Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir mit der Tagesordnung beginnen, möchte ich
mitteilen, dass heute zum letzten Mal Herr Dr. Peter
Eickenboom als Direktor beim Deutschen Bundestag
hinter mir Platz genommen hat. Er hat dieses Amt in der
vergangenen Wahlperiode, die mit der Verlegung des Sitzes des Parlaments nach Berlin höchste Anforderungen
stellte, mit großer Kompetenz und - wie ich finde - sehr
erfolgreich wahrgenommen. Dafür danke ich ihm persönlich und im Namen des Hauses.
({0})
Für seine Aufgabe im Bundesministerium der Verteidigung wünsche ich ihm viel Erfolg.
({1})
Wir kommen nun zum einzigen Punkt unserer heutigen
Tagesordnung:
Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Ich erinnere noch einmal daran, dass wir am Dienstag für
die heutige Aussprache drei Stunden beschlossen haben.
Wir beginnen die heutige Aussprache mit den Themenbereichen Verbraucherschutz und Landwirtschaft. Ich
gebe das Wort an die Bundesministerin Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum ist
Verbraucherschutz so wichtig? - Weil er uns alle angeht,
weil er uns alle quasi in jeder Situation des Alltags und in
fast allen Lebensbereichen betrifft.
Schauen wir uns einmal die Neuentwicklungen an. Es gibt
neue Technologien und dadurch neue Vertragsarten. Denken
Sie zum Beispiel an den E-Commerce, wobei ich wetten
möchte, dass ein Großteil der Mitglieder dieses Hauses das
Medium E-Commerce überhaupt noch nicht genutzt hat.
({0})
- Natürlich ruft irgendwo einer „Doch!“, Frau Kopp. Das
glaube ich sofort. Dies ist auch keine Abwertung. Aber
noch nicht einmal 30 Prozent der Menschen nutzt dieses
Medium.
Was bedeutet das? Der Großteil der Menschen weiß
gar nicht, wie die Vertragspartner dabei aussehen. Der
Vertragspartner hat dabei gar kein persönliches Gesicht
mehr. Die Vertragsgestaltung wird immer unübersichtlicher und komplizierter. Plötzlich stellt sich dem Verbraucher dann die Frage, wie er bloß in die Situation gekommen ist, finanzielle Verpflichtungen einzugehen, die jeden
Rahmen sprengen. Habe ich überhaupt gewusst, dass ich
einen Vertrag abschließe? Habe ich überhaupt ausreichend Informationen über die Vertragsgestaltung gehabt?
Gerade mit Blick auf die neuen Vertragsarten, auf die
neuen Technologien heißt Verbraucherschutzpolitik, die
Menschen vor finanziellen Schäden und vor Täuschung
zu schützen, indem man einen rechtlichen Rahmen setzt.
({1})
- Ich sehe, die CDU zeigt der Aufforderung der Fraktionsvorsitzenden entsprechend jetzt auch Interesse an
dem Thema Verbraucherschutz,
({2})
weil sie gemerkt hat, dass in den Städten Verbraucher
wohnen.
({3})
- Auf dem Land auch. Sehen Sie, ich merke, bei Ihnen
gibt es einen richtigen Erkenntnisschub.
({4})
Ich habe immer schon und auch in der letzten Legislaturperiode gesagt: Auch Bauern sind Verbraucher, zum Beispiel wenn sie Saatgut kaufen. Gut, dass auch Sie es merken.
Einer der brisantesten Punkte im Bereich Verbraucherschutz ist für uns immer noch das Thema Gesundheit.
Manchmal steht nämlich auch die Gesundheit von Menschen auf dem Spiel. Hier geht es um Sicherheit. Für uns
wird es immer heißen - das bekräftigen wir auch jetzt -:
Der Schutz der Gesundheit hat Priorität vor wirtschaftlichen Interessen Einzelner.
Was steht in dieser Legislaturperiode an? Als Erstes
wieder das Verbraucherinformationsgesetz. Wir werden es neu einbringen, weil die Menschen ein Recht darauf haben, zu wissen, was enthalten ist: in den Verträgen,
in allen Produkten, die sie kaufen, und in den Dienstleistungen.
({5})
Wir wollen, dass die Verbraucher von den Behörden
über konkrete Gefahren informiert werden. Wir meinen
auch, dass die Wirtschaft an dieser Stelle ein verlässlicher
Partner werden und Auskünfte geben muss. Wir sind uns
auf jeden Fall sicher, dass wir nicht mehr im Mittelalter
leben und man Informationen vor der Bevölkerung nicht
quasi geheim halten muss.
({6})
Zum Thema Sicherheit gehört auch das Produktsicherheitsgesetz. Produkte müssen grundsätzlich Mindestanforderungen an Sicherheit einhalten. Deshalb gibt
es hier jede Menge Regelungsbedarf. Ich nenne ein Beispiel, das Sie alle aus den Zeitungen kennen und das nachgerade kurios erscheint: die Kordeln an Kinderjacken, die
immer wieder, wenn sie zum Beispiel mit nicht entsprechend gebauten Geräten auf Kinderspielplätzen zusammenkommen, im wahrsten Sinne des Wortes zu Lebensgefahr führen. Daran erkennt man, dass ein Begriff wie
Produktsicherheitsgesetz im Lebensalltag von Bedeutung
sein kann.
Wir haben uns in der Koalition darauf verständigt, in
dieser Legislaturperiode die Aufgaben in einem Aktionsplan Verbraucherschutz zusammenzufassen, um ganz klar
zu sagen, welche Details wir in den nächsten vier Jahren
regeln wollen. Wir werden den Verbraucherschutz durch
einen regelmäßigen Fortschrittsbericht auch immer wieder hier zum Thema machen - zum Schutze der Verbraucher.
({7})
Es ist längst klar, was erste Punkte eines solchen Aktionsplanes sein werden, bei denen akuter Handlungsbedarf
besteht. Fangen wir mit dem Bereich Telekommunikation an. Hier geht es vor allem darum, die neuen Missbrauchstatbestände anzugehen. Technische Neuerungen
führen zu mehr Missbrauchsmöglichkeiten. Lock-Anrufe
oder -SMS im Mobilfunk fordern zur Benutzung von
0190-Nummern oder auch zu kostenpflichtigen Rückgesprächen auf. Das trifft am Ende nicht nur die Privathaushalte, sondern oftmals auch den Mittelstand.
Im Wettbewerbsrecht geht es um das UWG. Es braucht
eine grundlegende Reform. Zum Beispiel werden die Verbraucher in Zukunft nicht nur zweimal im Jahr die Möglichkeit haben, Rabatte zu genießen, sondern das ganze
Jahr über. Dann muss das Ganze aber so gestaltet werden,
dass nicht unter Einkaufspreis verkauft wird. Sonst
könnte der Mittelstand am Ende überhaupt nicht mithalten und dort gingen Arbeitsplätze verloren. Auch hier werden wir tätig.
({8})
Der Bereich der Finanzdienstleistungen ist ein weiterer wichtiger Punkt. Täglich werden in erheblichem Umfange Versicherungen zu Bedingungen abgeschlossen, die
von den Versicherungsnehmern am Ende gar nicht erfüllt
werden können. Wir werden die Anbieter zu verbesserter
Beratung verpflichten. Wir brauchen Rücktrittsrechte und
Schadensersatzansprüche, wenn die Anbieter ihren
Pflichten nicht nachgekommen sind.
Meine Damen und Herren, Verbraucherschutz braucht
eine feste Verankerung im öffentlichen Bewusstsein. Wir
brauchen Verbraucher, die klugen Konsum praktizieren
können. Deshalb werden Aufklärung, Information und
Beratung von Verbrauchern für uns ein Thema sein. Sie
alle kennen die Frage, wie Produkte, zum Beispiel Lebensmittel, überhaupt hergestellt worden sind. Jeder
möchte gerne wissen, ob hinter einem Kakao oder einem
Teppich Kinderarbeit steckt. Genau das werden wir erfüllen.
({9})
Das bedeutet - das sage ich ganz klar - für die einheimische Wirtschaft kein Problem, sondern einen Standortvorteil, da sie davon profitiert, dass die Verbraucher diese
Produkte nicht kaufen.
Früher hat man die Ersten bestaunt, die Umweltverpackungen für Joghurt wählten. Heute ist das selbstverständlich. Ich glaube, es wird in einigen Jahren auch
selbstverständlich sein, dass Verbraucherschutz und Verbraucherinformation zum Image einer Firma gehören.
({10})
425 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in
der EU wollen, dass ihre Interessen wahrgenommen werden. Sie wollen und werden ihre Macht entsprechend einsetzen. Wir wollen in Europa federführend in Sachen Verbraucherschutz sein. Wir sehen ganz klar, dass auch die
Kommission und das Europäische Parlament den Verbraucherschutz ganz vorn auf ihre Arbeitslisten schreiben.
Wir haben das Grünbuch Verbraucherschutz. Die
Kommission hat für das nächste Jahr konkrete Vorschläge
für den Bereich Finanzdienstleistungen angekündigt. Da
wollen wir nicht hinten sein.
Wenn wir schon einmal bei dem Thema des großen Europas und der Brüsseler Entscheidungen sind, können wir
auch gleich auf die wichtige Brüsseler Entscheidung aus
der letzten Woche zur Erweiterung und zur Finanzierung
dieser Erweiterung der Europäischen Union zu sprechen
kommen. Damit wurde eine verlässliche Entscheidung
über die Frage der Finanzierung des Agrarbereichs getroffen. Wir wissen nun, welche Mittel hierfür zur Verfü296
gung stehen werden. 2006 werden dies 45,3 Milliarden
Euro sein, 2013 48,5 Milliarden Euro. Nachdem das entschieden wurde und wir nicht mehr immer nur über Finanzen reden müssen, ist der Kopf endlich frei, um über
die ganz konkreten Reformen nachzudenken, die im
Agrarbereich nötig sind.
({11})
Ich freue mich, dass Kommissar Fischler gesagt hat, er
werde seine Vorschläge in Form einer Gesetzesvorlage
Ende des Jahres vorlegen. Ich stimme ihm darin ausdrücklich zu. Wir haben auch in der Koalition vereinbart,
die gemeinsame Agrarpolitik auf europäischer Ebene weiterzuentwickeln. Dabei dürfen wir keine Zeit verlieren.
In der Marktpolitik haben wir die Situation, dass alte
Regelungen von Zahlungen an Landwirte auslaufen werden. Sie werden auch bei der WTO keine Verlängerung
finden. Das heißt, man muss den Landwirten zeigen, wo
es in Zukunft langgeht und welche Regeln gelten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine
Förderung des ländlichen Raums. Das heißt aber nicht,
dass nur die Bauern gefördert werden. Manche begreifen
das gerne als abgeschlossenen Bereich. Es geht vielmehr
darum, lebensfähige Infrastrukturen auf dem Lande zu
schaffen. Die ländlichen Räume müssen so attraktiv werden, dass dort Arbeitsplätze entstehen, und zwar sowohl
im konkreten Bereich Landwirtschaft als auch in benachbarten Bereichen, ob das nun der Bereich Energie oder
Tourismus ist.
({12})
Wir brauchen deshalb die Modulation - Fischler wird
dazu Vorschläge machen -, weil 80 Prozent der Fläche der
Bundesrepublik land- und forstwirtschaftlich bearbeitet
werden.
Wir brauchen aber auch deshalb Reformen, weil im
September nächsten Jahres WTO-Verhandlungen in Cancun in Mexiko anstehen. Dort wird es darum gehen, alte
handelsverzerrende Wirkungen von Direktzahlungen
abzubauen. Gerade deshalb ist es gut und richtig, dass
Kommissar Fischler vorgeschlagen hat, die Direktzahlungen zu entkoppeln; denn nur Direktzahlungen, die von der
Produktionsmenge entkoppelt sind, werden die nächsten
WTO-Verhandlungen überleben.
({13})
Wir wissen, dass dahinter aber noch ein anderer Aspekt
steht, der mit globaler Gerechtigkeit zu tun hat: Für das
Überleben der Landwirtschaft in der EU und in Deutschland ist es wichtig, der nächsten WTO-Runde zu einem
Erfolg zu verhelfen. Wir wollen, dass im ländlichen Raum
für die Landwirtschaft Zukunft besteht. Wir wollen aber
auch, dass Menschen in anderen Ländern leben können
und nicht wir auf ihre Kosten leben und sie von großen
Konzernen ausgepresst werden.
({14})
Schon allein deshalb ist es also richtig, dass wir uns darum bemühen, dass die nächste WTO-Runde für uns, für
die Entwicklungsländer sowie für den Umwelt-, den Tierund den Verbraucherschutz ein Erfolg wird.
({15})
Wir haben in dieser Koalition vereinbart, dass bei der
Konsolidierung des Haushaltes - dieser Zwang besteht ja auch die Landwirtschaft mitmacht. Es werden zum Beispiel die ermäßigten Steuersätze abgeschafft. Auch die
Privilegien müssen weg. Wir werden gleichzeitig aber
auch die nötigen Spielräume für nachhaltige Landnutzung
und artgerechte Tierhaltung schaffen und halten. Das hat
Bestand auch vor der WTO. Wir werden mit dem Aktionsprogramm Ökologischer Landbau weitermachen und
mit einem Aktionsprogramm Bäuerliche Landwirtschaft.
Ich bitte Sie alle, folgenden Punkt zu sehen. Wir reden
bei der Landwirtschaft nicht über einen abgeschlossenen
Bereich. Wir reden hier vielmehr über den gesamten Bereich Landwirtschaft, der auch die Lebensmittel- und
Ernährungsindustrie umfasst. Lebensmittel führen wir
täglich unserem Körper zu. Deren Qualität entscheidet
über unsere Gesundheit. Darüber hinaus findet sich in diesem Bereich jeder neunte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen ist es sinnvoll, dass sich das
ganze Haus um den Agrarbereich kümmert.
({16})
Ich erteile das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wählertäuschung geht auch in der Landwirtschaft munter weiter.
({0})
In der Koalitionsvereinbarung ist noch großspurig die
Rede von einer Stärkung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe. Ich
habe deshalb nachgesehen und danach gesucht, wo etwas
über die Maßnahmen zur Stärkung zu finden ist. Ich habe
leider nichts gefunden. Das Gegenteil ist vielmehr der
Fall. Man findet Aussagen über zusätzliche Steuerbelastungen, über zusätzlichen bürokratischen Aufwand und
damit verbundene zusätzliche Kosten für die landwirtschaftlichen Betriebe und Aussagen über nationale Alleingänge, insbesondere im Verbraucherbereich. Meine
Damen und Herren, das ist keine Verbesserung, sondern
eine Verschlechterung der Bedingungen für die Landwirtschaft.
({1})
Nun ist zu fragen, wo da denn die Stimme der Landwirtschaftsministerin ist. Wo ist die Stimme derjenigen,
die nicht nur für diesen Berufsstand, sondern auch für die
Entwicklung der ländlichen Räume, der landwirtschaftliBundesministerin Renate Künast
chen Betriebe, der Infrastruktur usw. in diesem Land verantwortlich ist?
({2})
Frau Künast, ich empfehle Ihnen, dass Sie sich ein
Beispiel an Frankreich nehmen. Vom Staatspräsidenten
über den Landwirtschaftsminister bis in zahlreiche Politikbereiche hinein ist dort zu erkennen, dass man auf die
Landwirtschaft stolz ist.
({3})
Bei uns im Land tut die Regierung hingegen alles, um das
Bauernsterben zu beschleunigen.
({4})
Die deutschen Landwirte hatten Glück, dass der französische Staatspräsident bei den Agrarverhandlungen am
letzten Wochenende auf die volle Laufzeit der Agenda2000-Beschlüsse pochte. Frau Ministerin, wenn es nach
Ihnen und dem deutschen Bundeskanzler gegangen wäre,
hätten die deutschen Landwirte keine Planungssicherheit
bis zum Jahr 2006 bekommen.
({5})
Es war schon ein peinlicher Auftritt des Bundeskanzlers: Zwei Staatsmänner einigten sich auf die Deckelung
der Agrarausgaben. Doch nach der Einigung wusste der
deutsche Bundeskanzler nicht, auf was sie sich eigentlich
verständigt hatten.
({6})
Ich empfehle dem Bundeskanzler, dass er künftig nicht
nur Dolmetscher, sondern auch Fachleute mitnimmt und
dass er sich vor allem auf solche Gespräche besser vorbereitet; ein Aktenstudium wäre nicht das Verkehrteste.
({7})
Bis 2006 haben die Landwirte nun Planungssicherheit.
Sie haben aber auch die Gewissheit, dass die Direktzahlungen ab 2007 - nach der Erweiterung - sinken werden.
Deshalb wäre es richtig, die nationalen Belastungen, die
den Landwirten in den vergangenen Jahren durch die nationalen Alleingänge Ihrer rot-grünen Regierung aufgebürdet wurden, wieder zurückzunehmen.
({8})
Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höfken?
Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen.
({0})
Wir sollten jetzt die Zeit nutzen, um die Reformen ab
2006 vorzubereiten, damit die Landwirte wissen, was sie
ab 2006 bzw. 2007 erwartet. Die Pläne von Kommissar
Fischler - Frau Ministerin hat es vorhin angesprochen lassen noch viele Fragen offen, beispielsweise wie die betriebsbezogenen Prämien ausgestaltet werden. Wir sind
für alle Diskussionen offen. Klar muss aber auch sein,
dass von Anfang an eine Diskussion stattfinden muss,
durch die die Konsequenzen für alle offen gelegt werden
und durch die sichergestellt wird, dass das Geld für die Direktbeihilfen nicht irgendwo bei Infrastrukturmaßnahmen, sondern tatsächlich bei den Wirtschaftenden landet.
Nun will ich auf das eingehen, was insbesondere die
Landwirte ab dem nächsten Jahr zu erwarten haben. Frau
Künast, das habe ich bei Ihrer Rede vermisst. Mit einem
Halbsatz haben Sie die steuerlichen Bedingungen, auf die
sich die Landwirte künftig einzustellen haben, erwähnt. Das
ist Gegenstand Ihrer Koalitionsvereinbarung. Die Landwirte, die Bauern, in unserem Land haben ein Recht darauf,
zu wissen, was tatsächlich darin steht, so, wie die Verbraucher ein Recht darauf haben - das haben Sie eben in
Bezug auf das Verbraucherinformationsgesetz gesagt -,
zu wissen, was auf sie zukommt.
({1})
Das will ich ihnen jetzt sagen. Sie wollen die Vorsteuerpauschale, die es seit 1968 gibt, abschaffen. Von dieser
Maßnahme sind etwa 90 Prozent aller Landwirte betroffen.
({2})
Diese Möglichkeit der Umsatzsteuerpauschalierung ermöglicht es den Landwirten, auf umfangreiche Aufzeichnungs- und Abgabepflichten zu verzichten; sie bringt eine
Verwaltungsersparnis und sie ist einfach zu handhaben. Mit
Ihrer Regelung, also der Abschaffung der Pauschalierung,
verursachen Sie enormen zusätzlichen Verwaltungsaufwand und Kosten für die Landwirte, ganz zu schweigen von
den Kosten und dem Verwaltungsaufwand der Finanzämter.
({3})
Es sind überwiegend kleine Landwirte. Sie müssen
sich vorstellen, wie diese Maßnahme die Landwirte trifft.
Manche arbeiten den ganzen Tag draußen auf dem Feld
und im Stall. Die anderen, die außerlandwirtschaftlich arbeiten, müssen die Arbeiten in der Landwirtschaft abends
- bis 22 Uhr oder 23 Uhr - erledigen. Und dann sollen sie
sich noch hinsetzen, alles aufzeichnen und ihre Abgabenpflichten erfüllen. Sie haben offensichtlich keine Ahnung,
wie es in kleinen landwirtschaftlichen Betrieben zugeht;
sonst würden Sie das nicht machen.
({4})
Ich komme zur zweiten Maßnahme, derAbschaffung der
pauschalen Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer.
Auch diese Maßnahme trifft insbesondere die kleinen Betriebe.Siehabensieohnehinschon1999eingeschränkt. Jetzt
profitieren davon nur noch die ganz kleinen Betriebe. Auch
dies ist ein zusätzlicher Aufwand mit zusätzlicher Buchführung und zusätzlichen Kosten für den Steuerberater.
({5})
- Nein, das haben Sie gemacht.
Nun hat der Wirtschaftsminister gestern von einem
Masterplan für Bürokratieabbau gesprochen.
({6})
Im Kreieren von schönen, wohlklingenden Worten sind
die Kameraden groß. Aber wenn es darum geht, tatsächlich Maßnahmen zu ergreifen, die Bürokratie wirklich abzubauen, dann ist nichts mehr da. Sie brauchen bloß diese
beiden Maßnahmen nicht umzusetzen, dann haben Sie
schon einen Bürokratieabbau par excellence.
({7})
Sie sehen weitere Maßnahmen wie die Streichung des
ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Vorprodukte und
für Gartenbauerzeugnisse vor. Meine Damen und Herren,
das ist nichts anderes als eine Steuererhöhung, und zwar
von 7 auf wohlgemerkt 16 Prozent.
({8})
Das kann man nicht einfach mit einem halben Satz abtun,
wie Sie das gemacht haben. Hinzu kommen Verschlechterungen der Abschreibungsbedingungen und vieles mehr.
Fast ein Viertel des gesamten Aufkommens aus dem
Einsparvolumen erbringt die Landwirtschaft. Wo war
denn das Wort der Ministerin bei den Koalitionsverhandlungen? Davon ist nichts zu spüren. Das ist ein Schlag ins
Gesicht der Landwirte, wie man ihn sich schlimmer nicht
vorstellen kann.
({9})
Die Ministerin hat heute wohlklingende Worte zur Bedeutung des Verbraucherschutzes gesprochen. Ich habe
erwartet, dass Sie endlich ein schlüssiges Konzept vorlegt. Dagegen spricht sie von einem Aktionsplan für den
Verbraucherschutz. Das ist schön und klingt gut. Die
Überschriften sind alle gelungen. Aber die Probleme, die
Sie angesprochen haben, Frau Künast, sind nicht neu. Wir
haben sie auch schon in den letzten Jahren gehabt. Damals
haben Sie sich nicht darum gekümmert. Vielleicht ist auch
deshalb die von Ihnen angestrebte Kompetenzverlagerung von den anderen Ressorts in Ihr Ressort nicht erfolgt, weil bisher keine schlüssige Programmatik für den
Verbraucherschutz erkennbar war.
({10})
Verbraucherschutz muss umfassend wahrgenommen
werden, und zwar von der gesundheitlichen über die
rechtliche bis hin zur wirtschaftlichen Ebene.
({11})
Es gibt eine ganze Menge von Problemen. Warum haben
Sie sie denn nicht angepackt? Wissen Sie, was Sie in der
Vergangenheit gemacht haben und was Sie gerade wieder
machen? Ein reines Katastrophen-Hopping, aber keine
grundsätzliche Lösung der Probleme.
({12})
Sie sprachen von den Finanzdienstleistungen, an die
Sie jetzt herangehen wollen. Sie hatten in der letzten Legislaturperiode die Chance, beispielsweise beim Vierten
Finanzmarktförderungsgesetz den Anlegerschutz zu verbessern. Wir haben es angeregt und beantragt. Sie haben
das nicht gemacht.
Bei der so genannten Riester-Rente haben wir jetzt das
gleiche Problem. Wenn dieses groß angelegte und groß
verkündete Produkt einer kapitalgedeckten Altersvorsorge, die zwingend notwendig ist, von nur 11 Prozent der
Förderberechtigten in Anspruch genommen wird, dann
wird doch schon deutlich, dass damit etwas nicht stimmt.
Nun darf man aber nicht im Nachhinein mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen dagegen ankämpfen, sondern
das hätte man schon im Vorfeld machen müssen. Verbraucherschutz setzt nicht erst mit ordnungsrechtlichen
Maßnahmen im Nachhinein ein, sondern Verbraucherschutz beginnt schon bei der Gesetzgebung in jedem Einzelfall. Dort muss der Verbraucherschutz gewahrt werden.
({13})
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung vergeblich
danach gesucht, wie nun die Lebensmittelsicherheit im
Land verbessert werden soll. Dies wird landauf, landab
immer wieder proklamiert. Es wird mehrmals und immer
wieder versprochen. Von Brüssel wird es immer wieder
angemahnt und kritisiert. Warum machen Sie eigentlich
nichts? Warum sorgen Sie nicht für bundeseinheitliche
Durchführungsbestimmungen im Lebensmittelrecht?
Stattdessen machen Sie ständig nationale Alleingänge,
von denen die Verbraucher nichts haben, die aber den deutschen Landwirten in besonderer Weise Nachteile bringen.
Beispielsweise darf Obst, das in Südeuropa mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wird, die Sie in Deutschland verboten haben, trotzdem in Deutschland verkauft werden.
({14})
Welchen Vorteil das für die Verbraucher haben soll, vermag ich nicht zu erkennen. Deutlich erkennbar ist aber,
dass es zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft ist.
({15})
Unser Ziel muss sein, weg von den nationalen Alleingängen hin zu EU-weit harmonisierten Bedingungen zu
kommen.
({16})
Mit Ihren nationalen Alleingängen treten Sie die Interessen der deutschen Landwirtschaft mit Füßen. Mit diesem
Weg der ständigen nationalen Alleingänge weg von den
EU-weiten Harmonisierungsbedingungen werden Sie Ihrer Verantwortung als Ministerin für die deutsche Landwirtschaft nicht gerecht.
({17})
Ich erteile der Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor vier Jahren hat an dieser Stelle der Aussprache zur Regierungserklärung
({0})
noch eine reine Agrardebatte stattgefunden. Heute hat kein
Agrarminister, sondern unsere Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft gesprochen.
({1})
Allerdings gehört Ihr Redebeitrag, Frau Hasselfeldt,
eher in eine Agrardebatte; denn was Sie zum Verbraucherschutz ausgeführt haben, ist in einigen Teilen bereits
umgesetzt worden und stimmt in weiten Teilen nicht mit
dem überein, was Sie in der vergangenen Wahlperiode
versprochen haben.
({2})
Dass Ihr designierter Landwirtschaftsminister, der in
der vergangenen Legislaturperiode Ausschussvorsitzender war, mit der Forderung durch die Lande reist, dass die
bei uns verbotenen Pflanzenschutzmittel zugelassen
werden sollen,
({3})
um gleiche Bedingungen im Handel zu schaffen, zeigt,
dass diese Diskussion an den Tatsachen vorbeiführt. Mit
einer ordnungsgemäßen Landwirtschaft hat das in keiner
Weise zu tun.
({4})
Nichtsdestotrotz stehen in dieser Diskussion die
Auswirkungen der Osterweiterung für die Landwirtschaft
ebenso wie die Stellung der Verbraucher und der Gesundheitsschutz auf der Tagesordnung.
Es war die BSE-Krise, die zur Folge hatte, dass aus dem
Landwirtschaftsministerium ein Verbraucherministerium
wurde. Deswegen blieben in der vergangenen Legislaturperiode leider nur zwei Jahre zur Durchsetzung der Verbraucherinteressen. Die Aufgaben beschränken sich allerdings
nicht nur auf den gesundheitlichen Verbraucherschutz, sondern die Verbraucher haben eine Stimme bekommen, die die
deutliche Aufwertung des Verbraucherschutzes im Koalitionsvertrag erst möglich gemacht hat.
({5})
Verbraucherpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Das
haben wir in den vergangenen Jahren im Bundestag auch
immer wieder zum Ausdruck gebracht. Wir handeln, und
räumen dem Verbraucherministerium die dafür erforderlichen Kompetenzen ein: ein ressortübergreifendes Initiativrecht für Angelegenheiten von verbraucherpolitischer
Bedeutung.
Die Verbraucherpolitik wird nicht mehr von verschiedenen Ressorts mitbehandelt, sondern dieser Bereich wird
nun selbstständig gestaltet. Auch das haben Sie offenbar
dem Koalitionsvertrag so nicht entnehmen können, Frau
Hasselfeldt.
Wir packen aber in den nächsten vier Jahren weit mehr
als die Sicherstellung der Produktion und des Vetriebs gesunder Lebensmittel an. Es geht darum, die Verbraucherrechte auch hinsichtlich der Sicherheit, Information und
Wahlfreiheit zu stärken und diese Rechte international
durchzusetzen. Wir sind uns darin einig, dass internationale Regelungen erforderlich sind.
Ziel ist, dass sich Anbieter und Kunden auf gleicher
Augenhöhe gegenüberstehen und dass Verbraucher Entscheidungen bewusst treffen können und vor missbräuchlichen Praktiken geschützt werden.
Der Verbraucher soll seine Kaufentscheidungen bewusst und eigenverantwortlich treffen. Die Grundlagen
dafür sind zum einen verlässliche Verbraucherinformationen über die Eigenschaften von Produkten und zum anderen Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit, Haftung
und Gewährleistung. Wir wollen den Verbraucher nicht an
der Hand durch das Leben führen. Wir wollen dem Verbraucher vielmehr die Möglichkeit geben, loszulassen
und eigenständig zu handeln. Dies muss sich auch in den
Diskussionen über das Wettbewerbsrecht widerspiegeln,
sei es in der von der Kommission angestoßenen Diskussion über das Grünbuch Verbraucherschutz oder in der
Diskussion über die Novellierung des UWG. Das Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb werden wir deshalb
auch im Hinblick auf einen effektiven Verbraucherschutz
überarbeiten.
({6})
Ein hohes Verbraucherschutzniveau und einen fairen
Umgang mit dem Kunden sehen wir dabei nicht als Belastung für die Wirtschaft an. Gerade im Onlinehandel
sind doch Transparenz und Investitionen in sichere Zahlungsmöglichkeiten die Grundvoraussetzungen für den
Erfolg eines Unternehmens. Wir sehen deshalb im Verbraucherschutz eine Chance und vor allem auch einen
Standortvorteil für die Wirtschaft.
({7})
Wir erleben, dass Eigeninitiative - zum Teil auch von
der Politik angestoßen - oft staatliches Handeln ergänzt
und dass gleichzeitig durch das Zusammenwachsen
Europas ein breiteres, aber auch unübersichtlicheres Angebot an Dienstleistungen und Waren entsteht. Die private
Altersvorsorge gewinnt deshalb genauso an Bedeutung
wie die verschiedensten Angebote zur Aus- und Weiterbildung. Auch hier braucht der Verbraucher verlässliche
Informationen und Kriterien, anhand derer er die Qualität
einschätzen kann. Wir wollen deshalb einen Schwerpunkt
in der Verbraucherpolitik im Bereich der Dienstleistungen setzen. Verbraucher sollen vor Fehlinformationen
über Produkte, Verträge und Dienstleistungen geschützt
werden und gegebenenfalls das Recht auf Schadensersatzansprüche erhalten. Vor allem bei den Finanzdienst300
leistungen wollen wir aussagekräftige Informationen und
eine verlässliche Beratung sicherstellen. Sicherungsfonds
können Insolvenzrisiken abfangen. Das Versicherungsvertragsrecht, das Telekommunikationsrecht und der Verbraucherschutz beim Eigenheimkauf oder -bau sind weitere Stichworte zu diesem Schwerpunkt.
Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir beschlossen, dass wir eine Qualitätsoffensive für den öffentlichen Personenverkehr initiieren und eine umfassende Bestandsaufnahme vorlegen wollen. Wir wollen,
dass, von den Verbesserungen der letzten Legislaturperiode ausgehend, geprüft wird, wo weitere rechtliche Maßnahmen notwendig und möglich sind. Die Verbesserung
der haftungsrechtlichen Situation von Fahrgästen bei
mangelnder Leistung und die Einrichtung von unabhängigen Schlichtungsstellen sind zwei der Eckpunkte, die
bei dieser Bestandsaufnahme berücksichtigt werden müssen. Weitere sind die Harmonisierung der Vorschriften
zwischen den Verkehrssystemen und zwischen den
EU-Mitgliedstaaten sowie die Bereitstellung von Fahrplanauskünften auch über die Angebote konkurrierender
Unternehmen.
Verstärkt beachten müssen wir auch den Verbraucherschutz gerade im Hinblick auf Kinder. Wir müssen sicherstellen, dass von Spielzeug oder Kinderbekleidung
keine Gefahr für Kinder ausgeht und dass bei der Festlegung von Grenzwerten die Wirkungen auf Kinder
berücksichtigt werden.
({8})
Erst im Juni dieses Jahres hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Zulässigkeit staatlicher Verbraucherinformation bejaht. In der Presseerklärung des
Bundesverfassungsgerichts heißt es:
Aktuelle Krisen im Agrar- und Lebensmittelbereich
zeigen beispielhaft, wie wichtig öffentlich zugängliche, mit der Autorität der Regierung versehene Informationen zur Bewältigung solcher Situationen
sind.
Das sehen wir genauso. Wir werden deshalb in dieser Legislaturperiode mit einem Verbraucherinformationsgesetz die Informationsrechte gegenüber Behörden und
Anbietern nachhaltig verbessern. Als Anfang dieses Jahres Schinkenprodukte auftauchten, die zu viel Wasser
enthielten, konnten die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht feststellen, ob in ihrem Einkaufswagen Schinken oder Wasser liegt. Eine Gesundheitsgefährdung lag
nicht vor. Ross und Reiter durften von den Behörden
nicht genannt werden. Die bisherige Rechtslage nimmt
den Kunden die Wahlfreiheit und schützt die Anbieter,
die täuschen und tricksen. Das soll in Zukunft anders
werden.
({9})
Mit dem Verbraucherinformationsgesetz hätten die
Kunden in Zukunft nicht mehr nur die Wahl zwischen
„Schinken“ oder „kein Schinken“. Sie würden wissen,
wer zu viel Wasser in den Schinken spritzt, und könnten
von Anbietern kaufen, die fair mit ihren Kunden umgehen. Wir wollen den Kunden diese Wahlfreiheit geben und
die Anbieter schützen, die weder täuschen noch tricksen.
({10})
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, diesen Weg mit uns zu gehen. Der Wahlkampf ist
vorbei. Jetzt können Sie zeigen, ob Sie den Verbrauchern
marktbezogene Informationen zur Verfügung stellen oder
weiterhin die schwarzen Schafe schützen wollen.
({11})
Verbraucherpolitik ist für viele eine Angelegenheit des
Gefühls. Es geht zum Teil um Entscheidungen, die für den
Einzelnen und auch für dessen Familie eine große Bedeutung haben: Wie finanziere ich meine Rente? Kann ich das
Haus wirklich finanzieren?
({12})
Sind die Lebensmittel wirklich gesund? Es geht um Entscheidungen zu Bereichen, die vom Einzelnen nicht komplett überblickt werden können,
({13})
Entscheidungen, zu denen verlässliche Informationen notwendig sind.
Verbraucherpolitik stellt für uns die Leitplanke dar, die
dafür sorgt, dass der Einzelne seine Entscheidungen bewusst und eigenverantwortlich treffen kann. Unsere Aufgabe ist es, über Mindeststandards, Kontrollen und Informationen die Grundlagen für die Gleichberechtigung
von Käufer und Anbieter zu legen. Auf dieser Grundlage können die Verbraucher und Verbraucherinnen ihre
Kaufentscheidungen so treffen, dass ihre Interessen und
die Interessen ihrer Familien gewahrt bleiben.
({14})
Dafür steht unser Koalitionsvertrag. Vor allem das werden
wir in den nächsten vier Jahren umsetzen.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Hans Goldmann, FDP, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Als ich heute morgen „Frühstücksfernsehen“
guckte, hörte ich, dass wir heute über Verbraucherschutz
und Gesundheit sprechen. Ich habe mich darüber eigentlich gefreut, habe mich aber gleichzeitig darüber geärgert,
dass der traditionelle und leistungsfähige Bereich der
Agrar- und Ernährungswirtschaft, aber auch zum
Beispiel der Bereich der Gentechnik mit keinem Wort erwähnt wurden.
({0})
Da ich, wie Sie vielleicht wissen, aus dem Bereich der
Ernährungswirtschaft, aus dem Bereich der Tiermedizin
komme, bin ich ein bisschen sauer darüber, dass dieser
im guten Sinne absolute Hochtechnologiebereich der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft - weltweit gilt: deutsche
Agrarprodukte sind im weltweiten Wettbewerb absolute
Hochqualitätsprodukte - so hinten runterfällt.
({1})
Da ich aus Niedersachsen komme, weiß ich in punkto
Arbeitsplätze, in punkto Investitionen und in punkto Infrastruktur im ländlichen Raum auch, wovon ich spreche.
Deshalb bin ich traurig darüber, dass alles von dem hehren und wichtigen Ziel „Verbraucherschutz, Verbraucherschutz, Verbraucherschutz“ überlagert wird. Liebe Frau
Künast, ohne ein gute Lebensmittelwirtschaft, ohne eine
fachgerechte Agrarwirtschaft werden Sie in diesen sehr
wichtigen, die Menschen tief berührenden Bereichen keinen Verbraucherschutz realisieren. Es geht hier nicht im
Gegeneinander, sondern es geht hier nur in einem vernünftigen Miteinander der verschiedenen Beteiligten.
({2})
Frau Künast, liebe Kollegen von Rot-Grün, die Politik
gegen die Bauern, die Sie in den letzten Jahren verwirklicht haben, kann und wird - Herr Weisheit hat es selbst
zum Ausdruck gebracht - nicht erfolgreich sein.
({3})
Ich bin für den Schutz von Legehennen, aber ich bin auch
dafür, Herr Weisheit, dass derjenige, der Legehennen hält,
der Familienbetrieb, der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin, die in diesem Bereich tätig sind, Zukunftschancen
haben. Wir brauchen nicht nur den Schutz der Legehenne,
sondern wir brauchen auch den Schutz der Familien, die
mit der Agrarwirtschaft in Verbindung stehen.
({4})
Wir brauchen ebenfalls den Schutz der vor- und nachgelagerten Bereiche. Frau Künast, Sie sollten Ihrem Ministerkollegen Trittin entgegentreten, wenn er im Fernsehen Unwahrheiten sagt. So polemisch kennen wir ihn ja
schon. Wenn er aber behauptet, dass es überhaupt nichts
macht, wenn man Chemiedünger - die Wortwahl ist verräterisch - jetzt auch mit 16 Prozent Mehrwertsteuer belegt, zeigt das nur: Er hat keine Ahnung!
({5})
Der Chemiedünger wird schon längst so besteuert.
({6})
Was sollen diese Verunglimpfungen, die im Grunde genommen dazu beitragen, diesen Bereich zu zerstören?
({7})
Ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung angeschaut.
Bis jetzt war ich der Meinung, dass wir uns einig sind,
dass wir von der Belastung der Arbeit in Deutschland eigentlich wegkommen müssen und mehr Freiheit und Kreativität entwickeln müssen. Was machen Sie? - Sie schaffen
eine sehr vernünftige Regelung, die Durchschnittssatzbesteuerung, ab. Das bedeutet mehr Bürokratie und mehr
Belastung. Ich habe mit der Kollegin Connemann morgen
ein Gespräch mit dem Landvolk in unserer Region. Für
unsere Betriebe bedeutet diese Veränderung ein Minus
von 10 Prozent.
({8})
Die Betriebe wissen schon jetzt nicht mehr, wie sie sich
auf dem Weltmarkt und auf dem europäischen Markt behaupten sollen. Die Niederländer lachen sich über das,
was Sie hier machen, kaputt. Sie freuen sich
({9})
und erobern den Weltmarkt. Sie erobern den Osten und
die Welt, weil sie auf dem globalen Markt agieren. Im
Grunde genommen sind sie sogar ein wenig traurig darüber, dass in Deutschland eine Politik gegen die Bauern,
gegen die Agrarwirtschaft, gegen die Lebensmittelwirtschaft gemacht wird.
Sie machen eine Politik der Zunahme an Bürokratie,
des Verwaltungsaufwandes, der Abgaben und Steuern. So
werden Sie den Herausforderungen, vor denen dieser Bereich steht, nicht gerecht.
({10})
Sagen Sie zu den Chancen der grünen Gentechnik ein
klares Ja und machen Sie nicht solche Dinge wie die Einschränkung der Absetzbarkeit von Werbeartikeln. Wissen
Sie, was das zum Beispiel für den deutschen Weinbau bedeutet? Wissen Sie, wie viele Arbeitsplätze in diesem Bereich - völlig überflüssigerweise - verloren gehen? Diese
Politik der nationalen Alleingänge ist nicht geeignet,
weil sie unsere Lebensmittelwirtschaft, die Agrarwirtschaft nicht voranbringen wird.
({11})
Liebe Kollegin Teuchner, ich weiß - damit das völlig
klar wird -, wovon ich rede, wenn ich über diesen Bereich
spreche. Hier ist kein Mensch, der die schwarzen Schafe
in dieser Branche schützen möchte. Es ist schlicht und ergreifend Blödsinn, so etwas zu behaupten.
({12})
- Nein, das stimmt nicht!
Ich komme aus einer Region, in der sich alle - die Bauern und die Lebensmittelwirtschaft insgesamt vorweg intensiv darum bemühen, die schwarzen Schafe an den
Pranger zu stellen, weil sie den gesamten Bereich kaputtmachen. Genau das wollen wir nämlich nicht. Lassen Sie
mich aber auch klar sagen: Die Verrechtlichung des Verbraucherschutzes, sozusagen die Verordnung von oben
herab, wird Ihnen nicht glücken. Deswegen sage ich: Wir
brauchen sehr wohl die Querschnittsaufgabe Verbraucher302
schutz, aber keine Alleingänge auf dem Rücken anderer.
Das können wir nicht mitmachen.
({13})
Ich habe Ihre Koalitionsvereinbarung mit Freude gelesen. Sie enthält Abschnitte, in denen Sie feststellen, dass
Sie der Dritten Welt helfen wollen. Ich stehe in diesem
Punkt hundertprozentig an Ihrer Seite. In der Koalitionsvereinbarung steht aber auch - man muss sich das einmal überlegen -, dass der Schutz der Verbraucher vor
Gesundheitsgefährdung absoluten Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hat. Das ist doch wohl selbstverständlich. Glauben Sie ernsthaft, dass hier irgendjemand
im Haus ist, der das wirtschaftliche Interesse vor den
Schutz der Verbraucher stellt?
({14})
Glauben Sie nicht auch, dass wir alle uns diesem ethischen Grundsatz in unserer politischen Arbeit verpflichtet
fühlen? Das ist doch eine bare Selbstverständlichkeit!
({15})
Liebe Kollegin Teuchner, ich habe neuerdings für
meine liberale Partei die politische Verantwortung für diesen Bereich übernommen. Ich bin sehr gerne bereit zum
Kompromiss, aber ich lasse mich nicht in eine Ecke stellen, in der wir die Buhmänner sind, die die Menschen vergiften wollen, während Sie sich als Lebensretter darstellen. Das ist sachlich falsch.
({16})
Lieber Kollege Goldmann, Sie müssen zum Ende kommen.
Lassen Sie uns gemeinsam für eine tüchtige und wettbewerbsfähige Agrarwirtschaft kämpfen.
({0})
Lassen Sie uns die hochleistungsfähige Lebensmittelwirtschaft nutzen, um Arbeitsplätze und Investitionen zu
schaffen. Lassen Sie uns einen Verbraucherschutz realisieren, der dem Grundsatz der Eigenverantwortung des
Verbrauchers mit staatlicher Hilfe gerecht wird. Ich biete
ausdrücklich unsere Zusammenarbeit an.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Matthias Weisheit, SPDFraktion.
HerrPräsident!GeschätzteKolleginnenundKollegen!Es
ist ja ganz schön spannend geworden: lauter neue
Gesichter in diesem Politikbereich. Herr Goldmann, ich
freue mich mit Sicherheit auf konstruktive Zusammenarbeit.
({0})
Wenn Sie aber, wie es in Ihrer Rede gerade anklang, als
Lobbyist derer auftreten, die die grüne Gentechnik mit
aller Gewalt einführen wollen,
({1})
dann wird es schon einige Konflikte geben. Diese Absicht
habe ich jedenfalls als Erstes aus Ihrer Rede herausgehört.
({2})
Insgesamt hatte ich hin und wieder den Eindruck, sowohl bei Ihrem Beitrag als auch bei dem der Kollegin
Hasselfeldt - Peter Harry Carstensen wird das natürlich
nachher noch bestätigen -, dass einige noch nicht gemerkt
haben, dass der Wahlkampf vorbei ist. Nehmen Sie zur
Kenntnis, dass am 22. September eine Mehrheit der Bevölkerung die Politik der rot-grünen Bundesregierung
und damit auch die Verbraucher- und Landwirtschaftspolitik dieser Regierung bestätigt hat, indem sie die sie tragenden Parteien wiedergewählt hat.
({3})
Sie müssen sich darauf einstellen, dass wir die Verbraucherschutz- und Landwirtschaftspolitik der letzten vier
bzw. zweieinhalb Jahre fortsetzen werden. Ich will das an
zwei Beispielen verdeutlichen.
({4})
- Die Einschränkung bezog sich auf die Verbraucherpolitik. Ich habe gesagt: vier bzw. zweieinhalb Jahre. Man
sollte schon genau zuhören.
Mit meinem ersten Beispiel gehe ich auch gleich bis zur
deutschen Ratspräsidentschaft zurück, wo die Verhandlungen über die Agenda 2000 erfolgreich abgeschlossen wurden. Genau diesen Reformansatz der Agenda 2000 werden
wir fortsetzen. Da können Sie lachen oder hämisch sein.
Ich erinnere mich recht gut, wie damals bezüglich der Umsetzung der Agenda 2000 aus der Opposition die Kassandrarufe kamen, das sei der Untergang der deutschen Landwirtschaft. In der Zwischenzeit schreit jeder, wenn man an
dieser etwas ändern will, da sie doch so gut sei, dass man
daran nichts ändern dürfe.
({5})
Das ist übrigens Ihr eigentliches Problem, dass Sie immer
auf dem beharren, was da ist, und notwendigen, zukunftsorientierten Reformen eine Absage erteilen.
({6})
Bundeskanzler Gerhard Schröder
({7})
hat auf dem jüngsten europäischen Gipfel erfolgreich verhandelt, ob Sie, Frau Hasselfeldt, das nun wahrhaben wollen oder nicht.
({8})
Der zwischen ihm und dem französischen Staatspräsidenten Chirac ausgehandelte Kompromiss zur zukünftigen Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik
bietet den Landwirten in Europa einen Rahmen, auf den
sie sich auch über das Jahr 2006 hinaus verlassen können.
Wir begrüßen diesen Beschluss außerdem, weil er den
Beitritt der zehn Kandidaten ermöglicht, ohne dass der in
der Agenda beschlossene Finanzrahmen überschritten
wird.
({9})
Damit wird sowohl den finanziellen Interessen der Bundesrepublik als auch dem Interesse der deutschen Landwirtschaft an Verlässlichkeit Rechnung getragen.
Natürlich gab es auf beiden Seiten mehr Forderungen.
Wie es bei einem Kompromiss üblich ist, konnte es am
Schluss nur so Gewinner geben, indem jeder ein kleines
bisschen nachgab. Ich sage Ihnen dazu nur eines: Im Zuge
der WTO-Verhandlungen wird für den französischen
Staatspräsidenten die Stunde der Wahrheit noch kommen.
Ich bin ziemlich optimistisch, dass durch den Zwang, der
von den WTO-Verhandlungen ausgehen wird, die sture
Haltung des französischen Präsidenten in Sachen Entkopplung der Zahlungen nicht durchgehalten werden
kann und dass es zu einer Reform kommen wird.
({10})
Die Halbzeitbewertung der gemeinsamen Agrarpolitik
und die fakultative Modulation sind Bestandteile der
Agenda 2000. Deshalb ist es folgerichtig, wenn wir dafür
eintreten, den Spielraum, den die Agenda 2000 vorgibt,
auszuschöpfen.
In der europäischen und in der deutschen Öffentlichkeit bis weit in die Landwirtschaft hinein wird kritisch
hinterfragt, ob die Gelder aus Brüssel optimal eingesetzt
werden. Es stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit
etwa im Hinblick auf Grünland und Ackerland.
({11})
- Ich spreche vom Einsatz des Geldes. Da schneiden das
Grünland und die Futterbaubetriebe ganz schlecht ab. Das
weiß doch jeder von euch. Aber ihr seid die Bewahrer, ihr
wollt das belassen, was derzeit ist.
({12})
Es stellt sich auch die Frage nach Beschäftigungseffekten und dem Sinn der Fortsetzung von Marktordnungen. Auch darüber wird in der Öffentlichkeit diskutiert.
({13})
Wir müssen Antworten darauf geben, ob Umwelt-, Tierschutz- und Landschaftspflegeleistungen stärker zu honorieren sind.
({14})
Die nächste Welthandelsrunde und die Zusagen gegenüber den ärmsten Entwicklungsländern erfordern weitere
Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik. Die EU wird es
sich nicht leisten können, die WTO-Runde scheitern zu
lassen. Wir werden in den nächsten Monaten unsere Positionen in die Diskussion über die Halbzeitüberprüfung
einbringen.
({15})
- Nein, in dieser Diskussion heute brauchen wir sie nicht.
({16})
Wir haben schon vor der Bundestagswahl deutlich gemacht - ich zum Beispiel von diesem Mikrofon aus -,
dass wir die Richtung der Positionen von Franz Fischler
voll unterstützen. Daran hat sich nichts geändert. Die Entkoppelung, die Modulation und die Einhaltung von Umwelt- und Tierschutzstandards als Grundlage für Direktzahlungen werden wir weiterhin unterstützen.
Der zweite Bereich, auf den ich angesichts meiner Redezeit nur noch kurz eingehen kann, ist: Wir werden die
erfolgreiche Arbeit der Bundesregierung im Hinblick auf
Lebensmittelsicherheit und die Bewältigung von Krisen
fortsetzen. Ich will an Folgendes erinnern: Aus der BSEKrise sind wir letztendlich deshalb erfolgreich herausgekommen, weil es schonungslose Aufklärung, offene Diskussionen und ein sehr schnelles Handeln auch des
Gesetzgebers gab.
({17})
Dort, wo es notwendig ist, wird der Gesetzgeber weiter
handeln, um für die Verbraucher Offenheit und Klarheit
herzustellen.
Von diesen Bemühungen haben nicht nur die Verbraucher profitiert, sondern auch die Landwirte.
({18})
Betrachtet man die Entwicklung des Rindfleischpreises,
so ist festzustellen, dass wir heute wieder auf einem normalen Niveau sind. Die Krise ist überwunden.
Wir sind aber auch der Überzeugung, dass wir in Zukunft allein mit Gesetzen und Verordnungen sowie
schlagkräftigen Behörden Lebensmittelskandale nicht
verhindern können. Diese wird es immer geben, solange
es Menschen gibt; denn es gibt überall kriminelle Energie.
Deshalb ist eine selbstkritische Auseinandersetzung auf
allen Ebenen der Agrarerzeugung, vor allen Dingen in den
vorgelagerten Bereichen, erforderlich.
Hier hat die Landwirtschaft selbst - dazu gratuliere ich
all den Verantwortlichen, die das durchgesetzt haben - mit
der Schaffung des QS-Systems Konsequenzen gezogen.
({19})
Wir unterstützen diese Arbeit massiv. Ich bin der Überzeugung: Weitere Fortschritte sind nur durch eine Ausweitung der Zertifizierungs- und Sicherungssysteme zu
erreichen, und dies auch in anderen Bereichen als in denen, in denen das QS-System im Moment gilt.
({20})
Meine Damen und Herren, die Umsatz- und Absatzeinbrüche infolge von BSE haben wir mit traditionellen
Marktregulierungen, mit verstärkten subventionierten
Exporten und Interventionseinkäufen bewältigt. Auf
Dauer soll und kann das nicht mehr so weitergehen. Wir
erwarten, dass sich die landwirtschaftliche Produktion
stärker an Qualität und an der Nachfrage auf den Märkten ausrichtet, damit Marktintervention wirklich die Ausnahme ist.
({21})
- Dieser Zwischenruf ist nun absolut nicht richtig, Herr
Kollege Deß. Natürlich hat es Qualität gegeben. Aber wir
müssen mit höherer Qualität werben und entsprechende
Marken aufbauen. Es darf keine Ware mehr produziert
werden, die in diesem Land oder in der Europäischen Gemeinschaft nicht zu verkaufen ist. Das ist der springende
Punkt, um den es hier geht.
({22})
Wir können unsere Marktanteile nur dann vergrößern,
wenn die Waren von besonders hoher Qualität sind.
Leider bekomme ich signalisiert, dass meine Redezeit
zu Ende ist. Gestatten Sie mir aber noch eine letzte Bemerkung zu den Steuern. Warum soll ein Bauer, ein
Landwirt oder ein Gärtner steuerlich nicht gleich behandelt werden wie der Besitzer einer Pommesbude? Beantworten Sie mir irgendwann einmal diese Frage. Dann
werden Sie aufhören herumzujammern, weil es die
Durchschnittsbesteuerung nach § 13 a EStG in Zukunft
nicht mehr geben wird.
({23})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Carstensen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Matthias Weisheit, ich möchte gleich die letzte
Frage aufgreifen und eine Gegenfrage stellen: Warum soll
ein Bauer für das Futtermittel für seine Kühe 16 Prozent
Mehrwertsteuer bezahlen, während du für das Chappi für
deine Hunde keine 16 Prozent Mehrwertsteuer bezahlst?
({0})
Entschuldigung, ich begreife eure Logik nicht mehr.
({1})
Lieber Matthias, auch du hast davon gesprochen, wir
sollten nicht Wahlkampf machen.
({2})
- Dann macht das doch; das ist in Ordnung. - Der Unterschied zwischen euch und uns liegt darin - die SPD will
davon ablenken; deswegen spricht sie immer von Wahlkampf -, dass wir dasselbe sagen wie vor der Wahl. Es ist
doch die SPD, die sofort nach der Wahl etwas anderes gesagt hat!
({3})
Die Ministerin hat schon Recht, wenn sie sagt, dass Verbraucherschutz damit zu tun hat, Menschen vor Täuschung
zu schützen. Das gilt auch für die Zeit nach der Wahl.
({4})
Deswegen sollten wir den Koalitionsvertrag in unserem
Ausschuss behandeln und einmal untersuchen, ob er die
damaligen Ankündigungen enthält oder ob es Änderungen gibt.
({5})
Es ist schon interessant, was im Koalitionsvertrag steht.
({6})
Es ist interessant, wie viel der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung über Verbraucherschutz und Landwirtschaftspolitik gesagt hat.
({7})
- Diesen Zwischenruf sollten wir uns merken. Daran sehen wir, welchen Wert die Landwirtschaftspolitik und der
ländliche Raum für die Koalition überhaupt noch hat.
Jella Teuchner hat gesagt, das Ministerium sei nun ein
völlig anderes. Matthias Weisheit sieht das glücklicherweise ein bisschen anders; denn er hat wieder über Agrarpolitik gesprochen. Wenn wir über den ländlichen Raum
reden, müssen wir über die Landwirte reden. Ohne die
Landwirte dort werdet ihr eine Politik für den ländlichen
Raum nicht mehr machen können, weil sie die Stützen für
diesen Raum sind.
({8})
Peter H. Carstensen ({9})
Es ist nicht nur interessant, was man darüber im Koalitionsvertrag findet und wie lustlos Sie darüber reden, sondern es ist auch interessant, was nicht darin steht. Wir wissen, welche Herausforderungen in der Landwirtschaft auf
uns zukommen. Es gab nicht ein Wort über die agrarsoziale Sicherung, nicht ein Wort über die Berufsgenossenschaften, nicht ein Wort über die landwirtschaftlichen
Krankenkassen, nicht ein Wort über die Probleme, die wir
in den nächsten Jahren in diesem Bereich haben werden.
({10})
Wenn man die Regierungserklärung betrachtet und
dann sieht, wie gehandelt wird, dann muss man feststellen: Sie wollen zwar zukunftsfähige Landwirte haben - so
ist es in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt -, aber Sie tun
genau das Gegenteil. Sie nehmen nämlich den Landwirten die Zukunftsfähigkeit.
({11})
Wenn Sie vor Ort sind, dann können Sie feststellen,
dass die Menschen die Schnauze voll haben von dem, was
im Moment auf sie zukommt.
({12})
Sie haben die Schnauze voll von zusätzlichen Belastungen. Sie möchten arbeiten und möchten nicht, dass ihre
Arbeit bürokratisiert wird. Sie möchten ihre Betriebe weiterentwickeln. Sie möchten Eigenkapital bilden, sie
möchten investieren. Aber sie haben inzwischen keine
Lust mehr dazu - dies bereits nach zweieinhalb Jahren
Künast. Ich weiß nicht, wie das nach weiteren vier Jahren
Künast aussehen soll.
({13})
Sie wissen gar nicht, was bei den Bauern los ist, weil
Sie nicht wissen, wie die Bauern leben, denken, arbeiten
und investieren.
({14})
- Ja, ich weiß es.
({15})
Sie wissen nicht, wie sehr sich die Bauern Tag für Tag
für ihre Betriebe, ihre Tiere und ihr Land einsetzen und
auch dafür - sie sind ja gut ausgebildet -, dass ihre Produkte gut sind.
({16})
Sie sagen ihnen: Wir haben nichts für euch übrig; ihr interessiert uns nicht. Wir sind Rechner und entscheiden
über euch, ohne dass ihr eingebunden werdet.
({17})
Sie zeigen eine unerträgliche Abneigung gegen die konventionelle Landwirtschaft. Sie stellen die ökologische
Landwirtschaft als gut und die konventionelle Landwirtschaft als schlecht dar.
({18})
Das hat die Landwirtschaft nicht verdient!
({19})
Meine Damen und Herren, Sie vergessen, dass landwirtschaftliche Betriebe auch Wirtschaftsbetriebe sind.
({20})
Sie müssen Einkommen erwirtschaften und Eigenkapital
bilden und wollen auch investieren. Diesen Unternehmen
nehmen Sie die Chance, dies im ländlichen Raum umzusetzen.
Herr Kollege Carstensen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?
Aber gerne.
Herr Kollege Carstensen, sind Sie nicht mit mir einer
Meinung,
({0})
dass gerade die aktive Gestaltung, die Aufklärung und die
Transparenz, im Verbraucherschutzbereich einen Schutz
für die Landwirte im ländlichen Raum darstellt, weil sie
sonst aufgrund des mangelnden Vertrauens der Bevölkerung ihre Produkte nicht mehr absetzen könnten? Dies
war doch nach der BSE-Krise zu beobachten.
({1})
Frau Kollegin Griefahn, Sie waren ja einmal Ministerin in Niedersachsen. Deswegen möchte ich Ihnen einmal
zitieren, was Ihr Ministerkollege, Herr Bartels, vor einigen Wochen auf dem Bauerntag in Münster gesagt hat. Er
hat gesagt: Wir haben noch nie eine solch gute Qualität in
der landwirtschaftlichen Produktion gehabt.
({0})
Wir haben noch nie so sicher produziert. Wir haben noch
nie so wenig Pflanzenschutzmittel eingesetzt.
({1})
Wir haben noch nie so effektiv produziert. - Dies ist aber
doch nicht dank Rot-Grün der Fall. Sehen Sie sich doch
einmal die Entwicklung der letzten Jahre an!
({2})
- Nein, ich habe mich überhaupt nicht vertan. - Nicht
dank Rot-Grün, sondern dank der Intelligenz und der Ausbildung unserer Landwirte ist es dazu gekommen.
({3})
Sie tun laufend so, als seien unsere Landwirte diejenigen,
die durch Gift in den landwirtschaftlichen Produkten den
Menschen Krankheiten bringen. Nein, in der konventionellen Landwirtschaft wird genauso gut gearbeitet wie in
der ökologischen Landwirtschaft.
({4})
Beides hat seinen Stellenwert und beides sollte von der
Regierung und auch von Rot-Grün anerkannt werden.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, dass Sie
die Gemeinschaftsaufgabe, die auch von den Ländern
finanziert wird, gezielt zum Instrument zur Förderung der
nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum einsetzen
wollen. Sehen wir uns die Situation einmal an! Es gibt
Länder, die überhaupt nicht zur Kofinanzierung in der
Lage sind. Schleswig-Holstein zum Beispiel hat einen
Anspruch auf 54 Millionen Euro aus der Gemeinschaftsaufgabe, ruft aber in diesem Jahr 20 Millionen nicht ab.
Das heißt, Schleswig-Holstein verhindert 30 Millionen an
Zuschüssen aus der Gemeinschaftsaufgabe, von Bund
und Land gemeinsam getragen. Zusammen mit den Mitteln der EU könnte man 60 Millionen Euro generieren.
Insgesamt werden dadurch rund 180 Millionen an Investitionen im ländlichen Raum nicht getätigt, weil ein Land
nicht in der Lage ist, seinen Eigenanteil zu finanzieren.
Deswegen ist die Gemeinschaftsaufgabe leider nicht
mehr das geeignete Instrument.
Sie müssen sich auch einmal die Situation vergegenwärtigen, die demnächst auf uns zukommt. Sie werden
nämlich genau das tun, was Sie laut Koalitionsvertrag eigentlich nicht tun wollen. Sie wollen wirtschaftende und
entwickelte Betriebe, sorgen aber mit Ihrer Steuergesetzgebung dafür, dass viele aus der Landwirtschaft ausscheiden müssen. Sie werden das feststellen.
Ich darf aus dem „Stern“ zitieren. Es ist schon interessant, dass „Stern“ und „Spiegel“ - das sind ja nicht unbedingt die Kampfblätter der CDU - sich im Moment gegen
diese Koalition wenden. Im „Stern“ heißt es:
Nehmen wir den Kanzler. „Wir haben nicht die Absicht, die Steuern zu erhöhen“, ulbrichte Gerhard
Schröder Ende Juli übers Fernsehen den Bürgern zu.
Jetzt bittet er sie zur Kasse ...
Schauen Sie sich einmal an, welche Auswirkungen in
der Landwirtschaft das hat: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 7 auf 16 Prozent für so genannte Vorprodukte - das ist Saatgut, lebende Tiere, Futterpflanzen wird 1,842 Milliarden Euro kosten. Die Erhöhung der
Umsatzsteuer von 7 auf 16 Prozent für gartenbauliche Erzeugnisse - Blumen, Zierpflanzen - wird 345 Millionen Euro kosten. Die Abschaffung der umsatzsteuerlichen Durchschnittsbesteuerung wird 209 Millionen Euro
kosten. Die Abschaffung der ertragsteuerlichen Durchschnittsbesteuerung nach § 13 a des Einkommensteuergesetzes wird 30 Millionen Euro kosten.
({6})
- Alles Subventionen? Nicht Steuern zahlen heißt Subventionen? Das ist ja eine ganz tolle Diskussion, die wir
im Moment führen.
Zunächst einmal gehört den Leuten das Geld und erst
dann hat der Staat einen Anspruch auf einen Teil. Sie können doch nicht sagen, wenn ein geringerer Anspruch bestünde, bekäme man eine höhere Subvention! Nein, erst
einmal müssen sie ihr Geld verdienen und dann können
wir uns darüber unterhalten, ob hohe Steuern richtig oder
falsch sind. Hier sind sie falsch.
({7})
In der Situation, in der wir uns befinden, sind bei den
Bauern Entlastungen und nicht zusätzliche Belastungen
angesagt.
({8})
Wir haben eine Deckelung bei den EU-Kosten. Glücklicherweise gibt es eine Einigung mit Frankreich. Wir haben sie begrüßt. Frankreich sei Dank, dass der Bundeskanzler nicht informiert war, dass er schlecht vorbereitet
in das Gespräch ging und offensichtlich auch schlechte
Dolmetscher hat. Die Dolmetscherin müsste einen Orden
dafür bekommen, dass sie ihm das nicht richtig gesagt
hat!
({9})
Sonst wäre nämlich bei 39 Milliarden Euro gedeckelt
worden, so sind es 48 Milliarden Euro in 2013. Das bedeutet mehr Geld für die Landwirtschaft und das ist richtig.
Wenn Sie nach Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn gehen und die Diskussion dort führen, werden Sie sehen, dass man dort mit dem Phasing-in von 25 Prozent
nicht auskommen wird und die Landwirte bei uns mit dem
Phasing-out von wahrscheinlich 75 Prozent oder weniger
Pleite machen werden. Das ist die Situation, mit der Sie
im Moment spielen.
Darum sage ich Ihnen: Wir brauchen mehr Entlastung
und weniger Kosten für die Landwirtschaft, um die
schwieriger werdende Situation bei uns überhaupt noch
bewältigen zu können.
Fischler hat kürzlich ganz deutlich gesagt: Wo sonst
als von den Direktzahlungen für die Bauern der bisherigen EU-Länder sollen wir das Geld für die neuen Mitglieder herholen? Das heißt, die Landwirte werden belastet und zahlen für die Osterweiterung, die wir alle
gerne wollen. Wir werden uns noch wundern, wie sich
der Strukturwandel in der Landwirtschaft fortsetzen
wird.
Es war erstaunlich, wie wenig Applaus gerade von der
SPD kam, als die Ministerin geredet hat.
({10})
Peter H. Carstensen ({11})
Peter H. Carstensen ({12})
Ihr wisst es, aber ihr lasst euch im Moment die Kompetenz für die Agrarpolitik völlig aus der Hand nehmen.
({13})
- Ja, das ist eine Belehrung und vielleicht auch eine Hilfe.
Wir werden in eine Situation kommen, die gekennzeichnet sein wird durch schwieriger werdende Bedingungen in der Landwirtschaft durch WTO-Verhandlungen und durch die Osterweiterung. Fischler hat gestern in
einer Rede gesagt - auch das will ich zitieren -: Die Einigung schafft Planungssicherheit für die Politik, heißt aber
auch, dass künftig alle neuen Reformkosten von den bisherigen Nutznießern des Agrarbudgets getragen werden
müssen. - Das heißt Belastung für die Landwirtschaft.
Wenn wir in diese Situation kommen, dann brauchen wir
eine Entlastung auf der Kostenseite. Deswegen wundert
es mich, dass im Koalitionsvertrag nicht ein einziges Wort
über die agrarsozialen Sicherungen steht, nicht ein einziges Wort über eine Neuordnung, die dringend notwendig
ist, nicht ein einziges Wort über Kostenentlastung bei
Steuern; stattdessen werden zusätzliche Kosten durch
Steuern beschlossen.
({14})
Da die obligatorische Modulation der EU offensichtlich weit nach hinten geschoben wird - so wird es zumindestens behauptet -, fordere ich Sie, Frau Künast, auf:
Nehmen Sie Abstand von der Durchführung Ihres Modulationsgesetzes!
({15})
Sorgen Sie dafür, dass dieses Gesetz am 1. Januar nicht in
Kraft tritt! Dieses unsinnige Gesetz belastet die Landwirte
und es bringt nichts
({16})
für diejenigen Produkte und für diejenigen Vorstellungen,
die Sie mit dem Modulationsgesetz fördern wollen. Sie
werden ein bürokratisches Monstrum aufbauen,
({17})
das dazu führt, dass Bayern - Bayern gibt 800 Millionen
DM bzw. 400 Millionen Euro für Naturschutz im ländlichen Raum aus - nicht weiß, was es mit den zusätzlichen
Mitteln machen soll.
({18})
Dieses bürokratische Monstrum führt außerdem dazu,
dass Schleswig-Holstein nicht weiß, wie es die Kofinanzierung bezahlen soll, und dass Rheinland-Pfalz 1,3 Millionen DM an Verwaltungskosten haben wird, um
800 000 DM ausgeben zu können. Frau Künast, sorgen
Sie dafür, dass dieses unsinnige Gesetz nicht in Kraft gesetzt wird! Damit würden Sie den Bauern helfen.
({19})
Kollege Carstensen, Sie müssen bitte zum Ende
kommen.
Das werde ich sofort tun, Herr Präsident. - Auch im
landwirtschaftlichen Bereich gilt - ich zitiere meine Fraktionsvorsitzende -:
Rot-Grün macht arm.
Herzlichen Dank.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen schließlich zu den Themenbereichen
Soziales und Gesundheit. Ich erteile das Wort der Bundesministerin Ulla Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Die fliehen nicht, die wechseln nur die Plätze. - Am
22. September haben die Wählerinnen und Wähler uns
den Auftrag gegeben, unsere Reformpolitik fortzusetzen.
({1})
Die Menschen wissen, dass wir eine Politik der Erneuerung, der sozialen Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit
machen.
Wir sind es gewesen, die in den letzten vier Jahren
dafür gesorgt haben, dass in Zukunft keine Rentnerin und
kein Rentner zum Sozialamt gehen muss, weil die Rente
nicht ausreicht. Wir haben dafür gesorgt, dass Rentnerinnen und Rentner, die unseren Wohlstand jahrzehntelang
mit erarbeitet haben, künftig Anspruch auf eine soziale
Grundsicherung haben, auch wenn sie keine ausreichenden Rentenansprüche erworben haben, weil sie Familienarbeit geleistet haben oder geringfügig beschäftigt waren. Dieses Vorhaben wird ab dem 1. Januar 2003
umgesetzt.
({2})
Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass bei
der Rente zukünftig eine private Säule die gesetzliche ergänzt. Damit haben wir die Altersvorsorge zukunftsfest
gemacht. Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben,
dass schwerbehinderte Frauen und Männer wieder neue
Chancen am Arbeitsmarkt erhalten und ihre Leistungsfähigkeit anerkannt wird.
({3})
Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass die
medizinische Versorgung in Zukunft verbessert wird, insbesondere für chronisch kranke Menschen. Wir sind es
gewesen, die von den Wählerinnen und Wählern den Auftrag erhalten haben, in den nächsten vier Jahren unsere
Reformpolitik der sozialen Sicherung bei der Rente und
bei der Gesundheit konsequent fortzusetzen.
({4})
Für uns ist klar: Eine starke soziale Sicherung und wirtschaftliches Wachstum sind keine Gegensätze, sondern
sie gehen Hand in Hand.
Deutschland ist auch im internationalen Vergleich mit
seinem solidarischen System der sozialen Sicherung in
den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich gut gefahren. Unser
ökonomischer Erfolg basiert zu einem guten Teil auf einer
starken sozialen Sicherung. Es sollte nie vergessen werden: Solidarität macht Leistungsfähigkeit erst möglich.
({5})
Dies ist auch der Grund dafür, warum viele Menschen
uns um unseren Sozialstaat, um unser Rentensystem und
um unser Gesundheitswesen beneiden. Weil dies so ist,
werden wir den Sozialstaat für die Zukunft sichern.
Wir wissen alle, dass Handlungsbedarf besteht, Handlungsbedarf, der sich aus der demographischen Entwicklung ergibt, der sich auch aus der erfreulichen Entwicklung ergibt, dass die Menschen heute älter werden als
früher, der sich aus dem medizinischen Fortschritt und
veränderten Erwerbsbiografien ergibt. Handlungsbedarf
ergibt sich auch aus der aktuellen konjunkturellen Situation, die mit einem Einbrechen der Einnahmen einhergeht. Dadurch werden die sozialen Sicherungssysteme
zusätzlich herausgefordert.
Das neu geschaffene Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung ist eine Antwort auf diese
Herausforderungen. Es eröffnet Chancen, die Kräfte zu
bündeln, Chancen, die Reformen der sozialen Sicherungssysteme künftig aus einer Hand auf den Weg zu bringen. Wir werden diese Chancen nutzen. Wir werden Synergieeffekte nutzen, um deutlich mehr Effizienz in die
- seien wir einmal ehrlich - manchmal auch schwerfälligen Systeme zu bringen.
({6})
- Wenn ich Ihren Reden zuhöre, habe ich manchmal das
Gefühl, die Größe von manchen zeigt sich auch darin, wie
sie in der Lage sind, eine Niederlage zu verarbeiten.
({7})
In der heutigen Arbeitswelt sind Flexibilität und Mobilität gefordert. Die wenigsten Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer sind heute lebenslang in einem Beruf tätig,
geschweige denn bei einem Arbeitgeber beschäftigt. Einmal erworbene Qualifikationen reichen immer weniger
für das ganze Berufsleben aus. Von den Menschen wird
sehr viel Mut zur Veränderung gefordert. Ich sage aber
auch deutlich: Wer diesen Mut zur Veränderung fordert,
der muss gleichzeitig dafür sorgen, dass niemand auf sich
allein gestellt bleibt, sondern dass die Solidargemeinschaft da ist, um ihn, wenn es nötig ist, aufzufangen.
({8})
Deswegen modernisieren wir den Arbeitsmarkt. Wir sichern gleichzeitig den sozialen Rückhalt für die Menschen. Wir stehen dafür, dass Risiken wie Krankheit, Unfall oder Behinderung auch in Zukunft vom Sozialstaat
abgesichert sind. Wir stehen dafür, dass der Sozialstaat ein
Leben im Alter in Würde und sozialer Sicherheit garantiert. Wir stehen dafür, dass unsere Gesellschaft ihr soziales Gesicht behält.
({9})
Die Bundesregierung wird die notwendigen Strukturreformen am Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen
durchführen.
({10})
Bei der Rente werden wir das Besteuerungsurteil sozial
und gerecht umsetzen. Auch dies ist eine Strukturreform,
die weit in die Zukunft weist.
Unsere Ausgangsposition ist gut. Wir haben in
Deutschland in den letzten 50 Jahren ein hervorragendes soziales Netz geschaffen. Wir müssen den Sozialstaat nicht neu erfinden, aber wir müssen das Haus der
sozialen Sicherung in Deutschland dort, wo es notwendig ist, ausbauen, modernisieren und zukunftsfähig machen.
Wir haben mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode den Grundstein dafür gelegt, dass mit dem
Aufbau der kapitalgestützten Säule neben der umlagefinanzierten Säule eine Antwort auf die demographische
Entwicklung gegeben wird, die auch in Zukunft die Rente
sicher machen wird.
Wir werden mit der Gesundheitsreform im kommenden Jahr eine Strukturreform auf den Weg bringen, die
sich vorrangig mit der Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen befasst und dafür sorgt, dass wir über Effizienz- und Effektivitätssteuerung dahin kommen, dass in
diesem System jeder Euro zielgenau ausgegeben wird.
Dies ist notwendig für die Menschen und für die Akzeptanz.
({11})
Langfristig werden wir uns mit der Sicherung der Einnahmesituation in allen sozialen Sicherungssystemen
auseinandersetzen müssen.
({12})
Deshalb werde ich eine Kommission einsetzen, die die
langfristigen Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme an den vielfältigen Anforderungen des
gesellschaftlichen, des sozialen Wandels und auch des
Wandels in der Arbeitswelt und in den Erwerbsbiografien
orientiert, sie aber auch daran orientiert, dass wir ein
Europa wollen, in dem die Freizügigkeit für die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltagsleben gilt, insbesondere bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen.
Diese Freizügigkeit soll im Alltag tatsächlich spürbar und
erfahrbar werden. Die Kommission wird uns Vorschläge
unterbreiten. Wir werden nach einer breiten Diskussion,
hoffentlich auch hier im Hause, die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen.
Wir werden das Haus der sozialen Sicherung für die
Zukunft gut ausrüsten, indem wir Qualität und Effizienz
in der sozialen Sicherung voranbringen. Für die Rente
heißt das: Wer jahrelang gearbeitet und Beiträge gezahlt
hat, hat im Alter Anspruch auf ein anständiges Auskommen. Junge Beitragszahler werden nicht über Gebühr beansprucht. Wir haben dafür gesorgt - wir werden das auch
in Zukunft tun -, dass die Lasten gerecht zwischen den
Generationen verteilt werden, weil nur so die Rente zukunftsfähig bleiben kann. Für die Gesundheit heißt das:
Wer krank wird, hat einen Anspruch auf das medizinisch
Notwendige und Angemessene, unabhängig von seinem
Geldbeutel. Auch morgen muss gelten, dass die Jungen für
die Alten einstehen; die, die mehr verdienen, für die, die
weniger verdienen; die Gesunden für die Kranken. Nur so
bleibt auch die Gesundheitsversorgung zukunftsfähig.
({13})
Bei allen Reformen halten wir an der Solidarität fest.
Wir werden sie stärken, in der Renten- wie in der Krankenversicherung. Aber eines ist ebenfalls klar: Solidarität
funktioniert nur, wenn alle mitmachen. Wir wollen, dass
möglichst viele Menschen erwerbstätig sind und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Wir wollen, dass aus Menschen, die heute arbeitslos sind, morgen wieder Steuerund Beitragszahler werden.
({14})
Das ist das Ziel unserer Arbeitsmarktreform und das ist
auch die Grundlage für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme.
({15})
Neben kurzfristig greifenden Maßnahmen bei der
Rente und im Gesundheitswesen werden wir strukturelle
Erneuerungen vornehmen, die die Zukunft sichern.
({16})
Lassen Sie mich eines klarstellen - das wird ja wohl
niemand bezweifeln; ich sage das noch einmal an die
Adresse der Kollegin Hasselfeldt -: Die Riester-Rente ist
ein Erfolg.
({17})
Sie ist ein Erfolg, weil wir mit der Riester-Rente etwas geschafft haben, wozu Sie 16 Jahre lang nicht in der Lage
waren, nämlich den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich neben der umlagefinanzierten Rente eine kapitalgestützte Säule der Altersversorgung aufzubauen.
({18})
Die jungen Menschen von heute sollen wissen, dass sie
dann, wenn sie in Rente gehen, eine ihren Lebensstandard
sichernde Altersversorgung haben und ein ausreichend
hohes Einkommen erhalten werden.
({19})
Wir haben mit diesen beiden Säulen einen Weg eröffnet, der es möglich macht, dass diejenigen, die Hilfe nötig
haben, sie durch staatliche Unterstützung bekommen. Wir
werden am Ende dieses Jahres Bilanz ziehen müssen.
({20})
Denn es gibt viele Tarifverträge, in denen die RiesterRente abgesichert worden ist. Viele Menschen werden
sich noch im Dezember dazu entscheiden, für sich die kapitalgestützte Säule aufzubauen.
({21})
Es bringt überhaupt nichts, wenn man Erfolge kaputtredet. Wir werden die Entwicklung am Ende dieses Jahres und auch darüber hinaus weiter beobachten müssen.
Wir wollen die zweite, die kapitalgestützte Säule als tragendes Element der Alterssicherung der Zukunft aufbauen. Wir werden die notwendigen Begleitmaßnahmen
auf den Weg bringen.
({22})
Wir stehen dafür, dass die über 50-Jährigen nicht zum
alten Eisen gehören werden. Wir brauchen ihre Kompetenz und Fähigkeiten dringender denn je. Ich finde es beklagenswert, dass viele Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen
in dieser Frage viel zu kurzfristig denken. Wir sind uns
in diesem Hause alle darüber einig, dass wir alles dafür
tun müssen, dass das faktische Renteneintrittsalter mit
dem gesetzlichen Renteneintrittsalter übereinstimmt. Wir
müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die 50, 55 oder
58 Jahre alt sind, bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter
erwerbsfähig sein können und Arbeitsplätze finden.
({23})
Deswegen appelliere ich von dieser Stelle aus an diejenigen aus dem Unternehmerlager, die immer wieder danach
rufen, dass wir eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit
brauchen, endlich dafür zu sorgen, dass die Frauen und
Männer, die bis zum 65. Lebensjahr erwerbstätig sein
wollen, dies auch sein können. Das muss zunächst angegangen werden, bevor man sich weitergehenden Forderungen zuwendet.
({24})
Darüber sind wir uns einig. Wir sehen ja in diesem Hause:
Mit 50 gehört niemand zum alten Eisen. Wenn hier gelten
würde, was in der Wirtschaft gilt, wäre ein Großteil von
uns überhaupt nicht mehr hier.
({25})
Deshalb, meine Damen und Herren, wird mein Kollege
Clement bei der Arbeitsmarktreform meine Unterstützung
({26})
und die Unterstützung des Hauses haben. Es muss unsere
gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass Menschen in Arbeit kommen und so zu Beitragszahlern und
Beitragszahlerinnen werden.
In der Gesundheitspolitik fördern wir die Eigenverantwortung der Menschen. Wir definieren Eigenverantwortung aber etwas anders, als es manchmal von der rechten Seite dieses Hause zu hören ist.
({27})
Eigenverantwortung bedeutet für uns nicht, dass die Menschen immer mehr Geld privat auf den Tisch legen müssen. Eigenverantwortung bedeutet für uns, die Kompetenz der Menschen, für ihre eigene Gesundheit sorgen zu
können, zu stärken sowie Anreize für Prävention und für
Vorsorge zu setzen. Den Menschen muss bewusst sein: Jeder hat nur dieses eine Leben. Wer fit ins Alter gehen will,
der muss früh anfangen, vorzusorgen und Verantwortung
für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Das ist Eigenverantwortung im besten Sinne des Wortes.
({28})
Wir haben hierzu mit der Stärkung der Patientenrechte,
den strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke und dem Ausbau von Prävention und Gesundheitsförderung die Voraussetzungen geschaffen. Diesen Weg werden wir in den nächsten vier Jahren fortsetzen
und wir werden die Möglichkeiten ausbauen.
Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sind weitere strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen nötig. Die Leistungsseite muss dabei in den
Mittelpunkt rücken. Qualität und Wirtschaftlichkeit, Steuerungseffizienz und Transparenz, solidarischer Wettbewerb um die besseren Behandlungskonzepte, das sind die
Ziele, um die es gehen muss.
Jeder muss auch in Zukunft die Behandlung bekommen, die medizinisch angemessen und notwendig ist. Wir
werden aber genau prüfen müssen, was wir uns im Interesse der Patientinnen und Patienten leisten müssen und
was wir uns nicht leisten sollten.
({29})
Das wird die Aufgabe sein. Ich bin entschieden dafür,
dass die Krankenkassen nur noch die Leistungen bezahlen, die wirklich, wissenschaftlich nachgewiesen, nutzen,
({30})
um eine Krankheit zu erkennen und zu bekämpfen oder
Schmerzen zu lindern.
Ich bin entschieden dafür, dass die Krankenkassen die
Qualität der erbrachten Leistungen zur Voraussetzung für
Verträge machen und nicht Gewohnheitsrecht. Ich sage
hier ganz klar: Ich akzeptiere, dass hochwertige medizinische Leistungen ihren Preis haben. Leistungen müssen
ihren Preis aber auch wert sein. In unserem Gesundheitswesen muss durchgängig auf qualitätsgesicherter Basis
und effizient gearbeitet werden.
({31})
Leistungen müssen aufeinander abgestimmt werden.
Doppel- und Parallelbehandlungen müssen vermieden
werden. Nur so können wir auch in Zukunft Gesundheit
für alle bezahlen. Nur so kann jeder eine hoch stehende
medizinische Versorgung erhalten.
({32})
Letztlich geht es bei unserer Gesundheitsreform um
die Lebensqualität der Menschen, um den Verbraucherschutz und um das Kostenbewusstsein. Die konsequente Prüfung des Nutzens von Therapien, Technologien und Arzneimitteln, die Fortbildungsverpflichtung
für Ärztinnen und Ärzte und die Behandlungsleitlinien
für die großen chronischen Volkskrankheiten werden
dynamische Qualitätsstandards setzen, die Lebensqualität der Menschen erhöhen und gleichzeitig die
Kosten senken.
Wir werden den Rahmen für eine Wettbewerbsordnung
um die beste Versorgungsqualität schaffen, die alle im Gesundheitswesen Tätigen anspornt, qualitätsgesichert und
effizient zu arbeiten. Mit der Möglichkeit, Informationen über die Qualität zu erhalten, werden wir dafür sorgen, dass der Qualitätswettbewerb angeregt und intensiviert wird. Damit ermöglichen wir es den Patienten und
Patientinnen, mit ihren Füßen abzustimmen; sie wissen
nämlich, wo sie Qualität erhalten.
({33})
Der Ausbau der integrierten Versorgung, die Stärkung
der Hausärzte als Lotsen, die verbesserte Abstimmung
zwischen Haus- und Fachärzten, Krankenhäusern und
Gesundheitszentren und die flächendeckende Einführung
der elektronischen Gesundheitskarte - all dies wird den
Patienten nutzen, die Kosten senken und die Beiträge stabil halten.
({34})
Wir werden diese Strukturreformen angehen und durch
ein Vorschaltgesetz kurzfristig erste Schritte unternehmen, damit wir Luft schaffen, um diese Reformen umzusetzen.
({35})
Dieses Vorschaltgesetz wird von allen Leistungserbringern einen Beitrag zum Sparen einfordern. Es wird aber
kein Gesetz sein, durch das notwendige Behandlungen
und Strukturmaßnahmen blockiert werden.
({36})
Es wird zum ersten Mal ein Vorschaltgesetz erlassen - das
steht im Gegensatz zu den Vorhaben während Ihrer Regierungszeit -, durch das Sparpotenziale erschlossen werden, ohne medizinisch notwendige Leistungen für die
Versicherten zu kürzen oder sie über Zuzahlungen zur Finanzierung dieser Sparbeiträge heranzuziehen.
({37})
Meine Damen und Herren, den Weg, den wir in der
Behindertenpolitik eingeschlagen haben, werden wir
weitergehen. Wir sind nämlich der Meinung, dass es allen
Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden muss,
an allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens
gleichberechtigt und selbstbestimmt teilzuhaben. Dies
wird mit dem SGB IX, dem Sozialgesetzbuch - Neuntes
Buch -, gesetzlich geregelt.
({38})
Es wird darauf ankommen, dafür zu sorgen, dass das, was
wir gesetzlich geregelt haben, im Alltag auch überall umgesetzt wird. Das wird auch in der Behindertenpolitik die
Hauptaufgabe sein.
Wir werden eine Sozialhilfereform auf den Weg bringen, durch die das Konzept von „Fördern und Fordern“
auch in der Sozialhilfe umgesetzt wird und durch die den
Menschen die Möglichkeit gegeben wird, ihr Leben
selbstbestimmt zu gestalten. Damit geben wir ihnen die
Chance, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Wir haben in den kommenden vier Jahren viel vor.
({39})
Ich hoffe, dass wir - jenseits von aller Wahlkampfrhetorik - in diesem Hause über die für Deutschland sehr wichtigen Fragen der sozialen Sicherung und der sozialen Gestaltung unseres Gemeinwesens gemeinsam beraten und
zu gemeinsamen Beschlüssen kommen werden.
Vielen Dank. Ich glaube, gemeinsam schaffen wir das.
({40})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Seehofer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu allererst ist es bemerkenswert, dass ein größerer
Teil der SPD-Bundestagsfraktion den Saal wieder betreten hat, nachdem sich abzeichnete, dass Frau Schmidt mit
ihrer Rede zum Ende kommt.
({0})
Der zweite Punkt. Es ist ärgerlich: Die deutsche Sozialversicherung befindet sich in der größten Krise seit
ihrem Bestehen und Frau Schmidt speist das deutsche
Parlament mit nichts sagenden Allgemeinplätzen ab.
({1})
Wir werden es in den nächsten Tagen erleben: In Wahrheit plant sie drastische, schamlose Eingriffe in das deutsche
Sozialsystem.
({2})
Drastisch und dreist, weil ich vor gut einem Monat noch
ganz andere Töne von Frau Schmidt gehört habe. Ich habe
mit ihr etliche Fernsehdiskussionen bestritten. Ich habe
auf die wahre dramatische Lage der deutschen Sozialversicherung hingewiesen. Frau Schmidt hat auch in der Öffentlichkeit immer geantwortet: Das alles ist Panikmache.
Die Krankenversicherung wird Ende des Jahres einen
ausgeglichenen Haushalt haben.
Jetzt sind vier Wochen vergangen. Die deutsche Krankenversicherung schwebt in akuter Lebensgefahr. Nun
kann es nicht schnell genug gehen. In der nächsten Woche
soll ein Gesetz eingebracht werden, das noch im November verabschiedet werden soll. Das ist bei einem so ernsten Thema ein schamloses Verfahren gegenüber dem
deutschen Parlament. Bevor der Gesetzentwurf überhaupt
eingebracht ist, bittet man uns, Sachverständige für eine
Anhörung zu benennen, obwohl wir gar nicht wissen, was
in dem Gesetzentwurf steht. Das ist ein reines Tollhaus.
({3})
Es ist dreist, Frau Schmidt, dass Sie noch vor gut vier
Wochen gesagt haben: Die Finanzen der Krankenversicherung sind ausgeglichen. Jetzt müssen Sie Milliar312
dendefizite einräumen. Lügen haben kurze Beine. Sie
wussten um die Situation der deutschen Krankenversicherung. Sie haben die deutsche Öffentlichkeit wider besseres Wissen angelogen. Sie haben sich moralisch disqualifiziert. Sie haben den Menschen vor der Wahl die
Unwahrheit gesagt.
({4})
Deshalb, Frau Schmidt, glauben wir Ihnen kein Wort
mehr. Keine Prognose von Ihnen trifft zu. Ihre Auffassungen zu den Dingen drehen sich schneller als ein Ventilator. Es ist schamlos, was Sie jetzt vorhaben. Man muss
sich einmal vergegenwärtigen, worauf die Probleme des
deutschen Gesundheitswesens zurückzuführen sind.
({5})
Es ist nicht das Unvermögen der Bevölkerung, wie uns der
Kanzler einreden wollte, die nicht leistungsbereit sei und
zu wenig für unser Land tue. Es ist nicht das Unvermögen
der Beteiligten des Gesundheitswesens. Die aktuellen Probleme des deutschen Gesundheitswesens sind alleine auf
das Unvermögen dieser Bundesregierung zurückzuführen.
({6})
Die Spitzenverbände der deutschen Krankenversicherungen haben vor wenigen Tagen erklärt: Die in der Vergangenheit praktizierte Schwächung der Finanzen der
GKV zur Entlastung anderer Sozialversicherungszweige
bzw. der öffentlichen Haushalte - das sind die berühmten
Verschiebebahnhöfe, mit denen sich die Bundesregierung
zulasten der deutschen Krankenversicherung entlastet ({7})
schwächt die gesetzlichen Krankenkassen in den Jahren
2002 und 2003 bereits mit 4,5 Milliarden Euro. So die
deutschen Krankenkassen.
({8})
Die deutschen Krankenkassen haben festgehalten: Ohne
diese Belastung hätten die Beitragssätze in der Krankenversicherung stabilisiert werden können.
Jetzt aber folgt die Kontinuität im Irrtum. Mit diesen
Verschiebebahnhöfen geht es nämlich weiter. Das meiste,
was Herr Clement hier gestern vorgestellt hat,
({9})
ist ein Verschiebebahnhof zulasten der Kranken- und Rentenversicherung. Die Einnahmeschwächung, die Frau
Schmidt beklagt hat, ist zuallererst darauf zurückzuführen, dass diese Regierung die Beiträge für die
Arbeitslosenhilfebezieher an die Krankenversicherung
drastisch gesenkt hat. Das hat nicht nur dazu geführt, dass
diese Menschen später eine niedrigere Rente haben werden, insbesondere in den neuen Bundesländern, sondern
auch dazu, dass die Einnahmen der Krankenversicherungen drastisch vermindert wurden.
({10})
Auf diesem fehlerhaften Weg wird fortgefahren. Der
neue Verschiebebahnhof nach den neuen politischen
Maßnahmen wird die Krankenversicherung erneut mit
weit über 1 Milliarde Euro belasten.
Ich halte fest: Erste politische Ursache für die akute
Finanznot der gesetzlichen Krankenversicherung sind die
politischen Fehler, die Rot-Grün in den letzten Jahren und
in der Gegenwart gemacht hat.
({11})
Hinzu kommt, dass allein zwei Leistungsbereiche
durch politisches Unvermögen in den Sand gesetzt worden sind. Den einen Fehler haben Sie persönlich zu
verantworten, Frau Schmidt. Sie haben die Arzneimittelbudgets aufgehoben, ohne gleichzeitig eine Strukturreform im Gesundheitswesen durchzuführen.
({12})
Das hatte zur Folge, dass die Arzneimittelausgaben in Ihrer Regierungsverantwortung um 30 Prozent oder um
annähernd 9 Milliarden DM gestiegen sind.
({13})
Sicherlich wird niemand behaupten, dass der Bedarf an
medizinischer Versorgung in diesem Sektor in demselben
Umfang gestiegen ist.
Sie haben den weiteren Fehler begangen, die von uns
eingeführte Selbstbeteiligung so zu ändern, dass in der
gesetzlichen Krankenversicherung derjenige der Dumme
ist, der sich nicht die größte Packung verordnen lässt. Für
eine kleine Packung mit 25 Pillen sind vier Euro Zuzahlung zu leisten, für eine große Packung mit 100 Pillen fünf
Euro - in unserer Regierungsverantwortung war die
Spreizung wesentlich größer -; das hat zur Folge, dass
verständlicherweise niemand mehr bereit ist, bei nur einem Euro Unterschied auf die 75 Pillen in der größeren
Packung zu verzichten. Das war ein verheerender politischer Fehler, der zu der Explosion der Arzneimittelausgaben geführt hat.
({14})
Die Verwaltungskosten innerhalb der gesetzlichen
Krankenversicherung sind in Ihrer Regierungsverantwortung um 15 Prozent oder annähernd 2 Milliarden gestiegen, und zwar nicht, weil die Krankenkassen unwirtschaftlich arbeiten, sondern weil Sie durch Paragraphen,
Reglementierung, Gesetze und planwirtschaftliche Maßnahmen die Bürokratie in den Krankenkassen verstärkt
haben.
({15})
Beides zusammengenommen - die politisch indizierte
Arzneimittelexplosion plus der explosionsartige Anstieg der
Bürokratie und der Verwaltungskosten - belastet die gesetzliche Krankenversicherung gegenwärtig mit 10 Milliarden
DM bzw. 5 Milliarden Euro. Das heißt, wenn Sie diese politischen Fehler nicht begangen hätten, würde die gesetzliche Krankenversicherung trotz der schwierigen Wirtschaftslage im Moment kein Defizit schreiben.
({16})
Die akute Finanznot der gesetzlichen Krankenversicherung ist Ausdruck des Unvermögens dieser Regierung.
Das ist die Folge Ihres Verschiebebahnhofs und politisch
falscher Maßnahmen.
Was ist zu tun? Es muss vor allem mit dem Irrglauben
Schluss gemacht werden, dass soziale Gerechtigkeit,
hohe Qualität in der medizinischen Versorgung und wirtschaftliche Effizienz durch Reglementierung und staatliche Bürokratie gewährleistet werden können.
({17})
Die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit durch eine
staatlich kontrollierte Verteilungsorganisation hat sich
endgültig als wirklichkeitsblind erwiesen.
({18})
Das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass die Menschen in unserem Lande so hohe Krankenversicherungsbeiträge zahlen
wie nie zuvor und gleichzeitig die Versorgungsqualität so
schlecht geworden ist wie nie zuvor. Beitragserhöhungen
und Leistungssenkungen sind das Ergebnis Ihrer verfehlten Politik.
({19})
Was ist zu tun? - Wir sagen es seit Jahren. Wir haben
es auch im Wahlkampf gesagt und haben im Gegensatz zu
Ihnen keinen Anlass, unsere Position nach der Wahl zu ändern. Die erste und wichtigste Aufgabe ist eine andere
Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik, um in
Deutschland eine wirtschaftliche Dynamik auszulösen
und mehr Arbeitsplätze zu schaffen; denn dies ist das A
und O für die Einnahmen der Krankenversicherung. An
dieser Stelle müssen Sie ansetzen.
({20})
Das Zweite, was Sie tun müssen, Frau Schmidt, ist, die
neuen Verschiebebahnhöfe zugunsten des Ministers für
Wirtschaft und Arbeit zu verhindern. Es wäre richtig und
ein Ausdruck von Tapferkeit, die Fehler im eigenen Laden
zu vermeiden, statt die Öffentlichkeit zu beschimpfen,
dass sie sich angeblich falsch verhalte.
({21})
In der Strukturreform haben Sie den großen Fehler gemacht, unsere Gesundheitsreform zurückzunehmen.
({22})
Wenn Sie die Gesundheitsreform des Jahres 1997 nach
der Bundestagswahl nicht aufgehoben hätten, dann hätten Sie gegenwärtig weder die Finanzierungs- noch die
Qualitätsprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({23})
Das war ein kolossaler politischer Fehler. Hinzu kommen
noch Ihre eigenen Fehler in den vergangenen vier Jahren.
Bei einer Strukturreform müssen Sie von den planwirtschaftlichen Elementen Abschied nehmen und im Kern
drei oder vier Punkte realisieren, die zu mehr Qualität und
zu einer höheren wirtschaftlichen Effizienz führen als Ihre
Ansätze der Bürokratie und Reglementierung. An erster
Stelle muss gerade mittel- und langfristig
stehen, das deutsche Gesundheitswesen aus dem Reparaturbetrieb herauszuholen und in der Bundesrepublik
Deutschland mehr Prävention durch finanzielle Anreize
zu realisieren.
({24})
Zweitens. Das deutsche Gesundheitswesen muss aus
der Dunkelkammer heraus. Bisher weiß niemand der Beteiligten, was dort stattfindet. Es ist höchste Zeit, dass die
Versicherten eine Rechnung bekommen, aus der sich ergibt, was geleistet und wie abgerechnet worden ist. Es ist
höchste Zeit, dass die Ärzte eine Gebührenordnung bekommen, anhand derer sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung wissen, was sie für ihre Leistungen erhalten.
({25})
Es ist schlimm, dass die Ärzte der einzige Berufsstand
sind, der zum Zeitpunkt der Dienstleistung nicht weiß,
was er für seine Leistung erhält.
({26})
Drittens. Besinnen Sie sich endlich auf ein tragendes
Element der sozialen Marktwirtschaft, nämlich auf den
Wettbewerb. Dezentralisieren Sie das deutsche Gesundheitswesen. Geben Sie den Ärzten, den Krankenhäusern,
den Apothekern und den anderen vor Ort Tätigen durch
Wettbewerb und freie Vertragsgestaltung - nicht durch
staatliche Bevormundung - die Chance, die bestmögliche
Versorgung der Patienten vor Ort sicherzustellen. Entscheiden Sie nicht alles zentralistisch, einheitlich und hinter verschlossenen Türen in Berlin.
({27})
Geben Sie den Beteiligten im Gesundheitswesen vielmehr die Gestaltungsmacht, in einen Wettbewerb um die
bestmögliche Versorgung der kranken Menschen einzutreten.
({28})
Viertens. Diejenigen, die die Krankenversicherung mit
ihren Beiträgen finanzieren, also die Beitragszahler, haben bisher so gut wie kein Mitspracherecht, wenn es um
die Gestaltung der Krankenversicherung geht. Deshalb
halten wir es für ein wichtiges Gestaltungselement, die
deutsche Sozialversicherung ein Stück weit zu demokratisieren, also auch denjenigen, die Beiträge zahlen, ein
Mitspracherecht zu geben.
({29})
Den Gedanken des Gemeinsinns mit dem der Freiheit und
den Gedanken der Eigenverantwortung mit dem der
freien Entscheidungsmöglichkeit des Bürgers zu verbinden sind Elemente eines freiheitlichen Gesundheitswesens. Räumen Sie den Versicherten endlich ein Mitgestaltungsrecht bei den Versicherungskonditionen und beim
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
durch Wahlmöglichkeiten ein! Das heißt, wer sich selbst
finanziell stärker an den Leistungen beteiligt, der hat einen geringeren Beitragssatz.
({30})
Lassen wir das die Menschen und nicht die Bürokraten
entscheiden.
({31})
Führen Sie endlich Mitentscheidungsmöglichkeiten
von chronisch kranken Menschen in der gesetzlichen
Krankenversicherung ein. Machen wir Schluss damit, dass
Funktionäre über die Köpfe der chronisch kranken Menschen hinweg entscheiden. Beziehen wir die chronisch
kranken Menschen und ihre Selbsthilfegruppen vielmehr
in die Politikberatung und in die Entscheidungen der gesetzlichen Krankenkassen mit ein. Das wäre die richtige
Antwort in der deutschen Gesundheitspolitik.
({32})
Sie fallen in die Zeiten der Reglementierung zurück.
Sie verordnen Nullrunden und wollen den Menschen
weismachen, dass damit keine Qualitätseinbußen in der
Gesundheitsversorgung verbunden seien. Nullrunden für
die deutschen Krankenhäuser bedeuten aber in Wahrheit,
dass die Krankenhäuser im nächsten Jahr nur noch zwei
Möglichkeiten haben: Entweder entlassen sie Personal
oder sie schränken Leistungen ein. Die meisten Krankenhäuser werden beides tun müssen. Frau Schmidt, Sie tragen die Verantwortung dafür, dass in Deutschland noch
nie so viel Zweiklassenmedizin realisiert wurde wie derzeit. Diese Entwicklung wird sich auch noch fortsetzen.
({33})
Dann gibt es noch einen Scherbenhaufen, den Rot-Grün
angerichtet hat. Das ist die Rentenreform. Ich habe einmal
herausgesucht, was bei der Verabschiedung dieser angeblichen Jahrhundertreform vor einem Jahr von diesem Rednerpult aus gesagt worden ist. Walter Riester sagte damals:
Wir werden sicherstellen, dass in einem Zeitraum
von zehn Jahren der Rentenversicherungsbeitrag
nicht über 19 Prozent und in einem Zeitraum von
20 Jahren nicht über 20 Prozent steigen wird.
({34})
Ein Kollege aus meiner Fraktion hat damals dazwischengerufen: „Daran werden wir Sie erinnern!“
({35})
Das tun wir heute.
Ich habe schon vor einigen Monaten gesagt - ich wiederhole es, auch wenn Herr Müntefering nicht hier ist -:
Der Rentenversicherungsbeitrag von 19,1 Prozent ist
nicht zu halten, obwohl die Menschen jetzt ab 1. Januar
mehr als 15 Milliarden Euro Ökosteuer an der Tankstelle
sozusagen als Rentenbeitrag zahlen.
({36})
Wenn Sie ehrlich mit dem Thema umgehen,
({37})
müssen Sie die Beiträge von 19,1 Prozent auf mindestens 19,8 Prozent erhöhen. Weil ich zum Optimismus
aufgefordert worden bin, habe ich zugunsten der Regierung sogar noch optimistisch gerechnet, nämlich nur mit
einer Steigerung von 19,1 Prozent auf 19,5 Prozent. Frau
Schmidt, mindestens werden es aber 19,8 Prozent sein.
Sie gehen jetzt auf 19,3 Prozent und versuchen die Differenz durch einen schamlosen Griff in die Rentenreserven auszugleichen. Das wird dazu führen, dass im nächsten Herbst, also im Herbst 2003, zum ersten Mal in der
Geschichte der deutschen Rentenversicherung die Rente
auf Pump finanziert werden muss. Das zerstört das Vertrauen in die Rentenversicherung und ist des deutschen
Sozialstaats unwürdig.
({38})
Außerdem erhöhen Sie die Beitragsbemessungsgrenze. Diese beiden systemwidrigen Eingriffe werden
aber nicht ausreichen, um die Einnahmendifferenz bei
dem von Ihnen angepeilten Rentenversicherungsbeitrag
von 19,3 Prozent und dem tatsächlich notwendigen von
19,8 Prozent auszugleichen.
Deshalb prognostiziere ich heute wieder:
({39})
Entweder korrigieren Sie das schon jetzt, also noch bevor
Sie den Gesetzentwurf einbringen, und gehen auf einen
höheren Satz als 19,5 Prozent - das wäre nichts Neues;
jeder zurzeit handelnde Minister dieser Regierung hat
sich seit der Vereidigung in diesem Haus, also seit gut einer Woche, in seiner Meinung, die öffentlich gemacht
wird, mindestens einmal korrigiert ({40})
oder Sie machen es später, aber Sie werden es - das ist
bombensicher - machen müssen, und dies bei der Aussage: Wir garantieren der deutschen Öffentlichkeit, dass
der Rentenversicherungsbeitrag über zehn Jahre hinweg
nicht über 19 Prozent steigen wird.
Herr Riester sagte dann noch:
Deswegen ist diese Reform
- gemeint ist die, die vor Jahresfrist verabschiedet wurde die größte Sozialreform, die in der Nachkriegszeit
gemacht worden ist.
({41})
Man glaubt es nicht, wenn man hört, dass die größte
Nachkriegsreform aller Zeiten, die am 1. Januar mit der
Riester-Rente in Kraft getreten ist - nicht irgendwann,
sondern am 1. Januar dieses Jahres -, im Oktober völlig
aufgehoben wird, und zwar dadurch, dass der Bundeskanzler erklärt: Jetzt werden wir eine Kommission einsetzen, die eine echte Rentenreform macht.
({42})
Dass eine Jahrhundertreform nach zehn Monaten am
Ende ist, ist eine Welturaufführung.
({43})
Ich sage ganz freimütig: Wir haben auch nicht immer
Reformen gemacht, die ein Jahrhundert gehalten haben,
aber sie haben wenigstens einige Jahre gehalten. Eine Reform, die als Jahrhundertreform gepriesen worden ist, hält
nur Monate. Was sollen sich eigentlich all die Kommentatoren denken, die diese Reform gepriesen haben, weil
sie der Propaganda des Ministers geglaubt haben? Was
sollen die 2 Millionen Menschen denken, die einen Vertrag zur Riester-Rente abgeschlossen haben und jetzt feststellen, dass sich alle Rahmenbedingungen ändern werden?
({44})
Es ist ein Treppenwitz der Sozialgeschichte: Nach zehn
Monaten ist eine große Reform am Ende und es wird eine
Kommission eingesetzt, um die nächste Reform vorzubereiten.
({45})
Das deutsche Sozialversicherungssystem war in Europa über viele Jahrzehnte Modellfall. Es war ein Vorzeigemodell.
({46})
Es hat vieles überstanden und bewältigt, Millionen Vertriebene und Flüchtlinge mit guten Renten- und Gesundheitsleistungen sozial integriert, viele wirtschaftliche Rezessionen überdauert und die deutsche Einheit sozial
gestaltet. Es war eines der schönsten Ereignisse: die innere Einheit im sozialen Bereich mit den Renten und der
schnellen Übertragung des Gesundheitswesens, das optimal funktioniert hat.
({47})
Das alles hat das gute deutsche Sozialsystem bewältigt.
Vier Jahre Rot-Grün haben genügt, um dieses Sozialsystem zum Kollaps zu bringen. Das ist das Ergebnis Ihrer
Politik.
({48})
Frau Schmidt, für Ihre Planwirtschaft bestand und besteht keine Zukunft. Sie müssen einen grundlegenden
Richtungswechsel in Ihrer Politik herbeiführen: mehr Eigenverantwortung, mehr Flexibilität und freiheitliche
Muster. Dadurch werden mehr Qualität und Versorgungssicherheit gewährleistet als durch Ihre Bürokratie und Reglementierung. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie in der
deutschen Sozialgeschichte nicht als Superministerin in
Erinnerung bleiben, sondern Sie werden als die Ministerin in die deutsche Sozialgeschichte eingehen, die dieses
Sozialsystem auf dem direkten Weg in den Supergau geführt hat.
Ich danke Ihnen.
({49})
Zur Geschäftsordnung erteile ich das Wort dem Kollegen Kauder.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ich beantrage im Namen meiner Fraktion,
dass der Herr Bundeskanzler, der Herr Bundesfinanzminister und der Herr Bundeswirtschaftsminister an
dieser Debatte teilnehmen. Ein zentrales Thema deutscher Politik - wie können Lohnzusatzkosten gesenkt
werden? - wird besprochen. Die zuständigen Fachminister und der Bundeskanzler halten es nicht für nötig,
an dieser Debatte teilzunehmen. Das ist ein unerträglicher Zustand.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Küster das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kauder, ich richte mich besonders an Ihre
Adresse und an Ihre Fraktion. Sie wissen, dass zwei, drei
Minister derzeit aufgrund internationaler Verpflichtungen
unterwegs sind und darum an der Debatte nicht teilnehmen können. Dass Sie diese üblichen Regeln des parlamentarischen Lebens auch jetzt wieder missbrauchen,
zeigt, dass Sie Ihre Rolle als Opposition bisher noch nicht
gefunden haben.
({0})
Des Weiteren haben Sie gesehen, dass in dieser Debatte
alle Ministerien vertreten waren. Ich glaube, Sie wollen
ein Spielchen treiben. Wenn Sie dieses anstatt einer ordentlichen Beratung wollen, lassen wir uns gerne darauf
ein und wir können über Ihren Antrag entscheiden. Sie
werden - wie immer - verlieren.
({1})
Kollege Beck, Sie haben das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! - Nun kommen Sie erst einmal zur Ruhe.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es steht in der
Geschäftsordnung: Rede und Gegenrede!
- Wie bitte?
({0})
- Machen Sie das mit dem Präsidium aus. Wenn der Präsident mir das Wort erteilt, habe überwiegend ich das Wort
und Sie das Recht zu Zwischenrufen.
({1})
Selbstverständlich ist es das gute Recht der Opposition, Regierungsmitglieder herbeizuzitieren, wenn sie das
für sinnvoll hält. Trotzdem muss man sich fragen, ob ein
solcher Antrag jetzt, nach einer dreitägigen Debatte zur
Regierungserklärung, bei der der Bundeskanzler und
viele Mitglieder des Kabinetts ständig anwesend waren,
wirklich Sinn macht.
({2})
Ich meine, wir sollten die Mittel und Möglichkeiten
unserer Geschäftsordnung nicht durch Spielchen überstrapazieren, sondern die Debatten in diesem Hause so
führen, dass sie der Würde dieses Hauses auch gerecht
werden. Ich habe große Zweifel, ob dieser Antrag diesem
Anliegen dient. Deshalb stimmen wir dagegen.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Die FDP tritt dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU bei. Auch wir bitten um die
Anwesenheit der zuständigen Minister und des Bundeskanzlers. Es handelt sich immerhin um eine Diskussion
über die Regierungserklärung.
({0})
Die zuständigen Minister der Bundesregierung und der
Bundeskanzler an der Spitze sollten bei dieser Debatte anwesend sein. Da der Bundeskanzler selbst erklärt hat, dass
die demographische Entwicklung unseres Landes eines
der Hauptprobleme, die von dieser Regierung gelöst werden müssen, darstellt, erwarten wir die Anwesenheit des
Kanzlers und der zuständigen Minister.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag, den
Kollege Kauder gestellt hat. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wir sind uns hier vorne
nicht einig.
({0})
Meine Schriftführerin zur Rechten sagt, rechts sei die
Mehrheit. Mein Schriftführer zur Linken sagt, links sei
die Mehrheit. Also kommen wir zu unserem geliebten
Hammelsprung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, den Plenarsaal zu verlassen und dann wieder durch die entsprechende
Tür - Ja, Nein oder Enthaltung - hereinzukommen.
Können wir mit der Auszählung beginnen? - Ich bitte,
mit dem Einlass und der Zählung zu beginnen.
({1})
Ich bitte die Geschäftsführer um ein Signal, ob alle in
der Lobby versammelten Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit hatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen.
({0})
- Dann möchte ich die Geschäftsführer bitten, die noch
nicht in den Saal zurückgekehrten Kolleginnen und Kollegen zur Abgabe ihrer Stimme aufzufordern. Wir wollen
die Abstimmung in einer Minute schließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Abstimmung - ({1})
- Vor einer Minute gab es auf meine Ankündigung, die
Abstimmung in Kürze zu schließen, keine gegenteiligen
Signale.
({2})
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nunmehr werden solche zunehmend registriert. Herr Geschäftsführer, es gehört zur gefestigten parlamentarischen
Erfahrung, dass sich bei beliebiger Dauer des Abstimmungsverfahrens immer noch einzelne Kolleginnen und
Kollegen finden. Wir müssen die Abstimmung aber in einer überschaubaren und zumutbaren Zeit zum Abschluss
bringen.
({3})
Deswegen schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die
Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen.
Ich teile das Abstimmungsergebnis mit. Für den Antrag
auf Herbeirufung der Mitglieder der Bundesregierung haben gestimmt 218 Mitglieder des Bundestages, gegen diesen Antrag haben gestimmt 266 Mitglieder,
({4})
Enthaltungen gab es keine. Damit ist dieser Antrag mit
Mehrheit abgelehnt.
Wir setzen die Aussprache fort.
({5})
- Ich bitte um wenigstens ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit, insbesondere für die unmittelbar folgende Rednerin.
Als nächster Kollegin erteile ich Birgitt Bender für
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
dem Geschäftsordnungsantrag der Opposition entnommen, dass das Thema Gesundheit und Soziales für Sie das
Thema überhaupt ist. Deswegen freue ich mich, jetzt vor
vollem Hause reden zu können.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder hat Verständnis
dafür, dass sich nach dieser spektakulären Unterbrechung
die Interessen neu ordnen. Diejenigen, die der Debatte
nicht weiter folgen können oder wollen, mögen bitte den
Plenarsaal verlassen, damit diejenigen, die der Debatte
folgen wollen, den Rednern konzentriert zuhören können.
Ich bedanke mich für das Verständnis.
Bitte schön.
Danke schön, Herr Präsident.
Damit wende ich mich gleich der Opposition zu. Herr
Seehofer, Sie haben ja hier schwer zugeschlagen. Was hat
man da alles gehört: „drastisch“ und „dreist“, „schamlos“,
„Unvermögen der Bundesregierung“.
({0})
Wissen Sie, ich bin neu im Bundestag und ich bringe Erfahrungen aus der Opposition im baden-württembergischen Landtag mit. Deswegen habe ich ein Verständnis
von der Oppositionsrolle. Wir Grüne haben es uns als Opposition zur Aufgabe gemacht, nicht nur die Regierung zu
bekritteln, sondern auch selbst Reformalternativen vorzulegen.
({1})
Davon habe ich bei Ihnen nichts gehört.
Heute haben wir zum einen die alte Leier „Die Patienten sollten mehr zuzahlen“ gehört. Das kennen wir schon.
Ansonsten habe ich Vorschläge gehört, deren Umsetzung
im Koalitionsvertrag vereinbart ist, Stichwort Patientenquittung, Herr Seehofer. Da freue ich mich doch auf die
Zustimmung der Opposition, wenn wir das entsprechende
Reformgesetz verabschieden.
({2})
Wir können die Behauptung politischer Fehler im Einzelnen behandeln. Bei Herrn Seehofer hieß es: Verschiebebahnhöfe, wie schrecklich! Wie war denn das noch?
Auch ich bin nicht mehr so ganz jung und verfüge über
ein gewisses Gedächtnis: Mir ist so, als hätte die Regierung Kohl die deutsche Einheit über die Belastung der
Beitragszahler in den Sozialversicherungssystemen bezahlt.
({3})
Wir, Rot-Grün, sind es schließlich gewesen, die erst einmal dafür gesorgt haben, dass alle versicherungsfremden
Leistungen in der Rentenversicherung steuerfinanziert
werden.
({4})
Lassen Sie sich im Übrigen auch einmal gesagt sein,
dass unter der Regierung Kohl sowohl die Sozialversicherungssysteme belastet als auch immer weitere Schulden gemacht wurden. Wir aber konsolidieren den Haushalt. Es muss wohl möglich sein, die Arbeitslosenhilfe zu
reformieren, auch wenn dabei Belastungen in der Sozialversicherung entstehen, die wir dann ausgleichen.
({5})
Herr Seehofer, Sie haben gesagt, die Kostenentwicklung in den Sozialversicherungen sei allein politischen
Fehlern der Bundesregierung geschuldet.
({6})
Dazu muss ich sagen: Ganz offensichtlich übersteigt unsere Politik Ihren politischen Intelligenzquotienten.
({7})
Ich schaue mir ab und zu einmal die Tickermeldungen an.
Vor zwei Tagen, am 29. Oktober dieses Jahres, wurde ein gewisser Kollege Seehofer zitiert: Dass die Ministerin nun
plötzlich zu derartigen Sparmaßnahmen greife, geschehe
nicht aus Einsicht, sondern sei dem Druck der Ereignisse geschuldet; diese seien unter anderem die konjunkturbedingt
wegbrechenden Einnahmen der Krankenkassen. - Dazu
kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! Wenn die politische Halbwertszeit noch etwas länger wäre, dann wäre es noch besser.
({8})
Jetzt sage ich ein Wort zu den kurzfristigen Maßnahmen. Es wird diese Maßnahmen geben. Wir zimmern dieses Sparpaket mit den Werkzeugen, die für Notmaßnahmen
vorgesehen sind. Keine Frage, was einzelne dieser Maßnahmen angeht, haben wir in der Koalition noch Beratungsbedarf. Es besteht aber Einigkeit - das will ich deutlich sagen -, dass wir durch ein solches Sparpaket, das den
Beitragsanstieg verhindern wird, den Rücken für Strukturreformen, die im nächsten Jahr anstehen, freibekommen.
({9})
Das ist unser vorrangiges Ziel. Wir werden diese Reformen durchführen, ob sie Ihnen gefallen oder nicht.
({10})
Dass angesichts der kurzfristig zu erwartenden Maßnahmen jetzt der Aufschrei der Lobbyisten einsetzt, gehört
dazu wie die Kirchenglocken zum Sonntag. Damit können
wir leben. Dass sich die Opposition an die Spitze der Lobbyistenbewegung setzen wird, ist zu erwarten. Auch damit
können wir leben.
Leitlinie für Strukturreformen - das sage ich auch
klar - wird nicht der staatliche Dirigismus sein.
({11})
Leitlinie unserer Strukturreformen wird eine Stärkung
des Wettbewerbs im Gesundheitswesen sein, und zwar
eines Wettbewerbs um die beste Versorgung und um die
beste Prävention.
({12})
Anders als die Opposition organisieren wir nicht Ausstiege oder Teilausstiege aus der gesetzlichen Krankenversicherung; wir wollen und werden das Solidarsystem
zukunftsfähig machen.
({13})
Deswegen bekommen die Patientinnen und Patienten eine
neue Rolle gegenüber Ärzten und Kassen. Sie werden
gleichberechtigte Partner. Ihre Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten werden gestärkt. Wir werden bessere und
umfangreichere Beratungen durch unabhängige Beratungsstellen haben.
({14})
- Hören Sie gut zu! - Wir werden die Patientenquittung
einführen. Ich bin gespannt, was Sie dann sagen.
({15})
Es wird auch im Zusammenhang mit Fragen der Sicherstellung der Versorgung Anhörungsrechte geben. Schließlich
wird es einen Patientenbeauftragten oder eine Patientenbeauftragte geben, der oder die Erfahrungen und Anregungen
bündeln und in Reformprozesse einbringen kann.
({16})
Dies sind Aspekte demokratischer Teilhabe, durch die
das Gesundheitswesen an Qualität gewinnen und die Eigenverantwortung der einzelnen Menschen steigen wird.
Dies ist uns wichtig.
({17})
Für die Kassen heißt dies, dass sie in Zukunft nicht nur
über den Preis konkurrieren, sondern auch über Qualität;
Qualität in der Versorgung ebenso wie in der Prävention.
Sie werden also auch Einzelverträge mit den Leistungsanbietern mit festgelegtem Qualitätsniveau schließen. Anders gesagt: Mit uns wird es keinen Naturschutz für Monopole in der Gesundheitsversorgung geben. Kassen
werden unterschiedliche Profile durch Anreiz- und Bonussysteme bilden.
({18})
Für die Versicherten heißt das, dass sie sich bewusst für
Wege entscheiden können, um Krankheiten zu vermeiden. Im Krankheitsfalle haben sie Wahlmöglichkeiten
zwischen unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten.
({19})
Die Prävention wird eine eigenständige Säule, denn es
geht um die Vermeidung von Krankheiten, um die bessere
Bewältigung von gesundheitlichen Belastungen. Wenn
wir wissen, dass jedes fünfte Kind bei Schuleintritt übergewichtig ist, wissen wir auch, welche große gesellschaftliche Aufgabe wir im Interesse der Menschen wie
auch der Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens zu
bewältigen haben.
({20})
Solche Reformen verlangen von allen Beteiligten im
Gesundheitswesen die Bereitschaft, aus alten Denkmustern und Konfliktstrategien auszusteigen. Wer diese Bereitschaft hat, ist zur Mitgestaltung eingeladen.
Nun noch ein Wort zur Rente. Wir haben mit der Rentenreform für Generationengerechtigkeit gesorgt, indem
wir der gesetzlichen Altersversorgung eine weitere Säule
in Form der privaten Altersversorgung hinzugefügt haben. Wir werden jetzt auch kurzfristig Maßnahmen ergreifen, um Belastungen des Faktors Arbeit zu vermeiden.
Es ist eben nicht so - wie Sie, Herr Seehofer, gesagt haben
- dass wir hierbei in Omas Sparstrumpf langen. Es wird
vielmehr so sein, dass die Rente gezahlt wird, egal welches
Katastrophenszenario die Opposition an die Wand malt.
In die Zukunft gerichtet sage ich: Wir werden auch darüber nachdenken müssen, ob die alleinige und ausschließliche Finanzierung der Sozialversicherungen über
die abhängige Arbeit das Modell der Zukunft sein kann.
({21})
Dies wird auch eine Aufgabe der anvisierten Kommission
sein.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir wissen, es
gibt viel zu tun. Seien Sie sicher: Rot-Grün packt es an!
Danke.
({22})
Frau Kollegin Bender, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere.
({0})
Es gibt einfachere Situationen, als unmittelbar im Anschluss an einen Hammelsprung hier zu reden. Unter diesem Gesichtspunkt haben Sie das Schlimmste fast schon
hinter sich.
({1})
Ich erteile als nächstem Redner dem Kollegen Kolb für
die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man den Inhalt der
Rede der Ministerin auf die Formel bringen: Wegen Beitragsexplosion macht Frau Schmidt ’ne Kommission.
({0})
Frau Ministerin, abgesehen von dieser Ankündigung
hat sich Ihre Rede in Allgemeinplätzen erschöpft.
({1})
Dies ist beschämend, insbesondere angesichts einer
Ankündigung im Koalitionsvertrag, in dem es heißt: „Wir
machen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig.“ So steht es in der Präambel.
Wir kaschieren die auftretenden Probleme so lange es
irgend geht, hätte es heißen müssen. Noch nie hatte das
Wort Zukunftsfähigkeit so viel von einer Drohung wie im
rot-grünen Koalitionsvertrag.
({2})
Die Menschen in Deutschland verstehen sehr gut - glauben Sie mir das -, dass diese Politik ihre Zukunft nicht
sicherer macht, sondern sie um ihre Zukunft bringt.
({3})
Denn statt die sozialen Sicherungssysteme auf die Belastungen durch eine alternde Bevölkerung einzustellen, verschiebt die rot-grüne Regierung die Lasten in die Zukunft
und die Beiträge steigen und steigen. In keinem anderen
Politikfeld ist - aus meiner Sicht folgerichtig - das öffentliche Echo auf Ihre Vorschläge im Koalitionsvertrag so
vernichtend wie in der Renten- und Gesundheitspolitik und dies mit Recht.
({4})
Denn die Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze
in der Renten- und Arbeitslosenversicherung von 4500 auf
5100 Euro hat doch nichts, aber auch gar nichts mit der
Herstellung von Zukunftsfähigkeit zu tun. Sie ist nichts
anderes als eine Aktion zur kurzfristigen Geldbeschaffung, die vor allem die Leistungsträger in unserer Gesellschaft bestraft.
({5})
Besonders schlimm ist Folgendes: Schon jetzt ist klar,
dass die betroffenen Versicherten aus der Erhöhung der
Beiträge wohl später keine zusätzlichen Leistungen erwarten dürfen.
({6})
Betroffen, Frau Kollegin Lotz, ist die von Ihnen so genannte Neue Mitte, die gut verdienenden Angestellten und
Facharbeiter, die nun bis zu 1 200 Euro pro Jahr mehr in
die Sozialkassen einzahlen müssen. Meine Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, ist Ihnen eigentlich klar, dass
Sie mit dieser Maßnahme systematisch nicht nur wirtschaftlichen Leistungswillen vernichten - und zwar bei
denen, die jetzt eigentlich die Voraussetzungen für einen
neuen konjunkturellen Aufschwung schaffen müssten -,
sondern auch die Bereitschaft - und die objektive Möglichkeit - der Bürger, mehr für ihre private Altersvorsorge
zu tun?
({7})
Nicht weniger dramatisch ist die Folge der Erhöhung
der Beitragsbemessungsgrenze auch für den Arbeitsmarkt. In Firmen, in denen viele Mitarbeiter mit Monatseinkünften über 4 500 Euro arbeiten, werden die Lohnnebenkosten regelrecht explodieren. Damit steigen die
Arbeitskosten gerade in einem Bereich, in dem derzeit ohnehin bereits besonders viele Menschen von Entlassungen bedroht sind: bei Banken und Versicherungen, bei
Medienunternehmen, in der Werbeindustrie.
({8})
Frau Ministerin Schmidt, wann erkennen Sie, wann erkennt diese Bundesregierung endlich diesen Teufelskreis?
Jede Steigerung der Beitragssätze kostet Arbeitsplätze, da
die Unternehmen die steigenden Lohnnebenkosten bei
stagnierenden oder sinkenden Umsätzen durch Rationalisierung und Entlassungen auffangen müssen. Es ist ja
keine Frage des Wollens, sondern eine des Müssens. Eine
verantwortliche Geschäftsführung kann überhaupt nicht
anders, als in einer solchen Situation so zu reagieren,
wenn sie nicht den Verlust aller Arbeitsplätze des Unternehmens durch Insolvenz riskieren will.
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nichts lieber als das. Bitte sehr.
Bitte, Herr Kollege Dreßen.
({0})
Herr Kollege Kolb, Sie haben gerade die Erhöhung der
Lohnnebenkosten angesprochen. In dieser Frage gebe
ich Ihnen ja in gewisser Weise Recht. Wieso haben Sie es
dann eigentlich in Ihrer Regierungszeit zugelassen, dass
die Lohnnebenkosten von 34 Prozent auf 43 Prozent erhöht wurden? Wieso haben Sie diese Erkenntnis damals
nicht berücksichtigt und die Lohnnebenkosten nicht bei
34 Prozent gehalten? Wenn wir heute von den 34 Prozent
ausgehen könnten, dann wäre uns sehr viel wohler. Warum
haben Sie in Ihrer Regierungszeit eine derart drastische Steigerung gehabt? Eine solche Steigerung hatten wir nie; wir
haben ja angefangen, die Lohnnebenkosten abzusenken.
({0})
Herr Kollege Dreßen, ich glaube, diese Frage erklärt
auch ein Stück weit die Probleme, die Sie aktuell in der
Gesundheits- und Rentenpolitik haben. Sie richten den
Blick immer nur nach hinten,
({0})
anstatt in der konkreten Entscheidungssituation die Lösungen anzubieten, mit denen die Beiträge stabilisiert
werden können, sodass dazu beigetragen werden kann,
Entlassungen zu vermeiden.
Es nützt einem von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen in unserem Land überhaupt nichts, wenn Sie auf die
Vergangenheit verweisen. Die Menschen wollen jetzt wissen, wie ihnen geholfen werden kann und wie ihnen diese
drohenden Beitragssteigerungen erspart bleiben können.
({1})
Herr Dreßen, das Schlimme ist doch, dass in allen
Zweigen der Sozialversicherung - ob das die Rentenversicherung, die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung oder die Pflegeversicherung ist - Feuer unter
dem Dach ist. Und was machen Sie? - Sie betreiben eine
Politik nach dem Motto: Als wir nicht mehr weiter wussten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen. Das kann es
wirklich nicht sein. Angesichts täglich neuer Schreckensmeldungen rennt Rot-Grün den Problemen atemlos hinterher. Anders kann man das nicht beschreiben. Was bei
Ihnen zählt, ist Aktionismus, kurzfristiges Handeln.
({2})
Wie anders soll man es denn bezeichnen, wenn in der
nächsten Woche, am 5. November, ein Gesetzentwurf im
Deutschen Bundestag eingebracht wird und zehn Kalendertage später - Anhörung und Ausschussberatung inklusive - das Gesetz fertig sein soll? Das kann man doch
nicht mehr verantwortliche Beratung nennen.
({3})
Ich frage mich, wie Sie ein solches Vorgehen mit Ihrem
Selbstverständnis als Parlamentarier vereinbaren können.
({4})
Den Menschen, die angesichts all dessen versuchen,
der Beitragsexplosion auszuweichen, antworten Sie - wie
schon früher bei der von Ihnen so genannten Scheinselbstständigkeit - mit einer Politik der Zwangsjacke. Die
Anhebung der so genannten Versicherungspflichtgrenze
in der Krankenversicherung soll - erst nur für Berufsanfänger; jetzt, wie wir hören und lesen können, für alle
Versicherten - den Wechsel in eine private Krankenkasse
erschweren. Wir Liberale im Deutschen Bundestag befürchten: Durch derart tagesflüchtiges Handeln wird massiv Vertrauen in die Verlässlichkeit politischer Rahmenbedingungen und in die Zukunft der Sozialversicherung
zerstört.
({5})
Vor diesem Hintergrund lässt auch die Ankündigung
des Bundeskanzlers, für die Sozialversicherung eine
Kommission à la Hartz einsetzen zu wollen, wirklich
nichts Gutes erwarten. Mit rund geschliffenen Konzepten
à la Hartz lassen sich die Probleme nicht lösen. Es ist hier
schon gesagt worden: Auch die als Jahrhundertwerk angekündigte riestersche Rentenreform hat nicht einmal
zwei Jahre gehalten. Rot-Grün steht in der Rentenpolitik
vor einem Scherbenhaufen.
Deswegen gilt es jetzt, mit einer mutigen und beherzten Politik die Strukturprobleme in der Renten- und Gesundheitsversicherung zu lösen und nicht kopflos daran
herumzudoktern. Wir sind zur Mitarbeit bereit, aber nicht
mit heißer Nadel. Hier darf nichts - das sage ich sehr deutlich - über das Knie gebrochen werden. Es ist viel Zeit
verloren gegangen, weil Sie die Probleme bisher geleugnet haben.
({6})
Es ist Zeit, dass sich die rot-grüne Koalition, die vieles
verdrängt, der Einsicht stellt und wir gemeinsam ans
Werk gehen. Dieses Land hat es verdient.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind schon ziemlich geschlagen.
({0})
Der eine scheut den Blick zurück, weil er nichts anderes
sieht als einen Scherbenhaufen. Der Nächste tritt hier an
und lässt erkennen, dass er offensichtlich alles vergessen
hat. Er hat vergessen, dass er derjenige war, der die zarte
Pflanze der Prävention ausgerissen hat
({1})
und dass die Prävention und die Unterstützung der Selbsthilfe von dieser rot-grünen Koalition erst wieder eingeführt werden mussten.
({2})
Im Prinzip machen Sie heute genauso weiter wie vor
der Wahl. Sie zeigen schlechte Alternativen auf. Ich denke
an den Vorschlag der FDP zur Privatisierung unserer
sozialen Sicherungssysteme oder an den der CDU/CSU
zur Teilprivatisierung mit dem Ansatz von Wahlleistungen.
({3})
In beiden Fällen hat man Ihnen sehr deutlich gemacht,
dass das nicht gewünscht ist. Es wäre wenigstens zu erwarten gewesen, dass Sie für die Zukunft die Kraft haben,
Konsequenzen daraus zu ziehen und inhaltlich etwas anderes anzubieten. Aber anstatt Lösungen aufzuzeigen,
machen Sie nur eins: Sie verunsichern die Menschen, Sie
reden unsere sozialen Sicherungssysteme schlecht. Ein
konstruktiver Beitrag kommt von Ihnen nicht.
({4})
Sie haben eben gesagt, wir müssten die Probleme an
der Wurzel anpacken. Das werden wir gemeinsam tun,
({5})
allerdings nicht prinzipienlos. Wir werden dabei immer
das Prinzip vor Augen haben, dass die Modernisierung
des Sozialstaates auf Solidarität gründen muss und auf
Verlässlichkeit für jeden, der zur Bewältigung schwerer
Lebenskrisen Hilfe braucht. Wir werden sie an der Generationengerechtigkeit und an dem Gedanken der Nachhaltigkeit orientieren.
({6})
Deshalb werden die Ziele unserer Gesundheitspolitik
in den grundlegenden Punkten an dem ausgerichtet sein,
was wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben.
Wir werden die Prävention gemeinsam weiterentwickeln
und die Qualität im deutschen Gesundheitswesen entscheidend verbessern, weil davon auch die Wirtschaftlichkeit abhängt. Wir werden mithilfe der Patientenkarte
und der Patientenquittung - die Kollegin hat das eben gesagt - die Transparenz erhöhen. Wir werden das alles unter dem Gesichtspunkt tun, meine Damen und Herren von
der FDP, nicht ein möglichst hohes Einkommen für diejenigen zu sichern, die im Gesundheitswesen tätig sind.
Vielmehr werden wir das vorrangig am Wohl der Patientinnen und Patienten orientieren und wir werden die Beschäftigten dabei nicht aus dem Auge verlieren.
({7})
Wir werden in der Zukunft diese Ansätze, die wir
erarbeitet haben, weiterverfolgen. Wir werden im Krankenhausbereich mit dem eingeschlagenen Weg der leistungsorientierten Vergütung der Fallpauschale einen wesentlichen Schritt zu mehr Qualität und Transparenz tun.
Wir tun das in gleichem Maße in der ambulanten
Versorgung mit der Einführung der Desease-Management-Programme, die, wie ich denke, die Struktur der
ambulanten Versorgung in den kommenden Jahren entscheidend verändern werden. Wir werden dadurch zu
mehr Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen
kommen. Patientinnen und Patienten werden bei der Bewältigung ihrer Krankheit endlich eine entscheidende und
wichtige Rolle spielen und werden damit zu ihrem Heilungserfolg selbst einen wesentlichen Beitrag leisten können. Das verstehen wir unter Selbstbeteiligung. Es geht
eben nicht darum, sich entweder ein Paket zu wählen oder
kräftig zuzuzahlen.
({8})
Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren, dass
wir zu einer Steigerung der Qualität in diesem Gesund322
heitssystem mehr Wettbewerb benötigen. Entscheidend
für uns ist aber, dass wir dabei immer berücksichtigen,
dass Gesundheit ein elementares Gut ist. Es ist eines der
wichtigsten Güter für die Menschen überhaupt. Deshalb
werden wir natürlich keinen Wettbewerb durchführen,
durch den an dem solidarischen System und an den
Finanzierungsstrukturen etwas verändert wird. Bei diesem Wettbewerb werden wir eigene Regeln, die auf das Gesundheitswesen abgestimmt sind, benötigen. Diese dürfen
uns nicht die Probleme bereiten, die wir in der Vergangenheit von Ihnen übernommen haben. Sie haben den Wettbewerb letztendlich nicht an der Qualität und an der Patientenversorgung, sondern nur am Beitragssatz ausgerichtet.
({9})
Die Basis eines so verstandenen Wettbewerbs - wir laden Sie zum Mitmachen ein - ist ein ständig an den Stand
der Bedürfnisse und an die Ergebnisse der Wissenschaft
anzupassender Leistungskatalog.
({10})
Es wird ein einheitlicher und gemeinsamer Leistungskatalog sein, der all das, was zur medizinischen Versorgung
notwendig ist, umfasst.
({11})
Mehr Wettbewerb heißt in Zukunft allerdings auch
mehr Vertragsfreiheit für die Kassen und für die Leistungserbringer.
({12})
Neben Kollektivverträgen brauchen wir Einzelverträge. Die
Kassen müssen die Freiheit haben, Verträge mit denen abzuschließen, die für die Patienten die besten Angebote machen, die die besten Qualitäten versprechen und die andere
Versorgungsformen einbeziehen. Die Kassen müssen
durchaus auch die Freiheit haben, Verträge mit denen, die
diese Qualität nicht versprechen, nicht schließen zu müssen.
({13})
Das gilt in Zukunft sowohl für den ambulanten als auch
für den stationären Bereich.
({14})
Diese Flexibilität wird es allerdings nicht nur aufseiten
der Ärzte und der Anbieterseite geben müssen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass wir im ambulanten Bereich
dafür Sorge tragen müssen, dass bei den Kassen der
Zwang, einheitliche und gemeinsame Verträge abzuschließen, wegfällt.
({15})
Abgesehen von diesen langfristigen Maßnahmen, die
Ihnen meine Kollegin von den Grünen teilweise schon
vorgestellt hat - ein Ausschnitt wurde Ihnen gerade von
mir vorgestellt; weitere Kollegen unserer Fraktionen werden noch reden -, ist festzustellen, dass wir augenblicklich Probleme haben, weil wir mit einer höheren Arbeitslosenzahl als erwartet zu kämpfen haben, weil die
Prognosen der Schätzerkreise nicht richtig waren. Deshalb sind wir aufgefordert, kurzfristig zu reagieren und
dafür zu sorgen, dass die Beitragssätze stabil bleiben, damit all unsere Anstrengungen, die wir im arbeitsmarktpolitischen Bereich unternehmen, nicht durch Beitragssatzsteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung
konterkariert werden.
Das verlangt von allen in diesem System Abstriche.
Ihnen ist allerdings nichts anderes eingefallen, als permanent Zuzahlungen für die Patienten zu beschließen sowie die Rehabilitation und Kur in Gänze zu streichen.
Und im letzten Jahr haben Sie dann wie die Pharisäer darüber geklagt, was aus den Müttergenesungskuren geworden sei.
({16})
Sie haben damals das Grab für Rehabilitation und Kur geschaufelt und wir hatten die Aufgabe, das, was sinnvoll
war, wiederherzustellen.
({17})
Wir werden ein Paket ausgewogener Maßnahmen
vorlegen. Dabei geht es im Wesentlichen um die Preisgestaltung bei den Arzneimitteln. Wir werden aber auch
vor den Krankenkassen und deren Verwaltungskosten
nicht Halt machen. Auch sie werden wie die anderen im
Gesundheitssystem in eine Nullrunde eingebunden werden.
Für die weitere Zukunft gelten in der Rente die gleichen Prinzipien wie im Gesundheitsbereich. Wir haben
die Rente verändert. Wir haben die Rente sicherer gemacht.
({18})
Wir haben dafür gesorgt, dass sie auch für die älteren
Menschen sicher ist. Wir haben dafür gesorgt, dass die
Rente für jüngere Menschen bezahlbar ist. Wir haben einen staatlich geförderten Anteil für die private Altersvorsorge in einer Höhe bereitgestellt, wie ihn diese Bundesrepublik noch nie gekannt hat. Der Staat stellt für dieses
Förderprogramm fast 13 Milliarden Euro zur Verfügung.
Das ist das größte Programm, das es in diesem Land zum
Aufbau eines Vermögens für die Altersvorsorge je gegeben hat.
({19})
Allerdings müssen wir neben diesen strukturellen Problemen auch bei der Rente kurzfristigen Herausforderungen begegnen und Antworten geben. Genau wie in der
Krankenversicherung sind unsere Hauptprobleme die
schwache Weltkonjunktur und ihre Auswirkungen auf die
Beschäftigungssituation.
({20})
Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den
Schritten, die wir in der Rentenversicherung gehen werden, auch zur sicheren Entwicklung am Arbeitsmarkt einen guten Beitrag leisten.
Wir werden deshalb an der Ökosteuer festhalten. Ich
sage Ihnen: Wäre man Ihren Anregungen gefolgt, dann
wüsste ich nicht, wie der Rentenbeitragssatz heute aussähe.
({21})
Sie haben zum Rentenbeitragssatz und zu seiner Entwicklung offensichtlich ein gestörtes Verhältnis; denn Sie
haben schlicht und einfach vergessen, dass Sie uns 1998
einen Rentenbeitragssatz von 20,3 Prozent hinterlassen
haben.
({22})
Mit dem, was Sie jetzt vorgeschlagen haben, würde er
noch weiter steigen.
Herr Seehofer, Sie haben auch vergessen, dass Sie in
den Jahren 1996 und 1997 in der Situation waren, zum
Jahresende eine Schwankungsreserve von gerade einmal
60 Prozent einer Monatsausgabe zu haben. Ich möchte Sie
auch daran erinnern, dass in unserer Regierungszeit die
Auszahlung der Rente zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen war. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen,
weshalb Sie jetzt glauben, den Teufel an die Wand malen
zu müssen. Damit säen Sie bei den Menschen letztendlich
nur Verunsicherung, ohne irgendeinen Lösungsweg aufzuzeigen.
({23})
Noch ein Wort zur FDP. Wenn wir jetzt die Bemessungsgrenze auf 5 100 Euro anheben, um die Lasten auf mehr
Schultern zu verteilen, dann frage ich mich, woher Sie die
Erkenntnis haben, dass nur die Menschen mit einem Einkommen von über 4 500 Euro in dieser Gesellschaft leistungsbereit sind.
({0})
Frau Kollegin Schaich-Walch, ich hatte Sie vor Ende
Ihrer Redezeit nicht unterbrechen, sondern nur fragen
wollen, ob Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fuchtel hätten zulassen wollen, die, wie Sie wissen,
Ihre Redezeit insoweit verlängert hätte.
({0})
Ich erteile nun als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Andreas Storm für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben
in diesen Tagen, wie die alte und neue Bundesregierung
fast alles über Bord wirft, was sie den Wählern vor dem
22. September vollmundig versprochen hat. Ich habe Ihnen eine Anzeige mitgebracht, die die SPD am 18. Juni
dieses Jahres in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht hat. Dort steht: „CDU/CSU und FDP: Rentenbeiträge
werden erhöht. SPD: Rentenbeiträge bleiben stabil. “
({1})
Selten hat eine Bundesregierung die Menschen so hinters Licht geführt wie Rot-Grün in diesem Jahr.
({2})
Wirklich keiner zweifelt mehr daran, dass Sie schon lange
vor der Wahl ganz genau wussten, wie die Dinge stehen.
Sie haben die Wählerinnen und Wähler mit voller Absicht
getäuscht und belogen. Das war systematische Wählertäuschung. Das war Rentenbetrug.
({3})
Der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungsträger, Professor Franz Ruland, hat dieser
Tage mehrfach klipp und klar festgestellt: „Wenn die Bundesregierung den Bürgern die Wahrheit sagen würde, dann
müsste sie den Beitragssatz auf 19,8 Prozent heraufsetzen.“
({4})
Der neue Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, hat
vor zwei Tagen eingeräumt, dass der Beitrag auch über die
19,3 Prozent, von denen Sie offiziell immer noch ausgehen, steigen könnte. Herr Scholz sagte wörtlich:
Wir bleiben in jedem Fall unter 20 Prozent.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: unter
20 Prozent!
({5})
Mit anderen Worten: Sie haben es geschafft, dass der
Rentenbeitragssatz im Jahr 2003 eine Höhe erreichen
wird, die nach der Riester-Reform bzw. nach dem, was
uns im vergangenen Jahr angekündigt worden ist, eigentlich erst im Jahr 2018 erreicht werden sollte.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Jahrhundertreform ist kläglich gescheitert. Selbst der Bundeskanzler
hat dieses Scheitern am Dienstag eingeräumt. Denn er hat
nicht nur den Namensgeber sozusagen in die RiesterRente geschickt, sondern er hat in seiner Regierungserklärung eine große Rentenreform für die neue Wahlperiode angekündigt. Was für ein Armutszeugnis für die
Rentenpolitik der vergangenen vier Jahre, wenn der
Kanzler bereits jetzt eine neue große Reform ankündigt!
({6})
Sie versuchen nun panisch, den massiven Anstieg des
Rentenbeitragssatzes irgendwie zu begrenzen. Dabei sind
Sie auf zwei Ideen verfallen, die man folgendermaßen zusammenfassen kann: Die Leistungsträger unserer Gesellschaft werden geschröpft und Sie spielen mit den Rentenfinanzen Vabanque.
Zu Ihrem ersten Vorschlag ist festzustellen: Schon vor
einem Jahr haben Sie sich nicht anders zu helfen gewusst,
um den Offenbarungseid zu vermeiden, dass die Rentenbeiträge trotz steigender Steuersätze bei der Ökosteuer
steigen würden. Deshalb haben Sie vor einem Jahr den
Griff in die Rücklage der Rentenkasse gewagt.
Wenn Sie nun die Schwankungsreserve, also den Notgroschen der gesetzlichen Rente, auf nur noch 50 Prozent
einer Monatsausgabe reduzieren, dann riskieren Sie sehenden Auges, dass die Rentenkassen im nächsten Herbst
zahlungsunfähig sind. In dem Fall müsste die Auszahlung
der Renten durch ein Darlehen des Bundes sichergestellt
werden.
({7})
Das bedeutet zwar nicht, dass die Renten nicht gezahlt
würden, aber es bedeutet, dass Sie der Rentenversicherung ihre finanzielle Unabhängigkeit nehmen.
({8})
Die Rentenversicherung kommt an den Tropf des Finanzministers. Das bedeutet, dass dann die Rente nach Kassenlage, wie wir es beim Sparpaket 1999 erlebt haben, an der
Tagesordnung ist.
Deshalb verspielen Sie mit einer Absenkung der
Schwankungsreserve das letzte bisschen Vertrauen, das
die gesetzliche Rentenversicherung bei den Menschen
noch genießt. Deshalb appelliere ich an Sie: Lassen Sie
die Finger von der Schwankungsreserve, sonst kommt es
noch in dieser Wahlperiode zu dem finanziellen GAU der
Sozialsysteme!
Zu Ihrem zweiten Vorschlag: Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung und damit
- das wird in der Diskussion oft vergessen - automatisch
auch in der Arbeitslosenversicherung auf 5 100 Euro anheben. Das ist ein Musterbeispiel für eine kurzatmige und
kurzsichtige Politik. Denn zum einen führen die höheren
Beiträge, die gut verdienende Versicherte zahlen müssen,
unweigerlich zu höheren Rentenansprüchen, die in einigen
Jahren und Jahrzehnten bedient werden müssen.
Professor Raffelhüschen von der Universität Freiburg
bezeichnete dieses Vorhaben als „das Dümmste, das man
machen kann“. Recht hat er; denn um die Finanzlöcher
von heute zu stopfen, vergrößern Sie die Lasten, die künftige Generationen zu tragen haben.
({9})
Sie verschärfen damit noch die enormen Probleme, die
aufgrund der demographischen Entwicklung auf die Alterssicherung zukommen. Was das noch mit Nachhaltigkeit zu tun haben soll, liebe Kollegin Schaich-Walch,
bleibt Ihr Geheimnis.
({10})
Es kommt aber noch etwas hinzu: Wer monatlich
5 100 Euro verdient - dabei handelt es sich nicht um
Superreiche, sondern um viele Facharbeiter, also die Leistungsträger unserer Gesellschaft, die hart für ihr Geld arbeiten -, darf bei einem Rentenbeitrag von 19,5 Prozent
im nächsten Jahr Monat für Monat mehr als 67 Euro mehr
für die Rentenversicherung und fast 20 Euro mehr für die
Arbeitslosenversicherung bezahlen. Das macht mehr als
1 000 Euro Verlust für die Betroffenen aus, die auf diese
Weise geschröpft werden.
Der Bundeskanzler hat am Dienstag erklärt:
In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen
kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Sicherungssystem zukunftstauglich zu machen. Den
Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in
der Altersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir
fortsetzen, um so auf Dauer die Renten sicherer zu
machen und die Rentenbeiträge bezahlbar zu halten.
So weit der Bundeskanzler. Aber wer so etwas ankündigt
und auch ernst nimmt, der kann doch nicht im gleichen
Atemzug die Bürger zwingen, immer höhere Anteile ihres
Einkommens in die umlagefinanzierte Sozialversicherung zu stecken. Sie nehmen den Menschen durch massiv
steigende Beitragslasten jeglichen Freiraum, um selbst ergänzende Vorsorge für das Alter treffen zu können.
({11})
Dabei geht es an den Kern der Riester-Rente. Diese
vom Grundsatz her richtige Idee haben Sie handwerklich
total vermurkst. Sie entpuppt sich deshalb immer mehr als
Ladenhüter. Wenn bislang weniger als 10 Prozent der Förderberechtigten einen Vertrag abgeschlossen haben,
({12})
dann müssen auch Sie zugestehen, dass diese gute Idee
kläglich gescheitert ist. Auch hier brauchen wir einen
Neuanfang.
({13})
Konzeptioneller Dilettantismus ist geradezu zum Markenzeichen der sozialpolitischen Aussagen in der Koalitionsvereinbarung geworden. Das gilt nicht nur für die Rentenpolitik, sondern auch für die Gesundheitspolitik.
Nehmen wir das Beispiel der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze. Das, was sich hier abgespielt hat, hat
schon den Charakter einer Seifenoper. Wenn man sich das
Drehbuch anschaut, könnte man lachen, wenn das Thema
nicht so ernst wäre. Erster Tag, Freitag, 11. Oktober: SPD
und Grüne einigen sich in den Koalitionsverhandlungen
darauf, die Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung nur für Berufsanfänger auf das Niveau der
Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung, auf
4 500 Euro, anzuheben. Zweiter Tag, Montag, 14. Oktober:
Die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung
soll nun, zwei Tage später, von 4 500 Euro auf 5 000 Euro
angehoben werden. Aber noch weiß niemand im Koalitionslager Bescheid, ob das auch Konsequenzen für die
Krankenversicherung haben wird. Dritter Tag, Dienstag,
15. Oktober: Nun soll die Beitragsbemessungsgrenze in der
Rentenversicherung nicht mehr auf 5 000 Euro, sondern
auf 5 100 Euro angehoben werden. Ob das Konsequenzen
für die Krankenversicherung haben wird, weiß man noch
immer nicht. Vierter Tag, Donnerstag, 17. Oktober: Nun
hat man endlich auch im Gesundheitsministerium die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen begriffen. Es wird
klargestellt, dass es bei der Kopplung der Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung an die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bleibt. Beide sollen also auf 5 100 Euro
ansteigen. Um das Fass voll zu machen: Gestern durften
wir über die Nachrichtenagenturen erfahren, dass zum
Stichtag 7. November 2002 die Versicherungspflichtgrenze
nur noch auf 3 825 Euro erhöht werden soll, dafür aber für
alle Versicherten, also nicht nur für die Berufseinsteiger.
Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut.
({14})
Die rot-grüne Wirklichkeit schreibt traurige Geschichten.
Das hat bei Rot-Grün anscheinend Methode. Erst werden die sozialen Sicherungssysteme absichtlich deformiert. Dann sagt der Bundeskanzler: Wir gründen eine
Kommission und es wird reformiert. In diese Kategorie
fallen auch die Verschiebebahnhöfe, mit denen sich der
Bund seit dem eichelschen Sparpaket von 1999 zulasten
der Beitragszahler immer wieder einseitig saniert hat. Die
Vorschläge der Hartz-Kommission, die nach dem Willen
des Kanzlers 1 : 1 umgesetzt werden sollen, werden große
Löcher in die Sozialkassen reißen. Die Ausweitung der
Minijobs wird alleine in der Krankenversicherung Beitragsmindereinnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro
hervorrufen. Eine weitere Lücke in Höhe von 700 Millionen Euro werden die Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe verursachen. Hinzu kommen Beitragsausfälle durch
die vermehrte Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung.
Schließlich soll die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf
Zahnersatz - das ist ein ganz entscheidender Punkt - dem
Bundesfinanzminister 400 Millionen Euro einbringen.
Allein diese wenigen Maßnahmen, die in der Koalitionsvereinbarung beschlossen worden sind, werden den Krankenkassen und damit den Beitragszahlern 2 Milliarden
Euro entziehen und zu einem weiteren Anstieg der Krankenkassenbeiträge um 0,2 Prozentpunkte führen. Ähnliche Belastungen dürften auch auf die Rentenversicherung
und die Pflegeversicherung zukommen.
Zur Pflegeversicherung hat es übrigens ein Urteil des
Verfassungsgerichts gegeben, das dem Gesetzgeber auferlegt, bis zum 31. Dezember 2003 eine Reform der
Finanzierung vorzunehmen. Zu diesem Thema, Frau Ministerin, haben wir von Ihnen kein Wort gehört.
({15})
Die Situation der Pflegeversicherung wird immer dramatischer. Konzeptionell: totale Fehlanzeige!
Als Ergebnis ist festzuhalten: Wenn die Ankündigung
des Bundeskanzlers, strukturelle Reformen in der Rentenund Krankenversicherung anzupacken, wirklich ernst gemeint wäre, dann müsste der größte Teil der Koalitionsvereinbarungen zur Sozialpolitik wieder rückgängig gemacht werden; denn das schafft erst die Probleme, die
dann nachher gelöst werden sollen.
({16})
Das ist ein ganz entscheidender Punkt und er ist in dieser
Debatte immer mal wieder angeklungen.
Die Probleme sind schon heute sehr groß, aber sie werden in 20 und 30 Jahren gewaltig sein. Die Veränderung
der Alterspyramide unserer Gesellschaft führt dazu, dass
wir nicht nur in der Rentenversicherung, sondern auch im
Gesundheitswesen und in der Pflegeversicherung vor dramatischen Herausforderungen stehen.
({17})
Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“, der Ostern dieses Jahres dem Bundestagspräsidenten überreicht worden ist, zeigt, dass ohne
Reformen in der Krankenversicherung in den nächsten
vier Jahrzehnten eine Verdoppelung des Beitragssatzes in
der Krankenversicherung droht. Sie haben nicht den
Hauch eines Ansatzes dazu, wie Sie damit umgehen wollen.
({18})
Da heute Morgen so oft der Begriff der Nachhaltigkeit bemüht worden ist, sage ich hier: Eine nachhaltige
Politik, die die berechtigten Interessen der älteren Generation mit den berechtigten Interessen der jungen Generation zum Ausgleich bringt, müsste diese Probleme
angehen und dürfte diese Probleme nicht verdrängen.
Deswegen, meine Damen und Herren: Kehren Sie um!
Dann und nur dann wäre Ihnen auch unser Beifall sicher.
({19})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga KühnMengel, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Uns ist wieder nur aufgezeigt worden, was nicht
geht, was nicht gut ist. Es sind keine Konzepte vorgestellt
worden.
({0})
Wir haben von Ihnen, meine Herren von der Opposition,
gehört, dass Sie alles besser machen würden. Aber es
genügt ein Blick zurück, um das einzuordnen. Das ist
schon wichtig, wenn es um Konzeptionen geht.
An Ihre Taten erinnern wir uns alle noch. Auch ich
selbst habe noch einen Rest Ihrer Regierungszeit hier mitbekommen.
({1})
Ich kann mich gut daran erinnern, wer vor den Lobbyisten
in die Knie gegangen ist.
({2})
Ich kann mich daran erinnern, wer den Bürgerinnen und
Bürgern ununterbrochen in die Tasche gefasst hat, ein
Krankenhausnotopfer gefordert hat und bei der Prävention drastisch gekürzt hat. Ich weiß auch, dass die Aussage
der Sachverständigen, wir hätten das teuerste Gesundheitssystem in der Europäischen Union und das drittteuerste in der Welt, und die Aussage, wir bezahlten einen
Mercedes und bekämen einen Golf, in Ihrer Regierungszeit gemacht worden sind.
({3})
Wir können uns gut daran erinnern, dass bei Ihnen niemals von Qualität die Rede war.
({4})
Erst wir haben die Qualität und die Qualitätssicherung
zum Thema gemacht und in der GKV verankert.
Noch eines sei dazu gesagt: Die Wähler und Wählerinnen haben ganz klar entschieden.
({5})
Sie, Herr Seehofer, sind mehrmals gescheitert, als Gesundheitsminister bei den Wahlen 1998 und jetzt auch bei
den Wahlen 2002. Die Bürger und Bürgerinnen haben zu
Ihren Privatisierungskonzepten und zu Ihrer Zweiklassenmedizin Nein gesagt.
({6})
Unser Konzept wurde gewählt. Wir werden die Qualitätsund die Wirtschaftlichkeitsoffensive, die wir in der vergangenen Legislaturperiode begonnen haben, fortsetzen.
Diese Ministerin hat - ich sage es noch einmal - Prävention und Qualität befördert. Wir werden die Qualitäts- und
Effizienzdefizite in der medizinischen Versorgung abbauen, und zwar mit höchster Priorität.
Dazu benötigen wir einen ganz intensiven Wettbewerb um mehr Qualität unter und zwischen den Leistungserbringern. Neben die kollektivvertraglichen Strukturen werden wir Einzelverträge setzen oder - wie in der
ambulanten Versorgung - solche mit Gestaltungsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang kommt auch den
strukturierten Behandlungsprogrammen und den evidenzbasierten Behandlungsmöglichkeiten eine Schlüsselfunktion zu. Ich setze darauf, dass sich in der verfassten Ärzteschaft diejenigen eines Besseren besinnen, die im
Wahlkampffieber die rot-grüne Gesundheitspolitik verteufeln wollten.
({7})
Wir werden uns von dem eingeschlagenen Weg der Qualität und Patientenorientierung nicht abbringen lassen.
({8})
Disease-Management-Programme als Billigmedizin
abzutun und Behandlungsleitlinien als Kochbuchmedizin
abzuqualifizieren zeugt von der Wagenburgmentalität
rückwärts gewandter Mediziner. Der Halbgott in Weiß
gehört der Vergangenheit an und wir sollten ihm keine
Träne nachweinen.
({9})
Disease-Management-Programme stellen Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt. Sie verbessern die
Lebensqualität, Folgeschäden können verhindert oder
hinausgezögert werden. Vor allem sorgen diese Programme für Transparenz. Die Patientin und der Patient
wissen, wo es allererste Qualität gibt. Darauf müssen die
Patientinnen und Patienten vertrauen können. Mit diesen
Programmen schaffen wir die Verbindung von Qualität
und Wirtschaftlichkeit. Das dient der Gesundheit und
auch der Beitragssatzstabilität.
Es geht darum, medizinisch nicht angezeigte Mengensteigerungen auszuschließen und die Vergütung auch an
die Qualität der Leistung anzubinden. Den Eintritt in die
behandlungs- und kostenintensiven Volkskrankheiten
wollen wir verhindern, zumindest aber hinausschieben.
Dazu gehört auch die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten. Wir verstehen unter Eigenverantwortung aber etwas anderes als Sie: Wir wollen die Patientin und den Patienten stärken, sie besser informieren
und kein Eintrittsgeld. Wir wollen Eigenverantwortung
nicht mit Zuzahlung gleichsetzen.
({10})
Wir werden die Prävention weiter stärken und befördern. Das sind wichtige Investitionen in die Zukunft unseres Gesundheitssystems. Wir werden auch die Schnittstellen zwischen GKV und Pflegeversicherung auflösen:
Prävention, Gesundheitsförderung, kurative Medizin, Rehabilitation und Pflege sollen den gleichen Stellenwert im
Gesundheitssystem haben.
Dazu gehört auch die gleichberechtigte Teilhabe
behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben.
Wir haben auf diesem Gebiet eine erfolgreiche Politik vorzuweisen: das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter, das SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, das Gleichstellungsgesetz.
Diesen Prozess werden wir fortsetzen. Im nächsten Jahr beHelga Kühn-Mengel
gehen wir das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen. Auch diesen Anlass werden wir nutzen, um bei
diesem Thema voranzukommen.
({11})
Unser Sparpaket beschränkt sich auf monetäre Regelungen, die nur für das Jahr 2003 gelten. Es greift der
Gesundheitsreform 2003 in keinem Punkte vor. Das Sparpaket schmälert die Ansprüche auf Versorgung mit medizinisch notwendigen Leistungen nicht. Anders als unsere
Vorgänger greifen wir den Patientinnen und Patienten
nicht in die Tasche, um die Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung durch höhere Zuzahlungen
oder durch Eigenanteile zu lösen.
({12})
Dass wir diejenigen zu einem größeren Beitrag auffordern, die in den letzten Jahren auch sehr starke Gewinne
hatten, die Akteure aus dem Pharmabereich, ist, glaube
ich, nachvollziehbar und verständlich.
({13})
Unser Ziel bleibt die hochwertige medizinische und gesundheitliche Versorgung für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig vom Einkommen, von sozialer Stellung
und vom Wohnort.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Dieter Thomae für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann nur sagen: Lügen haben kurze Beine. Das
bewahrheitet sich jetzt.
({0})
Vor der Wahl gab es keine Defizite, es sollte keine Beitragssatzerhöhungen geben. Jetzt, nachdem die Wahlen
vorbei sind, haben wir über Nacht Defizite, und Beitragssatzerhöhungen werden zur Selbstverständlichkeit. Das
ist, Frau Ministerin, schon eine verfehlte Politik.
({1})
Ich finde, dass die Bürgerinnen und Bürger hier vor den
Wahlen richtig belogen und betrogen worden sind. Sie
sollten sich dafür einfach schämen, Frau Ministerin.
({2})
Nun haben Sie auch noch eine ganz verrückte Idee: das
so genannte Vorschaltgesetz. Eine Nullrunde ist die brutalste Budgetierung, die man sich überhaupt vorstellen
kann. Schauen Sie sich einmal die Honorarsituation im östlichen Teil Deutschlands, aber auch in den alten Bundesländern und die Situation der Krankenhäuser an: Ich frage mich
da, wie Sie angesichts der Erhöhungen, die bei den Tarifverhandlungen durchgesetzt wurden, überhaupt eine Nullrunde erreichen wollen. Eigentlich bleibt nur ein Ausweg:
({3})
Verdi müsste Sie davonjagen.
({4})
Ihre Vorschläge bedeuten nämlich Arbeitsplatzabbau. Eine
andere Alternative hat ein Krankenhaus heute nicht mehr.
Ich möchte Ihnen dies an einem Beispiel darstellen. Ein
Verwaltungschef aus meiner Region hat mir einen Brief
geschrieben und mir gesagt: Thomae, wenn die Nullrunde
kommt, bedeutet das für Rheinland-Pfalz ein Minus von
rund 100 Millionen Euro; das bedeutet, dass wir
2 600 Arbeitsplätze abbauen müssen; für mein Krankenhaus bedeutet das, dass ich 36 qualifizierten Mitarbeitern
kündigen muss, weil ich sie nicht mehr finanzieren kann.
({5})
Sagen Sie das einmal den Patienten draußen.
Sie sagen, den Patienten passiere nichts, aber die Patienten werden von der Nullrunde genauso getroffen wie
alle anderen Leistungserbringer. Das ist das Problem.
({6})
Fragen Sie doch einmal einen normalen Bürger, wie lange
er heute schon warten muss, bis er einen Termin im Krankenhaus oder bei einem Arzt bekommt. Wir haben Sie permanent davor gewarnt, dass es hier ständig zu Wartezeiten kommt. Diese werden noch weiter zunehmen; Sie
werden die Folgen zu tragen haben, denn die Versorgung
durch freiberufliche Ärzte in den neuen Bundesländern
wird dramatisch abnehmen.
({7})
- Ja, ich weiß, dass Sie für Polikliniken sind. Aber auch
für Polikliniken brauchen Sie Ärzte. Das Vertrackte dabei
ist: In hohem Maße verlassen junge Ärzte Deutschland
und gehen ins Ausland.
({8})
- Schauen Sie doch in die Statistiken. Sie scheinen völlig
weltfremd zu sein.
({9})
Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Ärzte nach
Skandinavien gehen und wie viele junge Mediziner in die
Schweiz gehen. Lassen Sie sich die Zahlen geben. Sie tun
immer, als ob alles zum Besten stünde.
({10})
Die jungen Mediziner sind gar nicht so dumm, wie Sie
denken. Das ist der Unterschied.
({11})
Meine Damen und Herren, jetzt fällt Ihnen ein, dass wir
noch stärker in den Arzneimittelbereich eingreifen müssen. Vielen gefällt zunächst dieser Vorschlag, denn er ist
populär.
({12})
- Moment. - Aber Sie wissen doch, dass es nur noch zwei
kleine bzw. mittlere Pharmafirmen gibt, die in Deutschland Forschung betreiben. Alle anderen sind weg. Sie treffen mit Ihrem Konzept gerade die mittelständische Pharmaindustrie in Deutschland, obwohl Sie permanent davon
reden, dass Sie Arbeitsplätze erhalten wollen. Warten wir
es einmal ab.
({13})
Bringen Sie Ihr Konzept ein. Ich bin gespannt, was Ihnen
die entsprechende Gewerkschaft dazu sagt. Die werden
Ihnen noch Feuer unter dem Hintern machen.
({14})
Ansonsten vernichten Sie Arbeitsplätze.
Das Vertrackte ist doch: Frau Schmidt hat sich in der
Koalition gegenüber Clement nicht durchgesetzt. Das
muss jetzt die Gesundheitspolitik bezahlen. Das ist der
entscheidende Grund und die Situation, die wir zu bewältigen haben.
({15})
Ich kann an Sie nur appellieren: Folgen Sie den Überlegungen, die wir uns schon vor den Wahlen gemacht haben!
({16})
Ich war erstaunt, als die Ministerin auf einmal sagte:
Wir wollen das medizinisch Notwendige definieren. Das sind ganz neue Töne. Die Grünen sprechen auf einmal - vielleicht bin ich nicht richtig informiert - von
Wahltarifen. Ich bin ganz erstaunt. Ich bin gespannt, wie
Sie diese Vorstellungen in einem Gesetz umsetzen.
Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger
Punkt ist: Sie können zwar über Prävention sprechen,
aber wie wollen Sie bei dem Defizit, das Sie im gesetzlichen Krankenversicherungssystem haben,
({17})
Prävention finanzieren? Ich bin für Prävention. Ich freue
mich auf Ihre Vorschläge, wie Sie dies machen wollen.
Was hilft es, wenn wir massiv Präventionen einführen
- das wäre wunderschön -, wir aber dem Normalbürger
aktuell keine medizinischen Leistungen gewähren? Er
muss darauf wochenlang warten. Sieben Wochen musste
eine Patientin in meinem Wahlkreis warten, bis sie einen
Termin für eine Röntgenaufnahme bekam. Das ist Ihre
Politik und die wollen wir nicht.
({18})
- Das ist kein dummes Zeug. Sie haben keine Ahnung; das
ist Ihr Problem. Sprechen Sie mit den Patienten!
Was mich erstaunt hat, ist: Es kam kein Wort zur
Pflege. Ist das für Sie kein Thema mehr?
({19})
Sie wissen doch: Die Pflege hängt genauso am Fliegenfänger wie die Krankenversicherung. Sie gaukeln der älteren Bevölkerung manches vor.
Herr Kollege Thomae, denken Sie bitte an die Redezeit!
Seit 1995 haben Sie nichts mehr getan, um die unterschiedlichen Pflegestufen besser zu finanzieren. Die Tarifverträge von 1995 sind massiv ausgeweitet worden.
Das alles geht zulasten der Patienten. Das ist Ihre verlogene Sozialpolitik. Dieser werden wir nicht folgen.
({0})
Nun hat der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Thomae, ich hoffe, dass sich Ihre fast schon gesundheitsgefährdende Erregung gelegt hat. Denn dann
können Sie vielleicht jetzt zuhören. Eine kleine Korrektur
zu dem, was Sie soeben gesagt haben: Wir sprechen nicht
von Wahltarifen, sondern von der Wahlfreiheit zwischen
verschiedenen qualitätsgesicherten, gleichwertigen Angeboten. Das ist ein großer Unterschied.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, den Fokus ein bisschen weiter aufzumachen und die Linse etwas
mehr zu öffnen. Wir stehen in der Debatte um die Ausgestaltung sozialer Sicherheit in Deutschland längst nicht
mehr nur vor der Frage, wie die Systeme zu finanzieren
und zu optimieren sind, sondern mindestens genauso
dringlich vor der Frage, wie wir die Akzeptanz und die
Legitimität unserer sozialen Sicherungssysteme gewährleisten. Die gesellschaftliche Anerkennung und die
Mitwirkungsbereitschaft der Hilfeleistenden und Beitragszahler hängen eng miteinander zusammen. Die
Frage, wer besondere staatliche Zuwendung braucht und
wie sie effizient zu erbringen ist, muss plausibel beantwortet werden.
Dazu nenne ich ein Beispiel: Sehen Sie sich einmal die
Vielzahl bizarrer Gerichtsverhandlungen an, die um einmalige Beihilfen im Rahmen der Sozialhilfe geführt werden. Dort werden zusätzliche Unterhosen, Weihnachtskerzen und Heizdecken erstritten. Die jeweiligen Streitwerte
stehen in einem geradezu grotesken Missverhältnis zu den
Prozesskosten. Worum geht es in diesen Prozessen? Es
geht längst nicht mehr nur um eine Feststellung des objektiven Bedarfs. Nein, ich behaupte, diese Prozesse haben auch eine gesellschaftspolitische Funktion. Hier wird
der Kampf „öffentliche Hand alias Steuerzahler versus illegitime Bittsteller“ inszeniert.
({1})
Allein dieses eine Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Neudefinition und vor allem einer Neubegründung
der Legitimität sozialer Sicherungssysteme.
({2})
Rot-Grün stellt sich dieser Aufgabe der Neubegründung und schlägt - ganz im Gegensatz zur Opposition eben nicht den Weg der fortgesetzten Delegitimierung
und des Abbaus verlässlicher sozialer Sicherung ein.
Wenn unsere Sozialsysteme in ihrer heutigen Form nicht
mehr auf herkömmlichem Weg finanzierbar sind und viel
zu oft entmündigen anstatt befähigen, dann lautet unsere
Antwort eben nicht wie bei Ihnen planloser Abbau, sondern effiziente Reform.
({3})
Wir brauchen und wir befördern ein Verständnis vom
Sozialstaat, das mehr als einen bloßen Versorgungsauftrag
umfasst.
({4})
Die Befähigung zu Teilhabe und Selbstentfaltung, die
Eröffnung von Chancen zur Selbsthilfe sind unsere
Ansprüche an den Sozialstaat, an einen integrationsfördernden Sozialstaat, der seinen materiellen und
immateriellen Leistungsauftrag so gestaltet, dass wir die
Voraussetzungen für eine wirksame Aktivierung nicht gefährden.
({5})
Auf dem Weg zu einem integrierenden Sozialstaat sind
wir in der 14. Wahlperiode schon ein gutes Stück weit gekommen. Ich nenne die wichtigsten Stichworte: Altersgrundsicherung, das Gleichstellungsgesetz für Menschen
mit Behinderungen - SGB IX -, das Modellprojekt
MoZArT zur Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und
Trägern der Sozialhilfe und auch die systematische Berichterstattung über Reichtums- und Armutsentwicklung.
({6})
Wir werden den Weg der Erweiterung von Zugangsund Chancengerechtigkeit weitergehen und ausbauen.
Wir werden eine Gesamtreform der Sozialhilfe auf den
Weg bringen, diese letzte soziale Sicherung weiterhin als
Rechtsanspruch verankern und dafür sorgen, dass sie
weitgehend pauschaliert und ohne Diskriminierung ausgezahlt wird.
Wir wollen die Eingliederungshilfen für Menschen mit
Behinderungen weiterentwickeln. Wir wollen, dass die
Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Sozialhilfebeziehenden verbindlich gilt.
Dies sind Schritte zu einem unverzichtbaren Ausbau der
Selbstbestimmung, einer Selbstbestimmung, die das notwendige Vertrauen schafft, um dann bei den Betroffenen
die Bereitschaft und den Mut zur eigenen Veränderung zu
erhöhen.
({7})
- Sie werden es kaum glauben: Das ist die Lösung.
Eine Umgestaltung der sozialen Sicherung, die gleichermaßen Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Effizienz ermöglicht, verschafft der Sozialversicherung auch wieder die öffentliche Akzeptanz, die sie
braucht, um weiter bestehen zu können. Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Zuge der Umsetzung des Hartz-Konzepts wird hier eine wichtige Rolle
spielen.
Wir werden mit der Einführung des Arbeitslosengelds II das System der Sozialhilfe endlich so reformieren, dass die herkömmliche Sozialhilfe in kommunaler
Verantwortung nicht mehr die Rückfalloption für Lücken
in der Arbeitslosenversicherung ist. Ein armutsfestes
Arbeitslosengeld II wird mit neuen Brücken verbunden
werden, die den Sozialhilfebeziehenden den Zugang zu
Personal-Service-Agenturen und zu Job-Centern ermöglichen.
Dies zeigt: Die Frage, wie viel Sicherheit auf welche
Weise für wen bereitgestellt wird, wollen wir eben nicht
einseitig mit Leistungskürzungen beantworten,
({8})
sondern mit Angeboten und mit gesteigerter Effizienz der
Transferleistungen.
({9})
Sie von der Opposition befördern doch dauernd die begriffliche und auch die politische Engführung des Sozialstaatsbegriffs, indem Sie von Missbrauch reden, wo man
über Beschäftigungshemmnisse sprechen muss und darüber, wie man sie beseitigen kann. Sie glauben, Sie könnten Kosten sparen und die Statistik verbessern, indem Sie
US-amerikanische Modelle im Sinne eines neoliberalen
Anti-Hartz 1 : 1 übertragen.
({10})
Doch die vorgeblich Arbeitsunwilligen, deren Sie sich zu
entledigen trachten, bleiben in dieser Gesellschaft, auch
wenn keine Statistik sie mehr ausweist.
Sie wissen: Vererbte Armut, verfestigte Sozialhilfeabhängigkeit und dauerhafte Ausgrenzung sind bereits
heute in einem nicht vertretbaren Ausmaß vorhanden.
({11})
Die Kosten, die Sie einzusparen glauben, kehren zurück
als gesellschaftliche Kosten, verursacht durch Sucht,
Kleinkriminalität und verwahrloste Stadträume. Nachhaltig ist Ihre sozialpolitische Philosophie nicht.
({12})
Ihre Rhetorik und Ihr In-Abrede-Stellen sozialer Bürgerrechte verhindern eine Modernisierung der Leistungsgewährung. Damit verhindern Sie auch die Wiedergewinnung sozialstaatlicher Handlungsfähigkeit.
Warum sollte etwa der Weg, den die Arbeitsämter nun
bei der Umgestaltung zu Jobcentern beschreiten, nicht auf
die Sozialämter übertragbar sein? Wir brauchen auch hier
endlich eine Dienstleistungsorientierung. Wir müssen
auch hier das tun, was viele Ämter im Zuge der Verwaltungsmodernisierung längst als Handlungsmaxime verankert haben: die Bürgerinnen und Bürger als ernst zu
nehmende Klienten und nicht als lästige Kostgänger begreifen.
Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft, die sich
in ihren Grundstrukturen wandelt, braucht neue, vielfältige und verlässliche Formen der sozialen Sicherung. Wir
werden mit einer möglichst sparsamen, aber auch möglichst wirksamen Inanspruchnahme der Ressourcen den
Weg in Richtung einer Bürgersicherung für alle von allen
beschreiten.
Danke.
({13})
Herr Kollege Kurth, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich beziehe ausdrücklich in den Glückwunsch ein, dass es
Ihnen gelungen ist, sich auch an die angemeldete Redezeit
zu halten, was vielen erfahreneren Kollegen nicht immer
gelingt.
({1})
Nun erteile ich der Kollegin Annettte Widmann-Mauz
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Nach dieser Rede möchte ich wieder zur politischen Praxis zurückkommen, zur Baustelle des sozialen Gesundheitswesens.
({0})
Herr Kollege Kurth, wenn Sie von dem planlosen Abbau und der Notwendigkeit effizienter Reformen sprechen, müssen Sie die linke Seite des Hauses anschauen.
Denn Sie sind es doch, die einen planlosen Abbau im Gesundheitswesen betreiben, seit Sie an der Regierung sind.
Von effizienten Reformen ist weit und breit nichts erkennbar.
({1})
Ich wollte jetzt eigentlich die Ministerin ansprechen.
Sie scheint aber schon gegangen zu sein.
({2})
- Ich denke doch, dass sie Interesse an der Diskussion
über ihre Regierungserklärung hat.
Sie hat mit diesem Ministerium die Verantwortung für
den größten Reformsektor in Deutschland übertragen bekommen. Führungsstärke, Schwung, Mut und Reformwille sind in diesem Amt gefordert. Frau Schmidt aber hat
von alledem nichts. In der Bevölkerung gilt sie mittlerweile als die schwächste Ministerin im Kabinett; das hat
Gründe. Dass sie noch nicht einmal die Diskussion in diesem Hohen Hause erträgt, unterstreicht diese Schwäche
noch deutlicher.
({3})
Die Bilanz der bisherigen Amtsführung könnte nicht
katastrophaler sein.
({4})
Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung waren noch nie so hoch wie heute und sie steigen weiter.
({5})
Die Versorgung der Patientinnen und Patienten wird
nicht besser, sondern schlechter. Der demographische
Wandel, der medizinische Fortschritt und die Veränderungen im Erwerbssektor werden von ihr schlichtweg ignoriert. Damit wird keines der Zukunftsprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung angegangen.
Im Gegenteil: Statt alle Beteiligten im Gesundheitswesen - es geht nur im Miteinander -, Patienten, Versicherte, Ärzte, Apotheker und alle anderen Leistungserbringer, mit auf den Weg zu einer gemeinsamen Reform
zu nehmen, hat sie das Vertrauen gänzlich verspielt.
({6})
Das mangelnde Vertrauen aufseiten der Versicherten und
der Patienten beruht aber nicht auf bösem Willen. Wer soll
denn zu dieser Ministerin noch Vertrauen haben, wenn
weder das Ziel noch der Weg der Reise bekannt sind? Wer
wie Sie, Frau Schmidt, noch nicht einmal zur Reiseleiterin taugt, der wird nie Superministerin werden.
({7})
Sie verstehen das Gesundheitswesen einfach nicht. Sie
haben weder die Dynamik noch die Wechselwirkungen
im System erkannt. Deshalb sind alle Ihre Maßnahmen,
sowohl die in der Vergangenheit als auch die jetzt zur Diskussion stehenden, Flickwerk ohne Konzept. Das bestätigt
die heutige Debatte wieder eindrucksvoll. Doch für uns ist
das kein Grund zur Freude; denn die Auswirkungen für
die Menschen in unserem Land sind verheerend. Mit einer so konzeptionslosen Politik kann man kein Vertrauen
aufbauen.
Fangen wir einmal an: Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben
Sie zur Beruhigung der Ärzte und Patienten die Budgetierung der Arzneimittelausgaben ohne ein wirksames
Steuerungsinstrument aufgehoben - Wirkung: katastrophal. Dann kam die Aut-idem-Regelung. Jetzt wollen Sie
Ihre Drohung wahr machen und die Überschreitung der
Obergrenze für die Arzneimittelausgaben mit einem Regress bei den ärztlichen Honoraren bestrafen.
Aber noch nicht genug: Sie wollen mehr Vertragsmöglichkeiten schaffen. Das ist ein hehres und gutes
Ziel, das wir unterstützen. Aber wie machen Sie das? Sie
strapazieren das Vertrauen der Ärzteschaft weiter, indem
Sie den ärztlichen Sicherstellungsauftrag aufheben und
einzelne Ärzte der Übermacht der Kassen ausliefern werden.
({8})
Gehen wir in den Arzneimittelbereich, zu den Arzneimittelherstellern und Apothekern. Es ist noch kein Jahr
vergangen, seit Sie hier im Haus ein Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz verabschiedet haben. Teile
davon haben Sie sich vorher von der Pharmaindustrie abkaufen lassen, gegen die Zusage, keine Preisregulierungen im innovativen Arzneimittelsektor vorzunehmen.
Jetzt drohen Sie erneut Kassenrabatte, Versandhandel und
Preissenkungen an und wollen außerdem Festbeträge für
patentgeschützte Medikamente einführen. Auch hier ein
klarer Wortbruch.
({9})
Wie soll so Vertrauen in die Arzneimittelversorgung entstehen?
Nehmen wir die Versicherten. Sie haben noch bis zur
Wahl behauptet, es gebe in diesem Jahr kein Defizit und
im kommenden Jahr keine Beitragserhöhungen. Jedoch
nicht einmal eine Woche nach der Wahl ist die Katze aus
dem Sack; über Nacht gibt es wieder milliardenschwere
Defizite.
Jetzt drohen Sie mit der Anhebung der Versicherungspflichtgrenze - an einem Tag nur für Berufsanfänger, am anderen Tag für alle. In der Koalitionsvereinbarung heißt es:
Bei der Beitragsbemessungsgrenze gibt es keine Änderungen.
Schon jetzt hören wir aus gut informierten Kreisen, dass
auch die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden
soll. 300 000 Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich Ihrem ständigen Hin und Her schon
entzogen und der GKV den Rücken gekehrt. 1 Milliarde Euro hat Ihr unverantwortliches Gerede unser Versicherungssystem bereits gekostet.
({10})
Dieses Eintrittsgeld für Ihre Show ist den Menschen in
unserem Land mittlerweile zu hoch. Auch das Programm,
das geboten wird, steht in keinem Verhältnis zum Eintrittspreis. Zweiklassenmedizin ist doch längst kein drohendes
Schlagwort mehr;
({11})
es ist bittere Realität in unserem Land. Sie drängen die
Menschen in ein Zwangssystem und geben ihnen keine
wirklichen Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten.
({12})
Da helfen auch solche Beruhigungspillen, wie Sie sie
heute wieder verteilt haben, wie Beauftragte für Patientinnen und Patienten, Patientencharta, Patientenquittung und wie die ganzen Dinge heißen, wenig.
({13})
- Hören Sie mal zu, Frau Kumpf: Stärkung der Patientenrechte und Ausbau des Patientenschutzes wie auch die
Stärkung des Hausarztes standen schon in Ihrer Koalitionsvereinbarung von 1998. Sie haben nichts davon umgesetzt. Ich sage Ihnen eines: Wir brauchen nicht mehr
Beauftragte für Bittsteller, sondern wir brauchen wirkliche Rechte für Beteiligte im Gesundheitswesen.
({14})
Ich kann Ihnen nur sagen: Mit all diesen Maßnahmen
haben Sie das Vertrauen der Menschen in Ihre Politik verspielt. Sie hätten jetzt eigentlich die Chance, einen wirklichen Neuanfang zu wagen. Aber Sie setzen Ihre Politik
der Prinzipien-, der Konzeptions- und Mutlosigkeit fort.
Der Koalitionsvertrag, über den wir und auch Sie gesprochen haben, enthält wieder einmal sehr viel Lyrik, aber
keine wirklich konkrete Antwort auf die drängenden Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung und
der Pflegeversicherung.
({15})
Es rächt sich, dass Sie keine wirkliche Analyse der Ist-Situation erstellt haben. So weiß die Koalition weder, in
welcher fatalen Lage sie sich befindet, noch, wie die Probleme gelöst werden können.
Auch die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze ist
nicht geeignet, die Einnahmeproblematik zu entschärfen.
Der Vorsitzende des Sachverständigenrates - darauf legen
Sie ja immer großen Wert - für die Konzertierte Aktion im
Gesundheitswesen, Professor Wille, hat in der vergangenen Woche erklärt, dass selbst bei Einbeziehung aller
Arbeitnehmer in die Pflichtversicherungsgrenze in der
gesetzlichen Krankenversicherung in 16 Jahren nur eine
Entlastung von 0,1 Beitragssatzpunkten zu erwarten
wäre. Das ist geradezu lächerlich. Damit lösen Sie die
Probleme nicht.
({16})
Vielmehr verschärfen Sie auf der anderen Seite die
Probleme in der privaten Krankenversicherung. Wenn
Sie die private Krankenversicherung austrocknen, müssen Sie den Menschen auch sagen, dass ihnen dann kontinuierlich höhere Prämien drohen.
Frau Schmidt, ich hätte von Ihnen eigentlich erwartet,
dass Sie Ihren Kollegen „Superminister“ Clement in seiner Arbeit ein bisschen unterstützen und ihm durch höhere
Beiträge, höhere Prämien und damit steigende Lohnnebenkosten nicht immer mehr Arbeitslose vor die Tür setzen. Dass er Sie nicht unterstützt, sehen wir ja; sonst wäre
er bei dieser Debatte dabei. Die Verschiebebahnhöfe, die
während der letzten Legislaturperiode, also in Ihrer Regierungszeit, entstanden sind, lassen nichts Gutes erwarten.
Allein die Umsetzung der Hartz-Vorschläge bedeutet, dass
Ihnen 600 Millionen Euro aus der Tasche gezogen werden.
Aber das ist noch nicht genug. Auch Herr Eichel - wo
war der heute eigentlich? - scheint es mit Ihnen nicht gut
zu meinen. Von dem lassen Sie sich zum wiederholten
Male in die Kasse greifen. Anstatt die Leistungsausgaben
durch Senkungen, zum Beispiel der Mehrwertsteuer auf
Arzneimittel, zu verringern, lassen Sie zu, dass Herr
Eichel die Umsatzsteuer für zahntechnische Leistungen
anhebt und damit die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung erhöht.
Die Reduzierung der Beiträge aus der Arbeitslosenhilfe nutzt Herrn Eichel; sie reißt aber ein weiteres Loch
in Höhe von 0,9 Milliarden Euro in den ohnehin schon
völlig durchlöcherten Geldbeutel der gesetzlichen Krankenkassen. Wenn Herr Eichel meint, er könne damit den
blauen Brief aus Brüssel vermeiden, dann täuscht er sich
wohl gewaltig. Auch Sie, liebe Frau Schmidt, tragen mit
den Defiziten in den Sozialversicherungen dazu bei, dass
die Gesamtverschuldung des Staatshaushaltes wächst und
wächst und wächst.
Sie waren und Sie sind eine schwache Ministerin und
Sie haben sich schon nach einer Woche von Ihren Kollegen in diesem Haus über den Tisch ziehen lassen.
Die Situation ist klar: Berücksichtigt man alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, dann liegt das Gesamtdefizit bei 4,7 Milliarden Euro. Mit den von Ihnen geplanten Maßnahmen werden Sie nicht die Einsparsumme
aufbringen, die Sie aufbringen müssen, um diese Lücke
zu schließen.
Wir sollten uns schon einmal darüber unterhalten - Sie
haben heute kein Wort dazu gesagt -, wie die finanzielle
Lage der Krankenkassen angesichts ihrer hohen Verschuldung auf dem privaten Kapitalmarkt aussieht. In der
Vergangenheit mussten sich zahlreiche Kassen sehr stark
verschulden. Die Finanzreserven einer Reihe von Kassen
sind deutlich abgebaut. Die Mindestrücklage der gesetzlichen Krankenversicherung ist um circa 1,6 Milliarden
Euro unterschritten. Die Krankenkassen haben zur Sicherstellung ihrer Leistungsfähigkeit nämlich ebenfalls
eine Rücklage zu bilden. Dieser Notgroschen ist mittlerweile vielfach aufgebraucht. Das heißt, die ersten Krankenkassen sind eigentlich konkursreif.
Obwohl Sie das alles wissen und obwohl Ihnen bekannt ist, dass die geplanten Einsparungen diese Kassen
nicht retten können, weigern Sie sich, den Kassen zu helfen. Sie wollen den Beitragssatz für das gesamte Jahr
2003 festschreiben und Sie treiben diese Kassen damit in
den wirtschaftlichen Exitus.
Offensichtlich schwant Ihnen das; deshalb verfallen
Sie jetzt auf eine ganz perfide Idee: Sie wollen den über
die Kassen wachenden Ländern die Möglichkeit nehmen,
ihren rechtsstaatlichen Verpflichtungen nachzukommen
und den Kassen auf die Finger zu schauen. Die Länder haben das Finanzgebaren der Kassen in der Vergangenheit
zwar oftmals mit einem zugedrückten Auge toleriert;
doch jetzt soll diese - rechtlich höchst fragwürdige - Haltung salonfähig gemacht werden. Damit ist der finanzielle
Ruin der Krankenkassen politisch vorprogrammiert. Ich
sage Ihnen: Die Patientinnen und Patienten, die Versicherten, haben sowohl aus diesem Grund als auch aus anderen Gründen das Nachsehen.
Rot-Grün plant für das kommende Jahr eine Nullrunde
für Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser. Das heißt für die
Patienten, dass ihre Versorgung noch schlechter wird, als
sie es bisher schon ist. Der Vorsitzende des Marburger
Bundes, Herr Montgomery, hat es auf den Punkt gebracht
- ich zitiere ihn -:
Weil die Bundesregierung offensichtlich kein sachgerechtes Konzept gegen das chronische Finanzdefizit des Gesundheitswesens hat, will sie nun den Versicherten per Gesetz vorschreiben, wann und wie oft
sie krank werden dürfen.
Ist das gemeint, wenn Sie in Ihrem Koalitionsvertrag davon sprechen, die Qualität im Gesundheitswesen weiterzuentwickeln und die Interessen der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt Ihrer Gesundheitspolitik zu
stellen?
Vor der Wahl haben Sie den Ärztinnen und Ärzten in
den Krankenhäusern versprochen, Maßnahmen zu ergreifen, um das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur
Arbeitszeit umzusetzen. Angesichts der Tatsache, dass im
Krankenhaus etwa 70 Prozent der Kosten Personalausgaben sind, liegt es doch auf der Hand, dass bei einer Nullrunde keine Finanzmittel für die Einstellung weiterer
Ärzte vorhanden sind. Im Gegenteil: Die Ärzte müssen
mit Entlassungen oder damit rechnen, dass der Druck auf
ihre Arbeitskraft noch größer wird. Sie lassen die Krankenhäuser im Stich und schaden damit der Versorgung in
der Fläche und den Menschen, die darauf angewiesen
sind.
({17})
Es gäbe noch viel zu sagen; aber nur noch kurz zum
Stichwort Bürokratisierung im System. Hier haben Sie
es geschafft, dass 3 800 Menschen mehr in der Verwaltung beschäftigt sind, aber 15 000 Pflegekräfte weniger
für die Versorgung zur Verfügung stehen. Dies ist die Bilanz Ihrer Politik.
({18})
Die sozialen Sicherungssysteme sind dringend auf einen wirtschaftlichen Aufschwung angewiesen. Aber ohne
grundlegende Reformen in der gesetzlichen Krankenversicherung wird sich dieser konjunkturelle Aufschwung
nicht einstellen. Deshalb ist die rot-grüne Politik des
„Weiter so“ höchst fahrlässig. Deshalb wird es Zeit, dass
Sie Konsequenzen ziehen.
Frau Schmidt, Sie sind den Problemen der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht gewachsen. Irgendwann werden Sie es auch selbst merken.
({19})
Nun hat der Kollege Klaus Kirschner für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Sie werden es hören, lieber Kollege Parr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Reden haben deutlich gemacht, warum sich die
Wählerinnen und Wähler am 22. September dieses Jahres
für die bisherige Koalition und damit für den Erhalt und
die Weiterentwicklung der solidarischen Krankenversicherung entschieden haben,
({0})
und zwar basierend auf den Grundprinzipien der Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Jungen und Alten,
gut Verdienenden und weniger gut Verdienenden, Singles
und Familien sowie der paritätischen Finanzierung
durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie haben sich für
einen umfassenden Leistungsanspruch entschieden, und
zwar - unabhängig vom Einkommen - orientiert am medizinisch Notwendigen.
({1})
Die Wählerinnen und Wähler haben sich also gegen die
Aufspaltung des Leistungskatalogs in Grund- und Wahlleistungen und damit die Verlagerung der Krankheitskosten
weg von der Solidargemeinschaft auf die Geldbeutel der
einzelnen Patienten und auch gegen die Abwahl von Leistungen entschieden. Vor der Wahl hieß dies noch auf Neobayerisch „opting out“. So steht es im Programm der CSU.
({2})
Die Debatte hat gezeigt: Außer Ihrer Kritik ist nichts
gekommen.
({3})
Lieber Herr Kollege Seehofer, lieber Herr Kollege
Dr. Thomae und liebe Frau Kollegin Widmann-Mauz, wer
selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
({4})
Wenn der Kollege Seehofer der Frau Ministerin Allgemeinplätze vorwirft
({5})
und sagt, der Wert der Prävention müsse angehoben werden, kann ich nur fragen: Wer hat denn den § 20 SGB V
auf eine Restgröße zusammengestutzt? Waren Sie das
oder wer war das? Wer hat denn den § 20 SGB V wieder
zum Leben erweckt? - Sie doch nicht!
({6})
Lieber Herr Kollege Seehofer - dies gilt auch für Ihre
damalige Koalition zu der Zeit, in der Sie Regierungsverantwortung getragen haben -, wenn Sie Verschiebebahnhöfe anprangern, sollten Sie auch wissen, dass auf denjenigen, der mit einem Finger auf andere zeigt, drei Finger
zurückzeigen.
({7})
Wer hat denn beispielsweise damit begonnen, die Bemessungsgrundlage bei Arbeitslosen zu senken? Waren
Sie das?
({8})
- Das waren Sie nicht? Ihr Gedächtnis ist aber wirklich
verdammt kurz; das muss ich Ihnen schon sagen.
Lieber Herr Kollege Seehofer, zur Ihren Vorwürfen bezüglich der Jahrhundertreform muss ich fragen: Wie lange
hat denn Ihre Jahrhundertreform von 1989 gedauert? War
nicht 1992 eine erneute Reform fällig?
({9})
- Entschuldigen Sie bitte, aber damals hat Herr Blüm gesagt,
wir machen eine Jahrhundertreform. Ihr Jahrhundert hat
zweieinhalb Jahre gedauert, nicht mehr und nicht weniger.
({10})
Lieber Herr Kollege Seehofer, wenn Sie hier - dies ist
unbestritten - die Leistungen im Rahmen der deutschen
Einheit ansprechen, aber gleichzeitig sagen, die Beitragssätze seien zu hoch, dann sagen Sie doch auch klipp und
klar, ob Sie beispielsweise den Finanzkraftausgleich im
gesamtdeutschen RSA abschaffen wollen, immerhin eine
Finanzsumme, die - von West nach Ost - jährlich 2 Milliarden Euro beträgt. Das kostet Geld. Ich frage Sie: Sind
Sie dafür? Ja oder nein? Wenn ja, dann müssen Sie sich
auch dazu bekennen.
({11})
Es geht jedenfalls nicht so, wie Sie das hier versuchen.
Ich will bei dieser Gelegenheit an das PflegeleistungsErgänzungsgesetz erinnern. Haben Sie nicht da einen
Antrag eingebracht, in dem Sie fordern, dass ab dem Jahr
2002 die Behandlungspflege auf die GKV übertragen
werden soll? Das wäre mit Kosten von jährlich 1,5 Milliarden verbunden. Haben Sie das nicht gemacht? Erinnern
Sie sich eigentlich nicht mehr an diesen Antrag?
Noch einmal, lieber Herr Kollege Seehofer: Wer hat
denn dem damaligen Hauptgeschäftsführer des BPI zu
seinem 60. Geburtstag die Positivliste geschreddert überreichen lassen?
({12})
Das ist doch in Ihrem Auftrag geschehen. Oder etwa
nicht? Wir wären ein gewaltiges Stück weiter,
({13})
wenn Sie sich an die gemeinsame Abmachung von Lahnstein gehalten hätten.
({14})
- Darf ich Sie einmal daran erinnern, wer denn die Stufen
zwei und drei der Festbetragsregelung 1996 gestrichen
hat? - Das waren doch Sie, Ihre Koalition.
({15})
Dies hat nach vorsichtigen Rechnungen die gesetzliche
Krankenversicherung bis heute rund 5 Milliarden Euro
Mehrausgaben gekostet.
({16})
Wir werden dieses rückgängig machen.
({17})
Dann werden wir sehen, wie Sie eigentlich zu diesen Dingen stehen.
({18})
Wer hier die Höhe von Beitragssätzen anprangert und
selbst eine solch lange Liste von eigenen Sünden zu vertreten hat, der sollte in dieser Frage etwas leiser sein.
({19})
Lieber Herr Kollege Dr. Thomae,
wenn Sie sagen - ich hoffe, dass ich Sie jetzt richtig zitiere -, das Vorschaltgesetz sei die brutalste Budgetierung,
die man sich denken könne,
({20})
dann frage ich Sie: Wie war das denn mit dem Beitragssatzentlastungsgesetz? Haben Sie nicht die Beiträge per
Gesetz generell um 0,4 Prozentpunkte gesenkt?
({21})
- Moment mal! Sie haben das an entsprechende Senkungen gekoppelt. Sie haben der GKV per Gesetz eine Beitragssatzsenkung von 0,4 Prozentpunkten aufoktroyiert.
({22})
- Herr Kollege Dr. Thomae, ich glaube, wir tun uns keinen
Gefallen - das gilt auch für Sie, Frau Widmann-Mauz -,
wenn wir immer nur das Schreckgespenst einer Unterversorgung an die Wand malen.
({23})
Unbestritten ist ja, dass es in Deutschland ein paar solcher Gebiete gibt. Aber Regelungen dafür sind im Gesetz
enthalten, nämlich dass dann, wenn es eine Unterversorgung gibt, die KVen - das ist der Sicherstellungsauftrag,
den sie wahrzunehmen haben - alles dafür tun müssen,
sie zu beseitigen. Das muss innerhalb der KVen geschehen.
Es wird hier ständig das Schreckgespenst an die Wand
gemalt, dass wir einen Ärztemangel hätten. Dazu sage
ich: Wir haben die höchste Ärzte- und Zahnärztedichte
überhaupt. Da kann man doch nicht von einem Ärztemangel reden.
({24})
Es ist unverantwortlich, was Sie gemacht haben.
({25})
- Lieber Herr Kollege Parr, mit „fliehen“ wäre ich ein
bisschen vorsichtig. Die jüngsten Zahlen für Studenten,
die sich für Medizin eingeschrieben haben, zeigen doch:
Wir hatten noch nie so hohe Zahlen.
({26})
Offensichtlich ist dieser Beruf nach wie vor für viele attraktiv.
({27})
Ich kann nur sagen: Hören Sie auf, Gefährdungen anzuprangern,
({28})
die es nicht gibt! Ansonsten werden Sie in vier Jahren die
gleiche Quittung von den Wählerinnen und Wählern bekommen wie am 22. September.
({29})
Nur alles schlecht zu machen und alles anzuprangern, das
ist keine glaubwürdige Alternative. Merken Sie sich das!
({30})
Sie haben am 22. September dafür letzten Endes die Quittung bekommen.
({31})
Wie sehen denn Ihre Vorschläge aus?
({32})
Sie erschöpfen sich doch darin, weniger Geld für mehr
Leistungen zu bieten. Sie werden auch in der Zukunft für
Ihre Art von Gesundheitspolitik von den Wählerinnen und
Wählern abgestraft werden.
({33})
Ihr ständiges Mosern und das Schielen auf die Geldbeutel
der Kranken stellen keine glaubwürdige Alternative für
die Versicherten dar.
({34})
Ich sage Ihnen auch Folgendes: Sie agieren im Gleichklang mit den starken Lobbygruppen der Leistungserbringer; Sie heulen doch mit denen mit.
({35})
- Aber ich bitte Sie, Herr Kollege Dr. Thomae. Das haben
wir vor der Bundestagswahl doch gesehen. Da war ja
diese schöne Anzeige - sie hat Ihnen sicherlich gut gefallen -,
({36})
in der gefragt wurde: Was verstehen Politiker von Medizin und was verstehen Mediziner von Politik? Es ging um
die Konzepte, die zu einer besseren Versorgung der Patientinnen und Patienten führen sollen, nämlich um unsere
Disease-Management-Programme.
Sind Sie nun für oder gegen bessere Qualität? Sie können hier doch nicht einfach sagen, sie wollten eine bessere
Qualität, und in den Ausschusssitzungen haben Sie - zumindest was die Vergangenheit angeht; vielleicht haben
Sie sich ja geändert;
({37})
das wollen wir in Zukunft einmal abwarten - diese abgelehnt, und zwar obwohl mit den Disease-ManagementProgrammen eine bessere Medizin für die Patientinnen
und Patienten gewährleistet ist.
({38})
- Lieber Herr Kollege Dr. Thomae, Sie kennen sich
ebenso wie der Kollege Zöller in der Gesundheitspolitik
doch genauso gut aus wie ich; Sie beschäftigen sich doch
schon seit langem damit.
({39})
Das, was Sie da sagen, ist wirklich das Letzte. Sie wissen
doch ganz genau: Es gibt derzeit einen fatalen Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen um Gesunde.
({40})
Wettbewerb ist ja notwendig. Aber das Ziel muss eine
Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit sein.
Die Kassen sind - das kennen wir aus der Vergangenheit keine Engel, sondern Institutionen. Wenn bestimmte
Krankenkassen heute einen besonders niedrigen Beitragssatz anbieten können, dann ist das nicht ihr Verdienst, sondern nur Ausdruck dafür, dass sie einen hohen Anteil an
Gesunden unter ihren Versicherten haben, während bei
anderen Krankenkassen auch viele Kranke versichert
sind. Die Kopplung von Disease-Management und Risikostrukturausgleich wird dazu führen, dass die Jagd auf
gesunde Versicherte aufhört und dass die Kassen letzten
Endes für eine Optimierung der Krankenversorgung belohnt werden. Das haben Sie offensichtlich nicht begriffen oder wollen es auch nicht begreifen; denn Sie wollen
das schließlich ablehnen. Denken Sie einmal darüber
nach!
({41})
- Wenn der Gedanke richtig ist, lieber Kollege Zöller,
dann kann es nicht verkehrt sein.
({42})
Herr Kollege, bevor Sie sich in eine unnötige private
Auseinandersetzung verstricken, möchte ich Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit überschritten ist. Ich bitte Sie,
zum Ende zu kommen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich denke, ich habe den
Kolleginnen und Kollegen das Notwendige gesagt, nämlich dass das, was Sie hier vorgelegt haben, keine Alternative darstellt.
({0})
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dafür in vier
Jahren, so wie am 22. September, wieder die Quittung bekommen.
Vielen Dank.
({1})
Als letzte Rednerin in der Debatte erteile ich das Wort
der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich bin Abgeordnete der
PDS. Ich würde es begrüßen, wenn wir unsere Debatten
zur Gesundheitspolitik so führen würden, dass auch diejenigen unter den Zuschauerinnen und Zuschauern, die
keine ausgesprochenen Expertinnen und Experten sind,
sie verstehen könnten.
({0})
Ich kenne das Gesundheitssystem aus eigenem Erleben
und höre, was mir meine Wählerinnen und Wähler über
ihre Erfahrung mit dem Gesundheitssystem berichten. Ich
nenne Ihnen ein Beispiel, sehr verehrte Herren in der ersten und zweiten Reihe: Eine Berliner Mutter geht mit
ihrem Kind zum Arzt, wartet eine oder zwei Stunden im
Wartezimmer, wird dann hereingebeten. Das Kind zieht
sich aus, wird untersucht und darf sich dann wieder anziehen. Die Mutter geht dann mit dem Kind zur Apotheke,
kauft den Impfstoff und wartet wieder beim Arzt. Das Kind
zieht sich aus und wird geimpft. Dann geht die Mutter zu
ihrer Krankenkasse und bekommt die Kosten ersetzt.
({1})
Der Hintergrund ist Ihnen sicher bekannt: Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigung konnten sich über
die Finanzierung der Grippeschutzimpfung in Berlin
nicht einigen. Die Leidtragenden dieser Auseinandersetzung sind die Patienten. Nun ist es nach langer Zeit und
nach Eingreifen der PDS-Gesundheitssenatorin gelungen,
eine Einigung zwischen Krankenkassen und kassenärztlicher Vereinigung, die ja bekanntermaßen die Ständevertretung der Ärztinnen und Ärzte ist, zu erreichen.
({2})
- Ich habe Ihnen das gerade gesagt, verehrter Herr Kollege.
Die Gesundheitssenatorin ist von der PDS und nur durch
ihr Eingreifen und ihr Verhandlungsgeschick ist es gelungen, diesem misslichen Zustand ein Ende zu bereiten.
({3})
Ich denke, meine Damen und Herren, dieses Beispiel
zeigt sehr deutlich, welche Stellung die Patienten und Patientinnen in unserem Gesundheitssystem haben. Ich
merke aber an, dass es „den“ Patienten nicht gibt. Ich
denke, dass die Mehrheit von Ihnen privat versichert ist
und die Probleme, die ich gerade beschrieben habe, aus eigenem Erleben gar nicht kennt.
Hier wurde von einer Zweiklassenmedizin gesprochen. Die haben wir bereits; wer Geld hat, lebt länger.
Hier wurde auch viel über Geld gesprochen und darüber,
dass die Krankenkassen unterfinanziert sind. Doch ich
denke, es geht nicht nur um mehr Geld für die Krankenkassen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als einen Umbau des Gesundheitssystems. Jeder weiß, dass andere Länder ihren Bürgerinnen und Bürgern mit weniger
Geld eine bessere Gesundheitsversorgung bieten, als dies
die Bundesrepublik tut.
Das Problem ist jedoch, dass in unserem Land sehr
viele sehr gut an diesem Gesundheitssystem verdienen.
Damit meine ich nicht in erster Linie die Ärzte. Die Prognosen besagen, dass in Berlin dieses Jahr 500 Ärzte ihre
Praxen schließen werden, weil sie sie nicht mehr finanzieren können. Darunter befinden sich auch Ärzte aus
dem Ostteil der Stadt, die nach der Wende hohe Kredite
aufnehmen mussten, um sich niederzulassen. Sie stehen
jetzt vor dem Nichts.
({4})
Offensichtlich verdienen die Pharmaindustrie und die
Industrie für medizinische Geräte besonders gut an diesem
System.
({5})
Die Bürgerinnen und Bürger werden mit Medikamenten
vollgestopft und schon bei einer Erkältung in modernste
medizinische Geräte geschoben, weil es sich rechnet. Der
Effekt für die Gesundheit ist oft fraglich.
({6})
Unter meinen Wählerinnen und Wählern gibt es auch
- Sie werden es nicht glauben - einen mir bekannten Pharmavertreter. Ich dachte immer, er verkauft Medikamente
an die Ärzte. Nach Gesprächen mit ihm habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass er eher Mitarbeiter eines Reisebüros ist. Er ist nämlich mit den Ärzten in der
ganzen Welt unterwegs, um ihnen Medikamente nahe zu
bringen. Da stimmt doch etwas nicht.
({7})
Die Pharmaunternehmen haben in diesem System offensichtlich sehr gute Geschäfte gemacht, sodass sie sich solche kleinen Extras leisten können.
Der Patient soll in diesem Gesundheitssystem immer
mehr zum Kunden werden. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll, und ich weiß auch nicht, ob dieser Anspruch
wirklich ernst gemeint ist.
({8})
Wie kann es sonst sein, dass ältere Kunden von den
Krankenkassen nicht gern gesehen, junge Kunden aber
mit Kusshand genommen werden? Ich finde es wirklich
beängstigend, dass Krankenkassen ihr Zweigstellennetz
aus Kostengründen reduzieren und auf den Nebeneffekt
hoffen, dass ältere Bürgerinnen und Bürger aufgrund
der dann gegebenen schlechteren direkten Beratungsmöglichkeiten vielleicht doch die Krankenkasse wechseln.
Meine Damen und Herren, in vielen Reden wurde das
Solidarprinzip beschworen. Ich habe jedoch den Eindruck,
dass dieses wichtige Prinzip ein frommer Wunsch bleibt.
({9})
Ich denke, dass das Geld, welches sich im Gesundheitssystem befindet, an vielen Stellen falsch verteilt ist. Zu
viel Geld fließt an die Pharmaindustrie.
An dieser Stelle muss angesetzt werden. Dann werden
wir sehen, dass hinten, so, wie es Ihr ehemaliger Kanzler
Kohl zu sagen pflegte, mehr herauskommt.
({10})
Mit diesem Spruch hatte er ausnahmsweise mal Recht.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache zur Regierungserklärung.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. November, 13 Uhr, ein.
Gleichzeitig möchte ich darauf aufmerksam machen, dass
in dieser Sitzung sowohl die Regierungsbefragung als
auch die Fragestunde stattfinden werden.
Bis zum Beginn der nächsten Woche wünsche ich Ihnen einige ruhigere Tage.
Die Sitzung ist geschlossen.