu starten. Wir unterstützen die Kammern, Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern, durch den Einsatz von Ausbildungsplatzentwicklern. Wir lassen die Betriebe mit ihren Anstrengungen und Aufgaben nicht allein; wir unterstützen sie, und zwar nicht nur bei der Suche und bei der Einstellung von Auszubildenden, sondern auch im gesamten Zeitraum der Ausbildung. Wir haben die Ausbilder-Eignungsverordnung außer Kraft gesetzt und damit vielen Betrieben, die bereit und auch in der Lage sind, auszubilden, den Zugang zur Ausbildung ermöglicht. Mit all diesen Anstrengungen ist es uns gelungen, allein in den letzten Monaten circa 12 000 zusätzliche Ausbildungsstellen zu gewinnen. ({1}) Das zeigt auf der einen Seite: Es ist etwas geschafft worden; aber es ist nicht genug geschafft worden. Es gab am Ende des Monats August immer noch viel zu viele Jugendliche, die noch keine Lehrstelle gefunden hatten und denen noch kein Ausbildungsplatzangebot vorlag. Das treibt uns alle miteinander um. Das ist auch einer der Gründe, weshalb wir diese Debatte - zu Recht - führen. Ende August gab es 167 640 Jugendliche, die noch keinen Ausbildungsplatz hatten. Ihnen standen 54 500 unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Die so genannte rechnerische Lücke betrug also 113 000. Das liegt jetzt fast einen Monat zurück. In diesen letzten vier Wochen - das wissen wir - hat sich noch eine ganze Menge getan. Wir wissen noch nicht, wie die konkrete Ausbildungsplatzsituation jetzt aussieht. Nichtsdestotrotz sage ich ausdrücklich: Es gibt keinerlei Anlass, ein Zeichen der Entwarnung zu geben und zu sagen: „Es ist geschafft“, weil wir nach allen Daten, die uns zur Verfügung stehen, feststellen müssen, dass rund 35 000 weniger Ausbildungsplätze als im vergangenen Jahr vorhanden sind. Das ist das, was mir jedenfalls wirklich ganz große Sorge macht. Wir können es nicht zulassen - das sage ich noch einmal ausdrücklich, auch für die Bundesregierung, und, ich denke, für den Bundestag -, dass 50 000, 60 000 Jugendliche vor dem Nichts stehen, ({2}) die nämlich keine berufliche Ausbildung haben und damit nicht den Schlüssel zu einem erfolgreichen Berufsleben in der Hand haben. Das ist nicht verantwortbar. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir alles dafür tun, dass das Blatt noch gewendet wird. Wenn das Blatt noch gewendet werden soll, dann müssen vor allem die Unternehmen und die Betriebe zu einem außerordentlichen Engagement bereit sein. Ich weiß, dass viele Unternehmen in den vergangenen Monaten eine Menge getan haben, aber es sind noch nicht genug. Es sind noch nicht genug Unternehmen beteiligt und es gibt auch noch nicht genug Ausbildungsplätze in den einzelnen Betrieben. Eines steht außer Frage: Der Staat tut eine ganze Menge. Zu nennen sind die Programme, die ich aufgezählt habe, die umfangreiche Unterstützung, die wir zum Beispiel benachteiligten Jugendlichen geben, die schulischen Angebote, die wir Jugendlichen machen. Der Staat tut eine ganze Menge, aber der Staat kann nicht alles leisten. ({3}) Wir können im Grunde nicht ausbilden. Wir tun es in den Ministerien, wir tun es in den Behörden, wir unterstützen auch die Betriebe, aber wir können nicht in großem Maßstab ausbilden. ({4}) Wir brauchen die Wirtschaft und wir brauchen die Betriebe, die zu ihrem eigenen Vorteil gut ausbilden müssen und für gut ausgebildete Arbeitskräfte sorgen müssen. ({5}) Ausbildung ist eine lohnende Investition in die Zukunft. Sie rechnet sich für die Unternehmen, übrigens auch dann, wenn man es streng betriebswirtschaftlich betrachtet. Es ist in der Regel teurer, Fachkräfte über den Arbeitsmarkt zu gewinnen, als den Fachkräftenachwuchs selbst auszubilden. Wer nicht ausbildet, schadet also nicht nur der gesamten Branche, sondern er schadet auch seinem eigenen Unternehmen. ({6}) Das müsste doch letztlich jeder begreifen können. Für die Stabilität und damit auch für den dauerhaften Erfolg in der beruflichen Ausbildung ist es unverzichtbar, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ausgebildet wird. Ausbildung darf nicht konjunkturabhängig sein. ({7}) Wenn sie es ist, funktioniert das System der dualen Ausbildung nicht mehr, weil es nämlich von der Kontinuität, von der Verlässlichkeit abhängt. ({8}) Genau das tun wir. In unseren staatlichen Programmen bieten wir genau das an, aber auch Unternehmen und Betriebe müssen das gewährleisten. Wenn alle Unternehmen und Betriebe diese Aufgabe wirklich als ihre wichtigste Aufgabe begreifen und ernst nehmen würden, so wie das viele, gerade kleine und mittlere Unternehmen in unserem Land, tun - die will ich ausdrücklich loben und ihnen ausdrücklich Dank aussprechen -, dann hätten wir in Deutschland kein Ausbildungsplatzproblem, dann hätten wir genügend Ausbildungsplätze, dann hätte die Branche und auch jedes Unternehmen die Sicherheit, über qualifizierten Nachwuchs zu verfügen, damit hätten auch alle Jugendlichen die Ausbildungschance, die sie brauchen. Aber das tun nicht alle. 500 000 Betriebe, die ausbilden könnten, tun es nicht. ({9}) Das ist nicht akzeptabel. Das ist nicht hinnehmbar. Auch diese Unternehmen müssen ihren Anteil leisten. ({10}) Wenn wir das System der dualen Ausbildung, das davon lebt, dass Unternehmen und Betriebe mitmachen, erhalten wollen - ich will das -, dann müssen die Betriebe mitmachen. Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Chemiebranche und in der niedersächsischen Metallindustrie haben vorbildlich vorgemacht, wie man die Probleme über Tarifverträge und freiwillige Initiativen lösen kann. ({11}) Ich hätte mir gewünscht, dass in den vergangenen Monaten alle Branchen in allen Regionen diese Chance ergriffen hätten. ({12}) Ich verstehe es nicht - das sage ich ausdrücklich an die Adresse der Tarifpartner - und halte es auch nicht für akzeptabel, dass nicht alle Tarifpartner nicht genau diesen Weg gegangen sind. ({13}) Wir hätten ihnen dafür alle Unterstützung gegeben. Das tun wir nach wie vor, aber die Tarifpartner stehen genauso wie wir in der Verantwortung. Daran werde ich auch nicht rütteln lassen. ({14}) Eine gesetzliche Regelung - ich sage das ausdrücklich ist das letzte Mittel; dieses Mittel erübrigt sich im Übrigen, wenn die Tarifvertragsparteien in der Wirtschaft ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommen und ihre eigene Zukunftssicherung nun endlich auch energisch vorantreiben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung stellt wie in den vergangenen Jahren auch künftig erhebliche Haushaltsmittel bereit, um allen jungen Menschen eine Chance auf Ausbildung zu geben. Wir werden die in der vergangenen Legislaturperiode begonnenen Reformen zur Weiterentwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung mit Nachdruck vorantreiben. Die Anträge der Oppositionsfraktionen bieten hier leider nicht viel Neues: Sie legen entweder umfangreiche Forderungskataloge vor, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundesregierung auf all diesen Feldern längst gehandelt hat - ein Beispiel ist die Lockerung bzw. Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung -, ({15}) oder Sie schütten gleich das Kind mit dem Bade aus - das ist auch nicht besonders hilfreich -, indem Sie die totale Modularisierung der dualen Berufsausbildung vorschlagen. Damit würden Sie zugleich das Berufskonzept aufgeben. Das alles führt nicht zu einer Verbesserung des dualen Systems. ({16}) Deshalb sage ich ausdrücklich: Die Bundesregierung setzt auf moderne, zukunftsfähige Berufe, auf neue Qualifikationsmöglichkeiten und Flexibilität. Wir haben inzwischen über die Hälfte der gängigen Berufe modernisiert und dabei insbesondere im wachsenden Dienstleistungssektor neue Berufe geschaffen. Wir werden genau diese Politik fortsetzen. Wir wollen eine exzellente berufliche Ausbildung, wir wollen die notwendige Flexibilität sicherstellen und zugleich das Berufskonzept erhalten. Darüber befinden wir uns in intensiven Gesprächen mit den Sozialpartnern, mit Wissenschaftlern, mit Ländervertretern, mit Experten und natürlich auch mit den Abgeordneten in den Ausschüssen; diesen Austausch werden wir auch fortsetzen. Vielen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dagmar Wöhrl. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir wollen die wirtschaftliche Position unseres Landes im globalen Wettbewerb stärken, neue Arbeitsplätze schaffen und unseren Lebensstandard sichern und ausbauen. ({0}) So lautete der erste Satz im Bildungskapitel Ihres Koalitionsvertrags. Das ist einwandfrei, hervorragend; da können wir alle zustimmen, auch wir von der Union. ({1}) Dieser Satz stammte allerdings nicht von Rot-Grün, wenn nicht sofort wieder ein Aber nachgeschoben würde, dort fordern Sie nämlich die Bundesregierung auf - ich zitiere -: für den Fall, dass die Wirtschaft nicht in der Lage ist, für das … ausreichende Angebot an qualifizierten Nachwuchskräften … zu sorgen …, umgehend eine gesetzliche Regelung vorzulegen, die darauf zielt, Lasten gerecht zu verteilen. So lautet Ihre Forderung in dem Antrag zur heutigen Debatte. ({2}) Dem können wir nicht zustimmen. Das werden Sie auch verstehen; es ist nämlich ein wirtschaftspolitischer Irrwitz, den Sie hier auf den Weg bringen. ({3}) Liebe Kollegen, Sie haben mit dieser Forderung gezeigt, dass Sie immer noch nicht verstanden haben, wohin die Reise gehen muss, damit wir endlich aus der Wirtschaftskrise in unserem Land herauskommen. Sie kennen die Zahlen; ich brauche sie nicht extra zu erwähnen: 559 000 junge Menschen unter 25 Jahren sind noch immer arbeitslos gemeldet. Ich rede gar nicht über die 70 000, die sich in Maßnahmen des JUMP-Programms befinden und so aus der Statistik herausgefallen sind. Frau Bulmahn hat eben angesprochen, dass wir noch immer eine sehr große Lehrstellenlücke haben. Wir hoffen, dass wir sie verkleinern können, aber die Lücke ist immerhin um 45 Prozent größer als die im letzten Jahr. Hier müssen wir eine Trendwende zu mehr Lehrstellen und mehr Jobs hinbekommen, sonst schaffen wir sozialen Sprengstoff, der unsere Zukunft bedroht. In dieser Situation geht es nicht immer nur um irgendwelche Korrekturen. Es geht hier wirklich um klare Richtungsentscheidungen. Wohin wollen wir gehen? Auf der einen Seite plädieren Sie für staatlichen Dirigismus. Sie hoffen wirklich, damit etwas zu bewirken, wo Sie nichts bewirken werden. ({4}) Auf der anderen Seite stehen wir von der Union für mehr Freiheit, mehr Verantwortung und Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Einzelnen. Es ist bezeichnend für Ihre Denkweise. Bei Ihnen gibt es immer wieder die eine Überschrift: Verteilung. Aber es geht nicht um gerechte Lastenverteilung, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern, sondern es geht um die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen und mehr Jobs insgesamt. Für mich ist es unbegreiflich, dass Sie kleine und mittlere Betriebe, die zwei Drittel aller Ausbildungsplätze stellen und nicht in der Lage sind, noch mehr Ausbildungsplätze zu schaffen, zusätzlich mit einer Ausbildungsplatzabgabe bestrafen wollen. ({5}) Wenn der Mittelstand nicht weitere Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen kann, müssen Sie doch einmal fragen: Warum kann er das nicht? Das liegt doch auch an den Rahmenbedingungen, die Sie schaffen, an den steigenden Abgaben, den steigenden Steuern, dem Zuwachs an Bürokratie. ({6}) Deswegen müssen staatliche Zwangsmaßnahmen abgebaut werden, statt neue zu schaffen, wie Sie es vorschlagen. Vor allem brauchen wir ein erstklassiges Bildungssystem. ({7}) Warum investieren denn die Unternehmen nicht mehr? Warum stellen sie keine neuen Mitarbeiter mehr ein? Warum werden keine neuen Lehrstellen mehr geschaffen? ({8}) Die Antwort ist einfach und einleuchtend - das wissen auch Sie -: Eingestellt wird nur, wenn es sich lohnt und wenn geeignete Bewerber vorhanden sind. Das sind die beiden entscheidenden Kernvoraussetzungen, die aber von Ihnen und in Deutschland leider immer weniger erfüllt werden. Nur rund ein Drittel aller deutschen Unternehmen macht in diesem Jahr überhaupt noch Gewinne, ein Drittel wird mit plus/minus null aus dem Geschäftsjahr gehen und ein Drittel tiefrote Zahlen schreiben. Auf die 40 000 Insolvenzen, die die Statistik ausweist, will ich jetzt gar nicht näher eingehen. Die volkswirtschaftlichen Verluste gehen in die Milliarden. Das wirkt sich natürlich auch auf den Arbeitsmarkt und den Ausbildungsmarkt aus. Sie kennen doch die Zahlen aus Nürnberg: Im Vergleich zum Juli des letzten Jahres waren es im Juli dieses Jahres 622 000 Beschäftigte weniger. Das bedeutet nicht nur 622 000 Einzelschicksale, sondern auch 622 000 Beitragszahler weniger und 622 000 Steuerzahler weniger. Gleichzeitig steigen die Arbeitslosenzahlen. Wie geht es nun mit dem Bildungssystem in unserem Land weiter? Wir müssen unser Bildungssystem zukünftig grundlegend verbessern und uns dabei den neuen Herausforderungen anpassen. Noch nie zuvor waren die Faktoren Wissen und Humankapital so essenziell für den ökonomischen Erfolg wie heute.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, da wir uns einig sind, dass das ein wichtiges Thema ist: Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass das Wirtschaftsministerium auf der Regierungsbank heute nicht vertreten ist? ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich denke, dadurch wird das geringe Interesse des Wirtschaftsministeriums an diesem Thema deutlich. ({0}) - Ich begrüße ganz herzlich den Staatssekretär, Herrn Staffelt. Nun können wir, glaube ich, im Thema fortfahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben angesprochen, wie wichtig die Faktoren Wissen und Humankapital gerade für den ökonomischen Erfolg sind. Es ist im Sinne einer hohen Arbeitsproduktivität immens wichtig für unsere Zukunft, dass wir hervorragend ausgebildete Mitarbeiter haben; denn nur so werden wir zukünftig in der Lage sein, hohe Löhne zu finanzieren, ({1}) unseren Lebensstandard zu erhalten, Herr Kollege, und die Mittel für einen Sozialstaat zu erwirtschaften. Wir alle haben doch ein gemeinsames Ziel: Wir wollen wettbewerbsfähig sein, auch international. Dafür müssen wir nicht nur gut sein, sondern dafür brauchen wir exzellent qualifizierte Beschäftigte, die wir selbst ausbilden, aber auch anlocken. Wie schaut es momentan aus? Früher kamen die Besten der Besten in unser Land. Heute verlassen jährlich 100 000 Topleute unser Land. Der neue Bericht der EUKommission spricht hier eine klare Sprache. Jeder siebte in Deutschland promovierte Nachwuchswissenschaftler wird inzwischen von den USA abgeworben. Dieser Braindrain, diese Abwanderung der Köpfe, findet ganz leise, still und heimlich statt und ist hochgefährlich. 10 Prozent unserer Schulabgänger schaffen nicht einmal einen Elementarabschluss. ({2}) OECD-Durchschnitt: 6 Prozent. Die Folge dieser Katastrophe sind immer mehr junge Menschen ohne Qualifikation, ohne Job. Mehr als zwei Drittel aller jungen Arbeitslosen haben nicht einmal einen Hauptschulabschluss. Aber statt hier anzupacken und diese Misere zu beenden, werden inzwischen 40 Prozent mehr für die Arbeitslosen als für Investitionen in die Schulen ausgegeben. Dieser Abwärtstrend zeigt sich auch an den Hochschulen. Auch Sie wissen: Jeder vierte Student verlässt heute ohne ein Examen die Universität. Noch viel schlimmer ist es bei den Geistes- und Sprachwissenschaften: Es scheitern vier von zehn Kandidaten. Uns ist doch in den letzten Wochen von der OECD ins Stammbuch geschrieben worden, dass unsere Investitionen im Bildungsbereich viel niedriger sind als in anderen Ländern. Es ist doch besorgniserregend, wenn wir unsere Bildungsausgaben senken und weniger als andere Länder investieren. ({3}) Es geht nicht nur um den finanziellen Aspekt, sondern auch um unser gesellschaftliches Klima. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungfraktionen, Sie setzen permanent auf Neid. Sie bringen immer wieder neue Steuern und Abgaben für Vermögende ins Spiel. Warum fördern Sie nicht ganz gezielt Eliten? Das sind doch gerade unsere besten und hellsten Köpfe. Wir müssen endlich weg von dem Negativmix aus harten und weichen Faktoren, der uns immer wieder nach unten gebracht hat. Deshalb ist eine Diskussion um eine Zwangsabgabe, um immer mehr staatlichen Einfluss, Bürokratie und Verwaltung Gift. Es gibt viele Argumente gegen die Ausbildungsplatzabgabe. Ich will nur einige davon nennen. Erstens: Mehrkosten, die die Unternehmen sich nicht mehr leisten können. Sie können nicht mit noch mehr Kosten belastet werden. ({4}) Wir sind mit unseren Arbeitskosten schon jetzt Weltmeister. Zweitens: unproduktive Verwaltungskosten aufgrund der Ausbildungsplatzabgabe, die das Institut für Wirtschaft auf 700 Millionen Euro schätzt. ({5}) Die Abgabe führt zu Mehrarbeit, aber nur auf Beamtenebene und nicht im Bereich der Unternehmer. ({6}) Drittens. Die Eignung der Bewerber wird vollkommen außer Acht gelassen. Es wird außer Acht gelassen, dass die Unternehmen vollständig verschiedene Anforderungen stellen. Viele hoch spezialisierte Unternehmen brauchen weniger Facharbeiter, dafür mehr Akademiker. Sie bieten daher Praktika, aber keine Lehrstellen an. Das kostet, wird allerdings nicht honoriert. Ihre Politik trimmt die Mentalität unserer Gesellschaft auf Staatswirtschaft. ({7}) Das lässt sich nicht leugnen. Die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie planen, ist volkswirtschaftlich total schädlich und ein ordnungspolitischer Quatsch. Das wissen auch Sie. ({8}) Sie bringen hier ein gigantisches Ablenkungsmanöver auf den Weg, um vom Versagen Ihrer Politik abzulenken. Wir brauchen keine neue Strafsteuer. ({9}) Wir brauchen Unterstützung für junge, kreative Menschen. Vor allem brauchen wir Motivation. Die geben Sie ihnen leider nicht. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wöhrl, der Staat kann in unserer Gesellschaft nicht für alles die Verantwortung tragen. Schon gar nicht kann er qualifizierte Fachkräfte selbst ausbilden. ({0}) Was ist das für ein Denkmodell, dem Sie hier unterliegen? Der Staat hat das Risiko und die Wirtschaft macht den Gewinn - oder was? Sie sollten sich der Realität nicht verschließen. Sie sollten sich dem Populismus der Wirtschaft nicht beugen. Das ist zu billig und liegt nicht im Interesse der jungen Menschen in unserem Land. ({1}) Alle Jahre wieder gibt es das gleiche Bild: Jeden Sommer warnen die Arbeitsämter vor fehlenden Lehrstellen, rufen Gewerkschaften sowie Politikerinnen und Politiker die Betriebe auf, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. In diesem Jahr ist die Lage besonders trist. Schon seit April erinnern wir die Arbeitgeber an ihre Pflicht, Ausbildungsplätze zu schaffen und somit genügend Lehrstellen für die jungen Menschen in unserem Land bereitzustellen. Wir haben eine Frist gesetzt: Falls es bis zum 30. September dieses Jahres auf freiwilliger Basis nicht genügend Lehrstellen gibt, wird der Gesetzgeber handeln, um endlich ein konjunkturunabhängiges Ausbildungsmodell für Deutschland zu entwickeln. ({2}) Selbst wenn sich bis zum Ende dieses Monats herausstellen sollte - das hoffen wir alle -, dass kein Jugendlicher ohne Lehrstelle bleibt, so gilt doch: Es kann nicht sein, dass fast die Hälfte der Schulabgängerinnen und Schulabgänger monatelang in Unsicherheit lebt, ob und wo sie einen Ausbildungsplatz bekommt. Über eine Freiheit bei der Berufswahl brauchen wir erst gar nicht zu reden. Hohe Abbrecherquoten sind schon vorprogrammiert. Wir müssen die Ausbildung der jungen Menschen unabhängig von konjunkturellen Unwägbarkeiten sichern. Grundsätzlich sind die Betriebe, ist die Wirtschaft in der Pflicht, genügend Lehrstellen in Deutschland zu schaffen. Dieser Aufgabe kommen sie Jahr für Jahr immer weniger nach. Bund und Länder tragen hingegen immer stärker die Kosten für Maßnahmen der beruflichen Qualifikation. Mit unserem grünen Modell der „Stiftung betriebliche Bildungschance“ wollen wir diesen Trend stoppen. Die Idee der Stiftung ist: Wir wollen die ausbildenden Firmen finanziell unterstützen. Jeder Ausbildungsbetrieb bekommt pro Lehrling die Nettokosten einer Lehrstelle aus den Mitteln der Stiftung erstattet. Von allen ausbildungsfähigen Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten erheben wir eine Umlage in gleicher Höhe. Wer also mehr ausbildet als erforderlich, bekommt demzufolge auch mehr aus der Stiftung heraus, als er eingezahlt hat. Einige von Ihnen befürchten, die Unternehmen könnten sich bei einem solchen Modell, ohne mit der Wimper zu zucken, freikaufen. Ich frage Sie: Was passiert denn momentan mit den Ausbildungsverweigerern unter den Unternehmen? - Es passiert nichts. Gerade die großen Konzerne drücken sich vor ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung zur Ausbildung, ohne auch nur 1 Cent zu zahlen. Als Dank werben sie dann auch noch dem Mittelstand die ausgebildeten Fachkräfte ab. Wenn sich jedoch unser Stiftungsmodell durchsetzen sollte, müssen Ausbildungsmuffel unter den Konzernen zumindest Lehrstellen in anderen Betrieben finanzieren. Sie können sich dann nicht mehr so billig ihrer Ausbildungspflicht entziehen. Frau Kollegin Wöhrl, Sie behaupten, allein die wirtschaftliche Lage sei daran schuld, dass sich die Wirtschaft die Ausbildung nicht mehr leisten könne. ({3}) Ich halte das für ein sehr oberflächliches Argument. ({4}) Denn schon jetzt ist der Fachkräftemangel ein Faktor der derzeit schlechten Wirtschaftslage. Wenn Betriebe Aufträge nicht annehmen können, weil ihnen die hoch qualifizierten Fachkräfte fehlen, dann ist das ein hausgemachtes Problem der Wirtschaft. ({5}) Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat mittlerweile die Zeichen der Zeit erkannt und eine Ausbildungsoffensive gestartet. In einer Umfrage Anfang September gaben die regionalen Kammern in einigen Regionen bis zu 10 Prozent weniger Ausbildungsverträge als im Vorjahr an. Auch in den angeblich wirtschaftlich so starken Regionen wie Baden-Württemberg oder Bayern wird derzeit mit einem Minus von 5 Prozent bei den Lehrstellen gerechnet. Dabei sind Investitionen in die Ausbildung von Arbeitskräften nicht nur gesellschaftlich dringend erforderlich; sie lohnen sich auch für die Betriebe. Es ist kurzsichtig von den Unternehmen, sich aus der betrieblichen Ausbildung zurückzuziehen und andere Betriebe und immer stärker den Staat die Lasten der beruflichen Ausbildung tragen zu lassen. Ein besonders schlimmes Beispiel bietet die Telekom. Im kommenden Jahr reduziert sie die Zahl ihrer Auszubildenden von 4 000 Lehrlingen auf zwei einsame Auszubildende. Ein solches Verhalten ist aus meiner Sicht sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftspolitisch absolut unverantwortlich. ({6}) In Zukunft wird ein solches Konzept nicht mehr aufgehen. Entweder die Unternehmen bieten Ausbildungsplätze an oder sie werden Lehrstellen in anderen Betrieben bezahlen. Dann werden sich auch die Lehrstellenverweigerer unter den Betrieben wieder auf den Nutzen einer eigenen Ausbildung besinnen. Nun zu den vorliegenden Anträgen, die wir seit einiger Zeit im Haus diskutieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie können in Ihrem Antrag zur beruflichen Bildung doch nicht ernsthaft fordern, dass gerade die Auszubildenden auf Teile ihres Einkommens verzichten, damit die Wirtschaft wieder ihrer Ausbildungspflicht nachkommt. ({7}) Wenn Ihre Pläne Wahrheit werden, bildet die Wirtschaft bald nur noch aus, wenn es wieder Zugeständnisse zulasten der jungen Menschen gibt. Eine lustige Logik, die Sie von der CDU/CSU da haben: Irgendwann werden Ausbildungsplätze unter den jungen Menschen versteigert oder wie soll das funktionieren? ({8}) Genauso verfehlt ist Ihre Forderung, die Gelder aus dem JUMP-Programm für die Senkung der Lohnnebenkosten zu nutzen. Sie finanzieren auf Kosten der Jungen die veralteten Strukturen, deren Reform Sie in Ihrer Regierungszeit verschlafen haben. ({9}) Es kann uns aber nicht nur um die bloße Sicherung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen gehen. Wir müssen uns auch um die Qualität der Ausbildung und die Sicherung einer individuellen Berufsberatung bemühen. Eine flexiblere Ausbildungsstruktur ist notwendig. Der Arbeitsmarkt wandelt sich, und zwar nicht zuletzt durch die zunehmende Internationalisierung und die steigende Geschwindigkeit der technischen Entwicklung. Darauf muss unser Ausbildungssystem schnell reagieren können, ohne aber kurzfristigen Trends zu erliegen. Unternehmen brauchen individuell qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit spezifischen Fähigkeiten. Diese müssen aber gleichzeitig auf einen Grundstock allgemeiner Fähigkeiten bauen können, um sich auch in andere Betriebe oder Bereiche schnell einarbeiten zu können. Diese Flexibilisierung muss nach unserer Vorstellung auch denjenigen nützen, die derzeit besondere Schwierigkeiten auf dem Ausbildungsmarkt haben. Gerade benachteiligten jungen Menschen mit Lernschwierigkeiten wollen wir mit Qualifizierungsbausteinen bessere Chancen bieten. Eine Modularisierung darf es aber nur unter der Beibehaltung voller Berufsbilder geben. Berufe minderer Qualifikation sind keine Antwort auf steigende Anforderungen. Flexibel sollten wir in Art und Dauer der Ausbildung sein, nicht aber in unseren Ansprüchen an Qualität. ({10}) Hierin, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sehe ich die Schwachstelle Ihres Antrages. In ihm wird keine Antwort auf die entscheidende Frage gegeben, wie mit Bausteinen vollständige, qualitativ hochwertige Ausbildungen gesichert werden können. Die völlige Gestaltungsfreiheit der Betriebe, wie Sie sie fordern, ist ein absoluter Irrweg. Die große Gefahr ist dann, dass junge Menschen unter dem Etikett einer Ausbildung nur noch für die Bedürfnisse eines einzelnen Betriebes angelernt werden. Wir müssen den jährlichen Hype um den Ausbildungsplatz mit einem dauerhaft wirksamen Instrumentarium endgültig beenden. Unser Stiftungsmodell ist hier ein gangbarer Weg. Wir müssen das duale System mit der Reform des Berufsbildungsgesetzes fit für die Zukunft machen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, damit wir Tausenden junger Menschen in diesem Land einen Weg in eine hoffnungsvolle berufliche Zukunft ermöglichen können. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph Hartmann.

Christoph Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003548, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ausbildungsjahr hat begonnen, aber nicht für jeden, der ausbildungswillig und ausbildungsfähig ist. Gerhard Schröder hat im April 1998 angesichts einer Bilanz von 466 000 jugendlichen Arbeitslosen davon gesprochen, dass das die Herzlosigkeit von Schwarz-Gelb sei. In diesem April hatten wir 520 000 jugendliche Arbeitslose, also 12 Prozent mehr. Wenn das damals eine schwarz-gelbe Herzlosigkeit war, dann ist das, was im Moment in diesem Land passiert, rot-grüne Grausamkeit. ({0}) Das ist eine Bilanz, die Sie zu verantworten haben. Auch für die Ursachen sind Sie verantwortlich. Das ist die Quittung für eine vollkommen verfehlte Wirtschaftspolitik in den letzten fünf Jahren. Die Abgabenquote und die Steuerlast sinken nicht. Die Wirtschaft stagniert im dritten Quartal hintereinander. Der Internationale Währungsfonds sagt deutlich: Deutschland ist zur Wachstumsbremse in der Welt geworden. Im letzten Jahr hatten wir 37 000 Insolvenzen; in diesem Jahr sind es 40 000. Allein diese Pleiten kosten bei einer angenommenen Ausbildungsquote von 5 Prozent die Zahl an Ausbildungsplätzen, die fehlen. ({1}) Bitter rächt sich, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie eines nicht bemerken: Ausbildungsplätze kann man nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur mit der Wirtschaft schaffen. ({2}) Ein funktionierendes Bildungssystem ist ein weiterer Punkt, der nötig wäre, um Ausbildung zu sichern. Hier ist die Situation nicht besser: Die Hauptschule verkommt immer mehr zur Restschule. Unsere Lehrer brauchen mehr pädagogisches Wissen, um jeden entsprechend seinen Fähigkeiten individuell zu fördern. Die Ganztagsschulen in diesem Land verwahren viel zu häufig, statt zu bilden. All das sind die Ursachen dafür, dass 15 Prozent eines Altersjahrgangs überhaupt nicht ausbildungsfähig sind, weil ihnen elementare Grundkenntnisse fehlen. Viele Betriebe finden keine geeigneten Bewerber. Es kann aber nicht sein, dass die Betriebe das auslöffeln müssen, was ihnen andere eingebrockt haben. ({3}) Die Instrumente, die die Bundesregierung zur Bekämpfung der Misere einsetzt, sind allesamt untauglich. Beginnen wir mit den Ausbildungsplatzentwicklern, die bei ihrer Einführung nach der Wende sehr wichtig gewesen sind, um den Betrieben in den neuen Bundesländern ein Stück weit unter die Arme zu greifen und sie in das neue System zu integrieren. Heute jedoch benutzen Sie dieses System als Verkaufsargument. Es geht hier aber nicht um eine bessere Verkaufsmöglichkeit oder eine schönere Verpackung, sondern es geht um den Inhalt. Der Inhalt muss besser werden im Sinne einer besseren Wirtschaftspolitik und nicht, indem Sie versuchen, Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik besser zu verkaufen. ({4}) Dazu kommt JUMP plus: Die Bundesregierung nimmt 200 Millionen Euro in die Hand, um langzeitarbeitslosen Jugendlichen eine Beschäftigung zu verschaffen. Leider finanzieren Sie damit häufig Warteschleifen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder gleich in die Arbeitslosigkeit führen. JUMP plus hilft nur wenigen jungen Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt, in den sie wirklich hineingehören. Als Höhepunkt der ganzen Geschichte drohen Sie mit der Ausbildungsplatzabgabe. Bei den Grünen nennt sich das Ganze Stiftungsmodell. Dieses Stiftungsmodell bedeutet eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, also genau das, was wir in Deutschland nicht brauchen. ({5}) Frau Kollegin Bettin, ich sage Ihnen ganz offen - denn das ist bei Ihren Worten vorhin ganz deutlich geworden -: Dahinter steht die Denke von Rot-Grün. Sie heißt: Ist die Wirtschaft nicht artig, dann wird sie bestraft - wie böse Kinder. In dieser Art und Weise kann die Bundesregierung mit der mittelständischen Wirtschaft, mit den Handwerkerinnen und Handwerkern und den kleinen Betrieben in diesem Land nicht umgehen! ({6}) Mit einer Strafe - nichts anders ist es; Frau Sager hat gesagt: Das sind die Folterinstrumente, die wir der Wirtschaft zeigen müssen - werden Sie keinen einzigen Christoph Hartmann ({7}) zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen. Wollen Sie einen Mittelständler dafür bezahlen lassen, dass er keinen ausbildungsfähigen Bewerber findet? Wollen Sie einem kleinen Unternehmer, dem das Wasser bis zum Hals steht und der deswegen nicht ausbilden kann, weitere Belastungen aufbürden? Dadurch wird sich die Situation noch verschärfen und das führt zu weiteren Insolvenzen in diesem Land. Das ist kontraproduktiv und der falsche Weg. ({8}) DIHK-

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Eine Strafabgabe bringt keinen einzigen zusätzlichen Ausbildungsplatz, sondern Verunsicherung und weniger Gerechtigkeit. Sie dürfen nicht die Opfer zu Tätern machen. Bürden Sie der Wirtschaft nicht zusätzliche Belastungen auf, sondern senken Sie die Belastungen der Wirtschaft. ({0}) Statt dieser staatsgläubigen Konzepte, die Sie hier verkaufen wollen, brauchen wir eine neue Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine bessere Bildungspolitik und wir brauchen eine Flexibilisierung in der Berufsausbildung. Dazu gehören individuelle Ausbildungslängen, die auch den praktisch begabten Jugendlichen die Möglichkeit geben, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Dazu gehören Berufe mit zweijähriger und theoriegeminderter Ausbildung. ({1}) Wir brauchen eine Modularisierung, um eine flexible Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten. Dazu gehören auch Berufe mit dreieinhalbjähriger Ausbildung für Jugendliche, die einen längeren Zeitraum benötigen, bis sie den Stoff beherrschen. Wir brauchen eine Internationalisierung, um Leistungen, die in anderen Ländern erbracht worden sind, mittels eines Credit-Point-Systems in Deutschland anrechnen zu können. Wir brauchen eine Flexibilisierung der möglichen Beschäftigungszeiten beim Jugendarbeitsrecht. Wir müssen die Ausbildungshemmnisse auch in den Tarifverträgen beseitigen. Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Ausbildungsvergütung. ({2}) Lassen Sie mich abschließend zu dem Bereich originäre Bildungspolitik noch etwas sagen. Viel zu häufig verlassen Schüler unsere Schulen, ohne ein Mindestmaß an Kompetenz erworben zu haben. Darauf müssen wir einwirken. Umgekehrt gibt es aber auch besonders starke Schüler, die zwar die oxidative Decarboxylierung in Strukturformeln darstellen können, aber bei einem Dreisatz überfordert sind. Auch dabei muss umgedacht werden. Es muss ein entsprechendes Basiswissen vermittelt werden. Dann wird ein Schuh daraus und nicht dadurch, dass wir nur über die Reform der Oberstufe in den einzelnen Ländern nachdenken. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Situation ist zu wichtig, als dass diese Bundesregierung nur weiter an den Symptomen herumdoktern könnte. Wir brauchen richtige Reformen, einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, eine bessere Bildungspolitik sowie eine Flexibilisierung und Modernisierung der Berufsausbildung. Handeln Sie! Werfen Sie das Ruder herum! Aber tun Sie das mit den Betrieben und nicht gegen sie. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung zu dem machen, was der Redner und die Rednerin von der Opposition hier formuliert haben. Angesichts der Situation, in der wir uns momentan befinden - es fehlen Ausbildungsplätze -, ist es völlig unangemessen, hier nur zu beschreiben, wie die Situation ist, was Ihnen nicht passt und was nicht geht, und jugendlichen Menschen, die heute zum Beispiel zuhören, keinen einzigen Vorschlag zu machen, wie die Ausbildungsplatzsituation konkret verbessert werden kann. ({0}) Einige Bemerkungen zur Rede von Frau Wöhrl, die leider schon weg musste. Man darf in einer solchen Situation nicht mit falschen Behauptungen operieren. Sie hat beispielsweise behauptet, die Bildungsausgaben des Bundes seien in den letzten Jahren gesunken. Das ist völliger Unsinn. In den Jahren 1998 bis 2003 sind zum Beispiel die Ausgaben des Bundes für Hochschulen um 23,4 Prozent gestiegen, die der Länder durchschnittlich um 12,9 Prozent. ({1}) In Bayern dagegen sind sie - das sage ich, obwohl der Wahlkampf vorbei ist - nur um 2,9 Prozent gestiegen. Frau Wöhrl sollte sich zunächst die Tatsachen ansehen, anstatt einfach falsche Zahlen auf den Tisch zu legen und wieder einmal zu erzählen, was alles nicht geht. ({2}) Umso mehr verwundert mich dieses Verhalten, weil wir heute eigentlich, wenn wir es genau nehmen, über folgende zwei Themen reden wollen: zum einen über die Reformen im Bereich der beruflichen Bildung und zum anderen über die Ausbildungsplatzsituation. Der Bericht des Ausschusses zum Bereich berufliche Bildung spiegelt nicht wider, was Sie uns heute vorführen wollten. ({3}) In Wirklichkeit bestehen über die Fraktionsgrenzen hinweg im Bereich Reform der beruflichen Bildung viele Gemeinsamkeiten. Ich halte es im Interesse der jungen Menschen für falsch, nicht deutlich zu machen, dass dieses Parlament in dieser Frage gemeinsame Ziele hat. Wir verfolgen gemeinsam das Ziel, die duale Ausbildung aufrechtzuerhalten. Sie ist noch immer die tragende Säule unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. ({4}) Vergessen Sie nicht: Wenn Wirtschaftsexperten nach den Standortvorteilen Deutschlands gefragt werden, nennen sie noch immer - das suche ich mir nicht aus; das ist belegt - gute Infrastruktur, wenige Streiktage, gut ausgebildete Ingenieure und insbesondere das System der dualen Ausbildung. Umso wichtiger muss es allen gemeinsam sein, dass dieses System weiterentwickelt wird; denn wenn sich, so wie es gerade der Fall ist, die Faktoren rund um das System verändern, dann muss sich dieses System natürlich mitentwickeln. ({5})) Genau deshalb ist es richtig und wichtig, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und des Berufsbildungsgesetzes bereits durch die Koalitionsvereinbarungen auf die Agenda gesetzt haben. Ich muss Ihnen deutlich sagen: Wir brauchen Ihre spät gestellten Anträge nicht, um genau dies in den Mittelpunkt der Reformbewegungen im Bereich der beruflichen Bildung zu stellen. ({6}) Zu dieser Weiterentwicklung wird eine bessere Verzahnung der beiden Lernorte Schule und Betrieb gehören. Wir alle wissen aus der Praxis, dass in diesem Bereich durchaus noch ein Verbesserungsbedarf besteht. Daneben müssen wir deutlich machen, dass berufliche Qualifikation keine Sackgasse ist, sondern dass sie in Zukunft noch stärker Voraussetzung für den Zugang zu einer weiteren und besseren Qualifikation und auch zu Studiengängen sein wird. ({7}) Schließlich müssen wir durch die Reform die berufliche Bildung für den internationalen Wettbewerb fit machen. Deshalb werden wir alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich die Berufsbildung in Deutschland den internationalen Veränderungen öffnen und sie auch im europäischen Berufsbildungsraum weiterhin bestehen wird. Das war nur eine kurze Zusammenfassung der notwendigen Veränderungen, die wir brauchen. Wenn wir uns mit den Veränderungen der Strukturen im Bereich der Berufsbildung befassen, dann müssen wir uns - so wie bei anderen Reformen, zum Beispiel die der Systeme der sozialen Sicherung - auch mit der Ausgestaltung der Finanzierungsstrukturen befassen. Man kann sich nicht immer nur eine Seite anschauen. Auch die Finanzierungsstrukturen gehören zu dieser Debatte. Wir sehen, dass sich bei den Finanzierungsstrukturen etwas verändert hat. Die berufliche Bildung und die berufliche Qualifikation werden immer stärker auch von staatlicher Seite mitgetragen. ({8}) Wir halten diese Entwicklung für falsch. ({9}) Sie fragen nach dem Warum. ({10}) Ich kann es Ihnen sagen: Wir haben von staatlicher Seite her die Verantwortung dafür übernommen. Die Wirtschaft fordert den Staat immer wieder auf, er habe sich immer mehr herauszuhalten. Aber staatliche Gelder sollen in die berufliche Bildung gesteckt werden, weil die Wirtschaft sich von ihrer Verantwortung für die betriebliche Ausbildung entfernt. ({11}) Das werden wir nicht zulassen. Im Übrigen: Wer für die Staatsferne eintritt, der muss auch die Konsequenzen, die aus seiner Verantwortung im Bereich der Ausbildung erwachsen, selbst tragen. Dieses doppelgleisige Fahren werden wir von der politischen Seite her nicht mehr zulassen. Wir sagen deutlich: Wir wissen, wo unsere Verantwortung liegt. Die Verantwortung zur Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungsplätzen liegt aber auf der Seite der Wirtschaft. Das hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil noch einmal sehr deutlich niedergelegt. Deshalb gilt für uns: Wir unterstützen jede politische Aktion - wie zum Beispiel die Ausbildungsoffensive -, die zum Ziel hat, dass ausreichend viele Ausbildungsplätze für junge Menschen zur Verfügung gestellt werden. ({12}) Wir entziehen uns dieser Verantwortung nicht. Ich sage Ihnen: Wir lassen die Verantwortung in diesem Bereich aber auch nicht verschieben. ({13}) Wir stellen noch einmal fest: Wir würden uns freuen, wenn zum Ende des Monats tatsächlich ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen vorhanden wäre. Aber auch hier gilt: Wir lassen uns nicht hinhalten. Wir müssen hier Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass junge Menschen Startchancen erhalten. Chancen auf Bildung und Ausbildung - das war für die Sozialdemokraten schon immer der Kern sozialer Gerechtigkeit. ({14}) Dies wird auch der Kern sozialer Gerechtigkeit bleiben. Wir werden dafür sorgen, dass junge Menschen ausreichende Lebenschancen erhalten. ({15}) Ich sage es sehr deutlich: Eine gesetzliche Regelung zur Finanzierung von Ausbildungsplätzen ist natürlich nie ein Wert an sich. Sollte die Wirtschaft ihre Verantwortung aber nicht tragen, dann wäre eine gesetzliche Regelung für uns nichts weiter als ein Instrument, dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft ihrer Verantwortung nachkommt. Wir sehen uns verpflichtet und werden auch entsprechend handeln. Wir werden die Verantwortung von der Wirtschaft einfordern. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Berufsausbildung ist kein Wettbewerb so ähnlich wie „Schönere Städte und Gemeinden“, bei dem man als Unternehmen oder als Azubi mitmachen oder nicht mitmachen kann. Ausbildung ist, so wie Sie es gesagt haben, eine Investition in die Zukunft. Genauso wie die Investitionen in Deutschland in anderen Bereichen der Wirtschaft sinken, sinken auch die Investitionen der Unternehmen in die Ausbildung. Das kann nicht anders sein in einer Zeit, in der wir 78 000 Unternehmenspleiten zählen, die Umsätze im Handwerk und in anderen Bereichen zurückgehen, wo wir auf dem Arbeitsmarkt Rekordzahlen bei der Arbeitslosigkeit erreichen, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zurückgeht und das Wirtschaftswachstum stagniert. Es kann keine konjunkturunabhängige Ausbildung geben. Das ist schon vom Ansatz her falsch, ({0}) es sei denn, Sie führen staatliche Zwangsmaßnahmen ein. Das wollen wir auf keinen Fall. ({1}) 113 000 Jugendliche suchen derzeit einen Ausbildungsplatz, sagt uns das Arbeitsamt. Was macht die Bundesregierung? - Sie schaltet Anzeigen, klebt Plakate mit der Aufschrift „Mehr Jobs“, „Chancen geben“, „Deutschland bewegt sich“. 2,3 Millionen Euro kostet diese Kampagne der Bundesregierung und sie hilft den Jugendlichen kein bisschen. ({2}) Die Kampagne ist falsch. Deutschland bewegt sich nicht, sonst hätten Sie das Problem der Ausbildungsplätze in den vergangenen Monaten gelöst. Betriebliche Ausbildungsplätze in den neuen Ländern wurden in der Vergangenheit durch das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“ akquiriert. 14 400 Jugendliche haben dadurch eine Chance bekommen. Wir haben lange gefordert, dieses Programm auf die alten Bundesländer auszuweiten. Das tun Sie mit dem kommenden Haushalt; in dem Sie 2 Millionen Euro dafür zur Verfügung stellen. Allerdings soll der Ansatz in den neuen Ländern um 1,5 Millionen Euro reduziert werden. Das kritisieren wir ganz massiv und wir fordern Sie auf, diese Reduzierung zurückzunehmen. Das kann nicht sein, denn die Situation in den neuen Bundesländern ist noch genauso dramatisch wie in den vergangenen Jahren. Deswegen ist es auch falsch, Frau Bundesministerin, das Programm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze wie im vergangenen Jahr zu kürzen. Auf unseren Druck hin - so deutlich muss man das sagen - ist das Programm aufgestockt worden. Sie hatten im Haushaltsansatz für dieses Jahr 12 000 Ausbildungsplätze vorgesehen und wir haben eine Aufstockung auf 14 000 gefordert, die auch vorgenommen wurde. Das fordern wir auch für das kommende Jahr. Lassen Sie die Jugendlichen nicht allein. ({3}) Solange die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als Folge Ihrer Wirtschaftspolitik so sind, wie sie sind, brauchen wir solche Programme. ({4}) Meine Damen und Herren, mit hektischem Treiben versucht die Bundesregierung, die Misere um ihre Wirtschaftspolitik zu vertuschen. Sie macht Ausbildungstouren, Frau Bulmahn und Herr Clement sind unterwegs. Das ist ganz hervorragend, sie lernen das Land kennen. Sie helfen dadurch den Jugendlichen aber nicht, sondern sie drohen den Unternehmen, die sie überzeugen wollen, mehr auszubilden, mit einer Ausbildungsplatzabgabe. In ihrer heutigen Rede hat die Ministerin das Wort Ausbildungsplatzabgabe nicht ein einziges Mal in den Mund genommen. Ich glaube, Frau Bettin und Frau Kressl, Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit. Ich glaube nicht, dass die Regierung diese Ausbildungsplatzabgabe einführt, weil sie erkannt hat, dass sie sich damit in das politische Abseits manövriert. ({5}) Alle Ökonomen und alle Ausbilder haben ihr gesagt und sagen permanent: Eine Ausbildungsplatzabgabe führt dazu, dass große Firmen sich freikaufen und kleine Firmen umso mehr belastet werden. Außerdem hätte sie einen unverantwortlich großen bürokratische Aufwand zur Folge. ({6}) Deshalb, Herr Tauss, meine Damen und Herren, will die Regierung offenbar einen anderen Weg gehen und eine kleine Umlage einführen, um ihr Gesicht zu wahren. Das könnte sie tun, indem sie die Prüfungsgebühren, die bisher von den ausbildenden Unternehmen an die IHKs gezahlt werden, einfach auf die Betriebe umlegt, die nicht ausbilden. Durch eine andere Formulierung im Berufsbildungsgesetz wäre das möglich. ({7}) Meine Damen und Herren, diese Prüfungsgebühren betragen zwischen 100 und 300 Euro, je nach Beruf und Kammerbezirk. Schon jetzt schlagen die Wellen bei den IHKs in Deutschland, besonders in den strukturschwachen Regionen, hoch, weil man weiß, dass eine solche Maßnahme zu wirtschaftlichen Problemen in den Kammern führen würde. Folge wäre eine Erhöhung der Pflichtbeiträge, die niemand will, und damit eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, also eine weitere der Belastung der Unternehmen. Dies aber hilft den Unternehmen, die ausbilden, kein bisschen, weil die Entlastung viel zu gering ist. Dies ist eine Farce, weil schon heute maximal 40 Prozent der Kosten durch die Prüfungsgebühren finanziert werden. ({8}) Der Rest wird bereits solidarisch finanziert. Deswegen sagen wir Ihnen: Lassen Sie von diesem Tun ab und verabreichen Sie den Jugendlichen nicht wieder eine Beruhigungspille, was Sie schon mit der Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung getan haben. In unserem Antrag fordern wir - das ist richtig - mehr Flexibilität, wie sie in den neuen Bundesländern schon jetzt angewendet wird: Unternehmer, die keine Ausbildereignung hatten, konnten trotzdem ausbilden. Die IHKs waren dabei sehr flexibel. Dies wollten wir auf die alten Bundesländer übertragen. Aber wir wollten nicht, dass Sie die Ausbilder-Eignungsverordnung abschaffen. Wir sind der Meinung, dass gerade in Zeiten der PISAStudie - das wurde uns dabei sehr deutlich - die Qualität der Ausbilder wichtig ist. Darauf müssen wir ganz besonderen Wert legen. Sie sind über das Ziel hinausgeschossen, weil Sie einen politischen Erfolg brauchten, aber Sie helfen damit keinem einzigen Jugendlichen. Ich wage zu bezweifeln, dass viele Unternehmen deswegen ausbilden werden. Ich frage Sie, Frau Ministerin: Wie viele Unternehmen werden deswegen wohl ausbilden? Zur Lösung des Lehrstellenmangels brauchen wir mehr. Wir haben in unseren Anträgen konkrete Vorschläge gemacht. Dabei haben wir auch die Erfahrungen aus den neuen Ländern zugrunde gelegt. Sie zeigen, dass man mit viel Flexibilität in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen kann. Wir möchten bei der Höhe der Ausbildungsvergütung ansetzen. Es ist heute schon gesagt worden, dass dies ein ganz entscheidender Punkt ist. In § 10 des Berufsbildungsgesetzes steht ({9}) - hören Sie mir zu, dann sage ich es Ihnen -, dass die Ausbildungsvergütung maximal 20 Prozent - zumindest wird es nach Richterrecht so ausgelegt - nach oben oder unten von den Tarifverträgen abweichen kann. Wenn nun als Beispiel der Spannungsmechaniker bei Siemens in Passau 717 Euro im Monat erhält, dann mag das für diesen Global Player in Ordnung sein. Wenn aber die kleine Stahlbaufirma 100 Meter weiter dasselbe Lehrlingsentgeld bezahlen muss, dann hat sie zwei Möglichkeiten: Entweder sie bildet nicht aus, was viele machen, weil es zu teuer ist, oder sie bildet nur so viele Lehrlinge aus, wie sie unbedingt muss. Das hilft uns in der derzeitigen Situation nicht viel weiter. ({10}) Es ist deswegen vollkommen richtig, das Problem des Lehrlingsentgelts anzugehen. Das Dramatische ist, dass gerade in der Metall- und Elektroindustrie das Problem der Flächentarifverträge am größten ist, während dort gleichzeitig das Potenzial für Ausbildungsplätze am höchsten ist. Aus diesem Grunde müssen wir dieses Problem angehen, wie wir es in unserem Antrag vorgeschlagen haben. Ein anderer Vorschlag in unserem Antrag bezieht sich auf die Vorbereitung zur Berufsausbildung. Diese Reparatur ist aufgrund des rot-grünen Missmanagements in der Vergangenheit notwendig. In § 50 des Berufsbildungsgesetzes wird festgelegt, dass Betriebe, die einen der 90 000 Jugendlichen, die jedes Jahr die Schule ohne einen Abschluss verlassen, zur Berufsvorbereitung einstellen, dessen sozialpädagogische Betreuung sicherstellen und finanzieren müssen. Nur Sozialdemokraten können auf solche Ideen kommen. In der Praxis führt dies dazu, dass kein Unternehmen einen solchen Jugendlichen einstellt. Diese Regelung wirkt als Einstellungshemmnis. Wir wollen, dass dieses Hemmnis abgebaut wird. Das Geld, das für die Betreuung der Jugendlichen richtigerweise benötigt wird, muss vom Arbeitsamt oder vom Staat kommen. Wir wollen, dass die Jugendlichen in einem Unternehmen eine Chance zur Berufsvorbereitung erhalten. ({11}) Das Berufsbildungsgesetz muss durchlässiger werden. Es muss endlich Schluss sein mit Berufen, die Auszubildende in eine Sackgasse führen. Stillstand kann sich kein Land leisten, das Wissen, Fortschritt und Innovation braucht. Warum kann ein Bankkaufmann mit mittlerer Reife nach seiner Lehre und einiger Zeit im Beruf nicht Betriebswirtschaft studieren? ({12}) Warum kann ein Elektriker kein Studium der Elektrotechnik beginnen? Die Zugangsvoraussetzungen dafür müssen verbessert werden. Umgekehrt muss der Ausbildungsmarkt für jene durchlässiger gemacht werden, die über wenig theoretische Fähigkeiten verfügen. Für diese Jugendlichen müssen endlich praxisorientierte Berufsausbildungen mit zweijähriger Lehre eingeführt werden, und zwar modular gestaltet, sodass sie die Möglichkeit haben, sich zum Beispiel später vom Maschinenführer zum Werkzeugmechaniker zu qualifizieren. Deutschland muss sich mit seinem Bildungssystem am internationalen Markt positionieren. Ein Problem ist, dass deutsche Bildungsabschlüsse international immer noch viel zu wenig anerkannt sind. Aber ist ein deutscher Industriemeister tatsächlich geringer qualifiziert als ein 20-jähriger Student in England nach zwei oder drei Jahren Bachelor-Studium? Deutsche Bildungsabschlüsse müssen internationalisiert werden. Dazu gehört, dass mehr Lehrlinge als bisher die Möglichkeit erhalten, eine Station ihrer Ausbildung in einem Betrieb im Ausland zu verbringen. Deshalb kann es nicht sein, dass Auslandsaufenthalte von Lehrlingen geringer gefördert werden als die von Studenten. Auch für Auszubildende ist eine Station im Ausland wichtig. Die Kürzungen in Ihrem Haushalt um 23 Prozent für das kommende Jahr, Frau Bulmahn, müssen dringend rückgängig gemacht werden. Die dramatische Situation auf dem Ausbildungsmarkt erlaubt keinen Aufschub. Deutschland braucht eine Novelle des Berufsbildungsrechts. Ich fordere Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und den Regierungsfraktionen, auf: Werden Sie endlich Ihrer Verantwortung für die Jugendlichen in diesem Land gerecht. ({13}) Hören Sie auf, von einer Ausbildungsplatzabgabe zu reden und ändern Sie stattdessen die entscheidenden Stellen im Berufsbildungsgesetz. Wir haben eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht. Wenn Sie diese umsetzen, ist den Jugendlichen in Deutschland schon viel geholfen. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über Berufsausbildung, über diesbezügliche Probleme und Vorhaben reden, dann geht es immer auch um Zahlen. Auch ich werde zwei, drei Zahlen bemühen, aber erst einmal geht es mir um etwas Weitergehendes. Ich kenne Jugendliche, die sich zehn bis einhundert Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben und immer wieder Absagen erhalten, sofern man ihnen überhaupt antwortet. In ihnen reifen Enttäuschung, Frust, Resignation. Das ist die menschliche Dimension des Themas Berufsausbildung. Darüber ist hier zu reden, zumal das Problem nicht neu ist. Seit Jahren gibt es weniger Lehrstellen als Bewerberinnen und Bewerber, allemal in Betrieben. Diese Differenz muss tiefer liegende Ursachen haben und das wissen Sie auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wer jedoch die Konjunktur zum Dreh- und Angelpunkt der Ausbildung macht, der befördert einen Doppelfehler. Zum einen signalisiert er den betroffenen Jugendlichen: Weil die Konjunktur schlecht ist, gehört deine Generation zu den Verlierern, du bist zur falschen Zeit geboren und damit überflüssig; zum anderen widerspricht die Konjunkturbegründung der von links bis rechts anerkannten Tatsache, dass Bildung eine, wenn nicht gar die Zukunftsfrage ist. Mehr noch: Bildung und Ausbildung sind Menschenrechte. Sie sind zu gewähren und nicht etwa zu beschränken. ({0}) Ebenso falsch sind Vorstöße, Ausbildungszeiten zu straffen und auf bestimmte Inhalte zu verzichten, etwa auf Wirtschaftskenntnisse oder Sozialkompetenz. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wohin soll das führen? Wir wollen doch keine lebenden Roboter, wir wollen kluge Fachleute. Die PDS im Bundestag teilt deshalb die Ansprüche, die von Bildungsexperten, von weiter blickenden Unternehmern und auch von Gewerkschaften erhoben werden. Wir brauchen eine große Reform, um die Qualität der Ausbildung zu heben. Übrigens haben die Gewerkschaften ihre Ausbildungskampagne mit dem Zusatz versehen: Reform ist, wenn es besser wird. Früher hätte man gesagt: Das weiß man doch. Aber ich muss zugeben, seit Rot-Grün den Reformbegriff permanent umdeutet und Schlechtes als gut verkauft, ist diese Erinnerung wohl richtig und überfällig. ({1}) Nun komme ich wie versprochen auf die wenigen Zahlen zurück. Es gab Ende August rund 168 000 Jugendliche, die einen Ausbildungsplatz suchten, und es waren knapp 55 000 freie Stellen im Angebot. Rein rechnerisch heißt das: Zwei von drei, die noch suchen, können die Hoffnung auf eine gute Ausbildung in den Wind schreiben. In manchen Regionen sind es sogar neun von zehn, allemal im Osten der Republik. Das programmiert Auslese, es zwingt Jugendliche in die Ferne und entvölkert ganze Landstriche. Nun hörten wir in den letzten Wochen von der FDP, mehr Jugendliche sollten ihr Glück im Ausland suchen und sich doch dort ausbilden lassen. ({2}) Mit Verlaub, Sie bleiben die Partei der Besserverdienenden und sind damit auch die Partei der Zyniker. Das Problem lösen Sie mit dieser Empfehlung überhaupt nicht. ({3}) Nun noch zu einem Ereignis, welches wir in dieser Woche in Berlin erleben durften und welches selbst in Berlin nicht alle Tage zu besichtigen ist. Der BDI hatte zum Reformkongress und obendrein zu einer Kundgebung unter freiem Himmel geladen. Wer wirklich Sorgen hat, arbeitslos ist oder eine Lehrstelle sucht, konnte sich dort vortrefflich wundern. Da standen gut betuchte Herren und wenige Damen herum, die einen mit einem Sektkelch, die anderen mit Kofferträgern, und alle forderten gemeinsam: Den Reformstau auflösen! Ich finde auch, dass der Reformstau aufgelöst werden sollte. Deshalb war auch die PDS dabei, jenseits der Absperrung. Unsere Forderung hieß: Reformstau auflösen Umlagefinanzierung jetzt! Dabei bleiben wir. Wer ausbilden könnte und nicht ausbildet, der soll endlich einen Solidarbeitrag für jene leisten, die ausbilden, obwohl es ihnen finanziell schwer fällt. Das ist - wir erinnern uns - eine Uraltforderung der SPD. Selbst Bundeskanzler Schröder hat sie schon drohend in den Raum gestellt. Nur, dort steht sie nun herum, diese Drohung, wie bestellt und nicht abgeholt. Am 30. September, also in knapp einer Woche, endet die Lehrstellenkampagne 2003. Sie war durchaus werbeträchtig inszeniert, um Minister Clement ins grelle Licht zu stellen, aber sie löst nicht die bestehenden Defizite. ({4}) Deshalb wiederhole ich: Die PDS im Bundestag drängt auf eine Reform in der Berufsausbildung und wir bestehen auf einer Ausbildungsumlage, um insbesondere die großen Unternehmen wieder in die soziale Verantwortung zu zwingen. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Heinz Schmitt für die SPD-Fraktion.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut reden wir heute im Deutschen Bundestag über fehlende Lehrstellen. Es ist wieder einmal eine große Kraftanstrengung nötig, um einer eigentlich selbstverständlichen gesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden, nämlich ausbildungswilligen Jugendlichen eine berufliche Qualifikation zu ermöglichen. Wieder einmal - so scheint es mir - muss die Wirtschaft daran erinnert werden, dass es im Interesse aller liegt, junger Menschen eine berufliche Perspektive zu eröffnen. ({0}) Es liegt aber auch - oder es sollte wenigstens so sein im ureigenstem Interesse der Unternehmen selbst, junge Menschen auszubilden. Wer heute aus kurzfristigen Erwägungen heraus keinen qualifizierten Nachwuchs ausbildet, darf sich morgen nicht über einen Mangel an Fachkräften beschweren. ({1}) Wenn ich hier die Ausbildungsdefizite der Wirtschaft anspreche, so möchte ich ausdrücklich die Betriebe und Unternehmen ausnehmen, die auch in diesem Jahr wieder Lehrstellen zur Verfügung stellen und die ausbilden. ({2}) Dafür gebührt jedem einzelnen der ausbildenden Betriebe, den Verantwortlichen dort auch unsere Anerkennung und unser Dank. Die Politik hat aber sehr wohl auch wahrgenommen, dass es Probleme gibt, die eine Entscheidung für die Ausbildung von Lehrlingen in der jetzigen Situation sicherlich nicht immer leicht machen. Wir kennen auch den Anpassungs- und Modernisierungsbedarf innerhalb des dualen Systems und innerhalb des Bildungssystems insgesamt. Wir kennen die Mängel. Deshalb haben wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Bedingungen für Unternehmen und für mehr Ausbildung zu verbessern. Dass wir die Verbesserung der Lehrstellensituation als eine gemeinsame Aufgabe begreifen, zeigt sich ja auch in der bundesweiten Ausbildungsoffensive, die die Regierung zusammen mit der Wirtschaft und mit den Gewerkschaften in diesem Jahr gestartet hat. Dies als Antwort auf die Anmerkungen der beiden Herren in der ersten Reihe von Blau-Schwarz. Herr Hartmann und sein Kollege von der CDU haben ja immer wieder gesagt, es werde nur zusammen mit der Wirtschaft gehen. Ich habe hier einen Zwischenbericht der IHK, in dem von den bundesweit erzielten Erfolgen berichtet wird. Darin wird deutlich, wie gemeinsam mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen nach jeder Lehrstelle gesucht wird. Hierbei gibt es durchaus schon eine erfolgreiche Bilanz, die sich innerhalb dieses halben Jahres ergeben hat. Also, das geht zusammen mit der Wirtschaft. ({3}) Sie sollten nicht versuchen, einen Keil zwischen Politik und Wirtschaft zu treiben, und Sie sollten nicht den Weg der Konfrontation beschreiten. Diese Offensive umfasst also viele Maßnahmen, aber auch praktische finanzielle Hilfe für ausbildende Betriebe. Ich nenne unser Programm „Kapital für Arbeit“, mit dessen Hilfe neue, zusätzliche Ausbildungsplätze mit einem zinsgünstigen Investitionskredit von bis zu 100 000 Euro gefördert werden. Wir haben aber auch die Botschaft verstanden, dass die Defizite bei Schulabgängern immer wieder deutlich Heinz Schmitt ({4}) erkennbar sind. Deswegen laufen die Programme weiter, um benachteiligte und behinderte Jugendliche auch in diesem Jahr zu fördern und sie auf eine Ausbildung vorzubereiten. ({5}) Wir haben die weitere Finanzierung von ausbildungsbegleitenden Hilfen organisiert, damit schulische Probleme vor Ort auch während der Lehre überwunden werden können. Mit unserem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ fördern wir die Einrichtung von Ganztagsschulen. Auch das ist ein Thema, das Sie immer wieder verdrängen. Mit den Ganztagsschulen ermöglichen wir schon sehr früh die Zusammenarbeit von Schulen und Betrieben. Damit haben die jungen Menschen frühzeitig die Möglichkeit, sich zu orientieren und Interesse am Beruf zu entwickeln. Wir haben außerdem mit der Reform der beruflichen Bildung begonnen. Wir wollen damit die Ausbildungsnetzwerke stärken und die Ausbildungsordnungen modernisieren. Weitere Bestandteile der Reform sind die Modernisierung des Prüfungswesens und die internationale Öffnung der beruflichen Bildung. Wir lassen die Ausbildungsbetriebe bei dieser wichtigen Aufgabe nicht allein. Es gibt aber - das wurde heute schon ausgeführt - Grenzen, die das staatliche Engagement nicht überschreiten darf. Der Staat kann die Ausbildungsdefizite der Wirtschaft nicht auf Dauer übernehmen. Das duale System ist - darüber sind wir uns einig am besten im Bereich Schule und Betrieb angesiedelt. Letztlich geht es um die qualifizierten Arbeitskräfte von morgen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe in Zukunft zu organisieren. Auch wenn im Zuge der Globalisierung immer wieder von Jugendlichen als Humankapital gesprochen wird, geht es mir bei diesem Thema darum, dass die Jugendlichen spüren, dass wir sie nicht allein lassen und dass es den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft tatsächlich noch gibt. ({6}) Denn nur dann werden die jetzigen Jugendlichen später als Erwachsene bereit sein, ebenfalls Leistungen zu erbringen und Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen. Nur so werden sich die Jugendlichen auf Dauer in unserer Gesellschaft wiederfinden und sich darin engagieren. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident! Werte Damen! Werte Herren! 113 000 Lehrstellen fehlten rechnerisch im September dieses Jahres. Das sind 113 000 Schicksale von jungen Menschen, die ihr Zeugnis bekommen haben und in die Arbeitswelt einsteigen wollen, wo sie aber offenkundig keine Perspektive finden. Diese Zahl war und ist zugleich die höchste Zahl, die in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands in diesem Bereich erreicht wurde. Das ist ein einsamer und trauriger Nachkriegsrekord dieser Bundesregierung. Trotz der Nachvermittlung, einer großen Ausbildungsoffensive und des gemeinsamen Handelns mit der Wirtschaft rechnet die Bundesanstalt für Arbeit damit, dass die Zahl der nicht versorgten Schulabgänger Ende Dezember bei 60 000 liegen wird. Diese Zahl ist doppelt so hoch wie im letzten Jahr. Zum zweiten Mal haben Sie als Regierung gemeinsam mit den Sozialpartnern eine Ausbildungsgarantie gegeben und sie gebrochen. Nach fünf Jahren rot-grüner Regierung steckt die berufliche Ausbildung offenkundig in der Krise. Die Ursache liegt nicht bei fremden Mächten, sondern sie liegt auch in der Politik, die in Deutschland verantwortlich - oder vielmehr unverantwortlich gestaltet wird. Es ist ein Faktum: 40 000 betriebliche Insolvenzen bedeuten einen Verlust von über 400 000 Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Die Unternehmer melden betriebliche Insolvenz an, weil es an Aufträgen fehlt und keine ausreichende Liquidität vorhanden ist. Denn der wirtschaftliche Rahmen ist falsch gesetzt worden, und zwar nicht nur in betriebswirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in den Bereichen, in denen der Bund mit zu entscheiden hat, auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht. Seit Helmut Kohl 1983 die erste Ausbildungsgarantie gegeben hat, lag sie immer in der Gesamtverantwortung aller Akteure, das heißt der Wirtschaft, der Gewerkschaften und auch der Politik. Aus dieser Verantwortung können Sie sich nicht herausstehlen. Schieben Sie nicht alles auf die Betriebe, die jährlich 28 Milliarden Euro in die berufliche Bildung investieren, also mehr als Bund und Länder zusammen! ({0}) Dass der Bundeskanzler dem letzten Ausbildungsgipfel fernblieb, lieber Kollege, zeigt, wie fern ihm die Schicksale der 113 000 jungen Menschen ohne Ausbildungsplatz wirklich sind. ({1}) Wie wenig der Bundeskanzler von seinen eigenen Appellen hält, zeigt, dass im Kanzleramt zum 1. September dieses Jahres nur ein Auszubildender eingestellt worden ist. ({2}) Insgesamt sind es zehn. Wenn Sie Ihre eigenen Kriterien im Kanzleramt erfüllen würden, dann müssten Sie 30 einstellen. Wenn Sie dem Handwerk nacheifern würden, dann müssten Sie 90 Ausbildungsplätze schaffen. Anspruch und Wirklichkeit machen deutlich, dass die Politik versagt. Trotzdem machen Sie der Wirtschaft entsprechende Vorwürfe. Herr Kollege Schmitt, Sie haben die Offensive „Kapital für Ausbildung“ angesprochen. Ich habe heute noch einmal nachgefragt, wie viele Ausbildungsplätze durch dieses Programm im Laufe dieses Jahres geschaffen worden sind. Es sind gerade einmal 750. So viele Ausbildungsplätze haben allein die Bürgermeister in meinem Wahlkreis Viersen geschaffen. Dafür brauchte es keine Bundesinitiative. Viel Nebel, viel weiße Salbe, aber wenig effektive Wirkung - das ist das Problem Ihrer Politik! In Ihrer Regierung gibt es nur eine schwache Lobby für die berufliche Bildung. Es gibt zwar genügend verbale Lautsprecher - mit Herrn Tauss verlässt gerade einer dieser den Plenarsaal -, die aber politische Leisetreter sind, wenn es um die Durchsetzung der Interessen junger Menschen geht. Die Union will eine tief greifende Reform der Berufsausbildung. Es darf aber nicht um Ideologie, sondern nur um die Zukunft der Menschen gehen. Im letzten Jahr der Regierung Schröder waren über 300 000 Arbeitslose zusätzlich zu verzeichnen. Jeder zweite von ihnen ist ausbildungslos. Es führt ein direkter Weg von der Ausbildungslosigkeit in die dauerhafte Arbeitslosigkeit. Keine Lösung ist eine Ausbildungsabgabe, über die momentan debattiert wird. Sie haben ein erotisches Verhältnis zu Steuern und Abgaben. Das ist eines der Probleme unserer Wirtschaft. ({3}) - Geduld, Herr Kollege Schmitt! ({4}) - Die habe ich besser im Blick als Sie, Herr Schmitt. Eine tarifliche Umlagefinanzierung gibt es im Rahmen eines Feldversuchs bereits seit Mitte der 70er-Jahre in der Bauwirtschaft. Sie wissen, dass der stärkste Ausbildungsplatzeinbruch gerade im Baubereich stattgefunden hat. Dort ist die Zahl der Ausbildungsplätze seit 1998 von über 100 000 auf unter 40 000 abgestürzt. ({5}) Dies zeigt offenkundig, dass Abgaben keine Ausbildungsplätze schaffen. Das kann nur eine vernünftig funktionierende Wirtschaft. ({6}) - Ich habe noch vier Minuten und 44 Sekunden. Für Sie reicht das, Herr Schmitt. Ich kann Ihnen sagen, was geschehen wird, wenn eine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird. Die großen Unternehmen würden sich freikaufen. Im Bund würde eine neue Verteilungsmaschine etabliert und am Ende stünde die völlige Verstaatlichung der beruflichen Bildung. Wir, die Union, wollen eine wirkliche Reform, das bedeutet, dass wir zwar am Berufsbild festhalten, aber das Berufsprinzip dynamischer und flexibler gestalten wollen. Wir brauchen neben der Beschleunigung von Wissen und Innovation auch eine Beschleunigung bei den neuen Berufsbildern. Es gibt derzeit insgesamt 350 Ausbildungsberufe, aber nur 32 zweijährige, praktisch orientierte Ausbildungsberufe. In den letzten Jahren kamen 18 neue Berufsbilder hinzu. Über 100 neue Berufsbilder liegen in der Schublade. Beim jetzigen Tempo wären diese etwa im Jahr 2013 abgearbeitet. Das Tempo muss beschleunigt werden, wenn man mehr Dynamik und Flexibilität in der beruflichen Bildung haben will. ({7}) Nach dem Berufsbildungsbericht der Bundesregierung gibt es jährlich 125 000 Ausbildungsabbrecher. Viele davon sind schulmüde. 90 000 Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss. Jeder zweite ausländische Jugendliche bleibt ohne Ausbildung. Für sie wäre eine zweijährige, praktisch orientierte Berufsausbildung eine Chance, die sie heute offenkundig nicht haben. ({8}) Wir brauchen mehr Ausbildungsstufen: vom Verkäufer zum Einzelhandelskaufman, vom Baufacharbeiter zum Maurer, von der Fachkraft für ambulante Pflege in zwei Jahren zum Krankenpfleger im dritten Jahr. Diese Stufen sind keine Sackgassen. Wem die Puste in der Ausbildung ausgeht, der darf nicht wieder bei nichts landen. Er sollte sich über die berufliche Praxis weiterentwickeln können. Im Saarland - ein Land, aus dem seit einem Jahr wieder vernünftige Botschaften kommen - hat Frau Ministerin Görner im Bereich der Pflege ein Stufenmodell geschaffen, das sich eng an der dualen Ausbildung orientiert. ({9}) - Das beruhigt mich ungemein, Herr Tauss. Herzlich willkommen! - Jugendliche werden bei Pflegeeinrichtungen eingestellt und absolvieren einen stark praktischen Ausbildungsteil. Nach der ersten Stufe kommt dort die Prüfung zum Altenpflegehelfer; nach der zweiten Stufe folgt der Abschluss als Altenpfleger. Letztes Jahr wurden im Saarland 204 angehende Altenpfleger nach dem neuen Konzept eingestellt. Darunter sind sehr viele Hauptschüler, denen der Weg in die Pflegeausbildung durch immer mehr Theorie und immer mehr Verschulung letztendlich verbarrikadiert worden ist. Nun haben auch Hauptschüler dort die Möglichkeit, in Pflegeberufe einzusteigen. ({10}) Nach den Zahlen aus dem saarländischen Ministerium haben in den letzten Wochen 202 Auszubildende die erste Stufe erfolgreich abgeschlossen. Alle beginnen die zweite Stufe, um sich dort zum Altenpfleger ausbilden zu lassen. Ab Oktober wird es dieses - im Saarland entwickelte Modell auch in Brandenburg geben. Die CDU-Fraktion in Düsseldorf hat eine entsprechende Vorlage in den nordrhein-westfälischen Landtag eingebracht. Ich hoffe sehr, dass man auch dort bereit ist, die Pflegeausbildung zu modernisieren und ein Arbeitsfeld zu schaffen, in dem praktisch begabte Menschen wieder eine Zukunft finden. Bundesweit fehlen 20 000 Pflegekräfte. Anstatt Greencards auszugeben, um Abhilfe zu schaffen, wäre es besser, den Arbeitslosen wieder eine Perspektive zu geben. Wenn Sie Ende Oktober einen neuen Ausbildungsgipfel veranstalten, dann sorgen Sie bitte dafür, dass auch der Bundeskanzler anwesend ist und dieses Thema zur Chefsache macht. Außerdem bitte ich Sie, dafür zu sorgen, dass der andere wichtige Akteur der beruflichen Bildung, die Bundesländer, vertreten sein wird, damit auf diesem Gipfel auch darüber gesprochen wird, wie die flächendeckende Modernisierung der beruflichen Bildung konkret gestaltet werden kann. Der größte Ausbilder ist das Handwerk mit über 540 000 Ausbildungsplätzen. 18 Prozent aller Betriebe sind Handwerksbetriebe; sie stellen aber fast 40 Prozent der Ausbildungsplätze. Ihr jüngster Vorschlag, den Meisterbrief zu reformieren, hat einen Großteil der Ausbildungsmotivation zerstört. Wichtiger und besser wäre es - dementsprechend sieht unser Angebot im Vermittlungsausschuss aus -, dass Sie neben der Gefahrengeneigtheit die Ausbildungsleistung bei Handwerksberufen anerkennen, um den Meisterbrief als Voraussetzung für die Selbstständigkeit zu erhalten. ({11}) Die Handwerksberufe befinden sich in einem Zweifrontenkrieg: Auf der einen Seite droht zwei Dritteln dieser Berufe, dass der Meisterbrief weitgehend entfällt; auf der anderen Seite stehen ihnen rund 60 000 Ich-AGs gegenüber, die hoch subventioniert handwerksähnlichen Tätigkeiten nachgehen und in direkte Konkurrenz zum Handwerk treten. Daher wäre es besser, die Ausbildungsleistung als eigenes Kriterium anzuerkennen. Jeder Handwerksbereich, der mehr als die übrige Wirtschaft ausbildet, kann durch seine Ausbildungsleistung den Meisterbrief erhalten. Alle sieben Jahre findet eine Überprüfung statt, sodass die Bereitschaft zur Ausbildung in diesen Berufen nachhaltig gewährleistet ist. Wenn Sie unseren Vorstellungen folgen, dann hätten Sie zwei Probleme gelöst: Ihren Zoff mit dem Handwerk und das Fehlen der Ausbildungsmotivation in diesem Bereich. Lassen Sie uns miteinander vernünftig und praktisch orientiert reden! Das Saarland zeigt: Es geht in der Praxis. Stimmen Sie unserem Antrag zu! ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Willi Brase, SPD-Fraktion.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass dann, wenn es um die Zukunftsmöglichkeiten von jungen Menschen geht, von Neid, von Flexibilisierung, von persönlicher Verantwortung und vor allen Dingen vom Senken der Ausbildungsvergütung als zentralem Element zur Schaffung von weiteren Ausbildungsplätzen die Rede ist. ({0}) Dies ist eine Politik, die nur zulasten der jungen Leute geht und nicht beachtet, dass auch andere eine Verantwortung und eine Bringschuld haben. ({1}) - Ich will Ihnen sagen, was wir wollen, Herr Kollege. Wir wollen, dass alle jungen Leute eine vernünftige Chance erhalten und, wenn es Not tut, auch eine zweite Chance. Was sie daraus machen, müssen sie selbst sehen. Wir sind sicher, dass sie etwas daraus machen können. Wir setzen uns dafür ein, dass die jungen Leute auch zukünftig eine qualifizierte Ausbildung erhalten, die vor allem auch eine Beschäftigungsmöglichkeit mit sich bringt. Die Ausbildung muss nach wie vor auf einem hohen Qualifikationsniveau stattfinden. ({2}) Sie haben die Tätigkeit der Ausbildungsplatzentwickler angesprochen. Schon seit zig Jahren, schon weit vor unserer Regierungszeit, noch zu Zeiten von Helmut Kohl, ({3}) haben wir in vielen Regionen im Zusammenhang mit der aktiven Arbeitsmarktpolitik, über den § 10 und Ähnliches, Ausbildungsplatzentwickler, Lehrstellenentwickler eingestellt, ohne dass der Bund dazu Mittel zur Verfügung gestellt hat. Dazu haben wir keine Anweisung von oben gebraucht. Das hat in manchen Regionen von 1994 bis zum Jahr 2002, ja bis zum Jahr 2003 mehr als 60 Prozent, mehr als 70 Prozent neue qualifizierte Ausbildungsplätze gebracht. Da brauchen wir keine Belehrung, sehr geehrte Damen und Herren! ({4}) Das Schöne war, dass die Industrie- und Handelskammern und die Arbeitgeberverbände das nachher selbst mitgetragen haben. Wir haben drei Jahre über ABM gefördert. Im vierten Jahr und in den folgenden Jahren muss der vorherige ABM-Mitarbeiter dann vernünftig angestellt werden. Das war eine sehr gute Maßnahme. ({5}) Die Ausbildungsvergütung soll - so habe ich es im Antrag der FDP und auch in den Anträgen der CDU/ CSU gelesen - gesenkt werden. Sie haben in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass wir eine hohe Zahl von arbeitslosen Jugendlichen haben, dass viele junge Menschen einen Ausbildungsplatz suchen, und hervorgehoben, dass dahinter Menschen stehen. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Bei dem Durchschnittsalter, in dem die jungen Menschen sind, wenn sie eine Ausbildung machen, müssen wir davon ausgehen, dass sie schon alleine leben. Mit ihrer Ausbildungsvergütung müssen sie ihren Lebensunterhalt und das, was sie möchten, bestreiten. Schon allein aus diesem Grund verbietet es sich, gerade bei ihnen Geld einzusparen, damit andere einen Vorteil davon haben. Das können und werden wir nicht mitmachen. ({6}) Über die beabsichtigte Senkung der Ausbildungsvergütungen, die ja in Tarifverträgen geregelt sind, wird der weitere Versuch unternommen, einen Angriff auf die Tarifautonomie zu starten und die Tarifautonomie auszuhebeln. ({7}) Das hat ja Methode. Auch in anderen Zusammenhängen, über die Veränderung beim Günstigkeitsprinzip und ähnlichem, wird versucht, die Tarifautonomie anzutasten und sie so zu gestalten, dass sie nur noch aus Sicht der Unternehmen gut funktioniert. Das können und werden wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({8}) - Darum, ob das typisch Gewerkschaftssekretär ist, geht es gar nicht. ({9}) Es geht darum, dass auch in dieser Republik, in dieser Gesellschaft starke Gewerkschaften sozialen Fortschritt für die abhängig Beschäftigten erreichen. ({10}) Lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der in der Debatte immer wieder eine Rolle spielt, nämlich die Frage der Ausbildungen mit vermindertem Theorieteil, der Kurzausbildungen und der zweijährigen Ausbildungen. Es wird behauptet, dass sich die Tarifpartner bisher so gut wie nie auf die Schaffung neuer Berufe mit zweijähriger Ausbildung mit weniger anspruchsvollem Profil verständigt haben und dass dies ausbildungswillige Betriebe hemmt. Gleichzeitig müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Unternehmen immer mehr dazu übergehen, Ausbildungsstellen nicht zu besetzen, wenn es den Bewerberinnen und Bewerbern an grundlegenden Qualifikationen fehlt. Ich meine, dass man über diesen Widerspruch trefflich streiten kann und dies auch sicherlich tun muss. ({11}) Empirisch ist der Zusammenhang zwischen Ausbildungsplatzabbau und Mangel an geeigneten Bewerbern bis heute nicht nachgewiesen worden. Deshalb halte ich es für sinnvoll, noch einmal auf Folgendes hinzuweisen: Ich glaube, dass es notwendig und richtig ist, den jungen Menschen eine voll qualifizierende Ausbildung zu ermöglichen, die sich daran orientiert, dass eine spätere Beschäftigungsfähigkeit hergestellt wird. Wenn wir für gute Qualität sorgen, können wir das duale Ausbildungssystem weiter voranbringen. Personen wie Herr Braun oder Herr Philipp, die sagen, dass über 90 000 junge Leute - ob angeblich oder tatsächlich, sei dahingestellt - nicht fähig sind, eine Ausbildung zu beginnen, bekommen mit § 50 ff. Berufsbildungsgesetz ein Instrument in die Hand, womit sie dieses Manko in den Griff bekommen und bekämpfen können. Nehmen Sie doch bis Ende März nächsten Jahres 10 000 bis 15 000 junge Leute in die betriebliche Berufsausbildung auf, wie es die IG Metall und andere im Zusammenhang mit dem Lernpakt vorgeschlagen haben! Wenn Sie das machen, helfen Sie den jungen Leuten ganz konkret und wir kommen bei der Bewältigung dieser Krise ein Stück weiter. ({12}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1348 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Diesbezüglich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 3 b: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1302. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des Berufsbildungsberichts 2003 der Bundesregierung auf Drucksache 15/1000 die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Offensive für Ausbildung - Modernisierung der beruflichen Bildung“ auf der Drucksache 15/741. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Das Erste war die Mehrheit. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des Berufsbildungsberichts 2003 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/653 mit dem Titel „Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - Lehrstellenmangel bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, wiederum unter Bezugnahme auf den Berufsbildungsbericht, die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/587 mit dem Titel „Für die Stärkung der dualen Berufsausbildung in Deutschland - mehr Chancen durch Flexibilisierung und einen individuellen Ausbildungspass“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 3 c: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1304. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1090 mit dem Titel „Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 15/925 mit dem Titel „Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/1130 mit dem Titel „Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ({0}) - Drucksache 15/1487 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Reform des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb steht unter dem Motto „Wirtschaft stärken - Verbraucherrechte sichern“. Wir sehen in der Stärkung der Wirtschaft und der Sicherung der Verbraucherrechte keine Gegensätze. Die Aufgabe eines modernen Wirtschaftsrechtes besteht gerade darin, allen am Wirtschaftsleben Beteiligten einen auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen. Dabei hatten wir drei Ziele klar vor Augen: erstens den Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher, wo er nötig ist, zweitens die Stärkung der Eigenverantwortung. Wir gehen davon aus, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher mündig sind. ({0}) - Es ist so, Herr Abgeordneter, dass der Verbraucherschutz nicht alleine von Frau Künast vertreten wird, ({1}) sondern auch von anderen Ministerien. Wir vertreten die Verbraucher insofern, als es um unlauteren Wettbewerb geht. Insoweit hat alles seine Ordnung ({2}) Wir wollen die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger stärken. Wo sie oder die Wirtschaft gesellschaftliche Aufgaben genauso gut oder sogar besser als der Staat wahrnehmen können, sollen sie es auch tun. Das dritte Ziel, das uns geleitet hat, ist ebenso wichtig, nämlich die Liberalisierung der Wirtschaft. Wir wollen keine Gängelung der Wirtschaft durch bevormundende Vorschriften. Gesetze soll es nur da geben, wo es für einen fairen Wettbewerb notwendig ist. ({3}) Genau das haben wir, wie wir meinen, mit dem Ihnen jetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auch verwirklicht. ({4}) Wir erreichen alle drei Ziele und haben das richtige Verhältnis zwischen den verschiedenen Mitteln, die zur Auswahl standen, gefunden. Lassen Sie mich bei unserem Ziel der Liberalisierung des Wettbewerbsrechts beginnen. Wie Sie wissen, ist das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb fast 100 Jahre unverändert geblieben und gilt im internationalen Vergleich als ganz besonders restriktiv. Dies führt für deutsche Unternehmer zu Wettbewerbsnachteilen im europäischen Binnenmarkt. Ebenso hat es die beim Bundesministerium der Justiz eingerichtete Expertenarbeitsgruppe, die uns beim Entwurf des Gesetzes beraten hat, gesehen. Bei allen Unterschieden im Detail waren sich alle darin einig, dass die mit der Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung begonnene Liberalisierung des Wettbewerbsrechts fortgesetzt werden muss. Diesen Ansatz greift der Regierungsentwurf auf. Im neuen UWG soll die Reglementierung von Sonderveranstaltungen wie Sommerschlussverkauf, Winterschlussverkauf, Jubiläumsverkauf und Räumungsverkauf ersatzlos entfallen. An dieser Stelle ist es mir wichtig, deutlich zu machen, dass wir nicht wollen, dass Sommer- und Winterschlussverkäufe zukünftig nicht sind. Es liegt vielmehr in der freien unternehmerischen Entscheidung des Handels, sich auf Schlussverkaufstermine zu einigen und Schlussverkäufe durchzuführen. Es wird nicht mehr wie bisher im Gesetz stehen, welche 14 Tage im Jahr dafür erlaubt sind. Wir meinen, dass es das neue Gesetz den Gewerbetreibenden ermöglicht, mit neuen Geschäftsideen Kunden zu finden und an sich zu binden. Rabattaktionen können künftig auch lokal auf Stadtebene, auf Gemeindeebene oder sogar nur für einzelne Stadtteile verabredet werden, zum Beispiel anlässlich von Stadtfesten. Ferner können auch Händlerpools gebildet oder Kundencoupons für Stadtbezirke herausgegeben werden. Die von uns vorgeschlagene Liberalisierung entspricht auch der Zielsetzung einer verbraucherfreundlichen Politik. Wir orientieren uns dabei am Leitbild des mündigen Verbrauchers, der künftig selbst entscheiden soll, welches Angebot sich für ihn lohnt. Besonders wichtig ist mir, dass wir den Verbraucher in § 1 des Gesetzentwurfs erstmals als Schutzobjekt benannt haben. Denn auch hier wollen wir den Weg der Eigenverantwortung und der Selbstregulierung gehen. Dieser Weg ist für den Verbraucherschutz deutlich wirksamer, als wenn weitere behördliche Eingriffsmöglichkeiten bei bestimmten Verkaufsaktionen geschaffen würden. Wir setzen darauf, dass Verbraucherinnen und Verbraucher zu unterscheiden lernen, welche Aktionsangebote für sie wirklich attraktiv sind und bei welchen Verkaufsaktionen ihnen gegebenenfalls minderwertige Waren angeboten werden. Unsere Politik will der Wirtschaft wieder Mut zu interessanten Angeboten und den Verbrauchern Mut zur Entscheidung machen. ({5}) Meine Damen und Herren, ich hatte es bereits gesagt: Man muss sehen, wo doch Regelungen nötig sind. Unlautere Geschäftspraktiken bleiben nach wie vor verboten. Denn da müssen wir zum Schutz der Verbraucher klare Grenzen ziehen. Es gibt dafür einen nicht abschließenden Katalog von Beispielsfällen. Ich möchte ausdrücklich auf das Verbot der Schleichwerbung, auf das Verbot der Ausnutzung der Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen und auf das Verbot der Kopplung von Gewinnspielen mit dem Erwerb einer Ware hinweisen. Als irreführende Werbung werden wir die Werbung mit vermeintlichen Preisnachlässen verbieten: erst mit so genannten Mondpreisen ganz hoch ausgezeichnet, dann ganz stark heruntergesetzt. Auch Lockvogelangebote - es heißt „so lange der Vorrat reicht“ und im Geschäft erfährt man, dass nur ein Stück vorhanden war sollen untersagt werden. ({6}) Ein Thema, das uns alle in verschiedenen Gebieten beschäftigt, ist die belästigende Werbung. Wir sagen: Eine unzumutbare Belästigung ist die Werbung ohne Einwilligung des Adressaten mittels Telefonanrufen, mittels Faxgeräten oder bei elektronischer Post. ({7}) Das Stichwort Spamming ist Ihnen allen längst bekannt, nicht nur aus der Wirtschaftspresse. Wir wollen außerdem gegen betrügerische Aktionen vorgehen, in denen der Schaden für den einzelnen Verbraucher mit ein paar Euro gering ist, der Täter aber eine Menge Geld verdient. Denn bei hunderttausend Leuten, die ein Fax zurücksenden, um künftig von Werbung befreit zu werden, ist der Gewinn schon enorm. Für solche Fälle, wenn jemand vorsätzlich gegen das UWG verstößt und dadurch die Kunden übervorteilt, haben wir einen Gewinnabschöpfungsanspruch vorgesehen, den die Verbraucherschutzverbände geltend machen sollen. Die Klage ist - insofern muss man keine Sorge haben - für die Verbände völlig uneigennützig; denn der Erlös fließt in die Staatskasse. Meine Damen und Herren, dieses neue Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb wird uns auch im europäischen Rahmen wieder die Stellung geben, die wir brauchen. Wo wir bisher weniger vorbildhaft waren, werden wir jetzt an der Spitze der Bewegung stehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unseren Ansatz der Versöhnung von Wirtschaft und Verbrauchern auch im Rahmen der Europäischen Kommission werden durchsetzen können. Sie wissen, dass dieser Ansatz dort noch nicht so gepflegt wird. Vielmehr gibt es dort immer noch gegenläufige Interessen. Wir werden also auch auf europäischer Ebene dafür werben, dass die Verbindung von Wirtschaft, Wettbewerb und Verbraucherrechten durchgesetzt wird. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ingo Wellenreuther, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Entwurf einer Novelle des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb wird am heutigen Tag die erste größere Gesetzesvorlage beraten, die die Bundesregierung seit der Bundestagswahl vor einem Jahr zustande gebracht hat. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) - Das ist wahr. Im Unterschied zum altehrwürdigen UWG aus dem Jahre 1909 wird in der Novelle nun erstmals, Frau Künast - - Jetzt sage ich schon Frau Künast zu Frau Zypries. ({1}) - Herr Stünker, heute komme ich ausnahmsweise nicht zu Ihnen. Aber lassen Sie mich fortfahren. Frau Zypries, Sie haben es angesprochen: In der Novelle wird nun erstmals der Verbraucher als Schutzobjekt des Gesetzes ausdrücklich erwähnt. Man könnte also schnell der Versuchung erliegen, den Entwurf als „Meilenstein“ zu bezeichnen, wie Sie es, Frau Justizministerin, in Ihrer Rede am 7. Mai hier im Bundestag schon einmal getan haben. Dabei wurde aber lediglich das niedergeschrieben, was seit Jahrzehnten ständige Rechtsprechung in Deutschland ist. Neben dem eigentlichen Ziel des Gesetzes, nämlich den freien und fairen Wettbewerb zu gewährleisten, wird bisher schon außer den Mitbewerbern und der Allgemeinheit auch der Verbraucher geschützt. Diese Schutzzwecktrias ist daher keine Erfindung der Bundesregierung, sondern Verdienst richterlicher Rechtsfortbildung. Gescheitert ist die Bundesregierung mit dem Versuch, diese Gesetzesnovelle als Maßstab für ein europäisches Lauterkeitsrecht im Wettbewerb vorzulegen. Frau Zypries, Sie kommen damit zu spät. Sie stehen gerade nicht „an der Spitze der Bewegung“, wie Sie gerade ausgeführt haben. Bereits im Juni dieses Jahres lag nämlich ein Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken vor. Darin sind als Schutzobjekte ausschließlich die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher niedergelegt und eben nicht die im deutschen Recht verankerten Schutzobjekte wie die Allgemeinheit und die Mitbewerber. Deshalb sind erhebliche Abgrenzungsprobleme zwischen dem deutschen Wettbewerbsrecht und den EU-Richtlinien vorprogrammiert. Dies wird zu einer verstärkten Rechtsunsicherheit und zu Wettbewerbsnachteilen von deutschen Unternehmen führen, die bei der europäischen Harmonisierung des Wettbewerbsrechts beseitigt werden müssen. Wie Sie vorhin schon angesprochen haben: Es wird da noch einiges zu tun sein. Meine Damen und Herren, ich möchte einige konkrete Regelungen der Gesetzesnovelle ansprechen, die noch Veränderungen bedürfen. Ich nenne das Thema der Sonderveranstaltungen; auch Sie, Frau Justizministerin, haben gerade davon gesprochen. Noch einmal zur Erinnerung: Nach dem Fall des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung vor circa zwei Jahren entstand in der Praxis Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Werbung mit Sonderaktionen und mit Preisnachlässen. Diese Arten der Werbung sind zwar nach dem Rabattgesetz nicht mehr, aber nach dem geltenden UWG verboten, weil sie eine unzulässige Sonderverkaufsveranstaltung darstellen können. Deshalb meinen auch wir, dass eine Abschaffung der §§ 7 und 8 des UWG konsequent ist. Dann entsteht aber genau das Problem, dass die in § 7 verankerten zulässigen Ausnahmetatbestände - Sommer- und Winterschlussverkauf - nicht mehr zu bestimmten Zeiten im Jahr geschützt wären. Gerade der diesjährige Sommerschlussverkauf hat wieder gezeigt, dass Verbraucher und Unternehmen diesen Sonderverkauf nutzen. Diese Tradition hat sich beim Handel zur Lagerräumung bewährt, ist bei Verbrauchern und Medien beliebt und ist als bundesweiter Aktionszeitraum anerkannt. Wir glauben nicht, dass eine Verständigung der Wirtschaft ausreichend ist, ({2}) um diese Verkäufe zu ermöglichen. Wir fordern Sie deshalb auf, den Gesetzentwurf so zu ändern, dass Sommerund Winterschlussverkäufe - auch begrifflich - weiterhin im UWG geschützt werden. ({3}) Umstritten ist der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, der Gewinnabschöpfungsanspruch in § 10 UWG; auch davon haben Sie gesprochen, Frau Zypries. Auf den ersten Blick ist dieser Anspruch zu begrüßen. Nach dem Motto „Wettbewerbswidriges Handeln darf sich nicht lohnen“ soll unlauteres Werben auch dann bestraft werden, wenn der einzelne Verbraucher mit relativ geringen Kosten belastet wird, er diese wegen Geringfügigkeit nicht einklagen würde, der Gewinn in der Summe aber erheblich ist. Ordnungspolitisch ist dies vertretbar, weil dadurch ein wettbewerbswidriger und damit ungerechtfertigter Vorteil neutralisiert würde. Wir vertreten allerdings - immer noch - die Auffassung, dass ein solcher Anspruch unpraktikabel und für Gerichte und Parteien nicht zu handhaben ist; denn dem klagebefugten Verband wird die Gewinnermittlung sehr schwer fallen. Es ist bekanntermaßen bereits unmöglich, den Erfolg einer zulässigen Werbemaßnahme in konkrete Zahlen zu fassen. Es gilt wohl der Satz: Die Hälfte des Geldes, das man in die Werbung steckt, ist zum Fenster herausgeworfen - man weiß nur nicht, welche. Erst recht unmöglich wird es sein, festzustellen, welcher Mehrerlös gerade auf der Unlauterkeit einer Werbeaktion beruht. Deswegen meinen wir, dass diese Regelung sehr schwer handhabbar ist. Außerdem besteht die Gefahr der Betriebsspionage; denn zur Errechnung der Gewinnspanne sind Kenntnisse über Umsätze und Kosten des Unternehmens nötig. Um diese zu erlangen, müsste der Gläubiger eine Auskunftsklage erheben und verlangen, dass der Unternehmer seine Kalkulationen, Einkaufspreise, Erträge, Vorratsmengen und so weiter offen legt und damit seine Betriebsgeheimnisse preisgibt. ({4}) Das kann nicht gewollt sein. Die Probleme bei der Gewinnermittlung können auch nicht - wie es bereits mehrfach beschrieben worden ist - durch richterliche Schätzung gelöst werden. Die Gewinnermittlung kann nur auf der Grundlage von Tatsachen und nicht einfach ins Blaue hinein erfolgen. Auch der Nachweis des Vorsatzes wird große Schwierigkeiten bereiten. Rechtssystematisch ist der Gewinnabschöpfungsanspruch am Ende aber auch systemwidrig. Die Verpflichtung, den wettbewerbswidrig erlangten Gewinn an den Bundeshaushalt abzuführen, hat nach Ihrer Begründung Strafcharakter, der dem deutschen Zivilrecht aber fremd ist. Die Verhängung rein strafender Sanktionen für ein verbotenes Verhalten ist eine Aufgabe, die bisher der Staat übernommen hat und gerade nicht private Verbände. Frau Zypries, der geplante Gewinnabschöpfungsanspruch ist zwar eine gut gemeinte, aber eine schlecht gemachte Regelung, um vor Wettbewerbsverstößen abzuschrecken oder sie jedenfalls nicht zu belohnen. Er ist in den überwiegenden Fallkonstellationen unpraktikabel. Jedenfalls ist er ungeeignet, dem Staat eine neue Einnahmequelle zu verschaffen. Dieses Ansinnen, Frau Zypries, ehrt Sie zwar sehr. Aber den Haushalt muss Herr Eichel anders finanzieren. Zum Schluss noch ein Punkt, der geändert werden muss. Es geht um die vorgesehene Regelung zum Telefonmarketing. In den meisten Staaten der EU setzt man hier auf den mündigen Bürger. Auch Sie haben vorhin davon gesprochen, dass das ein Anliegen in der Gesetzesnovelle war. Europa hat sich für eine liberale und wirtschaftsfreundliche Regelung entschieden. Das heißt, wer nicht mit Telefonwerbung belästigt werden möchte, kann dies im Verlauf des Telefonats kundtun und darf erst dann nicht mehr telefonisch beworben werden. Sie dagegen haben sich für eine Regelung ausgesprochen, wonach man nur angerufen werden darf, wenn man vorher sein Einverständnis dazu gibt. ({5}) Damit haben Sie fahrlässig einen immensen Wettbewerbsnachteil für die deutschen Direktvermarkter in Kauf genommen. Gerade in einer Zeit der großen Konsumzurückhaltung wird der deutschen Wirtschaft eine ganz wichtige Möglichkeit der Kundenwerbung entzogen, die in den übrigen EU-Staaten bereits Standard ist. ({6}) Auf die vielen Arbeitsplätze, die die Bundesregierung damit gefährdet, möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen. Frau Justizministerin, helfen Sie uns, den Markt zu liberalisieren, Rechtssicherheit zu schaffen und Arbeitsplätze zu schützen! Überarbeiten Sie den Gesetzentwurf noch einmal! Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich wiederhole es: Frau Zypries, es ist ein Meilenstein im Wettbewerbsrecht, dass der Verbraucher als von unlauterer Werbung unmittelbar betroffener Marktteilnehmer endlich ebenfalls vom UWG geschützt wird. Verbraucher als Marktteilnehmer nun endlich auch mit einzubeziehen ist ein Wechsel in der Sichtweise. Dafür verdienen Sie wirklich Dank und Unterstützung. Auch die CDU/CSU sollte einsehen, dass Verbraucher gleichberechtigte Marktteilnehmer sein sollten. ({0}) Die Forderung der Grünen nach mehr Chancengleichheit für Verbraucher findet hier den entsprechenden Widerhall. Es ist Ausdruck der Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz, dass sich die gesamte Bundesregierung dieses Ansinnen zu Eigen gemacht hat. Unlauter ist jetzt die Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit insbesondere von Kindern und Jugendlichen oder der Leichtgläubigkeit und Angst von Verbrauchergruppen; darauf hat die Ministerin bereits hingewiesen. Dies ist in Deutschland ein ganz relevanter Markt. Es gibt bei 6- bis 13-jährigen Kindern und Jugendlichen ein Konsumpotenzial von etwa 5,1 Milliarden Euro. Das zeigt, wie relevant eine solche Maßnahme ist. Dies ist ein gesellschaftlich hochaktuelles Thema. Unlauter sind zukünftig auch - darüber ist hier im Parlament diskutiert worden; Herr Kollege Wellenreuther, ich verstehe Ihre Einwände nicht - unzumutbare Belästigungen wie die Zusendung offensichtlich unerwünschter Werbung sowie telefonische Werbegespräche und die automatisierte Werbung per Fax, E-Mail oder Anrufmaschinen, so genannte Spammings. Sie sollten sich einmal vor Augen führen, was Ihre Fraktion in diesem Bereich fordert - dies ist keinesfalls ein Widerspruch zu uns -: ein ausdrückliches Verbot, klare Definitionen, Sanktionen, Verantwortlichkeiten usw. Das sind ganz klar ordnungspolitische Maßnahmen, übrigens nicht ganz falsch. Aber sie stellen keinesfalls - Sie tun hier so - eine völlige Liberalisierung dar. Die, so sagen Sie, sei der beste Weg. Das ist eben nicht der Fall. Es gilt vielmehr, im UWG einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen. Wie dieser durchgesetzt wird - dies ist tatsächlich nicht ganz einfach -, muss noch durch einzelne Maßnahmen bestimmt werden und muss sich in der Praxis zeigen. Wir haben natürlich beim Spamming Probleme durch ausländische Anbieter, die nicht ohne weiteres erfasst werden können. Aber das UWG bietet nun erst einmal einen gesetzlichen Rahmen. Der Grundsatz, dass ohne vorherige Einwilligung des Marktteilnehmers - ich meine das Opt-in-Verfahren keine Werbung erfolgen darf, ist wichtig. Hier unterstützen wir ganz ausdrücklich die Haltung der Bundesregierung und nicht die des Bundesrates. Denn das entspricht im Übrigen der BGH-Rechtsprechung. Darum kann das Argument der Vernichtung von Arbeitsplätzen gar nicht richtig sein. ({1}) Denn solche Praktiken, auch wenn durch sie Arbeitsplätze geschaffen werden, sind schon jetzt rechtswidrig. Insofern sagen wir: Hier hat die Bundesregierung genau den richtigen und im Übrigen rechtskonformen Ansatz gewählt. ({2}) Unerwünschte Werbe-E-Mails, so genannte Spams, nerven - das kennen wir alle -, machen - auch das wissen viele von uns - inzwischen 50 Prozent des elektronischen Postverkehrs aus und verursachen Kosten in Milliardenhöhe für Beseitigung, Schutzmaßnahmen, Leitungskosten und Serverbetrieb. Das sind Produktivitätsverluste in Höhe von etwa 2,5 Milliarden Euro. Ich denke, es ist gerechtfertigt, sich im UWG dieses Problems anzunehmen. ({3}) Wir wollen mit diesem neuen UWG auch für neue Technologien Anreize schaffen. Die Filtertechnik müsste verfeinert werden. Während der Umsetzung muss man sicherlich noch einmal darüber diskutieren, ob es noch weiterer Maßnahmen in Form von Bußgeldern gegen das Versenden von Werbespams und Ähnlichem bedarf. Die Bundesregierung will darüber hinaus weiteren Missständen im Wettbewerbsrecht entgegentreten. Das betrifft zum Beispiel Lockvogelangebote. Es ist natürlich unangenehm, wenn ein Verbraucher oder eine Verbraucherin, die frühmorgens in der Zeitung eine Anzeige sieht und sich zum Laden begibt, dann dort auf leere Regale stößt. ({4}) Auch das ist hier neu geregelt. Das heißt, gegen die Mondpreise wird nun endlich vorgegangen. Ihr Argument, das Sonderveranstaltungen wie Schluss-, Jubiläums- oder Räumungsverkäufe betrifft, entbehrt jeder Grundlage. Die Reglementierung wird ersatzlos gestrichen. Das heißt, es wird tatsächlich ein größerer Freiraum, eine Liberalisierung geschaffen. Das hindert den Handel ja keinesfalls daran, entsprechende Aktionen durchzuführen. Es gibt auch keine Bestimmung im Kartellrecht, die dagegen spräche, entsprechende Absprachen zu treffen. Die Bestimmung im Kartellrecht greift bei Preisabsprachen, aber sie verbietet doch nicht gemeinsame Aktionen in dem Bereich Schlussverkäufe durchzuführen. Diese sind nach wie vor möglich. Darum halte ich die Stellungnahme des HDE für nicht gerechtfertigt. Mit dem neu eingeführten Rechtsinstrument der Unrechtsgewinnabschöpfung soll die Wirksamkeit des Gesetzes verbessert werden, indem die Abschreckung entsprechend groß gehalten wird. Diese Regelung soll nur bei vorsätzlichem Handeln der Unternehmen gelten. Die Verbraucherverbände haben heute Morgen darauf hingewiesen, dass bei der Einführung dieses Instrumentes möglicherweise noch Praktikabilitätsüberlegungen angestellt werden müssen. Dem können wir durchaus beipflichten. Das Wichtige ist, dass dieses Instrument überhaupt eingeführt wird und dass damit ein Anreiz geschaffen wird, nicht mehr schwarzes Schaf zu sein. Denn dadurch wurden nicht nur die Verbraucher geschädigt, sondern alle seriösen Anbieter. Insofern unterstützen wir mit großer Leidenschaft die Bundesregierung bei der Einführung dieses Instrumentes. Fazit: Mit der vorgelegten Modernisierung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb erreicht die Bundesregierung wichtige Verbesserungen zum Schutz der Verbraucher. Unlautere Werbung schadet Verbrauchern und der Wirtschaft gleichermaßen. Deswegen ist es gut, dass wir endlich diese Vorlage bekommen haben und sie im parlamentarischen Verfahren behandeln können. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Höfken, Sie haben eben gesagt: Endlich ist dieses Gesetz da. ({0}) Das kann man unterstreichen. Frau Ministerin Zypries, wir haben dieses Gesetz schon in der letzten Legislaturperiode angemahnt. Wir sind froh, dass es jetzt in dieser Legislaturperiode - vier Jahre verspätet - gekommen ist. ({1}) Ob wir mit dem Inhalt einverstanden sein können, darüber werden wir sicherlich noch in den Beratungen zu diskutieren haben. Aber im Grundsatz hat sich das UWG in den meisten Teilen durchaus bewährt. Die §§ 1 und 3 UWG sind Generalklauseln, zu denen der BGH eine ausgewogene Rechtsprechung gefunden hat. Nicht bewährt haben sich die §§ 7 und 8 UWG. Deswegen werden sie jetzt auch gestrichen. Das ist eine alte Forderung auch der FDP. Wir sind damit also sehr zufrieden. ({2}) Ich bin auch damit zufrieden, Frau Ministerin, dass Sie vorhin klargestellt haben, dass sich Organisationen oder Kaufleute auf regionaler oder örtlicher Ebene zusammenfinden können, um einen Sommerschlussverkauf durchzuführen. Diese Klarstellung werden wir im Rechtsausschuss in den Bericht aufnehmen. In diesem Punkt wären unsere Bedenken also auch ausgeräumt. Sie nehmen beim UWG einen Systemwechsel vor. Bislang war das UWG als Gesetz so angelegt, dass es die Wettbewerber untereinander und gegeneinander schützte. Wir Verbraucher kamen darin nicht vor; das ist richtig. Das kann man aber durchaus auch begrüßen. In den zahlreichen zivilrechtlichen und handelsrechtlichen Nebengesetzen gibt es Verbraucherschutzbestimmungen, die in der letzten Legislaturperiode überwiegend im BGB untergebracht worden sind. Wir haben genügend Verbraucherschutzgesetze, die wir zum großen Teil auf dem Weg über die Europäische Union bekommen haben. Es bedarf meines Erachtens also nicht dieses Systemwechsels vom Wettbewerbsrecht hin zum Verbraucherschutz im UWG. Sie müssten das Wettbewerbsrecht, also das Recht der Kaufleute untereinander und gegeneinander, eher ausbauen und nicht, wie Sie es jetzt tun, durch Verbraucherschutzbestimmungen relativieren. ({3}) Der Punkt Telefonwerbung ist von Herrn Kollegen Wellenreuther bereits angesprochen worden. Darauf brauche ich meine Zeit also nicht mehr zu verwenden. Ich möchte nun auf den Gewinnabschöpfungsanspruch eingehen, den Sie jetzt ins UWG aufnehmen wollen. Bislang gab es im UWG auch schon Sanktionsmöglichkeiten; dazu brauchten wir keinen Gewinnabschöpfungsanspruch. Wenn ein Kaufmann gegen einen anderen Kaufmann beispielsweise wegen einer wettbewerbswidrigen Handlung geklagt hat, wurde diese Klage im Erfolgsfall mit einer größeren Sanktion versehen, als der Gewinnabschöpfungsanspruch wahrscheinlich wäre. Insofern war das im Wettbewerbsrecht bislang schon hinreichend geregelt. Ich warne vor diesem Gewinnabschöpfungsanspruch; einige Argumente sind schon gebracht worden. Darin liegt zumindest ein gewisser Systemwechsel. ({4}) Wir kommen zu amerikanischen Verhältnissen. ({5}) Wenn man den Fall betrachtet, der bei Lidl mit dem Olivenöl passiert ist - davon wurde heute berichtet -, dann sieht man, dass es Möglichkeiten gibt, in anderen Bereichen Sanktionen zu verhängen, zum Beispiel auch im Strafrecht. Wir sollten erst einmal sehen, dass wir die Sanktionsmöglichkeiten, die das Wettbewerbsrecht bietet, ausnutzen, und keine neuen Sanktionsmaßnahmen einführen, die nicht hilfreich sind. Ich bin der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf noch sehr unvollständig ist. Wir werden im Rechtsausschuss noch kräftig daran arbeiten müssen. Aber ich hoffe, dass wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen werden. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem hier heute andebattierten Gesetzentwurf soll das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb umfassend reformiert werden. Ich glaube, Frau Ministerin, dass der Bundesregierung dabei der schwierige Spagat zwischen der weiteren Liberalisierung des Wettbewerbsrechts einerseits und der Beibehaltung des Lauterkeitsgrundsatzes andererseits recht gut gelungen ist. ({0}) Mit der Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung ist bereits in der letzten Legislaturperiode ein wichtiger Schritt für die Liberalisierung des Wettbewerbsrechts getan worden. Insoweit ist es nur konsequent, auch andere noch bestehende starre Regelungen dem anzupassen. So wird durch das Gesetz zum Beispiel die Reglementierung für Sonderveranstaltungen weitgehend ersatzlos aufgehoben. Damit - es ist schon angesprochen worden - dürften auch die Irritationen beendet sein, die zuletzt durch Rabattaktionen auf den gesamten Warenbestand, die rechtlich eigentlich nicht als solche, sondern als Sonderveranstaltungen einzuordnen sind, hervorgerufen wurden. Eine Preissenkung des gesamten Warenangebots wird damit zukünftig also zulässig sein. Für die Händler bedeutet dies weitere Freiräume. Nicht nur sie, sondern auch die Verbraucher werden allerdings in vielen Bereichen umdenken müssen. Dinge, an die wir in diesem Zusammenhang in der Vergangenheit gewöhnt waren und die eine wichtige Rolle in unserem Käuferverhalten gespielt haben, werden sich verändern. So wird es zum Beispiel den guten alten Sommer- bzw. Winterschlussverkauf - jedenfalls so, wie wir ihn kennen - bald nicht mehr geben. ({1}) Kollege Wellenreuther, mich wundert es schon sehr, dass Sie das plötzlich kritisieren. Ich erinnere mich noch an die Debatte, die ich in der Vergangenheit mit Herrn Schauerte und Frau Kopp, die jetzt den Plenarsaal verlässt, geführt habe. Damals klang es auf der FDP- und auch auf der Unionsseite noch ganz anders. Wir wurden damals gescholten, dass wir nicht noch weitergegangen sind und endlich den alten Zopf des Winter- und Sommerschlussverkaufs gekappt haben. Dass Sie sich nun praktisch für den Erhalt einsetzen, ist schon sehr verwunderlich. Man lernt offensichtlich nie aus; ich weiß es nicht. ({2}) All diese Veränderungen dürfen auf alle Fälle nicht dazu führen, dass der Schutz von Mitbewerbern und Verbrauchern völlig aufgehoben wird. Ich halte es daher für sehr richtig, den Verbraucher erstmals als Schutzobjekt ausdrücklich zu erwähnen. Ich halte es auch für wichtig, dass die Generalklausel als Kernstück des neuen UWG erhalten bleibt, insbesondere weil durch diese Generalklausel deutlich gemacht wird, dass unlauterer Wettbewerb verboten ist. Hierzu gehört zum Beispiel - auch dies beinhalten eben Preisklarheit und Preiswahrheit -, dass Preissenkungen nicht irreführend sein dürfen, das heißt, dass nicht mit Preissenkungen geworben werden darf, wenn der vermeintlich heruntergesetzte ursprüngliche Preis nicht auch tatsächlich über eine längere Zeit gegolten hat. ({3}) - Sie haben völlig Recht: Auch das ist momentan schon Rechtsprechung. Ich finde es aber gut, dass es im Gesetz ausdrücklich eine Erwähnung findet. ({4}) Kollege Funke, dass der Händler, der letztendlich dafür verantwortlich ist, dafür auch darlegungs- und beweispflichtig ist, halte ich nur für gerecht und billig. Lassen Sie mich noch zwei Problembereiche ansprechen, die kurz hier, aber insbesondere auch vom Bundesrat kritisiert worden sind. Zum einen geht es um die Frage, wie wir in Deutschland Telefonmarketing behandeln. Die Bundesregierung hat sich für die so genannte „Opt-in-Regelung“ entschieden, das heißt, Telefonwerbung darf nur im vorherigen Einverständnis mit dem Empfänger erfolgen. Anders als Sie, Kollege Funke - und, ich glaube, auch als Kollege Wellenreuther -, halte ich das für richtig. ({5}) Einen Wettbewerbsnachteil für die inländischen Unternehmen, wie es immer suggeriert wird, sehe ich nicht. Das reformierte UWG würde innerhalb Deutschlands auch für die ausländische Konkurrenz gelten und in den EU-Nachbarländern, in denen dies lockerer gehandhabt wird, könnten deutsche Unternehmen nach den dort geltenden Regelungen ebenso auftreten. Wie darin ein Nachteil gesehen werden kann, vermag ich nicht zu beurteilen. ({6}) - Ja, natürlich nicht, Herr Kollege. Ich möchte allerdings nicht - das halte ich für ziemlich schwerwiegend - zu jeder Tages- und Nachtzeit von unzähligen Telefonanrufen belästigt werden - gleich wo man sich gerade befindet -, um sodann mit frohen und unsinnigen Werbebotschaften und -angeboten beglückt zu werden. Weil man das Gespräch zunächst annehmen muss, halte ich das für einen schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre. Man kann nicht damit argumentieren, dass man sagt: Na ja, Sie können das Telefonat ja beenden. Ich meine: Allein die Tatsache, dass ich aufstehen und zum Telefon gehen sowie das Gespräch, nicht wissend, wer dort dran ist, annehmen muss und dann - diese Leute sind ja geschult - möglicherweise unfreundlich reagieren und den Telefonhörer auflegen muss - Kollege Wellenreuther, das mögen wir so machen, die Zielgruppe dieser Unternehmen mit Sicherheit aber nicht -, stellt einen Eingriff dar. Kollege Wellenreuther, die Rechtsprechung sieht das genauso. Für den BGH stellt das einen groben Missbrauch durch unkontrollierbares Eindringen in die häusliche Sphäre dar. Ich finde, dem ist nichts hinzuzufügen. Einen etwaigen Vorteil der Wirtschaft durch die gezielte Kundenwerbung wiegt das meiner Auffassung nach nicht auf. Mit Ausnahme der Werbewirtschaft natürlich wird das übrigens - das ist hier nicht gesagt worden von der Wirtschaft genauso gesehen. Im Übrigen habe ich ohnehin Probleme mit der Werbung mittels der neuen Medien. Die Bombardierung mit Faxen oder E-Mails - der Rekord in meinem Wahlkreisbüro in Bad Doberan betrug am vorletzten Wochenende über 300 E-Mails; diese habe ich an einem einzigen Wochenende erhalten - kostet Zeit und Geld und beinhaltet immer die Gefahr, dass man wichtige Mitteilungen übersieht oder fälschlicherweise löscht. Völlig zu Recht ist dies dann auch als unzumutbare Belästigung eingestuft worden. ({7}) - Sie da hinten sagen, man könne das einfach sperren. Beschäftigen Sie sich einmal ein wenig mit den technischen Vorgängen! Ich denke nur daran, was hier in meinem Büro in Berlin alles versucht wird, um bestimmte E-Mails zu sperren. Das kriegen Sie gar nicht hin, weil allein kleine Veränderungen ausreichen, diese Sperren zu umgehen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns - damit möchte ich abschließen - wohl noch einmal über den Gewinnabschöpfungsanspruch unterhalten müssen. Ich halte den Gewinnabschöpfungsanspruch grundsätzlich für geeignet, Rechtsgutsverletzungen durch Wettbewerbsverstöße zu begegnen. Dies gilt meiner Auffassung nach insbesondere für die Fälle, in denen eine Vielzahl von Abnehmern mit jeweils kleinen Beträgen geschädigt wird, immer in der Hoffnung, dass der Einzelne aufgrund des individuell ja nur geringen Schadens von der Rechtsdurchsetzung absieht und selbst bei einem Unterlassungsanspruch der bereits gemachte Gewinn behalten werden kann. Wir werden jedoch in den nächsten Wochen darüber diskutieren müssen, inwieweit ein solcher Gewinnabschöpfungsanspruch tatsächlich praktikabel ist. Die Bedenken des Bundesrates sind ernsthaft zu überprüfen. Ich weise jedoch darauf hin, dass es bereits Rechtsgebiete gibt, in denen Gewinnermittlung schon jetzt durchgeführt wird. Ich danke Ihnen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort die Kollegin Julia Klöckner, CDU/ CSU-Fraktion.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die Union verfolgt einen modernen, europatauglichen und durchaus wettbewerbsnahen Verbraucherschutz. Wir möchten eine Reform unseres deutschen Wettbewerbsrechts. Darin sind wir uns schon einig, liebe Kollegin Höfken, das streben auch wir an. Wir wollen den Verbraucher schützen und es ist also falsch, uns immer in die jene Ecke zu stellen, als hätten wir etwas gegen den Verbraucher. Schließlich sind wir selbst Verbraucher. Deshalb ist für uns die ausdrückliche Aufnahme der Verbraucher in den Schutzzweck des Gesetzes sehr wichtig. ({0}) - Sie fragen, wo die Kollegen sind. Dann frage ich mich, wo die Ministerin ist. Ich glaube, dies ist noch wichtiger. Wir sind weiterhin für die Abschaffung nicht mehr zeitgemäßer Werbebeschränkungen und wir sind natürlich dafür, dass Regelungslücken geschlossen werden, um Wettbewerbsverzerrungen und Wettbewerbsverstöße zu bekämpfen, die meistens auf Kosten und zulasten der Verbraucher gehen. Nun endlich - wir sind ja froh - legt die Bundesregierung einen Entwurf zur Reform des UWG vor. Wir sagen „endlich“ und wir freuen uns wirklich mit Ihnen, denn wir haben diese nach dem Wegfall des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung längst überfällige Reform schon mehrmals gefordert. ({1}) Durch die Liberalisierung des Sonderveranstaltungsrechts bekommt der Verbraucher endlich das, worauf er schon lange genug gewartet hat, nämlich dauerhaft günstige Preise. Es ist nichts Schändliches, wenn man so etwas möchte. Allerdings gilt bei diesem Gesetzentwurf, wie sonst auch bei der Regierung: Was lange währt, muss nicht unbedingt auch gut werden. Aus verbraucherpolitischer Sicht ist der von der rot-grünen Bundesregierung vorgelegte Entwurf nämlich in vielen Punkten sehr enttäuschend. ({2}) - Das haben Sie noch nicht mitbekommen. Aber es ist sehr wichtig für unsere Verbraucher, dass es die Union gibt und dass wir darauf achten. ({3}) Schauen wir uns die unlauteren Wettbewerbshandlungen an, die im Übrigen zur ständigen Rechtsprechung geführt haben und damit nicht wirklich etwas Neues sind. Etwas abschreiben zu können ist schon mal positiv, es hätte ja auch schief gehen können. ({4}) Hier sticht ins Auge, dass bei den Beispielen für irreführende Werbung die bestehenden, von der Rechtsprechung entwickelten Verbraucherschutzstandards von Ihnen sogar unterschritten werden. ({5}) - Das gibt es nicht? Wir haben es gefunden. ({6}) Ein Beispiel hierfür sind die Lockvogelangebote. Nach bisheriger Rechtsprechung wird in diesem Fall von einer Irreführung des Verbrauchers gesprochen, wenn für eine Ware geworben wird, obwohl diese nicht mehr in angemessener Menge vorhanden ist. Das verstehen Sie sicher noch. Als angemessen wird nach ständiger Rechtsprechung ein Vorrat für drei Tage angesehen. Der Entwurf der Bundesregierung hingegen wischt diese Ansicht einfach vom Tisch. Jetzt soll es ausreichen, dass die beworbene Ware lediglich für zwei Tage vorrätig ist. Verbraucherschutz ist also wieder einmal nur ein Lippenbekenntnis. ({7}) Weitere Beispiele für mangelndes Engagement der Bundesregierung für die Verbraucher sind der Bereich des Telefonmarketings und der Werbung mittels Fax, E-Mail und sonstiger elektronischer Medien, allgemein bekannt unter dem Begriff „Spam“. Die EU-Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation muss nun endlich umgesetzt werden. Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen: Die Umsetzungsfrist endet bereits am 31. Oktober - und zwar nicht nächsten, sondern dieses Jahres. ({8}) Wieder wird die Frist zur Umsetzung einer europäischen Richtlinie auf Kosten der Verbraucher nicht eingehalten. Da nützen auch viele schöne Worte nichts. Sie müssen einfach handeln. ({9}) Bereits in unserem Positionspapier Verbraucherschutz forderten wir vor Monaten, gegen unverlangte Fax- und Spamwerbung vorzugehen. Weil sich vonseiten der Regierung nichts getan hat, haben wir nun ein „Bündnis gegen Spam“ ins Leben gerufen. Gestern haben wir Wirtschaftsvertreter, Politikvertreter und Verbraucherschützer an einen Tisch gebeten, um Lösungsansätze zu erarbeiten. Wenn schon bei Ihnen nichts passiert, dann nehmen Sie wenigstens unsere Vorschläge an! ({10}) Ich komme zu einem weiteren Beispiel der aus Sicht der Verbraucher mangelhaften Ausgestaltung des Gesetzentwurfs. Sie regeln einen Gewinnabschöpfungsanspruch. Das hört sich zwar beeindruckend an; aber sagen Sie uns doch bitte, wie Sie das umsetzen wollen. Erklären Sie uns doch bitte, wer bestimmt, wo Unlauterkeit festgestellt worden ist, und wie deren Vorsatz nachgewiesen werden kann, vor allen Dingen, wie diese Gewinne ermittelt werden. Insofern ist dieser Gesetzentwurf nach unserem Dafürhalten zwar gut gemeint, aber unreif und unausgewogen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Klöckner, möchten Sie Ihre abgelaufene Redezeit durch die Zusatzfrage des Kollegen Manzewski verlängern?

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da er so nett lächelt, ja.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihr Kollege Wellenreuther im Zusammenhang mit dem Telefonmarketing eine völlig andere Position vertritt als Sie?

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es stimmt überhaupt nicht, dass er eine völlig andere Position vertritt. Er hat nur eine differenziertere Haltung. ({0}) Darf ich noch einen Schlusssatz formulieren?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Aber selbstverständlich.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kurzum: Wir sind für ein Gleichgewicht zwischen Verbrauchern und Anbietern. Wir dürfen den Verbraucher nicht gegen die Anbieter ausspielen. Es muss ein gemeinsames Miteinander von Marktanbietern, die lauteren Wettbewerb betreiben, und Verbrauchern möglich sein. Vor allen Dingen darf der Verbraucher nicht bevormundet und für dumm verkauft werden. Letztlich sollten Sie sich eines merken: Es können noch so viele Tiefpreisangebote die Runde machen, die besten Wettbewerbsregeln nützen überhaupt nichts, wenn der Verbraucher nichts in der Tasche hat. Angesichts Ihrer Finanzpolitik wäre es gut, wenn Sie sich das noch einmal vor Augen führen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor zwei Wochen haben wir hier über den Haushalt des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft diskutiert. Wir mussten uns die Kritik gefallen lassen, wir würden Verbraucherschutz nicht als Querschnittsaufgabe anpacken - und das, obwohl in den meisten Beiträgen der Opposition deutlich wurde, dass der Verbraucherschutz bei Ihnen beim Thema gesunde Lebensmittel endet. Ich denke, dass wir uns diesen Schuh überhaupt nicht anziehen müssen. Wir diskutieren heute den Entwurf des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, der eine ganz deutliche Sprache spricht. Wir sehen die Verbraucherinnen und Verbraucher als Teil des Wettbewerbs an und setzen diese Sichtweise um. Verbraucherschutz ist Teil unserer Politik und vor allem eine Querschnittsaufgabe. Im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes steht die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Märkten. Das haben wir schon oft betont. Mit dem neuen UWG stärken wir die Position der Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie werden - das ist ein wichtiger Schritt - explizit zum Schutzobjekt. Wir stellen damit klar: Wettbewerb braucht nicht nur Fairness zwischen den Anbietern; Wettbewerb braucht auch einen fairen Umgang mit den Kunden. Das Ziel hierbei ist klar: Wer unlauter handelt, darf davon nicht profitieren. Unlauteres Handeln führt immer wieder zu schlechterer Qualität und zu hohen Preisen für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Für die Mitbewerber ist dies ein Wettbewerbsnachteil. Insbesondere mit der Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung steuern wir dem entgegen. Das heißt, nicht unlauteres Verhalten, sondern Fairness gegenüber dem Kunden muss ein Wettbewerbsvorteil sein. Gerade diese Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung wird auch von den Verbraucherverbänden positiv bewertet. Sie haben allerdings weitere Anregungen vorgelegt, die wir im Gesetzgebungsprozess noch diskutieren werden. Dennoch: Die Novelle des UWG ist ein wichtiger Schritt nach vorn und - daran gibt es keinen Zweifel mit der Novelle des UWG nehmen wir die bestehende Rechtsprechung zum Wettbewerbsrecht in das Gesetz auf und passen es an die europäischen Harmonisierungsprozesse und an die Entwicklung der Märkte an. Verbraucher brauchen funktionierende Märkte. Notwendig ist dazu das Lauterkeitsrecht, das ihrer Position auf den Märkten Rechnung trägt. Genau dies setzen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass wir ein Gesetz zum Wettbewerb beraten können, ist geboten und vernünftig. Wir können auch erkennen: Es ist gut, dass wir einen solchen Entwurf in Deutschland vorlegen, weil damit der Beratungsprozess in Europa besser beeinflussbar wird. Man hat auch schon einmal argumentiert: Lasst uns die Entwicklung auf europäischer Ebene abwarten; dann können wir uns anpassen. - Ich halte es also für vernünftig, dass wir jetzt ein solches Gesetz beschließen. Aus Sicht der Wirtschaft legen wir großen Wert darauf, dass die Ziele Verbraucherschutz und Wettbewerbsschutz nicht in einem Nachrangigkeitsverhältnis stehen, sondern gleichrangig behandelt werden. Wir können unseren Frieden damit machen, dass man den Verbraucherschutz mit in das Ziel aufnimmt, aber das Gesetz bleibt in seinem Wesen Wettbewerbsrecht. ({0}) Das hat Konsequenzen für alles, was in das Gesetz hineinzuschreiben ist. Die Wettbewerbsfragen sind ernst zu nehmen. Wir müssen bei aller Sorge um den Verbraucherschutz immer wieder darauf achten, dass wir Wirtschaft und Wettbewerb nicht mit Fesseln binden, welche die Märkte belasten. Das führt nicht zu vernünftigen Ergebnissen. Ich meine die Bürokratie, die falsche Handhabung der Vorschriften und die Vermehrung von Rechtsstreitigkeiten und Rechtsunsicherheit, die sich aus einem solchen Gesetz ergeben können. Das wird eine zentrale Fragestellung für die jetzt beginnenden Beratungen einschließlich der Anhörung sein, die wir machen wollen, um genau diese Fragen zu klären. Ich bitte also darum, dass dieser Punkt immer wieder untersucht wird. Wir diskutieren immer vor dem Hintergrund von Entbürokratisierung und Deregulierung. Dabei sollten wir vor Augen haben: Wenn wir stets gezielten Interessen von Interessengruppen nachgeben, die gerne noch eine präzise gesetzliche Regelung haben wollen, so brauchen wir uns am Ende der Legislaturperiode nicht zu wundern, dass wir den Berg der Bürokratie vergrößert haben. Um das zu vermeiden, sind wir daran interessiert, das Gesetz schlank zu halten. Ich will einen anderen Punkt ansprechen, der mir ganz interessant erscheint. Wir schützen mit diesem Gesetz - das taten wir wohl schon in der Vergangenheit Verbraucherinteressen auch dann, wenn gegen eine andere Rechtsnorm verstoßen wird. Wenn jemand, der nicht als Arzt zugelassen ist, eine derartige Behandlung vornimmt - also eine Tätigkeit ausübt, obwohl er die Voraussetzung dafür nicht erfüllt -, dann verstößt er nach altem und nach neuem Recht gegen § 1 des UWG. Denn man sagt, dass er gegen den Verbraucherschutzansatz verstößt, der in diesem Gesetz seinen Ursprung hat. In der Übertragung auf den Wettbewerbsteil hingegen fehlt die Bereitschaft, das so zu sehen. Dazu gibt es ein BGHUrteil. Ich will das entsprechende Beispiel bilden: Wenn steuersubventionierte öffentlich-rechtliche Unternehmen unter Verstoß gegen Gemeindeordnungen in ihren Ländern den Wettbewerb stören und Wettbewerber schädigen, dann gilt das nicht als eine Verletzung des § 1 UWG. Ich möchte also, dass wir in den Beratungen noch einmal prüfen, ob wir den Wettbewerbsschutz so in dieses Wettbewerbsschutzgesetz einbauen können, dass zum Beispiel Übergriffe von subventionierten öffentlichrechtlichen Unternehmen, Stadtwerken etc., die den Wettbewerb stören, unter die Schutznorm dieses Gesetzes fallen. Das wäre für die Wirtschaft und für den Mittelstand eine wichtige Fragestellung. ({1}) - Wir werden uns darüber unterhalten und das prüfen. Ich will mit einem Gedanken abschließen, der mir stets kommt, wenn ich sehe, was wir für die Wirtschaft tun, was wir ihr zumuten und wie wenig wir uns selber zumuten. Wenn Sie sich einmal anschauen, was in den §§ 3 und 4 zum Schutz der Verbraucher formuliert wird, und dann einmal überlegen, was wir zum Schutz der Bürger, der Wähler tun und wie wir uns in der Politik im Umgang mit der Lauterkeit benehmen, werden Sie ins Staunen kommen. Ich will Ihnen einen Passus des Entwurfs vorlesen und bitte Sie, ihn politisch zu sehen: Unlauter … handelt, … wer Wettbewerbshandlungen vornimmt, die geeignet sind, … die Leichtgläubigkeit, die Angst oder die Zwangslage von Verbrauchern auszunutzen … Setzen Sie statt „Verbraucher“ das Wort „Wähler“ ein und beziehen Sie es auf die Politik - und Sie haben ein Problem! Wie unlauter ist ein Haushalt, den ein Finanzminister vorlegt, der die Verbraucher täuscht? Ist das eigentlich nicht geschützt? Sollten wir nicht einmal darüber nachdenken und von dieser Seite an das Thema herangehen? ({2}) Ich will es noch einmal auf den Punkt bringen - das gibt es viel häufiger, als wir glauben -: Wir muten allen anderen alles Mögliche zu, nur bei uns selbst machen wir eine Ausnahme, dort soll es nicht gelten. Ich möchte, dass Lauterkeitsgesichtspunkte in den politischen Wettbewerb einfließen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht ein Lauterkeits- und Wettbewerbsschutzgesetz für politische Prozesse brauchen. Das wäre etwas! Ich lade Sie ein, darüber verschärft nachzudenken. ({3}) - Wir haben immerhin mit dem Nachdenken schon angefangen, indem wir Ihnen diesen Vorschlag machen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache, auch wenn die letzte Überlegung ganz offenkundig zu vielfältigen spontanen Reaktionen führt. Diese können bei den Beratungen in den Ausschüssen sicherlich noch vertieft werden. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1487 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist mit Ihrem Einverständnis die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Konsequente Abschiebung ausländischer Extremisten sicherstellen - Drucksache 15/1239 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand kann wollen, dass ein Mensch in den Folterkammern eines Unrechtsregimes landet, und niemand kann einen Prozess gutheißen, in dem Aussagen verwendet werden, die durch Folter erzwungen werden. ({0}) Dies vorausgeschickt, zeigt aber der Fall des kriminellen Extremistenführers Kaplan beispielhaft, woran das deutsche Ausländerrecht krankt. Es ist der Fall eines kriminellen islamistischen Hasspredigers, der in Deutschland Asyl bekam, der sich offen gegen unsere Verfassung stellt und der wegen öffentlicher Aufforderung zum Töten vier Jahre in Haft war. ({1}) Inzwischen ist zwar der Asylstatus gerichtlich aberkannt, dennoch darf Kaplan weder in seine Heimat Türkei ausgeliefert noch dorthin abgeschoben werden, weil ihn dort nach richterlicher Auffassung menschenrechtswidrige Behandlung durch ein nicht rechtsstaatliches Verfahren drohe. Entscheidender Grund: Das Ausländerrecht gewährt in diesen Fällen absoluten Abschiebungsschutz ohne Einschränkung. Die Folge mithin: Kaplan erhält in Deutschland ein Bleiberecht. ({2}) Trotzdem lässt die Regierung das Ausländerrecht unverändert, ja, sie zeigt nicht einmal Änderungsbereitschaft. Sie will diesen Gewalttäter zwar loswerden, doch dies gelingt nicht. Die Voraussetzungen für die Abschiebung von Kaplan - so die Bundesregierung - müsse jetzt die Türkei schaffen. Diese müsse zusichern, dass ein zu erwartender Kaplan-Prozess in der Türkei nach rechtsstaatlichen Kriterien erfolge. ({3}) Die deutsche Bevölkerung fragt sich: Handelt es sich bei der Türkei nicht immerhin um einen Staat, dessen Aufnahme in die EU gerade diese Bundesregierung betreibt? ({4}) Trotzdem trauen deutsche Richter der Türkei nicht zu, einen Straftäter rechtsstaatlich korrekt zu behandeln. ({5}) Dabei ist die Türkei selbst Vertragsstaat der Menschenrechtskonvention und daher zur Anwendung der Konvention verpflichtet. Unerträglich ist übrigens auch, dass Deutschland türkische kriminelle Intensivtäter kaum noch in die Türkei abschieben kann, weil die Türkei diese einfach ausbürgert und damit die Abschiebung verhindert. ({6}) Der Fall Kaplan zeigt beispielhaft, wie sich kriminelle Extremisten die Schwächen des deutschen Rechtsstaats zunutze machen, um hier einen Schutz zu finden, der ihnen eigentlich nicht zustehen sollte. Damit werden falsche Signale an die rund 30 000 anderen islamistischen Extremisten in unserem Land gesendet: Deutschland, so sehen sie, kann nicht einmal diejenigen loswerden, die seine Verfassungsordnung offen angreifen. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes fragen sich: Bleibt unserem Land also nichts anderes übrig, als Extremisten im wahrsten Sinne des Wortes auszuhalten? Das alles zeigt, dass es bei der Extremismusbekämpfung einen erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt. Das deutsche Ausländerrecht muss gewährleisten, dass ausländische Extremisten, die sich offen gegen unseren Rechtsstaat stellen, dieses Land auch wieder verlassen müssen. ({7}) Wenn es nicht möglich ist, einen wegen Mordaufrufs rechtmäßig verurteilten kriminellen Extremisten in sein Heimatland, das noch dazu EU-Beitrittskandidat ist, zurückzubringen, dann ist das für unser Land nicht hinnehmbar. Eine derartige Schwäche im Kampf gegen den islamistischen Extremismus kann sich Deutschland nicht leisten. In dem von uns vorgelegten Antrag geht es natürlich nicht allein um den Fall des Gewalttäters Metin Kaplan. Es geht vielmehr um die diesem Fall zugrunde liegende Problematik, die darin besteht, dass Extremisten wegen der absoluten Sperre des § 53 unseres Ausländergesetzes in Verbindung mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Regelfall nicht abgeschoben werden können. ({8}) Diese Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Ausländergesetz haben nach der derzeitigen deutschen Rechtslage keine Grenze. Dies führt dazu, dass Ausländer - unabhängig davon, ob sie politisch verfolgt sind oder nicht, unabhängig davon, ob sie schwerste Straftaten begangen haben - nach dieser Vorschrift absoluten Abschiebungsschutz genießen. Das gilt auch in Extremfällen, in denen jemand eine fortwährende Gefahr darstellt, weil er zu extremistischen oder gar terroristischen Handlungen bereit war bzw. ist. Wir meinen, dass sich unser Land dieser Problematik grundsätzlich stellen muss, wenn man es mit der Extremismus- und Terrorismusbekämpfung ernst meint. ({9}) Ansonsten - das sagen wir Ihnen voraus - werden deutsche Gerichte auch weiterhin zu solchen Entscheidungen wie im Fall Kaplan kommen müssen, weil das Ausländerrecht sie dazu verpflichtet. Herr Minister Schily, es ist ehrenhaft, dass Sie versuchen, Kaplan im Wege einer Zusicherung der Türkei abschieben zu können. Sie haben bei diesen Bemühungen auch die volle Unterstützung unserer Fraktion. Aber, Herr Minister, Sie wissen doch genauso gut wie wir, dass eine solche Zusicherung, die es zwar im Auslieferungsrecht, nicht aber bei der Abschiebung gibt und die Sie im Wege einer fantasievollen Rechtsschöpfung quasi analog übertragen haben, nur ein Notnagel ist. Damit wird Handlungsfähigkeit vorgespiegelt, aber das Grundproblem wird nicht gelöst. ({10}) Herr Minister, wenn diese Rechtslage so bleibt, werden Sie weiterhin gezwungen sein, wegen jedes kriminellen Extremisten mit Ihrem Beamtenapparat durch die Welt zu jetten und den entsprechenden Herkunftsstaat um dessen Rücknahme zu bitten, weil Deutschland selbst keine rechtlichen Möglichkeiten hat. Das ist der falsche Weg. Wir meinen, dass es an der Zeit für den Versuch ist, hier eine klare Rechtslage zurückzuerlangen. Herr Minister Schily, Sie selbst haben den Fall Kaplan zum Testfall für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie gemacht. Ich halte das für falsch, solange Sie nicht zur Änderung der Rechtslage bereit sind; denn Sie laufen Gefahr, Herr Minister, zu unterliegen und Deutschland dem Hohn extremistischer Gewalttäter preiszugeben. Sätze wie: „Kaplan könnte zu einem Symbol für die Schwäche unseres Staates werden“, fordern Extremisten geradezu heraus, mit allen Rechtsmitteln unseren Staat schwach erscheinen zu lassen. In unserem Antrag findet sich die Forderung, national und supranational zu prüfen, wie in Extremfällen die Schutzpflichten aus § 53 des Ausländergesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention mit den Sicherheitserfordernissen Deutschlands in Einklang gebracht werden können. Das ist sicherlich ein heißes Eisen. Aber, Herr Minister Schily, diese Frage ist nicht nur von der CDU/CSU-Fraktion, sondern auch schon bei der Behandlung der Antiterrorpakete von einer Persönlichkeit wie Herrn Professor Hailbronner öffentlich gestellt worden, der, glaube ich, Ihr Haus in schwierigen Fragen berät. Wir glauben, dass Deutschland, wie Hailbronner das einmal vorgeschlagen hat, die Initiative ergreifen muss, damit sich die Hauptmitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention zusammensetzen, um sich über die Auslegung des betreffenden Artikels Gedanken zu machen. Denn es geht letztlich um die existenzielle Frage: Müssen die Sicherheitsinteressen des Staates und der Allgemeinheit auch bei der Gefährdung der inneren Sicherheit durch terroristische Gewalttäter oder militante Extremisten schlechthin gegenüber der Gefahr einer unmenschlichen Behandlung als Folge einer Abschiebung zurücktreten? Oder gibt es - ähnlich wie bei der asylrechtlichen Schutzgewährung in Art. 33 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention - auch im Rahmen des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Opfergrenze? Wir meinen, dass man sich an die Beantwortung dieser Frage heranwagen muss. Ich darf hier eine Äußerung des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Professor Zeidler in Erinnerung rufen, wonach „in der Demokratie bestimmte Rechtsbereiche nicht in einen Zustand geraten dürfen, dass ihre Praktizierung dem skeptischen Bürger als Fahrt auf einer Geisterbahn staatlich veranstalteten groben Unfugs erscheinen kann“. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Herr Kollege Koschyk, ich muss Ihnen wohl in Erinnerung rufen, dass es sich bei dem Ausländerrecht, dessen angebliche Schwächen Sie im Moment kritisieren, um ein Gesetzeswerk handelt, das während Ihrer Regierungszeit mit Ihrer Mehrheit beschlossen worden ist. Niemand muss uns auf die Sprünge helfen, wenn es um die Abschiebung ausländischer Extremisten unter rechtsstaatlichen Bedingungen geht. Metin Kaplan - kein Zweifel - bedroht unsere Sicherheit. Der so genannte Kalifatstaat zielt auf unser gesamtes System. Er tritt unsere Demokratie mit Füßen und will die Scharia durchsetzen. Kaplan, wegen Anstiftung zum Mord zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, ist ein politischer Krimineller, wie es die türkische Gemeinde einmal ausgedrückt hat. Er will außerdem den Umsturz der türkischen Staatsordnung. Er hetzt seine Anhänger in Deutschland auf und verbreitet widerwärtige antisemitische und antiisraelische Parolen. Dieser Mann - kein Zweifel - muss aus Deutschland verschwinden. ({0}) Herr Kollege Grindel, hier gibt es einen Weg, den der Bundesinnenminister auch konsequent beschreitet, nämlich gegen das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichtes Berufung einzulegen und von der türkischen Regierung eine absolut bindende Zusicherung zu erwirken, dass Kaplan nach seiner Abschiebung ein rechtsstaatlich faires Verfahren gewährt wird. Das erfordert intensive Verhandlungen. Sie sind beim Besuch des Innenministers in der vergangenen Woche mit Nachdruck vorangetrieben worden und werden fortgesetzt. Übrigens hat es solche Bemühungen schon vorher - nicht erst im Falle Metin Kaplans - gegeben, wenn es um die Durchsetzung der Ausweisung von Straftätern türkischer Staatsangehörigkeit ging. Zentraler Punkt ist die notwendige Absicherung dafür, dass die türkische Justiz im Gerichtsverfahren gegen Kaplan Aussagen, die im Jahre 1998 unter Folter erpresst wurden - darum geht es eigentlich -, nicht verwertet. Dafür reichen die bislang gegebenen Zusagen noch nicht aus. Das Verbot der Folter und das Verbot der Verwendung von Aussagen, die unter Misshandlungen erpresst wurden, sind tragende Grundsätze unserer Gerichtsbarkeit. Ich erinnere an Folgendes: Vor nicht allzu langer Zeit mussten wir hier in Deutschland diese Debatte führen, weil sogar einige - auch hochrangige Juristen und Politiker - meinten, man könne gegenüber dem Mörder des kleinen Jakob von Metzler von diesem Prinzip abweichen. Aber: Das Folterverbot duldet keine Aufweichung und keine Ausnahmen. ({1}) Das entspricht unserem Rechtsstaat und dem Rechtsstaat anderer Demokratien. Herr Grindel, das heißt, ausgerechnet ein Täter, der diesen Rechtsstaat aus den Angeln heben will - das sage ich mit aller Deutlichkeit -, kann sich auf dessen unumstößliche Menschenrechtsstandards berufen. Das ist manchem Bürger schwer zu erklären; aber so muss es nach unseren Regeln sein. ({2}) Die Türkei hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, die Todesstrafe abgeschafft und umfangreiche Rechtsreformen vollzogen. Sowohl das Düsseldorfer als auch das Kölner Gericht hegen Zweifel daran, dass diese Veränderungen in vollem Umfang praktiziert werden. Sie trauen der positiven Entwicklung in der Türkei nicht. Ich bin da anderer Meinung. Mein Optimismus hat sich nach einer Rede, die der türkische Ministerpräsident Erdogan kürzlich bei seinem Besuch hier in Berlin vor der Friedrich-Ebert-Stiftung sehr überzeugend gehalten hat, verstärkt. Er zeigte sich darin sehr entschlossen, den neuen Gesetzen in seinem Land nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität Geltung zu verschaffen. Deswegen halte ich es für einen großen Fehler, dass Sie in Ihrem Antrag den Fall Kaplan sozusagen zum Kronzeugen für die angebliche Unfähigkeit und Ungeeignetheit der Türkei für einen EU-Beitritt heranziehen. So steht es in Ihrem Antrag und so formulierte es Ihr außenpolitischer Sprecher, Friedbert Pflüger. Er sagte gegenüber der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“, er sehe die Türkei weit davon entfernt, die Kriterien für eine Mitgliedschaft in der EU zu erfüllen. Wenn Deutschland einen selbst ernannten Terroristenführer wie Kaplan wegen drohender Folter nicht in die Türkei abschieben könne, dann sage das genug über den Zustand dieses Landes. Jetzt frage ich mich: Was wollen Sie eigentlich, meine Kollegen von der Union? Sie verwickeln sich doch in Widersprüche. Entweder ist es richtig und erfolgversprechend, in der Türkei über verbindliche Zusicherungen zu verhandeln - dann hat der Innenminister, wie Sie es verlangen, alles Notwendige eingeleitet -, oder die Türkei ist kein Rechtsstaat; dann wären Hopfen und Malz verloren und die Abschiebung auch solch eines schlimmen Straftäters würde sich verbieten, was Applaus für das Gerichtsurteil bedeuten würde. Nur eines von beidem kann richtig sein. Wir setzen dem entgegen: Es ist grundfalsch, der Türkei die Tür zum Beitritt - wie Sie es wollen -, zuzuschlagen. Natürlich wird der Verhandlungsprozess lange dauern - lange dauern müssen. Die Verhandlungen sollen überhaupt erst im kommenden Jahr beginnen. Eine Option aber, ein Signal der Gemeinschaft an diesen Staat, ist richtig und wichtig. Sie kann eine starke Sogwirkung gerade für die Durchsetzung menschenrechtlicher Normen - dafür gibt es genug Anzeichen - entfalten. Dafür gibt es genug Anzeichen. Eine Ablehnungsfront gegen jegliche Beitrittsperspektiven aber arbeitet den Europakritikern und den radikalen Kräften in die Hände. Das sollten Sie nicht tun. Ich kann davor nur warnen. ({3}) - Herr Kollege Zeitlmann, ich verwahre mich dagegen, dass Sie der Bundesregierung einen so genannten Schmusekurs in Sachen Türkei vorwerfen. Lassen Sie diese Worte bitte weg! Ein Resümee: Ihr Antrag ist untauglich, er ist überflüssig und er ist bedenklich. Der Antrag ist untauglich in seinen Vorschlägen zur Verhinderung der Einreise möglicher Extremisten und in der Forderung nach einer Verschärfung des Staatsangehörigkeitsrechts, um Verfassungsfeinden die Einbürgerung zu verwehren. Sie wissen doch selbst, dass diese Koalition bei der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts das Bekenntnis zur Verfassungstreue überhaupt erst zur Bedingung gemacht hat. ({4}) Eine Änderung dieses Gesetzes steht für uns überhaupt nicht zur Debatte. ({5}) - Sie bemühen sich sehr, Herr Kollege Grindel, aber ich habe hier das Mikrofon. Überflüssig - um zum zweiten Punkt zu kommen - ist Ihre Mahnung betreffend die Einführung weiterer biometrischer Merkmale in Pässen und Visa; denn die Bundesregierung ist doch gerade diejenige, die - das wissen Sie doch aus unseren vielfältigen Beschäftigungen mit dem Thema - in Europa darauf drängt, dass diese Maßnahme europaweit möglichst schnell und möglichst einheitlich realisiert wird. Bedenklich - das ist der dritte und letzte Punkt - ist schließlich Ihr Versuch - Sie haben es heute auch noch einmal artikuliert, Herr Kollege Koschyk -, im Zusammenhang mit dem Fall Kaplan die absolute Schutzwürdigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention anzutasten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht in unserem Rechtsstaat nicht! ({6}) Ich möchte am Schluss einen Appell aussprechen: Hüten Sie sich davor, den Fall Kaplan als Argumentationspolster für pauschale Türkeifeindlichkeit in unserem Land zu nutzen! ({7}) Missbrauchen Sie diesen Fall bitte nicht dazu! Sie sind leider auf dem besten Wege, das zu tun. ({8}) Hüten Sie sich davor, für den Europawahlkampf eine Kampagne gegen den möglichen EU-Beitritt der Türkei anzuzetteln! ({9}) Sie richten schweren außenpolitischen Schaden, aber auch innenpolitischen Schaden an; denn Sie stoßen die größte hier lebende Migrantengruppe, nämlich die Menschen aus der Türkei, vor den Kopf und Sie betreiben damit eine handfeste Desintegration. Davor können wir Sie nur dringend warnen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Koschyk und die CDU/CSU-Fraktion haben anhand des Falls Kaplan, in Wahrheit dann aber auch wieder unabhängig davon, mit ihrem Antrag hier ein, wie ich finde, sehr schwieriges Problem zur Sprache gebracht. Der Kollege Koschyk hat diesen Antrag in einer Form begründet, die nachdenklich macht und die einen überlegen lässt, wie die richtige Antwort lautet. Die richtige Antwort kann aber niemals darin bestehen, den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention zu relativieren. Das würde die FDP nicht mitmachen. ({0}) Erstens. Auch wir sagen: Der Verbleib Kaplans in der Bundesrepublik Deutschland ist nahezu unerträglich. Dies hat Guido Westerwelle klar erklärt, Werner Hoyer aus Köln ebenso. Dies ist auch meine Meinung. ({1}) Zweitens. Wir unterstützen daher den Bundesinnenminister bei seinen - bisher allerdings erfolglosen - Bemühungen, in der Türkei die tatsächlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kaplan dorthin abgeschoben werden kann. Drittens. Wir betreiben aber keine Richterschelte. Äußerungen wie die vom bayerischen Innenminister Beckstein, das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln sei skandalös, liegen wirklich völlig neben der Sache. Ich lasse dabei dahingestellt, ob die Entscheidung wirklich richtig ist; das mag auf Rechtsmittel hin von den Obergerichten überprüft werden. Die Türkei befindet sich in einem Wandel. Sie ist, auch was ihre rechtsstaatliche Qualität angeht, nicht mit dem Staat vergleichbar, der sie noch vor zehn oder 15 Jahren gewesen ist. Aber die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts in Köln und des Oberlandesgerichts Düsseldorf sind jedenfalls nachvollziehbar. Das führt zu dem eigentlichen Grundproblem. Das Grundproblem lautet doch unabhängig von diesem Einzelfall: Wie geht ein Staat mit Extremisten um, wenn er, wie die Bundesrepublik Deutschland, bei Ausweisung und Abschiebung solcher Extremisten selbst an ein rechtsstaatliches Verfahren gebunden ist und Menschenrechte beachten will, ja beachten muss? Da müssen wir den Mut haben, zuzugeben, dass man sich hier in einem echten Dilemma befindet. Wir sind - das wissen auch Sie von der CDU/CSU-Fraktion genau - international gebunden. Wir sind an die Anti-Folter-Konvention der UNO und an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Weil Sie gesagt haben, das könne man international neu verhandeln, noch Folgendes: Wir sind vor allem an unser eigenes Recht gebunden, an den Art. 1 des Grundgesetzes, an den Schutz der Menschenwürde. ({2}) Der Schutz der Menschenwürde steht allen zu, auch denen, die selbst, wie Kaplan mit seinem Mordaufruf, die Menschenwürde anderer bedauerlicherweise mit Füßen getreten haben. Das unterscheidet ja gerade den Rechtsstaat von dem, der ihn bekämpft. Daraus ergibt sich die Folge: Ein Asylrecht ist durchaus verwirkbar. Kaplan hat kein Asyl mehr. Ein Aufenthaltsrecht ist verwirkbar, aber dennoch muss ein Rechtsstaat bei Abschiebungen Grenzen beachten. Wir dürfen und können nicht Menschen sehenden Auges in Länder schicken, in denen ihnen Tod oder Folter drohen. Das ist ganz klar in § 53 des Ausländergesetzes normiert; das ist lange geltendes Recht, das CDU/CSU und FDP gemeinsam bei der Novelle des Ausländergesetzes im Jahre 1997 aus gutem Grund belassen haben. Von daher bin ich der Meinung, man sollte all die Maßnahmen im Antrag der CDU/CSU unterstützen, die schon einen Schritt vorher ansetzen. Es liegt in unserem Interesse, Extremisten möglichst erst gar nicht ins Land zu lassen. Die Maßnahmen, die Sie dazu vorschlagen - Regelanfragen beim Verfassungsschutz zum Beispiel -, sind entweder richtig und werden von uns unterstützt oder sie sind diskutabel. Über letztere werden wir uns im Ausschuss unterhalten. ({3}) Trotzdem wird es immer wieder den Fall geben - ich hoffe, dass es möglichst wenige sein werden, aber es ist jedenfalls denklogisch nicht ausgeschlossen -, dass sich jemand, der sich schon in Deutschland aufhält, erst hier zum Extremisten entwickelt und aus einem Herkunftsland stammt, wo ihm Todesstrafe oder Folter droht. Wir müssen dann Farbe bekennen, wie wir das von mir beschriebene Dilemma in diesen Fällen lösen wollen. Wenn Sie, Herr Koschyk, sagen, es dürfe nicht zugelassen werden, dass sich so jemand weiter in Deutschland aufhält, dann stellt sich für mich sofort die einfache und schlichte Frage: Wohin wollen Sie ihn denn abschieben, wenn Sie, wie ich hoffe, mit uns der Meinung sind, dass es nicht geht, ihn in ein Land abzuschieben, wo ihm Tod oder Folter droht? Es bliebe dann ja nur die Aufnahme in Drittstaaten, das Abschieben in Niemandsland oder exterritoriales Gelände übrig. Alle diese Möglichkeiten scheiden praktisch aus. Deswegen sagt die FDP: Ein Rechtsstaat bleibt an das Verbot gebunden, Menschen in Länder abzuschieben, wo ihnen Folter und Tod drohen. Hier darf es keine Relativierung und Aufweichung geben. Der Rechtsstaat ist deswegen aber nicht schutzlos: Er hat die Polizei, die solche Personen genau überwacht, und ihm stehen geheimdienstliche Möglichkeiten und ein Strafrecht zur Verfügung, das dann greift, wenn jemand tatsächlich gegen unsere Gesetze verstößt. So stellt sich das Spannungsfeld dar. Nur auf dieser Basis kann nach Meinung der FDP ein liberaler Rechtsstaat ein solches Problem lösen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Probleme mit der Abschiebung von Extremisten gibt es nicht erst seit dem Fall Kaplan. Sie gibt es auch nicht nur in Deutschland. Vor wenigen Jahren bereits mussten wir in Europa, also nicht nur in Deutschland - das war auch für mich nur schwer erträglich -, algerischen Gewalttätern Schutz gewähren, während wir gleichzeitig die Opfer dieser algerischen Gewalttäter ausgewiesen haben. Wir haben immer wieder die Situation gehabt, dass beide Bürgerkriegsparteien aus afrikanischen Ländern in Europa Schutz gesucht haben. Die Frage, wem letztendlich Asyl gewährt wurde, war oft an die Bedingungen im Herkunftsland gekoppelt. Meine Damen und Herren, die Fälle in Europa sind bekannt. Auch England, Frankreich, die skandinavischen Länder und die Niederlande würden gerne einige extremistische islamistische Führer verbotener Organisationen loswerden. Sie haben dazu aber keine Handhabe. Ich erinnere die CDU/CSU nicht gerne daran, dass es ihr Bundesinnenminister Kanther war, der einem Großteil der damaligen PKK-Funktionäre - diese Organisation hat sich ja mittlerweile umbenannt - nicht nur hier Asyl gewährt, sondern ihn auch ohne genauere Überprüfung eingebürgert hat. Damit hat er sichergestellt, dass sie dauerhaft hier bleiben konnten. Frau Sonntag-Wolgast hat in ihrem Redebeitrag deutlich gemacht, dass es Rot-Grün war, die überhaupt erst den Aspekt der Verfassungstreue bei der Einbürgerung ins Gesetz aufgenommen haben. ({0}) Wenig hilfreich ist der Antrag der CDU/CSU, weil sie nicht anerkennen will, dass wir im nationalen, deutschen Recht keine Schutzlücken haben. Sie haben offensichtlich auch nicht zur Kenntnis genommen, dass es - obwohl Sie 16 Jahre regiert haben - die rot-grüne Bundesregierung war, die das deutsche Recht dahin gehend ergänzt hat, dass Personen, die die Sicherheit in Deutschland gefährden, abgeschoben werden können. Wir haben hier keine Schutzlücken in der deutschen Gesetzgebung, sondern das Dilemma, das Herr Stadler genau richtig beschrieben hat - ein Dilemma, das Politik auch einmal zugeben muss -, dass einem Rechtsstaat Grenzen gesetzt sind. Wenn Sie hier geeignete Maßnahmen fordern, müssten Sie eigentlich selbst sagen, welche Maßnahmen das sein sollen. Sie müssten die Frage beantworten, ob sich die CDU/CSU von dem Rechtsstaat Europa, von den Rechtsgütern des alten Europas verabschieden will. Sie müssten die Frage beantworten, ob die Europäische Menschenrechtskonvention für Sie unabdingbare Gültigkeit hat. Meine Damen und Herren, auch ich sehe den offensichtlichen Widerspruch, wenn einerseits festgestellt wird, dass die deutschen Gerichte - da schließe ich mich der Meinung von Herrn Stadler an - rechtsstaatlich sehr gut begründet zu diesem Urteil gekommen sind - deswegen würde ich hier nicht von einem Fehlurteil reden -, und andererseits - wie von mir - gerade wegen der rechtsstaatlichen Probleme der EU-Beitritt der Türkei befürwortet wird. Das Gericht stellt immerhin fest, dass die Erpressung der Geständnisse unter Folter aus der Zeit vor 1998 erfolgte. Ich denke, dass wir die stark veränderten Realitäten in der Türkei nach 1998 nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern ein Stück von der Begeisterung mit übernehmen sollten. Die Türkei ist gerade mit vollem Ernst und großem Nachdruck dabei, den Weg in die EU-Beitrittverhandlungen zu beschreiten. Sie hat wie kein anderes Beitrittsland ihre Verfassung und Gesetze geändert und geht gegen Folter vor. Das ist jetzt auch vom Europäischen Gerichtshof bestätigt worden. Die Türkei gibt zu, dass sie Probleme im Menschenrechtsbereich hat und dass es vor 1998 Folter gab. Demgegenüber muss aber auch deutlich gesehen werden, dass die Türkei sehr große Anstrengungen unternimmt, um sich den rechtsstaatlichen Standards in Europa anzunähern.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Stokar, können Sie mir nach Ihrer Hymne auf die rechtsstaatliche Entwicklung in der Türkei einmal erklären, wieso Sie das Urteil aus Köln in rechtsstaatlicher Hinsicht für gerechtfertigt halten? Denn wenn die Menschenrechte in der Türkei neuerdings tatsächlich so viel Beachtung fänden, dann wäre es doch völlig unverständlich, dass Herr Kaplan nicht in die Türkei abgeschoben wird. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Um das richtig zu verstehen, müssten Sie nur die Gerichtsurteile und ihre Begründungen nachlesen. ({0}) In den Begründungen sowohl zum Auslieferungsverfahren als auch zum Abschiebungsverfahren bezieht sich das Gericht auf Vernehmungen und polizeilich erpresste Geständnisse von Kaplan-Anhängern in der Türkei im Zusammenhang mit dem Kalifstaat aus der Zeit vor 1998 und sieht heute begründet die Gefahr, dass diese Geständnisse in dem in der Türkei drohenden Verfahren verwertet werden. Es geht hier ja nicht nur darum, dass wir Herrn Kaplan loswerden wollen, sondern auch darum, dass Herrn Kaplan in der Türkei ein Verfahren wegen Hochverrats droht. Jetzt sagt das Gericht: Solange nicht sichergestellt ist, dass die Geständnisse von vor 1998 keinen Einfluss auf dieses Verfahren haben, besteht die Gefahr, dass das Verfahren nicht rechtsstaatlich gemäß der europäischen Menschenrechtskonvention durchgeführt werden wird. ({1}) - Da ist das Dilemma. Das Gericht kann in dieser Begründung natürlich nicht die heute veränderten Realitäten in der Türkei würdigen. ({2}) - Ich habe nicht erwartet, dass Sie eine so differenzierte Ausführung verstehen. Sie dürfen sich aber trotzdem setzen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne doch. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Stokar, wenn das Gericht befürchtet, dass heute erpresste Aussagen in das Verfahren eingeführt werden das haben Sie gerade erläutert - Silke Stokar von Neuforn ({0}): Nein. ({1})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor 1998 durch Folter erpresste Aussagen werden heute in das Verfahren wegen Hochverrats eingeführt. Das ist Ihre Ausführung gewesen. ({0}) Handelt es sich bei der möglichen Einführung solcher Aussagen nicht um einen heutigen Vorgang, der für die heutige Beurteilung rechtsstaatlicher Verhältnisse relevant ist? Oder handelt es sich, wie Sie gerade versucht haben, zu suggerieren, um einen Vorgang, der vor 1998 liegt? ({1}) Haben Sie es jetzt verstanden?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe das sehr gut verstanden. Ich glaube, Ihre Frage beschreibt das Dilemma bei den Begründungen der beiden Gerichtsurteile und der folgerichtigen Politik unseres Innenministers. ({0}) Es gilt ja gerade jetzt, sicherzustellen, dass diese der Begründung zugrunde liegenden Gesichtspunkte des Gerichtes, das nach wie vor von einer beachtlichen Gefahr aufgrund einer früheren Praxis ausgeht, ({1}) bis zur nächsten Berufungsinstanz ausgeräumt werden. ({2}) Wenn das alles so einfach wäre, dann müsste der Innenminister nicht in die Türkei fahren, um weitere Zusicherungen zu bekommen. ({3}) Ich habe nicht gesagt - das ist auch nicht grüne Position -, die Türkei habe alles abgearbeitet, der Rechtsstaat Türkei entspreche heute europäischen Standards. Ich habe nur gesagt, dass wir die Realität wahrnehmen sollten, dass die Türkei sehr große Bemühungen unternimmt. Ich bin ganz konkret der Meinung, dass eine weitere gesetzliche Änderung in der Türkei erforderlich ist. Ich weiß auch, dass darüber diskutiert und daran gearbeitet wird: nicht nur die Anti-Folter-Konvention zu unterschreiben und das Folterverbot gesetzlich zu verankern, sondern auch die Verwertung polizeilich erpresster Geständnisse in Gerichtsverfahren zu verbieten. Dafür reicht eine Erklärung der Regierung, eine Erklärung der unabhängigen und freien Justiz nicht aus. ({4}) - Auch Sie dürfen sich setzen. Aber wenn man eine komplizierte Frage stellt, bekommt man auch eine komplizierte Antwort. So einfach, wie Sie das hier populistisch aufzuziehen versuchen, ist es nicht. Vonseiten der Türkei muss noch einiges geliefert und gemacht werden, ({5}) damit wir in einer Berufungsinstanz die Chance haben, nach europäischen Rechtsstaatsgrundsätzen das Ergebnis zu bekommen, das wir alle wollen, nämlich dass Herr Kaplan unser Land verlassen muss. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Michael GrosseBrömer, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren, insbesondere Frau Stokar und Frau SonntagWolgast! Sie können natürlich noch doppelt so lange drum herum reden, es ändert nichts daran, dass der Fall dieses Extremistenführers überhaupt nichts dazu beigetragen hat, das Vertrauen der Menschen in Deutschland in unseren Rechtsstaat in irgendeiner Weise zu stärken. Das Gegenteil ist eingetreten: Der Rechtsstaat hat einmal mehr an Glaubwürdigkeit und Überzeugung eingebüßt. Wir müssen schon ein Stück weit fragen: Warum ist das so? Der Grund dürfte darin zu sehen sein, dass die deutsche Bevölkerung an Recht und Justiz - im Zweifel auch an den Justizminister - berechtigte Ansprüche stellt, die aber sehr häufig enttäuscht werden, spätestens durch die öffentliche Berichterstattung über die meist spektakulären Fälle. So erhält der Frührentner in Florida - höchstrichterlich entschieden - die deutsche Sozialhilfe, während in Deutschland junge Familien darüber nachdenken, wie sie finanziell überleben. Im vorhin genannten Fall darf der islamistische Extremist nicht ausgewiesen werden, obwohl er in Deutschland zum Mord aufgerufen hat und rechtskräftig zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Herr Kaplan darf nicht in seine Heimat, die Türkei, abgeschoben werden, weil ihm dort möglicherweise menschenrechtswidrige Behandlung droht. In Deutschland darf er aber bleiben, obwohl er hier massiv gegen humanitäre Grundsätze und Strafgesetze verstoßen hat. Das ist der Sachverhalt. Ich kann es niemandem verübeln, wenn er über dieses Thema nur noch den Kopf schüttelt. Die Kritik an der Gerichtsentscheidung allein, Frau Sonntag-Wolgast und vor allem auch Herr Bundesinnenminister, greift zu kurz. Der Senat hat natürlich zu Recht die Europäische Menschenrechtskonvention und das Anti-Folter-Abkommen der UNO im konkreten Fall als Abschiebehindernisse geprüft. ({0}) Das sollten wir bei aller Entrüstung über das Ergebnis nicht vergessen. Wenn der Herr Minister mit dieser Entscheidung unzufrieden ist, kann ich persönlich das gut verstehen. Er sollte dann aber nicht die Auffassung der Richter infrage stellen, sondern selbst in seinem Hause Überlegungen anstellen, wie sich so etwas zukünftig verhindern lässt. ({1}) Meiner Meinung nach liegt das Problem noch ein Stück tiefer. Die Menschen in Deutschland wollen einen Rechtsstaat, auf den man sich verlassen kann, einen Staat, der sie wirksam vor Terrorismus, Extremismus und Straftätern schützt. ({2}) Natürlich wird das nicht zu 100 Prozent möglich sein keine Frage. Unsere Bürgerinnen und Bürger fordern aber zu Recht einen Staat, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, diesem Ziel möglichst nahe zu kommen. ({3}) Genau hier liegen das Problem und das Versäumnis dieser Bundesregierung: Statt konsequent zu handeln, hat diese Regierung mit falsch verstandener Toleranz zur Salonfähigkeit von Extremisten beigetragen. ({4}) - Sie brauchen sich nicht aufzuregen; das ist nicht meine Feststellung, sondern die Feststellung des stellvertretenden Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, nachzulesen in der „TAZ“ vom 29. August 2003. ({5}) Da Sie im Zweifel diese Zeitung häufiger lesen als ich, wundere ich mich schon ein bisschen, dass Sie sich so aufregen. ({6}) Herr Kolat macht sich verständliche Sorgen um die weltoffenen türkischen Mitglieder seiner Gemeinde angesichts des - wieder ein Zitat von ihm - „zu lockeren Umgangs deutscher Behörden mit Islamisten“. ({7}) Bereits im Mai dieses Jahres - leider waren Sie offensichtlich nicht da, sonst müssten Sie diese Frage nicht stellen - habe ich mit anderen Mitgliedern meiner Fraktion genau an dieser Stelle auf die massiven Gesetzeslücken in unserem Land aufmerksam gemacht. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was ist seitdem geschehen? Die Antwort ist einfach: Nichts, überhaupt nichts! Wir haben immer noch dieselben Mängel und dieselben Vorschriften wie vor knapp einem halben Jahr, als hier über den Antrag meiner Fraktion zum wirksameren Schutz vor Terrorismus und Extremismus debattiert wurde. Nichts hat sich verändert, außer vielleicht einer Sache: Das Unverständnis der Menschen in Deutschland ist größer geworden, nicht zuletzt aufgrund des genannten Urteils. Ich glaube nicht, dass irgendjemand Verständnis dafür hat, dass diese Sympathiewerbung für ausländische Terroristen in Deutschland nach wie vor straffrei ist. ({8}) Auch dieser Aspekt ist ein Mosaikstein im Bild der innen- und rechtspolitischen Fehlleistungen dieser Regierung. ({9}) Sie sind offenkundig nicht in der Lage, eine innenund sicherheitspolitische Entscheidung aus einem Guss zu machen. Unsere Aufforderung an die Bundesregierung, speziell an den Bundesinnenminister, lautet deshalb: Ergreifen Sie endlich geeignete Maßnahmen, um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung entschlossener als bisher verteidigen zu können. ({10}) Ausländische extremistische Straftäter haben in Deutschland nichts zu suchen. Wenn Herr Schily das alleine nicht hinbekommt, muss er mit seinem Kabinettskollegen im Auswärtigen Amt endlich einmal reden und ihn auffordern mitzuwirken. Wir brauchen endlich eine konsequente nationale und europäische Außenpolitik gegenüber den Staaten, die sich weigern, ihre eigenen Staatsangehörigen zurückzunehmen. ({11}) National und international müssen endlich geeignete Maßnahmen ergriffen werden, damit die Rechtslage künftig sicherstellt, dass Extremisten in Deutschland abgeschoben werden können. Die rot-grüne Innen- und Sicherheitspolitik kapituliert stattdessen vor den Rückführungsschwierigkeiten. Das verdeutlichen übrigens sehr schön Ihre Vorstellungen zum neuen Zuwanderungsgesetz. ({12}) Danach soll der unrechtmäßige Aufenthalt ausreisepflichtiger Ausländer legalisiert werden, indem man diesen Personen Daueraufenthaltsrechte in Aussicht stellt. ({13}) Sie sehen: schon wieder ein Mosaikstein im Bild Ihrer verkorksten innenpolitischen Grundhaltung. Darum geht es doch. ({14}) - Wollen wir über mein Staatsexamen sprechen oder über die Probleme, die Sie innenpolitisch verursachen? Ich glaube, darüber sollten wir uns einig werden. ({15}) Ich will beispielhaft einige weitere Sicherheitslücken ansprechen, die dringend geschlossen werden müssen; das sollten Sie sich anhören. Wir müssen alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um schon die Einreise von ausländischen Extremisten nach Deutschland zu verhindern. Wir bekommen keine Ausweisungs- und Abschiebungsprobleme, wenn wir gewaltbereite Extremisten oder Fundamentalisten gar nicht erst nach Deutschland einreisen lassen. Dies ist keine populistische Forderung, wie wiederholt falsch vonseiten der Koalitionsparteien behauptet wird, sondern eine präventive, wirksame Sicherheitspolitik im Interesse der Menschen in unserem Land. Zur Verweigerung der Einreise muss nach unserer Ansicht schon ein tatsachengestützter Extremismusverdacht ausreichen. Es muss genügen, wenn sich extremistische Anhaltspunkte verdichten und von Gerichten überprüfbar sind. In diesem Fall sollten wir also nicht weiter herumphilosophieren, sondern endlich handeln. Es ist doch absurd, mit vorgeschobenen rechtsstaatlichen Prinzipien möglichen gewaltbereiten extremistischen Ausländern mehr Unterstützung zuteil werden zu lassen als der Sicherheitslage in unserem Lande. ({16}) Wir als CDU/CSU wollen zum Schutz unserer Bürger, dass vor der Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und einer Aufenthaltsberechtigung grundsätzlich Regelanfragen beim Verfassungsschutz gestellt werden, und zwar bundeseinheitlich. Ich freue mich, dass die FDP diesem Gedanken näher treten kann. Warum erlauben wir uns eigentlich überhaupt den Verzicht auf Maßnahmen, die schnell, wirksam und effizient dem Schutz dieses Staates und seiner Bürger dienen können? Insbesondere bei Ausländern aus Staaten, bei denen Rückführungsschwierigkeiten bestehen, sind vor der Erteilung von Aufenthaltstiteln auch für Kurzaufenthalte als Regelfall identitätssichernde Maßnahmen durchzuführen. ({17}) Wir fordern weiterhin, das geltende Recht so auszugestalten, dass ausländische Extremisten sicher und frühzeitig identifiziert werden können, Stichwort: biometrische Daten und all das, was damit zusammenhängt. Sie wissen, dass nach der jetzigen Gesetzeslage identitätssichernde Maßnahmen nur bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten möglich sind. Wer kann mir erklären, warum die Gefahr, die von einem Fundamentalisten ausgeht, von der Dauer seines Aufenthaltes abhängig ist? Das habe ich bis heute nicht verstanden. Deswegen sagen wir: Die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen muss nach unserer Ansicht im Gegensatz zur jetzigen Rechtslage den Regelfall bilden. Wir müssen der Entwicklung entgegenwirken, dass immer mehr vollziehbar Ausreisepflichtige nicht freiwillig aus Deutschland ausreisen und ihre Rückführung dadurch verhindern, dass sie über ihre Identität und Staatsangehörigkeit täuschen oder an der Beschaffung von Dokumenten für die Rückreise nicht mitwirken. Die Bundesregierung hat diese Maßnahmen bislang lediglich angekündigt; geschehen ist nichts, auch nicht auf europäischer Ebene. Es ist ein weiterer Fehler der Regierung, sich bei den Daten, die im Ausländerzentralregister gespeichert werden, mit der freiwilligen Angabe der Religionszugehörigkeit zu begnügen. Damit das Risiko bei der Einreise wesentlich besser abgeschätzt werden kann, ist es unerlässlich, sowohl die Religionszugehörigkeit als auch die Volkszugehörigkeit von Ausländern zu erfassen. Die ethnische Zugehörigkeit ist schließlich für die Rückführung in das Heimatland von besonderer Bedeutung. Meine Damen und Herren, unser Antrag bietet einen weiteren Vorteil, nämlich im Hinblick auf den deutschen Strafvollzug. Die Anzahl ausländischer Insassen in den deutschen Haftanstalten ist enorm. Sie kann verringert werden, wenn kriminelle Extremisten schnell abgeschoben werden ({18}) und ihre Haft gegebenenfalls im Heimatland verbüßen. Wir müssen deshalb die rechtlichen Voraussetzungen für eine Haftverbüßung im Herkunftsland verbessern. Dieser Aspekt macht meiner Auffassung nach auch rechtsdogmatisch Sinn. Die Betroffenen sollen ja resozialisiert werden. Angesichts dessen, dass manche gar nicht sozialisiert sind oder sich gar nicht sozialisieren lassen, stellt sich schon die Frage, warum der Haftvollzug in Deutschland stattfinden soll. Wir müssen letztlich verhindern, dass ausländische Extremisten deutsche Staatsbürger werden. Und Deutschland zum Austragungsort ihrer Aktivitäten machen. Deswegen zum Schluss: Die Menschen in Deutschland haben es satt, dass es in ihrem Land keine klare politische Führung gibt. Diese gibt es mittlerweile auf kaum einem politischen Feld. Sie fordern zu Recht eindeutige Vorschriften, die dann auch konsequent vollzogen werden. Mit unserem Antrag kommen wir dem Wunsch der Menschen innen- und rechtspolitisch entgegen. Der Bundesinnenminister muss aufhören, nur zu gackern und kein Ei zu legen. ({19}) Es wird Zeit, zu handeln. Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege, mit Metaphern kann man sehr danebengreifen. Wenn Sie schon die Tätigkeit des Bundesinnenministers mit dem Hühnervolk vergleichen, dann sollten Sie doch die Geschlechtszugehörigkeit beachten. Eier legen können Hähne nun einmal nicht. ({0}) Aber, meine Damen und Herren, der Hahn hat andere Aufgaben, falls Ihnen das geläufig ist. So viel verstehe ich noch von der Landwirtschaft, Frau Kollegin Künast. ({1}) Ich will gern einen erfreulichen Sachverhalt an den Anfang stellen, auch wenn der Kollege, der zuletzt gesprochen hat, eine Tonlage in diese Debatte gebracht hat, die ich nicht für richtig halte. Ich gehe davon aus - das ist ein erfreulicher Sachverhalt -, dass alle Seiten des Hauses darin übereinstimmen, dass Extremisten, die verurteilt worden sind - ich nenne beispielsweise Kaplan, der zu vier Jahren Freiheitsstrafe wegen Aufforderung zum Mord verurteilt wurde; übrigens ein Aufruf, der Folgen hatte - außer Landes gehören und in unserem Vaterland nichts zu suchen haben. ({2}) Das ist eine allgemeine Auffassung. Nun will ich versuchen, anhand des Falles Kaplan zu erläutern, wo die Unterschiede liegen. ({3}) - Herr von Klaeden, nun fangen Sie nicht an, zu lachen; wir sind doch noch nicht im Fasching, das kommt noch. Der entscheidende Punkt ist, ob wir zwischen Rechtsfragen und Tatsachenfragen unterscheiden können. Ich bleibe zunächst einmal bei der Rechtsfrage. Die Ausweisung von Herrn Kaplan - ich glaube in diesem Zusammenhang ist Ihre Wortwahl etwas durcheinander geraten; Sie wollten sicher das richtige Wort sagen - ist kein Problem. Die Entscheidung des Asylwiderrufs ist nach unserem Gesetz bestätigt worden. Wir haben diesen Widerruf vollzogen. Hinsichtlich der Abschiebung stellt sich die Frage: Kann er abgeschoben werden? Hier müssen wir uns jetzt über die rechtlichen Grenzen verständigen. Die Koalition, Herr Stadler und auch ich sagen: Wir haben Bindungen an internationale Vereinbarungen und wir haben Bindungen an unsere Verfassung - die übrigens diese internationalen Vereinbarungen zum geltenden Recht qua Verfassungsrecht macht -, die es uns verbietet, Menschen, denen Folter oder die Todesstrafe drohen, in dieses Land abzuschieben. Gleich ob Abschiebungsgründe vorliegen oder nicht. ({4}) Herr Koschyk, dann müssen Sie klar erklären, ob Sie diese Grenze überschreiten wollen. ({5}) Wenn Sie sagen: nein, dann sind wir uns einig. ({6}) - Moment. Da gibt es keine Abwägung. Wer in Bezug auf Folter abwägt, der kommt auf ein abschüssiges Gelände. Das werde ich niemals zulassen. ({7}) Deshalb bin ich auf der Seite des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Papier, der ebenfalls geltend gemacht hat, dass wir uns aufgrund der Rechtskultur Deutschlands hinsichtlich der Folter keinen einzigen Millimeter von diesen Grundsätzen wegbewegen dürfen. ({8}) Die indirekte Frage, ob eine durch Folter erzwungene Aussage in einem Gerichtsverfahren verwertet wird oder nicht, hängt damit zusammen. Das sind die Rechtsfragen. Wenn wir uns da einig sind, dann haben wir eine gute Grundlage. ({9}) - Moment, Herr Zeitlmann, hören Sie doch einen Moment zu! Wir können über die Fragen ganz offen und nüchtern reden. Wir können uns auch Polemik um die Ohren hauen; auch das ist interessant. Aber ich denke, die Bürgerinnen und Bürger wollen lieber die Sachfrage erörtert haben. ({10}) - Herr Grindel, ich versuche es doch. Sie können es ja auch versuchen. Dann melden Sie sich noch einmal und wir verlängern die Debatte ausnahmsweise. ({11}) Daneben ist die Tatsachenfrage zu klären. Das Verwaltungsgericht Köln - das selbstverständlich, wie jedes Gericht, Respekt verdient, auch wenn es ein Fehlurteil trifft; ich würde dann nie zur Polemik greifen, wie es ein Kollege in Bayern tut - hat rein tatsächlich auf der Grundlage der offenbar gemeinsamen Rechtsauffassung dieses Hauses angenommen, dass Kaplan, wenn er in die Türkei zurückgeführt wird, ein Verfahren droht, in dem durch Folter erzwungene Aussagen verwertet werden. Das Gericht stützt diese Voraussage auf die Annahme, dass in einem früheren Verfahren - das hat die Rechtsvertretung von Herrn Kaplan vorgetragen; da geht es um einen Verwandten von Kaplan, der auch vor Gericht gestanden hat - angeblich durch Folter erzwungene Aussagen bei dem Fällen eines Gerichturteils verwertet worden sind. Das ist eine Tatsachenfrage. Ich halte die Annahme des Gerichts für falsch - das sage ich, damit das klar ist -, weswegen ich auch das Urteil für falsch halte. Die Türkei hat in dem Verfahren einige Erklärungen abgegeben - insofern waren wir keineswegs erfolglos -, die ich für glaubwürdig halte: Es droht keine Todesstrafe; es droht nicht die Folter; er wird auch sonst menschenrechtskonform behandelt; es werden keine Geständnisse Dritter verwendet, die unrechtmäßig zustande gekommen sind; er wird von einem Richter vernommen; er kann sich einen Verteidiger seiner Wahl nehmen; er kann in der Untersuchungshaft selbstverständlich Kontakte haben, zum Beispiel Briefkontakte und Telefonate mit den Angehörigen. - Das alles sind Schutzgarantien, die nach unserer Auffassung eine rechtsstaatliche Behandlung in der Türkei sicherstellen, zumal die Türkei die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben hat. Herr Ministerpräsident Erdogan hat bei seinem letzten Treffen in Berlin noch einmal bekräftigt, dass er diese Garantien durchsetzen will. Man kann natürlich der Auffassung sein, dies alles seien schöne Erklärungen, an deren Einhaltung man aber nicht glaube. Damit trifft man eine Voraussage. Frau Kollegin Stokar, entschuldigen Sie, dass ich darauf hinweise, ({12}) dass in Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen etwas durcheinander geraten ist. ({13}) Es geht um die gegenwärtige Beurteilung und um die Frage, ob die Vergangenheit zu einer anderen Beurteilung der Gegenwart führt. Vor diesem Hintergrund - manchmal schadet es nicht, einem Tisch, der schon auf vier Beinen gut steht, noch ein fünftes Bein hinzuzufügen - und nicht deswegen, weil ich das Urteil für richtig halte, bin ich in die Türkei gereist und habe die türkischen Behörden gebeten, eine zusätzliche Erklärung zu diesem früheren Fall abzugeben. Dort sind die Erklärungen, die ich eben angesprochen habe, bekräftigt worden und man hat noch einmal versichert, dass keine rechtsstaatlich bedenkliche Behandlung drohe. Bei dieser Gelegenheit habe ich aber auch Fragen zu dem früheren Verfahren gestellt. Ich hoffe, dass dazu klare Erklärungen abgegeben werden. Das ist die Grundlage, auf der wir handeln. Es geht nicht um eine Rechtsveränderung. Ich wüsste nicht, was an dieser Stelle zu verändern wäre, Herr Kollege Koschyk. ({14}) In diesem Zusammenhang muss man noch einen anderen Punkt berücksichtigen; darüber haben wir hier im Hause häufig genug diskutiert. Sie schlagen immer vor, es müsse bei Verdacht auf eine terroristische oder extremistische Betätigung eine Ausweisung möglich sein. Ich sage, das ist nicht das Problem. Es gibt eine polizeirechtliche Bestimmung, die besagt, dass eine Person, die eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellt, ausgewiesen und im Vollzug abgeschoben werden kann. Damit werden aber die bestehenden Abschiebehindernisse wie Folter und Todesstrafe nicht überwunden. Diese Sachverhalte müssen wir auseinander halten. Sonst muss ich Sie, Herr Koschyk, verdächtigen, dass Sie hier nur eine Show abziehen und nur scheinbar die Muskeln zeigen wollen, aber an der echten Sachlage vorbeireden. ({15}) Sie haben für Ihre Politik keinen Bündnispartner. Mit wem wollen Sie eine solche Politik, die Sie hier vorschlagen, machen? So etwas haben Sie in Ihrer Regierungszeit, vielleicht dank der FDP, nicht gemacht. Die FDP wird nach allem, was ich höre, Ihnen nie die Hand dazu reichen, diese Schranke zu überwinden. In diesem Fall verlasse ich mich auf die FDP, falls die Gefahr drohen sollte, dass Sie mehr zu sagen haben als heute in der Opposition. Ich glaube, dass das, was Sie in Zusammenhang mit der Türkei gesagt haben, sehr bedenklich ist. Ihre Politik, die Türkei auf Distanz zu halten und ihr die Tür zu weisen, stellt eine Abkehr von der Politik des früheren Bundeskanzlers Kohl dar. ({16}) - Doch, natürlich. Lesen Sie die Erklärung von Bundeskanzler Kohl aus dem Jahr 1997 nach. Ich kann aus ihr wörtlich zitieren. Mit dieser Abkehr von der Politik des gesamten Europas - es war eine einstimmige Entscheidung aller Regierungschefs der europäischen Mitgliedstaaten - sind Sie in Europa völlig isoliert. ({17}) Wenn Sie diese Politik für richtig halten, dann treiben Sie die Türkei dahin, dass sie diesen Verpflichtungen nicht in dem Maße nachkommt, wie es wünschenswert wäre. Dann werden die Möglichkeiten, Personen in die Türkei abzuschieben, in der Tat sehr viel geringer. Das hat Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, wie ich finde, völlig richtig ausgeführt. Auf die anderen Einzelheiten, die leider alle in die falsche Richtung und an den Tatsachen vorbei gehen, will ich jetzt nicht weiter eingehen. Nur so viel: Wir haben im Staatsangehörigkeitsrecht die strikte Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden wollen, eingeführt. Die Problemfälle, die wir geerbt haben, sind aufgrund der von Ihnen erlassenen Rechtsvorschriften entstanden. Diese Personen können wir nicht außer Landes bringen. Das haben Sie zu verantworten. ({18}) Wir haben dafür gesorgt, dass die Sicherheitsbehörden am Visumverfahren beteiligt werden. Die Unterstellung, wir würden leichtfertig Personen hereinlassen, die eine Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands darstellen, ist schlichter Unsinn. Wir haben Gegenmaßnahmen verabredet. Übrigens, Herr Koschyk, auch das müssten Sie wissen: Die Visaerteilung ist unsere freie Entscheidung. Die Gruppe, die einen Anspruch auf eine Visaerteilung hat, ist begrenzt. Bei dieser spielt die besondere Überprüfung eine Rolle. Ansonsten ist die Visaerteilung unsere freie Entscheidung. Bei dem leisesten Verdacht liegt es in unserem Belieben, ob wir eine Person in unser Land lassen oder nicht. Intern findet eine sehr sorgfältige Prüfung statt. Selbstverständlich haben Sie in diesem Punkt Recht: Es ist am besten, bei der Einreise zu prüfen, ob Bedenken vorliegen; das geschieht auch. Gleiches gilt auch für die Möglichkeiten, eine Person wieder außer Landes zu bringen. Selbstverständlich müssen wir zur Überprüfung der Identität neue Methoden einführen. Meine Redezeit ist schon überschritten, weshalb ich Ihnen nicht alle Einzelheiten der Aktivitäten Deutschlands dazu nennen kann. Ich will Sie nur auf eine Meldung, die gerade in diesen Tagen bekannt wurde, hinweisen. Es ist auf eine deutsche Initiative zurückzuführen, dass die Frist zur Einfügung eines Lichtbildes in das EU-Visum verkürzt wird. Die Kommission ist dem deutschen Vorschlag gefolgt. Der Vorschlag der Kommission liegt jetzt auf dem Tisch und ich hoffe, dass er die Zustimmung der Mitgliedsländer der Europäischen Union finden wird. ({19}) Das Gleiche gilt für die biometrischen Merkmale. Gerade in diesen Fragen sind wir die treibende Kraft auf europäischem Gebiet. Das ist die Wahrheit; das müssen Sie nun einmal zur Kenntnis nehmen. ({20}) Ich kann nicht auf alle Sachverhalte eingehen, weil die Redezeit das leider nicht hergibt. Ich will Ihnen zum Schluss aber noch einmal etwas bezüglich der Ausweisungstatbestände sagen. Wir haben die richtige Regelung gefunden. Es geht um einen polizeirechtlichen Gefährdungssachverhalt. Man muss sich allerdings die Frage stellen, ob der Vollzug ausreichend ist. Erkundigen Sie sich einmal auch in den Ländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, ob der Vollzug immer so funktioniert, wie er funktionieren sollte. ({21}) - Sie nennen Baden-Württemberg. Da bekommen Sie sogar ein Lob von mir; so fair bin ich. In BadenWürttemberg ist Folgendes passiert: Der ehemalige so genannte Gebietsemir des verbotenen Kalifatstaats, Osman Ünal, ist durch die zuständige Ausländerbehörde in Baden-Württemberg wegen der Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sofort vollziehbar ausgewiesen worden. Der Tatbestand reicht also völlig aus. Sie brauchen keine Verdachtsformulierung. Das, was bereits im Gesetz vorhanden ist, reicht aus. Ich muss aber an die Länder appellieren - ich hoffe, dass Sie sich dem anschließen -, dass der Vollzug zum Teil besser geregelt wird. ({22}) - Nein, das hat mit Abschiebehindernis gar nichts zu tun. Es kommt zunächst darauf an, dass ein rechtskräftiger Ausweisungsbescheid zustande kommt. Dem folgt der Vollzug durch die Abschiebung. Bringen Sie bitte nicht die Begriffe Abschiebung und Ausweisung durcheinander, sonst können Sie den Sachverhalt den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln. ({23}) Sie versuchen, den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck zu vermitteln, es werde nicht alles im Interesse der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland getan. Das ist die schlichte Unwahrheit. Die Bundesregierung ist ein Garant für eine rechtsstaatliche Ordnung und die innere Sicherheit. Dabei halten wir uns an das Grundgesetz und an die internationalen Vereinbarungen. Natürlich erfüllen wir dabei auch unsere Verantwortung, dass der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf die Gewährleistung ihrer Sicherheit erfüllt wird. Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort zu einer Kurzintervention.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Schily, ich möchte noch einmal versuchen, deutlich zu machen, worum es mir bei der Frage ging. Wir müssen darüber nachdenken, in Deutschland, aber auch übernational, ob es nicht Grenzen für eine absolute Sperre im Hinblick auf § 53 Ausländergesetz in Verbindung mit Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt. Ich habe darauf hingewiesen, Herr Minister Schily, dass eine im Bereich der deutschen Staatsrechtslehre doch unangreifbare Persönlichkeit wie Professor Kay Hailbronner - ich glaube, da sind wir uns doch einig diese Frage im Zusammenhang mit den Antiterrorpaketen bereits aufgegriffen hat. Laut einem Bericht der „Rheinischen Post“ vom 26. Oktober 2001 sagte Herr Professor Hailbronner - er hat es auch in seinem Rechtsgutachten zu den Sicherheitspaketen so formuliert - zur Resolution 1373, des UN-Sicherheitsrats vom 28. September 2001: Die UN-Sicherheitsresolution steht in deutlichem Kontrast zu dem, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention gesagt hat. Es gibt hier eindeutigen politischen Handlungsbedarf … Dann macht er einen Vorschlag, den auch ich gemacht habe, Herr Minister Schily. Die „Rheinische Post“ zitiert ihn wie folgt: Die Haupt-Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention sollten sich zusammensetzen und über die Auslegung des betreffenden Artikels Gedanken machen. Professor Hailbronner fordert eine Art Güterabwägung. Der stimme ich zu. Ich zitiere jetzt weiter aus der „Rheinischen Post“ vom 26. Oktober 2001: Nicht jeder könne den Schutz der Menschenrechtskonvention genießen, „egal, was er gemacht hat“. Hailbronners Vorschlag: „In Extremfällen, in denen jemand eine fortwährende Gefährdung darstellt, weil er zu terroristischen Handlungen bereit ist, sollte die Schutzpflicht, die sich aus der EMRK ableitet, ihre Grenzen haben.“ Professor Hailbronner nennt auch eine Quelle, auf die man sich berufen kann, nämlich dass in der Genfer Flüchtlingskonvention eine solche Einschränkung zu finden ist. Ich frage Sie, Herr Minister Schily: Warum haben Sie nicht diese Auffassung eines Sie beratenden Rechtslehrers - ich glaube, er berät Sie auch in diesen Tagen bis hin zu dem schwierigen Fall Kaplan - einmal zum Anlass genommen, als Verfassungsminister dieser Frage nachzugehen und darüber auch mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention in eine Diskussion zu treten? Herr Minister Schily, es ist kein konservativer Regierungschef, sondern es ist der britische Labour-Regierungschef Tony Blair, einer der besten Freunde dieses Bundeskanzlers, der die Frage der Grenzen von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Zusammenhang mit der Umsetzung dieser UN-Resolution ebenfalls aufgeworfen hat. Dieser Diskussion können Sie sich nicht einfach entziehen, indem Sie dieses Thema tabuisieren. ({0})

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Kollege Koschyk, Sie haben ganz sachlich angefangen und ich will in einem sachlichen Ton antworten, nicht in dem Crescendo, das Sie am Schluss noch angestimmt haben. ({0}) - Nun hören Sie doch zu! Ich habe Ihnen auch geduldig zugehört. Nun lassen Sie mich antworten! ({1}) Dass ein Professor eine Auffassung vertritt, garantiert noch nicht ohne weiteres, dass sie richtig ist. Auch Professoren können sich irren. Wenn ich Herrn Professor Hailbronner - Sie haben ihn zitiert - richtig verstehe, dann sagt er: Es gibt natürlich in einem Bereich ein Spannungsverhältnis zwischen den Garantien der Menschenrechtskonvention und bestimmten Entscheidungen, die wir treffen. Das trifft auch auf Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention zu. Deshalb geben wir den Flüchtlingsstatus unter bestimmten Voraussetzungen nicht. Aber, Herr Kollege Koschyk, damit ist der Abschiebeschutz an dieser Stelle nicht aus der Welt. Sie kommen also wieder an derselben Stelle an. Wir können Herrn Professor Hailbronner zu einer Sitzung des Innenausschusses einladen. Ich möchte gerne hören, was er zu diesem Punkt sagt. Ich bin überzeugt, dass Herr Professor Hailbronner nicht die Auffassung vertritt - Sie können auch nicht den britischen Premierminister dafür in Anspruch nehmen -, einen Menschen, der sich schwerster Straftaten schuldig gemacht hat, entweder der Folter auszusetzen oder in den Tod zu schicken. Sehen Sie, genau das ist der Punkt. Was wollen Sie denn sonst? Im Fall Kaplan nutzt Ihnen alles andere nichts. Sie reden immer nur abstrakt über Art. 3 des Grundgesetzes und die Menschenrechtskonvention. Hier geht es aber um die Frage, ob ich jemanden abschieben kann, dem Folter oder ein rechtsstaatswidriges Verfahren aufgrund von durch Folter erpressten Geständnissen droht. Genau darum geht es. Lassen Sie uns doch konkret werden und weichen Sie der Frage nicht aus! Sagen Sie uns ganz klar, wenn Sie diese Regelungen aufweichen wollen. Wenn Sie das wollen, dann werden Sie auf meinen erbitterten Widerstand stoßen. ({2}) - Was wollen Sie? Was glauben Sie denn, hilft hier weiter? Sie wollen eine allgemeine Auslegung. All das ist doch - entschuldigen Sie, Herr Koschyk - Larifari. Ich habe aufgrund meiner Tätigkeit einige Kenntnisse sammeln können: Sie werden da bei den Innenministern der europäischen Länder keine Zustimmung finden. Sie sind wohl schon zu lange aus der Regierungverantwortung, um das zu erkennen. Sie haben keine Chance, die Regelungen hichsichtlich der Abschiebung bei der Gefahr von Folter, menschenrechtswidriger Behandlung oder der Todesstrafe aufzuweichen. Sie sagen nicht klar, was Sie eigentlich wollen. Sie müssen einmal die Karten auf den Tisch legen. Sie tun so, als gäbe es eine Möglichkeit, diese Barriere zu überwinden. Für mich gibt es sie nicht. Sie müssen einmal die Alternative benennen, Herr Kollege. Ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte, weil ich merke, dass auch Sie einen Kompromiss suchen. Lassen Sie uns das einmal in aller Ruhe im Innenausschuss mit einigen Sachverständigen - wir können auch gerne eine Anhörung machen - klären. ({3}) Ich bin überzeugt, dass Sie dann merken werden, wo Sie an die Grenzen stoßen. An dieser Stelle kommen wir einfach nicht weiter. Damit Sie mich nicht missverstehen: Wir müssen die Vorgaben der Menschenrechtskonvention nicht überdehnen. Bestimmte Interpretationen gehen über das hinaus, was bisher Rechtspraxis war. ({4}) Da bin ich sehr auf der Hut. Aber das hilft Ihnen im Fall Kaplan und auch in den anderen Fällen, die zur Debatte stehen, überhaupt nicht weiter. ({5}) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Demagogie im Fall Kaplan aufgeben, sodass wir wieder eine sachliche Basis der Zusammenarbeit finden. ({6}) Dann können wir uns verständigen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1239 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tierschutzbericht 2003 Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes - Drucksache 15/723 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gitta Connemann, Peter H. Carstensen ({1}), Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermöglichen - Drucksache 15/1210 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen - Drucksachen 15/226, 15/1035 Berichterstattung: Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier Abg. Peter Bleser Abg. Friedrich Ostendorff Abg. Hans-Michael Goldmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie ich sehe, ist der Kollege, der gerade noch so schön über das Gackern der Hühner sprach, leider nicht mehr anwesend. Offensichtlich ist er doch nicht am Tierschutz interessiert; wen wundert es. Deutschland ist Vorreiter in Sachen Tierschutz. Das können Sie an der breiten Unterstützung der Bevölkerung bei diesem Thema sehen. Das hat sich auch an der großen Mehrheit im Bundestag gezeigt, als es darum ging, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Das kann man am vorliegenden Bericht erkennen und das lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass die Käfighaltung von Legehennen - ich spreche damit ein aktuelles Thema an - in Deutschland nur noch übergangsweise erlaubt ist. ({0}) - Sehen Sie, Herr Deß, da sind Sie Fachmann. Es freut mich, dass Sie sich nicht nur mit der Landwirtschaft beschäftigen. Die Zahl der Versuchstiere hat zwar zugenommen. Wir entwickeln aber ein Programm, um die Zahl zu reduzieren. Sie wissen auch, warum die Zahl in einigen Bereichen zugenommen hat. Wenn man bestimmte Produkte auf ihre Gefährlichkeit für den Menschen testet, gibt es mehr Tierversuche. Das ist im Ergebnis nicht okay, obwohl der Ansatz, zu schauen, ob es Nebenwirkungen gibt, nicht falsch ist. ({1}) Ich will, dass Deutschland seine Vorreiterrolle beim Tierschutz behält. Deshalb habe ich wenig Verständnis für die Haltung und das Ansinnen einiger Bundesländer, das Verbot der Käfighaltung wieder rückgängig zu machen und stattdessen so genannte ausgestaltete Käfige in die Diskussion zu bringen. Ich sage eines ganz klar: Auch der ausgestaltete Käfig ist immer noch ein Käfig, mit dem wir die Probleme für die Tiere nicht lösen. ({2}) Die Käfighaltung gehört der Vergangenheit an, einer Vergangenheit, in der die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen einiger Tierhalter wichtiger als der Schutz der Tiere waren. Wir erinnern uns alle an die besondere Ausformung, die diese Interessen in der Vergangenheit erfahren haben, zum Beispiel die Begasung von Tieren mit Nikotin, damit über den entsprechenden Effekt die Produktion indirekt erhöht wurde. ({3}) Wir wissen, was für Zeiten das waren, als Verbraucherschutz und Verbraucherinteressen Fremdwörter waren. ({4}) Im Gegensatz zu denjenigen in der Wirtschaft, die zurück wollen, gibt es Wirtschaftsunternehmen, die auf den Tierschutz setzen und sich mit ihm beschäftigen. Eine bekannte Fast-Food-Kette aus den USA hat sich umgestellt. Sie verändert ihre Produktlinien, weil sie wegen Klagen über Fehlernährung in den USA unter Druck gesetzt wird. Diese Fast-Food-Kette verarbeitet in Deutschland und in anderen europäischen Ländern nur noch Eier aus Freilandhaltung. Einer der größten deutschen Discounter, derjenige, der in Nord und Süd aufgeteilt ist - ich soll keine Namen nennen -, will ab Mai 2006 ganz auf Eier aus Käfighaltung verzichten. In den Niederlanden nimmt bereits die Mehrheit der großen Lebensmittelketten nur noch Eier aus Freiland- und Bodenhaltung ins Sortiment. Selbst in den Zügen der Deutschen Bahn - auch die Deutsche Bahn ist einmal vorne - werden nur Freilandeier verwendet. Sie sehen, wohin sich Wirtschaft entwickeln kann. ({5}) Anstatt der Abwanderung von Hühnerbaronen ins Ausland nachzutrauern, die übrigens schon abgewandert sind, bevor die Legehennenverordnung im Bundesrat verabschiedet wurde, sollte man lieber dafür Sorge tragen, dass die Gastronomie ihre Freilandeier nicht aus dem Ausland beziehen muss. Ich war vor kurzem bei der Fast-Food-Kette, von der ich eben gesprochen habe. Dort wurde mir gesagt: Wir würden liebend gern Freilandeier in großen Mengen in Deutschland einkaufen, aber niemand bietet sie an. ({6}) Warum? - Weil sich einige lieber mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und politisch-ideologischen Debatten beschäftigen, statt dieser Nachfrage nachzukommen. ({7}) Wir versuchen ja auch, Fast-Food-Ketten dazu zu bewegen, Rindfleisch aus Deutschland zu kaufen. Das ist ein normales Ansinnen. Ich würde das bei den Eiern auch gern erleben. Da diese Fast-Food-Kette nicht mehr auf Käfigeier setzt, wird sich dieser Wirtschaftszweig bewegen müssen oder die Eier kommen weiter aus Ungarn. ({8}) Mittlerweile führt die Trotzköpfigkeit der Opposition schon dazu, dass selbst der BDI-Präsident Rogowski auffordert, keine Blockadehaltung einzunehmen. Das hat man früher auch nicht erlebt. Ich darf Sie daran erinnern, dass sich im letzten Jahr alle Fraktionen und über zwei Drittel der Abgeordneten dieses Hohen Hauses für die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz ausgesprochen haben. Dann darf man aber auch nicht kneifen, wenn es an die Umsetzung geht. ({9}) Die Verfassung funktioniert nicht, indem man etwas Verfassungstheoretisches in das Grundgesetz schreibt, sich aber über die Verwirklichung in der Praxis keine Gedanken macht. Wir dürfen an dieser Stelle nicht hinter das Erreichte zurückfallen. Wir müssen im Gegenteil den Blick nach vorne richten und den Tierschutz weiter verbessern. Ich will Ihnen einige Beispiele dafür nennen, was uns beschäftigt. Einmal ist das der Dauerbrenner Tiertransporte. Wir haben viel Druck gemacht und jetzt liegt endlich eine Vorlage der Europäischen Kommission vor, über deren Details wir noch diskutieren müssen. Dort fängt man an, erste Grenzen - das reicht aber noch nicht aus - bei den Zeiten des Transports zu setzen und sich mit der Frage zu beschäftigen, wie viel Platz, wie viel Luft, welche Art der Ernährung und welche Fütterung ein Tier während des Transports braucht. ({10}) - Ja, ich weiß, meine Damen und Herren, dass sich die deutschen Landwirte an dieser Stelle freuen. Selbst im Zusammenhang mit dem QS-Zeichen wurde gesagt, man wolle mit daran arbeiten, dass die Transportzeiten in Grenzen gehalten werden. Auch dies wird positiv bewertet. ({11}) Wir haben einen zweiten Punkt eben schon angesprochen, nämlich die Tierversuche. Wir beginnen an dieser Stelle nicht nur mit der Auswertung von Statistiken, sondern wir wollen auch tatsächlich ein Programm zur Minderung der Versuchstierzahlen auflegen. Wir versuchen ebenfalls herauszufinden, wo es in der Wissenschaft andere Möglichkeiten der Forschung gibt. Das ist ein sehr schwieriges Geschäft. Ich muss Ihnen sagen, Herr Deß, dass da zwei Dinge aufeinander prallen. Auf der einen Seite sagen wir, dass wir im Chemiebereich die Tests brauchen. Wenn schädliche Nebenwirkungen auftreten, wollen wir die betreffenden Substanzen nicht mehr zulassen. Das Problem ist aber Folgendes: Sobald Sie testen, stehen Sie wieder vor Tierversuchen. Das ist eine höchst unbefriedigende Situation, aber einmal eine, hinsichtlich deren wir übereinstimmend der Meinung sind, dass dort reduziert werden muss. Ein dritter Punkt ist die Veränderung der TierschutzNutztierhaltungsverordnung bei Schweinen. An dieser Stelle ist die Umsetzung der Richtlinie der EU überfällig. In diesem Zusammenhang werden wir sicherlich noch einige Debatten über die Frage führen, wie viel Platz ein 100-Kilo-Schwein braucht. Meine Vorstellung ist - ich habe mir die Zahlen angesehen und das einmal umgerechnet -, dass ein Platz von 1 bis 1,1 Quadratmeter pro 100-Kilo-Schwein angemessen ist. Ich weiß, dass einige anders darüber denken. Überlegen Sie, welchen Umfang ein 100-Kilo-Schwein hat. ({12}) Aber denken Sie mal an einen Quadratmeter! Das Schwein muss ja längs wie quer stehen können und es steht auch nicht hochkant, wie wir wissen. Dann würde man mit dieser Fläche vielleicht auskommen. Also, ich glaube, da werden wir noch einiges zu diskutieren haben. Ich meine, dass die von manchen geforderte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie an dieser Stelle gar nicht mehr sinnvoll ist, weil selbst die Beratung der Landwirtschaftskammern nicht mehr auf der Ebene der alten EU-Richtlinie erfolgt, da alle Landwirte, die heute in einen Stall investieren, genau wissen, dass wahrscheinlich in anderthalb Jahren ein neuer Entwurf für eine Richtlinie aus der EU kommt. Meines Erachtens macht es Sinn, dass sich die Landwirte nicht auf veraltete Richtlinien einstellen, sondern dass sie ein Stück über dem EU-Niveau liegen. ({13}) - Genau das habe ich vorgeschlagen und darüber diskutiere ich gerne mit Ihnen. ({14}) Wir alle reden gern über Wettbewerbsfähigkeit. Aber Wettbewerbsfähigkeit soll nicht Stillstand heißen, sondern Wettbewerbsfähigkeit muss sich meines Erachtens darauf einstellen, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass sich in der Welt etwas verändert. Es gibt andere Länder, von Argentinien bis Dänemark, die ihre Fleischprodukte auf dem internationalen Markt anbieten und die uns sagen, dass wir gut beraten sind, nicht immer die Letzten in der Frage der Tierhaltung zu sein. Stattdessen müssen wir zeigen, dass wir in der Lage sind, dem russischen und dem japanischen Markt zum Beispiel Schweine auf allerhöchstem Qualitätsniveau anzubieten. Dazu, meine Damen und Herren, gehört eben auch die Platzfrage. Wir bemühen uns darum, weil wir wissen, dass das im Tierhaltungsbereich und im Veredelungsbereich einer der Standortfaktoren ist, um tatsächlich im Rahmen von Modulation und Agrarinvestitionsförderung die Landwirte zu unterstützen. Ich glaube, genau so kann etwas daraus werden. Weiterentwicklung kann man nicht verhindern, sondern man sollte sich gleich dafür entscheiden, sie zu nutzen. Das wird gut sein für die Landwirte und für die Tiere. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war der Bericht der für den Tierschutz zuständigen Ministerin. Wer aufmerksam zugehört hat, hat im Grunde genommen herausgehört, dass dies eine einzige Entschuldigung für mangelnde Leistungen auf diesem Gebiet war. Ich will Folgendes in Erinnerung rufen: Wir haben schon 1986 unter der alten Kohl-Regierung ein Tierschutzgesetz verabschiedet, in das wir die Formulierung „Tiere sind Mitgeschöpfe des Menschen“ aufgenommen haben. Wir haben damals auch das Zivilrecht geändert, den Tieren den Status Lebewesen zugestanden und das Sachenrecht aus diesem Bereich entfernt. Meine Damen und Herren, seitdem gibt es auch den Tierschutzbericht, wie er heute vorliegt. Ich muss Ihnen sagen, Frau Künast, das, was Sie hier als Erfolge vorweisen zu können glauben, ist in Wahrheit ein Rückschritt. Sie haben es zu verantworten, dass in den letzten vier Jahren die Zahl der Tierversuche dramatisch angestiegen ist. Ich will Ihnen die Zahl nennen. Wir haben in den 90er-Jahren einen Rückgang der Zahl der Versuchstiere um 10 Prozent erreicht. 1997 waren es noch 1,5 Millionen Tiere im Jahr. Zurzeit verlieren jährlich 2,1 Millionen Tiere ihr Leben für Versuche. ({0}) Die Zahl der getöteten Versuchstiere ist zwischen 2000 und 2001 um 67 Prozent - von 314 000 auf 524 000 - angestiegen. Das ist eine enorme Steigerungsrate. Auch hierbei klaffen Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinander. Sie haben zu verantworten, dass die Zahl der Tierversuche in Ihrer Regierungszeit dramatisch angestiegen ist. Sich angesichts dieser Zahlen in den Medien mit Trauermiene als oberste Tierschützerin Deutschlands zu präsentieren ist der Gipfel der Scheinheiligkeit. Das muss einmal deutlich gesagt werden. ({1}) Frau Ministerin, Sie haben sich damit gebrüstet, eine Hennenhaltungsverordnung verabschiedet und damit dem Tierschutz gedient zu haben. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Ich zitiere: Die Frühstückseier kommen seit In-Kraft-Treten der Legehennenverordnung keineswegs von glücklicheren Hühnern. ({2}) Diese Äußerung könnte von mir stammen. Das ist aber nicht der Fall. Sie stammt vielmehr vom Tierschutzbeauftragten der SPD-Fraktion, Herrn Dr. Priesmeier. Seine Kompetenz als Tierarzt und seine Kenntnis der Praxis machen diese Aussage zu einer Ohrfeige für Sie, Frau Künast. ({3}) Wenn ein Mann wie Dr. Priesmeier, der das Geschäft versteht und die Praxis kennt, feststellt, dass die Sterberate in der Bodenhaltung mehr als 20 Prozent beträgt, dass sich Kannibalismus ausbreitet, den man durch das Abschneiden der Schnäbel zu minimieren versucht, und dass längst ausgerottete Krankheiten wieder auftreten, für deren Bekämpfung ein zunehmender Medikamenteneinsatz nötig ist, dann sollten Sie das ernst nehmen. Wir haben Ihnen das übrigens vor der Verabschiedung der Hennenhaltungsverordnung ebenfalls mitgeteilt. Sie haben aber diese Hinweise aus der Praxis schlichtweg beiseite gewischt; denn Sie sind beratungsresistent. Dem Tierschutz haben Sie damit einen Bärendienst erwiesen. ({4}) Ich fordere Sie auf: Lassen Sie die Kleingruppenhaltung in ausgestalteten Käfigen mit Nistplätzen und Scharrmöglichkeiten für die Hühner zu! Das ist anerkanntermaßen die humanere Form der Hühnerhaltung, die Sie leider ab dem Jahr 2011 verbieten. Das führt dazu, dass die Hühnerhaltung ins Ausland abwandert. Schon jetzt ist erkennbar, dass deutsche Erzeuger in osteuropäischen Ländern investieren, um später die dort erzeugten Produkte nach Deutschland zu exportieren. Lösungen lassen sich angesichts offener Grenzen nur auf europäischer Ebene und im Kontext mit den anderen EU-Mitgliedstaaten finden. Anderenfalls treiben Sie die Produktion aus dem Land. Deshalb bitte ich Sie: Geben Sie Ihren Starrsinn bei der Hennenhaltungsverordnung auf und ändern Sie diese zugunsten der Tiere, der Verbraucher, aber auch zugunsten der Betriebe und Arbeitsplätze in diesem Bereich! ({5}) Frau Künast, ich will Ihnen an dieser Stelle eine Warnung mit auf den Weg geben. Sie haben angekündigt, dass Sie die Schweinehaltungsverordnung ebenfalls ändern und in gleicher Weise wie bei der Hennenhaltung vorgehen wollen. Sie wollen in Deutschland besondere Erschwernisse einführen, die mit dem Tierschutzbedürfnis nichts zu tun haben. Auch damit vertreiben Sie die Produktion in andere Länder, aus denen dann die ProPeter Bleser dukte nach Deutschland exportiert werden. Damit benachteiligen Sie die Erzeuger hierzulande und dienen dem Tierschutz in keiner Weise. Denn wenn die Tiere in anderen Ländern gehalten werden, haben sie dort mit den gleichen Leiden - nach Ihrem Verständnis - zu kämpfen, die Sie mit Ihrer Verordnung in Deutschland verhindern wollen. Wir fordern die Eins-zu-eins-Umsetzung der EURichtlinie in eine nationale Schweinehaltungsverordnung, damit europaweit die gleichen Bedingungen gelten. Ich denke, das ist von entscheidender Bedeutung. ({6}) Ich möchte dieser Warnung die Bitte um eine Novellierung des Tierarzneimittelgesetzes hinzufügen. Ich bitte Sie zu veranlassen, dass Leiden von Haustieren zukünftig minimiert werden. Wie Sie wissen, bestehen durch das Verbot des Umwidmens von Medikamenten oder der Anwendung von Rohstoffen für Teilgruppen unter den Tieren keine Behandlungsmöglichkeiten mehr. So ist zum Beispiel derzeit die Verabreichung eines Kontrastmittels zur Diagnostik eines Magen-Darm-Leidens bei einem Hund nicht mehr möglich. Aber eine Krankheit, die man nicht erkennt, kann man nicht behandeln. Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Für die Behandlung einer von Leberegeln befallenen Ziege gibt es keine zugelassenen Medikamente. Die Medikamente, die für die Behandlung dieser Krankheit bei anderen Tierarten zugelassen sind, dürfen nicht angewendet werden. Ich bitte Sie herzlich, das Tierarzneimittelgesetz so zu ändern, dass das Leiden der Tiere beendet werden kann und die Todesspritze nicht länger der letzte Ausweg für viele Tierärzte sein muss. ({7}) Sie haben in Ihrem Tierarzneimittelgesetz - das geht in die gleiche Richtung - verboten, Arzneimittel länger als sieben Tage zu lagern. Auch hier gilt: In den Fällen, in denen ein Tier erkrankt ist, in denen es Schmerzen hat und leidet, kann häufig nicht eingegriffen werden, weil die entsprechenden Medikamente nicht vorrätig sind und deshalb nicht unter Anleitung oder Vorgabe eines Tierarztes eingesetzt werden können. Auch diese gesetzliche Regelung ist praxisfremd und führt zu unnötigen Schmerzen. Sie sollten sich mit den Kollegen aller Fraktionen verständigen, die hier initiativ geworden sind, um eine Änderung herbeizuführen. Das sind in unserer Fraktion Frau Klöckner und in der FDP-Fraktion Herr Goldmann gewesen. Die Namen der Abgeordneten aus den Koalitionsfraktionen möchte ich nicht nennen, weil ich ihnen nicht schaden möchte. Ich weiß von den betreffenden Kollegen, die ich persönlich sehr schätze, nämlich, dass die Bundesregierung massiven Druck auf sie ausgeübt hat, um diese Initiative zu stoppen. ({8}) Ich hoffe, dass sie es dennoch schaffen werden, in den Beratungen, die sicherlich Ende des Jahres anstehen werden, die notwendigen Änderungen durchzusetzen. Sie haben uns dabei an ihrer Seite. Sie können sich darauf verlassen, dass wir hinter ihnen stehen werden und dass wir alles tun werden, damit sie innerhalb ihrer Fraktion keinen Schaden erleiden werden. ({9}) Ich muss nach der Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz noch ein anderes Thema ansprechen. Sie wissen, dass es nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt ist, Tiere zu schächten. Sie haben dies in einem Schreiben an die Bundestagsfraktionen unter anderem damit gerechtfertigt, dass die Zulassung des Schächtens die Integration muslimischer Mitbürger fördere. Mit dieser Aussage zum Abtrennen des Kopfes eines unbetäubten, lebenden Tieres rechtfertigen Sie eine der übelsten Tierquälereien überhaupt. Dort, wo es darauf ankommt - die Frau Ministerin ist leider schon gegangen -, entziehen Sie sich der Verantwortung und ist Ihre Vorreiterrolle beim Tierschutz, auf die Sie sonst immer hinweisen, plötzlich abhanden gekommen. Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass nach der Aufnahme des Staatszieles Tierschutz in das Grundgesetz eine entsprechende Vereinbarung mit den muslimischen Mitbürgern getroffen wird, damit die Interessen des Tierschutzes endlich auch in diesem Bereich eingehalten werden können. ({10}) Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt vortragen, den Sie schon angesprochen haben. Es steht eine Änderung der Chemikalienrichtlinie auf europäischer Ebene an. Es ist vorgesehen, dass Altstoffe, die schon vor 1981 im Verkehr waren - ihre Anzahl dürfte bei rund 100 000 liegen -, neu überprüft werden sollen. Man geht davon aus, dass deswegen Tierversuche in einer Größenordnung von 100 000 bis 25 Millionen - je nach Schätzung notwendig sind. Ich glaube, es ist des Schweißes der Edlen wert, dafür zu sorgen, dass hier alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die Bewertung dieser Altstoffe mit anderen Methoden sicherzustellen. Ich erinnere nur an die Erkenntnisse und die Praxiserfahrungen, die man im Rahmen des Arbeitsrechts gewonnen hat und die man hier ohne Weiteres anwenden könnte.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte zusammenfassen: Die nüchterne Bilanz dieser Bundesregierung

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- habe ich bereits vorgetragen. Ich hoffe sehr, dass in Zukunft die ideologischen Verblendungen abnehmen werden, damit wir den Tieren mit Sacharbeit nutzen können. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Peter Bleser, ich habe - so kennen mich die Menschen - ein gerades Kreuz und breite Schultern. Aus diesem Grunde stehe ich hier und mache Politik. Man kann ruhig deutlich sagen: Ich vertrage auch etwas. Du hast eben bis zu einem gewissen Grade auf den Falschen eingeschlagen; denn die augenblicklich geltende elfte Novelle des Arzneimittelgesetzes ist im Wesentlichen von den Ländern, also auch von CDU-geführten Landesregierungen, zu verantworten. Die in dieser Novelle vorgenommenen Änderungen wurden letztendlich nicht nur von der Berliner Politik, sondern, im Gegenteil - ich denke in diesem Zusammenhang an die Restriktionen -, vor allem von Bayern und anderen unionsgeführten Ländern initiiert. ({0}) Wir sind mit unserer Absicht, gerade diesen Bereich in Angriff zu nehmen, natürlich auf dem richtigen Weg, Herr Kollege. Ich bin noch hoffnungsfroh. Ich glaube, dass, wenn man sich ernsthaft bemüht und eine sachorientierte Politik ohne Polemik betreibt, eine vernünftige Regelung im Interesse der Betroffenen und auch im Interesse des Tierschutzes gefunden werden kann, damit bestimmte Missstände in diesem Bereich ausgeräumt werden können. ({1}) Dass das klar erkannt worden ist, macht auch die Stellungnahme des BMVEL deutlich. Ich erkenne das Bemühen, in diesem Zusammenhang einen vernünftigen Kompromiss zu finden. In diesem Sinne sollten wir das gemeinsame Projekt, die 13. Novelle auf den Weg zu bringen, zielgerichtet zu Ende führen. ({2}) In Bezug auf den Tierschutz haben Sie hier eines unerwähnt gelassen: Sie sind viele Jahre - das Tierschutzgesetz in allen Ehren - in die falsche Richtung marschiert. Ich darf hier an die Entscheidung aus dem Jahre 2000 erinnern: Sie, Kollege Bleser, und auch einige andere haben gegen eine Vorlage gestimmt, weil Sie ganz einfach nicht hinnehmen und erkennen wollten, wie wichtig der Tierschutz in dieser Gesellschaft ist und dass die Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel im Grundgesetz durchaus hilfreich ist. ({3}) Wir Sozialdemokraten haben hier zusammen mit den Grünen und der FDP deutlich gemacht, welch hohen Stellenwert der Tierschutz hat. Das ist in der Bevölkerung unbestritten. Die Novelle des Grundgesetzes war eine der wichtigsten Entscheidungen der letzten zwei Jahre. Das findet sich auch im Tierschutzbericht wieder. Rückwärts gewandte Politik schafft selten vernünftige Grundlagen für die Zukunft. Wenn wir heute wiederum einen von der FDP vorgelegten Antrag diskutieren, dann zeigt das auch, inwieweit die Politik der FDP gerade im Bezug auf Tierschutz rückwärts gewandt ist. Herr Goldmann, bewegen Sie sich doch einmal ein bisschen! Sie haben in einer Ihrer letzten Reden zur gleichen Problematik - ich glaube, es war im Januar - gesagt, dass Schweine Tiere sind, die sich, außer zur Nahrungssuche, nicht gerne bewegen. Machen Sie nicht den gleichen Fehler: Bewegen Sie sich einmal - aber natürlich im übertragenen Sinne! ({4}) Wir Sozialdemokraten und wir, die Mitglieder dieser Koalition, nehmen in Deutschland und in Europa eine Vorreiterrolle ein. ({5}) Das müssen Sie klar erkennen; daran führt kein Weg vorbei. Das wird auch im Tierschutzbericht deutlich. Wir haben Zielvorstellungen in Bezug auf die Schweinehaltungsverordnung auf den Tisch gelegt - die Haltung der Sozialdemokraten war ein bisschen abweichend -, die sich - so schätze zumindest ich es ein - als kompromissfähig erweisen dürften. Angesichts der Sprachregelungsänderung, auch auf der Ebene der Länder, bin ich in diesem Zusammenhang durchaus hoffnungsfroh. Ich glaube, dass damit Ihr Antrag, sofern er bis zum Vorliegen einer Neuregelung beschlossen worden ist, letztendlich überflüssig wird. ({6}) Wir beziehen zur Problematik der Tiertransporte - Frau Ministerin hat sie hier angesprochen - klar und deutlich Position. Dieser Bereich war viele Jahre umstritten. Dort hat es Missstände gegeben, die es bei uns heutzutage in dieser Form vielleicht nicht mehr gibt; in anderen Ländern gibt es sie aber durchaus noch. Dazu haben wir auf der europäischen Ebene Initiativen ergriffen. Es ist maßgebliche Folge der deutschen Politik und des deutschen Engagements, dass die Standards und die Richtlinien auf der EU-Ebene entsprechend verändert werden und man heute darüber diskutiert, den Transportzeitraum so zu begrenzen, dass Tierschutzaspekte gewahrt bleiben, aber auch wirtschaftliche Aspekte nicht zu kurz kommen; da muss man - Sie wissen das - immer einen gewissen Ausgleich finden. Wir sind da auf dem richtigen Weg. ({7}) Das sage ich, auch wenn es natürlich wenig Sinn macht, sich ständig in die Brust zu werfen oder auf die Schulter zu klopfen. Es gibt einen Bereich, der hier schon angesprochen worden ist, den ich als Tierschutzbeauftragter sehr kritisch sehe. Natürlich will niemand zur Käfighaltung im herkömmlichen Sinne zurück, aber man muss letztlich erkennen, dass auch alternative Haltungsformen nicht ganz unproblematisch sind. Fakt ist - das konzediere ich Ihnen -, dass es in Boden- und Freilandhaltungsformen Mortalitätsraten von 20 Prozent - teilweise auch mehr gibt. ({8}) Auch unter bislang relativ idealisierten Bedingungen, wie man sie sich zum Beispiel auf einem Lehr- und Versuchsgut der Tierärztlichen Hochschule Hannover anschauen kann, gibt es nicht akzeptable Mortalitätsraten. Deshalb müssen wir uns kritisch fragen, ob das, was wir im Sinne des Tierschutzes entschieden haben, in guter Absicht, ({9}) unter Umständen in gewisser Weise modifiziert werden muss, damit auch insofern dem Tierschutz Genüge getan wird. Dazu bedarf es entsprechender Aufwendungen, dazu bedarf es entsprechender Forschung. Weder Sie noch andere werden mir heute wissenschaftlich fundierte Kriterien sagen können, an denen man das Wohlbefinden von Tieren exakt messen kann. Das kann im Augenblick niemand; da bedarf es der Forschung. Solche Ansätze - das geht aus dem Tierschutzbericht hervor - werden von der rot-grünen Bundesregierung umfangreich befördert. ({10}) - Es ist mir unbenommen, dahin zu gucken, wohin es mir im Augenblick Spaß macht. ({11}) Sie sind ein so sympathische Mann und Kollege, Herr Bleser, gestatten Sie mir doch, dass ich gelegentlich auch einmal Sie anschaue. Es gibt also noch einiges zu tun. Wir müssen unsere Ansätze im Sinne des Tierschutzes weiterentwickeln, damit die Voraussetzungen für qualitätsorientierte, anerkannte, geprüfte Systeme der Boden- und Freilandhaltung geschaffen werden, die den Tierschutzstandards, die man im Augenblick realisieren kann, gerecht werden. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte hier eines dementieren. Ich bin weiß Gott nicht derjenige, der hier Steilvorlagen an die Opposition liefert. Ich bin auch nicht derjenige, der sich als Kronzeuge missbrauchen lässt. Das wird von Ihnen hier vielleicht falsch eingeschätzt. Wir können hier gerade im Interesse des Verbraucherschutzes, des Tierschutzes und auch der Betroffenen Wesentliches voranbringen. Das hat die rot-grüne Bundesregierung geleistet und das wird sie auch in Zukunft leisten. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer schön, wenn man hier im Bundestag zu einem Thema sprechen kann, von dem man richtig Ahnung hat - ich bin schließlich Tierarzt und bei dem man sich in vollem Einklang mit der Partei befindet. Ich will vorweg sagen: Dass der Tierschutz heute im Grundgesetz verankert ist, ist nicht nur Ihr Verdienst, liebe Freunde von der CDU/CSU, sondern vor allem das Verdienst der FDP, die das nämlich immer wieder vorangetrieben hat. ({0}) Wir hatten nicht gleich die Mehrheit dafür - das trifft zu -, aber die Formulierung, die heute im Grundgesetz verankert ist, stammt aus unserer Feder. Das sollte hier einmal erwähnt werden. Wir sind wirklich aktive Tierschützer. Ich will noch etwas zu den Versuchstieren sagen. Ich bin dafür, dass man sich in einer solchen Diskussion um Sachlichkeit bemüht. Dass die Zahl der Tierversuche gestiegen ist, finde ich - das sage ich ganz ehrlich - gut. Dieser Anstieg rührt nämlich daher, dass die transgenen Tiere, mit denen in zunehmendem Maße gearbeitet wird, mittlerweile statistisch erfasst werden. Auf diese Weise sind gewaltige Fortschritte bei der Erforschung von Gegenmitteln für BSE, für Krebskrankheiten, Alzheimer und multiple Sklerose erzielt worden. Man muss sich jetzt schon fragen, wie man die Chancen, die sich für Menschen bieten, im Vergleich zu den Schmerzen, die Tieren bei Tierversuchen zugefügt werden, gewichtet. Aber wir alle gemeinsam bemühen uns ja darum, diese Schmerzen besonders gering zu halten. Ich glaube, auch in dieser Frage sind wir uns einig. In einem weiteren Punkt sind wir uns einig, nämlich in der Frage der Tiertransporte. Natürlich bin ich dafür, dass Tiertransporte nach Möglichkeit vermieden werden bzw. bei notwendigen Transporten für den größtmöglichen Standard gesorgt wird. Wir sollten hier gemeinsam zur Kenntnis nehmen, dass sich in Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern viel bewegt hat. Vergleichen Sie einmal die heutigen Tiertransportfahrzeuge mit denen von vor einigen Jahren oder Jahrzehnten. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Nun müssen wir dafür sorgen, dass die positiven Errungenschaften, die bei uns auf den Weg gebracht wurden, auch in anderen Ländern Einzug halten. Es hilft uns ja überhaupt nicht, wenn aufgrund unserer Vorschriften Tiere auf Umwegen über solche Länder transportiert werden, die diese Standards nicht verlangen. ({1}) Nächster Punkt: Ausgestaltung der Käfige. Wilhelm Priesmeier, wir können uns gerne einmal über die Meldungen von dir unterhalten, die im offiziellen Organ des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft - das kennst du ja auch - erschienen sind. Da hast du klipp und klar gesagt, dass Freilandhaltung eine Katastrophe für Tiere sein kann. Ich verstehe nicht, warum du davon abrückst. ({2}) Recht hast du gehabt, als du mit dieser Auffassung in die Presse gegangen bist und dich als Tierschutzbeauftragter profiliert hast. Du hast tosenden Beifall geklatscht, als der frühere niedersächsische Landwirtschaftsminister, Herr Bartels, hier gesagt hat, dass das, was bei der Legehennenhaltungsverordnung passiert ist, auf keinen Fall bei der Schweinehaltungshygieneverordnung noch einmal passieren darf. Du hast damals, kurz vor der niedersächsischen Landtagswahl, hier darüber gejubelt. Das hat zwar nichts geholfen, aber ein bisschen mehr Ehrlichkeit und Geradlinigkeit in einer solchen Frage wünschte ich mir von dir schon. ({3}) Nun nehme ich noch einmal das auf, was Frau Künast, die ja nun zu einer Konferenz musste, vorhin sagte. Eine Meldung von Aldi besagt - das ist richtig -, dass man auf Freilandeier setze. Nebenbei gesagt: Zur Umsetzung brauchen sie allerdings 32 Monate; diese lange Dauer hat etwas mit den veränderten Rahmenbedingungen in Deutschland zu tun. Zugleich gibt es aber noch eine weitere Meldung von Aldi, denn gleichzeitig hat man dort erklärt, man wolle jede Menge polnisches Schweinefleisch verkaufen, was über einen amerikanischen Betrieb, der Hunderttausende von Schweinen hält, auf den europäischen Markt gebracht werden soll. Was soll also dieses nationale Betrachten von Problemen? Nach Cancun wissen wir doch alle, dass eine nationale Agrarpolitik nicht mehr möglich ist, sondern höchstens eine europäische bzw. eine globale. Hier gibt es bezüglich der Frage der Nutztierhaltung nur eine Lösung; diese besteht darin, dass die europäischen Vorgaben eins zu eins umgesetzt werden. Dabei entsteht überhaupt kein Schaden. Es verhält sich ja nicht so, wie Frau Künast es vorhin bezüglich der Schweine dargestellt hat. Es gibt sehr wohl Empfehlungen von den Kammern; ich werde meinem Kollegen eine von der Landwirtschaftskammer Weser-Ems in Oldenburg, in deren Gebiet relativ viele Schweine und Geflügel gehalten werden, zukommen lassen. ({4}) - Die Stellungnahme der Kammer aus Westfalen-Lippe kann ich Ihnen auch zuschicken, Herr Ostendorff. Sie ist mit der der Landwirtschaftskammer Weser-Ems in Bezug auf Licht- und Raumangebot sowie Einstreu absolut identisch. Das ist hochinteressant. Ich habe zwar nicht mehr viel Redezeit, aber eines möchte ich doch sagen: Ich hatte einmal ein Schwein in einem Stall ohne Spaltenboden gehalten. Ich war erstaunt, dass ich jeden Abend diesen Stall sauber machen musste, weil es dort bestialisch roch und sich das Schwein in der Einstreu nicht mehr wohl fühlte. Hätte ich einen Spaltenboden gehabt, hätte ich nicht jeden Tag sauber machen müssen und das Schwein hätte wesentlich bessere Rahmenbedingungen vorgefunden. ({5}) Über solche Fragen sollten wir uns hier einmal fachlich auseinander setzen; so könnten wir auch zu vernünftigen Lösungen kommen. ({6}) Eine Anmerkung zum Tierarzneimittelgesetz, danach bin ich auch fertig, Frau Präsidentin. Liebe Kollegen Priesmeier und Ostendorff, wir wollen hier doch in einem Boot bleiben. Aber Tatsache ist: Wir vier wollten zusammen einen Brief schreiben und darum bitten, dass sich die Erkenntnisse aus der Anhörung in dem neuen Gesetz niederschlagen. Dieser Brief ist nicht zustande gekommen, weil Sie von Herrn Berninger und Co. zurückgepfiffen worden sind. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist massiv überschritten.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, und komme zum Schluss. Wir werden uns weiter um eine gemeinsame Lösung bemühen; aber von sieben auf 31 Tage zu gehen unter Ausnahme der Antibiotika ist schlicht und ergreifend fachlicher Blödsinn, den wir nicht mitmachen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, alle laufen los und haben ein gemeinsames Ziel direkt vor Augen, verfehlen es aber doch. So etwas gibt es. Ich nenne ein ernüchterndes Beispiel aus dem Tierschutz: 70 Prozent der europäischen Bevölkerung lehnen Tierversuche für kosmetische Zwecke ab. ({0}) Trotzdem werden pro Jahr mehr als 38 000 Tiere in Versuchslabors, zum Teil unter unsagbaren Qualen, verbraucht, ({1}) und das, obwohl es bereits über 8 000 getestete Rohstoffe und anerkannte Alternativmethoden gibt. Trotz der breiten Ablehnung von Tierversuchen zu kosmetischen Zwecken hat es zehn Jahre gedauert, die EU-Kosmetikrichtlinie im Sinne des Tierschutzes zu verändern. Was lange währt, wird endlich gut, könnte man meinen. Doch weit gefehlt! Erst ab 2009 sieht die geänderte Kosmetikrichtlinie endlich ein Tierversuchsverbot in Europa vor. ({2}) Doch selbst dieses spät kommende Verbot ist noch nicht abgesichert und steht auf sehr wackligen Beinen. Das ist das traurige Ergebnis eines zehnjährigen Kampfes. Dieses Beispiel zeigt, auf welch massiven Widerstand Tierschutz stößt, insbesondere wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. Wir begrüßen ausdrücklich, dass es der Bundesregierung in den letzten Jahren trotz dieser Schwierigkeiten gelungen ist, eine Vorreiterrolle im Tierschutz einzunehmen. ({3}) Ich greife zwei Beispiele heraus. Erstens. Im letzten Jahr hat der Bundestag die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz beschlossen und dem Tierschutz damit deutlich mehr Gewicht verliehen. ({4}) Das Verwaltungsgericht Gießen hat vor wenigen Tagen die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Tierversuchsvorhabens auch mit dem neuen Status des Tierschutzes begründet. Das ist ein toller Erfolg für den Tierschutz. ({5}) Zweitens. Zur Verminderung der Anzahl von Tierversuchen wurden Alternativverfahren endlich gefördert und anerkannt. Sie haben das nicht geschafft, Herr Bleser. Zur Vermeidung von Mehrfachversuchen wurden Referenzdatenbanken aufgebaut. ({6}) Das sind positive Ansätze, die wir ausdrücklich unterstützen. Das reicht aber alles noch nicht aus. Der Tierschutz ist weder bei uns in Deutschland noch in Europa ein Selbstläufer. Das haben wir beim Kampf um die Änderung der Kosmetikrichtlinie erfahren. Den landwirtschaftlichen Nutztierbereich hat bereits mein Kollege Wilhelm Priesmeier beleuchtet. ({7}) Ich stelle vier weitere zentrale Forderungen meiner Fraktion zum Tierschutz vor: Erstens wollen wir die Einflussmöglichkeiten der Verbraucher auf das Marktgeschehen stärken. Wie machen wir das, meine Damen und Herren? Wir fordern eine klare und vor allem seriöse Produktkennzeichnung, aus der zum Beispiel auch die Haltungsform der Tiere deutlich hervorgeht. Wir brauchen vor allem auch deutlich erkennbare Produktalternativen im Supermarkt. Bei den Eiern ist das schon gut gelungen. Ab Januar nächsten Jahres muss die Haltungsform auf Eierverpackungen gekennzeichnet sein. ({8}) Heute passiert das schon freiwillig. Das Kaufverhalten hat sich dadurch verändert, Herr Goldmann. Eier aus Käfighaltung bleiben in den Regalen. Die Nachfrage nach Eiern aus Freiland- und Bodenhaltung ist inzwischen so groß, dass sie nicht mehr allein aus deutscher Produktion gedeckt werden kann. ({9}) Aldi Nord schmeißt jetzt die Eier aus Käfighaltung aus den Regalen und setzt auf Boden- und Freilandhaltung. Das ist das richtige Signal für den Tierschutz. ({10}) Diese klare Erkennbarkeit und Wahlmöglichkeit brauchen wir aber auch bei allen anderen Produkten. Ich bleibe einmal bei den Eiern. ({11}) Auch in Nudeln oder Fertiggebäck ist Ei enthalten. Der Verbraucher findet aber weder auf der Nudeltüte noch auf der Keksdose eine Aussage über die Haltungsform. Das muss verbessert werden. ({12}) Zweite Forderung. Wir brauchen bessere gesetzliche Regelungen im Heimtierbereich. In Deutschland gibt es rund 90 Millionen Heimtiere. Das bedeutet, dass jeder von uns - auch Sie, Herr Goldmann, und ich - statistisch betrachtet, mehr als ein Heimtier besitzt. ({13}) Wie diese 90 Millionen Heimtiere jedoch leben und gehalten werden, wissen wir nicht. ({14}) Wir fordern deshalb eine klare Regelung auf Bundesund Länderebene, die Zucht, Ausbildung, Haltung und Handel von Heimtieren umfasst. ({15}) Dritte Forderung. Wir fordern den nachhaltigen Schutz der Schweinswale in Nord- und Ostsee. In der Ostsee sind die Kleinen Tümmler bereits fast vollkommen ausgestorben. ({16}) In der Nordsee gibt es noch Bestände, doch auch sie sind massiv bedroht. Jährlich sterben mehr als 7 000 Tümmler als Beifang in den Stellnetzen der Fischer. ({17}) Eine besondere Bedrohung geht hier von den Stellnetzen der dänischen Fischer aus. Knüpft man die Stellnetze der Fischer zusammen, so kommt man auf eine Gesamtlänge von deutlich mehr als 5 000 Kilometern. Das ist eine Länge von hier in Berlin aus bis zum Kap Hoorn. ({18}) Die Europäische Kommission erarbeitet zurzeit eine Richtlinie zum Schutz der Kleinwale. Wir fordern eine rasche Umsetzung dieser Richtlinie. ({19}) Vierte Forderung. Wir unterstützen das Bemühen der Bundesregierung, die Zahl der Tierversuche zu minimieren. Wir sehen, dass in den letzten Jahren große Anstrengungen unternommen wurden, um ihre Zahl zu minimieren. Trotzdem gibt es einen kontinuierlichen Anstieg. Das ist auf die verstärkte biologische Grundlagenforschung in Deutschland zurückzuführen. ({20}) Wir sind inzwischen bei der gigantischen Zahl von 2,2 Millionen Versuchstieren im Jahr angekommen. ({21}) Ein Ende ist nicht abzusehen. ({22}) Die Chemikalienpolitik der EU, die langfristig zu verbessertem Chemikalienmanagement in Europa führen soll, wird die Tierversuchszahlen in den nächsten Jahren leider weiter nach oben treiben. ({23}) Wir fordern deshalb, dass Tierversuche an den Nachweis ihrer Unvermeidbarkeit gebunden werden. ({24}) Das ist das Mindeste, was wir tun können. Tierversuche für die Produktion von Kosmetika lehnen wir klar ab. ({25}) Meine Damen und Herren, wir haben einen Entschließungsantrag mit einem umfassenden Forderungskatalog zum vorliegenden Tierschutzbericht ausgearbeitet und werden ihn in die zuständigen Ausschüsse einbringen. ({26})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich schließe mit einer persönlichen Bemerkung. Ich habe drei misshandelte Hunde aufgenommen und wünsche mir auch aus ganz persönlicher Betroffenheit heraus, dass wir beim Tierschutz bis zum nächsten Bericht in zwei Jahren ein deutliches Stück vorankommen werden. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestalten in Schutzanzügen laufen hektisch herum. Sie tragen Atemmasken, Handschuhe und Gummistiefel. Der Tag X scheint eingetreten zu sein. Eine Szene aus der Science-Fiction? Nein, Realität im Frühjahr 2003. Mitten in Europa war eine Seuche ausgebrochen, die aviäre Influenza, Geflügelpest. Das Virus breitete sich mit rasender Geschwindigkeit aus. Auch Menschen erkrankten. Die Gefahr einer Supergrippe drohte. Der „Spiegel“ titelte: „Killervirus aus der Löffelente“. Am Ende war die Bilanz: einige Hundert erkrankte Menschen, mehr als 30 Millionen getötete Tiere in den Niederlanden. Gott sei Dank breitete sich die Seuche in Deutschland nicht aus. Es kamen bei uns nur - relativ gesehen - wenige Tiere zu Tode. Von den Leiden dieser Tiere will ich erst gar nicht sprechen. Der volkswirtschaftliche Schaden blieb begrenzt. Bei einem Geflügelbestand von 35 Millionen Tieren hätte sich allein für Niedersachsen eine horrende Kostensumme von mehr als 300 Millionen Euro für Tötung und Entsorgung der Tiere ergeben können. Bäuerliche Existenzen und Arbeitsplätze wären vernichtet worden. Das einzige, was uns und die Tiere davor bewahrt hat, war Glück - Glück, das nicht planbar, nicht kalkulierbar und nicht verlässlich ist. Meine Damen und Herren, wir können uns nicht darauf verlassen, dass es keinen neuen Seuchenzug geben wird. Wir müssen uns aber darauf verlassen können, dass wir für diesen Fall gewappnet sind und dass den Behörden, den Tierärzten und den Ärzten in diesem Fall geeignete Instrumente zur Verfügung stehen. ({0}) Daran fehlt es, weil das deutsche Tierseuchenrecht Lücken hat. Deshalb haben die Bundesländer die Bundesregierung bereits 2001 parteiübergreifend aufgefordert, kurzfristig zu handeln - ohne Erfolg, es geschah nichts. Im April dieses Jahres kündigte die Bundesregierung endlich an, handeln zu wollen. Was ist geschehen? Wieder einmal nichts. Was muss geschehen? Die Bundesländer haben es uns gesagt: Wir brauchen ein einheitliches Recht für das gesamte Bundesgebiet. Zurzeit muss jedes Bundesland im Seuchenfall auf sein eigenes Gefahrenabwehrrecht zurückgreifen. In dem einen Land ist erlaubt, was in dem anderen Land verboten ist. Das kann und darf nicht sein; denn Viren kennen keine Landesgrenzen. ({1}) Es muss auch schnelleres Handeln möglich sein. Zurzeit müssen Eingriffe wie ein Standstill in den amtlichen Verkündungsblättern bekannt gemacht werden; das bedeutet einen Zeitverzug von mehreren Tagen. Wäre die Veröffentlichung über Medien wie Fernsehen oder Radio bei uns erlaubt, könnte sofort reagiert werden. Bei einer Seuche ist es nun einmal erforderlich, schnellstmöglich zu handeln. Meine Damen und Herren aus der Koalition, Sie haben hier in vielen Redebeiträgen gesagt, was Sie alles für den Tierschutz tun wollen. Frau Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie mir aber einen Hinweis: Zum einen hätte ich es begrüßt, wenn Sie tatsächlich Anträge vorgelegt hätten. Zum anderen bin ich nicht der Auffassung, dass eine Polizei für Heimtiere oder gegebenenfalls die Schulpflicht für Wale zu einem ausgeprägten Tierschutz gehört. ({2}) Wenn Sie wirklich etwas für den Tierschutz tun wollen, können Sie unseren Antrag unterstützen. Ich habe von der Ministerin kein Wort dazu gehört, ob sie Tierseuchen effektiver bekämpfen will - sie hat dazu geschwiegen -; denn damit könnten Sie den Tieren helfen, weil eine effektive Seuchenbekämpfung immer auch Tierschutz bedeutet. ({3}) Diesen Schutz wollen wir alle und haben ihn deshalb mit Verfassungsrang ausgestattet. Was braucht es aber weiter dazu? Für den einen oder die andere ist offensichtlich nur ein ökologisch gehaltenes Schwein ein glückliches Schwein. Ob Frau Ministerin Künast zu den Verfechtern eines idealisierten Menschenbildes gehört, vermag ich nicht zu sagen. Ich vermute aber, dass sie ein idealisiertes Schweinebild hat - jedenfalls kommt das in ihrem Entwurf der Schweinehaltungsverordnung zum Ausdruck. Natürlich, ein Ferkelchen mit seinem Ringelschwänzchen ist lieb anzusehen und fotogen. Aber dort, wo mehrere Schweine zusammen gehalten werden, wird es von anderen Schweinen abgebissen. ({4}) Deshalb wird der Schwanz gekürzt und werden die Zähne abgeschliffen. Wie dies zu geschehen hat, ist im deutschen Tierschutzgesetz im Sinne des Bündnisses für Tierschutz geregelt. Die deutschen Landwirte halten ihre Tiere nach diesen Regelungen und damit tierschutzgerecht. ({5}) Sie verdienen damit ihr Geld - Geld, das vor Ort investiert wird, Geld, mit dem Arbeitsplätze geschaffen werden. Das gilt jedenfalls bislang; sollten nämlich die Pläne der Bundesregierung für den Bereich der Schweinehaltung Realität werden, so ist die Zukunft dieser Betriebe ungewiss. ({6}) Einmal mehr wird ein nationaler Alleingang mit zusätzlichen Auflagen angestrebt. Solche Alleingänge führen zu höheren Kosten und damit zu Wettbewerbsverzerrungen in einer globalisierten Welt. Kollege Goldmann hat bereits erwähnt, dass in dieser Woche ein bekannter Discounter polnisches Schweinefleisch anbietet. Er hat nicht erwähnt, zu welchem Preis: zu einem Kilopreis von 3,97 Euro. Werte Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, meinen Sie denn wirklich, dass sich der Verbraucher in diesem Discounter entrüstet abwenden wird, weil es sich um polnisches Fleisch handelt? Nein, er wird dieses Fleisch kaufen, weil er nach seinem Geldbeutel entscheidet - häufig auch entscheiden muss. Schon jetzt ist es für den deutschen Bauern schwer, damit zu konkurrieren. Mit Ihren Plänen würden Sie es ihm unmöglich machen. Schweine in Polen, wahrscheinlich irgendwann Schweine im Weltall, nur keine Schweine in Deutschland. ({7}) Meinen Sie denn wirklich, dass ein Schwein in der Ukraine bessere Bedingungen vorfindet als in Deutschland? Aber unter anderem dahin würde eine Produktion auswandern. Das dürfen wir nicht zulassen. Es gibt dafür auch keinen Grund. Die EU hat ihre Nutztierhaltungsverordnung auf wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt. Dazu zählen auch Gesichtspunkte des Tierschutzes. Bei einer Einszu-eins-Umsetzung der EU-Vorgaben wird damit nicht nur dem Tierschutz Rechnung getragen. Gleichzeitig werden damit auch Wettbewerbsverzerrungen zulasten der deutschen Landwirtschaft vermieden. ({8}) Springen Sie über Ihren Schatten! Überwinden Sie Ihren inneren Schweinehund! Stimmen Sie den Anträgen von CDU/CSU und FDP zu! Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/723 und 15/1210 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1035 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/226 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ralf Göbel, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten - Drucksachen 15/816, 15/1260 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Silke Stokar von Neuforn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einführung des Digitalfunks ist kein Streitthema gewesen. Es wird auch keines werden, da es Ihnen nicht gelingen wird, es zu einem zu machen. Denn hinsichtlich der Notwendigkeit der Einführung des Digitalfunks gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Wir sind uns völlig einig darin, dass wir ihn brauchen und er flächendeckend eingeführt werden muss. Der analoge Funk ist inzwischen fast 30 Jahre alt. Ich habe damals bei der Polizei die Einführung miterlebt. Wir haben ihn für einen großen Fortschritt gehalten. Inzwischen hat sich die ganze Sache überholt. Denn man sieht deutlich, wo der analoge Funk an seine Leistungsgrenzen stößt. Insbesondere das Hochwasser an Elbe und Mulde im letzten Jahr hat deutlich gemacht, wo es Funklöcher gibt, wo der analoge Funk nicht mehr leistungsfähig ist. Es ist zu massiven Funkausfällen mit durchaus gefährlichen Folgen für die Bürger und die eingesetzten Kräfte gekommen. Vor diesem Hintergrund haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir rüsten das veraltete analoge Funksystem für viel Geld nach oder wir investieren in ein neues, zwar sehr kostenintensives, aber auch sehr modernes Funksystem mit guter Sprachqualität, optimalem Datentransfer, grenz- und organisationsüberschreitenden Möglichkeiten und einer großen Abhörsicherheit. Fälschlicherweise wird dieses Funksystem immer nur mit der Polizei in Verbindung gebracht. Es gilt allerdings für alle Organisationen und Behörden, die mit Sicherheitsaufgaben betraut sind, also für Feuerwehr, THW und alle Katastrophenschutzorganisationen. Wenn das alles so toll ist, dann fragt man sich natürlich, warum wir es nicht längst eingeführt haben. Da lohnt sich ein Blick zurück. Erstmals wurde im Schengener Durchführungsübereinkommen 1990 beschlossen, dass die Einführung genormter, kompatibler Kommunikationssysteme, die eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit der BOS-Dienste ermöglichen, zu prüfen sei. Anschließend erschien dann dieses Problem in schöner Regelmäßigkeit - alle zwei bis drei Jahre - auf der Tagesordnung der Innenministerkonferenzen. Es gab ja kaum eine IMK, auf der nicht darüber geredet wurde. Zunächst war unsere Traumvorstellung: Wir wollen ein europaweites kompatibles, modernes Sicherheitsnetz. Dieser Traum ist längst ausgeträumt. Die europäischen Staaten haben sich nach nationalen GesichtspunkHans-Peter Kemper ten orientiert. Ein einheitliches europäisches Funksystem ist nicht mehr zu erreichen. Heute reden wir vielmehr darüber, zumindest ein bundesweit einheitliches System hinzubekommen. Auch das ist schon jetzt fraglich geworden. Wir reden ebenfalls über die Finanzierung. Das System wird nicht billig; das wissen wir alle. Es wird auch deshalb teuer, weil zumindest in der Übergangsphase eine Parallelführung beider Systeme erfolgen muss, um Sicherheitslecks in diesem Bereich zu vermeiden. Die Bürger erwarten aber von den Sicherheitsdiensten, von der Polizei zu Recht ein optimales System. Sie erwarten zu Recht, dass ihre Sicherheit optimal geschützt wird. Auch vor diesem Hintergrund ist der Versuch des Bundeskanzlers zu sehen. Er hat am 26. Juni dieses Jahres die Ministerpräsidenten der Länder zusammengeholt, um diese Sache wieder in Gang zu bringen. Es ist beschlossen worden, eine Dachvereinbarung auf den Weg zu bringen. ({0}) Weil es nicht flächendeckend gelang, die Bundesländer zum Beitritt zu bewegen, sollte eine Startergruppe gebildet werden. Der Bund und mein Bundesland Nordrhein-Westfalen, das in Fragen der inneren Sicherheit zu meiner Freude immer besonders gut ist, ({1}) haben diese Startergruppe ins Leben gerufen und sollten auf der Basis dieser Dachvereinbarung arbeiten. Inzwischen ist das alles wieder Makulatur; die Bundesländer haben ihre Bereitschaft zurückgezogen. Sie sind hinter den Stand vom 26. Juni 2003 zurückgegangen, weil sie - das ist völlig unrealistisch - eine Beteiligung des Bundes zu 50 Prozent an den Gesamtkosten fordern. Der Bund betreibt aber nur 8,5 Prozent der Endgeräte. Er nutzt also weniger als 10 Prozent des ganzen Systems. Daher ist es eine nicht verständliche Blockade der Länder, solch eine Kostenaufteilung zu fordern. Diese Forderung missachtet in eklatanter Weise auch den Grundsatz der aufgabengerechten Lastenverteilung. Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/ CSU, die diesen Antrag eingebracht haben, lautet: Beschleunigen Sie das Ganze. Wir unterstützen Sie dabei dadurch, dass Sie nun Ihren Bundesländern endlich den Marsch blasen und ihnen endlich sagen, wo es langgeht, ({2}) und dass sie für die Kosten, die sie verursachen, aufkommen müssen. Ich sehe hier das Zeichen, Frau Präsidentin, es blinkt schon.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ja, Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Frau Präsidentin, meine Redezeit ist zu Ende. Es geht mir genau wie meinem Innenminister, Otto Schily. Ich hätte noch viel zu sagen. Ich habe aber immer eine zu kurze Redezeit. Ich verlasse jetzt dieses geliebte Pult. Schönen Dank an alle. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ralf Göbel, CDU/ CSU-Fraktion.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einführung des Digitalfunks für die Behörden und Organisationen, die für die innere Sicherheit in Deutschland Verantwortung tragen, ist eines der wichtigsten technischen Projekte für die Sicherheit unseres Landes. Bundesgrenzschutz, Bundesamt für Verfassungsschutz, Zollkriminalämter, Bundeskriminalamt, Technisches Hilfswerk, auch die Bundeswehr, die bei Katastrophenlagen im Innern tätig wird, alle betonen seit Jahren die Notwendigkeit der Einführung des Digitalfunks. Gleiches gilt für die Polizeien der Länder, die Feuerwehren und die Rettungsdienste. ({0}) Die Bundeswehr - dies sei nur am Rande erwähnt - benutzt den Digitalfunk bereits, allerdings nur bei Auslandseinsätzen. ({1}) Durch die Schwachstellenanalysen von Katastrophenschutzeinsätzen zieht sich wie ein roter Faden die Feststellung, dass unser Funksystem, das aus den 70er-Jahren stammt, völlig überlastet ist, teilweise gänzlich versagt und schwierige, für Menschenleben gefährliche Situationen herbeiführt. Hierzu ein Zitat von General von Kirchbach im „Stern“ vom 31. Juli 2002: Beim Augusthochwasser ist das Netz dauernd zusammengebrochen, was die Verständigung erheblich erschwerte. Das alte Funknetz ist den Belastungen einer Katastrophe noch immer nicht gewachsen. Im Ernstfall bedeutet das, dass sich Einsatzleitung und Hilfskräfte sowie Hilfskräfte untereinander nur völlig unzureichend verständigen können. Im Alltag der Sicherheitsbehörden wird über Funklöcher und Überlastung der Funknetze geklagt und nicht zuletzt darüber, dass das Kommunikationssystem der Sicherheitsbehörden nicht abhörsicher ist und den Anforderungen des Datenschutzes in keiner Weise mehr genügt, ({2}) ganz davon abgesehen, dass auch die Ersatzteilbeschaffung und die Reparatur von Jahr zu Jahr teurer werden. Ein Blick über die Grenzen zeigt zudem, dass in Europa allein Deutschland und Albanien mit technologisch veralteten Kommunikationsnetzen im Bereich der inneren Sicherheit arbeiten. Selbst die im nächsten Jahr hinzutretenden neuen Länder verfügen bereits über ein digitales Funksystem oder sind dabei, dieses einzuführen. Die neuen Länder haben also bereits vor dem Beitritt die Anforderungen des Schengenabkommens erfüllt. Deutschland hingegen trägt wieder einmal, wie so häufig, die rote Laterne. Das ist schlicht und ergreifend blamabel. ({3}) Die Bundesregierung und die Landesregierungen wie auch der Deutsche Bundestag, und zwar dieser fraktionsübergreifend, betonen immer wieder die Notwendigkeit der Einführung des digitalen Funks; Herr Kollege Kemper hat darauf hingewiesen. Wir haben eine gemeinsame Presseerklärung zu diesem Thema erarbeitet. Über das Ob gibt es also keinen Streit. Bundesminister Schily gab das Ziel vor, bis Ende 2005 den Aufbau des digitalen Netzes abschließen zu wollen und 2006, bei der Fußballweltmeisterschaft, den Sicherheitsbehörden ein leistungsfähiges und modernes Funknetz zur Verfügung zu stellen. ({4}) Es ging auch flugs voran: Es wurden eine Zentralstelle für die Vorbereitung der Einführung des Digitalfunks eingerichtet und im Raum Aachen ein Pilotprojekt gestartet. Seitdem wissen wir, dass Digitalfunk auch in Deutschland reibungslos funktioniert. Wir wissen, welche Anforderungen wir an ein digitales Sprech- und Datenfunknetz stellen müssen. Wir wissen aber auch - und das seit geraumer Zeit -, dass Investitionsmittel von ganz erheblichem Umfang notwendig werden; Herr Kemper hat darauf hingewiesen. Nach heutigem Stand muss mit einer Summe von bis zu 4,5 Milliarden Euro für Netz und Geräte gerechnet werden, allerdings auf einen Zeitraum von zehn Jahren verteilt und durch eine Teilnehmerzahl von 17 Teilnehmern geteilt. Damit wird das Ganze schon wieder etwas überschaubarer. Hier setzt die Kritik an. Der Bundesinnenminister hat als Zielvorgabe zwar das Jahr 2006 genannt, hat aber offensichtlich die Finanzierungsfrage mit den Ländern nicht rechtzeitig genug verhandelt. ({5}) Jedenfalls ist seit September 2002 die Realisierung des Projektes ins Stocken geraten. Es haben mehrere Konferenzen der Innen- und der Finanzstaatssekretäre stattgefunden. Man war nicht in der Lage, eine vernünftige, der Sache angemessene und konsensfähige Lösung der Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern herbeizuführen. ({6}) Der Bundeskanzler - Sie haben es erwähnt - hat sich auf der CeBIT genötigt gesehen, das Versprechen abzugeben, sich persönlich für die zügige Einführung des Digitalfunks einzusetzen. Das ist ein halbes Jahr her. Es gab auch eine Besprechung des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder, ({7}) mit dem Ergebnis, dass sich wieder alle über das einig waren, worin wir uns sowieso einig sind, dass nämlich der Digitalfunk einzuführen ist. Es gab ein paar Modalitäten bezüglich der Dachvereinbarung und der Startergruppe - Sie haben es angesprochen -, über die man sich verständigt hat. Über die zentrale Frage, wie die Kosten verteilt werden, hat man aber auch bei dieser Besprechung kein Einvernehmen erzielt. Daher dümpelt die Sache seit September letzten Jahres vor sich hin. Bis heute ist keine Einigkeit erzielt worden. Die Dachvereinbarung, die seitens der Bundesregierung vorgelegt worden ist, wird von den Ländern deswegen abgelehnt, weil bezüglich der Kosten wieder einmal kein Vorschlag gemacht wurde. Es bedurfte wiederum weiterer Konsensrunden der Innen- und Finanzstaatssekretäre, um zu dem Ergebnis zu kommen - das ist der aktuelle Sachstand -, dass sich die Ministerpräsidentenkonferenz im Dezember erneut mit diesem Thema befassen muss, bevor weitere wesentliche Schritte in die Wege geleitet werden können. ({8}) Der gesamte Vorgang ist nicht nur ärgerlich, durch die starre Haltung der Bundesregierung gerät auch ein für die Sicherheit der Menschen in diesem Land wichtiges Projekt in Verzug. ({9}) In der Dachvereinbarung wird jetzt das Jahr 2010 als das Realisierungsjahr genannt. ({10}) Der Bundesinnenminister, ein Optimist, wie er uns in der letzten Sitzungswoche hat wissen lassen, hat den Optimismus abgelegt, ist von seinem Ziel abgerückt und spricht nun von einer Teileinführung zur Fußballweltmeisterschaft 2006. ({11}) Folgt man den Erklärungen der Industrie, ist selbst das wohl nicht mehr zu halten. ({12}) Das sind im Übrigen keine Unkenrufe, wie es Bundesminister Schily bezeichnet hat. ({13}) Die Landesregierung Rheinland-Pfalz, die die Verantwortung für den Austragungsort Kaiserslautern trägt, erklärte in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage, dass sie sich darauf einstellt, das vorhandene Gleichwellenfunknetz durch ein modernes analoges Funknetz zu ersetzen. Die Planungen hierzu seien bereits abgeschlossen. Hier zeigt sich, dass eine Landesregierung, die nicht von der CDU geführt wird, offensichtlich das Vertrauen in die zügige Einführung des Digitalfunks verloren hat und dies sogar öffentlich bekennt. ({14}) Ich will nicht darüber spekulieren, warum der erste Entwurf des diesjährigen Bundeshaushaltes keinen Ansatz für den Digitalfunk aufweist. ({15}) Die Erklärung des Kollegen Veit in der Haushaltsdebatte, die Drucklegung des Haushaltes sei bereits vor dem 26. Juni dieses Jahres erfolgt, möchte ich nicht weiter kommentieren. ({16}) Ich will nur darauf hinweisen - deswegen brauchen wir auch unseren Bundesländern nicht den Marsch zu blasen -, dass Hamburg und Baden-Württemberg für das nächste Jahr bereits Mittel in die Finanzplanung eingestellt haben. Im Übrigen gilt das auch für das Land Berlin, das in den nächsten zwei Jahren jeweils 10 Millionen Euro zur Verfügung stellt. ({17}) Nordrhein-Westfalen hat die haushaltsmäßigen Voraussetzungen bereits geschaffen und Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind gerade dabei, dies ebenfalls zu tun. Deswegen ist das bemühte Argument der Totalblockade der Länder ({18}) inzwischen obsolet geworden. Wie die Innenminister aller Länder uns mittlerweile mitteilen, liegt die Blockade beim Bund. ({19}) Auf die Berechnungsmodelle, deren es viele gibt, und auf die Berechnungsansätze, deren es noch mehr gibt, will ich im Detail gar nicht eingehen. Nur so viel: Der Bund hat vorgeschlagen, einen Eigenanteil von 10 Prozent an den Gesamtkosten zu tragen. ({20}) Das bedeutet: Rechnet man die Rückflüsse der Umsatzsteuer dazu, dann liegt der effektive Anteil bundesweit bei 3,1 Prozent. Das ist aus der Sicht von Finanzminister Eichel, der einen desaströsen Haushalt zu verwalten hat, natürlich ein gutes Ergebnis. Ich glaube aber nicht, dass sich auch nur ein einziger Landesfinanzminister zu diesem Ergebnis bekennen würde und es akzeptieren könnte. Die Länder werden dem Vorschlag in dieser Form also nicht zustimmen können. ({21}) Daher ist zunächst einmal Bewegung aufseiten des Bundes angesagt. Ich fordere aber natürlich auch, dass es zu einer Bewegung aufseiten der Länder kommt. Das Projekt liegt im nationalen Interesse und es kann nicht der Föderalismus am Ende dafür sorgen, dass es ins Stocken gerät. ({22}) Es ist notwendig, dass sich der Innenminister gegenüber dem Finanzminister durchsetzt. Die Einstellung von Mitteln haben Herr Innenminister Schily und Herr Parlamentarischer Staatssekretär Körper in der letzten Haushaltswoche zugesagt. Im Innenausschuss wurden gestern noch keine Beträge genannt. Ich weiß aber, dass dem Finanzministerium zugeleitet worden ist, man wolle in diesem Jahr 5 Millionen Euro in den Haushalt einstellen und in den nächsten beiden Folgejahren 200 Millionen Euro Verpflichtungsermächtigungen. Wenn die heutige Debatte diesen Betrag veranlasst hat, war es eine sehr sinnvolle Debatte. Es wird ein gutes Signal gegeben, ({23}) jedenfalls dann, wenn der Finanzminister - Herr Parlamentarischer Staatssekretär Diller ist ja da - zustimmt. Aber ich sage auch: Es löst nicht das Problem der Kostenverteilung, darüber wurde noch kein Einvernehmen erreicht. Ich betrachte es in diesem Zusammenhang schon als ein Trauerspiel, wenn man beobachten muss, wie Hunderte von Millionen Euro wegen Unzulänglichkeiten bei der LKW-Maut verloren gehen und andererseits Geld, das wir für die innere Sicherheit und die Sicherheit unserer Bürger brauchen, nur so schwer zu erreichen ist. ({24}) Der Bundesinnenminister hat die Führungsverantwortung übernommen, ihm obliegt die Federführung. Deswegen fordern wir Herrn Innenminister Schily auf, mit den Ländern die notwendige Basis zu schaffen, damit der Digitalfunk jetzt endlich zügig eingeführt werden kann - im Interesse der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden. Vielen Dank. ({25})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar von Neuforn.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Digitalfunk wurde übrigens schon im Jahre 2000 im Zuge der Expo 2000 in Hannover außerordentlich erfolgreich erprobt. So weit hinten ist Deutschland nun doch wieder nicht. Meine Damen und Herren, ich würde gern etwas sehr Ernsthaftes sagen, damit wir hier nicht eine Debatte über Technikdetails führen. Ich glaube, die CDU sollte sich überlegen, ob jetzt wirklich der geeignete Zeitpunkt für eine solche parlamentarische Auseinandersetzung ist. ({0}) Wir stehen kurz vor einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren ({1}) und ich glaube, die Politik wäre gut beraten, weil wir Parlamentarier die Verantwortung für diesen Haushalt tragen, ({2}) vor einem Ausschreibungsverfahren in einer öffentlichen Debatte nicht bereits mit Zahlen zu jonglieren und damit eventuell die Kosten eines Ausschreibungsverfahrens in die Höhe zu treiben. ({3}) - Ich erlaube jetzt keine Zwischenfrage, ich möchte gern mit meinen Ausführungen hier weitermachen. Wir befinden uns, wie gesagt, in einem Ausschreibungsverfahren, in dem es um zwei Dinge geht. Einmal soll über das Ausschreibungsverfahren die Systemfrage geklärt werden. Wer sich etwas mit dem Thema befasst hat, kennt die Situation und weiß, dass Bayern ein anderes Digitalfunksystem haben möchte als zum Beispiel Niedersachsen. Wir haben die Auseinandersetzung um zwei technisch mögliche Systeme, einmal Tetra Pol und zum anderen Tetra 25. Auch hier soll über das Ausschreibungsverfahren eine Entscheidung gefunden werden. Meine Damen und Herren, ich finde, Politik wäre gut beraten, wenn wir die Kriterien für solche Ausschreibungsverfahren entsprechend fassen und nicht mit Vorinformationen in irgendeiner Weise versuchen, Einfluss zu nehmen oder auch Hinweise zu geben, weil es exekutives Geschäft ist. ({4}) Wir haben alle ein Interesse daran, dass die Einführung des Digitalfunks für Bund und Länder finanzierbar bleibt. Ich halte den Weg für richtig. Wenn man ausgeschrieben und sich für ein System entschieden hat, dann sollten sich Bund und Länder zusammensetzen. ({5}) - Ich habe Ihnen auch zugehört. Sie benehmen sich hier wirklich wie die Lümmel von der ersten Bank. ({6}) Sie sind nicht in der Lage, zu akzeptieren, dass Ihnen eine Frau von den Grünen ein Problem differenziert und weniger populistisch versucht nahe zu bringen. Das geht mir langsam auf die Nerven. ({7}) Ich finde es richtig, dass man nach dem Ausschreibungsverfahren und der Entscheidung für ein System die Verhandlungen mit den Ländern aufnimmt und dann die Kostenfrage klärt. Wir haben in der Bund-Länder-Finanzierung und auch mit der Finanzierung des analogen Funksystems Erfahrung. Daher werden wir uns bei der Aufteilung der Kosten zur Einführung des digitalen Funksystems schon einigen. Ein anderer Punkt. Wir sollten aufhören - ich sehe, meine Redezeit läuft ab -, ({8}) in der Innenpolitik Symbol- und Eventpolitik zu betreiben. ({9}) Alle, die ein bisschen Ahnung haben, wissen, dass dies eine ernsthafte Herausforderung ist. Für die WM 2006 brauchen wir erst einmal ein Sicherheitssystem ohne Risiken und ohne Experimente. An den WM-Standorten wird keine verantwortliche Landespolizei für das Prestigedatum WM 2006 ein Digitalfunksystem fordern, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift ist. ({10}) Für Niedersachsen zum Beispiel ist es viel wesentlicher, dass Niedersachsen und Bremen im Zuge der Alltagskriminalität eng zusammenarbeiten können und die Funkverbindung funktioniert. ({11}) In den Ländern und auf Bundesebene täten alle gut daran, dafür zu sorgen, dass die Debatte versachlicht wird. Digitalfunk eignet sich einfach nicht zur parteipolitischen Profilierung. ({12}) Wir müssen uns alle dafür einsetzen, dass wir möglichst bald ein bezahlbares und gut funktionierendes digitales Funknetz in Deutschland haben. Für mich ist aufgrund der Kosten des Bundes Bedingung, dass nur die Länder zur Startergruppe zählen, die nicht länger ein landeseigenes Digitalsystem einführen wollen, das mit dem BGS-System nicht kompatibel ist. Einen solchen Quatsch an föderaler Kleinstaaterei wird unsere Fraktion nicht mitmachen. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gebiet, über das wir heute Abend reden, ist tatsächlich sehr ernst. ({0}) Ich erinnere Sie an das Hochwasser vom letzten Jahr. Damals hätten wir mit einem digitalen Funksystem wesentlich mehr erreichen können. ({1}) Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meiner Region: Etwa 20 bis 30 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt brannte eine Sporthalle. Nach Aussage der verantwortlichen Feuerwehrleute hätte vieles gerettet werden können, wenn wir ein entsprechendes Funksystem gehabt hätten. Aber die Alarmierung der Schweizer Feuerwehr war viel zu kompliziert. Heute befinden wir uns in einer Situation, die schier unglaublich ist. In verschiedenen europäischen Ländern wurden verschiedene Systeme eingeführt, die nicht miteinander kompatibel sind. Wenn ich richtig informiert bin, sind wir neben Albanien das einzige Land, das noch keine Entscheidung getroffen hat und noch nicht dabei ist, ein System einzuführen. Das können wir uns schlichtweg nicht leisten. ({2}) Nun ist völlig richtig: Wir haben die Schwierigkeit, dass wir zwar deutschlandweit ein System einführen wollen, aber um uns herum schon ein Flickenteppich besteht. Das zweite Problem sind die gewaltigen Kosten, die auf uns zukommen. Ich zitiere dazu, lieber Herr Staatssekretär Körper, Ihren Minister Schily: Der Digitalfunk ist ein absolutes Muss und kein kostspieliger Luxus. Daran sollten wir uns halten. ({3}) Ich werfe der Bundesregierung vor, dass sie ihrer Pflicht, initiativ zu werden, nicht nachkommt. ({4}) Lieber Herr Körper, wir hatten eine Kleine Anfrage gestellt. Auf sieben Fragen, darunter die Frage, ob mit der Einführung des digitalen Funksystems die flächendeckende Erreichbarkeit auch der nichtpolizeilichen Behörden usw. gewährleistet ist, antwortete die Bundesregierung, das sei Sache der Länder und darauf könne sie nicht antworten. ({5}) Dann lassen Sie es doch bleiben. Es kann doch nicht sein, dass Sie zu inhaltlichen Fragen schlichtweg nichts sagen können und darauf verweisen, das sei Sache der Länder. Sie entziehen sich Ihrer Verantwortung. ({6}) - Ich sage Ihnen: Hier hat auch der Bund eine gewisse Koordinierungsfunktion. Es gibt genügend andere Fälle, bei denen wir vor großen Schwierigkeiten stehen. Der Bundesinnenminister hat die Pflicht, die Entwicklung zu beschleunigen und alles daran zu setzen, dass es zu einer Einigung kommt. ({7}) Ich sage Ihnen ein Zweites: Es kann nicht sein, dass uns ein Bundeshaushalt vorgelegt wird, in dem für die Einführung des Digitalfunks Mittel in Höhe von null Euro angesetzt sind. Wir werden entsprechende Anträge stellen. Das zeigt auch, dass die Bundesregierung nicht wirklich willens ist, etwas zu tun. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Körper, wir erwarten von Ihnen erstens, dass Sie jetzt auf den Tisch legen, welche Mittel im Haushalt eingestellt werden sollen, wir erwarten von Ihnen zweitens, dass Sie uns jetzt in Ihrer Rede sagen, welchen Terminplan Sie verfolgen, und wir erwarten von Ihnen drittens, dass Sie uns sagen, in welchem Zeithorizont wir die Einführung eines bundesweiten Digitalfunksystems schaffen können. Das sind Sie uns und den Bürgerinnen und Bürgern dieser Republik schuldig. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper. ({0})

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe die Redebeiträge aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP gehört und komme zu einem einfachen Ergebnis: ({0}) Sie haben von dieser schwierigen Materie absolut keine Ahnung. ({1}) Das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit. Sie wissen, dass bei diesem schwierigen Projekt die Zahl von 50 Prozent im Raum steht. 50 Prozent der Kosten soll der Bund übernehmen. Einige Herren und Damen aus Ihren Reihen haben diese Forderung übernommen. Wer dies fordert, verhält sich gegenüber der Bundesregierung unverantwortlich, ({2}) denn es ist in keiner Weise zu rechtfertigen, dass bei dieser technischen Anlage 50 Prozent vom Bund zu übernehmen sind. Ich wüsste gerne, was Sie uns vorwerfen würden, wenn wir die Bereitschaft dazu erklären würden. Denn man muss wissen, dass der Bund letztendlich nur 8,5 Prozent der Endgeräte betreibt. An dieser Messlatte müssen wir uns bei der Verteilung der Kosten orientieren. ({3}) Ich sage noch einmal ganz deutlich: Sie gehen in einer unverantwortlichen Art und Weise mit Bundesinteressen um. Der zweite Punkt ist - das ist Ihnen wohl entgangen -, dass es auch unter den Bundesländern selbst eine heftige Debatte über die Kostenverteilung gibt, denn wir haben es auf der einen Seite mit Flächenstaaten zu tun und auf der anderen Seite mit Stadtstaaten. Wenn Sie sich einmal mit dieser Frage auseinander setzen würden, dann würden Sie wissen, welch eine schwierige Situation für die Technikentscheidung diesbezüglich entsteht, denn Tetra Pol ist mehr für die Fläche und Tetra mehr für städtische Regionen geeignet. Da gibt es einen Konflikt und den kann beispielsweise der Bundesinnenminister auch nicht par ordre du mufti lösen, sondern die Länder müssen sich verständigen, wie sie mit dieser Frage umgehen. ({4}) Ich finde schon, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten versuchen, mit diesem Thema etwas sachlicher umzugehen und nicht reflexartig Schuldzuweisung zu betreiben. Schauen Sie sich an, wie die Entscheidungen in Europa getroffen worden sind, auch diejenigen technischer Art: in Frankreich Tetra Pol, in Dänemark Tetra. Deswegen ist es für Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein so schwer, sich zu entscheiden. Es wäre viel besser gewesen, wenn wir in Gesamteuropa eine einheitliche technische Entscheidung gehabt hätten. ({5}) Das ist gar keine Frage. Aber dies war nicht zu erreichen. ({6}) Herr Binninger, schade, dass diese Chance verloren gegangen ist. Ich will Ihnen noch etwas zu dem Thema Geld sagen: Wir haben einen guten Maßstab. Analogfunk kostet nämlich auch Geld. Wir wissen auch, dass das erstens sehr viel Geld kostet, lieber Kollege Kemper. Sie kennen sich in dieser Materie ein bisschen aus. ({7}) Wir wissen auch, dass die Ersatzteilbeschaffung für Oldtimer in und auf der Zeitschiene eine sehr teure Angelegenheit wird. ({8}) Deswegen ist es dringend notwendig, dies zu tun. Meine Damen und Herren, ich sage hier auch ganz deutlich: Die Bundesregierung, der Bundesinnenminister hat auf diesem Gebiet bisher eine vorzügliche Arbeit auch in der Vorbereitung der Ausschreibungsunterlagen geleistet. Da gibt es überhaupt nichts zu meckern. Das sage ich Ihnen ganz deutlich. Im Übrigen geht das nur miteinander, denn dieses System und seine Einführung sind eine Bund-LänderSache. Es gibt 17 Beteiligte. Wir sind übrigens der Auffassung, dass der Langsamste hierbei nicht das Tempo bestimmen darf. ({9}) Wir werden auch - das ist an diesem Punkt schon einmal deutlich gesagt worden - den Verpflichtungen nachkommen, die für den Haushalt 2004 anstehen werden. Wir werden auch den Verpflichtungen nachkommen, die sich für die Haushaltsjahre 2005 und 2006 ergeben werden. Denn wir sind der Auffassung, dass es notwendig ist, dieses System einzuführen. Ich möchte auch keine Abstriche an der Technik machen. Richtig ist, dass es in diesem Bereich Kommunikationsprobleme technischer Art gibt. Das haben Großschadenslagen eindeutig gezeigt. Genauso wichtig ist, denen, die nicht so in der Materie stehen, noch einmal deutlich zu machen, dass man das nicht einfach per Handy über die entsprechenden Netze machen kann, sondern dass wir für diesen Sicherheitsbereich eine entsprechende Technik, die uns auch zur Verfügung steht, einführen und nutzen müssen. Dies sollten wir anpacken. Wenn Sie die Gelegenheit haben, in diesen Bund-Länder-Diskussionsprozess werbend einzuwirken, will ich Ihnen dazu gratulieren. Tun Sie das! Ich bin der Auffassung, dass dieses Thema nicht dafür geeignet ist, sich parteipolitisch zu streiten. Schönen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Binninger das Wort.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Körper, ich weiß nicht, was Sie erreichen wollen, wenn Sie eine Debatte mit dem Satz eröffnen: Sie haben alle keine Ahnung. Das bringt uns nicht weiter. Wir waren uns darüber einig, dass wir den Digitalfunk brauchen und dass der Analogfunk veraltet ist. Wir waren uns darüber einig, dass wir ihn bald brauchen. Der einzige Streitpunkt, in dem 16 Länder, egal wie regiert, dem Bund gegenüberstehen, ist die Finanzierung. Wenn Sie sagen, es gehe um 8,5 Prozent Endgeräte, muss ich Ihnen vorhalten, dass Ihre Ahnung nicht allzu groß ist. Bei den Kosten geht es nämlich zunächst um das Netz. Da spielt die Zahl der Endgeräte noch keine Rolle. Die Bundesdienststellen haben mehr Vorteile von diesem Netz, weil sie dann durch das gesamte Netz miteinander funken können. ({0}) Der zweite Punkt betrifft die Summen, die hier im Raume stehen. Sie sagen, wir würden unverantwortlich handeln, wenn wir dem 50:50-Prozent-Finanzierungsvorschlag der Länder näher träten. Einmal davon abgesehen, dass Kollege Göbel das zu keinem Zeitpunkt gemacht hat, dass aber in diese Sache Bewegung kommen muss, muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie einen 50-prozentigen Anteil übernehmen würden, müssten Sie pro Jahr für ein modernes Funksystem der Polizei und des BGS 0,1 Prozent des Bundeshaushaltes investieren. 0,1 Prozent sind Ihnen zu viel? Das glaubt Ihnen in der Öffentlichkeit niemand mehr. Ich will Ihnen aber sagen, wer blockiert. Es blockieren nicht die Länder, sondern es blockieren zwei Personen. Die eine will nicht, Finanzminister Eichel, und die andere kann nicht, Innenminister Otto Schily. Ich prophezeie Ihnen schon jetzt etwas: Wenn Otto Schily so weitermacht, kann er bald zu Recht der Manfred Stolpe der Innenpolitik genannt werden, ({1}) weil wir keinen Digitalfunk bekommen werden, auch nicht im Jahr 2010. Deshalb fordere ich Sie, Herr Staatssekretär Körper, auf: Zwar muss vonseiten der Länder Bewegung in das Vorhaben kommen, aber auch vonseiten des Bundes. Sie müssen mehr als 10 Prozent der Kosten übernehmen, sonst kommen wir keinen Schritt weiter. Diese Entscheidung kann nur der Bund treffen. Dafür müssen Sie sorgen, sonst werden wir den Digitalfunk nie bekommen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Staatssekretär, möchten Sie auf die Kurzintervention eingehen?

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Ich sehe keine Veranlassung dazu. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das steht jedem frei und es verkürzt auch unsere Sitzungsdauer etwas. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/1260 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/816 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Die Gegenprobe! ({0}) - Nein. - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes - Drucksache 15/1506 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatsministerin Christina Weiss das Wort.

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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Good bye, Lenin!“ ist ein Film, wie man ihn in Deutschland gemeinhin nicht erwartet: erfolgreich im Kino, beliebt beim Publikum, lukrativ für den Exporteur, wegen seiner künstlerischen Qualität preisgekrönt und Oscar-nominiert, aber dennoch staatlich gefördert. Er ist ein Paradebeispiel unserer Filmförderung, die wir mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf noch maßgeschneiderter, effektiver und leistungsstärker machen wollen. Denn der Erfolg von „Goodbye, Lenin!“ darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Lage der deutschen Filmwirtschaft seit der letzten Gesetzesnovelle 1998 zugespitzt hat. Sie alle kennen die Ursachen dafür: Die Börsen - vor allem der Neue Markt - haben eine schmerzliche Talfahrt hinter sich. Das Eigenkapital der Produzenten stagniert bei steigenden Produktionskosten. Viele Fernsehveranstalter verzichten auf Spielfilmproduktionen, während ihre Kosten für Werbung und Filmkopien in den letzten Jahren auf mehr als das Doppelte gestiegen sind. Kurz: Das risikoreiche Filmgeschäft ist zu einer Kletterpartie mit erhöhter Absturzgefahr geworden. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Immerhin beschäftigt die Filmwirtschaft in mehr als 8 000 Unternehmen rund 150 000 Menschen und hat trotz aller Probleme noch immer ein überproportional großes Wachstumspotenzial von gut 6,6 Prozent. Meine Damen und Herren, wir sind uns sicherlich darin einig, dass wir auch in der Filmbranche einen enormen Reformstau aufzulösen haben. Deshalb konzentriert sich der vorliegende Gesetzentwurf sowohl auf die Verbesserung des Fördersystems als auch auf die Stärkung dessen finanzieller Basis. Ich möchte drei Punkte hervorheben: erstens den Ausbau der Referenzfilmförderung. Auch wenn er Ihnen bekannt ist, so muss dieser Begriff doch immer wieder erklärt werden. Dahinter verbirgt sich ein Bonussystem für Produzenten, denen es gelungen ist, wirtschaftlich und künstlerisch erfolgreich zu arbeiten ({0}) und die in der Lage sind, Publikum ins Kino zu locken oder auf Filmfestivals künstlerisch zu reüssieren. Zweitens. Das neue Filmförderungsgesetz wird die Förderstruktur neu gewichten. Die Mittel für die Absatzförderung steigen um 110 Prozent auf 14,5 Millionen Euro. ({1}) Die Produktionsförderung erhält 40 Prozent mehr Geld, also 17,5 Millionen Euro. ({2}) Die Kinoförderung - vielleicht hören Sie hier mit besonderer Aufmerksamkeit zu - wird um 20 Prozent auf über 4 Millionen Euro aufgestockt. ({3}) Drittens. Da der deutsche Film international zu bescheiden auftrifft, wollen wir mit unserer Novelle dafür sorgen, dass unsere Produktionen im Ausland bekannter werden. Mit „Nirgendwo in Afrika“ und mit „Good bye, Lenin!“ ist das gelungen. Die jüngste Erfolgsmeldung kommt übrigens aus Frankreich. Dort hat „Good bye, Lenin!“ am ersten Wochenende 120 000 Besucher in die Kinos gelockt. ({4}) Unser Ziel ist, diesen Erfolg für den Ausbau des Filmexportgeschäftes zu nutzen. Das alles ist nur möglich, wenn wir die Mittel für die Filmförderungsanstalt erhöhen. Niemand hätte es geglaubt, dass es meinem Haus und mir in diesen schwierigen Zeiten gelingen wird, die finanzielle Basis der Filmförderungsanstalt um rund 40 Prozent aufzustocken, also von 46,2 Millionen Euro auf 64,7 Millionen Euro. Doch genau das ist gelungen. ({5}) Ich danke an dieser Stelle ganz besonders den Fernsehveranstaltern, die ihre Leistungen verdoppeln werden und künftig rund 22,4 Millionen Euro zur Verfügung stellen werden. Diese Verdoppelung entspricht bei den öffentlich-rechtlichen Veranstaltern etwa 7 Prozent des Kinofilmetats. Sie sind also faire Verhandlungspartner. Da diese Summe nicht ausreichen würde, um unser ambitioniertes Ziel zu erreichen, sieht die Novelle auch eine maßvolle Erhöhung - ich betone: maßvolle - der Film- und Videoabgabe vor. Wie Sie wissen, gibt es darüber derzeit Unmut bei den Kinobetreibern, aber auch eine Reihe von Missverständnissen. Worum geht es wirklich? Es geht um eine Abgabe, die wir um genau 3 Cent - ich betone: 3 Cent - pro verkaufter Kinokarte erhöht haben. Davon zahlen die Kinobetreiber etwa die Hälfte. Die andere Hälfte zahlen die Verleiher. 1,5 Cent mehr für die Zukunft des deutschen Films nenne ich moderat. Ich glaube nicht, dass man deswegen unsere Verfassungsrichter bemühen muss, wie das manche planen. ({6}) Zum Vergleich: In Frankreich beträgt die Abgabe auf jede verkaufte Kinokarte 11 Prozent. Wir erreichen - und das nach der Anhebung - gerade einmal 2,7 Prozent vom Bruttoumsatz. Vergessen Sie nicht: Die Kinoabgabe ist das Herzstück der Filmförderung in ganz Europa! Erlauben Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung. Obwohl wir mit der FFG-Novelle die wirtschaftlichen Instrumente der Filmförderung im Blick haben, wird sich mein Haus weiterhin auch und gerade denjenigen Filmen widmen, die künstlerisch besonders ambitioniert und innovativ sind und die nicht immer auf Anhieb ein großes Publikum erreichen können. Wie Sie wissen, kann nicht jeder gute Film ein Kassenschlager werden. Mit unserer Gesetzesnovelle wollen wir aber dafür sorgen, dass Kassenschlager in jedem Fall auch gute Filme sind. Unterstützen Sie uns bitte dabei! Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernd Neumann.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage des deutschen Films mit einem durchschnittlichen Marktanteil zwischen 10 und 15 Prozent in den Kinos ist nach wie vor unbefriedigend. ({0}) Darüber können auch die beiden letzten großen Einzelerfolge - der Oscar für „Nirgendwo in Afrika“ und die 6 Millionen Zuschauer, die „Good bye, Lenin!“ gesehen haben - nicht hinwegtäuschen. Frau Weiss selbst hat soeben festgestellt, dass sich die Lage der deutschen Filmwirtschaft zuspitze. Nun soll mit der Novellierung des Filmförderungsgesetzes - so Ihre Aussagen, Frau Weiss - ein neuer Schub für den deutschen Film erfolgen. Vorweg muss man erst einmal feststellen, dass die Hauptprobleme des deutschen Films weniger in der Filmförderung als vielmehr in den darüber hinausgehenden Rahmenbedingungen für Filmproduzenten liegen, die in Deutschland deutlich schlechter sind als in vielen anderen Ländern. Stichworte wie „Behinderung internationaler Koproduktionen durch den Medienerlass des BMF“, „unzureichende Finanzierung deutscher Produktionen aus Medienfonds“, „Vernachlässigung von Interessen der Filmwirtschaft im Zusammenhang mit dem Urheberrecht“ und „fehlende steuerliche Anreize“ rufen in Erinnerung, dass die von der Bundesregierung - unter anderem in mehreren Bündnissen für den Film - seit langem zugesagten Verbesserungen bisher nicht eingetreten sind. Dabei sind nach meiner Meinung die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Films und die von mir genannten Punkte viel wichtiger als die Änderung von Paragraphen im Filmförderungsgesetz. ({1}) Im Übrigen hat meine Fraktion diese Rahmenbedingungen zum Gegenstand einer Großen Anfrage gemacht; die Antwort darauf liegt jetzt vor. Obwohl die Debatte erst im November stattfindet, möchte ich bereits jetzt feststellen, dass die Antwort der Bundesregierung - das werden Sie dann auch noch von der Filmwirtschaft hören - völlig unbefriedigend ist. Das heißt, die versprochene Lösung der für die Filmwirtschaft entscheidenden Probleme bleibt weiterhin offen. Ich komme nun zum Filmförderungsgesetz, das im ganzen System der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr als eine Säule darstellt. Lassen Sie mich hier eine grundsätzliche Bemerkung machen, auch wenn ich meinen Kollegen Otto von der FDP damit erneut provoziere: Ohne Förderung, die im Übrigen zu einem beträchtlichen Teil von der Filmwirtschaft selbst und - das gilt für den größten Anteil - von den Bundesländern getragen wird, gäbe es den deutschen Kinofilm praktisch nicht. ({2}) Da es sich beim Kinofilm um ein wichtiges öffentliches Kulturgut handelt, ist die öffentliche Förderung wie bei anderen Kulturgütern voll berechtigt. Vergleichen wir die jährliche Zahl der Kinobesucher, die sich deutsche Filme anschauen, mit der Zahl der Theaterbesucher in Deutschland: Sie ist mit circa 20 Millionen in etwa gleich. Vergleichen wir allerdings die öffentlichen Subventionen, so ist die Summe der Subventionen für die Theater in Deutschland mit circa 2 Milliarden Euro um ein Vielfaches höher als die Summe von knapp 150 Millionen Euro für den deutschen Film. Ich sage nicht, dass die Theater genug Geld haben; ich mache nur deutlich, dass die These, die deutsche Filmwirtschaft werde über Gebühr subventioniert, angesichts anderer Subventionen nicht richtig ist. ({3}) Der vorliegende Gesetzentwurf, den Sie preisen - dazu sind Sie allein qua Amt verpflichtet -, enthält Licht und Schatten. ({4}) Frau Weiss, ich stelle deswegen fest: Es ist nicht der große Wurf; aber er kann es in Anbetracht objektiver Tatbestände wahrscheinlich auch nicht sein. Positiv ist unter anderem zu erwähnen, dass die Kapitalkraft von Produzenten mit dem neuen Gesetz gestärkt wird. Es gibt Möglichkeiten längerfristiger Kapitalaufstockung durch die FFA. Außerdem gibt es Zwischenfinanzierungsgarantien. Das alles sind sehr wichtige Instrumente, die den Produzenten das Leben erleichtern. Die Reduzierung des Rechterückfalls im Verhältnis von Fernsehen und Produzenten von sieben auf fünf Jahre ist ebenfalls zu begrüßen. Allerdings höre ich, dass sich die privaten Fernsehanstalten dagegen noch wehren; insofern müssen wir sehen, was daraus wird. Zu bedauern ist auch - das werden Sie gleichermaßen tun -, dass das nur für von der FFA geförderte Filme gilt, nicht für die anderen. Aber immerhin: Dies ist besser als gar nichts. Nun zu den Mittelerhöhungen: Staatsministerin Weiss stellte eben als besonderen Erfolg heraus, dass das Bernd Neumann ({5}) Fördervolumen der Filmförderungsanstalt voraussichtlich um über 40 Prozent erhöht werde. Unabhängig davon, ob diese Erhöhung am Ende tatsächlich erreicht wird - ich bezweifele das -, muss ganz sachlich festgestellt werden, dass dies wahrlich keine besondere Leistung der Bundesregierung darstellt, sondern dass im Wesentlichen andere - per Gesetz oder per Vertrag - dazu angehalten werden, mehr zu zahlen, damit mehr in die Kasse kommt. Ich finde das nicht schlecht; aber es ist keine besondere Leistung der Bundesregierung, wenn andere mehr zahlen. ({6}) Im Gegensatz zum Fernsehen, das seinen Beitrag zur Filmförderung im Rahmen einer so genannten freiwilligen Vereinbarung erbringt, müssen Kino- und Videowirtschaft eine gesetzlich fixierte Abgabe leisten. Es ist nachvollziehbar, dass die Ungleichbehandlung zugunsten des Fernsehens von der Filmwirtschaft beklagt wird. Sie haben das jüngste Gutachten des HDF angesprochen. Darin wird diese Praxis sogar als verfassungswidrig festgestellt. Ich will das jetzt aber nicht im Einzelnen werten. - Umso wichtiger ist es deshalb, dass der so genannte freiwillige Beitrag der Fernsehanstalten in einem angemessenen Verhältnis zu der Höhe der Zwangsabgabe der Kino- und Videowirtschaft steht. Nach dem durch Staatsministerin Weiss veröffentlichten Verhandlungsstand - das haben wir noch nicht schriftlich; sie hat es eben noch einmal mündlich dargestellt - sieht es so aus, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen jährlichen Beitrag von zurzeit 5,5 Millionen Euro ab 2005 verdoppeln will. Einerseits ist erfreulich, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk überhaupt zu einer Erhöhung seines Beitrags veranlasst werden konnte - das haben Sie, Frau Weiss, durch Zähigkeit in den Verhandlungen sicherlich ein Stück mit bewirkt -, andererseits ist die Summe von 11 Millionen Euro, selbst wenn man die höheren Leistungen des Fernsehens bei den Filmförderungen der Länder einbezieht, im Hinblick auf die jährliche Gebühreneinnahme von 6,5 Milliarden Euro ({7}) verschwindend gering, wenn man bedenkt, in welch hohem Maße das Fernsehen vom deutschen Kinofilm profitiert. Deshalb habe ich volles Verständnis, wenn die Kino- und Videowirtschaft den Beitrag des Fernsehens im Verhältnis zu ihrem Beitrag, auch nominal, nicht für ausreichend hält. Auf keinen Fall - da sind wir uns einig - kann die Wiedereinführung der Fernsehbindung der Abgaben von ARD und ZDF - das Geld wird indirekt letztlich nur für das Fernsehen ausgegeben - akzeptiert werden. Das Ergebnis der Verhandlungen mit den privaten Fernsehanstalten, Frau Weiss, ist im Augenblick noch völlig vage. Normalerweise müssten diese ihren Beitrag von jetzt 5,5 Millionen Euro ebenfalls verdoppeln. Dies wird aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten der privaten Sender nicht möglich sein. Deshalb soll ihr Beitrag durch Sachleistungen, das heißt durch Werbung für Kinofilme, erbracht werden. Aber die Konkretisierung ist bisher nicht erfolgt. Im Übrigen: Diese Summe, die in Form von Werbung geleistet wird und nicht in Form von Fördermitteln fließt, haben Sie bei der Erhöhung gleich mit eingerechnet. Abschließend will ich Ihnen noch etwas sagen, liebe Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, die Sie ja den Beitrag der Staatsministerin pflichtgemäß mit Beifall bedacht haben. ({8}) - Ich habe das gar nicht kritisiert. Wenn Sie Ihre Pflicht erfüllen, ist das gut. ({9}) - Gut. - Wenn man bedenkt, dass der Vorgänger von Frau Weiss - Sie erinnern sich vielleicht gar nicht mehr an ihn; ({10}) sie hatte ja mehrere Vorgänger -, Staatsminister NidaRümelin, noch in seinem Zwischenbericht des letzten Jahres davon ausging, dass das Fernsehen circa 40 Millionen Euro zusätzlich erbringen soll - jetzt sollen es 5,5 Millionen mehr sein -, relativiert sich das jetzige Verhandlungsergebnis. Ganz wichtig ist - ich hoffe, da sind wir uns einig -, dass das Verhandlungsergebnis in jedem Fall verankert, per Unterschrift besiegelt werden muss, bevor wir die Änderung des Filmförderungsgesetzes verabschieden, damit auch jeder sichergehen kann, dass die Leistungen erfolgen. ({11}) In der neuen Fassung des FFG ist eine Erhöhung der Abgabe der Kino- und Videowirtschaft festgelegt, zum Teil um bis zu 33 Prozent. Sie sagen: 3 Cent pro Kinokarte ist nicht viel. - Wenn man die Gesamtsumme in Millionen oder auch den Einzelfall betrachtet, beträgt die Erhöhung aber 33 Prozent. Das macht wohl insbesondere den vielen kleinen und mittelständischen Kinobetreibern sehr zu schaffen, die sich aufgrund der derzeitigen Entwicklung ohnehin in einer Existenzkrise befinden. Frau Weiss, wenn Sie den heutigen Wirtschaftsteil der „Welt“ lesen, dann stellen Sie fest, dass selbst ein großer Kinobetreiber in Bedrängnis gerät. Es kann nicht der Sinn sein, durch die Erhöhung der Abgabe dazu beizutragen, dass insbesondere in kleinen und mittleren Städten der ohnehin stattfindende Prozess des Kinosterbens noch gefördert wird. Deswegen werden wir, auch bei dem Hearing, sehr sorgsam darauf achten, dass das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Neumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wird mir ja von der Redezeit nicht abgezogen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, nein. Wir stoppen das ganz präzise. ({0})

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Manches vergisst man, Herr Kollege.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Neumann, sagen Sie doch bitte, wie Sie auf diese 33 Prozent kommen. Selbst mit den allertollsten Rechenkünsten kann ich nicht auf eine Erhöhung von 33 Prozent pro Kinokarte kommen, nicht einmal bei mittelständischen Kinos. Ich wohne in einer Kleinstadt, in der es zu meiner Freude noch ein Kino gibt. Da kostet der Eintritt etwa 8 Euro. Wenn ich 3 Cent aufschlage, komme ich nie und nimmer auf 33 Prozent. Da wird der Kartenpreis nicht gleich um 3 Euro erhöht werden.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehen Sie, Frau Kollegin, ich habe nur die Abgabe gemeint, Sie aber haben die Erhöhung auf die ganze Kinokarte bezogen. Nach den Grundrechenarten kann man nur die Summe als Bezug nehmen, um die es geht. So ist es überhaupt nicht streitig - auch Frau Weiss wird es nicht bestreiten -, dass Ihr Vorhaben dazu führt, dass die Abgabe, deren Höhe jetzt zwischen 1,5 und 2 Prozent liegt, um 1 Prozentpunkt steigt. Das entspricht einer Erhöhung der Abgaben um bis zu 33 Prozent. Ihren Kollegen, die jetzt nicken, bin ich dankbar, dass sie meine Aussage bestätigen. ({0}) - Das sagen Sie. Ihre Frage habe ich damit beantwortet. Ich will jetzt nicht viel zu den Gremien sagen, Frau Weiss. Vor fünf Jahren haben wir in Bonn im Plenum ebenfalls das Filmförderungsgesetz diskutiert und waren uns einig, dass die Gremien eher verschlankt werden sollten, indem die Zahl der Mitglieder verringert wird. Mit dem, was jetzt vorliegt, wird an manchen Stellen leider das Gegenteil bewirkt. Sie wollen einen Filmrat einführen. Es gibt schon genug Räte im Bereich des deutschen Films; das ist überflüssig. Sie wollen die Gremienzahl erhöhen. Wir werden darüber im Einzelnen im Ausschuss reden. Ich halte es für falsch, in Zeiten, da man über Entbürokratisierung und Entschlackung von Gremien spricht und es eine Krise in der Filmwirtschaft gibt, nun noch die Zahl der Gremien zu erhöhen. ({1}) Eine letzte Bemerkung zur Referenzförderung: Die vorgesehene Veränderung bei der Referenzförderung ist prinzipiell zu begrüßen. Dass dabei insbesondere die den Zuschauererfolg ergänzenden Kriterien wie Festivalerfolge berücksichtigt werden sollen, ist gut. Die Einbeziehung der Prädikate der Filmbewertungsstelle - Frau Kollegin Schröter, wir haben schon einmal darüber gesprochen -, die den kulturellen Aspekt der Filmförderung besonders garantiert, sollte aus unserer Sicht beibehalten und nicht abgeschafft werden. Wenn auch bei der Referenzförderung die Einbeziehung kultureller Kriterien außerordentlich wichtig ist, so muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Referenzförderung primär wirtschaftliche Filmförderung ist, bei der der Zuschauererfolg honoriert werden soll. Insofern ist die Überlegung richtig, die Schwelle bei der Referenzförderung zu erhöhen. Wir müssen aber während des Hearings da noch einmal nachfragen. Ich höre, dass die große Mehrheit der Branche dieser Erhöhung kritisch gegenübersteht; insbesondere die Kreativen befürchten, dass sie dann nicht ausreichend Förderung bekommen. Weil meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich einen letzten Satz sagen: Meine Damen und Herren, es sind noch eine Reihe von Einzelfragen zu klären. Wir werden das beim Hearing am 15. Oktober tun. Ziel sollte es sein, am Ende das neue Filmförderungsgesetz ausschließlich unter Sachgesichtspunkten und ebenso wie das letzte mit großer Mehrheit zu beschließen. Ein von breiter Mehrheit getragenes Fundament für die Filmförderung der nächsten fünf Jahre wäre der beste Dienst, den wir dem deutschen Film erweisen können. Wir sind dazu bereit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Über die letzten Sätze in Parlamentsreden könnte man auch einmal eine Doktorarbeit schreiben. Da gibt es viele Varianten. ({0}) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Mocca-Fix? - Ham wa nich mehr. - Filinchen-Knäcke? Nicht mehr im Angebot. - Und Spreewaldgurken? Mensch, Junge, wo lebst du denn? Wir haben jetzt die DMark und da kommst du mir Mocca-Fix und Filinchen!“ - Erkannt? Ja, das war aus „Good bye, Lenin!“, dem deutschen Erfolgsfilm des Jahres, gefördert von der Filmförderungsanstalt. „Katharina die Große hetzt während der Proben zu ihrem eigenen Theaterstück umher; die Familie des letzten Zaren sitzt - unbeirrt von der heranrollenden Revolution gemeinsam am Tisch und diniert; Hunderte von Gästen tanzen Walzer beim letzten großen königlichen Ball von Claudia Roth ({0}) 1913 …“ Kommt Ihnen diese Szene auch bekannt vor? Wahrscheinlich nicht so bekannt wie die aus „Good bye, Lenin!“. Sie stammt aus „Russian Ark“ vom russischen Regisseur Alexander Sokurov, produziert von der deutschen Egoli-Tossell-Film aus Berlin, gefördert von - richtig! - der Filmförderungsanstalt. ({1}) Was mich - wie Christina Weiss - aber besonders freut, ist der große Erfolg von beiden Produktionen im Ausland. Deutsche Filmplakate auf den Champs-Élysées und gemeinsame Produktionen mit Russland sind bislang ein eher seltenes Bild. Das gilt auch für die Premiere von „Luther“ in den USA in dieser Woche. Von solchen Ereignissen brauchen wir mehr. Wir wünschen uns deutsche Filme, die mitten ins europäische und auch ins außereuropäische Herz treffen. ({2}) Der Erfolg macht deutlich, dass wir uns mit diesen wunderbaren Filmen im internationalen Vergleich nicht zu verstecken brauchen. „Nirgendwo in Afrika“ und „Rosenstraße“, übrigens von zwei Regisseurinnen, seien hier stellvertretend als weitere Beispiele genannt. Dennoch gibt es große Probleme in der Branche. Es besteht Reformbedarf. Der deutsche Film braucht - da sind wir uns alle einig - eine starke regionale und bundesweite Förderung, um sich im Wettbewerb mit internationalen Produktionen messen zu können. ({3}) Mit der anstehenden Novellierung des Filmförderungsgesetzes wollen wir die Chancen des deutschen Films im internationalen Wettbewerb verbessern und eine positive Außendarstellung erreichen. Mit einer verstärkten Referenzförderung werden wir wirtschaftlichen Erfolg und Auszeichnungen bei Festivals zukünftig stärker berücksichtigen. Wir sind uns wohl der Schwierigkeit bewusst, die Balance zwischen dem künstlerischen und dem wirtschaftlichen Erfolg eines Filmes zu halten. Ökonomische Faktoren dürfen beim Kunstwerk Film nicht den künstlerischen Anspruch verdrängen. Sie sind aber auch nicht zu ignorieren. Sie stehen auch nicht notwendigerweise im Widerspruch dazu. Deshalb haben wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf dafür gesorgt, dass insbesondere Erstlings-, Dokumentar- und Kinderfilme weiterhin breit in den Genuss von Fördermitteln kommen. Darüber, ob die Zahlen nun der Weisheit letzter Schluss sind, kann man sicher noch einmal reden; hier sehe auch ich noch Beratungsbedarf. Ich denke, dass zum Beispiel auch beim Kurzfilm noch nachzubessern ist. Eine vielfältige Filmförderung ist für uns bei der FFG-Novelle wichtig und steht weiterhin im Vordergrund. Aber Filmförderung braucht Geld. Deswegen freue ich mich, dass insgesamt mehr Geld für die Filmförderung bereitgestellt wird. Das Fördervolumen der Filmförderungsanstalt steigt insgesamt um 40 Prozent. Das ist für die Branche ein wichtiges Signal. Aus den Reihen der Filmwirtschaft gibt es Bedenken gegenüber der Novelle, die wir ernst nehmen. Wir sind mit den Betroffenen im Dialog über die Referenzförderung, über Leistungskriterien, über die Bewertung von Festivals, über die Rolle und den Beitrag des Fernsehens. Auch wir haben noch Kritikpunkte: ({4}) Während Produzenten, Filmtheater oder die Videowirtschaft gleich mit mehreren Verbänden im Aufsichtsrat der Filmförderungsanstalt vertreten sind, sind weder der Verband Deutscher Drehbuchautoren noch der Bundesverband der Fernseh- und Filmregisseure in Deutschland oder die Kurzfilmer dort mit Sitz und Stimme vertreten. ({5}) Diese Erweiterung des Aufsichtsrats - dabei geht es um Kreativität, Herr Otto - erscheint uns sinnvoll und dringend nötig. Das erscheint uns jedenfalls sinnvoller als die Schaffung eines neuen Gremiums wie des geplanten Deutschen Filmrats. Insgesamt, denke ich, konnten wir einen ausgewogenen Entwurf vorlegen, der vor allem dem deutschen Film nachhaltig zugute kommt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wir auch künftig „Good bye, Lenin!“ sagen können, einen „impotenten Mann fürs Leben“ suchen dürfen und „Der alte Affe Angst“ und „Herr Wichmann von der CDU“ uns genauso begegnen wie „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“, brauchen wir ein Filmförderungsgesetz, das Außenseiter genauso fördert, wie es Publikumserfolge belohnt. Dafür werden wir sorgen. Lassen Sie mich an dieser Stelle explizit Christina Weiss für ihre nachhaltige, konsequente, manchmal zähe, kompetente Leidenschaft für den deutschen Film danken. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Otto. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Roth! Schon die Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit - drei Minuten - verbietet es mir, diese Eloge auf die Filmförderung fortzusetzen. ({0}) Das wäre auch der Rolle der FDP und meiner Person in der Filmpolitik nicht zuträglich. Aber um die Feierstunde für den deutschen Film hier nicht zu stören, Hans-Joachim Otto ({1}) möchte ich ausdrücklich erklären, dass drei der vier Ziele, die die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf verfolgt, auch von uns unterstützt werden: ({2}) die Verbesserung der Außenrepräsentanz, die Neugewichtung der Förderungsbereiche und vor allen Dingen die Verbesserung des Förderungssystems. ({3}) - Jetzt kein Aber. Das Letzte - die Verbesserung des Förderungssystems - ist am wichtigsten. Die stärkere Gewichtung der Referenzfilmförderung - Frau Dr. Weiss hat darauf hingewiesen - belohnt den Erfolg und ist sozusagen ein marktwirtschaftliches Element. Wir Liberalen sind natürlich immer für eine Stärkung des Marktes. ({4}) Meine Damen und Herren, hier setzt meine konstruktive Kritik ein. Wie man das vierte Ziel - die Erhöhung der Einnahmen der FFA, also die Erhöhung der Umlagen, der Subventionen - damit verbinden will, ist schon erstaunlich. Mehr Markt durch höhere Subventionen das hört sich fast so an, als wollte man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. ({5}) Das geht schlecht zusammen. ({6}) Wir alle wollen den deutschen Film fördern. Aber wir können doch nicht jedes Mal 50 Prozent mehr Subventionen verteilen. Sie haben „Good bye, Lenin!“ und andere Filme erwähnt. Der Erfolg des deutschen Filmes wächst aber nicht mit der Höhe der Subventionen; das ist leider nicht der Fall. Wir haben inzwischen eine Förderhöhe - Frau Griefahn, wenn Sie mir Ihr geschätzes Ohr leihen würden - pro Kinokarte deutscher Film von rund 12 Euro. Das ist mehr, als die Karte kostet. Bereits heute werden rund zwei Drittel der Kosten der deutschen Filme über öffentliche Abgaben bestritten. Wollen wir diesen Anteil jetzt noch erhöhen? Wir sind an einer Grenze angekommen. Der Kollege Neumann hat völlig Recht: Wir müssen in erster Linie die Rahmenbedingungen stärken. ({7}) - Das hat er schon gesagt. ({8}) Wir dürfen uns nicht darauf versteifen, die Abgaben zu erhöhen. Ich möchte in der Kürze der Zeit noch einen zweiten Kritikpunkt ansprechen. Der Deutsche Filmrat ist schon ein tolles Ding. Film 20 hat ihn als „die überraschende Supernova“ des Regierungsentwurfes bezeichnet. Wir haben so viele schöne, glamouröse Gremien: das Bündnis für den Film, die Filmakademie, die FFA usw. Jetzt kommt dieses tolle Gremium hinzu. Da fragt sich der geneigte Leser: Was soll denn das? Im Gesetzentwurf steht: Der Deutsche Filmrat hat insbesondere die Aufgabe, grundsätzliche Fragen der Filmpolitik und der öffentlichen Förderung des deutschen Films zu beraten … Meine Damen und Herren, das ist unsere Aufgabe hier im Parlament. Dieser Aufgabe müssen wir uns stellen. Wir können sie nicht an irgendeinen Filmrat delegieren. 17 Mitglieder soll der Filmrat haben. Der Deutsche Bundestag, der zuständig wäre, benennt ein einziges: einen Jubelperser von der Koalition. ({9}) Nicht einmal die Opposition ist vertreten. Und da sollen die „grundsätzlichen Fragen der Filmpolitik“ geklärt werden! Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, lassen Sie uns diese Tendenz der Entparlamentarisierung stoppen! ({10}) Wir sind für die Bedingungen des deutschen Filmes verantwortlich. Wir müssen uns dem stellen. Liebe Frau Präsidentin, da meine Redezeit zu Ende ist, mein letzter Satz: Auch wir Freien Demokraten werden unseren Beitrag in der Debatte leisten, um den deutschen Film zu stärken. Wir werden uns konstruktiv an den Debatten und insbesondere an der Anhörung am 15. Oktober beteiligen. Am Ende werden wir sehen, ob wir das große Ziel erreichen: einen gemeinsamen, von allen Fraktionen getragenen Gesetzentwurf. Wir sind zu dieser Auseinandersetzung und dieser konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Schröter.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über den deutschen Film wird wieder gesprochen, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in diesem Hohen Hause. Der deutsche Film hat es verdient. Auch wenn ich hier als Letzte spreche, möchte ich noch einmal die wichtigen Filme, die in diesem Jahr gelaufen sind und die es verdient haben, dass man immer wieder über sie spricht, benennen. ({0}) Denken wir an den Oscar für „Nirgendwo in Afrika“ - es wäre doch schlimm, wenn wir dies heute nicht erwähnt hätten -, denken wir noch einmal an „Good bye, Lenin!“ - ich wäre traurig, wenn ich das nicht hätte sagen dürfen, auch wenn das bereits alle meine Vorrednerinnen und Vorredner getan haben - oder auch an den Film „Rosenstraße“ von Margarethe von Trotta, der in Venedig sehr viel Beachtung gefunden hat und für den Katja Riemann den Preis für die beste Darstellerin bekommen hat. Ich gratuliere ihr dazu, ich finde das toll. ({1}) Auch die Gründung der Deutschen Filmakademie ist auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Ich wünsche der Filmakademie viel Erfolg. Noch ist sie ein sehr zartes Pflänzchen, das keineswegs unter Artenschutz steht. Ich hoffe, dass sie zur Stärkung des deutschen Films im Inland und Ausland beitragen wird. Alle diese Beispiele sind für mich ein Zeichen gewachsenen Selbstbewusstseins des deutschen Films. ({2}) Darüber freue ich mich ganz besonders; denn ein gesundes Selbstbewusstsein ist die beste Voraussetzung für einen stabilen Erfolg. Die Lage des deutschen Films lässt sich eben nicht nur mit der Entwicklung von Marktanteilen beschreiben. Sicherlich waren die Besucherzahlen in den Kinos in diesem Supersommer nicht berauschend und sicherlich müssen wir hellwach sein, was die zunehmende Internetpiraterie angeht. Ich denke aber, es hat sich eine Menge bewegt. Wie sah es denn bis 1998 aus, liebe Kolleginnen und Kollegen? - Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: Da wurde zum Beispiel der Filmpreis vom Innenminister, gewissermaßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vergeben ({3}) und das Filmförderungsgesetz wurde im Innenausschuss beraten. ({4}) - Hören Sie mir doch einmal weiter zu! - Heute haben wir einen Ausschuss, der sich schwerpunktmäßig mit dem Film befasst. ({5}) Am 15. Oktober werden wir in diesem Ausschuss eine große Anhörung zur Novellierung des Filmförderungsgesetzes durchführen. 18 Branchenexperten werden uns Rede und Antwort stehen; das wird eine Mammutveranstaltung. Es haben sich noch viel mehr Experten gemeldet, die sich hier einbringen wollen. Ich hoffe, alle werden dazu beitragen - ich gehe davon aus -, dass wir diese Novelle so gestalten, dass wir damit das Beste für den deutschen Film herausholen können. Ich möchte an die Branchenexperten appellieren, dass sie dann nicht ihre Brancheninteressen regieren lassen, sondern im Gesamtinteresse des deutschen Films agieren werden - das ist für mich im Hinblick auf diese Anhörung eine ganz wichtige Bitte -, ({6}) genau so wie es beim hier vorliegenden Gesetzentwurf der Fall ist. Die Beauftragte der Bundesregierung hat hier, denke ich, wirklich eine gute Arbeit geleistet. ({7}) Jetzt kommt es darauf an, wie wir weiter damit umgehen. Die Ergebnisse der Gespräche im Bündnis für den Film sind also in den Gesetzentwurf eingeflossen. Ich möchte daran erinnern, dass natürlich auch diese Bündnisgespräche, an denen so viele beteiligt waren, nicht immer alle befriedigen konnten. Die Ergebnisse sind immer wieder auf Kritik gestoßen, was bei dieser großen Beteiligung auch kein Wunder ist. Sie sind aber auch Grundlage für die heutige Novelle. Uns liegt ein Gesetzentwurf vor - ich möchte das noch einmal zusammenfassen -, der die Fördermittel um ein Drittel erhöht, der die Produzenten und damit die Filmwirtschaft als Ganzes stärkt, der klare Anreize für erfolgsorientiertes Filmschaffen setzt, der Erfolg nicht nur als Erfolg an der Kinokasse definiert, sondern zugleich kulturelle Kriterien mit einbezieht, der den Filmabsatz kräftig stärkt, der auch die Kreativen stärker einbezieht und der die Nachwuchsförderung ernst nimmt. ({8}) Die Stärkung der Produzenten ist ein Kernanliegen dieser Novelle. Ich meine, das ist gelungen. ({9}) Ich möchte daran erinnern, dass das FFG im Kern - Herr Kollege Neumann, darin sind wir uns einig - ein Wirtschaftsförderungsgesetz ist. Diese Aufgabe kann aber nur dann erfüllt werden, wenn die kreative Seite des Filmschaffens nicht aus dem Blick verloren wird. Deshalb schreibt sich das neue FFG die Verbesserung der „kreativ-künstlerischen Qualität des deutschen Films als Voraussetzung für seinen Erfolg im Inland und im Ausland“ auf die Fahnen. ({10}) Hier sind erste wichtige Schritte gemacht worden. Auch weiterhin wird dieses Thema auf der Tagesordnung bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin vor allen Dingen auf die Anhörung im Ausschuss gespannt. Ich erwarte eine sehr fruchtbare Debatte und von den Sachverständigen - ich betone es noch einmal - jenseits allen Lobbyismus wichtige Impulse. Einer guten Tradition dieses Hauses folgend

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt ist es Zeit für den letzten Satz.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ich bin dabei, Frau Präsidentin -, werden wir hoffentlich gemeinsam - ich komme auf Herrn Otto und Herrn Neumann zurück - zu einem tragfähigen Ergebnis bei der Reform der Filmförderung kommen, und zwar im Interesse des deutschen Films. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Abgeordnete Gesine Lötzsch bittet darum, ihre Rede zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer „Magnus-Hirschfeld-Stiftung“ - Drucksache 15/473 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Die Abgeordneten Bätzing, Kahrs, Gehb, ScheweGerigk und van Essen haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie einverstanden? - Dann verfahren wir so. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/473 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen soll. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 4 auf: 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Lothar Mark, Hans Büttner ({2}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Dr. Ludger Volmer, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien - Drucksachen 15/742, 15/1136 Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Mark Dr. Friedbert Pflüger Dr. Werner Hoyer ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß ({5}), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen - Drucksachen 15/203, 15/1559 Berichterstattung: Abgeordnete Karin Kortmann Peter Weiß ({6}) Markus Löning Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich von Ihrer Seite nicht. Dann ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Lothar Mark.

Lothar Mark (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003190, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Monaten war die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit allein durch den Irakkrieg und die sich anschließenden Befriedungsabsichten absorbiert. Andere Krisenherde wurden dadurch völlig an den Rand gedrängt. Umso begrüßenswerter ist es, dass alle Fraktionen im Deutschen Bundestag Interesse an einer Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien haben. Daher weiß ich alle Fraktionen mit mir einig, dass es angesichts der festgefahrenen Situation in Kolumbien notwendig ist, sowohl von unserer Seite als auch vonseiten der Europäischen Union neue Impulse zu geben. Von diesem Interesse zeugt auch der Antrag der CDU/ CSU-Fraktion, der in erster Lesung am 20. Februar 2003 im Plenum beraten, jedoch von allen damit befassten Ausschüssen abgelehnt wurde. Der Oppositionsantrag weist aus unserer Sicht erhebliche Mängel auf und setzt ein falsches politisches Signal: die politische und finanzielle Unterstützung des „Plans Colombia“, der faktisch einen zu starken militärischen Ansatz verfolgt und auch chemische Besprühungsaktionen mit einschließt. Hierauf wiesen in der ersten Lesung schon meine Kolleginnen Karin Kortmann und Anke Hartnagel hin. Wir sahen uns in den Koalitionsfraktionen deshalb gezwungen, unsererseits einen Antrag vorzulegen und diesen einseitig militärischen Akzent des „Plans Colombia“ - auch wenn die CDU/CSU dies bestreitet ebenso wie die Besprühungsaktionen als kontraproduktiv abzulehnen. Wie mir kürzlich im persönlichen Gespräch mit Präsident Uribe bestätigt wurde, wird dieser Antrag nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Kolumbien angesehen. Im Gegenteil: Die kolumbianische Regierung hat ausdrücklich um ein stärkeres internationales Engagement gebeten. Aus zahlreichen persönlichen Gesprächen - darunter, wie erwähnt, mit Präsident Uribe, Vizepräsident Santos und Oppositionsführer Holguín, denen ich auch die wesentlichen Aspekte unseres Antrages vorstellte - ist mir bekannt, dass insbesondere ein aktiveres Engagement Europas uneingeschränkt begrüßt würde. Momentan setze Kolumbien verstärkt auf die Hilfe der USA, so Präsident Uribe und Vizepräsident Santos, weil die EU bisher ein allzu geringes Interesse für die Situation zeige. Ich freue mich, dass ihre Exzellenz, Frau Botschafterin Mejía Marulanda von Kolumbien, dieser Debatte beiwohnt. ({0}) Exzellenz, ich begrüße Sie mit Erlaubnis der Präsidentin auf das Herzlichste und danke Ihnen für die bisherigen freundschaftlichen, offenen und konstruktiven Gespräche. Ihre Anwesenheit zeigt, dass unsere Bemühungen auf Ihr Interesse stoßen und wir gemeinsam den längst begonnenen kritischen Dialog fortsetzen können. ({1}) In dem angesprochenen Sinne ist der Grundtenor unseres Antrages wie folgt zu verstehen: Unterstützung der Doppelstrategie von Präsident Uribe. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Konflikt allein auf dem Verhandlungsweg und durch guten Willen der Regierung Pastrana nicht gelöst werden konnte. In Kolumbien sind derzeit rund 2,5 Millionen Menschen auf der Binnenflucht. Jährlich finden circa 3 000 Entführungen statt, darunter auch von zahlreichen Mandatsträgern, Gewerkschaftern, Unternehmern und Journalisten. Erst vor einer Woche wurden in Nordkolumbien acht ausländische Touristen von Rebellen entführt. An dieser Stelle appelliere ich an alle Parlamentarier in der Welt, sich entschlossen für eine Ächtung dieser Praxis und Taktik einzusetzen. Die Bewegungsfreiheit innerhalb eines Landes muss für alle sichergestellt sein und Parlamentarier wie Mandatsträger müssen ihr Mandat uneingeschränkt ausüben können. Die Einschränkung der politischen Bewegungsfreiheit ist ein elementarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Die genannten Zahlen verdeutlichen uns eine dahinter stehende humanitäre Katastrophe, die uns alle eigentlich beschämen muss. Daher ist die Demonstration der Stärke des Staates durch Wiederherstellung seines Gewaltmonopols richtig. Dies gilt allerdings nur, wenn das staatliche Gewaltmonopol als Grundlage für Bemühungen zur Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen verstanden wird, um mittel- bis langfristig eine politische Lösung des bewaffneten Konflikts zu erreichen. Unserer festen Überzeugung nach kann es Frieden in Kolumbien nur auf dem Verhandlungswege geben. Ich denke, dass die kolumbianische Regierung dies ebenfalls so sieht. In diesem Zusammenhang ist zu sagen, dass es unserer Erachtens richtig ist, alle bewaffneten illegalen Gruppen in diese Verhandlungen einzubeziehen. Friedensverhandlungen sind also auch weiterhin mit den Paramilitärs, der FARC und dem ELN notwendig. Man muss feststellen, dass alle illegalen bewaffneten Gruppen im Laufe des Konflikts Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Aber wenn wir auf eine friedliche Lösung des Konflikts durch Verhandlungen setzen, dann müssen wir diese Verhandlungen notgedrungen mit den dafür Verantwortlichen akzeptieren. Während Präsident Pastrana bestehende Verbindungen der Paramilitärs zu staatlichen Ordnungskräften leugnete, gibt Präsident Uribe diese zu und stellt somit die Paramilitärs erstmals auf eine Stufe mit den Guerillaorganisationen und bezieht sie richtigerweise in seine Verhandlungen ein. Entscheidend ist dabei aus unserer Sicht: Man muss den illegalen Kräften eine Perspektive für ein Leben nach dem Bürgerkrieg und einen Anreiz geben, dass sie aus der Teufelsspirale aussteigen. Wie will man einen Guerillero, der in seinem Leben nichts anderes als das Kriegshandwerk gelernt hat, davon überzeugen, seine Waffe abzugeben? Der Staat muss ihm zumindest die Chance eröffnen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Wenn ich hier eine teilweise Amnestie bzw. ein differenziert zu betrachtendes Amnestiesystem anspreche, wie von der kolumbianischen Regierung durch das Dekret 128 und durch Gesetzesvorhaben im Übrigen bereits in Angriff genommen, möchte ich keinesfalls der bislang weitverbreiteten Straflosigkeit Vorschub leisten. Ganz im Gegenteil: Unser Antrag macht deutlich, dass ein stärkerer kolumbianischer Staat Garant für die Ahndung von Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts sein muss. ({2}) Straflosigkeit und die Schwäche entscheidender rechtsstaatlicher Institutionen wie Justiz und Ombudsmann sind eines der Schlüsselprobleme des bewaffneten Konflikts. Sie stellen die größte Bedrohung einer jeden Demokratie dar, weil sie zu weiteren Gewalttaten geradezu ermutigen. Ich weiß, wie schwierig es ist, sich Amnestierungsfragen zu stellen, sie in einem gebeutelten Land zu diskutieren und Amnestie durchzusetzen. Die beiden Möglichkeiten lauten nur: Fortsetzung der Entführungen und des Mordens oder Reintegration betreiben mit ordentlichen juristischen Verfahren und Amnestierungsaussicht zumindest in sehr vielen Fällen, die vorher aber klar definiert werden müssen. Wir haben zur Kenntnis genommen, dass seit Einbringung des Antrags der darin erwähnte Ausnahmezustand vom kolumbianischen Verfassungsgericht aufgehoben wurde. Dennoch geben Berichte von internationalen Menschenrechtsorganisationen zu der Vermutung Anlass, dass die Zahl der Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts durch illegal bewaffnete Gruppen, aber zum Teil auch durch staatliche Sicherheitskräfte nicht abgenommen hat. Vor diesem Hintergrund ist die Aufforderung an die Bundesregierung zu verstehen, den kolumbianischen Staat bei der Entwicklung eines Aktionsplans zum Schutz der Menschenrechte und der Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu unterstützen. Der Antrag erkennt die bedeutende Rolle der Zivilgesellschaft für eine nicht militärische Konfliktlösung an. Wir möchten gerade in dieser Frage dem kolumbianischen Wunsch nach einem stärkeren Engagement Europas Rechnung tragen, indem wir die Einsetzung eines EU-Sondergesandten für Kolumbien anregen. Wie Kollege Dr. Hoyer bereits in der ersten Lesung des CDU/ CSU-Antrags zu Kolumbien richtig bemerkt hat, hat sich in dieser Frage leider noch immer kein europäisches Profil entwickelt. ({3}) Europa würde durch einen Sondergesandten erheblich an Gewicht gewinnen und könnte unter Beweis stellen, dass es fähig ist, mit einer Stimme zu sprechen, und sich Problemlösungen in der Welt annimmt. Ich möchte noch folgendes Anliegen des Antrags herausstellen. Wir sehen den Schlüssel zum Erfolg im Gegensatz zur CDU/CSU-Fraktion in einem entschlossenen Herangehen an die sozioökonomischen Ursachen des Konflikts. ({4}) Daher fordern wir im Antrag unter anderem die Umsetzung einer sozial gerechten und ökonomisch sinnvollen Landreform, die auch eine Zuteilung von Land an Kleinbauern beinhalten muss. Ein weiterer Punkt ist die Abwanderung von Intelligenz aus Kolumbien. Es kann unseres Erachtens nicht sein, dass die kolumbianischen Eliten in ihrem Land zu einem großen Teil keine Zukunft sehen und ihr Können und Wissen im Ausland einbringen. Natürlich sind hier die kolumbianische Gesellschaft und die Regierung gefordert, aber mindestens ebenso sehr die internationale Gemeinschaft. Was nützt dem Kleinbauern sein alternatives Anbauprodukt, wenn er es nicht Gewinn bringend absetzen kann und wenn er nicht vor den Guerilleros geschützt wird? Er benötigt verstärkt Hilfen, unter Umständen auch internationale Subventionen. Gerade nach dem Scheitern der WTO-Ministerkonferenz in Cancun erscheint es umso wichtiger, innerhalb der EU auf eine umfassende Marktöffnung zu drängen. Man kann es nicht oft genug betonen: Marktöffnung ist die beste Hilfe zur Entwicklung. Ich weise darauf hin, dass dieser Konflikt inzwischen von allen als eine regionale Problematik anerkannt worden ist. Er stellt kein Thema dar, das Kolumbien isoliert betrifft. Alle Nachbarn sehen das inzwischen so. In diesem Zusammenhang weise ich besonders erfreut darauf hin, dass der brasilianische Präsident Lula dem kolumbianischen Präsidenten Uribe ein Assoziierungsangebot in Bezug auf Mercosur unterbreitet hat. Ich denke, dass damit die Bereitschaft, den Konflikt in Kolumbien zu lösen, größer geworden ist. ({5}) Wir kommen bei der Suche nach einer friedlichen Lösung für Kolumbien nicht umhin, in Bezug auf die Drogenproblematik von unserer teilweise scheinheiligen Position in den Konsumentenländern abzurücken. ({6}) Es ist nicht vertretbar, dass die Industrienationen mit dem Zeigefinger auf die Drogenproduzentenländer zeigen, solange sie selbst nicht in der Lage sind, die Nachfrage und den Drogenkonsum zu reduzieren. ({7}) Auch wir als Konsumenten- und Nachfrageländer müssen uns der Verantwortung stellen und gemeinsam mit den Transport- und Produzentenländern nach Lösungen suchen. Ich denke, die in unserem Antrag ausgewogenere Betrachtung wird der Problematik in Kolumbien gerechter und bietet hilfreiche Ansatzpunkte für die Suche nach einer friedlichen Lösung des Konflikts, die wir uns alle für das kolumbianische Volk so sehr wünschen. ({8}) Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, damit der Friedensprozess in Kolumbien weiter- und zu Ende geführt werden kann. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Mark, wenn der Antrag dem aktuellen Stand der Entwicklungen entsprechen würde und Sie zumindest Ergänzungen vorgelegt hätten, würden wir ihm gerne zustimmen. Wenn man sich den Antrag einmal anschaut, kann man feststellen, dass mindestens drei Dinge nicht der aktuellen Situation entsprechen: Erster Punkt. Sie haben in Ihrem Antrag die Guerillabewegungen aus ideologischen Gründen mit der Regierung auf eine Stufe gestellt. Das ist unakzeptabel. Zweiter Punkt. Sie haben es in Ihrem Antrag an einer eindeutigen Unterstützung der Regierung von Alvaro Uribe vermissen lassen. Dritter Punkt. Sie haben wieder eine falsche Darstellung des „Plans Colombia“ gewählt. Ohne das nun übertreiben zu wollen, habe ich manchmal den Eindruck, dass wohl nur sehr wenige Mitglieder dieses Hohen Hauses diesen Plan wirklich einmal gelesen haben; denn sonst würde man nicht ständig die militärische Komponente betonen. Dieser Plan ist mangelhaft, er ist aber eine unverzichtbare Grundlage für die Weiterentwicklung in Kolumbien. ({0}) Vor diesem Hintergrund verweise noch einmal auf drei besondere Ereignisse: Erstes Ereignis. Die Bundesregierung hat im Rahmen der Vorbereitungen der Konferenz der G 8 in Evian eindeutig festgestellt, dass die Position von Alvaro Uribe zur Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols unterstützt wird. Davon steht in Ihrem Antrag kein Wort. Zweites Ereignis. Auf dem Präsidentengipfel in Cusco haben sich alle lateinamerikanischen Präsidenten eindeutig hinter Alvaro Uribe gestellt. Dass ein gewisser Herr aus Caracas dieser Entscheidung nicht zugestimmt hat, wundert einen kaum. Es gab also ein klares Bekenntnis Lateinamerikas zu Alvaro Uribe. Auch das wird in Ihrem Antrag nicht deutlich. ({1}) - Dann hättet ihr ihn ergänzen müssen. Man kann doch keinen Antrag aufrechterhalten, der von der politischen Entwicklung überholt wurde. Das ist doch der Punkt. ({2}) Drittes Ereignis. Dieses ist, wie ich glaube, von herausragender Bedeutung. Ich meine die Konferenz von London am 10. Juli dieses Jahres, auf der sich die Gebergemeinschaft ebenfalls mit großem Nachdruck hinter die Position des Präsidenten und seiner Regierung gestellt hat. Dass hier gerade auch die Bundesregierung eine klare Position eingenommen hat, wird von uns nachhaltig begrüßt; denn auch wir kennen natürlich die dahinter stehenden die Mechanismen. Als Sie Ihren Antrag eingebracht haben, werter Kollege Mark, haben sie das natürlich nicht tun können, ohne sich vorher mit dem Auswärtigen Amt und dem BMZ, dessen Leitungsebene heute nicht vertreten ist, abzustimmen. Wir nehmen mit Interesse zur Kenntnis, dass die Bundesregierung in ihren Überlegungen zur Lösung des von Ihnen zu Recht als Regionalkonflikt bezeichneten Konfliktes bereits viel weiter ist, als das in Ihrem Antrag zum Ausdruck gebracht wird. Die Weiterentwicklung der Position der Bundesregierung, um keine andere Formulierung zu wählen, hin zu einer klaren Unterstützung der Position von Alvaro Uribe wird von uns sehr begrüßt. In diesem Zusammenhang ist übrigens ein weiterer Punkt wichtig. Die lateinamerikanischen Präsidenten haben in der von mir bereits erwähnten Resolution von Cusco ausdrücklich die Vereinten Nationen um Vermittlung in diesem Regionalkonflikt gebeten. Das ist umso wichtiger, als natürlich die kolumbianische Regierung einer solchen Einschaltung der Vereinten Nationen - das sage ich in aller Deutlichkeit - ohne die Zustimmung der Amerikaner, also Washingtons, ihrerseits nicht zugestimmt hätte. Das erwähne ich deshalb, weil häufig den Amerikanern unterstellt wird, sie seien per definitionem gegen die Mitwirkung der Vereinten Nationen in Kolumbien. In diesem Regionalkonflikt ist das in keiner Weise erkennbar. In diesem Zusammenhang ist weiterhin von Bedeutung, dass dieser regionale Konflikt nur lösbar ist, wenn alle Anrainerstaaten das gleiche Ziel verfolgen wie die Regierung Uribe selbst. Wir haben gestern eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zu der gesamten Problematik eingereicht. Inzwischen gibt es mit Peru eine Vereinbarung, einen „hot pursuit“, wonach kolumbianische Streitkräfte in der Verfolgung von Guerillaverbänden auf peruanisches Gebiet überwechseln dürfen. Ich halte das für einen bemerkenswerten Vorgang. Ähnliche Dinge sind inzwischen mit Panama vereinbart. Die Brasilianer haben eine bemerkenswerte Kurskorrektur ihrer Außenpolitik vollzogen, denn sie haben festgestellt, dass sie auf Dauer vor diesem Regionalkonflikt die Augen nicht verschließen dürfen, weil inzwischen ein Großteil des Drogenhandels über brasilianisches Gebiet, weitestgehend über den Amazonas, läuft. Völlig aus der Reihe tanzt Hugo Chávez. Hier können wir einfach feststellen, dass dieser Herr nicht nur Schritt für Schritt zuhause eine faschistische Diktatur aufbaut, sondern dass er wissentlich Kräfte der FARC auf seinem Territorium duldet. Dieses darf auf Dauer - das ist mein Appell an alle Fraktionen dieses Hauses und auch an die Bundesregierung - nicht nur von Kolumbien, sondern auch von der internationalen Gemeinschaft nicht geduldet werden, weil sonst der Kampf gegen die Guerilla in Kolumbien ins Leere läuft. Das ist nicht zu tolerieren. ({3}) Deshalb mein Appell, hier auch ein deutliches Wort gegenüber der Regierung von Venezuela zum Ausdruck zu bringen. Herr Kollege Mark, Sie haben zu Recht darauf verweisen, dass wir uns um kolumbianische Kollegen kümmern sollten. Der Deutsche Bundestag könnte das in besonderer Weise dadurch tun, dass alle vier Fraktionen dieses Parlaments ihre nachhaltige Sympathie mit der Opposition in Venezuela bekunden. Das wäre ein Beitrag zur Befriedung in der Region. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat ist die Lage in Kolumbien äußerst besorgniserregend. Massaker, Vertreibungen, Zwangsrekrutierungen auch von Kindern, Entführungen, Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung sind dort an der Tagesordnung. Die Gewalt richtet sich dabei nicht nur gegen kolumbianische Bürgerinnen und Bürger, sondern auch gegen Ausländer vor Ort. Das wurde schon erwähnt. Unter den jüngst im Norden des Landes entführten acht Touristen befindet sich auch eine Deutsche. Ich will hier zu Anfang meiner Ausführungen versichern, dass die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den anderen betroffenen Regierungen die intensiven Bemühungen der kolumbianischen Regierung zur Freilassung der Geiseln unterstützt. Neben Entführungen und Erpressungen ist Drogenkriminalität ein weiteres großes Problem in Kolumbien. Schließlich alimentieren sich die Guerillagruppen wesentlich aus dem Drogenhandel. Ich meine, gerade hier ist eine enge internationale Zusammenarbeit gefordert, um dem profitreichen grenzüberschreitenden illegalen Handel einen Riegel vorzuschieben. Verständlicherweise versuchen die Menschen in Kolumbien, diesen Problemen zu entkommen, indem sie die Unruheherde verlassen. Mittlerweile gibt es mehr als 2 Millionen Binnenvertriebene - Sie haben es erwähnt -, deren katastrophale Lage sich inzwischen zu einem der drängendsten Probleme Kolumbiens entwickelt. Wie soll man diese Probleme bekämpfen, wenn zeitweise die Hälfte des Landes unter der Kontrolle einer der drei großen Guerillagruppen steht? Angesichts von Entführungen, Drogenkriminalität und Vertreibungen sind wir uns in diesem Hause alle darin einig: Die Terror- und Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung Kolumbiens sind scharf zu verurteilen. Kolumbien braucht endlich eine friedliche Lösung, bei der die Menschenrechte eingehalten werden. ({0}) Wir werden - da können Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sicher sein - gemeinsam mit unseren EU-Partnern und den Vereinten Nationen darauf drängen, dass die Friedensverhandlungen wieder aufgenommen und fortgesetzt werden. Wir werden die Regierung von Präsident Uribe bei allem unterstützen, was auf eine friedliche Lösung abzielt. ({1}) Vor kurzem brachte die kolumbianische Regierung einen Gesetzentwurf über Maßnahmen gegen terroristische Gewalt ein. Außerdem erarbeitet sie derzeit ein Weißbuch zur Umsetzung der Empfehlungen und Forderungen der VN-Menschenrechtskommission vom April dieses Jahres. Wir erkennen auch die Bedeutung der praktischen Hilfsprogramme der kolumbianischen Regierung an. Allerdings können diese in ihrer Wirksamkeit noch verbessert werden. So erreichen zum Beispiel Flüchtlingsprogramme die Bedürftigen oft deshalb nicht, weil sich diese aus Angst vor Diskriminierung in ihren neuen Dorfgemeinschaften gar nicht als Flüchtlinge zu erkennen geben. Die kolumbianische Regierung ist zudem auf die Zusammenarbeit der Nichtregierungsorganisationen angewiesen; auch das will ich sehr deutlich sagen. ({2}) Dies hat Präsident Uribe in seiner Rede vom 8. September dieses Jahres anerkannt. Allerdings kritisierte er gleichzeitig angebliche Gruppierungen, die - ich zitiere - „unter dem Deckmantel angeblicher Verteidigung der Menschenrechte den Terrorismus unterstützen“. Ich will hier sehr deutlich sagen: Wir werden nicht zulassen, dass die schwierige Situation in Kolumbien noch dadurch verschlechtert wird, dass Nichtregierungsorganisationen, die sich aktiv für Menschenrechte einsetzen, in ihrer Arbeit behindert werden. ({3}) Wir werden uns daher dafür einsetzen, dass Nichtregierungsorganisationen ohne Angst um die persönliche Sicherheit ihrer Mitarbeiter ihre wichtige Arbeit fortsetzen können. Ich hatte dieses Jahr bereits Gelegenheit, mich über die schwierige Lage in Kolumbien sowohl mit Vizepräsident Santos Calderon, der zugleich Menschenrechtsbeauftragter seiner Regierung ist, als auch mit Kardinal Rubiano Saenz, der sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt, auszutauschen. Ich habe in diesen Gesprächen deutlich darauf hingewiesen, wie wichtig der Bundesregierung die Einhaltung der Menschenrechte und Fortschritte beim Friedensprozess in Kolumbien sind. Dabei unterstützen wir natürlich die katholische Kirche in ihrer sehr schwierigen vermittelnden Rolle. Oft sind deren Angehörige Verfolgungen ausgesetzt. Einige sind bei diesem Engagement umgebracht worden. Anfang Oktober wird Claudia Roth, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, nach Kolumbien reisen, um sich vor Ort ein Bild von der derzeitigen Situation zu machen. Für uns ist das ein ganz wichtiges Thema. Die Bundesregierung befürwortet eine stärkere Rolle der Vereinten Nationen bei der Lösung des kolumbianischen Binnenkonfliktes. Dabei kommt dem Sondergesandten des VN-Generalsekretärs, LeMoyne, eine ganz wichtige Rolle zu. Wir hoffen, dass er durch Treffen mit der größten Guerillagruppe FARC dem Verhandlungsprozess künftig neue Impulse geben kann. Angesichts der bisher ablehnenden Haltung der Guerilla sind die Aussichten dafür allerdings eher zurückhaltend einzuschätzen; auch das muss man sagen. Wir unterstützen mit unseren EU-Partnern in Kolumbien einen eigenständigen, vom „Plan Colombia“ unabhängigen Ansatz, der auf nachhaltige, strukturelle und soziale Reformen abzielt. Ich habe die Drogenproblematik angesprochen. Drogenhandel wird man letztlich nur bekämpfen können, wenn wir alternative Einkommensquellen für die ländliche Bevölkerung erschließen und wenn eine Landreform durchgeführt wird, so wie es in dem Antrag steht. Deshalb ist dies ein Schwerpunkt der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Wir haben uns auch erfolgreich gegen den Wegfall der EU-Zollpräferenzen für kolumbianische Schnittblumen eingesetzt. Darüber hinaus leistet die Bundesregierung schon seit mehreren Jahren jährlich über 1 Million Euro an humanitärer Hilfe. ({4}) Die Bundesregierung wird ihr Engagement für den Frieden in Kolumbien auch in Zukunft fortsetzen. Ihr Antrag auf Wiederbelebung des Friedensprozesses, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, der auch von der FDP unterstützt wird, findet die volle Unterstützung der Bundesregierung. Ich habe der Debatte entnommen, dass wir auch mit den Damen und Herren der CDU/CSU in wesentlichen Punkten eine Übereinstimmung haben. Wir sollten auf allen Ebenen alles für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses tun. Danke schön. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Leibrecht.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 30 000 Morde, 3 000 Entführungen pro Jahr und Hunderttausende von Binnenflüchtlingen - das ist Kolumbien heute. Es ist richtig, hier von einer humanitären Katastrophe zu sprechen, ({0}) einer Katastrophe, die eine Gefahr für die ganze Region ist. Sämtliche Versuche, mit der Rebellenarmee, der international geächteten Terrorgruppe FARC, ein Friedensabkommen zu schließen, schlugen in den letzten drei Jahren fehl. Erst durch die Unterstützung der USA gibt es Fortschritte, aber leider keinen wirklichen Erfolg; wir sind noch weit weg von einem Frieden. Präsident Uribe sucht jetzt sein Glück in Verhandlungen mit der 13 000 Mann starken paramilitärischen AUC. Wenn es gelänge, die AUC zu entwaffnen, wäre dies in der Tat ein großer Erfolg und ein Segen für das Land. Das würde sowohl die Gewalt in Kolumbien reduzieren als auch die Friedensgespräche mit der FARC voranbringen. ({1}) Erst wenn dieses Ziel erreicht ist, wird die dringend notwendige wirtschaftliche und humanitäre Hilfe aus dem Ausland kommen. Viele Nichtregierungsorganisationen stehen bereit und würden sich noch sehr viel stärker engagieren, wäre es dort sicherer. Wir dürfen nicht länger von Kolumbien wegschauen. Zusammen mit der Europäischen Union muss Deutschland die Friedensbemühungen von Präsident Uribe unterstützen. ({2}) Vieles am „Plan Colombia“ ist gut, wie die Herstellung der inneren Stabilität und der Aufbau von Polizei und Rechtsstaat. Was uns aber, der FDP-Fraktion, am „Plan Colombia“ nicht gefällt, ist der Ansatz, den Konflikt verstärkt militärisch mit Unterstützung der USA lösen zu wollen. ({3}) Allerdings: Militärische Aktionen werden nicht ausbleiben; auch das ist uns bewusst. Wir müssen in Zukunft mehr auf politische Waffen setzen, auf humanitäre Hilfe und vor allem auf wirtschaftliche Perspektive. Nur so kann der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen werden. Nur ein Frieden, der von allen Seiten gewollt wird, wird ein Frieden sein, der hält. Ein erzwungener Frieden wird neue Konflikte schüren. Davon bin ich überzeugt. ({4}) Wenn man von Kolumbien redet, muss man auch die Drogenfrage ansprechen. Der Drogenhandel muss bekämpft werden, und zwar - es ist schon vorhin gesagt worden - mit Polizisten und nicht mit Pestiziden. ({5}) Pestizide machen eine spätere landwirtschaftliche Nutzung unmöglich und zerstören dort die Lebensgrundlage für Mensch und Tier. Bauern, die heute Drogen anbauen, um ihre Familien über die Runden zu bringen und um sie ernähren zu können, müssen morgen alternative Produkte anbauen und - was noch viel wichtiger ist - verkaufen können. ({6}) Gerade in der längst überfälligen Landreform und in einer gerechten Landverteilung für die Kleinbauern liegt der Schlüssel zum sozialen Frieden in Kolumbien. Außerdem müssen die landwirtschaftlichen Produkte einen fairen Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten. ({7}) Die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der Einkommensperspektiven für alternative landwirtschaftliche Produkte wird zum Anbau des Drogenanbaus führen. Statt nur auf militärische Mittel zu setzen, müssen wir auf eine Kombination aus Verhandlungen und gezielten Aktionen setzen. ({8}) - Unsere Debatte scheint endlich die gebotene Aufmerksamkeit zu finden, was die Anzahl der anwesenden Parlamentarier betrifft. Das unterstreicht auch die Wichtigkeit dieser Debatte über Kolumbien. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich schnell hinsetzen und unsere Debatte interessiert und aufmerksam folgen würden. Danke schön! ({9}) Zum Schluss, meine Damen und Herren: Der „Plan Colombia“ -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Kollege, die Anzahl der anwesenden Parlamentarier ist gestiegen, aber nicht die Ihnen zur Verfügung stehende Redezeit. Sie ist zwei Minuten überschritten. ({0})

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum Schluss, meine Damen und Herren: Der „Plan Colombia“ ist zu einseitig. Er muss geändert werden, weg von der Betonung militärischer Schritte, hin zu mehr humanitärer Hilfe. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Deshalb unterstützen wir den Antrag der SPD und lehnen den der CDU/CSU ab. Insgesamt gehen wir aber doch, denke ich, in die gleiche Richtung, um diesem Land wieder auf die Beine zu helfen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Weiß.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Koalitionsfraktionen dafür gesorgt haben, dass sie die anschließende Abstimmung gewinnen werden, ({0}) möchte ich etwas Generelles feststellen. Egal welcher Antrag heute eine Mehrheit bekommt, unsere Botschaft aus dieser Kolumbiendebatte sollte sein: Kolumbien und seine Regierung unter Präsident Uribe brauchen und verdienen unsere Unterstützung, die Unterstützung der Europäischen Union und der internationalen Staatengemeinschaft ({1}) um das Land und die gesamte Region zu befrieden, um Freiheit und Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und den internationalen Terrorismus einzudämmen. Zunächst möchte ich die rot-grüne Koalition zu ihrem Antrag beglückwünschen. Denn dieser Antrag stellt in bemerkenswerter Weise eine Abkehr dar von der sehr kritischen, vor allem gegenüber Uribe kritischen Haltung, wie sie noch in der ersten Kolumbiendebatte dieser Legislaturperiode seitens der Rednerinnen und Redner der Koalition zum Ausdruck gekommen ist. Noch mehr hätte ich mir gewünscht, ({2}) lieber Kollege Mark, dass Sie unserem Antrag näher gekommen wären und wir einen gemeinsamen Antrag eingebracht hätten. Wenn ich die offiziellen Erklärungen der Bundesregierung zur Unterstützung Kolumbiens und seiner Regierung lese, habe ich den Eindruck, Frau Staatsministerin, dass der Antrag der CDU/CSU der Regierungsposition mittlerweile näher kommt als der Antrag der Koalitionsfraktionen. ({3}) Ich glaube, es gibt immer noch viel zu viele, die meinen, das, was in Lateinamerika geschieht, habe noch etwas mit lateinamerikanischer Revolutionsromantik und Guerillanostalgie zu tun. Nein, es ist nichts anderes als die brutale Vergewaltigung der Menschen in diesen Ländern, vor allen Dingen in Kolumbien, zugunsten nicht politischer, sondern rein terroristischer und wirtschaftlicher Ziele, die von der Guerilla verfolgt werden. ({4}) Wenn wir uns - zugegebenermaßen zu später Stunde im Deutschen Bundestag mit Kolumbien beschäftigen, können viele fragen: Was soll das eigentlich? Ich glaube, man muss an dem Beispiel Kolumbien noch einmal deutlich machen: Das ist längst kein innerstaatlicher Konflikt mehr. Das nimmt Gott sei Dank auch der Antrag der Koalition zur Kenntnis. Vielmehr ist eine konsequente Politik der Stabilisierung Kolumbiens gleichzeitig ein Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. ({5}) Gerade der Anschlag auf den Klub „El Nogal“ in Bogotá im Februar 2003 hat gezeigt, dass diese internationale Vernetzung des Terrorismus auch und gerade in Kolumbien Realität ist; denn dort hat die IRA das Knowhow für diesen Anschlag geliefert. Das zeigt: Das ist kein kolumbianisches, kein regionales Problem, sondern hier geht es um einen Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Das ist auch mit unsere Aufgabe. ({6}) Peter Weiß ({7}) Zweitens. Der Konflikt in Kolumbien hat regionale Auswirkungen. Es ist positiv, dass der brasilianische Präsident Lula - Lothar Mark hat es erwähnt - wie auch Peru konsequent mithelfen, die Grenzen zu kontrollieren und gegen die Guerilla abzuschotten. Es ist dagegen höchst gefährlich, dass Venezuela unter seinem neopopulistischen Präsidenten Chavez das venezolanische Grenzgebiet als Rückzugsraum für die Guerilla öffnet und damit dem Terrorismus zusätzlich Vorschub leistet. ({8}) Ich möchte unterstreichen: Wir erwarten von der kolumbianischen Regierung - sehr geehrte Frau Botschafterin, es ist schön, dass Sie heute anwesend sind -, dass sie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte achtet und dass sie die Wächterfunktion von Menschenrechtsorganisationen respektiert und nicht behindert. ({9}) Aber gleichzeitig verdient eine solche demokratische Regierung, die die breite Unterstützung der Mehrheit der Kolumbianerinnen und Kolumbianer hat, auch unsere konsequente Unterstützung bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. ({10}) Kritik am „Plan Colombia“ hin oder her - ich finde es unangemessen, ja ungeheuerlich, dass der kolumbianischen Regierung in dem Antrag von Rot-Grün vorgeworfen wird, dass sie auf eine militärische Lösung im Sinne eines „Siegfriedens“ setze. Solche Formulierungen müssen von denjenigen, die nach einer Begründung für ihre abstrusen und menschenverachtenden Terrorakte suchen, geradezu als Steilvorlage gewertet werden. Deswegen können wir dem Antrag nicht zustimmen. ({11}) Kolumbien braucht in seiner Situation mehr Unterstützung, unter anderem durch eine verstärkte statt einer reduzierten Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb finde ich es sehr verwunderlich, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in dieser Debatte durch Abwesenheit glänzt. Das möchte ich ausdrücklich kritisieren. ({12}) Kolumbien braucht Unterstützung nicht nur in Worten, wie sie heute zu hören waren oder im Antrag zu lesen sind, sondern auch in Taten, mit denen wir einen Beitrag zur Befriedung Lateinamerikas und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus leisten. Darum sollte es uns gehen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sind Sie damit einverstanden, dass wir die Rede der Abgeordneten Petra Pau zu Protokoll nehmen? - Das ist der Fall. Dann schließen wir damit die Aussprache. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/1136 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Wiederbelebung des Friedensprozesses in Kolumbien“: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/742 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 15/1559 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Neue Initiative zur Wiederbelebung des kolumbianischen Friedensprozesses international unterstützen“: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstim-men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Hilfsmittelversorgung von Pflegebedürftigen ({0}) - Drucksache 15/308 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) - Drucksache 15/1314 - Berichterstattung: Abgeordnete Petra Selg Es wird gebeten, alle Reden zu diesem Tagesord- nungspunkt - und zwar von den Abgeordneten Ober, Sehling, Selg und Bahr - zu Protokoll zu nehmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf des Bundesrates zur Sicherung der Hilfsmittelver- sorgung von Pflegebedürftigen. Der Ausschuss für Ge- sundheit und Soziale Sicherung empfiehlt auf Drucksache 15/1314, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- tere Beratung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright, Reinhard Weis ({4}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({5}), Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN Ergänzung der Fahrerlaubnisverordnung - Drucksachen 15/1093, 15/1397 - Berichterstattung: Abgeordneter Gero Storjohann b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes - Drucksache 15/1496 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Ausschuss für Tourismus Auch hier sollen, so wird gebeten, alle Reden genommen werden: der Abgeordneten Wright, Storjohann, Hofbauer, Hettlich und Friedrich sowie der Parlamentarischen Staatssekretärin Gleicke. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Tagesordnungspunkt 12 a: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1093 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 12 b: Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1496 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 5 auf: 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({7}), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetterlage in sicheres Fahrwasser leiten - Drucksache 15/1101 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Brandner, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({9}), Volker Beck ({10}), Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sicherung von Standort und Know-how des deutschen Seeschiffbaus - Drucksache 15/1575 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Auch hier sollen, so wird gebeten, alle Reden zu Protokoll genommen werden: der Abgeordneten Kahrs, Wetzel, Börnsen, Hajduk und Goldmann. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1101 und 15/1575 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1101 soll zusätzlich an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz ({12}) - Drucksache 15/1508 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({13}) Innenausschuss Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes der Bundesregierung werden Gerichtsverfahren einfacher, effizienter und flexibler gestaltet, ohne den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger zu beeinträchtigen. Das unterscheidet diesen Gesetzentwurf von dem Entwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes der CDU/CSU, ({0}) der wieder mit untauglichen und bürgerfeindlichen Mitteln wie der Erhöhung der Berufungssumme aufwartet. Hierüber haben wir ja schon vor einigen Wochen in diesem Haus das Notwendige gesagt. Lassen Sie mich die wesentlichen prozessualen Neuerungen dieses Entwurfs eines Justizmodernisierungsgesetzes kurz vorstellen. Wir greifen ein wichtiges Anliegen der Praxis mit der Reform der Unterbrechungsregelungen für die Hauptverhandlung in § 229 StPO auf. Das Gericht wird in die Lage versetzt, Verhandlungstage flexibler als bisher festzulegen. Dadurch kann es besser auf die Belange der übrigen Beteiligten eingehen. Die wichtigste Neuerung betrifft die nach jedem Hauptverhandlungstag mögliche Unterbrechung. Die bisherige Unterbrechungsfrist von zehn Tagen wird auf drei Wochen verlängert. Die Neufassung ermöglicht es dem Gericht außerdem, in umfangreicheren Verfahren jeweils nach zehn Verhandlungstagen die Verhandlung um bis zu einem Monat zu unterbrechen. Außerdem soll der Lauf der Unterbrechungsfristen nicht nur bei einer Erkrankung des Angeklagten, sondern auch bei der Erkrankung eines Richters oder eines Schöffen gehemmt werden. ({1}) Insgesamt werden diese Fristenregelungen die Gefahr deutlich verringern, dass mit der Hauptverhandlung aus rein formalen Gründen völlig neu begonnen werden muss, mit all den Belastungen, die für die Prozessbeteiligten damit einhergehen. ({2}) Entsprechend den tatsächlichen Verhältnissen in der Praxis sollen die Regelvereidigung im Strafverfahren abgeschafft und die Vereidigungsregelungen insgesamt neu und übersichtlicher gestaltet werden. Auch die Vorschriften über die Verlesung von Schriftstücken sollen verständlicher und weiter gefasst werden. So können Erklärungen allgemein vereidigter Sachverständiger sowie Protokolle und Erklärungen von Strafverfolgungsbehörden über Ermittlungshandlungen, soweit sie nicht eine Vernehmung zum Gegenstand haben, künftig verlesen werden. Mithilfe dieser Änderungen wird in vielen Fällen, vor allem in Massensachen, das Verfahren gestrafft, die Justiz entlastet; vor allen Dingen werden Kosten eingespart, auch Kosten der Angeklagten. Ein Beitrag zur weiteren effizienten Gestaltung ist die Möglichkeit, in der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter von der bislang obligatorischen Hinzuziehung eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abzusehen. Damit kann Personal dort eingesetzt werden, wo es tatsächlich nötig ist. Die Kritik, die dieser Vorschlag nicht zuletzt seitens der Richterschaft erfahren hat, teile ich nicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass es sich um keine zwingende Regelung handelt; es steht vielmehr noch immer im Ermessen des selbstbewussten Richters, ob er allein oder mit einem Protokollführer verhandelt. ({3}) Von den Änderungen in der Zivilprozessordnung ist die erhöhte Beweiskraft eines rechtskräftigen Strafurteils hervorzuheben. Dieses Urteil soll künftig für einen Zivilprozess vollen Beweis für die Feststellungen entfalten, die der Strafrichter für erwiesen hält. Damit wird dem Straftatopfer die Durchsetzung seiner Schadenersatzansprüche erheblich erleichtert. Bisher trägt das Opfer - auch nach einer strafrechtlichen Verurteilung des Täters - im späteren Zivilprozess das volle Beweisrisiko. ({4}) - Herr Kauder, ich denke, Sie müssten sich darüber freuen. - Wenn es keine anderen Beweise für die Tat gibt, dann ist das Opfer als Kläger bisher darauf angewiesen, seine eigene Vernehmung als Partei anzubieten. Das ist nur in streng begrenzten Fällen möglich. ({5}) Es kann natürlich vorkommen, dass die Feststellungen in einem Strafprozess, die in einem Zivilverfahren künftig verwertet werden dürfen, dem Zivilrichter problematisch erscheinen. Deshalb wird ihm gestattet, einen vollen Beweis zu erheben. Durch das Justizmodernisierungsgesetz wird der Richter ferner befugt, anstelle einer erneuten Vernehmung eines Zeugen auf das Protokoll der richterlichen Vernehmung in einem anderen Gerichtsverfahren zurückzugreifen. Diese Neuregelung wird nicht nur zur Entlastung der Justiz führen, sondern auch dem Straftatopfer bei der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche helfen. Auch ein Sachverständigengutachten, das in einem Parallelverfahren erstellt worden ist, kann der Zivilrichter künftig ohne die vorherige Zustimmung der Parteien als Sachverständigenbeweis und nicht nur, wie bisher, als Urkundsbeweis verwerten. Wie Sie gemerkt haben, habe ich mich - nicht nur wegen der späten Stunde - auf die Darstellung der wesentlichen prozessualen Änderungen im Justizmodernisierungsgesetz beschränken müssen. Auf die in diesem Gesetz gleichfalls angelegte strukturelle Binnenreform der Justiz durch die Übertragung richterlicher Aufgaben auf den Rechtspfleger kann ich leider nicht mehr eingehen; dieses Vorhaben wäre eine eigene Rede wert. Wir werden darauf in den Beratungen im Rechtsausschuss zurückkommen. ({6}) Meine Damen und Herren, die Justiz wird sich künftig dem Innovationsdruck in allen Bereichen unserer Gesellschaft stellen müssen. Mit diesem Gesetz setzen wir Vorschläge um, die in den Ländern bei Praktikern und Rechtspolitikern auf einen breiten Konsens stoßen. Umfassendere Reformvorhaben, bei denen es eine kontroverse Diskussion geben wird, haben wir zunächst bewusst ausgeklammert; aber auch diese Punkte bleiben auf der Agenda. Ich bitte Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns unsere Verantwortung für eine funktionierende Justiz ernst nehmen! Ich lade Sie zu konstruktiven Beratungen ein. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Justizmodernisierungsgesetz“, ({0}) was darf man sich eigentlich darunter vorstellen? Kollege Stünker und ich sind nicht immer einer Meinung, aber ich gebe ihm Recht in dem, was er am 27. Juni dieses Jahres hier vor diesem Hohen Hause gesagt hat: „Der Name ist vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll.“ ({1}) Nein, meine Kolleginnen und Kollegen, er ist nicht nur ein bisschen zu anspruchsvoll, er ist voll daneben. ({2}) Ginge es der Bundesregierung um ein modernes Gesetz, wäre sie sich bewusst, dass dieses Gesetz auf dem Prüfstand eines sozialen und gesellschaftlichen Wandels bestehen muss, und dann wäre man auch sofort auf eine offene Flanke des Strafprozesses gestoßen, die Schumann schon im Jahre 1977 in der Monographie „Handel mit der Gerechtigkeit“ abgehandelt hat. Der Deal im Strafverfahren - damals und heute ein Dorn im Auge der Rechtspolitiker, aber auch ein Dorn im Auge der interessierten Öffentlichkeit. ({3}) Das Bundesverfassungsgericht hat den Deal im Strafverfahren legitimiert. Der Bundesgerichtshof hat den Deal im Strafverfahren legitimiert. ({4}) Erlauben Sie mir, Herr Kollege Ströbele, aus dem Praktikerkommentar von Lutz Meyer-Goßner zur Strafprozessordnung die Randziffer 119 b, der Einleitung zu zitieren: Es ist aber heute allgemeine Erkenntnis, dass die Absprachepraxis, die sich praeter legem entwickelt hat, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Deswegen ist sie aber trotzdem nicht Gesetz. Es wird weiter erwähnt: Die überlastete deutsche Strafjustiz wäre ohne die Absprachepraxis oftmals auch nur schwer in der Lage, die Vielfalt von Großverfahren … zu erledigen. Das macht den Deal verdächtig. Knickt die Justiz ein, um die Überfülle von Strafverfahren in angemessener Zeit abschließen zu können? Ist das eine Einbuße an Recht? Ist das eine Einbuße an Gerechtigkeit? Wenn man diese Kommentarstelle noch einmal liest, erkennt man, was sie bedeutet: Da ist der Gesetzgeber gefordert. ({5}) Es wäre ein modernes Gesetz, wenn man sich den Herausforderungen der Rechtsfortbildung stellte, die erstmals im Jahr 1977 diskutiert wurden. ({6}) - „Warten Sie doch mal ab!“, das höre ich von Ihnen, Herr Stünker, und von der Regierungskoalition immer wieder. Manchmal warten wir fünf Jahre und noch mehr. Beim Strafvollzugsgesetz warten wir auch schon seit fünf Jahren. Es kommt ebenfalls nicht. Soll ich Ihnen noch mehr erzählen? Auf das Gesetz zum Opferschutz warten wir schon seit acht Jahren. Das Adhäsionsverfahren kommt auch nicht. Wie lange sollen wir denn jetzt noch warten? Wir müssen reagieren und dürfen nicht zuwarten. ({7}) Wenn man die Paragraphen des Justizmodernisierungsgesetzentwurfs und die Begründung anschaut, merkt man sehr schnell: Es geht nicht um Modernisierung, es geht darum, vorhandene Ressourcen effektiver einzusetzen. Das ist ein legitimes rechtspolitisches Interesse, nur muss man es dann auch sagen. Was die Regierung mit diesem Entwurf bezweckt, wird sie im Ergebnis nicht erreichen können. Ich möchte Ihnen das an wenigen Beispielen erläutern. Der Strafrichter soll in Zukunft eine Hauptverhandlung ohne Urkundsbeamten durchführen können. ({8}) Das entscheidet der Richter selbst. Zeigen Sie mir mal den Richter, der sich mehr Arbeit macht, als er muss! Zeigen Sie mir mal den Richter, der sich der Gefahr aussetzt, dass ein Verteidiger diese Situation ausnützt und einen ellenlangen Beweisantrag nicht ausformuliert Siegfried Kauder ({9}) vorlegt, sondern zu Protokoll gibt! Herr Kollege Ströbele, darüber brauchen wir zwei uns nicht zu unterhalten; Herr Stünker, ich glaube, wir auch nicht. ({10}) Das wird nicht funktionieren. Ein weiterer Aspekt. Schriftliche Gutachten aus anderen Verfahren sollen im Zivilprozess verwendet werden können. Ich frage mich: Was meint der Gesetzgeber mit „anderen Verfahren“? Doch wohl auch den Strafprozess. Jetzt wissen wir aber, dass im Strafprozess ganz andere Beweisgrundsätze gelten als im Zivilprozess. Im Strafprozess gilt der Grundsatz: im Zweifel für den Angeklagten. Im Zivilprozess haben wir Beweis- und Beweislastregeln. ({11}) Nehmen Sie einmal ein Sachverständigengutachten über einen Verkehrsunfall aus dem Strafverfahren in ein Zivilverfahren! Das funktioniert hinten und vorne nicht! Das heißt also, es ist nur heiße Luft, eine gesetzliche Vorschrift, die nicht greifen wird. Nicht anders sieht es mit der im Entwurf vorgesehenen Bindungswirkung von Tatsachenfeststellungen im Strafverfahren auch für das Zivilverfahren aus. Diese ist im Entwurf zwar bewusst eingeschränkt: Stellt der Richter im Urteil fest, dass eine Tatsache als erwiesen zu gelten hat, bindet das auch den Zivilrichter. Sie verlagern damit aber dennoch den Zivilprozess in den Strafprozess. Ob ein Richter eine Tatsache als bindend festgestellt hat, ergibt sich nicht aus der mündlichen Urteilsbegründung, sondern erst aus der nachfolgenden schriftlichen Urteilsbegründung, die nach Ablauf der Rechtsmittelfrist erfolgt. Das bedeutet also, es wird fast keine Urteile mehr mit abgekürzten Urteilsgründen geben. Sie machen damit den Strafrichtern nicht weniger, sondern mehr Arbeit, weil jeder verantwortungsvolle Verteidiger dem Verurteilten anraten muss, gegen das Urteil vorsorglich einmal Berufung einzulegen, weil er sonst Rechtsnachteile im Zivilverfahren befürchten muss. Auch das greift also nicht. Um aber ein Gesetz unter den Gesichtspunkten von Beschleunigung und Effektivitätssteigerung von Strafverfahren zu verbessern, finden sich genügend Anhaltspunkte, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf noch nicht einmal angedacht haben. Warum um Gottes willen gibt es im Falle einer Wirtshausschlägerei die Möglichkeit, über drei Instanzen zu gehen, während es bei Mordverfahren nur eine gibt? ({12}) - Das weiß jeder Jurist, dass wir drei Instanzen haben: erste Instanz, Berufung und Revision. Schließlich gibt es noch die Zurückverweisung nach gewonnener Revision. ({13}) Sie wissen es, Herr Kollege. Ansonsten schauen Sie doch noch einmal im Gesetz nach. Warum schaffen wir es nicht, endlich ein Wahlrechtsmittel wie im Jugendstrafrecht einzuführen, gemäß dem man nach der ersten Instanz entscheiden kann, ob man in Berufung oder in Revision geht? Damit wäre dann Schluss. Das bedeutete keine Einschränkung der Rechtsweggarantie. Warum schaffen wir nicht dieses unsägliche Rechtsinstitut des Privatklageverfahrens ab? Einem betroffenen Bürger, der eine Privatklage einreicht, wird ja nicht zu seinem Recht verholfen, sondern er läuft in eine Sackgasse; denn das Verfahren wird nach langer Zeit eingestellt und verursacht ihm nur Kosten. Warum erweitern wir das Strafbefehlsverfahren nicht auf eine zweijährige Bewährungsstrafe? Der Einwand, dass es eine Bewährungsstrafe von ein bis zwei Jahren nur unter besonderen Voraussetzungen gibt, greift nicht. Auch das kann man aus den Ermittlungsakten ersehen. Nicht befasst haben Sie sich mit dem Adhäsionsverfahren. Es wäre viel sinnvoller, anstelle der Bindungswirkung von Tatsachen dieses Verfahren im Strafverfahren besser zu verankern. Mit dem Adhäsionsverfahren kann das Opfer einer Straftat auf einfachem Weg seine zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche reguliert bekommen. Ich weiß, dass im Justizministerium ein Entwurf zu einem Opferrechtsreformgesetz herumgeistert, ({14}) das sich durch eine besondere Hypotrophie von Rechtsmitteln auszeichnet. Da ist hinten und vorne nichts praktikabel. Ich würde bitten, darüber noch einmal nachzudenken. ({15}) Eine ganz einfache Möglichkeit, den Strafprozess zu straffen, wäre folgende: Lassen wir doch wie im Zivilprozess das Zugestehen von Tatsachen auch im Strafprozess zu. Das Zugestehen von Tatsachen ist derzeit nicht möglich, weil eine Teileinlassung so gewürdigt werden kann, dass sich das übrige Schweigen des Angeklagten nachteilig auswirkt. In Kriegswaffenkontrollverfahren führt das zum Beispiel dazu, dass wir ellenlange Ladelisten und Bilanzen verlesen müssen, weil der Angeklagte nicht unbeschadet zugestehen kann, dass er Kriegswaffen ins Ausland transportiert habe. Mit solchen Mitteln könnten Strafprozesse effektiver durchgeführt werden. Wir Strafrechtler kennen die Vorschrift des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Strafprozessordnung. Jetzt fragen Sie einmal die Strafrechtler unter uns, wie oft sie ein Selbstleseverfahren erlebt haben. Dass es so selten angewandt wird, liegt daran, dass nach den bisherigen gesetzlichen Regelungen ein Selbstleseverfahren erst in der Hauptverhandlung und nicht schon in der Siegfried Kauder ({16}) Vorbereitung der Hauptverhandlung möglich ist. Warum lassen wir nicht zu, dass die Schöffen schon in Vorbereitung der Hauptverhandlung die Anklageschrift bekommen? Das ist derzeit nicht möglich. Eine einfache Änderung der Nr. 126 RiStBV würde das schon bewerkstelligen können. Meine Damen und Herren, man könnte den Katalog der Beschleunigungsmöglichkeiten noch um ellenlange Aufzählungen erweitern. Das will ich Ihnen aber zu dieser späten Stunde nicht antun. Eines überrascht und beeindruckt mich zugleich: Der Seite der Koalitionsfraktionen, die mir, wenn ich im Parlament Vorschläge unterbreite, immer entgegenhält, dass damit Verteidigungsrechte eingeschränkt würden, danke ich, dass dieser Einwand heute Abend nicht gekommen ist. All meine Lösungsansätze erhalten die Verteidigungsmöglichkeiten aufrecht. Nur ein Vorschlag aus dem Justizmodernisierungsgesetz schränkt Verteidigungsrechte ein, nämlich die Lockerung der Möglichkeiten der Vereidigung. Jeder Verteidiger weiß, dass die Vereidigungsmöglichkeiten ein Einfallstor für Revisionsgründe sind und das Gericht dem Druck aussetzen, sich zu bekennen, ob es einem Zeugen glaubt oder nicht. Das heißt, die Verteidigung muss sich andere Felder suchen, um Möglichkeiten für Revisionen zu eröffnen. Auch da nur Steine statt Brot. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition und Frau Ministerin - der ich das auszurichten bitte -, ich ersuche Sie dringend, sich Gedanken darüber zu machen, ob meine Lösungsansätze nicht zu einer deutlichen Beschleunigung des Strafverfahrens führen würden. Wenn dies nicht geschieht, kann ich Ihnen leider keine recht gute Nacht wünschen, sondern kann nur sagen: Gute Nacht, Recht! ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Abend, Herr Präsident! Guten Abend, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, Sie haben auf der Diskussion zu dieser späten Stunde bestanden. Deshalb habe ich mir eigentlich viel mehr davon erwartet. ({0}) Ich dachte, Sie machen jetzt zu dem vorliegenden Gesetzentwurf gravierende Einwendungen, die es ja tatsächlich gibt und über die wir in den Ausschüssen sicher noch diskutieren werden. Ich kann Ihnen versichern: Der Deal im Strafverfahren liegt uns allen am Herzen. Ich hatte in meiner 30-jährigen Praxis als Strafverteidiger sehr viel damit zu tun. Aber wenn Sie das gesetzlich regeln wollen, treffen Sie auf ungeheuer viele Schwierigkeiten. Deshalb stellt sich hier die Frage: Beschränken wir uns nicht lieber auf allgemeine Hinweise auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der eine ganze Reihe von grundsätzlichen Erwägungen angestellt hat? Diese können Sie nicht alle im Gesetz verankern. ({1}) Dann wären wir dabei. Ich kann Sie trösten: Sie brauchen nicht mehr lange zu warten, dann haben Sie einen Vorschlag dazu auf dem Tisch, an dem Sie sich abarbeiten können. ({2}) Ich meine, dass das Justizmodernisierungsgesetz eine ganze Reihe von echten Verbesserungen bringt. Ein Punkt, über den wir alle hier nicht diskutiert haben - auch der Kollege Hartenbach hat ihn nur angedeutet -, ist, dass sich die Richter, vor allen Dingen die Zivilrichter am Amtsgericht, auf den eigentlichen Kern der Rechtsprechung konzentrieren können, indem viele Aufgaben, ({3}) für die heute ein Richter zuständig ist, auf den Rechtspfleger übertragen werden, so etwa in Nachlassangelegenheiten, aber auch in Handelssachen. Das ist ein wichtiger Fortschritt. Wichtig ist auch - damit komme ich zum Strafverteidiger -, dass eine Möglichkeit geschaffen wird, gegen die ich früher war, nämlich dass nach Durchsuchungen in Zukunft auch Polizeibeamte Schriftstücke und Datenträger durchsehen dürfen. Denn wir haben sehr häufig festgestellt, dass weder der Verteidiger, der vielleicht anwesend ist, noch der Staatsanwalt über das technische Wissen und die Kompetenz verfügen, um an diese Daten heranzukommen, weshalb sie oft wochen-, monate- oder manchmal sogar jahrelang nicht geprüft werden. Die Kompetenz haben in der Regel die Polizeibeamten, die der Staatsanwalt dann aufsuchen muss. Im Allgemeinen gehen sie die Daten dann doch gemeinsam durch. Es wäre ehrlicher, wenn das in Zukunft direkt durch den Polizeibeamten, den Fachmann, erfolgen könnte, der mit einem solchen Datenträger umgehen kann. Das bringt eine Erleichterung. Es bringt ebenfalls eine Erleichterung, wenn Sie dem Richter in Zukunft die Möglichkeit eröffnen - ich weiß nicht, warum Sie das kritisieren -, eine Hauptverhandlung auch ohne Protokollführer durchzuführen, wenn dieser nicht greifbar ist. Er könnte dann die wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung notieren und sie anschließend ins Reine schreiben. Wenn Sie das für den falschen Weg halten, bitte ich Sie, das dem Justizminister Ihres Landes, Baden-Württemberg ({4}) - Entschuldigung -, vorzutragen und zu erklären, warum Sie das nicht mittragen. Das wäre eine echte Erleichterung und würde in vielen Fällen dazu führen, dass einfache Hauptverhandlungen auch dann durchgeführt werden könnten, wenn Mangel an Personal herrscht oder jemand plötzlich krank geworden ist. ({5}) Sie können sich dabei auch technischer Mittel bedienen. Es ist jetzt vorgesehen - ich glaube nicht, dass das so schnell greift, weil die Justiz erst noch die Geräte anschaffen muss -, dass der Richter in Zukunft auf einen Knopf drücken und spontan etwas mitschneiden und hinterher schnell abdiktieren kann, wie auch Sie das in Ihrer Praxis wahrscheinlich machen. Dann hat er eine verlässliche Grundlage für die Anfertigung des Protokolls. Es gibt eine sehr pfiffige Weiterung im Zivilprozess. Es soll in Zukunft möglich sein, dass der Richter von dem Unmittelbarkeitsgrundsatz absieht. Wenn er einen Zeugen fragen will, ob er überhaupt etwas gesehen habe, oder er von einem Sachverständigen wissen will, was dessen Gutachten ergeben habe oder was sich ändere, wenn diese oder jene Variante eintrete, dann kann er einfach anrufen oder sich mit ihm per E-Mail in Verbindung setzen und während der Hauptverhandlung diese Frage klären. Dadurch wird eine Verzögerung vermieden. Ich gestehe Ihnen zu, dass dazu natürlich die Justiz mit den entsprechenden Apparaten ausgerüstet werden muss. Es darf einfach nicht so lange dauern wie etwa hier in Berlin, wo wir zehn Jahre darauf gewartet haben, dass ein zweites Faxgerät für die gesamte Justiz angeschafft wird. ({6}) Das muss relativ zügig geschehen. Als jemand, der viel in Großverfahren verteidigt hat, weise ich auf einen dritten und letzten ganz wichtigen Punkt hin. Es ist und war schon lange an der Zeit, die Möglichkeiten der Unterbrechung der Hauptverhandlung in Großverfahren endlich auszudehnen. Es ist ein Unwesen, was Sie heute noch jede Woche hier in Moabit am Gericht erleben können: Es finden so genannte Schiebetermine statt, zu denen die Prozessbeteiligten sich treffen und für eine Viertelstunde oder für zehn Minuten ungeheuer hohe Kosten verursachen - nur weil sie keine längere Unterbrechung durchführen können. Dadurch sind die Kosten vieler Prozesse erheblich aufgebläht worden. Das beenden wir jetzt, indem wir den Gerichten sehr viel flexiblere Handlungsmöglichkeiten schaffen, länger zu unterbrechen oder zu vertagen, zum Beispiel wenn ein Angeklagter, ein Staatsanwalt, ein Richter oder ein Verteidiger krank geworden ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Denken Sie bitte an die Zeit.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Punkt, Herr Präsident. In einem Punkt gebe ich Ihnen allerdings Recht: Die Frage der Übertragung von Urteilen aus Strafverfahren in Zivilverfahren ist ein echtes Problem. Darüber müssen wir uns auseinander setzen. Eine Reihe von problematischen Punkten dazu haben Sie genannt. Trotzdem ist das Justizmodernisierungsgesetz ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, die Justiz effektiver zu gestalten. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke von der FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hartenbach, richten Sie bitte den Wortschöpfern in Ihrem Justizministerium unsere besten Grüße aus. Denn was wir in letzter Zeit im Bereich der Justizreform, der Justizbeschleunigung, der Justizentlastung und der Justizanpassung erlebt haben, ist ganz fantastisch, aber mehr Schein als Sein. ({0}) Dasselbe gilt natürlich auch für die letzte Justizreform, die hier noch im letzten Jahr von den damaligen Koalitionsfraktionen, die auch die heutigen sind, durchgepeitscht wurde. Ich glaube, wir wären gut beraten, ehe wir mit dem Justizmodernisierungsgesetz ein neues Reformwerk anpacken, erst einmal zu evaluieren, was aus den alten, vor einem Jahr beschlossenen Justizreformen eigentlich geworden ist und ob das alles Sinn gemacht hat. ({1}) Zum Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung hat sich die FDP bereits mehrfach geäußert. Es war sicherlich zu begrüßen, dass Bundesregierung und Bundesländer zunächst einen Konsens gefunden haben. Wir verkennen auch nicht, dass der Gesetzentwurf einige sinnvolle Regelungen enthält. Sie, Herr Staatssekretär, haben zu Recht auf die Verlängerung der Zehntagefrist aufmerksam gemacht. Sie ist sicherlich sinnvoll. An anderer Stelle sind die Reformen von rein fiskalischen Überlegungen geprägt. Dies darf aber nicht der Schwerpunkt der Reformüberlegungen sein. Die Reformen im Bereich der Justiz können eigentlich nur dann Sinn machen, wenn sie geeignet sind, die Justiz stark, bürgernah und leistungsfähig zu machen. ({2}) Wenn darüber hinaus Kosteneinsparungseffekte erzielt werden können, dann begrüßen wir das. Das kann aber nicht der einzige Zweck sein. Lassen Sie mich einen besonders kritischen Punkt ansprechen. Die geplante Tatsachenbindung der Zivilrichter an die Ergebnisse der Strafgerichte begegnet unseren großen Bedenken - offensichtlich auch den Bedenken der Grünen, das begrüßen wir sehr. Diese Forderung, die die Bundesregierung erhebt, verkennt, dass die Beweisziele im Zivil- und Strafprozess völlig unterschiedlich sind. Während im Strafprozess der Untersuchungsgrundsatz sowie der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt, herrschen im Zivilprozess der Dispositions- und der Verhandlungsgrundsatz. Da im Strafverfahren künftig in der Beweiserhebung zusätzlich sämtliche zivilrechtlichen Fragestellungen berücksichtigt werden müssten, kann das Ziel der Justizentlastung in keinem Fall erreicht werden. ({3}) Auch das Argument einer Verbesserung des Opferschutzes ist eigentlich nur vorgeschoben. Bereits heute kann das Opfer seine Entschädigungsansprüche im Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO geltend machen. ({4}) - Herr Stünker, es ist ja gerade das Problem, dass die Strafrichter kein Zivilrecht anwenden können oder wollen. ({5}) - Das ist sehr unterschiedlich. Wenn sie zeit ihres Lebens nur mit Strafrecht befasst waren, möchte ich diesen Richtern auch nicht zumuten - im Übrigen auch den Prozessbeteiligten nicht -, ein Urteil im zivilrechtlichen Sinne zu fällen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Funke, kommen Sie bitte zum Schluss.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich komme sofort zum Schluss. Wir teilen die Auffassung der Grünen, dass wir im Rechtsausschuss in diesem Punkt nachbessern müssen. Ich glaube, das wird uns gemeinsam auch gelingen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Funke, in einer Einschätzung, die Sie hier abgegeben haben, kann ich Sie nur ausdrücklich unterstützen: Justizpolitik und Rechtspolitik können nur funktionieren, wenn sie Rechtspolitik im wahren Sinne des Wortes ist und nicht Fiskalpolitik. ({0}) Da haben Sie völlig Recht; an der Stelle stimmen wir Ihnen ohne weiteres zu. Nur, ich muss Ihnen offen sagen: Ich hatte den Eindruck, dass Sie an der Stelle nicht über das Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung reden, sondern über das Justizbeschleunigungsgesetz der CDU/CSU, das an dieser Stelle schon mehrfach eine Rolle gespielt hat. ({1}) Wir sind - das ist auch der Ausgangspunkt für unsere Überlegungen - zumindest in der ersten Lesung und, so denke ich, auch in den Beratungen, die folgen werden, auf dem gleichen Weg wie die Bundesregierung. Die Justizreform - so sie denn im geplanten Umfang stattfindet - entspricht genau den Vorgaben, die wir als Juristen für eine Justizpolitik definieren. Diese Vorgaben sind zum einen eine Stärkung der Justiz, zum anderen aber auch eine Stärkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger bei der Verfolgung ihrer Rechte vor den Gerichten. Das sage ich an dieser Stelle auch ausdrücklich vor dem Hintergrund, dass wir beschleunigen wollen, dass Beschleunigung aber gerade nicht auf dem Rücken derjenigen ausgetragen werden soll, die Recht suchen. Sie sollen ihr Recht weiterhin bekommen. Wir wollen versuchen, die Reform so zu gestalten und so zu formulieren, dass dies schneller, dass dies effektiver, aber weiterhin unter Bewahrung rechtsstaatlicher Grundsätze geschieht. Deshalb begrüßen wir den vorgelegten Entwurf. ({2}) Wir haben über die Frage der Verwertung von vorausgegangenen strafrechtlichen Urteilen und Vernehmungen in einem Zivilprozess diskutiert und werden darüber auch in Zukunft kritisch diskutieren. Ich glaube, da sind wir - möglicherweise über die Fraktionen hinweg - unterschiedlicher Auffassung. Ich habe gerade sehr wohl vernommen, was Sie gesagt haben, und glaube auch, dass an Ihrer Kritik das eine oder andere berechtigt ist. Nur, an einer Stelle muss man aus meiner Sicht auch einmal innehalten und hinterfragen, gerade wenn man in der Praxis ist - ich bin noch nicht so lange aus der Praxis; im Gegenteil, ich mache das, so gut es geht, noch etwas weiter -: Gerade bei den viel zitierten Verkehrsunfällen findet relativ zeitnah zu dem Unfallereignis die Vernehmung des Zeugen im Bußgeld- oder Strafverfahren statt. Diese wird protokolliert. Dann dauert es - das sind unsere Erfahrungswerte - bis zur ersten Beweisaufnahme im Zivilprozess ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch länger. Derselbe Zeuge wird wieder vernommen und er sagt - auch wegen der möglicherweise unterschiedlichen Beweisgrundsätze - etwas völlig anderes als in seiner Vernehmung vor der Polizei, vor der Ordnungsbehörde oder vor dem Strafgericht. Jetzt wird ihm in der mündlichen Verhandlung vor dem Zivilgericht das, was er damals gesagt hat, vorgehalten. Dann sagt er: Jawohl, wenn ich mich richtig erinnere, war meine erste Aussage unmittelbar nach dem Ereignis wohl richtig. Ich bitte, das zu bedenken, wenn man in Bausch und Bogen über unterschiedliche Ansätze bei der Beweisermittlung und bei der Ermittlung der Wahrheit in diesem Verfahren spricht. Wir werden über diese Probleme reden; aber ich halte diese Regelung nicht für völlig abwegig. Einen weiteren Punkt will ich nur in aller Kürze ansprechen. Ich wundere mich an dieser Stelle, dass das, was die Opposition immer gefordert hat und was wir jetzt vorsehen, von ihr nicht positiv dargestellt worden ist: Die Unterbrechungsdauer im Strafverfahren aufgrund der vielen Schiebetermine, die wir immer beklagt haben, wird nun endlich rechtsstaatlich vernünftig unter den Aspekten des § 229 StPO geregelt. Das betrifft nicht nur den Gang der Justiz. Damit wird vielmehr auch auf das Unverständnis der Beteiligten eingegangen, die staunend davor stehen, wie an dieser Stelle in vielen Fällen in der Strafjustiz verfahren wird. Zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung trägt außerdem - auch das ist ein sehr wichtiger Punkt, der in diesem Gesetzentwurf angegangen wird - die Möglichkeit des Gerichts bei, in begründeten Einzelfällen - darauf lege ich Wert - mit Einverständnis der Parteien vom Strengbeweis und Unmittelbarkeitsprinzip abzusehen und die neuen modernen Kommunikationsmittel zu nutzen. Das verschafft dem Richter die nötige Flexibilität im Verfahren und erspart den Parteien und den Zeugen Kosten, Zeit und Unannehmlichkeiten. Auch hierin sehen wir einen positiven Ansatz, der sich jedenfalls aus unserer Sicht durchaus mit dem Begriff „modern“ umschreiben lässt. Ich will einen Bereich ansprechen, der heute noch keine Rolle gespielt hat - vielleicht deswegen, weil es sich hierbei nur um Ordnungswidrigkeiten handelt -, wobei er in der Praxis eine ganz evidente Bedeutung hat, weil gerade Ordnungswidrigkeitenverfahren mit bestimmten Verzögerungstaktiken gegen das Rechtsbewusstsein der Betroffenen verstoßen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Verfahrenstricks, die auch ich kenne und die ich angewendet habe - ich bekenne mich ausdrücklich dazu -, um beispielsweise die Tilgung alter Verstöße zu erreichen. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird versucht, eine Neufassung des § 25 StVG zu formulieren. Es wird auf diese Weise solchen Verfahrenstricks mit guten Methoden und Mitteln entgegengetreten. Hiernach gilt grundsätzlich die Tatzeit als objektives Anknüpfungsmerkmal und nicht das mehr oder weniger zufällige Datum der letzten tatrichterlichen Entscheidung. Wenn aber in Zukunft die Tatzeit und nicht das Urteil oder der Strafbefehl entscheidet, wird die Justiz - so empfinden wir das - von einer ganzen Reihe von am Rande des Rechtsmissbrauchs geführten Rechtsbehelfen befreit werden. Auch das entlastet die Justiz und begünstigt den rechtstreuen Bürger. Meine Damen und Herren, wir wollen über diesen Gesetzentwurf kritisch diskutieren. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. Wir sagen auch: Verfahrensbeschleunigungen an sich sind nichts Negatives. An dieser Stelle möchten wir uns aber deutlich von dem abgrenzen, was die Opposition in den letzten Wochen und Monaten zum so genannten Justizbeschleunigungsgesetz vorgelegt hat. ({3}) - Die größere Oppositionspartei. Zum Abschluss will ich feststellen: Es hat einmal in Nordrhein-Westfalen den Versuch gegeben - das weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung -, das Justizressort zu entmachten und einem anderen Ressort zuzuschlagen. ({4}) Das ist glücklicherweise - so sage ich einmal - von der Verfassungsgerichtsbarkeit gekippt worden. Wir allerdings wollen - das unterscheidet uns deutlich von der CDU/CSU -, dass die Justiz- und Rechtspolitik als eigenständiger politischer Faktor erhalten bleibt und keine Unterabteilung des Finanzministeriums wird. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 15/1508 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine schnelle rechtsstaatliche Information betroffener Rentner über die fehlerhafte maschinelle Vergleichsrentenberechnung der BfA nach § 307 b SGB VI - Drucksache 15/839 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Haupt, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine gerechte Versorgungsregelung für das ehemalige mittlere medizinische Personal in den neuen Ländern - Drucksache 15/842 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Klaus Haupt von der FDP-Fraktion. ({4})

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beide heute vorliegenden Anträge haben eine Gemeinsamkeit: Sie betreffen Anliegen älterer Menschen in den neuen Bundesländern. Ihre Themen werden dort mit großer Sensibilität und Interesse verfolgt. Im Rentenrecht der DDR gab es die Besonderheit, die Mitglieder des mittleren medizinischen Personals - also Krankenschwestern, Hebammen, Physiotherapeuten, Fürsorgerinnen und andere Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialwesens - durch die Aussicht auf eine höhere Rente im Beruf zu halten. Die Arbeit selbst wurde nicht gut bezahlt. Dazu kamen Belastungen durch Schichtdienst, Nacht- und Wochenendeinsätze. Per Gesetz wurde diesen Beschäftigten daher ein Rentenanspruch mit dem Steigerungsfaktor von 1,5 Punkten bei der Berechnung berücksichtigt. So wurde es auch nach 1990 gehandhabt; bis 1996 gab es Bestandsschutz. Aber für alle, die ab 1. Januar 1997 ins Rentenalter eintraten, sollte diese Regelung - in der Erwartung, dass die Einkommensverhältnisse in den neuen Ländern bis dahin das Westniveau erreicht haben - nicht mehr gelten. Dies ist jedoch bis heute nicht der Fall. Rund 340 000 Menschen sind von dieser Rentenkürzung betroffen. Der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion fordert ein faires Rentenrecht auch für die, die ab 1997 in Rente gegangen sind. Ihre derzeitige Schlechterstellung ist inakzeptabel, da der Steigerungsbetrag zu den erworbenen Rentenansprüchen gehört und dem Eigentumsschutz unterliegt. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass durch gesetzgeberische Eingriffe in Rentenanwartschaften diese durchschnittlich um nicht mehr als 10 Prozent gemindert werden dürfen. Dieses Postulat wird für Bedienstete des mittleren medizinischen Personals der DDR, die ab dem 1. Januar 1997 in das Rentenalter eintraten, verletzt. Hier geht es um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann es nicht einfach nach Kassenlage geben. Rechtmäßig erworbene, erarbeitete Ansprüche müssen auch erfüllt werden. Es geht nicht darum, unseren Antrag unbedingt eins zu eins umzusetzen. Es geht hier auch nicht um Parteipolitik. Es geht um eine Anschlusslösung für die Betroffenen - egal welcher Art -, die wir gemeinsam schaffen sollten. ({0}) Das andere Problem sind die Anwartschaften von Rentnern aus den neuen Bundesländern, die einen Anspruch auf eine Zusatz- und Sonderversorgung als Lehrer mit Hochschulabschluss, als Ärzte bzw. Wissenschaftler der ehemaligen DDR hatten. Diese mussten im Jahre 2001 neu berechnet werden, was die BfA auch tat. Nur: Die Behörde nahm nicht - wie vorgeschrieben - die tatsächlichen Verdienste als Grundlage, sondern gekürzte Verdienste, weil sie nur auf die Daten der Rentenversicherung, nicht jedoch auf die Daten der Zusatzversicherung zurückgriff. Angesichts des hohen Alters der betroffenen 250 000 Rentner in den neuen Ländern war es unser gemeinsames Anliegen als Gesetzgeber, durch ein schnelles, maschinelles Berechnungsverfahren eine zeitnahe Neuberechnung zu erreichen. Die maschinelle Berechnung sollte die Verfahrensdauer abkürzen; jedoch nicht, um die Renten der Betroffenen zu kürzen. Eine systematische Fehlberechnung hat der Gesetzgeber nicht gewollt. Schnell, aber nicht falsch war unser gemeinsames Ziel. Wir sind uns einig: Die fehlerhaften Berechnungen der BfA sind eine Zumutung für die hochbetagten Betroffenen, die nach langer Wartezeit fehlerhafte Bescheide erhalten, deren Fehler sie aber nicht erkennen können, weil sie nicht darauf hingewiesen werden. Das schädigt aus unserer Sicht das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. Eine komplette neue Einzelfalldurchführung scheint uns allerdings nicht im Interesse der Betroffenen zu sein, da dies zu unnötigen Zeitverzögerungen führt. Deshalb fordern wir in unserem Antrag erstens, dass in Zukunft eine maschinelle Berechnung nur zulässig ist, wenn die Betroffenen über die mögliche Fehlerhaftigkeit umfassend belehrt werden. Zweitens fordern wir, dass diese Information natürlich auch an die Rentner gegeben wird, die seit 2001 möglicherweise fehlerhafte Bescheide erhalten haben. Ich meine, dass alle hier im Hause vertretenen Fraktionen dieser Forderung zustimmen können, und bitte Sie alle deshalb herzlich, dieses berechtigte Anliegen der Betroffenen ohne Vorbehalt sachlich zu prüfen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht in den beiden Anträgen nicht um Parteipolitik - ich wiederhole mich -, es geht auch nicht darum, irgendwelche Privilegien für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu erzielen, sondern darum, dass rechtmäßig erworbene Ansprüche erfüllt werden. Es geht zum einen um Gerechtigkeit und um rechtstaatliche Verfahren zum anderen. Deshalb bitte ich um Unterstützung, damit das Vertrauen in den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bei den Menschen in den neuen Bundesländern keinen Schaden nimmt. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der SPD-Fraktion.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Haupt, bei den Anliegen der FDP machen wir eine ganz neue Erfahrung. Normalerweise setzen Sie sich stärker für die Besserverdienenden ein, ({0}) bei diesem Antrag liegen Ihnen die Menschen mit geringerem Einkommen am Herzen. Ich will festhalten, dass wir diesen Antrag vor einem Jahr im Parlament schon einmal beraten haben. Auf der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung allerdings waren die Änderungsanträge der FDP ein Beleg dafür, dass sie doch eher die Interessen der Pharmaindustrie, der Zahnärzte und der Kassenärztlichen Vereinigungen vertritt. Ihr wortgleicher Antrag wurde am 12. Juni im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung beraten und am Ende abgelehnt. Die CDU/CSU hatte sich der Stimme enthalten. Die Argumente sind im Grunde genommen ausgetauscht. Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass man den Menschen hinsichtlich ihrer Anliegen, die verständlich sind, Hoffnung macht. Denn ich sehe keinen Weg, wie wir sie erfüllen können. ({1}) Auch Ihr zweiter Antrag über die Vergleichsrentenberechnung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte verunsichert höchstens. Der Antwort auf Ihre Kleine Anfrage vom 13. März dieses Jahres konnten Sie entnehmen, dass das, was getan werden muss, getan wird. Trotz allem fordern Sie, dass die Rentnerinnen und Rentner, die in der ehemaligen DDR Zusatz- oder Sonderversorgte waren und deren Rentenbeginn vor dem 1. Januar 1992 lag, über etwaige Ungenauigkeiten bei ihren Vergleichsrenten informiert werden. Es muss Ihnen doch bekannt sein, dass bisher nur wenige Bescheide berichtigt werden mussten und dass die BfA, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, mit Informationsveranstaltungen und mithilfe der Medien dafür gesorgt hat, dass die infrage kommenden Menschen informiert wurden und sich in der Zwischenzeit an die BfA zwecks Überprüfung wenden konnten. Als der Bundestag die Neufassung von § 307 b des Sozialgesetzbuches VI beschlossen hat, wurde damit ausdrücklich legitimiert, maschinelle Bescheide zu verschicken. ({2}) Man hat den Weg der maschinellen Bescheiderteilung auch deshalb gewählt - darin bestand Einigkeit -, um den bereits älteren Rentnerinnen und Rentnern möglichst zeitnah Verbesserungen bei der Vergleichsberechnung zukommen zu lassen. ({3}) Es war allen klar, dass hierbei nicht immer die tatsächlichen Verdienste berücksichtigt wurden, zumal die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erst seit Herbst 1997 über diese Daten verfügt. Ich denke, Ihr Antrag verunsichert nur. Aber auch mit dem Antrag, dem mittleren medizinischen Personal - damit ist vor allen Dingen das Pflegepersonal gemeint - in der Rente den besonderen Steigerungssatz zuzugestehen, weckt Hoffnungen und schürt neue Unsicherheiten bei Rentnerinnen und Rentnern in Ost und auch in West. Mir ist nicht ganz klar, warum wir das nach einem Jahr wieder debattieren müssen. Ein gleich lautender Antrag wurde vor einem Jahr abgelehnt. Die Grundlagen haben sich seitdem nicht verändert. Eine der Grundlagen ist das Renten-Überleitungsgesetz, das unter CDU/CSU und FDP beschlossen wurde. Es basiert auf derselben Grundlage wie das Sozialgesetzbuch VI: Für die Rentenberechnung sind die Arbeitseinkünfte maßgebend, für die Beiträge gezahlt worden sind. Nun fordern Sie, von fiktiven zusätzlichen Arbeitsentgelten auszugehen und damit den besonderen Steigerungssatz des 1,5fachen des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes zu übernehmen. Ich denke, das lässt sich mit dem Äquivalenzprinzip nicht vereinbaren, obwohl natürlich klar ist, warum es für Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal in der ehemaligen DDR diesen besonderen Steigerungssatz für die Rente gegeben hat: Sie wurden schlecht bezahlt, hatten hohe Belastungen und konnten sich die Beiträge zur freiwilligen Zusatzversicherung meistens nicht leisten. Ich denke aber, dass es auch im Westen niedrig entlohnte Dienste im Bereich der Pflege gibt. Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass das alles in Ordnung ist. Ich meine, wir tun uns allen keinen guten Dienst damit, dass wir diese Diskussion erneut beginnen und Hoffnungen wecken, die nachher nicht erfüllt werden können. ({4}) Lieber Herr Haupt, wir können doch nicht nur mit einer Personengruppe beginnen. Sie wissen ganz genau, dass es im Bereich der Zusatzversorgungsrente noch ganz andere Personengruppen gegeben hat. Wir würden also mit der einen Gruppe beginnen und Sie kämen dann mit der nächsten Gruppe und dem nächsten Antrag. Ich denke, Ihr Verhalten ist an dieser Stelle - gelinde gesagt - doch recht populistisch. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von der CDU/CSU-Fraktion.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen begehen wir zum 13. Mal den Tag der Deutschen Einheit. Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, die Rentenansprüche aller Menschen aus dem Beitrittsgebiet in das bundesdeutsche Recht zu überführen - eine Aufgabe nie gekannten Ausmaßes. Die Kompliziertheit dieser Problematik ist heute schon angerissen worden. Mit dem Renten-Überleitungsgesetz war dieser Prozess 1992 zunächst abgeschlossen. Die Rentner in den neuen Bundesländern, insbesondere auch die Frauen, haben vornehmlich aufgrund der vielen Arbeitsjahre eine Aufwertung erhalten. Sie verstehen sich bis heute mehrheitlich als die Gewinner der deutschen Einheit. Das haben sie auch verdient. Bestimmte Berufsgruppen fühlen sich aber benachteiligt bzw. sind es objektiv bis heute noch. Opfer des SED-Unrechts beklagen zum Beispiel, dass sie weniger Rente erhalten als die Mitarbeiter des Staatsapparates. Gerade diesen Aspekt dürfen wir bei dieser Diskussion nicht aus den Augen verlieren. ({0}) Gerichtliche Entscheidungen haben den Gesetzgeber immer wieder gezwungen, nachzubessern. So entstanden neue Ungereimtheiten. Das ist eine Tatsache, die uns auch heute wieder beschäftigt. Vielleicht ist eine abschließende hundertprozentige Regelung überhaupt nicht möglich. Wir müssen uns aber immer wieder darum bemühen. Wir Abgeordnete sind verpflichtet, diese Fragen weiter zu begleiten. Der vorliegende Antrag „Für eine schnelle rechtsstaatliche Information betroffener Rentner über die fehlerhafte maschinelle Vergleichsrentenberechnung der BfA nach § 307 b SGB VI“ ist deshalb berechtigt. Zum Hintergrund: Am 28. April 1999 hat das Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen zu der Überleitung der DDR-Rentenansprüche, speziell zur Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der DDR in bundesdeutsches Recht, Stellung genommen. Zwei Verfassungsbeschwerden befassten sich mit der Neuberechnung von Bestandsrenten, also von Renten sonder- und zusatzversorgter Personen, die schon am 31. Dezember 1991 Rente erhalten haben. Das müssen wir immer wieder klarstellen. In Folge hat also die rot-grüne Bundesregierung im Zweiten Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz im Jahre 2001 die Umsetzung der Rechtsprechung vorgenommen, aber eben nur diese, nicht mehr. Bei der Neuberechnung von Bestandsrenten aus Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Zusatz- und Sonderversorgungssystem der DDR wurden für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte Ost die während der gesamten Versicherungszeit bezogenen tatsächlichen Arbeitsentgelte oder Arbeitseinkommen zugrunde gelegt, während nach DDR-Recht nur der Schnitt der letzten 20 Jahre berücksichtigt wurde. Daraus ergaben sich bei den Rentnern mit Zusatzversorgungen Benachteiligungen. Deshalb muss nunmehr eine Neuberechnung vorgenommen werden. Der Gesetzgeber hat der BfA erlaubt, für die Neuberechnung ein maschinelles Verfahren anzuwenden. Praktisch bedeutet dies, dass die BfA auf den vorhandenen Versicherungsverlauf zurückgreifen kann, ohne dass eine inhaltliche Prüfung erfolgen muss. Das sollte der Beschleunigung des Verfahrens dienen, wie heute schon erwähnt wurde, weil es in der Regel um Betroffene im hohen Alter geht. Problematisch ist also, dass die BfA nur eine Neuberechnung nach den tatsächlichen Entgelten vornimmt, wenn die Betroffenen Widerspruch einlegen. Deshalb fragen wir, warum die Rentner in den Bescheiden nicht über die Möglichkeit einer falschen Vergleichsberechnung durch dieses maschinelle Verfahren informiert wurden. ({1}) Hier steht das Ministerium in der Pflicht, wir sehen eine Verantwortung des Ministeriums. ({2}) Der Wirrwarr der vielen Regelungen ist selbst für uns kaum noch überschaubar. Wie dann für die Betroffenen? Eine Informationskampagne wäre deshalb wirklich notwendig gewesen. Es muss ja nicht gleich eine solche sein wie gegenwärtig zur Agenda 2010. Das Ministerium hätte gegenüber der BfA zumindest einen entsprechenden Hinweis in den Rentenbescheiden durchsetzen müssen. Man kann nicht rund 250 000 Rentnern eventuell höhere Ansprüche - nicht jeder hat einen höheren Anspruch - aus ihrem Arbeitsleben vorenthalten. Deshalb ist die Forderung korrekt, bei maschinell erstellten Bescheiden wenigstens in Zukunft den Hinweis auf das Recht der Überprüfung anzubringen. Die Zahl der bisher korrigierten Bescheide lässt sich nicht ermitteln, zumindest habe ich keine Hinweise darauf gefunden. Das Argument, eine nachträgliche Information an die betroffenen Rentner könnte erhebliche Irritationen auslösen oder falsche Erwartungen wecken, nehmen wir ernst, Frau Lotz. Aber wir stellen uns der Verantwortung, weil wir der Gerechtigkeit verpflichtet sind und deshalb auch eine Informationspflicht haben. ({3}) Im zweiten Antrag geht es um die gerechte Versorgungsregelung für das ehemalige mittlere medizinische Personal in den neuen Bundesländern. Wer im Gesundheitswesen arbeitete, hatte einen schönen, aber anstrengenden Job. Das gilt auch heute. Nachtschichten und Sonntagsdienste sind völlig normal. Weil in DDR-Zeiten das so genannte mittlere medizinische Personal wie Krankenschwestern, Hebammen oder Physiotherapeuten nicht besonders gut verdient hat, wurde es mit der Aussicht auf eine höhere Rente im Beruf gehalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass man dieses Personal händeringend suchte. Die Beschäftigten haben sich seinerzeit auf die gesetzliche Zusage verlassen, dass ihre in dieser Zeit erworbenen Rentenansprüche um die Hälfte erhöht werden. Wie allerdings die DDR-Regierung dies begleichen wollte, bleibt ungeklärt, denn sie war, wie wir wissen, pleite. ({4}) Das muss man natürlich sagen. Das haben aber nicht die Betroffenen zu verantworten; das müssen wir politisch lösen. Dennoch müssen wir anerkennen - das gebe ich zu -, dass diese Personengruppe auf diese Zusage baute. Bis Ende 1996 ging diese Regelung auch in das Rentenrecht ein. Das wurde heute schon gesagt. Allerdings sind die zusätzlichen Summen als Auffüllbeträge gewährt worden und wurden mit jeder Rentenerhöhung abgeschmolzen. Deshalb gilt die Regelung seit 1997 nicht mehr, wie Herr Haupt zu Recht schon festgestellt hat. Etwa 340 000 Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialwesens sind davon betroffen, darunter eine große Anzahl von Frauen. In meiner Sprechstunde kann ich immer wieder erleben, dass dies als ungerecht empfunden wird. Gerade bei allein stehenden Frauen und Witwen wirkt sich die eher bescheidene Rente gravierend auf die Lebensführung aus. Ich habe sehr verbitterte Menschen kennen gelernt, die die Hoffnung auf eine Nachbesserung nicht aufgegeben haben und nicht aufgeben wollen. Man muss bedenken, dass die gesetzliche Rente in der Regel die einzige Einnahmequelle der Menschen in den neuen Bundesländern ist. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass es bei der Rentenbewertung von bestimmten Berufsgruppen im heutigen Rentensystem systematische Probleme gibt, zum Beispiel bei Ingenieuren, Diplom-Naturwissenschaftlern, Postlern, Hochschullehrern und Eisenbahnern. Dies muss man natürlich sehen. Wenn wir für eine Gruppe Nachbesserungen durchsetzen, dann benachteiligen wir die anderen zusätzlich. Deshalb hat die rot-grüne Bundesregierung eine Chance vertan, als sie mit dem Zweiten Überleitungsgesetz ausschließlich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt und sich anderen Änderungen verschlossen hat. Die ist uns in der Zwischenzeit durch die Einzelbeispiele, von denen wir in unseren Büros hören, bewusst geworden. Wir erkennen ausdrücklich die sozialpolitischen Gründe der betroffenen Berufsgruppen an und wollen an einer Lösung mitarbeiten. Vor allem wegen der moralischen Verpflichtung, altes DDR-Unrecht nicht durch neue Verwerfungen fortleben zu lassen, stehen wir in der Pflicht. Die Rentensystematik verpflichtet uns aber auch, nicht durch Korrekturen für eine Berufsgruppe bei anderen Gruppen Enttäuschungen zu verursachen. Das gehört ebenso zu unserem Gleichheitsgrundsatz. Doch wir müssen das Ganze sehen. Auf eines will ich noch hinweisen: Wir dürfen nicht verkennen, dass die jetzt vereinbarte Regelung den größeren Anteil des finanziellen Mehrbedarfs für die schon getätigten Korrekturen den Ländern auferlegt. Wir müssen uns mit der Tatsache beschäftigen, dass es sich hierbei um erkannte, weitere einigungsbedingte Mehraufwendungen handelt, für die es eine gesamtdeutsche Verantwortung gibt. Von daher wird uns auch die bevorstehende grundsätzliche Diskussion der Alterssicherung Gelegenheit geben, ausgehend von der Bestandsaufnahme vernünftige Regelungen für die Zukunft zu suchen und, wie ich zumindest hoffe, gemeinsam zu beschließen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es schon merkwürdig, mit welchen rentenrechtlichen Feinheiten sich die FDP im Nachtprogramm des Bundestages befasst. Vielleicht hätte es auch eine Ausschussberatung getan. Das wäre der Sache dienlicher gewesen. Im Übrigen möchte ich deutlich sagen, Herr Kollege Haupt: Ihre Anträge sind auch inhaltlich nicht überzeugend. Sie wollen angebliche soziale Härten für Rentnerinnen und Rentner aus der DDR ausgleichen. Ich kann diese nicht erkennen. Halten wir doch einmal fest: Die deutsche Einheit hat gerade für diejenigen, die ihr Arbeitsleben in der DDR verbracht haben und entweder schon in Rente sind oder inzwischen in Rente gegangen sind, einen großen ökonomischen Gewinn gebracht. Die Verdienste, die im Gebiet der neuen Bundesländer erzielt wurden, wurden hoch gewertet. Deswegen gab es eine besonders günstige Ausgangsbasis für die Rentenberechnung. Die meisten Menschen im Ruhestand haben auch von der Systematik des westdeutschen Rentenrechtes profitiert. So werden heute Renten gezahlt, die den Lebensstandard sichern. Heute werden die Renten an die Entwicklung des Wohlstandes angepasst, Herr Kollege. Sie wissen, dass es dies in der DDR nicht gab. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Haupt?

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich möchte meine Rede ohne Unterbrechung zu Ende führen. Im Ausschuss hätten Sie das haben können; das wollten Sie aber nicht. Nun reichen der FDP die bis zum Jahr 1996 geltenden und wahrlich großzügigen Übergangsregelungen nicht. Sie wollen die besonderen Aufschläge für das mittlere medizinische Personal noch darüber hinaus erhalten. Dass dies der Systematik des Rentenrechts widerspricht, hat das Bundessozialgericht noch am 30. Januar 2003 bestätigt. Politisch ist festzuhalten: Die FDP fordert die jahrzehntelange Anwendung von zweierlei Rentenrechten, und das nach der Rosinentheorie. Derjenige, für den das westdeutsche Rentenrecht günstiger ist, soll sich auf dieses berufen können, derjenige, für den das DDR-Rentenrecht günstiger ist, soll sich darauf berufen können. So kann man mit den Rentenfinanzen nicht umgehen. ({0}) Vielleicht sollten Sie einmal mit den Rentenexperten Ihrer Fraktion darüber reden. Dann würde sich die Situation etwas anders darstellen. Um wen geht es denn in Ihrem zweiten Antrag zur Rentenberechnung? - Es geht um Leute, die in der DDR einen hohen Verdienst gehabt haben. ({1}) Das war ein Betrag, der nach unserem Recht oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt. Sie machen sich um das Einkommen der alten DDR-Eliten sorgen. Man kann heutzutage wahrlich andere Sorgen haben, als sich ausgerechnet um die Alterseinkommen der alten DDREliten zu sorgen. Vielleicht sollte sogar die FDP noch andere sozialpolitische Probleme erkennen. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Silvia Schmidt von der SPD-Fraktion.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich werde meine Redezeit nicht voll in Anspruch nehmen, Herr Haupt; denn es wurde schon sehr viel gesagt. ({0}) - Wir nehmen das auch sehr ernst. Auch ich bin eine Ehemalige aus dem Gesundheitswesen. Glauben Sie mir, ich weiß, wie nicht nur wir gearbeitet haben. In meinen Sprechstunden sitzen dieselben Damen und Herren und auch sie sind verbittert. Wir müssen uns aber über einige Punkte im Klaren sein. Ich gehe deswegen noch einmal auf einen ganz wesentlichen Punkt ein. Sie nennen in Ihrem Antrag weder die Zahl der Betroffenen noch beziffern Sie die Höhe der zu erwartenden Mehrbelastung für die Rentenkasse. Das ist nicht seriös, Herr Haupt. Im Übrigen ist es mehr als scheinheilig, den Antrag auf eine höhere Rentenwertfestsetzung nur auf eine ausgewählte Berufsgruppe, nämlich das mittlere medizinische Personal, zu beziehen. Es wurde hier schon gesagt, dass sich die Sonderregelung des DDR-Rentenrechtes zum besonderen Steigerungssatz nicht nur auf Krankenschwestern oder auf das mittlere medizinische Personal bezog, sondern auf alle Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens in der DDR. Vergleichbare Regelungen galten auch für die Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn, wie bereits erwähnt, der Deutschen Post, für die Beschäftigten in Betrieben mit spezieller Produktion und zum Beispiel bei der Landesverteidigung. Sie wissen - Frau Bender hat es eben gesagt -, dass das Bundessozialgericht erst im Januar den Antrag einer Klägerin auf Berücksichtigung des besonderen Steigerungssatzes bei der Rentenberechnung nach dem Sechsten Sozialgesetzbuch zurückgewiesen hat. Die Begründung des Gerichts war, das Begehren der Klägerin liefe auf die Einführung einer neuen Rentenformel hinaus. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Berechnungselement des aus guten Gründen am 1. Januar 1992 abgelösten Rentenrechts der DDR müsste in das lohn- und beitragsbezogene Rentenrecht übernommen werden. Das ist in einem System mit Lohnersatzfunktion nicht möglich. Auch für die Deutschen Reichsbahner hat das höchste deutsche Sozialgericht die Berücksichtigung des Steigerungssatzes abgelehnt. Jedem, der eine solche Forderung für das mittlere medizinische Personal stellt, muss klar sein, dass die entsprechenden Leistungsverbesserungen auch für andere Berufsgruppen gelten müssen. Genaue Zahlen über die Anzahl der Betroffenen liegen uns nicht vor und sind wohl auch kaum zu ermitteln. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass diese Bereiche sehr beschäftigungsintensive Bereiche waren. Ich meine damit alle bereits erwähnten Bereiche. Eine rentenrechtliche Aufwertung dieser Beschäftigungszeiten würde zu nicht unerheblichen beitragssatzrelevanten Kosten führen. Sagen Sie das bitte einmal Ihrem Fraktionsvorsitzenden und dann reden wir noch einmal darüber. Vor dem Hintergrund der finanziellen Schwierigkeiten, die wir jetzt nicht nur in der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern in allen sozialen Sicherungssystemen haben, enthalte ich mich an dieser Stelle jeder weiteren Wertung. Wir von der SPD-Fraktion beschäftigen uns mit diesem Thema. Aber wir debattieren dieses Thema nicht nur auf einer Schaubühne, sondern wir wollen das Thema in die Gremien zurückbringen, wo es hingehört. Wir werden natürlich die Betroffenen anhören. Das ist vollkommen klar. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/839 und 15/842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 26. September 2003, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.