Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Gerhard Rübenkönig hat sein Amt als
Schriftführer niedergelegt. Die Fraktion der SPD be-
nennt als Nachfolgerin die Kollegin Rita Streb-Hesse.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wider-
spruch. Damit ist die Kollegin Streb-Hesse als Schrift-
führerin gewählt.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesord-
nungspunkt 1 - fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2004
({0})
- Drucksache 15/1500 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007
- Drucksache 15/1501 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige
Aussprache achteinhalb Stunden, für morgen acht Stunden und für Freitag eineinhalb Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes.
Als erster Redner hat der Kollege Michael Glos von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor einem Jahr konnten die Deutschen einen
neuen Bundestag wählen. Heute würden sie es gerne
wieder tun. Ich bin mir sicher: Sie würden sich ganz anders entscheiden.
({0})
Das zurückliegende Jahr war ein verlorenes Jahr für
Deutschland. Unser Land befindet sich dank der glorreichen Führung von Rot-Grün in der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Massenarbeitslosigkeit,
Stagnation, riesengroße Löcher in den öffentlichen
Haushalten und leere Sozialkassen kennzeichnen die
Lage. Herr Bundeskanzler, Deutschland ist nicht mehr in
der Champions League, sondern in der Abstiegsklasse.
Der Finanzminister ist zum Herrn der Löcher mutiert,
vom ehemaligen selbst ernannten Sanierer zu einem
Mann, der über seinen Haushalt sagen muss, er war noch
nie so voller Risiken wie heute. Das hat auch die gestrige
Debatte gezeigt.
Herr Bundeskanzler, weil wir gerade beim Thema
Fußball sind, möchte ich feststellen: Sie haben manches
mit Rudi Völler gemeinsam. Sie sind Chef einer erfolglosen Mannschaft.
({1})
Vor allen Dingen sprechen Sie aber die gleiche Sprache
wie Rudi Völler. Über die Grünen haben Sie nämlich gesagt, Sie fänden sie zum Kotzen. Sie hätten wenigstens
das Wort „Erbrechen“ verwenden können.
({2})
Ich kann verstehen, dass es einem hochkommt, wenn
man einen solchen Partner hat und wenn man sich mit
diesen Damen und Herren abgeben muss. Zumindest ist
dieses Wort aus Ihnen herausgebrochen.
Redetext
({3})
Bis zum Wahlabend vor einem Jahr ist die Lage
schöngeredet worden. „Weiter so, Deutschland“ und
„mit ruhiger Hand“, hieß es. Deutlich unter 3,5 Millionen Arbeitslose, das war Ihre Zielvorgabe, Herr Bundeskanzler. Wir haben heute 660 000 Arbeitsplätze weniger in diesem Land als vor einem Jahr. Ich darf zitieren,
was damals versprochen wurde:
Wenn es uns nicht gelingt, in den ersten Jahren einen Durchbruch zu erzielen, haben wir nicht verdient, weiter zu regieren.
Dieses Wort gilt heute, nach fünf Jahren, noch genauso.
({4})
Die Wahlversprechen werden vom Tisch gewischt.
Aufschwung, Wachstum, mehr Beschäftigung, ausgeglichener Haushalt, gesicherte Sozialleistungen, stabile
Sozialbeiträge - all das ist vergessen. Doch weil die Bürgerinnen und Bürger viele dieser großspurigen Versprechungen nicht vergessen haben, meinen sie oft, sie seien
Zuschauer in einem falschen Film. In der Geschichte unseres Landes wurden die Menschen noch nie derart skrupellos hinters Licht geführt, wie es bei der Bundestagswahl im letzten Jahr der Fall war.
({5})
Machen wir uns nichts vor: Die neue Mitte, um die
Sie damals geworben haben, hätte Sie nicht gewählt,
wenn sie gewusst hätte, wie stark die Sozialversicherungsbeiträge ansteigen und dass die Beitragsbemessungsgrenze heraufgesetzt würde. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hätte Ihnen keine millionschwere
Wahlhilfe gegeben, wenn er gewusst hätte, was mit der
Agenda 2010 kommt. Ich will damit nicht sagen, dass
das alles nicht auch ein Stück weit sein muss; man muss
das den Wählerinnen und Wählern aber vorher sagen.
({6})
Verehrter Herr Bundeskanzler, verschiedene Leute
haben mir gesagt, ich solle heute ein bisschen netter zu
Ihnen sein. Ich will das gerne tun: Ich bedanke mich bei
Ihnen ganz herzlich für die Wahlhilfe, die Sie uns in
Bayern geben.
({7})
Ich finde das großartig und eindrucksvoll. Dank der
schlechten Politik, die Sie hier, in Berlin, machen, werden wir in Bayern ein gutes Wahlergebnis einfahren.
({8})
Es ist bekannt, dass Sie „out of Rosenheim“ nicht auftreten dürfen. Rosenheim hat eine CSU-Oberbürgermeisterin. Weil die CSU liberal und tolerant ist,
({9})
waren Sie dort willkommen. In München wurden Sie
von Herrn Ude und in Nürnberg von Herrn Maly ausgeladen. Grund dafür war in erster Linie, dass die Finanzlage der Kommunen dank einer dilettantisch gemachten
Körperschaftsteuerreform mindestens genauso desolat, wenn nicht noch desolater ist als die des Bundes und
der Länder. Deutschland wird bald zur körperschaftsteuerfreien Zone. Außerdem wurden Sie ausgeladen, weil
man sich Ihre Erfolgslosigkeit nicht an die Backe kleben
will.
Das wird den Genossinnen und Genossen dort aber
wenig helfen. Sie handeln so verkehrt, wie man verkehrter nicht handeln kann: Sie entscheiden sich weder für
noch gegen diese Bundesregierung. Die Wählerinnen
und Wähler wollen aber klar wissen, woran sie sind. Ich
glaube, den Genossinnen und Genossen in Bayern droht
das gleiche Schicksal, das unser Land insgesamt ergriffen hat: Sie werden in eine tiefe Rezession abgleiten.
Sie programmieren und plakatieren für viel Steuergeld „Deutschland bewegt sich“. Diese Kampagne ist
meiner Ansicht nach ein Stück weit das Geständnis, dass
es in Deutschland bisher Stillstand gegeben hat.
({10})
Im Grunde ist diese Kampagne ein Offenbarungseid der
Regierung.
({11})
Ich finde es gut, dass Sie Ihre eigenen Fehler mit dieser
Kampagne noch bekannter machen.
Die misslungene Steuerreform - die Körperschaftsteuer ist die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer - hat neben der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage dazu geführt, dass die Kommunen wegen der
schwachen Wirtschaftslage derart am Krückstock gehen,
dass heutzutage Leistungen, die die Bürgerinnen und
Bürger direkt betreffen, gestrichen werden müssen. Daran sind nicht die Kommunalverwaltungen, nicht die
Bürgermeister oder Oberbürgermeister schuld. Die
Schuldigen sitzen vielmehr hier auf der Regierungsbank.
({12})
- Herr Stiegler, es wäre besser, wenn Sie zuhören würden, anstatt zu schreien. Sie müssen wissen, dass man
beim Selber-Reden-und-Schreien nichts lernen kann,
sondern nur beim Zuhören.
({13})
Ich rufe Ihnen noch einmal in Erinnerung - wenn Sie zuhören können -, dass Sie alle unsere Initiativen, mithilfe
derer die finanzielle Situation der Kommunen rasch
hätte verbessert werden können, im Deutschen Bundestag abgeschmettert haben.
({14})
Trotz Riester-Rente, Ökosteuer, steigender Beiträge
und höherer Bemessungsgrenze steht die Rentenversicherung vor einem Kollaps. Das macht uns und den
Menschen draußen Sorgen. Ohne unsere Mitarbeit - ich
bedanke mich bei Horst Seehofer und seinen Mitstreitern - stünden die Krankenversicherungsbeiträge ebenfalls vor einer gewaltigen Explosion.
Ohne das Störfeuer aus geschwätzigen Kommissionen wäre die Politik für die Bürger wenigstens ein Stück
weit transparenter. Herr Bundeskanzler, bei Ihrem Hang
zu Kommissionen wäre es passender gewesen, Sie wären nicht Bundeskanzler, sondern Kommissionspräsident
geworden.
({15})
Kommissionen sind ein Ablenkungsmanöver: Deutschland hat kein Erkenntnisdefizit, Deutschland hat ein Umsetzungsdefizit.
Denken Sie an den immer währenden Herrn Rürup:
Keine Kommission ohne Rürup. Sie wissen, dass er
seine Erkenntnisse schon sehr oft mitgeteilt hat.
({16})
Wenn Sie es ernst meinen und diese Kommissionen kein
reines Ablenkungsmanöver sein sollen, müssen Sie diese
Erkenntnisse aber auch umsetzen.
Auch wenn die Grünen die neue Lehrerpartei geworden sind, muss man feststellen, dass die SPD immer
noch von den Lehrern geprägt ist. August Bebel hat einmal gesagt, die Lehrer würden die Sozialdemokraten
und die Gewerkschaften einmal kaputt machen.
({17})
Beide Gruppen haben nicht nur ein gewaltiges Umsetzungsdefizit, sondern wir haben in unserem Land auch
gewaltige volkswirtschaftliche Erkenntnisdefizite. Herr
Bundeskanzler, deswegen müssen Sie zu Sonderparteitagen und Regionalkonferenzen. Sie müssen versuchen,
die Menschen dort ein wenig nachzubilden. Das fällt bei
den Betonköpfen in den DGB-Gewerkschaften natürlich sehr schwer.
({18})
Quasseln ersetzt jedenfalls keine Entscheidung.
Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, welche Platte Sie
anschließend vorspielen werden. Sie werden wieder fragen: Wo sind denn Ihre Alternativen?
({19})
Dabei liegen auch im Bundesrat jede Menge Alternativen und Initiativen vor. Bisher ist von Ihnen alles abgeschmettert worden.
({20})
Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist doch eine unendliche Geschichte von Murks und Widersprüchen.
Nur ein Beispiel: Die Berufung von Herrn Gerster an
die Spitze der Bundesanstalt für Arbeit sollte ein neues
Zeitalter einleiten. Heute sind Gersters Umbaupläne
nicht einmal mehr eine Fußnote in der deutschen Arbeitsmarktpolitik.
Die nächste Wunderwaffe, die dann aktiviert wurde,
war Herr Hartz. Hartz und Murks - das klingt schon so
ähnlich.
({21})
Ich hoffe, dass es VW nicht schadet, wenn man diese
Dinge in eine so nahe Verbindung bringt. Die Zelebration des neuen Golfs lief unlängst ähnlich ab wie die Zelebration des Hartz-Programms seinerzeit hier in Berlin.
Im Interesse unseres Landes hoffe ich nur, dass der neue
Golf besser einschlägt als das, was Hartz vorher gezündet hat.
({22})
Die Ich-AG ist nur sehr zäh angelaufen. Die Folgen
für etablierte Handwerker und Dienstleister bleiben abzuwarten. Sie soll eine neue Wunderwaffe sein. Zum
Ausgleich dafür entzieht man dem Handwerk einen großen Teil seiner Grundlage. Das ist doch eine ungeheuer
widersprüchliche und falsche Politik.
({23})
Von dem Jobfloater wurden 50 000 neue Stellen erwartet. Es sind nicht einmal 10 000. Auch durch die Personal-Service-Agenturen sollten 50 000 Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Bislang sind es gerade
einmal 608. Wissen Sie, was PSA heißt? Es bedeutet:
Pleite statt Arbeit. Das ist ein Kennzeichen Ihrer Politik.
({24})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage es
noch einmal: Wir haben konkrete Alternativen vorgelegt.
({25})
Ich nenne unsere Vorschläge zur Veränderung des Kündigungsschutzes, für betriebliche Bündnisse für Arbeit
und für die Zusammenführung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe mit einer möglichst dezentralen Zuständigkeit. Wir wollen keine neuen Großbehörden und Bürokratien schaffen, wie es Grüne und Sozialisten immer
anstreben.
({26})
Wir möchten, dass das bei den Kommunen bleibt und
das sie für die Durchführung und Umsetzung weiterhin
hauptverantwortlich sind.
({27})
Wir haben die Neuregelung der 400-Euro-Jobs durchgesetzt. Das ist eines der wenigen Dinge, die Erfolg gehabt haben. Das stammt aber nicht von Rot-Grün, sondern von der Union.
({28})
Herr Bundeskanzler, Deutschland bewegt sich. Ja,
aber es bewegt sich bis jetzt immer noch in die falsche
Richtung. Bis heute konnte der Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge nicht gestoppt werden. Die Löcher in
den öffentlichen Haushalten wachsen von Monat zu Monat und die Wirtschaft stagniert seit über zwei Jahren.
Nach gängiger Definition bezeichnet man einen Rückgang in zwei Quartalen hintereinander als Rezession.
Die Arbeitslosenzahl bricht einen traurigen Rekord nach
dem anderen. Für den Niedergang sind diejenigen verantwortlich, die auf der Kommandobrücke dieses Landes stehen.
({29})
Herr Bundeskanzler, deswegen ist es eine Drohung,
dass Herr Fischer und Sie sagen, Sie wollten das nächste
Mal wieder antreten.
({30})
- Wenn es nur für uns eine Drohung wäre, wäre es kein
Problem; wir würden damit fertig werden.
({31})
Deutschland wird aber nicht damit fertig werden. Die
Bürgerinnen und Bürger wollen eine bessere Politik. Ihnen ist es vollkommen egal, wer oben steht. Sie sagen:
Tut etwas, verändert etwas und redet nicht nur! Ich habe
die Befürchtung, dass alles bei Ihnen beiden so bleiben
würde, wie es ist, falls Sie, was die Wähler durch ihre
Einsicht verhindern mögen, noch einmal gewählt würden. Das würde für Deutschland einen gewaltigen Schaden bedeuten.
Deutschland bewegt sich unter Ihrer Führung, Herr
Bundeskanzler, nicht im Tempo eines Rennpferdes, sondern im Tempo einer Schnecke. Das ist das Tempo
Deutschlands. Die Wirtschaft dümpelt vor sich hin.
Clement verkündet: Konjunkturerholung in Sicht. Der
Kanzler sieht Licht am Ende des Tunnels. Wissen Sie,
wenn Sozialdemokraten Licht am Ende des Tunnels sehen, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sehen
sie den Gegenzug - denn bei ihm ist das Licht vorne oder wenn sie ganz sicher sind, dass es ein Licht am
Ende des Tunnels gibt, dann werden sie den Tunnel mit
immer neuen Vorschlägen und neuen Kommissionen
verlängern, wodurch immer mehr Pessimismus ausgelöst wird.
({32})
Wenn ich den regierungsamtlichen Prognosen Glauben schenken darf, dann müssten wir uns eigentlich statt
in einer Rezession in einem Boom befinden; denn für
den Herbst 2003 wurde uns der Wirtschaftsaufschwung
versprochen. Die Fakten sprechen eine andere Sprache:
40 000 Pleiten und Insolvenzen. Herr Bundeskanzler, es
gibt neue Arbeitsplätze und Investitionen in diesem
Land. Es gibt durchaus internationale Unternehmungen,
die sich in Deutschland neu niederlassen. Das sind nämlich diejenigen, die sorgfältiger Marktanalysen betreiben, als das bei Ihnen der Fall ist. Ich meine die Zunft
der Konkurs- und Insolvenzanwälte. Auch internationale
Kanzleien dieser Art lassen sich nun verstärkt in
Deutschland nieder, weil sie wissen, dass ihnen RotGrün Arbeit gibt und sie gewaltig Geld verdienen lässt.
({33})
Die einzige Hoffnung, die Ihnen noch bleibt und die
immer wieder beschworen wird, ist die Hoffnung auf einen Aufschwung in den USA. Wenn dieser eintrifft
- dies wird ein Stück weit geschehen -, wird dies aber in
Deutschland ein Aufschwung ohne Schwung werden,
weil unsere Wirtschaftsschwäche hausgemacht ist. Sie
kommt nicht von den internationalen Märkten her, sondern sie resultiert, wie gesagt, aus dem Verschieben von
Reformen und Veränderungen, die wir brauchen. Dies
führt zu einem Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen
und Bürgern. Die Sprunghaftigkeit und die mangelnde
Wahrhaftigkeit der rot-grünen Regierung haben
Deutschland in diese Vertrauensfalle geführt. Es ist ungeheuer schwierig, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen.
Der Attentismus der Verbraucher und Investoren
ist eine zwangsläufige Folge Ihrer Politik. Die Menschen
in diesem Lande schauen und warten, statt zu handeln,
weil sie Ihren Ankündigungen keinen Glauben schenken. Es hat sich im Land zu sehr der Eindruck verfestigt:
Die in Berlin Regierenden haben den Überblick verloren.
Dazu gibt es ein ganz konkretes Beispiel, Herr Bundeskanzler. Ich habe unlängst zufällig im ZDF die Sendung „logo!“ eingeschaltet. Dort sind Sie von ein paar
Kindern befragt worden. Die erste Frage war, ob Sie
wirklich den Ausdruck „kotzen“ verwendet haben. Dieser Ausdruck hat den Kindern schon Probleme bereitet,
({34})
weil sie offensichtlich aus Familien kommen, in denen
eine solche Sprache nicht gebraucht wird. Sie haben das
ein bisschen heruntergespielt.
({35})
- Herr Struck, an Ihrer Stelle wäre ich ganz ruhig.
({36})
Sie haben unlängst in einer Talkshow ein noch viel
schlimmeres Wort in den Mund genommen.
({37})
- Jetzt hören Sie doch einen Moment zu! - Kommen wir
wieder zurück zu Zahlen. Über Zahlen lässt sich viel
schwieriger streiten. Herr Bundeskanzler, Sie sind von
einem kleinen Jungen auch gefragt worden: Wie viel
verdienen Sie, Herr Bundeskanzler? Er wollte eigentlich
wissen, wie viel Sie bezahlt bekommen. Was Sie verdienen, steht auf einem ganz anderen Blatt.
({38})
Sie haben als Erstes gesagt, man müsse Ihre Frau fragen.
Auch bei mir ist dies bei konkreten Dingen ein Stück
weit der Fall.
({39})
- Das ist nicht peinlich, sondern typisch. - Danach haben Sie die Zahl von 10 000 Euro im Monat genannt.
Nun weiß man, dass es bei der SPD mit brutto und netto
immer große Probleme gibt. Aber es ist in Gesetzen
nachzulesen - das Einkommen von Abgeordneten und
Regierungsmitgliedern ist transparent -, dass Sie circa
das Zweieinhalbfache bekommen.
({40})
- Ich weiß das schon. Aber wir sind noch nicht bei
70 Prozent Steuern und Abgaben in diesem Land. Wenn
Sie aber noch eine Weile weiterregieren, werden wir auf
70 Prozent oder mehr kommen. Dann kann es passieren,
dass aus 25 000 Euro brutto 10 000 Euro netto werden.
Regieren hat aber auch etwas mit Detailkenntnis zu
tun. Entweder fehlen Ihnen wirklich die Kenntnisse über
die Zusammenhänge, was ich nicht glaube, oder Ihnen
fehlt der Mut, das zu sagen, was richtig ist, aber im Moment vielleicht nicht opportun erscheint.
({41})
Mit dieser Regierung - das sage ich noch einmal,
auch wenn Sie noch so laut rufen - kommt Deutschland
nicht auf die Füße. Es fehlt an Innovationen, an Mut zum
Risiko und echtem Gründergeist. Die Saat der Leistungsfähigkeit der 68er-Bewegung ist aufgegangen.
({42})
Rot und Grün verfahren heute nach dem Motto: Haltet
den Dieb! Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen.
Frau Bulmahn beklagt die verbreitete Bildungsschwäche, obwohl sie die Bildungsministerin ist. Dann soll sie
doch etwas dagegen tun. Frau Ministerin Künast beleidigt gleichzeitig den öffentlichen Dienst, indem sie
sagt, die Leistungen der Schüler würden allenfalls noch
für den öffentlichen Dienst ausreichen. Herr
Müntefering, Sie haben unlängst - ich glaube, ich habe
es im „Handelsblatt“ gelesen - beklagt, dass Deutschland zu technologiefeindlich sei und dass wir zu wenig
Naturwissenschaftler hätten - was ja auch stimmt. Auch
das erinnert an den Spruch: Haltet den Dieb!
Wer ist denn die Ursache dafür? Warum ist das so in
unserem Land? Es ist doch wie bei Goethes „Zauberlehrling“: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.
In die Ecke, Besen! Besen!“
({43})
Das läuft doch alles nicht. Sie haben diese Technikfeindlichkeit, diese Zukunftsangst, diese Skepsis und den
mangelnden Mut in unserer Gesellschaft zu verantworten. Das war nie Unionspolitik, sondern das war die Politik, die die Grünen nach oben gespült hat. Herr Bundeskanzler, Ihr größtes Problem ist, auch wenn Herr Fischer
jetzt umgeschwenkt ist - - Wenn jemand durch Leistung
nach vorne kommt, dann habe ich großen Respekt. Aber
mit Menschen, deren Leben zu große Brüche aufweist,
habe ich Probleme.
({44})
Herr Fischer, für mich stellt sich überhaupt die Frage, ob
Sie sich wirklich verändert haben oder ob Sie Ihr Rabaukentum nur auf einem höheren Niveau weiterpflegen.
({45})
Das weiß auch seine eigene Partei. Sie wissen doch, wie
er mit Ihnen umgeht, wenn ihm irgendetwas nicht gefällt.
Es ist die Saat der 68er-Bewegung, die dafür sorgt,
dass unser Land da ist, wo es heute steht.
({46})
- Herr Präsident, darf ich Sie bitten, für Ruhe auf der
Regierungsbank zu sorgen? Es reicht, wenn von den Abgeordnetensitzen der SPD bewusst gestört wird.
Auch die Sozialdemokraten sind vielen Irrtümern erlegen. Die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Geschichte von Irrtümern und von Zu-spät-Kommen. Sie
hinken den Entwicklungen hinterher.
({47})
- Hören Sie es sich doch an, bevor Sie Nein sagen! Das Godesberger Programm ist zu spät gekommen. Der
Zug war schon weit gefahren, als Sie erkannt haben, dass
die soziale Marktwirtschaft das richtige Programm ist.
({48})
Das war bei der NATO und der Bundeswehr ebenso.
Auch da sind Sie hinterhergehinkt. Es hat sich wiederholt, als es um die Globalisierung ging. Diese war nicht
aufzuhalten. Statt die Konsequenzen daraus zu ziehen,
hat man sie lange beklagt. Heute, 13 Jahre nach den
friedlichen Revolutionen im Osten,
({49})
wächst langsam die Erkenntnis, dass mit Sozialismus
nichts mehr zu machen ist. Das hat Herr Scholz mutig
ausgesprochen.
({50})
Dann sind wieder Teile der SPD über ihn hergefallen.
Sie hängen alten Chimären nach. Auch das ist eine der
Schwierigkeiten unseres Landes.
Der Umverteilungsstaat hat die Grenzen der Belastbarkeit unserer Wirtschaft längst überschritten, mit fatalen Folgen für das Wachstum in Deutschland. Wir dürfen
nicht nur auf das Heute sehen.
Das ist das Allerschlimmste an Ihrer Politik, Herr
Bundeskanzler. Sie sind ein Mann, der seine Popularität
immer nur in Augenblickserfolgen sucht. Darin sind Sie
zugegebenermaßen Meister.
({51})
Es geht aber nicht um Augenblickserfolge, sondern es
geht um Nachhaltigkeit in der Politik. Die Jungen müssen später die Zeche dafür zahlen, dass heute immer
noch massenhaft Kredite aufgenommen werden und das
Tilgen dieser Schulden auf übermorgen verschoben
wird.
({52})
Sie haben den von Helmut Kohl und Norbert Blüm eingeführten demographischen Faktor in der Rentenversicherung wieder abgeschafft.
({53})
Sie haben gewaltig Zeit verloren. Wir müssen auch den
Älteren sagen, dass sie auf Zuwächse verzichten müssen,
damit auch die Jungen noch etwas haben. Ich bin sehr
dafür, dass wir Bildung und Forschung stärker fördern
und man nicht die Saatkartoffeln nimmt, um daraus
Pommes frites zu machen, und davon noch die Hälfte
auf dem Tisch stehen lässt. Den Zusammenhang zwischen dem, was man heute tut, und dem, was sich morgen entwickelt, zu leugnen, ist einer der fatalen Fehler.
Dabei kann ich wieder auf Bayern verweisen. Warum
ist Bayern denn - zum Beispiel bei der Investitionsquote
im Landeshaushalt - besser gestellt?
({54})
Weil eine nachhaltige Finanzpolitik betrieben worden
ist. Bayern ist nicht jeder modischen Entwicklung nachgelaufen, sondern hat auch immer für schlechtere Zeiten
vorgesorgt.
Menschen, die hart arbeiten und kräftig Steuern zahlen, müssen mehr in der Tasche haben als diejenigen, die
alle Gesetzeslücken ausnutzen. Auch in dieser Hinsicht
ist bei Ihnen nichts vorangegangen.
({55})
- Bei Ihnen, Herr Stiegler, muss erst die „Bild-Zeitung“
über „Florida-Rolf“ und „Yacht-Hans“ berichten, bis Sie
sich in Bewegung setzen.
({56})
Die Leute haben diese Sozialschmarotzer gestrichen satt.
Immer wenn ein solcher Fall bekannt wird, werden vollmundig entsprechende Änderungen angekündigt. Letztlich geschieht dann aber nichts.
({57})
So war es auch, als der Bundeskanzler festgestellt hatte,
dass Kinderschänder weggesperrt werden müssen, und
zwar für immer. Dann hat aber Rot-Grün keine gesetzliche Grundlage geschaffen, die das erlaubt hätte. Ich
hoffe, dass die Gesetzeslücken zumindest im Falle von
„Florida-Rolf“ gestopft werden.
({58})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Eichel
ist eine tragische Figur.
({59})
Er hat die Geschichte des Hans im Glück der Gebrüder
Grimm inzwischen vollendet. Lesen Sie sie einmal nach!
Sie beginnt mit einem Klumpen Gold und endet mit einem Stein, den Hans im Glück am Ende weggeworfen
hat. Ich bin bereit, eine Wette einzugehen, dass Sie, Herr
Eichel, nicht mehr sehr lange im Amt sein werden. Sie
haben nur versäumt, rechtzeitig zu gehen.
({60})
Sie hätten sagen müssen, Herr Eichel: Meine Politik der
Konsolidierung - diesen Weg sind Sie eine Zeit lang
recht glaubwürdig gegangen - ist mit Rot-Grün nicht zu
machen; ich trete ab und stelle mich nicht zur Verfügung, das krasse Gegenteil zu machen, indem ich einen
Haushalt vorlege, zu dem ich bei der Einbringung selber
feststellen muss, dass er nicht stimmt.
({61})
Das haben Sie, Herr Eichel, schließlich gesagt und Frau
Scheel und andere haben das in Interviews wiederholt.
Ich finde das nicht tragisch für Sie. Sie werden
schließlich durch die Addition verschiedener Bezüge aus
öffentlichen Kassen gut versorgt in den Ruhestand gehen.
({62})
- Entschuldigung, das ist keine Sauerei, sondern eine
Tatsache. Ich gönne es Ihnen ja; aber Sie werden einen
Scherbenhaufen und Chaos in unserem Land hinterlassen. Das ist unser eigentliches Problem.
({63})
Lassen Sie mich noch etwas anmerken, weil Sie so
laut dazwischenrufen. Herr Eichel hat immer wieder Bekenntnisse zu dem in Maastricht beschlossenen Stabilitätspakt abgelegt. Er hat aber all diese Bekenntnisse
nicht eingehalten.
({64})
So haben Sie zugegeben, dass das Haushaltsdefizit in
diesem Jahr 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen wird. Um davon abzulenken, haben Herr Fischer
und Herr Schröder sofort erklärt, dass sie bei den nächsten Wahlen wieder antreten werden.
({65})
Sie werden aber tatsächlich ein Defizit von etwa 4,5 Prozent erzielen; es liegt also noch höher, als angekündigt.
({66})
Unter diesen Umständen hat es auch keinen Wert, wenn
Sie - um von der Debatte abzulenken - ankündigen, bis
2010 zu bleiben. Vielmehr müssen harte Konsolidierungsschritte eingeleitet werden.
({67})
Wir sind alle gespannt, wenn die Schweden am
Sonntag über die Einführung des Euro abstimmen. Ich
habe gehört, dass das deutsche Beispiel als abschreckend
gilt. In einem Gespräch, das ich gestern mit britischen
Politikern geführt habe, haben diese erwähnt, dass sie
zwar gern den Euro einführen würden, dass die Deutschen dies aber erschwerten; denn der Euro sei bald
keine starke Währung mehr, wenn Deutschland, Frankreich und andere große Länder so weitermachten.
({68})
- Ich wiederhole Ihren Zwischenruf, weil die Zuhörer
nicht hören können, was Sie schreien. Ihr Zwischenruf
lautete: „Haben Sie schon mal in die Börse geguckt?“ Die Börse hatte ihren Tiefpunkt erreicht.
({69})
Auch Sie wissen, dass die Amerikaner derzeit enorme
Mittel an sich ziehen und Dollars horten müssen, um die
gewaltigen Defizite zu finanzieren. Die Börse als Ausrede zu nutzen ist völlig falsch. Das, was heutzutage die
Börsen und die Märkte sehr stark bestimmt, sind die
Ratingagenturen; denn diese legen das Kreditranking
fest. Ich befürchte, dass dann, wenn Sie so weitermachen, die Bundesrepublik Deutschland ihr gutes Kreditrating nicht wird halten können.
({70})
Wenn das der Fall ist, dann müssen wir alle, also nicht Sie
alleine, sondern die gesamte Bevölkerung, höhere Zinsen
für Staatsanleihen zahlen; denn der Bund wird sich das
zur Deckung seiner Mehrkosten bei der Kreditaufnahme
notwendige Geld wieder bei den Bürgern holen müssen.
Auch das ist eine erschreckende Entwicklung, die uns
erst recht zwingt, auf solide Finanzen zu achten.
({71})
Stichwort Europa: Beim Verfassungsvertrag ist
manches erreicht worden. Andere wollen noch mehr erreichen. Ich finde, Herr Bundeskanzler, dass Sie bei der
Regierungskonferenz auch unsere Forderungen einbringen sollten. Wir müssen zum Beispiel die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank festschreiben. Das
halte ich für ganz entscheidend. Auch das muss im Verfassungsvertrag abgesichert werden. Der Vertrag von
Maastricht reicht ja offensichtlich nicht; denn Sie halten ihn nicht ein. 3 Prozent waren als Obergrenze eines
möglichen Defizits und nicht als Normalfall gedacht. In
dem Vertrag wird explizit darauf hingewiesen, dass ausgeglichene Haushalte anzustreben sind. Aber Sie wollen
die Defizitobergrenze immer weiter hinausschieben. Es
würde außerdem nicht schaden, wenn Sie die Verantwortung vor Gott, wie sie im deutschen Grundgesetz steht,
in der europäischen Verfassung verankern würden.
({72})
Wir brauchen eine realistische Europapolitik mit Augenmaß. Auf Europa sind sehr viele zusätzliche Belastungen zugekommen. Die Ost- und Südosterweiterung
der Europäischen Union - das ist eine gewaltige Aufgabe - ist zwar politisch sehr wünschenswert, wirtschaftlich aber sehr gefährlich. Es ist außerdem versäumt worden, die Grenzen Europas zu definieren.
Europa reicht nicht bis zum Ural und nach meinem Verständnis auch nicht bis zum Kaspischen Meer oder bis
zum Hindukusch.
({73})
Deswegen wäre es ein Akt der Ehrlichkeit gewesen, dem
türkischen Ministerpräsidenten Erdogan bei seinem
Deutschlandbesuch zu sagen: Wir bleiben Freunde und
werden alle Beziehungen, die unsere beiden Länder haben, ausbauen und vertiefen; aber ihr könnt aus wirtschaftlichen Gründen nicht Vollmitglied in der Europäischen Union werden.
({74})
Es ist falsch, wenn Sie behaupten, eine Vollmitgliedschaft der Türkei liege im nationalen deutschen Interesse. Das könnte höchstens im Interesse der SPD liegen,
weil Sie wissen, dass die eingebürgerten Türkinnen und
Türken zum großen Teil die SPD und die Grünen wählen.
({75})
Das ist doch ein Grund, warum Sie dafür sind.
({76})
Ich sage Ihnen aber eines voraus: Es werden im Deutschen Bundestag auch türkische Parteien vertreten sein,
wenn die Einwanderungsströme so kommen, wie es befürchtet wird.
({77})
- Hören Sie doch zu! Sie können ja später sagen, was Sie
denken.
({78})
Herr Kollege Glos, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
({0})
Die Deutschen wissen nicht, dass mit einer Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU die Freizügigkeit
verbunden ist. Der Publizist Scholl-Latour befürchtet,
dass dann, wenn die Türkei Vollmitglied ist, 10 Millionen bis 15 Millionen rasch nach Deutschland einwandern werden. Das ist, wie gesagt, nicht meine Befürchtung. Aber ich muss mich auf Menschen verlassen, die
mehr von geschichtlichen Zusammenhängen verstehen
als ich. Von Geschichte verstehen Sie jedenfalls nichts.
Nach meiner Auffassung können wir Deutsche unsere
Verantwortung, die wir für Europa und die Welt haben,
am allerbesten wahrnehmen, wenn wir dafür sorgen,
dass wir wirtschaftlich stark bleiben. Unsere Möglichkeiten, anderswo in der Welt zu helfen, gründen sich
nämlich auf unsere wirtschaftliche Stärke. Diese müssen
wir deshalb zurückgewinnen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben 1998 im Wahlkampf
oft gesagt - das wird Ihnen jedenfalls zugeschrieben -:
Das Volk ist viel besser als seine Regierung. - Unsere
Hoffnung ruht deshalb auf der Kraft des deutschen Volkes und nicht auf der rot-grünen Regierung. Sie würden
dem Land einen großen Dienst erweisen, wenn Sie den
rot-grünen Spuk - am allerbesten durch Neuwahlen beenden könnten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Bundeskanzler Gerhard
Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Debatte findet in einer Zeit außergewöhnlich schwieriger Problemlagen im internationalen wie im
nationalen Maßstab statt. Ob die Debattenbeiträge - jedenfalls der, den wir bisher gehört haben - dieser Tatsache gerecht werden, muss jeder für sich selber entscheiden.
({0})
Nur wenige Bemerkungen zu den Problemlagen. Der
Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist nicht
gewonnen, nicht in Afghanistan, nicht in anderen Teilen
der Welt. Kein Zweifel: Die Situation im Irak ist außerordentlich besorgniserregend. Wir haben vor einem Jahr
darüber geredet und wir werden auch jetzt darüber reden
müssen. Die Situation im Nahen Osten muss uns alle besorgt machen. Das Töten und der Terrorismus gegen Israel haben nicht aufgehört und es wird schwierig sein,
zur so genannten Roadmap, die den Friedensprozess im
Nahen Osten voranbringen kann, zurückzukehren.
National - das wird gar nicht bestritten - sind wir im
dritten Jahr der Stagnation. Das hat natürlich Auswirkungen auf unser Land. Wir sind in einer ökonomischen
Situation, in der die Steuereinnahmen eingebrochen
sind, weil die Arbeitslosigkeit gewachsen ist, weil wir
kein Wachstum haben
({1})
und die Aufwendungen für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit natürlich gestiegen sind.
Herr Merz, ich möchte mich auf das beziehen, was
Sie gestern gesagt haben: Das ist kein Phänomen, das
sich allein auf Deutschland bezieht.
({2})
- Das ist keine Ausrede.
Ich habe hier die Zahlen über das Wachstum in
Europa, die vom Statistischen Amt der EG gestern veröffentlicht worden sind. Das Wachstums in der Eurozone
im Verhältnis vom zweiten zum ersten Quartal ist minus
0,1 Prozent, Niederlande minus 0,5 Prozent, Frankreich
minus 0,3 Prozent, Italien, Belgien und Deutschland minus 0,1 Prozent. Ich sage das nicht, um irgendetwas weniger besorgniserregend darzustellen, als es ist.
({3})
- Ich komme gleich zu der Basis. - Ich sage das nur vor
einem Hintergrund, der in der Auseinandersetzung zwischen Herrn Merz einerseits und Herrn Eichel andererseits auch gestern eine Rolle gespielt hat.
Die Zahlen, die ich Ihnen über Europa mitteile - etwa
über Frankreich, über die Niederlande, aber auch über
die anderen, die ähnliche oder gleiche Wachstumsraten
wie wir haben -, haben natürlich einen ganz anderen
Hintergrund. Ich sage das mit Bezug auf die Debatte
über die Folgen der Wiedervereinigung, die gestern
angeklungen ist. Herr Merz, der Hinweis von Herrn
Eichel war kein Vorwurf an irgendjemanden, sondern
sollte verdeutlichen, dass Deutschland im Unterschied
zu den europäischen Staaten mit gleichen oder noch
schlechteren Wachstumsraten etwas schultern muss, was
kein Land der Welt - schon gar keines in Europa - zu
schultern hat.
Der Hinweis auf die Tatsache nämlich, dass wir wegen der Einheit - ich denke, Gott sei Dank haben wir
sie ({4})
jährlich 4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes von
West nach Ost transferieren, ist kein Vorwurf, dass irgendwer schuld daran sei; es ist im Grunde der Hinweis
darauf, dass wir - ungeachtet der Anstrengungen, die wir
vornehmen müssen und vornehmen wollen - auf den internationalen Märkten präsenter sind als in der Vergangenheit. Unsere Volkswirtschaft hat an Kraft also nicht
verloren, sondern gewonnen, und zwar sowohl absolut
als auch relativ. Das ist doch der Zusammenhang, den
man herstellen muss.
({5})
Ich bin stolz auf die Leistungsfähigkeit, die dahinter
steckt. Es ist nicht die Leistungsfähigkeit dieses Hohen
Hauses und seiner Mitglieder; es ist die Leistungsfähigkeit unseres Volkes. Darauf dürfen und müssen wir auch
einmal stolz sein, gerade in wirtschaftlich schwierigen
Zeiten.
({6})
Wir haben es dann - das ist der zweite Problemkreis
im nationalen Maßstab; darüber ist ja nicht hinwegzusehen - mit der Überalterung unserer Gesellschaft zu
tun. Das ist - das weiß ich wohl - keine neue Erkenntnis.
Ich will auch zugeben, dass die Frage, ob es richtig war,
den demographischen Faktor, der seinerzeit von Ihnen
eingeführt worden ist - auch das haben Sie gestern schon
angesprochen, Herr Merz -, aufzuheben, durchaus berechtigt gestellt werden kann. Ich sage Ihnen: Das war
ein Fehler.
({7})
- Das war ein Fehler; keine Frage. Natürlich haben wir
den zu verantworten. Die Einzigen, die keine Fehler zu
verantworten haben, sind Sie, weil Sie - so treten Sie jedenfalls auf - keine machen.
({8})
Ich sage Ihnen mit Bezug auf diese Debatte nur eines:
Der Bericht der Rürup-Kommission liegt bereits vor.
Wenn auch das vorliegt, was Herr Herzog für Sie erarbeitet, dann werden wir in puncto Rente vielleicht ähnlich rational miteinander reden können wie bei der Gesundheitsreform. Eines ist doch klar - die Kenner
jedenfalls wissen es -, nämlich dass uns auch die Beibehaltung des demographischen Faktors, den Sie seinerzeit
beschlossen haben, die Probleme nicht vom Hals gebracht hätte, mit denen wir wegen der Überalterung unserer Gesellschaft zu kämpfen haben. Der demographische Faktor allein hätte es nicht gebracht.
Ich will daran erinnern, dass wir es gewesen sind, die
zum ersten Mal in der deutschen Geschichte auch in Bezug auf die Rente das gemacht haben, was man Herstellung von Kapitaldeckung nennt. Das ist, glaube ich, ein
ganz wichtiger Punkt, wenn man die Rente für die Alten
in dieser Gesellschaft so sicher wie möglich machen und
sie für die Jungen bezahlbar halten will.
({9})
Wir werden uns sehr rational darüber unterhalten
müssen, welche Konsequenzen das im Übrigen hat. Um
es den Menschen draußen zu erklären: Wir sind in der
Situation, dass im Vergleich zu 1960 - das hat mit dem
Älterwerden zu tun - die Bezugsdauer der Altersrenten
heute Gott sei Dank um 70 Prozent höher ist. Dass das
Druck auf die Finanzierung ausübt, liegt doch auf der
Hand. Wir haben, bezogen auf die Probleme, die ich genannt habe, zu handeln und das versuchen wir auch.
Die Aufgabe, die wir haben, ist, unter radikal veränderten Bedingungen, sowohl was das weltwirtschaftliche
und das europäische wirtschaftliche Umfeld angeht als
auch was die Alterspyramide unserer Gesellschaft angeht, Wohlstand in unserem Land und Gerechtigkeit in
unserem Land zu sichern. Das ist die gemeinsame Aufgabe. Es mag unterschiedliche Wege geben, über die es
sich zu streiten lohnt, allerdings nicht in dem Ton wie
eben, Herr Glos;
({10})
nur sollten wir das dann auch sehr rational tun und den
Menschen klar machen, wer welche Vorschläge hat.
({11})
Unsere Aufgabe ist es, angesichts dieses veränderten
Umfelds, angesichts des veränderten Altersaufbaus unserer Gesellschaft dafür zu sorgen, dass wir unsere sozialen Verpflichtungen erfüllen können, gleichzeitig aber
die Ressourcen unseres Landes freisetzen, um in das zu
investieren, was wirklich über die Zukunft entscheidet,
das heißt bessere Betreuung unserer Kinder, mehr Investitionen in Bildung, mehr Investitionen in Forschung und
Entwicklung. Das alles entscheidet jetzt darüber, ob
Deutschland in fünf, in zehn, in 20 Jahren noch ein Land
ist, das soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau gewährleistet. Das ist die Aufgabe, die uns gestellt ist.
({12})
Um diese Aufgabe zu erfüllen, unternimmt der Haushalt und unternehmen seine Begleitgesetze den ernsthaften und schwierigen Versuch, auf der einen Seite die
Wachstumskräfte unseres Landes - sie sind sichtbar zu unterstützen und auf der anderen Seite die Konsolidierung nicht aufzugeben. Es sind nämlich zwei Seiten
einer Medaille, auf der einen Seite den Versuch zu unternehmen, Wachstumskräfte, Trends, die positiv sind, zu
unterstützen, und auf der anderen Seite durch Strukturveränderungen dafür zu sorgen, dass das auch objektiv
möglich ist und immer mehr möglich wird. Das heißt,
meine Damen und Herren, dass wir uns zunächst einmal
darum kümmern müssen, wie wir konjunkturell das Positive, das es Gott sei Dank auch gibt, unterstützen können. Das ist ja eben verschwiegen worden. So weist der
Ifo-Geschäftsindex zum vierten Mal in Folge eine aufsteigende Tendenz aus.
Gemäß den jüngsten Zahlen steigt auch die Industrieproduktion wieder an. Das gilt für die Bereiche, die sich
jetzt gerade auf der Messe in Berlin präsentiert haben,
das gilt aber auch für die Automobilindustrie, die optimistisch auf die bevorstehende Automobilmesse schaut.
Ich sage nicht, dass damit die Probleme schon gelöst wären oder so gelöst werden könnten, aber ich finde, dass
wir alle miteinander die Verpflichtung haben, die positiven Trends, die es in unserem Land gibt, und nicht die
negativen Trends zu stützen.
({13})
Deshalb, meine Damen und Herren, appelliere ich
wirklich an die Mehrheit im Bundesrat, das, was in der
jetzigen Situation nötig und möglich ist, auch mitzutragen, nämlich das Vorziehen der nächsten Stufe der
Steuerreform von 2005 auf 2004.
({14})
- Ja, mache ich gleich. - Warum? Ich denke, dass wir
Anlass haben, davon auszugehen, dass über eine solche
Maßnahme, wie alle Forschungsinstitute sagen, die
Wachstumsraten um zusätzlich 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte
erhöht werden können. Das brauchen wir nämlich, wenn
es wirklich auf dem Arbeitsmarkt vorangehen soll.
Kern unseres Vorschlages ist es, jetzt den Eingangsteuersatz, der 1998 übrigens bei 26 Prozent lag, auf
15 Prozent zu senken.
({15})
Er liegt ja mittlerweile schon bei 19 Prozent. Daran muss
man gelegentlich einmal erinnern, denn dahinter steht ja
eine steuerpolitische Leistung von Hans Eichel, die nicht
von Pappe ist. Wir werden außerdem - das wird den einen Teil des Hauses vielleicht mehr freuen als den anderen - den Spitzensteuersatz, der 1998 bei 53 Prozent
lag, auf 42 Prozent senken.
({16})
Ich sage es noch einmal, meine Damen und Herren:
1998, also zu Ihrer Regierungszeit, ein Spitzensteuersatz
von 53 Prozent,
({17})
2004 einer von 42 Prozent. Dies ist auf die Politik der
rot-grünen Bundesregierung zurückzuführen und nicht
etwa einem anderen politischen Lager geschuldet.
({18})
- Man kann natürlich immer noch mehr fordern; aber das
hätte man auch selber 16 Jahre lang machen können, hat es
aber nicht getan. Das ist ja wohlfeil, was Sie jetzt machen.
({19})
Jetzt lautet die Frage: Schaffen wir es miteinander,
({20})
diese wichtige und in der jetzigen Situation nötige und
mögliche Maßnahme, nämlich das Vorziehen der nächsten Steuerreformstufe auf 2004, durchzuführen oder nicht,
({21})
damit der Konjunktur zusätzlichen Schub zu geben und
auch auf dem Arbeitsmarkt für Bewegung zu sorgen?
Hier stehen auch Sie in der Verantwortung. Sie werden
sich nicht davor drücken können, sondern Sie werden
immer wieder an Ihre Verantwortung erinnert werden.
({22})
- Ich komme jetzt dazu: Wir haben gesagt, wir finanzieren dies durch einen Mix aus Privatisierungserlösen
und Neuverschuldung, welche wir, da wir sie auf ein
Jahr begrenzen, für verantwortbar halten.
({23})
- Ich komme ja gleich dazu. - Neben Privatisierungserlösen und Neuverschuldung ist das Ganze außerdem in
die strukturpolitischen Maßnahmen eingebettet, die mit
der Agenda 2010 verbunden sind. Das darf man ja nicht
übersehen.
Jetzt sagen Sie, man dürfe nicht die Neuverschuldung
für ein Jahr erhöhen, und wollen das nicht mitmachen,
obwohl wir Ihnen anbieten, die Zins- und Tilgungslasten
für die Neuverschuldung dieses einen Jahres über zusätzlichen Subventionsabbau zu begrenzen. Auch das
liegt Ihnen vor, meine Damen und Herren.
({24})
Sie kritisieren das und sagen, das dürfe man auf gar
keinen Fall machen. Das lässt sich hören. Jetzt will ich
Ihnen aber einmal einen Beitrag aus einer Debatte vorlesen, die im letzten Jahr etwa zur gleichen Zeit wie jetzt,
Ende August, stattfand. Es ging um die Frage, ob es zulässig sei, wegen der Flutkatastrophe die Steuerreform
zu verschieben, oder ob es zulässig sei, die notwendigen
Ausgaben über zusätzliche Neuverschuldung zu finanzieren.
Ich sage es noch einmal: Es ist ökonomisch möglich,
darüber zu streiten, ob das eine oder das andere besser
ist, aber man sollte wenigstens zugeben, dass das, was
wir jetzt vorschlagen, vor dem Hintergrund eigener Aussagen nun nicht wirklich der Gottseibeiuns schlechthin
sein kann.
Ich lese einmal vor, was Herr Stoiber am 29. August
2002 in der Debatte hier im Deutschen Bundestag sagte:
„Mit unserem Konzept“, also dem der Finanzierung der
10 Milliarden über Nettoneuverschuldung - ({25})
- Was ist denn die Verwendung der Bundesbankgewinne
anderes als Nettoneuverschuldung? Machen Sie sich
doch nichts vor, meine Damen und Herren. Jeder, der etwas von Ökonomie und Haushalt weiß, muss das doch
bestätigen.
({26})
Herr Stoiber sagte vor einem Jahr:
Mit unserem Konzept werden die Schulden langsamer abgebaut. Zwar fallen vorübergehend höhere
Zinsen an, aber das ist auch gerechtfertigt und sinnvoll. Höhere Zinsen sind ein kleineres Übel als höhere Steuern. Höhere Steuern lähmen die Konjunktur, hemmen das Wachstum und vernichten
Arbeitsplätze. Das ist der entscheidende Punkt.
Wohl wahr, meine Damen und Herren!
({27})
Ich weiß, dass wir in der gleichen Debatte gesagt haben: Es ist angemessen, die Stufe nach hinten zu verschieben. Ich will hier nicht verschweigen, dass wir das
mit dem Argument begleitet haben, dass das Geld, das
man dadurch hereinbekommt, ja nicht einbehalten und
nicht für konsumtive Ausgaben verwendet wird, sondern
dass es investiert wird in die Wiederherstellung der Infrastruktur in den betreffenden Gebieten. Das war also
ein ganz anderer Sachverhalt, als wenn man es für konsumtive Ausgaben verwendet hätte.
Ich erwähne diese Auseinandersetzung überhaupt nur,
um deutlich zu machen, dass die gesamte Argumentation
der Opposition nach dem Muster „Wir wollen das Vorziehen auch, aber der von euch konkret vorgeschlagene Weg
geht auf keinen Fall“ auf sehr, sehr tönernen Füßen steht.
({28})
Weil diese Frage für die Mobilisierung zusätzlichen
Wachstums von ungeheurer Bedeutung ist, bitte ich darüber in diesem Zusammenhang noch einmal gründlich
nachzudenken, es mit den Landesregierungen, die im
Bundesrat das Sagen haben, zu bereden und vielleicht
gemeinsam dafür zu sorgen, dass das gelingt, was für die
Konjunktur, für den Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft
in unserem Land von großer Bedeutung ist. Denn in der
Einschätzung, dass das hilfreich und von großer Bedeutung ist, unterscheiden wir uns ja nicht; wir unterscheiden uns in der Frage der Finanzierung. Es sollte Ihnen
möglich sein, wenigstens tendenziell zu dem zurückzukehren, was Sie vor einem Jahr für richtig gehalten haben, meine Damen und Herren.
({29})
Der zweite Punkt, um den wir uns kümmern müssen
und den wir angeschoben haben, hängt mit der Agenda
2010 zusammen. Wir müssen den Menschen im Land
vor allen Dingen einmal sagen: Die notwendigen Reformanstrengungen haben mit der Tatsache zu tun, dass wir,
anders als in früheren Zeiten, nicht mehr oder nie mehr
werden darauf hoffen können, die sozialen Probleme
und die Defizite, die sich in den sozialen Sicherungssystemen ergeben - ich habe die Gründe dafür genannt -,
über Wachstum allein in den Griff kriegen zu können.
Das wird nicht mehr funktionieren.
({30})
Die Veränderungen in den sozialen Sicherungssystemen, die wir dem deutschen Parlament vorgeschlagen
haben, sind notwendig. Sie sind unausweichlich wegen
der Veränderung der Alterspyramide in unserer Gesellschaft. Wenn wir es schaffen wollen - und wir müssen
das schaffen -, den Jungen durch Bildung Chancen zu
geben, den Frauen über bessere Kinderbetreuung Möglichkeiten zu geben, am Erwerbsleben teilzunehmen,
und über massive Investitionen in Forschung und Entwicklung technologisch Spitze zu bleiben, dann müssen
die Anstrengungen, die sich in der Agenda 2010 finden,
Wirklichkeit werden.
Da hat jeder Verantwortung, wir im Bundestag genauso
wie Sie im Bundesrat.
({31})
Mir kommt es darauf an, den Zusammenhang deutlich
zu machen zwischen der Chance, in Zukunftsbereiche zu
investieren und dafür Ressourcen zu mobilisieren, und der
Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme den radikal veränderten Bedingungen anzupassen. Das ist die Aufgabe. Im Haushalt und seinen Begleitgesetzen wird diese
schwierige Balance versucht, und zwar - ich will dem
Thema gar nicht ausweichen - unter den Gegebenheiten
und Notwendigkeiten, die mit Maastricht, mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zusammenhängen.
Aber - wir haben das auch in der gestrigen Debatte
zwischen Ihnen und Hans Eichel gehört - der Pakt heißt
nicht Stabilitätspakt, sondern vielmehr Stabilitäts- und
Wachstumspakt. Hinsichtlich der konjunkturellen Entwicklung gibt es weltweit positive Anzeichen, sowohl in
Amerika - ob sich das dort auf den Arbeitsmarkt auswirkt, wird man sehen - als auch in Asien. Wir wissen,
dass Europa in dieser Dreiergruppe ökonomisch hintenan ist. Wenn wir als Europäer unseren Beitrag zur
Entwicklung der Weltwirtschaft leisten wollen, dann
können wir nicht nur stabilitätsfixiert agieren - wobei
die Stabilität nicht aus den Augen verloren werden
darf -, sondern dann müssen wir in dieser Situation einer
Stagnation im dritten Jahr alle zusammen - ich habe hinsichtlich der Wachstumsschwäche auch und gerade anderer Länder Zahlen genannt - etwas für das Wachstum
tun.
({32})
Wir erbitten von der EU-Kommission in den Diskussionen lediglich, die Möglichkeiten für uns zu schaffen,
Wachstum anzustreben, ohne dass wir die Perspektive
der Konsolidierung aufgeben wollen. Es ist richtig, was
Hans Eichel gesagt hat. Wir haben uns in den guten Zeiten auf Wachstum fixiert - Wachstum wird’s schon richten - und Konsolidierung nicht entschieden genug betrieben. Das geschah aber am wenigsten unter Herrn
Eichel, sondern eher unter anderen, die vor ihm Finanzminister waren; da meine ich nicht nur seinen unmittelbaren Vorgänger, sondern spreche auch von Ihrer Regierungszeit.
({33})
Es gibt Situationen, in denen die Grenze von
3 Prozent zwar nicht überschritten werden sollte, aber
doch nicht um den Preis des Abwürgens der Konjunktur,
jeder volkswirtschaftlichen Vernunft zum Trotz. Das ist
das Einzige, worauf wir hinweisen. In diesem Punkt sind
wir im Übrigen einig mit anderen Ländern. Sie haben
Frankreich und Italien genannt, wo wahrlich keine - wie
Sie sagen würden, Herr Glos - strammen Sozialisten, die
nicht mit Geld umgehen könnten, regieren. Da sind wir
uns vielleicht einig.
Die Wachstumsraten in anderen Ländern, die gerne
als Beispiele angeführt werden, zum Beispiel 0,7 Prozent Wachstum in Spanien, sind ja ganz schön. Aber ein
solches Wachstum ist auch nicht besonders schwierig,
wenn man mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Brüssel überwiesen bekommt. Nebenbei gesagt:
25 Prozent davon zahlt Deutschland. Auf diese Weise
können Wachstumsraten natürlich leichter erzielt werden, als wenn erstens die deutsche Einheit geschultert
werden soll und muss und zweitens 25 Prozent des europäischen Haushalts bestritten werden müssen. Auch dieser Punkt gehört in eine solche Debatte.
({34})
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir durch
den Zusammenhang von wachstumsfördernder Politik
- siehe Steuerreform - einerseits und dem Versuch, die
Strukturen in unserer Gesellschaft zu verändern - Umsetzung der Agenda 2010 -, andererseits auf einem guten Weg sind.
Außerdem will ich hier ganz klar sagen: Wir haben
beim Thema Gesundheitsreform miteinander etwas zuwege gebracht. Dafür bin ich allen Beteiligten - in den
Koalitionsfraktionen und der Ministerin ebenso wie
Herrn Seehofer und denen, die mit ihm zusammengearbeitet haben - dankbar. Das war richtig, vernünftig und
wichtig.
({35})
Man kann darüber streiten, ob in bestimmten vermachteten Bereichen genügend Markt hergestellt worden ist. Ich denke an die Kassenärztlichen Vereinigungen oder an die Apotheken. Im Übrigen sage ich in
Parenthese an die Freien Demokraten gerichtet: Sogar
Ihr Altmeister, Herr Lambsdorff, hat geschrieben, dass
man aufpassen müsse, über den Markt nicht ausgerechnet dann zu schweigen - Stichwort: Mehrfachbesitz und
Fremdbesitz bei Apotheken -, wenn es an das Leder der
eigenen Klientel geht. Darüber müssen Sie einmal nachdenken, ehe Sie wieder lautstark über Marktwirtschaft
mit uns reden.
({36})
Ich möchte über das hinaus, was ich im Hinblick darauf deutlich zu machen versucht habe, was wir im nationalen Maßstab leisten können und leisten müssen,
was wir ökonomisch mit Bezug auf den einzuhaltenden
Stabilitäts- und Wachstumspakt an vernünftiger Interpretation, an wachstumsgerechter Interpretation in Europa
brauchen, noch ein paar Bemerkungen zur internationalen Situation machen.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass
Herr Schäuble gesagt hat, die Union könne einem Einsatz der deutschen Soldaten in Kunduz zustimmen.
({37})
- Ich kann es nur so sagen, wie ich es zur Kenntnis genommen habe. Sie können es hier ja richtig stellen, wenn
es anders ist.
({38})
Ich habe das mit Freude zur Kenntnis genommen.
Warum? Es ist ja sehr interessant, einmal die Debatten,
die im letzten halben Jahr über die Bekämpfung des internationalen Terrorismus geführt worden sind, zur
Kenntnis zu nehmen. Wir sind uns alle einig, dass Ausgangspunkt der Diskussion um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus der 11. September war, und
dies völlig zu Recht. Sie kennen die Gegebenheiten. Wir
haben damals entschieden, dass wir uns an der militärischen Niederwerfung derer beteiligen, die dem internationalen Terrorismus über Ausbildung und über Schutz
eine Heimstatt geben, der Taliban also.
({39})
- Ja, richtig. - Der Kampf gegen den internationalen
Terrorismus gerade in Afghanistan ist nicht gewonnen.
Er ist alles andere als das.
({40})
- Ja, jetzt kommt es. - Es ist sehr interessant, dass während der gesamten Diskussion um den Irakkrieg über
diesen Aspekt des Kampfes gegen den internationalen
Terrorismus kein Wort geredet worden ist, obwohl er
weiterhin notwendig war. Ich bin froh darüber, dass der
Zusammenhang jetzt wieder hergestellt wird. Man kann
den Kampf gegen den internationalen Terrorismus in jedem Land, vor allem aber in Afghanistan, verlieren. Man
wird ihn dann verlieren, wenn man den Zusammenhang
zwischen der militärischen Niederwerfung der Taliban
einerseits und dem, was man Nation Building nennt, andererseits nicht sieht oder nicht hinreichend zur Kenntnis
nimmt und nicht für eine entsprechende Ausstattung
sorgt. Das ist der Punkt.
({41})
Das ist die Begründung dafür, dass wir gesagt haben:
Wir können nicht uferlos Ressourcen einsetzen, weil wir
sie uferlos gar nicht haben. Aber wir sind bereit, der
Aufforderung der Vereinten Nationen, unserer Partner zu
folgen und zu sehen, was wir über Kabul hinaus machen
können, immer aber unter Beachtung des Zusammenhangs, dass sich unser Begriff der Herstellung von Sicherheit, unser Begriff des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus niemals in der militärischen Seite
erschöpfen darf und erschöpft, sondern dass man dabei
immer auch die zivile Seite im Auge behalten muss.
({42})
Wenn wir darüber in diesem Parlament Einigkeit erzielen können, dann bin ich sehr froh.
Dann geht es um die Frage, über die hier vielfach diskutiert worden ist - mir liegt wirklich daran, dass wir
diese Diskussion so sachlich wie irgend möglich weiterführen können -: Wie entwickelt sich das im Irak? Was
für einen Beitrag können wir leisten? - Dazu zunächst
nur so viel: Ich habe nicht die geringste Lust, im Nachhinein in eine Diskussion darüber einzusteigen, wer in
der Bewertung des Krieges Recht hatte und wer nicht
Recht hatte, weil das niemanden weiterbringt. Wir haben
zur Kenntnis zu nehmen, dass der Wiederaufbau des Irak
mit der Perspektive auf Stabilität und Demokratie gelingen muss; denn das liegt in unserem, im europäischen
Interesse genauso wie im Interesse der Alliierten und des
irakischen Volkes. Es liegt auch im Interesse der gesamten Region, dass der Aufbau gelingt.
({43})
Dabei spielt die Frage, wie man zu dem Krieg stand,
keine Rolle. Genugtuung wäre das Verkehrteste.
({44})
Dies vorausgeschickt, will ich darauf hinweisen, dass
es auch um die Frage geht: Welchen Beitrag kann
Deutschland leisten? Wir engagieren uns im Bereich der
humanitären Hilfe. Wir können uns auch beim Wiederaufbau im Rahmen bestimmter Projekte engagieren, die
unsere Institutionen und Nichtregierungsorganisationen
durchführen können und die wir natürlich finanzieren
müssen. Es ist keine Frage, dass wir das tun können,
wenn die Sicherheit gewährleistet ist.
Noch einmal: Bezogen auf die Sicherheit im Irak wird
es Zeit, auf internationaler Ebene darüber zu reden - das
wird sicherlich geschehen -, was die Sicherheitslage im
Irak wirklich verbessern könnte. Ich habe Zweifel - ich
sage das bewusst zurückhaltend -, ob ein Aufwuchs des
gegenwärtig vorhandenen Kontingentes an Soldaten,
gleichgültig von wem gestellt, ein objektives Mehr an
Sicherheit bedeuten würde.
({45})
Ich glaube, dass die Stimmen - sie gibt es auch in den
Vereinigten Staaten von Amerika - Recht haben, die sagen: Was wir wirklich brauchen, ist die Ausbildung der
irakischen Polizei und des irakischen Militärs. Wenn es
trotzdem zusätzliche Kräfte geben muss, dann sollten es
Kräfte sein, die eine engere Beziehung zum islamischen
Glauben haben, als wir sie jemals haben können. Eine
solche Debatte weist in die richtige Richtung.
Unsere Meinung ist, dass wir eine andere Rolle der
Vereinten Nationen brauchen. Diese ist schon aus legitimatorischen Gründen notwendig, weil sich sonst nur wenig in Richtung mehr Sicherheit bewegt. Wir müssen, so
schnell es geht - es ist klar, dass man das nicht über
Nacht schaffen kann -, dazu kommen, eine wirkliche
irakische Autorität in diesem Land zu installieren. Das
sind die beiden Punkte, um die es geht.
Ich sage mit Bezug auf das, was wir leisten können
und leisten wollen: Auch die deutschen Ressourcen sind
begrenzt. Ich sage aber mit Stolz: Mit unserem Engagement auf dem Balkan, in Afghanistan und im Rahmen
von Enduring Freedom leisten wir Erhebliches. Im Übrigen - das wird auch zur Kenntnis genommen - finanzieren wir unser Engagement selber. Unsere Partner wissen
das inzwischen. Vor diesem Hintergrund ist es verantwortbar, zu sagen: Wir sind bereit, bei der Ausbildung
der irakischen Polizei, die in Deutschland stattfinden
kann und die wir zusammen mit anderen oder alleine
durchführen können, zu helfen. Wir sind auch bereit, die
für die Ausbildung unseres Militärs vorhandenen Hochschulen zu öffnen, soweit es die Ressourcen hergeben.
Aber ich glaube nicht, dass wir in einer Situation sind, in
der wir uns im Irak militärisch beteiligen sollten.
({46})
Lassen Sie mich abschließend ein paar Bemerkungen
zur bevorstehenden Regierungskonferenz in Rom machen - es wird Nachfolgekonferenzen in Brüssel und danach vermutlich wieder in Rom geben -, die über die
Verfassung Europas entscheidet. Wir sind uns mit unseren französischen Freunden und mit anderen darüber
einig, dass das, was der Konvent vorgelegt hat, ein wirklich sehr guter Verfassungsentwurf ist. Es ist der geglückte Versuch, das Verhältnis der Institutionen zueinander unter den obwaltenden Umständen vernünftig zu
regeln. In Europa ist das natürlich schwieriger, als wenn
es sich um einen Zentralstaat handeln würde. Auf der anderen Seite wird auch das Verhältnis zwischen der europäischen Ebene und den Nationalstaaten vernünftig geregelt. Wir sind letztlich alle davon überzeugt, dass es
gut und richtig ist, die Grundrechte-Charta in einer solchen Verfassung zu verankern. Noch einmal: Es ist ein
wirklich geglückter Entwurf.
Ich will etwas zu der Frage des Gottesbezuges sagen.
Ich unterstelle, dass es Ihnen damit ernst ist. Der Bundesaußenminister und ich hatten damit überhaupt kein
Problem.
({47})
Nach meiner Auffassung ist der Gottesbezug nicht erforderlich.
({48})
- Hören Sie doch einmal zu, bevor Sie den Mund so weit
aufreißen!
Ich bin der Auffassung, dass diejenigen, denen das
- ihrer Verankerung im Glauben wegen - wichtig ist, ein
größeres Recht haben als die, die das nicht für so wichtig
halten. So habe ich mich in der niedersächsischen Verfassungsdebatte verhalten. So verhalte ich mich auch in
dieser Debatte.
Sowohl der Außenminister als auch ich sind für den
Gottesbezug eingetreten. Aber Sie kennen die Tradition
anderer Länder. Was jetzt im Entwurf steht, ist das Optimum des Möglichen. Herr Glos, Sie wollen doch nicht
ernsthaft fordern, dass wir wegen dieser Tatsache die
Verfassung scheitern lassen.
({49})
Die rot-grüne Bundesregierung, der man ansonsten alles Mögliche unterstellt, ist mit dieser Fragestellung verantwortungsbewusst umgegangen und hat getan, was sie
konnte. Was dabei herausgekommen ist, mag denen, die
ganz besonders viel Wert darauf legen - ich hoffe, wirklich innerlich und nicht nur zum Kampf untereinander -,
({50})
nicht ausreichen. Aber wir haben mehr erreicht, als man
für möglich hielt.
Weil die Verfassung insgesamt ein ausgewogener
Kompromiss ist, warne ich davor - uns muss man diese
Warnung nicht sagen -, die Forderung zu erheben, das
Paket aufzuschnüren. Es wird kein besseres geben. Ich
bin fest davon überzeugt.
Ich verstehe, dass einzelne Staaten auf Ewigkeit einen
Kommissar stellen wollen. Wenn Bulgarien und Rumänien dazukommen, wären es 27 Kommissare. Es wäre
nicht leicht, sie - womöglich ohne Richtlinienkompetenz - zu einer gemeinsamen Haltung zu bringen. Ich
glaube, das wird jeder verstehen. Stellen Sie sich einmal
ein Unternehmen mit 27 Vorstandsmitgliedern vor!
({51})
Im Übrigen darf man nicht übersehen: Wenn man so
viele Kommissare hat, suchen sie sich alle ein Betätigungsfeld - und sie finden eines.
({52})
Ich will das aber nicht in extenso ausführen.
Wenn wir das Paket aufschnüren, dann werden wir
kein besseres zusammenbekommen, wenn überhaupt. In
dieser Befürchtung sind wir uns völlig einig. Deswegen
wird Deutschland auf der Regierungskonferenz dafür
sorgen, das Paket zusammenzuhalten.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, es ist deutlich
geworden, dass wir eine Menge internationaler Probleme haben, die uns zusätzliche wirtschaftliche
Schwierigkeiten machen. Wir sind mitten in einem ungeheuren Reformprozess im Innern. Wir tun das alles, um
Ressourcen freizubekommen, um in die Zukunft zu investieren. Diejenigen, die nach uns kommen, sollen so
gute Chancen haben, wie wir sie hatten. Das ist unsere
Verantwortung.
Ich gebe zu: Das ist unter den obwaltenden Bedingungen nicht einfach. Was den Haushalt angeht, ist es in der
gegenwärtigen Situation schwierig genug. Aber ich bin
fest davon überzeugt, dass wir es mit der Strategie der
Unterstützung von Wachstum einerseits und des wirklich
beherzten Angehens von Strukturreformen andererseits
schaffen werden, dass diejenigen, die nach uns kommen,
eine gute Zukunft erlangen. Das begreife ich als meine
und unsere Verantwortung.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
({53})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Friedrich Merz.
Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Beginn Ihres
Debattenbeitrags auf eine Auseinandersetzung Bezug
genommen, die der Bundesfinanzminister und ich gestern zu Beginn der Aussprache miteinander hatten. Ich
möchte Ihnen zunächst Dank dafür sagen, dass Sie das
richtig gestellt haben. Es konnte gestern durchaus der
Eindruck entstehen, dass der Bundesfinanzminister einen großen Teil der Probleme, die er jetzt hat, nicht Ihrer
Regierungspolitik, sondern der Tatsache zuordnet, dass
wir die deutsche Teilung zu überwinden hatten.
({0})
- Sie haben doch alle zugehört,
({1})
tun Sie es jetzt doch bei mir wenigstens 30 Sekunden
lang. Ich habe mich beim Bundeskanzler dafür bedankt,
dass er diese Situation richtig dargestellt hat, sodass kein
falscher Eindruck bleibt.
Herr Bundeskanzler, in einem Punkt möchte ich Ihnen jedoch widersprechen. Sie haben darauf hingewiesen, dass auch andere Wachstumsschwächen haben; das
ist richtig. Nur: Die Überwindung der deutschen Teilung
kostet Geld, aber sie kostet nicht zwangsläufig Wachstum.
({2})
Im Gegenteil: Richtig gemacht - lassen Sie uns jetzt
nicht über Versäumnisse und Fehleinschätzungen sprechen; auch wir hatten Fehleinschätzungen -,
({3})
könnte sie sogar einen Wachstumsschub auslösen. Wenn
die These, die Sie verschiedentlich vorgetragen haben,
dass nämlich diejenigen, die schlechter entwickelt sind,
ein höheres Wachstumspotenzial haben, richtig wäre,
dann müsste das in diesen Tagen und Wochen ganz besonders für die neuen Bundesländer gelten. Aber das Gegenteil ist der Fall.
({4})
Erlauben Sie mir eine zweite Bemerkung. Sie haben
heute erstmalig eingeräumt, dass es ein Fehler Ihrer Regierung war, den Demographiefaktor abzuschaffen.
({5})
Ich habe Respekt davor, dass Sie das so deutlich gesagt
haben, Herr Bundeskanzler. Sie hätten Ihrem Finanzminister und Ihrer Regierung viele Probleme ersparen
können, wenn Sie diesen Fehler nicht gemacht hätten.
Dann hätte Ihr Bundesfinanzminister gestern auch nicht
so laut Klage darüber führen müssen, dass mehr als ein
Drittel seines Haushalts in die Rentenversicherung
fließt. Gleichwohl habe ich Respekt davor, dass Sie das
so gesagt haben.
Es würde mich allerdings wesentlich mehr beruhigen,
wenn Sie nicht weitere Fehler machten; aber diese Bundesregierung setzt die Reihe von Versuch und Irrtum fort.
Es ist schön, dass Sie heute im Nachhinein davon sprechen, dass es ein Fehler war. Was Sie aber in der Wirtschafts-, Sozial- und Rentenpolitik machen, lässt nicht
darauf schließen, dass Sie aus diesem Fehler gelernt haben. Deswegen kann uns das, was Sie gesagt haben, Herr
Bundeskanzler, bei allem Respekt nicht beruhigen.
({6})
Zur Erwiderung der Bundeskanzler.
Herr Merz, mit Ihrer Bemerkung zu den ökonomischen Fragen, die im Zusammenhang mit der deutschen
Einheit stehen, haben Sie Recht und Unrecht zugleich.
Sie haben Recht ({0})
- lassen Sie ihn ruhig sitzen -, wenn Sie sagen, dass die
Einheit einen Boom hätte auslösen können.
({1})
Das hat sie im Übrigen auch ohne jeden Zweifel zu Beginn der 90er-Jahre. Er bezog sich insbesondere auf die
Konsumgüter und die Bauwirtschaft.
Das Problem der Wachstumsschwäche aber bleibt
trotzdem bestehen, weil wir einen großen Teil der Kosten der Einheit über die Arbeitskosten finanziert haben.
Das hat exakt zu den Wachstumsproblemen beigetragen,
die wir jetzt miteinander zu beklagen haben. Ich glaube,
man muss beides sehen; denn beides gehört zusammen.
({2})
Ich komme nun auf den Demographiefaktor zu sprechen. Ich habe die Sozialministerin gebeten, das, was
Herr Rürup vorgelegt hat, bis zum Ende dieses Monats,
spätestens bis Mitte des nächsten Monats auszuwerten
und der Bundesregierung einen Vorschlag zu machen.
Zu diesem Zeitpunkt - wenn ich den Pressemeldungen
glauben darf - wird das vorliegen, was Herr Herzog
- übrigens mit einer Kommission, Herr Glos - für die
CDU erarbeitet. Dann werden wir beide Vorschläge nebeneinander legen und überlegen, was wir im Interesse
der Rentensicherheit für die älteren Menschen und mit
Blick auf die Beitragsentwicklung für die jüngeren Menschen in unserem Land tun können.
Angesichts der Tatsache, dass Sie eigene Arbeiten auf
den Tisch legen wollen, werden Sie sich, wie ich denke,
der Verantwortung eines gemeinsamen Abgleichs und,
wo möglich, einer gemeinsamen Umsetzung nicht entziehen können. Wir werden sehen, welche Vorschläge
die eine Seite und welche die andere Seite zur Lösung
der Probleme vorlegen wird. Ich bin mir ganz sicher,
dass wir über unsere Vorschläge, die wir in den Deutschen Bundestag einbringen werden, sehr rational und
sehr problemorientiert streiten können. Das jedenfalls
wünsche ich mir.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen einen
Fehler eingestanden. Das fällt Ihnen ein, nachdem es
fünf Jahre her ist, dass Sie diesen Fehler, wie Sie selbst
sagen, gemacht haben. Ein Eingeständnis, in der Rentenpolitik einen Fehler gemacht zu haben, ist dann honorig,
wenn man fahrlässig etwas falsch gemacht hat, wenn
man es nicht besser wusste. Sie dagegen haben die damalige Regierung für die Rentenpolitik in besonderer
Weise beschimpft, obwohl Sie wussten, dass es in Wahrheit falsch war, was Sie gemacht haben. Sie wollten nur
an die Macht kommen.
({0})
Und so regieren Sie auch heute noch: Sie wissen, dass
Ihre Politik falsch ist, wollen sich aber an der Macht halten.
({1})
Unterhalten wir uns nun über die weiteren Fragen, die
Sie angesprochen haben. Es ist schon ein starkes Stück,
dass Sie hier von einer besonders wachsenden Volkswirtschaft gesprochen haben. Sie sagten, die Volkswirtschaft sei gewachsen, sie habe an Kraft zugenommen und das, nachdem unsere Wirtschaft über zwei Quartale
hinweg geschrumpft ist. Noch nie hat ein Kanzler das
Wirtschaftswachstum in Deutschland so bagatellisiert.
Wir leben seit zwei Quartalen in einer Rezession; Stagnation ist noch die höfliche Umschreibung dafür. Nicht
das Ausland oder die Weltkonjunktur sind die Ursache,
Ihre Politik ist die entscheidende Ursache für diese Entwicklung.
({2})
Wie viele Fehler wollen Sie eingestehen?
({3})
Nur den bei der Rente? Sie sagen, Sie wollten die Steuersätze senken. Einverstanden, wir werden konstruktiv
daran mitarbeiten; das ist keine Frage. Das haben wir Ihnen immer wieder gesagt, auch nach Ihrer Regierungserklärung im Bundestag zur Agenda 2010. Sie allerdings
erwecken den Eindruck, als habe die Steuersenkungspolitik erst mit Ihnen begonnen. So wie Sie bei der
Rente das wider besseres Wissen aufgehoben haben, was
richtig war, haben Sie damals mit den Petersberger Beschlüssen die Steuersenkungspolitik blockiert, obwohl
Sie wussten, wie sehr Deutschland im Interesse neuer
Arbeitsplätze auf Steuersenkungen angewiesen war.
({4})
Sie machen keinen Einkommensteuertarif mit einem
Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Wir hätten seit sechs
Jahren Steuersätze zwischen 15 und 39 Prozent haben
können, wenn Sie damals nicht einen Fehler nach dem
anderen gemacht hätten.
({5})
Es ist schon eine feine Arbeitsteilung in diesem Haus:
Der Finanzminister hat hier gestern den Sündenbock gegeben. Herr Eichel, das Schicksal von Herrn Scharping
wird auch Sie ereilen; das ist klar. Dann, wenn Sie nicht
mehr gebraucht werden, werden Sie abgeräumt. Bis dahin sollen Sie noch haften. Doch für diese katastrophale
Lage im deutschen Haushalt - das muss der deutschen
Öffentlichkeit gesagt werden - ist nicht ein Herr Eichel
alleine verantwortlich. Dafür haftet diese Regierung insgesamt, dafür haften Sie, Herr Bundeskanzler, persönlich.
({6})
Das ist eine Haushaltsdebatte. Deswegen will ich jemanden von außen, der sich heute Morgen dazu geäußert
hat, zitieren. Der Finanzwissenschaftler Rolf Peffekoven
bescheinigt Ihnen, dass es einen solchen Haushalt in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht
gegeben habe. Eichels Etat sei der unsolideste Haushalt
der Nachkriegszeit. Genau das ist das Problem.
Sie meinen, es reiche, einen Fehler einzugestehen.
Das sei die Volte und Deutschland verzeiht. Nein, in
Wahrheit war die Wirtschaftspolitik von Rot-Grün fünf
Jahre lang ein einziger Fehler. Sie haben nicht einen
Fehler gemacht, Ihre Regierung ist ein Fehler.
({7})
Sie machen damit weiter: Deutschland muss sparen,
mit Ausnahme - das ist erstaunlich - beim Etat für
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Deutschland ist in
Finanznot, aber für die Propaganda wird Geld ausgegeben. Die Stellen, an denen Geld ausgegeben wird, sind
bemerkenswert. Für die Agenda 2010 gibt es eine Werbekampagne. Jeder Bürger kann zurzeit die Plakate sehen. Die Bundesregierung wirbt für ihre Agenda 2010
mit Steuergeldern in Höhe von 2,3 Millionen Euro - und
das, obwohl bisher nichts in trockenen Tüchern ist. Seit
dem 14. März haben Sie viel geredet, aber nichts gemacht. Eine Sommerpause ist vorbeigegangen. Sie haben nichts vorgelegt.
({8})
Wenn man drei Wochen vor der bayerischen Landtagswahl Propagandamittel in Höhe von 2,3 Millionen
Euro einsetzt, obwohl diese Politik noch gar nicht beschlossen ist, dann ist das eine eklatante Steuergeldveruntreuung. Wir sagen es so, wie es ist: Sie wollen die
Wahlkampfkassen Ihrer Partei in Bayern schonen. Das
ist alles.
({9})
Es ist erstaunlich, wofür Ihre Regierung Geld ausgibt:
2,3 Millionen Euro für eine Propaganda für ein Produkt,
das es noch gar nicht gibt. Der Antwort auf eine Anfrage
der FDP-Fraktion entnehmen wir, dass es ein neues Spiel
der Bundesregierung für die ökologische Vorschulerziehung von Kindern gibt: „Kater Krümels Bauernhof“. Dafür wurden 1,7 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt. Dafür hat die Regierung Geld!
({10})
Die Gebühren für Krippenplätze stiegen allein im letzten
Monat um über 6 Prozent. Sie sollten das Geld dort investieren und nicht für Ihren Propagandaunfug ausgeben, den Sie auf Kosten der Steuerzahler begehen.
Kater Krümels Bauernhof - Kater Krümels Regierungserklärung. Man wundert sich, was wir in diesem
Sommer alles erleben mussten.
({11})
- Frau Sager, auf Sie komme ich noch zu sprechen. Fangen wir doch gleich einmal mit Ihnen an.
({12})
Liebe Frau Sager, bei allem Respekt: Rot-Grün führt
wieder eine Debatte über die Ausbildungsplatzabgabe.
Frau Sager sagte in diesem Frühjahr dazu: Wenn die
Wirtschaft nicht spure, dann müsse man der Wirtschaft
„die Folterwerkzeuge“ zeigen. Sie sagen das in einem
Jahr, in dem es so viele Pleiten im Mittelstand gibt wie
noch nie zuvor. Es gab noch niemals eine solche Pleitewelle wie unter dieser Bundesregierung.
({13})
Und Sie sagen, dass Sie der Wirtschaft die Folterwerkzeuge zeigen wollen. Diese Wirtschaft braucht keine
Folter von Rot-Grün, sondern Freiheit. Das ist ein entscheidender Unterschied.
({14})
Nur dann gibt es wieder Arbeitsplätze.
Es ist faszinierend, was Ihnen alles einfällt. Künftig
werden noch mehr Beamte eingestellt, die zu prüfen haben, wie viele Einstellungen in mittelständischen Betrieben vorgenommen werden müssen.
({15})
Frau Sager, so redet nur jemand, der in seinem Leben
noch niemals einen Euro selbst erwirtschaften musste.
Das muss Ihnen einmal gesagt werden. So sieht Ihre Politik aus.
({16})
Vom BAföG über die Grundsicherung in den Vorruhestand - das ist Ihr grünes Lebensideal.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP - Krista
Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben richtig was beizutragen heute! - Wilhelm
Schmidt [Salzgitter] [({17})
Die Bundesanstalt für Arbeit hat in diesem Sommer
mitgeteilt, dass es fast 5 Millionen Arbeitslose geben
kann. Das ist die dramatische Lage, in der wir uns befinden. Wollen Sie den 5 Millionen Arbeitslosen sagen,
dass alles ein Fehler war und es Ihnen Leid tut? Das sind
Schicksale und nicht nur Statistiken.
({18})
Das sind Frauen, die in den Arbeitsmarkt einsteigen
möchten, nachdem vielleicht die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind. Das sind junge Leute, die eine Chance
und eine Perspektive suchen. Das sind Menschen, die
Mitte oder Ende 50 sind und aufgrund Ihrer Arbeitsmarktpolitik zum alten Eisen gestempelt worden sind,
({19})
sodass sie keinen Platz mehr finden. Wollen Sie denen
sagen: Sorry, die fünf Jahre waren ein Fehler?
({20})
So leicht stehlen Sie sich nicht aus Ihrer Verantwortung.
({21})
Ihre Steuerpolitik war ein Fehler, Ihre Sozialpolitik
war ein Fehler, Ihre Haushaltspolitik war ein Fehler und
Ihre Subventionspolitik war ein Fehler - und das in
Zeiten, in denen Deutschland sparen muss und in denen
der Entwurf des Subventionsberichts an die Öffentlichkeit kommt, aus dem wir erfahren, dass bei Ihnen die
Subventionen sogar noch steigen, anstatt dass sie zurückgeführt werden.
({22})
Das ist ein Stück aus dem Tollhaus. Wir wollen Steuersenkungen! Diese sind das beste Beschäftigungsprogramm.
({23})
Wir wollen sie aber nicht mit neuen Schulden, sondern
durch Subventionskürzungen finanzieren. Herr Bundeskanzler, dazu fehlt Ihnen der Mut. Genau dieser Mut ist
aber das Wichtigste in Ihrem Amt.
({24})
Wir haben erlebt, dass Sie den demographischen Faktor bei der Rente aufgehoben haben. Sie haben die Petersberger Beschlüsse blockiert und in Ihrer Amtszeit die
gesamten Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im
Arbeitsrecht beseitigt. Gott sei Dank kommt jetzt Herr
Clement mit Vorschlägen, die nach und nach in die richtige Richtung gehen. Er hat dabei größte Widerstände
bei Ihnen zu überwinden. Das ist das Problem. Ihre Regierung ist eine einzige Momentaufnahme; sie möchte
auf Stimmungswogen gleiten.
({25})
Leider sind Sie keine Regierung, die eine verlässliche
Perspektive definiert. In diesen Zeiten müsste ein deutscher Bundeskanzler bzw. eine Bundesregierung sagen:
Wir wollen eine Staatsquote von einem Drittel erreichen,
weswegen wir die Steuersätze auf 15, 25, 35 Prozent reduzieren. Wir werden das durch Privatisierung, Subventionsabbau und eben nicht durch neue Schulden finanzieren.
({26})
Wir werden das Ganze mit einer Reform auf dem Arbeitsmarkt verbinden und dazu neue bildungspolitische
Akzente setzen. - All das kommt von Ihnen nicht. Sie
haben keine Perspektive; Sie sind ein Stimmungskanzler. Das ist das Problem für Deutschland.
({27})
Ich will die einzelnen Punkte der Gesundheitspolitik
ansprechen, die Sie hier selbst eingeführt haben. Herr
Bundeskanzler, bezogen auf die Gesundheitspolitik haben Sie zunächst einmal die Freien Demokraten angesprochen. Das war so gut wie alles, was Ihnen zur Gesundheitspolitik eingefallen ist. Sie sagen, dass es keine
Steuererhöhungen geben soll. In Wahrheit ist in diesem
Kompromiss vorgesehen, dass die Tabaksteuer erhöht
wird, damit das Gesundheitssystem bezahlbar bleibt. Die
Vorstellung, dass man erst möglichst viel rauchen muss,
damit man, wenn man wegen des Rauchens krank wird,
eine Behandlung bezahlt bekommen kann, ist in meinen
Augen geradezu absurd.
({28})
Rauchen für die Gesundheit ist auch ordnungspolitisch
nur noch gaga.
({29})
Darüber werden wir hier aber noch beschließen.
Daneben haben Sie noch einmal meine Haltung und
die Haltung meiner Fraktion in der Gesundheitspolitik
angesprochen.
({30})
Da Sie auf den Wettbewerb eingegangen sind, will ich
es Ihnen gerne sagen: Sorgen Sie doch für einen echten
Wettbewerb aller Versicherungen!
({31})
Sorgen Sie dafür, dass die Versicherungen in einen echten Wettbewerb miteinander treten! Dann sind wir sofort
mit Ihnen dabei, auch in den Gesundheitsberufen mehr
Wettbewerb durchzusetzen.
({32})
Wir verstehen unter Wettbewerb: frei und fair!
Sie haben gerade die Apotheken angesprochen. Wir
als Freie Demokraten möchten, dass auch künftig zum
Beispiel jemand auf dem Lande einen Notdienst für ein
Medikament seines Kindes in Anspruch nehmen kann,
ohne dass er dafür zwei Stunden im Auto unterwegs sein
muss.
({33})
Auch diese Menschen brauchen jemanden in diesem
Hause, der darauf aufmerksam macht.
Nein, Herr Bundeskanzler, wir brauchen keine Bürgerversicherung. Wir brauchen mehr Wettbewerb und
mehr Freiheit. Wir brauchen keine Pflichtversicherung,
sondern eine Pflicht zur Versicherung. Das haben wir Ihnen in diesem Hause als Gegenkonzept vorgelegt.
({34})
Das werden wir auch durchsetzen.
Ich will zu einem weiteren Bereich kommen, den Sie
angesprochen haben. Das ist nach der Innenpolitik, der
Haushaltspolitik und der Sozialpolitik die Außenpolitik.
Es soll ausdrücklich anerkannt werden, Herr Bundeskanzler, dass wir Gemeinsamkeiten haben.
({35})
Das muss auch in einer solchen Debatte, zu der der
Schlagabtausch gehört, erwähnt sein.
({36})
Aber ich sage Ihnen: Ich halte es schon für einen Fehler, wenn Sie bei der europäischen Verfassung den Eindruck erwecken, als dürfe nichts mehr verändert werden,
obwohl doch Ihr eigener Außenminister über 50 eigene
Änderungsvorstellungen zum Verfassungsentwurf des
Konvents vorgelegt hat. Wir teilen die sachliche Bewertung, die Sie haben. Aber der Appell meiner Fraktion richtet sich an Sie und das ganze Haus: Wenn wir wollen, dass
sich die Bürgerinnen und Bürger hinter dieser europäischen Verfassung versammeln - das ist eine historische
Frage -, dann sollten wir auch gemeinsam dafür sorgen,
dass sich die Bürgerinnen und Bürger in einer Volksabstimmung für diese Verfassung entscheiden können.
({37})
Auch da sollten Sie Ihren Worten Taten folgen lassen.
So, wie Sie das bisher in der Europapolitik gemacht
haben, geht es nicht. Sie haben einiges gesagt, was anerkannt werden soll, insbesondere was das deutsche
Engagement im Irak angeht. Auch wir sind der Überzeugung: Das Militärische darf Außenpolitik nicht ersetzen.
Das sollten Sie mehr Ihrem Außenminister und weniger
diesem Haus sagen. Aber in der Europapolitik können
Sie sich nicht zum Staatsmann aufschwingen.
({38})
Das ist nach diesem Sommer vorbei. Wie Sie einen Sommer lang einen wirklich drittrangigen Staatssekretär aus
Italien zum großen Thema von Regierungspolitik gemacht haben, indem Sie Deutschland durch regierungsamtliche Mitteilungen Ihres Sprechers darüber rätseln
ließen, ob man denn jetzt noch an die Adria fahren darf
oder nicht, ist nur noch Operettenaußenpolitik gewesen.
Ich finde wirklich, ein Bundeskanzler - das war bei
früheren Bundeskanzlern der Fall - hat bei Irritationen
zwischen befreundeten Ländern die Verpflichtung, eine
solche Irritation aufzuarbeiten, zu begrenzen und diese
nicht auch noch für innenpolitische Stimmungswogen
hochzuspielen.
({39})
Herr Bundeskanzler, Urlaubsabsagen als Instrument der
Außenpolitik taugen nicht. Das ist eine Mischung aus
Wilhelm II. und Ludwig II. Das passt nicht in unsere
Zeit, Herr Bundeskanzler. Auch das soll gesagt werden.
Sie sind eben nicht nur in der Innenpolitik und der Wirtschaftspolitik am Ende angekommen, sondern Sie sind
in Wahrheit auch in der Außenpolitik konzeptionslos.
Hinter Ihnen liegt nicht eine Phase der Einigung Europas. Hinter Ihnen liegt eine Phase, in der Europa zerstrittener ist als je zuvor. Dafür tragen viele Verantwortung,
Sie auch.
({40})
Diese Regierung ist nach fünf Jahren wirtschafts-, innen- und außenpolitisch gescheitert. Sie war ein einziger
Fehler, Herr Bundeskanzler. Das ist das Eingeständnis,
das kommen muss.
({41})
Drohen Sie Deutschland nicht damit, Rot-Grün nach
2006 fortzusetzen. Kündigen Sie lieber an, dass Sie sich
nach und nach zurückziehen. Deutschland sehnt sich
nicht nach vier weiteren Jahren Rot-Grün. Deutschland
bräuchte Neuwahlen. Das wäre das beste Beschäftigungsprogramm.
({42})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin GöringEckardt von Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Präsident! Herr Westerwelle, das Geschrei, das Sie hier veranstaltet haben,
({0})
mag vielleicht in den eigenen Reihen ankommen.
({1})
Aber ich will auf etwas eingehen, was Sie besser getan hätten. Sie haben ein Spiel kritisiert, das die Bundesregierung produziert und das zur vorschulischen Erziehung gehört. Es geht um Ernährungserziehung.
Gestern sagte jemand in der Kantine - ein Erwachsener
übrigens - er wolle noch etwas von dem Blumenkohl,
und er hat dabei auf den Fenchel gezeigt. Das ist die Situation, mit der wir es zu tun haben.
({2})
In diesem Zusammenhang, Herr Westerwelle, hätte es
Ihnen vielleicht besser getan, wenn Sie sich mit der
Frage, wer für was zuständig ist, beschäftigt hätten.
({3})
Für die Kindergartenbeiträge ist nicht die Bundesregierung zuständig, sondern die Kommunen, wie Sie wissen.
Insofern würde Ihnen lebenslanges Lernen gut tun, statt
hier am Morgen herumzubrüllen.
({4})
Wir debattieren seit gestern über den Bundeshaushalt
und ich habe sehr genau zugehört, insbesondere bei den
Redebeiträgen der Opposition.
({5})
Man könnte fast denken, alles ist wie immer. Die Regierung legt etwas vor und die Opposition fordert erst einmal - fast jedenfalls, Herr Merz - den Rücktritt des Finanzministers oder veranstaltet ein bisschen Klamauk,
wie das Herr Glos heute Morgen gemacht hat.
({6})
Dabei reden wir in wirklich schwierigen Zeiten über
einen Haushalt und gleichzeitig über die Reformagenda
2010, die einen tief greifenden Reformprozess in Gang
setzt und in Gang setzen muss.
({7})
Das Land redet darüber, wie Deutschland zukunftsfähig
werden kann. Nur Sie debattieren nicht darüber, sondern
veranstalten eine Art Karneval. Das Land redet darüber,
was wir machen müssen, damit wir vorankommen, und
Sie veranstalten nichts anderes als Affentheater. Herr
Glos, Deutschland bewegt sich schon.
({8})
Der Stillstand ist nur auf der rechten Seite dieses Hauses.
Das ist das Problem, das wir haben.
({9})
Liebe Frau Merkel,
({10})
wir hören sehr genau hin, wenn Sie Vorschläge machen.
Wenn man in den letzten Tagen hinhört, was die Politik
der Union ist, dann fällt auf, dass es eigentlich nur ein
Thema gibt, das eine Rolle spielt, und das ist der Kandidatenstadl. Man liest nichts darüber, wer der beste Bundespräsident oder die beste Bundespräsidentin ist, sondern darüber, wer in das Machtkalkül von wem passt.
Ich finde, das ist dem Amt und der Lage, in der wir uns
befinden, nicht angemessen.
({11})
Da gibt es keine Alternativkonzepte. Sie sagen nichts
zur Rente, sondern warten auf Herzog. Herr Glos sagt
noch, man müsse das alles ein Stück weit so machen,
wie es von der Regierung vorgeschlagen werde. Letzten
Endes bleibt eine einzige Sache übrig - Herr
Westerwelle hat das eben noch einmal gemacht -: Es
geht darum, dass Sie sich vor Ihre Klientel werfen, vor
die Handwerksmeister, vor die Ärzte, vor die private
Krankenversicherung und vor die Pharmaindustrie. Ich
kann nur sagen: Mit Rot-Grün bewegt sich Deutschland.
Der Stillstand ist auf Ihrer Seite.
({12})
Dieser Haushalt birgt Risiken. Hans Eichel hat darauf
hingewiesen. Das gehört zur Ehrlichkeit und das gibt es
nicht oft in der Politik.
({13})
Wenn Sie während Ihrer Regierungszeit darauf hingewiesen hätten, dann wären wir heute auch schon weiter.
Das gehört zur Ehrlichkeit.
({14})
Das größte Haushaltsrisiko haben wir dann, wenn Sie
von der Opposition das Jahr so beenden, wie Sie es angefangen haben.
({15})
Sie sagen: Subventionsabbau ja, aber bloß keine Subventionen abbauen. Das ist Ihre Politik.
({16})
Das Spiel machen wir seit Januar. Sie beklagen, dass die
geplanten Steuersenkungen im nächsten Jahr überwiegend durch Schulden finanziert werden. Auch ich bin
darüber nicht glücklich. Das weiß hier jeder. Aber warum ist das denn so? Weil Sie Anfang des Jahres verhindert haben, dass überhaupt ein Subventionsabbau begonnen werden konnte. Das war eine Größenordnung von
14 Milliarden Euro. Das ist mehr, als wir zur Gegenfinanzierung für das Vorziehen der Steuerreform brauchen. Das haben Sie verhindert, nicht wir. Das ist die
„solide“ Finanzpolitik, die Sie machen. Ich sage: Nein,
das ist sie nicht.
({17})
Schauen Sie sich einmal den famosen Herrn Koch an.
Ich habe ihn heute Morgen wieder im Radio gehört.
({18})
Er möchte den Bundeshaushalt im Bundesrat stoppen.
Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Herr
Koch. Sie hätten in den letzten Jahren Ihren eigenen
Landeshaushalt stoppen sollen, der nämlich dazu geführt
hat, dass Hessen im Ranking nach unten gerutscht ist.
({19})
Wer in Wiesbaden mit dünnem Wasser kocht, der sollte
nicht versuchen, in Berlin Schaumschlägerei zu betreiben. Deutschland bewegt sich, Stillstand ist bei der Opposition.
({20})
Frau Kollegin Göring-Eckardt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn von Klaeden?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Göring-Eckardt, da Sie seit einiger Zeit
immer wieder Hessen erwähnen, frage ich Sie: Ist Ihnen
bekannt, dass das von Rot-Grün regierte Schleswig-Holstein überhaupt nicht mehr geratet wird?
({0})
Herr von Klaeden, ich habe die Entwicklung in den
vergangenen Jahren dargestellt. Ich habe vor allem darstellen wollen, wie auf der einen Seite über solide
Finanzpolitik gesprochen und auf der anderen Seite das
Gegenteil gemacht wird. Wenn man zum Beispiel über
die Einhaltung der Kriterien von Maastricht redet, dann
muss man auch Herrn Koch in den Blick nehmen, der
nämlich erheblich dazu beiträgt, dass wir die Kriterien
nicht einhalten werden. Dafür sind nicht nur die Bundesregierung oder Hans Eichel verantwortlich.
({0})
Auch das muss der Ehrlichkeit halber berücksichtigt
werden.
({1})
Meine Damen und Herren, der Konzeptionslosigkeit
der Union ist entgegenzuhalten: Wir hätten es gern ein
bisschen konkreter. Die Politik, die Sie hier vorstellen,
erinnert mich an das, was wir zurzeit in den DDR-Shows
erleben: viel Nostalgie und Klamauk, aber wenig reale
Geschichte.
Frau Merkel, Ihre Vorschläge zur Atomkraft zum Beispiel sind für die Energiefragen der Zukunft ungefähr so
tauglich wie der Drink, den Katarina Witt in der DDR
aus Rotwein, Eiern und Kaffeesahne gemixt hat und der
angeblich gegen Schnupfen helfen sollte.
Lieber Herr Bundeskanzler, angeblich ist dieser Drink
in der DDR getrunken worden. Ich möchte aber nicht,
dass Sie sich diesen Geschmack vorstellen, weil Ihnen ja
so leicht übel wird.
({2})
Aber zurück zu Ihnen, Frau Merkel. Beim geplanten
Subventionsabbau durch die Bundesregierung hören wir
von Ihnen wieder einmal, was alles nicht möglich ist:
Die Pendlerpauschale muss bleiben und die Eigenheimbesitzer brauchen weiterhin die Staatsknete. So funktioniert es aber nicht. Auf der einen Seite die Steuersenkungen zu begrüßen und eine Neuverschuldung abzulehnen,
aber auf der anderen Seite jede vernünftige Gegenfinanzierung zu blockieren ist die Quadratur des Kreises. Das
ist sozusagen Voodoo-Ökonomie, die wir nicht mehr akzeptieren können.
({3})
Die konnten Sie vielleicht in Ihrer Regierungszeit noch
betreiben. Jetzt aber sind Sie in der Mitverantwortung
durch den Bundesrat. Diese Verantwortung müssen Sie
annehmen. Wir und auch die Öffentlichkeit werden Sie
dazu zwingen.
({4})
Ich bin überzeugt, dass die Menschen von uns vor allem eines erwarten, nämlich Ehrlichkeit. Sie wollen,
dass wir deutlich sagen, welche Veränderungen notwendig sind und was auf sie zukommt. Das betrifft die demographische Entwicklung wie auch die Tatsache, dass
sich die Welt verändert und wir nicht mehr in einem isolierten Nationalstaat leben. Das betrifft auch den weltweiten Wettbewerb um die besten Ideen, die besten Produkte und die besten Köpfe, in dem wir stehen.
Von Sofortprogrammen, wie Sie es wieder im Zusammenhang mit den Gemeindefinanzen vorgeschlagen haben, und einseitigen Wachstumshoffnungen müssen Sie
sich verabschieden. Darüber haben wir von der rechten
Seite dieses Hauses bereits genug gehört.
In den goldenen 70er- und 80er-Jahren war es wohl
relativ leicht, erfolgreich zu sein. Deutschland ging es
gut und es gehörte zu den Spitzennationen. Die Sehnsucht nach diesen Zeiten springt einen regelrecht an. Das
gilt nicht nur für die Nationalelf, sondern auch für die
Nation. Aber um wieder vorne mitspielen zu können,
müssen wir etwas tun und uns ändern. Wir dürfen nicht
auf unseren Stühlen hocken bleiben, wie Sie es tun. Aus
meiner Sicht geht das nur, wenn alle mitmachen: die
Kleinen, aber auch die Großen. Es geht nur, wenn wir
nicht vergessen, was Sozialstaat für uns bedeutet: nämlich nicht das Anspruchsdenken von allen, sondern das
Eintreten für die Schwachen.
({5})
Dass die sozialen Sicherungen in Zukunft nicht mehr
allein über die Arbeitskosten finanziert und bewältigt
werden können, ist bekannt. Schon jetzt zahlen wir den
hohen Preis der Massenarbeitslosigkeit.
Herr Merz, Sie haben sich sehr darüber gefreut, dass
der Bundeskanzler die Abschaffung des demographischen Faktors als einen Fehler bezeichnet hat. Dabei
müssen Sie aber eines berücksichtigen: Der von Ihnen
eingeführte Demographiefaktor hätte bei weitem nicht
ausgereicht, um das Rentensystem zu konsolidieren.
Dafür brauchte man die private Vorsorge und einen Kapitalstock in der Altersvorsorge. Sicherlich sind noch
weitere Veränderungen notwendig. Sie können sich hier
jedenfalls keinen „weißen Fuß“ machen; denn der Demographiefaktor war zwar ein richtiges, aber nicht ausreichendes Instrument.
({6})
Sowohl Herr Blüm als auch Sie haben das schon damals
gewusst. Das ist Ihr Fehler gewesen.
({7})
Mit der Agenda 2010 haben wir mit echten Strukturveränderungen begonnen. Wir brauchen weiter gehende
Veränderungen. Für uns Grüne ist klar, dass eine Bürgerversicherung notwendig ist, in die alle einzahlen
und die in stärkerem Maße von den Arbeitskosten abgekoppelt wird. So sehen soziale Systeme der Zukunft aus.
Das ist auch kein grüner Traum mehr. Herr Seehofer
wird sich ja aus Vernunftgründen durchsetzen.
Liebe Freundinnen und Freunde von der Sozialdemokratie, um den Kompromiss bei der Gesundheitsreform
haben wir gemeinsam gerungen. Wir haben bei den Verhandlungen mit den Schwarzen sicherlich viel schlucken
müssen. Aber jetzt können wir gemeinsam zeigen, was
wir unter Gerechtigkeit verstehen. Eine Bürgerversicherung - das ist meine ehrliche Überzeugung - ist eine
echte Chance, die Lasten auf mehr Schultern und auch
auf diejenigen der Starken zu verteilen. Bei einer Bürgerversicherung geht es nicht darum, mehr Geld in das
Gesundheitssystem fließen zu lassen, sondern um mehr
Gerechtigkeit.
({8})
Vorerst gilt trotzdem: Wir werden dem beschlossenen
Kompromiss zustimmen, damit überhaupt etwas geschieht. Aber Sie müssen sich schon gefallen lassen
- das gilt auch für Sie, Herr Westerwelle -, dass man
deutlich macht, wer für was zuständig war. Natürlich haben Sie den Wettbewerb verhindert und sich schützend
vor Ihre Klientel, die Ärzte, die Apotheker und die Pharmaindustrie, gestellt. Die FDP als Partei der freien
Marktwirtschaft hat sich angesichts dessen, was Sie bei
den Verhandlungen über den gesundheitspolitischen
Kompromiss veranstaltet haben, im Grunde genommen
bereits selbst überlebt.
({9})
Sie dürfen nicht vergessen, dass das Geld, das Sie so
freizügig verteilen und mit dem Sie umspringen wollten,
als ob es keine Bedeutung hätte, nicht Ihnen gehört. Es
handelt sich noch nicht einmal um Steuergelder, sondern
um Gelder der Beitragszahler und der Versicherten.
({10})
- Herr Gerhardt, vielleicht gibt es Ihnen zu denken, dass
es zwei Menschen gibt, die kritisieren, dass die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP mehr Wettbewerb bei
den Verhandlungen über den gesundheitspolitischen
Kompromiss verhindert haben. Der eine ist Herr
Sommer, der DGB-Chef, und der andere ist Herr
Rogowski, der Ihnen ja sehr nahe steht. Ich kann nur sagen: Deutschland bewegt sich. Stillstand - das ist eindeutig - herrscht auf Ihrer Seite.
({11})
Herr Westerwelle, Sie haben sich außerdem bei einem
anderen Problem aufgeblasen, das wirklich schwerwiegend ist und mit dessen Lösung wir uns beschäftigen
müssen. Das ist das Thema Ausbildungsplätze. Wenn
es um dieses Thema geht, erzeugen Sie regelrecht einen
Kältestrom in diesem Hohen Haus, worüber ich mich
nur wundern kann. Ende September dieses Jahres werden vermutlich 50 000 Lehrstellen fehlen. Ich finde, dass
wir das definitiv nicht hinnehmen können.
({12})
Herr Westerwelle, die 50 000 jungen Menschen, die keinen Ausbildungsplatz finden, brauchen wir aber als
Fachkräfte. Sie müssen eine Chance bekommen. Wer
viel über Schule und Studium redet, der darf die betriebliche Ausbildung nicht vergessen.
({13})
Wir haben den Unternehmen wirklich sehr viel Zeit
gelassen, um neue Lehrstellen zu schaffen. Das Ergebnis
ist - Herr Westerwelle, das müsste auch Ihrer Wettbewerbspartei zu denken geben -, dass gerade einmal
30 Prozent der deutschen Unternehmen ausbilden. Die
meisten Betriebe bilden also nicht aus. Damit muss
Schluss sein. Wenn es nicht anders funktioniert, dann
muss es eine entsprechende gesetzliche Regelung geben.
Dann brauchen wir eine Ausbildungsumlage, damit Jugendliche in Ausbildung kommen und damit es Gerechtigkeit bei den Unternehmen gibt. Darum geht es.
({14})
Sie sprechen aber noch ein anderes „Wettbewerbsthema“ ständig an, nämlich die Handwerksordnung, die eigentlich eine mittelalterliche Zunftordnung
ist. Sie haben sich schützend vor den Meisterbrief geworfen. Man kann hier sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Ich halte das Ganze für sehr bürokratisch und
für überkommen.
Aber man kann sich auch einmal mit der Realität beschäftigen. Beispielsweise gibt es in Berlin einen
Meister seines Faches, dem sich - ich habe das gehört
und gelesen - auch einige Mitglieder dieses Hauses anvertrauen - nicht Herr Glos, der sich seine Haare immer
von seiner Frau färben lässt, aber andere. Dieser Mann
hat nach Auskunft der Handwerkskammer Berlin keinen
Meisterbrief. Es handelt sich um Udo Walz. Dass er keinen Meisterbrief hat, ist, wie ich finde, kein Drama. Ich
hoffe, niemand hier ist anderer Meinung. Ich weiß nicht,
ob sich Guido Westerwelle bei Herrn Walz die Haare
föhnen lässt.
Dieses Beispiel zeigt: Die Handwerksordnung hat
sich überlebt. Wir brauchen sie in dieser Form nicht
mehr. Man kann einen Schritt nach vorn tun, entbürokratisieren, endlich einmal Freiheit und Wettbewerb schaffen und die damit verbundenen Möglichkeiten aufzeigen.
({15})
Ich möchte auf ein Problem zu sprechen kommen, mit
dem eine große Zukunftsfrage verbunden ist: 1,6 Millionen Menschen, und zwar vor allen Dingen Frauen, sind
in Deutschland vom Erwerbsleben ausgeschlossen, und
zwar nur deswegen, weil die entsprechenden Kinderbetreuungsangebote fehlen. 41 Prozent der Frauen in
Deutschland sind nicht erwerbstätig. Das ist in anderen
europäischen Ländern anders: In Schweden und Großbritannien arbeiten 70 Prozent. Die Schaffung der Kinderbetreuungseinrichtungen ist insofern eine Frage der
gesellschaftlichen Gerechtigkeit und eine knallharte
ökonomische Frage. Das Fehlen von Kinderbetreuungsangeboten verhindert Wachstum und das Entstehen von
Arbeitsplätzen in Deutschland.
Die Beantwortung der Frage, ob die Rahmenbedingungen stimmen und ob deswegen mehr Kinder geboren
werden, ist für die Zukunft weit wichtiger als zum Beispiel die Lösung der Rentenversicherungsprobleme,
Stichwort: Renteneinstieg mit 67.
Auch hierbei gilt, liebe Frau Merkel: Ihre Antwort ist
wieder von gestern. Im Wahlkampf sind Sie noch für die
Zahlung von Familiengeld eingetreten und jetzt sollen
die Eltern warten, bis sie Rentnerinnen oder Rentner
sind. Dann wird bei ihnen „eine Schippe draufgelegt“.
Fragen Sie die Frauen in Deutschland! Sie wollen heute
Beruf und Familie verbinden. Die Eltern wollen, dass es
ihnen heute besser geht, sie wollen heute Möglichkeiten
haben, sie wollen nicht warten, bis sie im Ruhestand
sind, um dann dafür belohnt zu werden, dass sie Mütter
oder Väter gewesen sind. Ich kann nur sagen: Deutschland bewegt sich. Stillstand herrscht auf Ihrer Seite; Sie
richten den Blick zurück, und zwar sehr weit.
({16})
Die Menschen wissen auch, dass wir auf Dauer nicht
länger immer neue Schulden machen können. Neue
Schulden bedeuten Einengung der Bewegungsspielräume für unsere Kinder und Kindeskinder. Wir müssen
heute die Möglichkeit haben, in die Zukunft zu investieren. Dabei geht es um Bildung, um Familien, um Forschung und um technische Innovationen. Dabei geht es
übrigens auch um Energiefragen. Dem, was Sie, Frau
Merkel, zum Thema Atomkraft gesagt haben, möchte
ich Folgendes entgegnen: Es gibt auf der Welt kein einziges privates Unternehmen, das mit eigenem Geld
Atomkraftwerke baut. Das müssen Sie sich einfach einmal bewusst machen, wenn Sie mit solchen Vorschlägen
kommen. Wenn Sie den Sicherheitsaspekt nicht berücksichtigen wollen, dann berücksichtigen Sie bitte wenigstens das bisschen, was mit Ökonomie zu tun hat. Ihre
Art, mit Reformen umzugehen, funktioniert nach dem
Motto „Zurück auf Los“. Das funktioniert nicht, wenn
man den Aufbruch in Deutschland schaffen will.
({17})
Wenn man den Aufbruch in Deutschland schaffen
will, dann muss man tatsächlich nach vorn blicken und
die Sozialreformen anpacken. Frau Merkel, Sie haben
hier vor ein paar Monaten gesagt: Es muss endlich etwas
vorgelegt werden. - Jetzt liegt etwas vor. Was fehlt, ist
Ihre Antwort. Die Reformvorschläge liegen vor, der
Haushalt liegt vor, das Haushaltsbegleitgesetz liegt vor
und Vorschläge zum Subventionsabbau liegen vor. Was
fehlt, ist irgendeine Antwort aus Ihren Reihen.
({18})
Ich bin froh darüber, dass sich die rot-grüne Koalition
entschieden hat, ehrlich zu sein. Ich bin übrigens auch
ein bisschen stolz darauf. Ich habe Respekt vor denjenigen, die sich haben überzeugen lassen, alte Pfade tatsächlich zu verlassen und so nicht weiterzumachen. Das
„Weiter so“ ist das eigentliche Problem im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit. Auch wenn es bei
einzelnen Punkten schwer fällt, brauchen wir die Bereitschaft - auch Ihre -, tatsächlich Veränderungen vorzunehmen, damit wir zukunftsfähig werden. Darauf kommt
es an. Wir können den Weg in die Sackgasse nicht weiter
beschreiten. Es geht jetzt wirklich um ein neues
Deutschland.
Wir haben uns für beides entschieden: für Selbstbestimmung und für Solidarität, für Freiheit und für Verantwortung. Sie haben sich für Klientelismus und
Machtspiele entschieden.
An die Adresse von Herrn Stoiber, der die Probleme
in Deutschland auf ganz andere Weise beschreibt, will
ich hier einmal sagen: Unser Problem ist nicht, dass wir
ein Volk von Drückebergern sind, die Sozialhilfe beziehen - diese Strukturen haben wir selbst geschaffen -; unser Problem ist, dass wir die Ausgrenzung hingenommen
haben und dass daraus Sozialhilfekarrieren geworden
sind;
({19})
unser Problem ist, dass wir 1 Million Kinder in Deutschland haben, die von Armut bedroht sind, die von Sozialhilfe leben. Wenn wir über Gerechtigkeit reden, dann
heißt das: Wir wollen Gerechtigkeit auch für diejenigen,
die draußen sind. Die Spaltung der Gesellschaft in die,
die drin sind, und die, die draußen sind, zu überwinden,
das ist die Zukunftsaufgabe, die wir haben. Eine solche
Spaltung wollen wir nicht. Eine solche Spaltung können
wir nicht hinnehmen. Das ist die neue Gerechtigkeitsfrage, vor der wir stehen.
Wenn Herr Stoiber damit ein Problem hat, dann soll
er sich bitte einmal die Armutsberichte anschauen und
sich klar machen, was das für diese Kinder bedeutet, was
es für ihre Gesundheit bedeutet, was es für ihre Chancen
in der Schule, bei der Ausbildung und erst recht beim
Studium bedeutet. Soziale Gerechtigkeit fängt bei den
Schwächsten an und dafür steht diese Regierung ein.
({20})
Letztlich ist das natürlich auch ein Potenzial, das wir
verschenken. Aber mit solchem ökonomischen Potenzial
hat es Bayern ja nicht so. Das betrifft im Übrigen auch
die Zuwanderung. Ob Deutschland ein ausländerfreundliches Land ist oder nicht, ob Deutschland den Wettbewerb um die besten Köpfe gewinnen kann oder nicht, ist
eine harte Standortfrage; Ihre Freunde in der Wirtschaft
und Ihre eigenen Experten erzählen Ihnen das jeden Tag
aufs Neue. Mit der Weigerung, endlich ein modernes Zuwanderungsgesetz in Kraft zu setzen, schaden Sie direkt,
ganz direkt der deutschen Wirtschaft: weil die klugen
Köpfe nicht hierher kommen und weil Ausländerfreundlichkeit und Offenheit eines Landes ein Wirtschaftsfaktor ist, ein Standortfaktor ist, ein Markenzeichen ist. Ein
solches Markenzeichen brauchen wir in Deutschland,
wenn wir tatsächlich Zukunft gewinnen wollen.
({21})
Das betrifft auch die unheimlich platte Attitüde von
Herrn Stoiber zu der Frage des EU-Beitritts der Türkei. Wenn es nach der CSU ginge, besonders in Wahlkampfzeiten, müssten wahrscheinlich erst alle Türkinnen und Türken Weißbier trinken und Dirndl oder
Lederhose tragen, bevor man darüber überhaupt reden
kann.
({22})
Ich finde: Das ist unverschämt. Das spaltet. Ihre Argumentation spaltet unser Land und spaltet auch Europa.
({23})
Wir haben sehr klar gesagt, wohin wir mit unseren
Reformen wollen. Wir wollen, dass Deutschland ein
Land wird, in dem sich etwas bewegt, und zwar hoffentlich auch die Opposition, ein Land, in dem Innovationen
und Kreativität etwas wert sind, ein Land, in dem nicht
Gleichmacherei herrscht, sondern Unterschiede genutzt
werden, ein Land, das Querdenken fördert und Quereinsteiger befördert, ein offenes Land, das kinderfreundlich
ist und in dem wirklich keiner mehr außen vor bleibt, ein
Land, von dem Frauen sagen können: „Das ist mein
Land“, ein Land, in dem alle bei den Veränderungen, die
nötig sind, mitmachen, so wie sie es können, und ein
Land, in dem es keine Schande ist, zu den Schwachen zu
gehören, sondern eine Ehre, sich der Schwachen anzunehmen.
({24})
Auch und gerade das gehört dazu, wenn wir über Bewegung reden.
Nun bringt uns ja der Fußball in diesen Tagen manche
Erkenntnisse. Wir haben gelernt: Es hilft nicht, zu jammern: Es sind viele verletzt, der Platz ist schlecht bespielbar, der Druck war riesengroß usw. Wahrscheinlich
erwartet auch niemand, dass jedes Spiel haushoch gewonnen wird. Aber was wir sehen wollen, ist echte Anstrengung und den Willen und die Bereitschaft, etwas zu
leisten,
({25})
vielleicht sogar einmal über sich hinauszuwachsen. Das
ist im Fußball wie mit Deutschland.
({26})
Heute Abend geht es für die Nationalmannschaft um
viel. Wenn ich das richtig verstanden habe, wäre es
schon ganz gut, wir würden gewinnen. Vor allem wollen
wir eine Mannschaft sehen mit Herz, die gut kombiniert,
({27})
die kreativ und flexibel ist, in der Einzelne ihre Stärken
ausspielen können
({28})
und in der gleichzeitig Teamgeist zur Geltung kommt.
({29})
Dann kann Deutschland wieder Spitze werden - im Fußball, aber auch als Land; da sind wir sozusagen alle Mitglieder des deutschen Teams.
Frau Merkel, wenn Sie nicht so sehr mit der Manndeckung in der eigenen Mannschaft beschäftigt wären,
könnten Sie vielleicht auch vorn mitspielen. Ich kann Sie
nur auffordern, das mit vollem Einsatz zu tun, hier im
Bundestag und im Bundesrat.
({30})
Edmund Stoiber leidet ja wohl noch immer darunter,
dass er die Qualifikation verpasst hat. Jetzt hockt er auf
der Ersatzbank und es schwant ihm, dass er bei der
nächsten Aufstellung gar nicht mehr dabei sein wird. Ich
kann nur sagen: Gut so! Schließlich wollen wir gewinnen. Es geht um viel für Deutschland, nicht bloß heute
Abend in Dortmund.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({31})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angela Merkel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Bundeskanzler, Sie haben hier heute generös einen Fehler zugegeben: die Abschaffung des demographischen
Faktors. Die eigentlich viel spannendere Frage - die andere Frage ist ja lange geklärt - lautet: Was lernen Sie
daraus? Wie vorsichtig gehen Sie voran? Ich möchte
nämlich nicht erleben, dass Sie in drei oder vier Jahren
hier stehen - ({0})
- In vier Jahren stehen Sie nicht mehr hier, aber in drei
Jahren könnte es noch der Fall sein.
({1})
- Jetzt freuen Sie sich einmal nicht zu früh, Herr Bundeskanzler, es kann auch schneller gehen. Hochmut
kommt immer vor dem Fall; das sollten Sie beherzigen.
({2})
Ich möchte nicht erleben, dass Sie in absehbarer Zeit
hier stehen und sagen müssen: Ja, die Verletzung der
Stabilitätskriterien der EU war ein Fehler. Ich möchte
es insbesondere deshalb nicht erleben, weil es bei den
Stabilitätskriterien der EU nicht nur um eine nationale
Frage, sondern um weit mehr geht. Wenn Sie mit einem
gewissen Laisser-faire und einer gewissen Sicherheit,
weil Sie sich darin mit Frankreich einig wissen, diese
Stabilitätskriterien Jahr für Jahr verletzen, gehen Sie die
durchaus begründete Gefahr ein - Sie wissen das -, dass
in Europa Dämme brechen, die wir alle miteinander nur
ganz schwer wieder schließen können. Genau das beschäftigt uns hier.
({3})
Die Leute spüren das doch. Irgendjemand hat eben
gesagt, der Bundesfinanzminister habe gestern zugegeben, dass es Risiken gebe. Wenn man Risiken kennt,
dann muss man sie doch - das weiß jeder vernünftige
Mensch - konservativ bewerten. Es gibt eine ganze
Schar von Bundesländern in der Bundesrepublik
Deutschland, die von 1 Prozent Wachstum ausgehen.
Frau Scheel hat doch gesagt, dass die Annahme überholt
sei. Damit ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, nicht von 2 Prozent, sondern von 1 Prozent auszugehen,
({4})
um die Risiken verantwortbar zu bewerten, Herr Bundeskanzler. Sie aber lassen zu, dass das Gegenteil geschieht.
({5})
Es ist so, dass die Menschen - man spürt es inzwischen überall - nur begrenzt belastbar sind. Übrigens gilt
das, wie man hinzufügen muss, auch für Ihre eigenen
Abgeordneten.
({6})
Dass die Grenze der Belastbarkeit, also die Grenze
dessen, was den Menschen in diesem Lande zugemutet
werden kann, überschritten ist, werden Sie bei der bayerischen Landtagswahl serviert bekommen; am 21. September abends werden Sie es schwarz auf weiß haben.
({7})
Nun ist es ja nicht so, dass Sie in Wahlkämpfen dazu
neigen, nur die Wahrheit zu sagen.
({8})
aber es gibt halt Spitzenkandidaten, die das noch tun,
wie zum Beispiel der bayerische.
({9})
- Ihrer! Ich spreche gerade vom sozialdemokratischen
Spitzenkandidaten.
({10})
Der sagt nämlich:
Die Stimmungslage für die SPD ist derzeit überall
in Deutschland beispiellos schlecht. Die Verunsicherung der Menschen ist mit Händen zu greifen.
Recht hat er, der Herr Maget.
({11})
Das ist doch auch der Grund, warum man Sie, Herr Bundeskanzler, in Bayern nicht auf den Plätzen sehen will.
An Ihrer Person macht sich nämlich diese Verunsicherung fest.
({12})
Weil Sie, Herr Bundeskanzler, inzwischen spüren, dass
Sie auf bayerischen Plätzen entbehrlich sind, haben Sie
die Sorge, dass Sie überall entbehrlich werden könnten.
Daher haben Sie sicherheitshalber schon einmal erklärt,
Sie müssten 2006 wieder kandidieren. Das ist der einfache Grund. Sie werden entbehrlich und spüren es. Sie
werden langsam, aber sicher für dieses Land entbehrlich,
so wie auf den bayerischen Plätzen in diesen Tagen.
({13})
Diese Bundesregierung ist in diesen Tagen fünf Jahre
im Amt. Verunsicherung ist ihr Markenzeichen. Sie sind
damals Ihr Amt angetreten unter dem Motto, Sie wollten
nicht alles anders, aber vieles besser machen. Das erlaubt doch nun die Frage: Was ist in diesen fünf Jahren
geschehen? Das Wachstum ist von über 2 Prozent in die
Stagnation abgerutscht. Wir haben die rote Laterne in
Europa. Sie können noch so viel reden: Es gibt Länder in
Europa, die stehen einfach besser da - Spanien, Großbritannen.
({14})
Ich sage es noch einmal: Es liegt eben nicht an der deutschen Einheit; denn aus der deutschen Einheit heraus
könnte, wie in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, größeres Wachstum kommen, wenn man es richtig
machte. Sie verantworten heute in Deutschland eine
Neuverschuldung von 87 Milliarden Euro.
({15})
- Sie müssen sich wenigstens mit den Fakten auseinander setzen. - Als Sie die Regierung übernommen haben,
betrug das Defizit 2,2 Prozent und die Schulden der öffentlichen Haushalte waren halb so hoch wie heute.
Am Ende dieses Jahres werden sich die Schulden verdoppelt haben und wird das Defizit mehr als 4 Prozent
betragen. Das ist die Wahrheit nach fünf Jahren RotGrün, meine Damen und Herren.
({16})
Sie verantworten darüber hinaus die höchsten Krankenkassenbeiträge. Wir zahlen in diesem Jahr 18,8 Milliarden Euro aus dem Aufkommen der Ökosteuer als
Zuschuss in die Rentenversicherung. Trotzdem sind die
Beiträge nahe 20 Prozent und Frau Schmidt hat noch
nicht einmal gesagt, wie es im nächsten Jahr weitergehen soll. Das ist die Wahrheit, Herr Bundeskanzler. Und
trotz demographisch bedingter Entlastung auf dem Arbeitsmarkt - das macht Jahr für Jahr mindestens
200 000 Menschen aus - liegt die Zahl der Arbeitslosen
in diesem Jahr um 300 000 über der des Jahres 1998.
Das ist die Bilanz von fünf Jahren Rot-Grün.
Meine Damen und Herren, Ihre Bilanz kann man auch
so zusammenfassen:
({17})
„Es gibt keine Volkswirtschaft, die so viel Geld im
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit einsetzt wie wir, und
keine ist so erfolglos wie wir.“ Gesagt hat das nicht etwa
einer von uns, sondern gesagt hat es der Bundeswirtschaftsminister am „Tag der offenen Tür“ der Bundesregierung. Tage der offenen Tür scheinen zu offenen Einsichten zu führen. Wo der Mann Recht hat, hat er Recht.
Es ist ernüchternd nach fünf Jahren Rot-Grün.
({18})
Sie wollten zwar nicht alles anders, aber vieles besser
machen. Das Ergebnis ist jedoch: Besser geworden ist so
gut wie nichts, dafür aber vieles komplizierter, unberechenbarer. Oder um es mit den Worten der SPD-Oberbürgermeisterin von Halle, Ingrid Häußler, zu sagen:
„Alles ist besser als das, was die Bundesregierung vorschlägt.“ Das ist eine klare Aussage einer Kommunalpolitikerin.
({19})
Herr Bundeskanzler, es hätte ja heute gar nicht so
kommen müssen, denn am 14. März - ob uns als Opposition das nun gepasst hat oder nicht - haben Sie einen
Anlauf genommen und hatten alle Trümpfe in der Hand.
Sie hatten die Möglichkeit - und vielleicht wollten Sie
es sogar -, Ihre Politik um 180 Grad in die richtige Richtung zu drehen. Da fielen auch die richtigen Worte: Es
war die Rede vom Kündigungsschutz, ich habe etwas
von Privatisierung des Krankengeldes gehört, es fiel der
Begriff „betriebliche Bündnisse für Arbeit“.
({20})
Wir waren nicht geschockt, aber doch neugierig.
({21})
Herr Bundeskanzler, von all dem, was Sie damals gesagt
haben, ist nicht viel übrig geblieben. Ich glaube, irgendetwas läuft schief. Die Diskussionslage im Lande
scheine nicht so zu sein, erklären Sie immer wieder nach
einem Blick auf Ihre Umfragewerte. Ihr Problem ist Folgendes: Sie haben in Ihrer Politik kein Ziel und keine
Grundausrichtung.
({22})
Sie haben kein Konzept und keine Linie.
({23})
Hierzu sagt einer aus Ihren Reihen, nämlich Ihr Generalsekretär, in einem zugegebenermaßen etwas verschachtelten Satz: „Ich will nicht die Theorie entwickeln,“ so
Olaf Scholz, „dass alles, was wir schon einmal gesagt
haben, zueinander passt.“
({24})
Der Mann hat es auf den Punkt gebracht. Genau das ist
Ihr Problem: Die Dinge passen nicht zueinander, die
Leute verstehen Sie nicht, Sie sagen heute etwas anderes
als gestern und morgen wieder anderes. Deshalb kommen Sie nicht „aus dem Knick“, wie man so schön sagt.
({25})
Der Bundeshaushalt, über den wir heute hier sprechen,
({26})
ist - das ist bedauerlich - das klassische Beispiel dafür:
Die Grundannahme des Etatentwurfs, nämlich die
Wachstumsprognose, ist überholt. Das ist bereits gestern gesagt worden. Frau Scheel hat versucht, sich da
wieder herauszureden, aber es wird Ihnen nicht entgangen sein, Herr Bundeskanzler, dass sie ihre grundsätzliche Aussage nicht widerrufen hat; sie hat gestern lediglich nicht mehr davon gesprochen. Die Grundannahme
ist überholt und deshalb brauchen wir uns mit diesem
Haushalt nicht weiter aufzuhalten.
({27})
Aber ich gehe gerne auf etwas ein, worüber Sie hier
ausführlich gesprochen haben, nämlich die Frage: Ist es
richtig, angesichts der kleinen konjunkturellen Impulse,
die es weltweit vielleicht gibt, die Steuerreform vorzuziehen? Herr Bundeskanzler, ich erinnere Sie: Am
14. März, als Sie die Neuausrichtung Ihrer Politik eingeläutet haben, haben Sie uns vehement gewarnt, angesichts der noch fehlenden Strukturreformen - die bis
heute noch nicht wirksam sind - für ein Vorziehen der
Steuerreform zu werben. Dann haben Sie sich anscheinend anders entschieden. Aber, Herr Bundeskanzler,
wenn wir damals Ihrer Argumentation, das Vorziehen
der Steuerreform dürfe nicht fast ausschließlich durch
Neuverschuldung finanziert werden, zugestimmt haben,
so dürfen Sie es uns jetzt nicht übel nehmen, dass wir bei
dieser Auffassung bleiben und sagen: Sie haben bis jetzt
nichts Anständiges auf den Tisch gelegt. Das ist für uns
kein Finanzierungskonzept. Sie müssen schon etwas
Besseres vorlegen.
({28})
Ich habe heute mit großen Ohren zugehört, weil ich
dachte, zwischen den ganzen salbungsvollen Worten stecke vielleicht noch etwas Neues. Aber es ist nichts
Neues gekommen. Es gibt nach wie vor kein Finanzierungskonzept und deshalb müssen Sie weiter daran arbeiten, Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihr Ziel für vernünftig halten. Wann immer Sie ein Konzept vorlegen,
sind wir bereit, uns das anzuschauen.
({29})
Aber eines wird nicht gehen: Wir werden nicht im
Anschluss an eine Idee, die nicht die unsrige war,
({30})
Ihre Arbeit machen. Das ist so, als wenn Sie sich hinstellen und sagen - ich habe das schon öfter festgestellt -:
Wir brauchen Kirschkuchen, kennen Sie ein Backrezept
dafür? - Wenn Sie Kirschkuchen brauchen, backen Sie
ihn sich selbst! Wir essen dann gerne mit, Herr Bundeskanzler.
({31})
Sie haben die Verantwortung in diesem Haus.
({32})
Aber Spaß beiseite, denn die Lage in Deutschland ist
wirklich mehr als ernst. Natürlich sind Einschnitte und
Kürzungen notwendig. Dadurch, dass wir mit Ihnen gemeinsam den Weg der Gesundheitsreform gegangen
sind, haben wir einen wichtigen Beitrag geleistet und gezeigt, dass wir uns nicht vor unangenehmen Entscheidungen drücken. Wenn Sie das anzweifeln, sprechen Sie
die Unwahrheit.
Die Gespräche haben wir wie Sie. Die Frage vieler
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist: Müsst ihr uns
das jetzt zumuten? Ist es richtig, dass ihr beim Kündigungsschutz etwas macht? Wir haben betrieblich schon
so viel miteinander vereinbart. - Natürlich müssen wir
diese Fragen genauso beantworten wie Sie. Aber Ihr
Problem ist, dass Sie eine Kürzungsagenda abarbeiten,
ohne das Ziel der Veranstaltung jemals deutlich nach
draußen getragen zu haben. Ihr Problem ist außerdem:
Geld - das beweisen Sie mit diesem Haushalt - kann
man sich pumpen. Vertrauen der Menschen in die Richtung, die Sie einschlagen, kann man sich nicht pumpen.
Das ist das, womit Sie sich auseinander zu setzen haben.
({33})
Gewisse Fragen muss man eben beantworten. Eine
Frage - Sie haben sie zumindest ansatzweise gestellt lautet: Womit will Deutschland sein Geld verdienen?
({34})
Klar, das Wachstumsklima ist weltweit im Augenblick
nicht besonders gut. Aber wir in diesem Hause müssen
doch miteinander darüber sprechen: Machen wir das
aus Deutschland, was in diesem Land steckt? Ist das,
was wir könnten, auch wirklich Gegenstand Ihrer Politik?
In diesem Zusammenhang müssen wir uns - da sind
Sie überhaupt nicht konkret geworden - doch einmal mit
der Frage auseinander setzen: Ist es in einer Situation, in
der die Kaufkraft eines Landes sinkt und die Binnennachfrage gering ist, eigentlich richtig, dass 1,3 Milliarden Euro zur Unterstützung der Windkraft ausgegeben werden, was die Verbraucher tragen müssen? Ist das
richtig?
({35})
Ich sage hier ausdrücklich: Ich bin für die Förderung
der Windenergie. Aber dort, wo kein Wind weht, in den
Tälern dieses Landes,
({36})
da müssen Sie nicht noch einen Windmast aufstellen und
den produzierten Strom mit 9 Cent pro Kilowattstunde
fördern. Es muss schon überlegt sein, ob wir da das Geld
hineinstecken.
Wir müssen uns auch die Frage stellen, was denn eigentlich beim Herrn Bundesverkehrsminister los ist.
Mindestens 400 Millionen Euro sind dort - ich sage es
etwas lax - in den letzten Monaten versäckelt worden,
weil dieser Mann die Warnungen der Europäischen
Union nicht ernst genommen hat. Das sind Gelder des
Steuerzahlers, die wir weiß Gott für etwas anderes hätten
gebrauchen können.
({37})
Herr Bundeskanzler, tun Sie wirklich alles, was Sie
können, um das Gerede über die pharmazeutische
Industrie - ständig spricht man von „Pharmalobby“ -,
eine Branche, die immerhin viele Arbeitsplätze in unserem Lande sichert und die ausgebaut werden müsste, in
Ihren Reihen einmal zu unterbinden? Haben Sie eigentlich schon alles getan, um in Europa auf den Tisch zu
hauen und zu sagen: Die Änderung der ChemikalienRichtlinie, die jetzt geplant ist, gehört weg! - Glauben
Sie allen Ernstes, Sie könnten Ihr Lissabon-Ziel, wonach Europa der dynamischste Kontinent der Welt werden soll, mit einem Tausende von Seiten starken Monster von Vorschriften für die chemische Industrie
Europas erreichen? Ich sage Nein. Das ist völlig offensichtlich.
({38})
Glauben Sie eigentlich, angesichts der weltweiten
Entwicklung war es richtig, der grünen Gentechnologie
in Deutschland einen langen Stillstand verordnet zu
haben? Glauben Sie nicht, dass dadurch zahlreiche zukunftsorientierte Arbeitsplätze verloren gehen?
({39})
Ich sehe Sie schon irgendwann in der Opposition hier
stehen und sagen: Schade, dass wir daran nicht gedacht
haben.
Als Herr Fischer - er ist leider schon gegangen - ({40})
- Gut, da kann ich ihn ja noch besser ansprechen. - Über
wie viele Jahre haben Sie es verhindert - es waren sieben! -, bis die gentechnische Produktion von Insulin bei
Hoechst in Gang gekommen ist? Sie waren stolz darauf.
({41})
- Ja, irgendwann haben Sie es genehmigt, weil Sie gar
nicht mehr daran vorbeikamen. Deutschland ist unendlich viel Zeit verloren gegangen. Das ist die Wahrheit.
Das wird bei der grünen Gentechnologie wieder so passieren.
({42})
Herr Bundeskanzler, glauben Sie wirklich, dass es das
wichtigste Ziel Ihrer Bildungsministerin sein muss, im
Hochschulrahmengesetz das Verbot von Studiengebühren zu verankern? Finden Sie nicht, es wäre prima, wenn
man den Langzeitstudenten in Deutschland ein bisschen
Beine machen würde - und Baden-Württemberg sähe
sich nicht vor dem Bundesverfassungsgericht entsprechenden Klagen ausgesetzt -, indem ihnen Gebühren
drohen, wenn sie mehr als 13 Semester studieren? Das
wäre doch einmal ein Weg.
({43})
Schlicht und ergreifend: Natürlich sind die Zeiten
schwierig. Aber es gibt serienweise Beispiele, die zeigen, dass Sie sich genau mit dem beschäftigen, was uns
nicht voranbringt, und dass Sie das schleifen lassen, was
uns voranbringt. Das beklagen wir. Für die Menschen in
diesem Lande fordern wir eine andere Politik ein.
({44})
Wir müssen uns nicht nur fragen, womit Deutschland
sein Geld verdient, sondern auch, wie die Strukturen in
Deutschland sein müssen, damit die notwendigen Änderungen funktionieren. Es ist klar, dass wir ein Aufbrechen des alten Denkens brauchen. Ich persönlich halte
das Drohen mit einer Ausbildungsabgabe für das Allerletzte, das in Deutschland Lehrstellen schaffen kann.
({45})
Ich halte es für einen kapitalen Fehler, dass Sie sich in
dem Jahr, als Sie wussten, wie schwer es wird, genügend
Lehrstellen zu schaffen, ausgerechnet das Handwerk
vorgenommen und ihm so richtig eines vor den Kopf gegeben haben, damit die Linken bei Ihnen einen Grund
zum Feiern haben.
({46})
Frau Göring-Eckardt, Ihr Beispiel geht doch nach hinten los: Die Tatsache, dass Herr Walz auch ohne Herrn
Clements neue Handwerksordnung Meister ist und ein
Geschäft hat, zeigt doch, dass das Vernünftige heute
schon möglich ist. Es bedarf also nicht Ihres radikalen
Schnittes, um in Deutschland das Handwerk nach oben
zu bringen.
({47})
Ich bin mir im Gegensatz zu Ihnen absolut sicher:
Wenn Sie mit uns gemeinsam das Vermögensteuergesetz
- es ist ohnehin nur noch ein Torso - abschaffen würden,
dann würde dies eine unglaublich belebende Auswirkung auf sehr viele Betriebe haben;
({48})
denn sie wüssten dann, dass es mit diesem Spuk in
Deutschland endlich vorbei ist. Das ist die Wahrheit.
({49})
In der heutigen Zeit, in der viele Unternehmen nicht
Gewinne, sondern Verluste machen, ist die immer wiederkehrende Androhung der Mindestbesteuerung für
alle genau das falsche Signal, um in Deutschland die
Konjunktur wieder in Gang zu setzen. Unsere Alternative ist, die Mindestbesteuerung nicht einzuführen.
({50})
Nach dem 14. März haben wir eine groteske Situation
erleben müssen, die von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern glücklicherweise auch so empfunden
wurde, nämlich den Streik in den neuen Bundesländern
um die 35-Stunden-Woche, der die IG Metall in eine
tiefe Krise geführt hat.
({51})
- Herr Stiegler, das hat Herr Schröder zwar nicht angezettelt. Ein klares Wort von ihm gegen diesen Schwachsinn hat aber gefehlt. Das müssen Sie zugeben.
({52})
Ich bin mir ganz sicher, dass Herr Schröder den Streik
als schwachsinnig empfunden hat. Aber er hat es erstaunlicherweise nicht ausgesprochen.
Man kann aus dieser Angelegenheit zwei Lehren ziehen. Die erste Lehre ist, dass die Gewerkschaften allein
nicht vernünftig genug sind, als dass man den Betrieben
vor Ort die Möglichkeit betrieblicher Bündnisse für
Arbeit nicht gesetzlich eröffnen müsste.
({53})
Aus dieser Schlussfolgerung ergibt sich unser Vorschlag,
der Ihnen Paragraph für Paragraph auf dem Tisch liegt:
Änderung des Tarifvertragsgesetzes, Änderung des Betriebverfassungsgesetzes samt einer sinnvollen Veränderung des Kündigungsschutzes. Was Herr Clement in Bezug auf den Kündigungsschutz vorlegt, spottet jeder
Beschreibung. Dennoch gibt es darüber Diskussionen
bei Ihnen. Ein komplettes Arbeitsmarktreformgesetz,
das wir beraten können, liegt Ihnen vor. Wir bauen darauf, dass Sie konstruktiv darauf eingehen.
Die zweite Lehre, die wir aus diesem Streik ziehen
müssen, ist, dass wir mit den Tarifvertragsparteien auch
über das, was jenseits gesetzlicher Regelungen in
Deutschland notwendig ist, sprechen müssen. Wir können doch nicht unsere Augen vor der Tatsache verschließen, dass 51 Prozent der Lohnzusatzkosten in Deutschland nicht auf uns, den Gesetzgeber, zurückgehen,
sondern durch Tarifverträge vereinbart sind.
({54})
- Richtig, das ist Tarifautonomie. Aber die Tarifautonomie ist deshalb genauso wie die Parteien und anderes
grundgesetzlich geschützt, weil die Tarifautonomie dem
Gemeinwohl verpflichtet ist. Sie kann nicht in Besitzstandsdenken umdefiniert werden. Das ist die Wahrheit.
({55})
Es kann nicht sein - das sage ich ausdrücklich in
Richtung der Gewerkschaften und der Wirtschaft -, dass
uns die Wirtschaft sagt, was wir in diesem Hause zu tun
haben,
({56})
wir aber den Mund halten müssen, wenn wir der Meinung sind, auch einmal sagen zu müssen, was man an
anderer Stelle tun könnte.
({57})
Genau aus diesem Grund habe ich gesagt, dass es
nicht um die Frage geht, ob in den westlichen Bundesländern mehr oder weniger gearbeitet wird und ob der
Osten so werden muss wie der Westen. Es geht vielmehr
darum, dass wir insgesamt in Deutschland länger arbeiten müssen. Daran führt kein Weg vorbei.
({58})
Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle brauchen wir
glücklicherweise nicht das Prinzip „Hire and fire“ bzw.
Amerika als Abschreckung zu instrumentalisieren. Wir
müssen nur in die Schweiz gehen, die noch nicht wegen
Asozialität und Unsozialität weltweit bekannt geworden
ist. Dort arbeitet man mehr als 220 Tage pro Jahr; wir
arbeiten 175 Tage pro Jahr. Dort arbeitet man pro Woche
im Durchschnitt 40,5 Stunden und bei uns 37,5 Stunden.
Glauben Sie, alle deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien so viel schneller und unsere Maschinen
so viel besser, dass wir dies aufholen könnten? Es ist
sinnvoll und notwendig, dass wir auch bei uns ohne
Schaum vor dem Mund über einen solchen Prozess diskutieren und dies ansprechen. Das ist - jedenfalls nach
meinem Verständnis - die Pflicht der Politik.
({59})
Dann geht es darum - zumindest im Ziel stimmen wir
überein -, dass wir die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammenlegen müssen, um in Deutschland wieder bessere Leistungsanreize zu schaffen. Ich weiß wie
Sie, dass es gerade in neuen Bundesländern eine verdammt schwierige Sache ist, wenn Menschen in einer
Region, in der auf einen freien Arbeitsplatz 25 oder
30 Bewerbungen kommen, gesagt werden muss: Passt
auf, ihr bekommt jetzt Sozialhilfe.
Wir müssen auf jeden Fall dafür Sorge tragen, dass
bei Menschen, bei denen dies der Fall ist, insbesondere
bei Menschen mit Familien, bei Alleinerziehenden und
Müttern, die Bedürftigkeitsprüfung nicht die eigene Alterssicherung einschließt. Es wäre nämlich wirklich fatal, wenn jemand, der für das Alter vorgesorgt hat, deswegen, weil er Sozialhilfe bekommt, diese Vorsorge mit
angerechnet bekommt. Das muss beachtet werden.
({60})
Wir sind uns im Ziel einig. Trotzdem haben wir einen
anderen Gesetzentwurf eingebracht als Sie. Denn wir
glauben, dass dieser Prozess so weit wie möglich von
unten nach oben organisiert werden sollte. Die Kommunen sollten also so weit wie möglich die subsidiäre Verantwortung übernehmen. Denn diese kennen die Menschen und ein solcher Prozess muss nahe am Menschen
stattfinden.
({61})
Es ist leider wahr: Die Kommunen, durchaus auch
von uns während unserer Regierungszeit enttäuscht, nun
aber durch das, was sie im Zusammenhang mit der Körperschaftsteuerreform unter Herrn Eichel erlebt haben,
völlig vor den Kopf gestoßen, sagen: Wir wollen bestimmte Aufgaben nicht mehr übernehmen; wir trauen
euch nämlich nicht zu, dass ihr uns die dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellt.
Deshalb schlagen wir vor, eine Grundgesetzänderung vorzunehmen, in der die finanzielle Ausstattung
der Kommunen klar geregelt wird.
({62})
Dazu legen wir Ihnen den Gesetzentwurf des Landes
Hessen vor; Weiteres werden wir beraten müssen. Das
ist eine ganz andere Grundlage als das, was Sie vorsehen. Sie wollen die Bundesanstalt für Arbeit um 12 000
Leute aufstocken. Diese wurde schon bisher ihren Aufgaben nicht gerecht. Wir haben erhebliche Zweifel, dass
sie ihre Arbeit mit 12 000 bzw. 16 000 Leuten mehr besser bewältigen kann. Das ist der Unterschied.
({63})
Frau Göring-Eckardt, bitte erzählen Sie nicht, wir hätten keine Alternative. Unsere Alternative steht samt dem
Arbeitsmarktreformgesetz und dem Soforthilfeprogramm
für die Kommunen in einem großen Konvolut, das
300 Seiten dick ist. Insbesondere in einem Punkt sind
wir unterschiedlicher Meinung im Vergleich zu Ihnen:
Wir halten es für einen ziemlichen Schwachsinn, jetzt
auch noch alle Freiberufler zu besteuern. Dies ist im
Übrigen nicht finanzwirksam für die Kommunen. Deshalb hören wir mit Freude, dass Sie als Fraktion - Herr
Müntefering, alle Achtung, wir haben es vier Mal eingebracht - die Gewerbesteuerumlage jetzt wieder auf den
alten Stand bringen wollen. Das wäre nämlich für die
Kommunen eine verlässliche Einkommensquelle.
({64})
Herr Eichel, es war einer Ihrer großen Finanzierungstricks: Sie haben den Kommunen den Anteil an der
Gewerbesteuer weggenommen und eine Ihrer beliebten
Luftbuchungen, nämlich irgendetwas mit AfA, gemacht
und dabei nicht bedacht, dass wir dem nicht zustimmen
werden, weil es mittelstandsfeindlich ist. Dadurch haben
Sie die Kommunen auf dem Trocknen sitzen lassen. Das
ist die Genesis der finanziellen Entmachtung der Kommunen durch diese Bundesregierung.
({65})
Im Zusammenhang mit den Fragen danach, wer für
was verantwortlich ist und wie wir die Bundesrepublik
unter den neuen Bedingungen organisieren, möchte ich
eine Mahnung an den Bundeswirtschaftsminister aussprechen.
({66})
Herr Wirtschaftsminister, Sie haben im Augenblick einen Fall auf dem Tisch liegen, der sich mit dem befasst,
was man Pressefreiheit und Wettbewerb im Pressebereich nennt. Ich rate Ihnen dringend, sich an dieser Stelle
nicht über das Votum des Kartellamtes und der Monopolkommission hinwegzusetzen; denn wenn in der deutschen Hauptstadt die Presselandschaft durch Eingriff des
Bundeswirtschaftsministers so geordnet wird, wie es die
Bundesregierung gerne hätte, wäre es das schlechtestmögliche Signal für Deutschland. Das können wir im
Moment wirklich nicht gebrauchen.
({67})
Wenn wir die Fragen „Womit wollen wir unser Geld
verdienen?“
({68})
und „Wie müssen wir das Land organisieren?“ beantwortet haben, dann müssen wir uns die Frage stellen:
Wie ist unser Verständnis von unserem Land und von
Europa?
({69})
Der Bundesaußenminister hat neulich gesagt, dass wir
unsere Interessen europäisch definieren müssen. Ich
stimme ihm teilweise zu. Wir müssen sie zunehmend
europäisch, aber in vielen Fragen auch deutsch definieren - welches sind die deutschen Interessen? -, damit
wir unseren Anteil in Europa bekommen. Das ist überhaupt keine Frage.
({70})
Ich komme jetzt auf einen Punkt zu sprechen, der viel
mit unserem Selbstverständnis zu tun hat.
({71})
Dieses Selbstverständnis hat für mich mit unserer Geschichte und unserem Umgang mit ihr zu tun.
({72})
Es gibt eine Initiative zum Zentrum gegen Vertreibung. Diese Initiative ist wirklich nicht parteilich organisiert, sondern vertritt ganz unterschiedliche Richtungen. Diese Initiative hat gesagt: 12,5 Millionen
Menschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben. Die Gründung eines solchen Zentrums ändert überhaupt nichts an der Auseinandersetzung mit dem Unrecht, das Deutschland über die Welt gebracht hat. Aber
auch Deutschen ist Unrecht passiert.
Die Frage, ob wir in Deutschland und in Berlin die
Kraft haben, uns in einem solchen Zentrum mit diesem
Teil unserer Geschichte auseinander zu setzen
({73})
oder ob wir einen Bundeskanzler haben, der als Erstes
mit subtilen Unterstellungen erklärt, dies würde nur aus
rückwärts gewandter Geschichtsklitterung stattfinden,
ist eine entscheidende Frage bis ins nächste Jahrhundert
hinein.
({74})
Deshalb - das sage ich ganz ruhig - habe ich es für
verantwortungslos gehalten, dass Sie die Besorgnisse,
die es in Polen und Tschechien gab, genutzt haben, um
einseitig Stellung zu beziehen und keinen Beitrag - jetzt
versucht es der Innenminister - zur Versöhnung in dieser
Frage zu leisten.
({75})
Nichts, aber auch gar nichts spricht gegen ein europäisches Netz solcher Gedenkstätten. Aber auch in
Deutschland - mit 12,5 Millionen Betroffenen - müssen
wir doch die Kraft haben, damit verantwortungsvoll umzugehen. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich mit unserer Fraktion die Initiative des Bundes der Vertriebenen.
({76})
Herr Bundeskanzler, es war immer die Politik von
Union und SPD, dass man den Kampf gegen Terror nicht
alleine militärisch führt. Das möchte ich hier noch einmal sagen, obwohl ich glaube, dass Sie es wissen. Es
war immer unsere Politik, dass wir Entwicklungshilfe,
Aufbauhilfe und Wirtschaftshilfe brauchen. Aber wir
brauchen auch militärische Komponenten. Deshalb werDr. Angela Merkel
den wir uns in allen anstehenden Fragen verantwortungsvoll entscheiden. Wolfgang Schäuble wird dazu
heute sicherlich noch Stellung nehmen.
Herr Bundeskanzler, wo wir beim Thema Verantwortung sind: Ich fand, Ihr Auftritt mit dem türkischen
Ministerpräsidenten bei dessen Staatsbesuch in einer gemeinsamen Pressekonferenz und die Beschimpfungen
von CDU und CSU waren einmalig und wieder einmal
verantwortungslos.
({77})
Sie tun so, als seien die Kopenhagener Kriterien, die in
Europa für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten gelten,
von der Türkei einfach so zu erfüllen. Ich denke dabei
nicht an die Anstrengungen, die die Türkei macht; das
habe ich Herrn Erdogan gesagt. Es gibt unter den Kopenhagener Kriterien vielmehr ein Kriterium, das mit
der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union, so wie
sie heute besteht, zu tun hat. Wollen Sie bestreiten, dass
zu einem Zeitpunkt, zu dem wir gerade einmal 25 Mitgliedstaaten geworden sind, keine Probleme bestehen?
Ich muss Ihnen sagen, dass wir diesen Kurs gegenüber
der Türkei nicht mitmachen werden. Ich möchte, dass
wir redlich miteinander umgehen, gerade weil es
Freunde sind.
({78})
Die Mitglieder der Bundesregierung und Sie selbst,
Herr Bundeskanzler, sprechen davon, Deutschland
müsse sich bewegen. Diese Aussage ist nicht falsch, ist
aber, wie man in der Mathematik sagen würde, nicht hinreichend. Zickzackbewegungen helfen uns nicht, Bewegungen nach unten auch nicht. Deutschland muss sich
nach oben bewegen. Das muss die Richtung sein.
({79})
Dazu müssen wir Deutschland verändern; das ist richtig. Aber wir müssen Deutschland - das geht darüber
hinaus - fair ändern. Die Menschen erwarten Fairness
bei dem, was ansteht.
({80})
Damit es hier zu Innovationen kommt und das Ganze
die richtige Richtung bekommt, habe ich Ihnen am
14. März dieses Jahres ein Angebot gemacht, auf das
Sie leider nicht eingegangen sind. Ich habe gesagt, das
werde ein Prozess, der nicht ein halbes Jahr oder ein
Jahr dauert, sondern zehn oder zwölf Jahre. Lassen Sie
uns Größen für Investitionskraft, Beschäftigung, Bildung und Forschung finden, anhand derer wir mit den
Menschen Jahr für Jahr überprüfen können, ob wir auf
dem richtigen Weg sind. Das würde Verlässlichkeit in
die Sache bringen. Auf die Frage, die die Menschen
stellen, wozu und warum das Ganze gemacht wird,
müssen wir eine Antwort haben. Diese Antwort muss
glaubhaft sein. Dazu brauchen wir eine Gerechtigkeit,
die im Gegensatz zu dem, was Sie im Moment machen
- Sie sprechen nur über Chancengerechtigkeit, was wir
dagegen schon viele Jahre verfolgt haben -, leistungsgerecht ist. Der Bürger, der unten an der Basis etwas
leistet, muss wissen, dass seine Leistung von denjenigen über ihm auch anerkannt wird. Daran fehlt es in
Deutschland bis heute.
({81})
Genau das verstehe ich unter fair ändern. Wenn Sie das
beherzigen würden - Sie tun das nicht oder können es
nicht, warum weiß ich nicht -, dann brauchten Sie auch
keine Phantomdebatten zu führen.
({82})
In einer dieser Phantomdebatten geht es um den
demokratischen Sozialismus. Der SPD-Generalsekretär hat in der „FAZ“ vom 21. August 2003 gesagt,
der demokratische Sozialismus sei „eher so’n Sprechunfall“.
({83})
Mir ist der Atem gestockt, und zwar aus zwei Gründen:
Zum einen scheint der demokratische Sozialismus für
manche von Ihnen das Erbstück sozialdemokratischer
Identität zu sein.
({84})
Zum anderen kann ich nur sagen, dass ich Sozialismus
aus persönlicher Erfahrung heraus wirklich nicht als
Sprechunfall bezeichnen kann. Das war ein Realunfall
mit grausamen Auswirkungen für Millionen von Menschen, die ich persönlich nicht zu vergessen beabsichtige.
({85})
Im Übrigen füge ich hinzu: Die Leute haben die
Schnauze voll von Sprechunfällen Ihrer Regierung.
({86})
Die Leute wollen sehen, dass endlich etwas passiert.
Deshalb lautet unser Motto „Deutschland fair ändern“.
Das wird auch die Grundlage unserer Oppositionspolitik
und unserer Mitarbeit im Bundesrat sein.
Ich sage Ihnen ganz klar: Blockieren, wie Sie es zu
Lafontaines Zeiten gemacht haben, passt nicht zur
Union.
({87})
Das geht gar nicht zusammen, das passt nicht, das ist
völlig unmöglich. Das geht weder mit unseren Wählern,
noch mit unseren Mitgliedern und schon gar nicht mit
der Bundestagsfraktion von CDU/CSU.
({88})
Wenn wir zustimmen, dann stimmen wir begründet
zu. Das haben wir bei vielen außenpolitischen Gemeinsamkeiten schon getan. Was wir verbessern können
- Beispiel Gesundheitsreform -, das werden wir verbessern. Was wir ablehnen, das lehnen wir begründet ab.
Deshalb können Sie sich einer Sache sicher sein: Diesen
Haushalt und wahrscheinlich noch so manches mehr
lehnen wir ab, weil es Begründungen für genau die Ablehnung gibt.
Herzlichen Dank.
({89})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Franz
Müntefering, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die am Mittwoch einer Haushaltswoche stattfindende Debatte ist üblicherweise das, was man die Stunde
der Opposition nennt.
({0})
Deshalb waren wir heute Morgen um 9 Uhr alle gespannt auf die Rede von Frau Merkel. Sie hat es aber
vorgezogen, Herrn Glos vorzuschicken und sich in die
relative Ruhe der zweiten Runde zurückzuziehen.
({1})
Trotzdem haben wir gehofft, es könnte etwas kommen.
Frau Merkel, wenn die Probleme des Landes so groß
sind, wie Sie sie beschrieben haben, dann war die
Münze, mit der Sie hier gezahlt haben, viel zu klein. Das
war nicht die Lösung der Probleme, die vor uns liegen.
({2})
Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie auf den
Vorschlag des Bundeskanzlers eingegangen sind, mitzustimmen, wenn es in diesem Herbst darum geht, den
Nachhaltigkeitsfaktor - Sie sprechen vom Generationenfaktor - in der Rente zu beschließen. Ich kann das
nur so verstehen: Sie haben gesagt, das wäre schon vor
vier oder fünf Jahren richtig gewesen. Herr Westerwelle
und Sie haben das jetzt noch einmal unterstützt. Wir
werden in wenigen Wochen hier über diesen Gesamtkomplex zu sprechen haben. Ich gehe davon aus, dass
der Deutsche Bundestag eine Rentenlösung finden kann,
die auch die Generationengerechtigkeit bzw. den Nachhaltigkeitsfaktor beinhaltet. Ich freue mich und bedanke
mich bei Frau Merkel, dass sie das in diesem Sinne aufgenommen hat.
({3})
Frau Merkel, ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit.
Sie sind noch einmal auf den demokratischen Sozialismus eingegangen. Dazu möchte ich einige Sätze sagen.
Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass Sie in dem
zweiten Teil Ihrer Ausführungen etwas gesagt haben,
das wir uns untereinander nicht zumuten sollten. Sie haben nämlich einen Trick angewendet und den Kommunismus, die Diktatur der DDR, der SED, mit der Tradition der deutschen Sozialdemokratie verglichen.
({4})
Ich sage Ihnen: Hier sollten wir unsere Empfindlichkeiten offen aussprechen. Sie sagen, Sie hätten den demokratischen Sozialismus als eine reale kommunistische
Diktatur erlebt. Das wissen wir und das beurteilen wir so
wie Sie. Die Geschichte dieser deutschen Sozialdemokratie hat es aber nicht nötig, sich von Ihnen mit den
Kommunisten, die in dem Lande geherrscht haben, vergleichen zu lassen.
({5})
Wir stehen vor spannenden Monaten. Solange ich zurückdenken kann, hat es das noch nie gegeben, dass so
viele wichtige Dinge in so kurzer Zeit im Deutschen
Bundestag vorgetragen, diskutiert und zur Entscheidung
gebracht werden mussten. Dieser Herausforderung haben wir uns alle zu stellen. Die Monate bis Weihnachten
werden außerordentlich spannend sein. Es wird um drei
große Komplexe gehen, die Hans Eichel gestern hier erläutert hat.
Erstens geht es um den Haushalt 2004 und dessen Solidität sowie um unser Bemühen, ihn so knapp wie nur
möglich zu schneidern.
Zweitens geht es darum, große Strukturreformen,
die die Voraussetzung dafür sind, dass die Realisierung
dieses Haushaltes im nächsten Jahr und in den dann
kommenden Jahren auch gelingen kann, voranzutreiben
und zu beschließen.
Drittens geht es darum, dass Wachstumsimpulse gegeben werden, damit mehr Geld in die öffentlichen Kassen fließen kann.
An der Verwirklichung dieses Dreiklangs arbeiten
wir. Das läuft in diesen Wochen zeitgleich. Es ist richtig:
Nicht alles, was für den Haushalt wichtig ist, wurde auch
schon beschlossen. Es wurde aber alles auf den Weg gebracht. Wir haben uns viel vorgenommen; das wissen
wir. Wir sind uns aber sicher, dass der Weg, den wir gehen, richtig ist und dass wir es in diesem Jahr gemeinsam schaffen, dieses Land weiter in die richtige Richtung zu bringen und dafür zu sorgen, dass Deutschland
in eine gute Zukunft gehen kann. Wir sind fest entschlossen, das zu tun.
Wir wissen, dass es auf dieser Strecke in den nächsten
Wochen und Monaten noch viele Unebenheiten gibt. Wir
werden in der politischen Diskussion an manchen Stellen untereinander und mit Ihnen zu streiten haben. Es ist
für dieses Land gar nicht schlecht, wenn es begreift, dass
wir in einer Auseinandersetzung von außerordentlicher
Bedeutung stehen. Das ist nicht schlecht für die Demokratie. Im Jahre 2003 werden wir im Deutschen Bundestag und im Bundesrat dafür sorgen, dass Deutschland einen guten Weg in die Zukunft gehen kann. Das ist unser
Ziel; das haben wir uns vorgenommen und das schaffen
wir auch miteinander.
({6})
Die Opposition muss sich entscheiden. Frau Merkel,
ich höre von Ihnen und auch von anderen manche nachdenkliche Worte. Wir wollen sie gerne bedenken und
nicht alles beiseite schieben, was da kommt. Manches ist
aber auch Wolkenschieberei und verdeutlicht Ihren Unwillen, wirklich dazuzulernen und die Rolle der Opposition anzunehmen. Frau Merkel, Opposition ist in diesem
Jahr etwas anderes als das Synonym für „dagegen sein“.
Auch Sie werden sich entscheiden müssen. Sie werden
nicht damit durchkommen, dass Sie solche Reden halten
wie heute hier, Reden, die einzig und allein darauf ausgerichtet sind, hie und da ein bisschen zu mäkeln, zu hakeln und zu versuchen, den einen oder anderen Fehler
von uns zu beschreiben. Darum geht es überhaupt nicht.
Wir wissen, dass wir nicht vollkommen sind, dass wir
Fehler gemacht haben und dass wir wahrscheinlich auch
wieder dabei sind, den einen oder anderen zu machen.
Sie aber eben auch.
Ich warne davor, mit Hochmut an die Sache heranzugehen. Wir werden in diesem Halbjahr miteinander den
richtigen Weg in wichtigen zentralen Fragen des Landes
finden müssen. Dabei ist die Opposition gefordert. Sie
werden sich davor nicht drücken können.
({7})
Was Herr Glos heute Morgen dazu gesagt hat, war
jenseits dessen, lieber Kollege Glos, was Sie uns in diesem Deutschen Bundestag zumuten sollten.
({8})
Ich will mich damit nicht über Gebühr lange aufhalten,
weil es andere wichtige Dinge gibt. Ich will Ihnen aber
sagen: Der Hinweis darauf, dass die Bayernwahl ausgehe, wie sie Ihrer Meinung nach ausgeht,
({9})
liege an uns, ist in doppelter Weise mit einer interessanten Dialektik versehen:
Erstens. Herrn Stoiber trauen Sie diesen Sieg nicht zu.
({10})
Zweitens. Auch die Zahlen in Bayern sollte man sich
einmal ansehen. Die Menschen können sich auch über
den 21. September dieses Jahres hinaus mit diesen Zahlen beschäftigen. Die Arbeitslosigkeit stieg zwischen
August 2002 und 2003 in Deutschland um 7,4 Prozent.
Sie stieg in Bayern um 14,2 Prozent.
({11})
Bayern ist ein schönes Land und Sie haben auch viele
gute Dinge getan. Aber ich sage Ihnen: Seien Sie vorsichtig mit dem Bemühen, den Eindruck zu erwecken,
als sei in Bayern alles in Ordnung. Fahren Sie einmal
durch die bayerischen Lande. Dann sehen Sie, dass es in
keinem anderen Bundesland ein solches Gefälle zwischen den Regionen wie in Bayern gibt.
({12})
Dass in München und in Freising alles in Ordnung ist,
glaube ich. Aber wenn Sie in die Oberpfalz fahren, dann
werden Sie schon sehen, was da los und wie hoch dort
die Arbeitslosigkeit ist. Dort hat man erkannt, dass die
Staatsregierung in München nicht in der Lage ist, die
Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in Bayern zu
organisieren. Das ist das große Problem in Bayern.
({13})
Zur Opposition gehört auch die FDP. Man hat das an
der Ratlosigkeit gemerkt, Herr Westerwelle, mit der Sie
hier agiert haben.
({14})
Ich finde, Ihr Beitrag sollte dringend den Ältestenrat beschäftigen, und zwar unter der Fragestellung: Wie können Sensoren in dieses Mikrofon eingebaut werden, die
bei der Überschreitung einer bestimmten Phonstärke die
Lautstärke automatisch herunterregulieren? Ihre Lautstärke war das Interessanteste an dem, was Sie heute
Morgen vorgetragen haben.
({15})
Die FDP hat ein Problem.
({16})
- Eigentlich zwei: Sie und noch etwas.
({17})
Zu dem komme ich jetzt. Ich kenne Ihr Problem und begreife es auch. Sie sind zur Schau in die Kommission
Gesundheitsreform gegangen. Mich hat das gewundert,
weil klar war, dass dieser Auftritt mit Ihrer Ausgangslage nicht gut gehen kann. Sie sind zur Schau wieder herausgegangen. Ihr Problem: Das hat keinen interessiert
und es hat keiner gemerkt. Das ist der Zustand der FDP.
({18})
Ihr Problem ist, dass es egal ist, was Sie machen. Deshalb sind Sie hier so laut geworden. Hören Sie es noch
einmal nach. Ich glaube, wir kennen uns lange genug,
damit Sie verstehen, was ich damit meine.
({19})
- Jugendlicher Leichtsinn und Altersweisheit können
sich gut mischen, Herr Westerwelle.
({20})
Es geht um die Erneuerung unseres Landes. Dies
steht im Mittelpunkt der Debatte und dieser Haushaltswoche überhaupt. Es geht dabei nicht nur um das, was
die Politik macht, sondern auch um das, was die Gesellschaft insgesamt macht. Wir werden diesen Prozess der
Erneuerung und Veränderung Deutschlands nur dann erfolgreich führen können, wenn die Gesellschaft insgesamt begreift, dass dies nicht nur von den Bundesgesetzen abhängt, die wir machen, sondern dass viele andere
Dinge mit dazukommen müssen. Die Gesellschaft darf
nicht abwarten, was der Politik einfällt und was sie tut.
Vielmehr muss sie die Maßnahmen mittragen, die nötig
sind, damit dieses Land eine gute Zukunft hat.
Ich glaube, dass wir uns alle miteinander in den letzten zehn oder 20 Jahren in Deutschland zu sehr auf dem
ausgeruht haben, was wir erreicht und als sicher empfunden haben. Die deutsche Einheit - ein schönes Ereignis hat dazu beigetragen, dass wir die Friedensdividende,
wenn man so will, in der Annahme verteilt haben, es sei
alles in Ordnung. Nun merken wir, Sie und das ganze
Land, dass wir uns anstrengen müssen, um aus der Krise
rauszukommen. Die Chancen sind da. Deutschland ist
kein schwaches, sondern ein starkes Land. Aber Veränderungen können nicht nur durch Bundesgesetze erreicht
werden.
Ich will zwei Dinge ansprechen, die man nicht von
diesem Pult aus im Wege der Gesetzgebung lösen kann.
Es gibt bei uns in Deutschland viele Menschen, die viel
Zeit haben. Es gibt in Deutschland auch viele Menschen,
die sehr allein und einsam sind. Wenn es in dieser älter
werdenden Gesellschaft nicht gelingt, ein Bewusstsein
dafür zu schaffen, dass die Menschen füreinander da
sind und dass man sich für Menschen nicht nur auf der
Grundlage von Gesetzen, sondern auch unabhängig von
Gesetzen ehrenamtlich in der Gesellschaft engagieren
kann und dass alte Menschen nicht einsam und allein
sein müssen, dann wird es in dieser Gesellschaft keine
Lebensqualität geben. Dieses Bewusstsein zu schaffen
ist eine große und schwere Aufgabe, vor der wir stehen.
Wir müssen die Menschen ansprechen und ihnen zeigen,
dass das Lebensqualität in diesem Lande ausmacht.
({21})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Es geht um
die Kinder und wie die Kleinen zwischen uns Großen
groß werden. Vor wenigen Jahren habe ich mir eine Statistik angesehen. Damals hatten in Nordrhein-Westfalen
51 Prozent der Kinder, die in Kindergärten gingen, keine
Geschwister. In früheren Generationen hatten die Kinder
drei, vier oder fünf Geschwister. Geschwister erzogen
Geschwister. Heute werden Kinder einzeln zwischen Erwachsenen groß. Wenn man mit denen spricht, die sie
einschulen, dann weiß man, dass sich die Kinder nicht
mehr so gut ausdrücken können wie früher und nicht
mehr die Motorik haben, die die Kinder früher hatten.
Das hängt mit der Erziehung und dem Umgang mit den
Kindern zusammen.
Warum sage ich das in dieser Debatte? Die Frage der
Erziehung und die Frage, was wir mit den Kindern eigentlich machen und wie wir uns auf die Kinder einstellen, gehören zu den zentralen Fragen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
({22})
Wir müssen mehr darüber nachdenken und daran arbeiten. Die Politik selbst ist auch gefordert.
({23})
Die Globalisierung, von der manche in Deutschland
noch glauben, man könne sie ignorieren oder beiseite
schieben, ist faktisch da. Die Mobilität, die die Menschheit gewonnen hat, die Fähigkeit, Güter, Informationen
und Menschen schnell zu transportieren, hat dazu geführt, dass die Globalisierung Fakt ist. Darauf werden
wir uns einzustellen haben. Wir werden uns insbesondere dadurch einzustellen haben, dass wir Europa zu einer Wohlstands-, Wirtschafts- und Finanzregion organisieren, die aus sich selbst heraus Wohlstand garantiert.
({24})
Dazu müssen wir mit all dem, was wir in diesen Wochen
und Monaten tun, den Sinn schärfen und den Menschen
draußen unser Handeln verdeutlichen. Wir werden nicht
allein mit nationaler Gesetzgebung die Dinge in
Deutschland richten können. Den Wohlstand, den wir in
Deutschland dauerhaft sichern wollen, die soziale Gerechtigkeit und den Sozialstaat, den wir in seiner Substanz haben wollen, werden wir nur dann erhalten, wenn
wir EU-Europa zu einer großen Wohlstandsregion machen, die dauerhaft funktioniert. Das ist eine große
Chance.
({25})
Dieses Europa, das in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstanden ist, ist wahrscheinlich die
größte historische Leistung auf diesem Stern gewesen.
Wir sind uns dessen immer noch nicht ganz bewusst.
Dass wir seit 58 Jahren hier in Europa Frieden haben,
gab es noch nie oder seit Jahrhunderten nicht. Schauen
Sie in die Geschichtsbücher. Wir haben die unglaubliche
Chance, aus diesem Europa eine Wohlstands-, Friedens-,
Finanz- und eine Sozialregion zu machen, die zukunftsfähig ist und sich gegenüber anderen großen Regionen in
der Welt behauptet. Deshalb gehört das Thema Europa
ganz eng zu dem, was wir in diesem Halbjahr zu beschließen haben.
({26})
Es geht um die demographische Entwicklung. 1960
bekamen Männer in Deutschland im Durchschnitt zweieinhalb Jahre Rente. Sie bekommen heute im Durchschnitt zwischen zehn und zwölf Jahren Rente und werden im Jahr 2025, wenn das Renteneintrittsalter so
bleibt, 17 oder 18 Jahre Rente bekommen. Wir arbeiten
aber nicht mehr im Durchschnitt 50 Jahre wie 1960, sondern 39 bis 40 Jahre. Man muss keine Mathematik können, sondern nur zwei Jahre Rechnen gelernt haben, um
zu begreifen, dass das nicht mehr geht. Deshalb werden
wir in diesem Zusammenhang Entscheidungen zu treffen
und Dinge zu verändern haben.
Hinzu kommt die lang anhaltende Wachstumsdelle
in den Industrieländern,
({27})
die nicht nur uns, sondern die ganze Welt berührt. Man
weiß nicht, ob das eine Delle ist oder ob es sich um ein
lang anhaltendes niedriges Wachstum handeln wird.
Weiterhin kommen die leeren Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden hinzu, die wir leer vorgefunden haben, aber auch bisher nicht haben füllen können. Das
sind die Rahmenbedingungen, denen wir uns ausgesetzt
sehen, wenn wir jetzt handeln.
Es kommt der Vorwurf, dass wir spät dran sind. Ja,
spät ist richtig, aber nicht zu spät. Die Chance ist da. Es
kommt weiterhin der Vorwurf, wir hätten die eine oder
andere Position verändert, die wir vor einem, drei oder
fünf Jahren noch eingenommen hätten. Das stimmt. Das
ist aber keine Schande. Wenn sich Rahmenbedingungen
verändern, dann muss man daraus die Konsequenzen für
die Politik und das Instrumentarium ziehen.
({28})
Nur diejenigen, die sich nicht bewegen können und auch
nicht zu bewegen sind, haben es schon immer besser gewusst.
Ich habe bei der Rede von Herrn Merz gestern den
Eindruck gehabt, auch er habe schon immer alles gewusst, und zwar besser. Manche erscheinen bereits in
seinem Alter älter als ihre eigenen Großväter. Das bleibt
dabei nicht aus.
({29})
Was die Reaktion von Herrn Gerhardt angeht, weiß
ich, dass die Aussage, man dürfe und müsse seine Meinung auch ändern können, als Opportunismus interpretiert werden kann.
({30})
Das wäre schlecht. Aber das Motto „Was einmal gesagt
wurde, gilt immer“ gilt in der Politik nicht in Bezug auf
die Instrumente.
Über die Grundwerte kann man mit mir nicht verhandeln. Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit bilden
die Messlatte für das, was wir tun. Auch die Ziele sind
klar: Wir wollen dauerhaften Wohlstand und einen dauerhaften Sozialstaat für dieses Land. Aber darüber, wie
diese Ziele zu erreichen sind, darf und muss man miteinander streiten. Genau das machen wir zurzeit.
({31})
Was ist seit dem 14. März passiert, Frau Merkel oder
- ersatzweise - Herr Glos?
({32})
Sie haben schließlich gefordert, es müsse in der Zwischenzeit etwas passieren. Acht Gesetze liegen vor. In
dem Gesetzentwurf Hartz III geht es um den Umbau der
Bundesanstalt für Arbeit zu einer Vermittlungsagentur.
Der Entwurf Hartz IV regelt die Zusammenlegung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe, durch die erwerbsfähige
Sozialhilfeempfänger stärker als bisher und auch unmittelbar Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten. Die
Arbeitsmarktreform hat auch intern zu Kämpfen geführt; denn es geht dabei um die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere und um die
Frage, wie weit man gehen kann und darf, um die nötige
Flexibilität am Arbeitsmarkt zu schaffen, ohne die Arbeitnehmerrechte in unzulässigem Maße zu beschränken.
Bei der Gesundheitsreform, die wir gestern diskutiert haben, geht es um die Verbesserung der Effizienz
im System und um die Erhaltung der Qualität des Gesundheitswesens. Als Messlatte soll beibehalten werden,
dass diejenigen, die auf medizinische Versorgung angewiesen sind, das aus medizinischen Gründen Notwendige auch erhalten.
Unabhängig davon, worüber wir mittelfristig in der
Koalition oder darüber hinaus diskutieren - sei es die
Bürgerversicherung oder was auch immer -, ist das, was
wir derzeit tun, nicht entbehrlich. Man darf jetzt nicht
unter Verwendung bestimmter Begriffe vor der Verantwortung davonlaufen, die wir haben. Das ist für uns
schwer zu vermitteln. Aber ich sage ausdrücklich: Die
Sozialdemokratie wird keine Wolkenschieberei beginnen. Vielmehr werden wir den Menschen klipp und klar
mitteilen, was möglich und nötig ist, was wir tun werden
und dass wir es in der Weise, in der wir es umsetzen, verantworten können. Davor werden wir nicht weglaufen.
({33})
Die Handwerksordnung ist ein interessantes Kapitel, und zwar für Frau Merkel und Herrn Westerwelle
gleichermaßen. Denn dabei geht es um die Freiheit und
um die gleichen Chancen der Menschen - in diesem Fall
die der Gesellen - am deutschen Arbeitsmarkt. Junge
männliche oder weibliche Gesellen, die beispielsweise
in Aachen wohnen, können in Deutschland keinen
Handwerksbetrieb gründen. Dagegen können ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem benachbarten Belgien
oder Holland hier einen Betrieb eröffnen. Man könnte
vielleicht den deutschen Gesellen empfehlen, nach Belgien oder Holland zu ziehen, um dort einen Betrieb zu
gründen und von dort aus auch in Deutschland einen
Handwerksbetrieb aufbauen zu können. Was für ein Irrsinn!
({34})
Wer es mit Europa ernst meint, Herr Hinsken, muss
wissen: Wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union geht, dann müssen gleiche Berufs- und
Lebenschancen für die jungen Menschen in Deutschland wie auch in den anderen europäischen Ländern
geschaffen werden. Sie aber verteidigen alte Bestände.
Sie stehen in der konservativen Ecke.
({35})
Das, was Sie immer wieder beschreien - nämlich Offenheit, Liberalität und Flexibilität -, fehlt Ihnen an dieser
Stelle, Herr Westerwelle und Herr Hinsken.
({36})
Wir haben gerade den Gesetzentwurf zum Vorziehen
der Steuerreform von 2005 auf 2004 vorgelegt. Darüber ist hier wie auch über die Sinnhaftigkeit und das
Bemühen, das vorhandene Wachstum zu unterstützen
und ihm zusätzliche Luft unter die Flügel zu geben, gesprochen worden.
Wir beraten in diesen Tagen und Wochen über die Gemeindefinanzreform. Wir sind dabei, zu prüfen und
auszuloten, wie das, was bereits vorliegt, optimiert werden kann. Es geht darum, dass die Gemeinden schnell,
deutlich und nachhaltig entlastet werden und so zusätzliches Geld bekommen. Denn wir alle sind uns sicherlich
einig, dass in den Kommunen viele Investionen brachliegen, die eigentlich getätigt werden müssen. Übrigens
sollten die Investitionen zielgenauer an die kleinen und
mittleren Unternehmen vor Ort gegeben werden.
Wir alle sind froh über die großen Investitionen auf
der Bundesebene, über die 25 Milliarden bis 26 Milliarden Euro. Aber das betrifft Aufträge, die europaweit ausgeschrieben werden müssen. Man weiß also vorher
nicht, woher das Unternehmen kommt, das den Auftrag
erhält. Außerdem geht es hier um Aufträge, für deren Erfüllung man große Maschinen benötigt. Die Kommunen
haben aber die Möglichkeit - sofern sie über die notwendige Investitionskraft verfügen -, in kleinen Losen auszuschreiben und dafür zu sorgen, dass die kleinen und
mittleren Unternehmen vor Ort die Aufträge erhalten.
Genau das wollen wir: Die Arbeit, die es vor Ort gibt,
soll auch vor Ort getan werden können. Wir wollen hier
etwas bewegen.
({37})
Wir wollen außerdem die Gewerbesteuer nicht aufgeben. Im Gegenteil: Sie soll bestehen bleiben; denn sie
ist eine wichtige Verbindung zwischen den Kommunen
und den Unternehmen. Es ist gut, wenn man weiß, dass
man aufeinander angewiesen ist. Deshalb sollte das bestehende Band zwischen Kommunen und Unternehmen
nicht zerschnitten werden.
({38})
Wir haben des Weiteren den Entwurf eines Gesetzes
zur Reform des Sozialhilferechts eingebracht, über den
in der Öffentlichkeit bislang wenig diskutiert worden ist.
Es geht hierbei im Wesentlichen um Entbürokratisierung
und insbesondere darum, dass zukünftige Sozialhilfeempfänger das, was ihnen zusteht, in Form eines individuellen Budgets erhalten. Sie müssen also nicht wegen
jeder Kleinigkeit zum Sozialamt rennen, was unwürdig
wäre. Alle Leistungen, auf die ein Sozialhilfeempfänger
Anspruch hat, sollen deshalb in einem Betrag ausgezahlt
werden.
Das waren bislang acht Gesetzentwürfe. Im Oktober
dieses Jahres werden zwei weitere hinzukommen, die
die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung
betreffen werden. Zur Rentenversicherung habe ich
schon eben etwas gesagt. Deshalb nur so viel: Die hier
anstehenden Entscheidungen sind schwierig. Das gilt
auch für die Pflegeversicherung. Für beide Versicherungsbereiche müssen wir Entscheidungen treffen, die
mittel- und langfristig tragen. Ich sage ganz deutlich:
Keine Entscheidung für 50 Jahre! Man muss immer wieder einmal nachsteuern. Wir müssen etwas schaffen, was
über das aktuelle Jahrzehnt hinausweist. Wir nehmen das
ernst, was die Rürup-Kommission vorgelegt hat. Das ist
nämlich eine beachtliche Grundlage. Das möchte ich angesichts dessen, was schon zu den Vorschlägen dieser
Kommission gesagt worden ist, ausdrücklich betonen.
Es lohnt sich, die Vorschläge dieser Kommission zu lesen und sie sich in Ruhe zu Gemüte zu führen. Das heißt
nicht, dass wir alles umsetzen werden, was vorgeschlagen worden ist. Aber es ist sinnvoll, sich auf die bevorstehenden Entscheidungen, die die Rentenversicherung
betreffen, gut vorzubereiten. Das gilt für die Pflegeversicherung in gleicher Weise.
Die Menschen leben im Schnitt länger. Wir klopfen
auf Holz und hoffen, dass auch wir sehr alt werden. Aber
wir wissen, dass viele Menschen, die 85 oder älter sind,
in sehr starkem Maße der Pflege bedürfen, während nur
7 bis 8 Prozent der unter 85-Jährigen auf unmittelbare
Hilfe angewiesen sind. Das Problem ist, dass die Pflege
nicht mehr wie früher hauptsächlich im Familienverbund
geleistet werden kann. Schließlich kann man den Angehörigen das nicht immer zumuten. Man weiß sehr genau,
dass diejenigen, die zu Hause einen Bettlägerigen pflegen, eher in eine Klinik kommen als die Pflegebedürftigen. Pflegen ist nun einmal nicht leicht. Deshalb muss
man hier vernünftige Lösungen finden.
({39})
Ich möchte noch nicht andeuten, was wir vorschlagen
werden. Nur so viel: Es wäre gut, wenn wir uns in diesem Hohen Haus darauf verständigten, dass menschenwürdige Pflege ein Menschenrecht ist. Das darf bei allem, über das wir entscheiden werden, nicht auf der
Strecke bleiben.
({40})
Was wollen wir mit der Agenda 2010, dem vorliegenden Haushaltsentwurf und dem Haushaltsbegleitgesetz
erreichen? Ich möchte das an ein paar Dingen deutlich
machen. Wir wollen zum Beispiel erreichen, dass alle
Jugendlichen Arbeit bzw. Ausbildung haben.
({41})
Dazu ist sicherlich schon etwas gesagt worden. Ich
möchte aber unterstreichen, wie wichtig es ist, dass wir
die jungen Menschen nicht von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit schicken. Herr Ludwig Georg Braun, der
Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, hat in einem Schreiben an uns Abgeordnete festgestellt - wir alle haben es bekommen -, dass es ein
Skandal sei, dass nach wie vor jedes Jahr rund 90 000
Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Hier seien
insbesondere die Länder und Kommunen gefordert;
denn Betriebe könnten zwar vieles, dürften aber nicht
die Reparaturbetriebe der Nation für Versäumnisse von
Schule und Elternhaus sein. Herr Braun hat Recht: Das
ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt.
Es gibt unterhalb der Gruppe, über die wir reden,
wenn wir über Ausbildungsplätze sprechen, eine
Gruppe, die überhaupt keine Chance hat, an Ausbildung
heranzukommen: Es sind die jungen Menschen ohne
Schulabschluss - 6 bis 8 Prozent -, die durch weitere
Vorbereitungen in Qualifizierungsmaßnahmen der verschiedensten Art in Hilfskonstruktionen vermittelt werden. Auch dabei darf es nicht bleiben. Herrn Brauns
Aufforderung, dass wir uns Gedanken darüber zu machen haben, wie wir erreichen können, dass nicht so
viele die Schule unfertig verlassen, werde ich nicht widersprechen.
Bei aller Wertschätzung für ihn will ich doch feststellen, dass nur etwa 30 Prozent aller Betriebe überhaupt
ausbilden. Wenn die Tatsache, dass 90 000 Schüler die
Schule unfertig verlassen, ein Skandal ist, dann ist es
auch ein Skandal, dass es die Unternehmen in Deutschland nicht zustande bringen, die im Augenblick noch
vorhandene Lücke zu schließen.
({42})
Das Angebot an Ausbildungsplätzen ist in den beiden
letzten Jahren von 600 000 auf 510 000 zurückgegangen.
Die Anzahl der nicht Versorgten ist zwischen dem
31. Juli 2002 und dem 31. Juli 2003 um 35 000 gestiegen. Ich begrüße, dass sich viele sich von uns, Mitglieder
der Bundesregierung und Abgeordnete, gemeinsam mit
den Unternehmen - ein Teil der Unternehmen ist gutwillig; ich will die Unternehmen gar nicht pauschal angreifen - bemühen, die vorhandene Lücke zu schließen,
indem sie dafür sorgen, dass die erforderlichen Ausbildungsplätze noch zur Verfügung gestellt werden. Diese
Lücke umfasst im Ergebnis etwa 30 000 Ausbildungsplätze, vielleicht ein paar mehr oder weniger. Angesichts
eines Angebots von 510 000 Ausbildungsplätzen geht es
darum, dass etwa 6, 7 oder vielleicht 8 Prozent der jungen
Menschen noch nicht versorgt sind.
Wenn es die deutsche Wirtschaft - den öffentlichen
Bereich zähle ich dazu - in einer solchen Ausgangssituation - der Versorgungsgrad liegt bei etwa 94 Prozent im September und im Oktober nicht zustande bringt, die
restlichen 6 Prozent zu versorgen, dann liegt dem, so behaupte ich, ein fehlender Wille zugrunde. Wenn jeder ein
bisschen dazutut, dann muss es möglich sein, auch diesen jungen Menschen eine Chance zu geben.
({43})
Dass diese jungen Menschen eine Chance haben, das
wollen wir; das ist die beste Lösung, die man sich vorstellen kann.
Manche unterstellen uns etwas anderes, nämlich dass
wir vorhaben, die Ausbildung der jungen Menschen zur
Staatsaufgabe, zur Pflicht für den Bund oder für die Länder, zu machen. Das entspricht aber nicht unserer Interessenlage. Wir wollen, dass das duale Ausbildungssystem
funktioniert. Die Ausbildung, die in einer Kombination
von Berufsschule und Arbeit im Betrieb besteht, ist das
Beste, was wir haben. Daraus ist übrigens auch die deutsche Facharbeiterschaft gewachsen.
Am schlimmsten finde ich das, was ich vom Zentralverband des Deutschen Handwerks höre. Man will uns
geradezu bestrafen. Dieser Verband sagt: Wenn ihr die
Handwerksordnung ändert, dann werden wir nicht mehr
so viele Jugendliche einstellen. - Was ist das für eine zynische Einstellung? Das kann ich nicht akzeptieren.
({44})
Klar sein muss aber auch Folgendes: Bis Ende September, Anfang Oktober werden wir uns bemühen,
Dinge in Bewegung zu setzen. Wenn nicht genügend
Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, dann werden
wir uns auch an dieser Stelle melden, auch mit gesetzgeberischen Vorschlägen. Diese Vorschläge sollten
möglichst im Einklang mit den Unternehmen, mit den
Kammern und mit den Branchen entwickelt werden.
Fest steht: Wir werden dann Vorschläge machen.
Dazu, dass von Frau Merkel und auch aus der FDP
immer wieder der Hinweis kommt, man dürfe mit den
Unternehmen so nicht umgehen, sage ich: Ja, das ist klar.
Zuallererst müssen wir allerdings die Interessen der
Mädchen und der Jungen berücksichtigen, die mit 16
oder mit 17 die Schule verlassen. Es darf nicht so sein,
dass man sie zur Seite nimmt, um ihnen zu sagen: Du
hast zwar auf der Schule gelernt; aber es gibt leider keinen Ausbildungsplatz für dich.
({45})
Wir vertreten in erster Linie deren Interessen. Das hat
Vorrang.
Mit dem Haushaltsgesetz 2004 und mit den Gesetzen
zur Agenda 2010 wollen wir erreichen, dass alle Kinder
gleiche Bildungschancen haben. Der Bund wird den
Kommunen in dieser Legislaturperiode - freiwillig 8,5 Milliarden Euro für die Verbesserung des Ganztagsangebots für die Betreuung von unter Dreijährigen und
von Kindern in Grundschulen zukommen lassen. 8,5 Milliarden Euro, das ist eine stolze Zahl. Es liegt vielleicht an
uns, dass wir darüber nicht genug sprechen und bewusst
machen, worum es dabei eigentlich geht. Es geht dabei
nicht um Klein-Klein, sondern darum, dass wir den Kommunen bei der Bewältigung einer riesigen Aufgabe, vor
der wir stehen, Hilfestellung geben. Wenn immer mehr
Eltern tagsüber keine Zeit haben, ihre Kinder zu
betreuen, dann ist es umso wichtiger, dass diese Kinder
die Chance haben, in Ganztagseinrichtungen zu gehen.
({46})
Nicht alle Eltern werden das wollen. Es wird Situationen geben, in denen diese Betreuung nicht möglich ist.
Wir haben uns vorgenommen, in diesem Jahrzehnt dafür
zu sorgen, dass alle unter Dreijährigen und alle Grundschüler, deren Eltern das wollen, die Chance haben, eine
Ganztagsbetreuungseinrichtung zu besuchen. Wir werden dieses Vorhaben nicht in dieser Legislaturperiode allein umsetzen können. Wir wollen es in diesem Jahrzehnt schaffen. Die Umsetzung dieses Vorhabens wäre
eine große gesellschaftliche Innovation.
Dies ist eine Idee, die im Hinblick auf die Bildungschancen der Kinder großartig ist und die auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unendlich wichtig ist. Dabei geht es um eine große politische Vision.
({47})
Wenn man nicht aufpasst, dann geht das im KleinKlein des Alltags unter. Man sitzt in Runden beieinander
- Bund, Länder und Gemeinden - und hat nach einer
halben Stunde den Eindruck: Es geht nur noch um die
Frage, wer eigentlich wem welches Geld aus der Tasche
ziehen kann und wer eigentlich wo Zuständigkeiten hat.
Ich will dieses Beispiel mit den Bildungschancen für die
Kinder zum Anlass nehmen, noch einmal zu sagen: Wir
müssen darüber sprechen und müssen Entscheidungen
treffen, damit wir in den Anstrengungen im Hinblick auf
die gesellschaftspolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, in der Vielfalt und in der Komplexität sowie in den Verpflichtungen unserer föderalen Ebenen
nicht aufgehalten werden. Die großen politischen Ideen
müssen durch alle föderalen Ebenen hindurch getragen
werden können. Daran müssen wir arbeiten. Da müssen
wir in Deutschland besser werden.
({48})
Wir wollen mit dem, was wir tun, dafür sorgen, dass
die 50-, 55- und 60-jährigen Arbeitnehmer nicht mehr
abgeschoben werden. Das Abschieben entspricht einer
Mentalität, die sich in den 90er-Jahren ausgebreitet hat.
Wir haben da nicht immer klug gehandelt, Sie von der
Opposition auch nicht; vielleicht sollten Sie das einmal
zugeben. Die Ideen, die es da gab - ganz lange Arbeitslosengeld zahlen und mit kleinen Sozialplänen die Menschen mit 60 in die Frühverrentung schicken -, sind von
Ihnen gekommen. Es war damals nur eine Organisation,
die dagegen protestiert und sogar geklagt hat. Das war
meine IG Metall. So verkehren sich die Fronten auf der
Strecke. Die IG Metall hat richtigerweise gesagt: Mit
dem, was ihr da macht, sorgt ihr dafür, dass mit Beiträgen aus der Arbeitslosenversicherung die Personalpolitik
der großen Unternehmen unterstützt wird. - So ist das
passiert.
Das Endergebnis ist, dass heute in Deutschland die
Mentalität vorherrscht: Die, die über 50 sind, können für
die Arbeit nicht mehr gebraucht werden. - Die, die über
55 sind, überlegen sich, wie man am schnellsten raus
kann. Das geht nicht.
Bei allem, was wir zu Arbeitsmarkt und Rente zu diskutieren haben, müssen wir sehen: Die Frage ist nicht,
wann und wie man die Altersgrenze auf über 65 anheben
kann, sondern die Frage ist, wie man und wann man mit
welchen Instrumenten dafür sorgt, dass die Leute nicht
mehr mit 55 mit einem Sozialplan nach Hause und mit
60 in die vorgezogene Rente geschickt werden. Da liegt
der Hase im Pfeffer. Da müssen wir ran. Da müssen wir
für Veränderung sorgen.
({49})
Diese 55- und 60-Jährigen sind übrigens die deutsche
Facharbeiterschaft, die „Made in Germany“ geschaffen
und dafür gesorgt hat, dass Deutschland unter diesem
Markenzeichen einen guten Namen in der Welt bekommen hat. Die laufen nicht mehr so schnell wie die
25-Jährigen, aber sie haben Wissen, Erfahrung und Können und werden weiß Gott noch gebraucht. Es ist ein
großer Fehler gewesen, dass wir in dieser Gesellschaft in
den letzten Jahren diesen Weg gegangen sind.
({50})
Wir wollen, dass der Solidarpakt Ost steht. Bei alldem, was wir über den Haushalt und über die Frage, wie
man ihn in Zukunft noch knapper schneiden kann, zu
diskutieren haben, muss unter uns eines klar sein - darüber ist aus verschiedenen Anlässen schon gesprochen
worden; bei uns ist das klar -: Wir werden an der vereinbarten Regelung zum Solidarpakt nichts verändern. Das
heißt, die Länder im Osten der Bundesrepublik Deutschland und die Gemeinden dort können verbindlich damit
rechnen, dass bis tief ins nächste Jahrzehnt hinein die
Solidarität in dieser Gesellschaft gilt. Es ist wichtig, dass
man das einmal feststellt.
({51})
Wir wollen erreichen, dass Arbeitnehmer und Unternehmer ihre Interessen auch zukünftig wirkungsvoll organisieren können. Unsere Gesellschaft hat in der alten
Bundesrepublik und auch in den vergangenen 13 Jahren
gut damit gelebt, glauben wir, dass sich auf der Arbeitgeber- und auf der Arbeitnehmerseite an Tischen Leute
gegenübersitzen, die was im Kreuz haben, und Dinge
aushandeln, die für ihr Unternehmen, für ihre Branche,
für ihre Region und für das ganze Land wichtig sind.
Deshalb muss bei allem, was an Flexibilität am Arbeitsmarkt möglich und nötig ist, was in vielen Branchen und
in vielen Betrieben, besonders in Ostdeutschland, auch
passiert, eines im Blick bleiben: Wir müssen dafür sorgen, dass bei allen Entscheidungen, die wir treffen, eines
unmissverständlich klar bleibt: Arbeitnehmer und Arbeitgeber begegnen sich auf gleicher Augenhöhe. Das
darf sich nicht verschieben.
({52})
Im Letzten ist Wirtschaft - das ist nur bedingt eine Frage
des Standpunktes - für die Menschen da und nicht umgekehrt. Daran werden wir uns bei all unseren zukünftigen Entscheidungen messen lassen. Es wäre eine falsche
Entscheidung - davon bin ich fest überzeugt -, wenn wir
in Deutschland einen Weg einschlagen würden, der die
Wirtschaft total individualisiert. Eine solche Forderung
höre ich ja bei der FDP immer wieder heraus. Deren
Botschaft lautet: Wenn jeder für sich selbst sorgt, dann
ist für alle gesorgt.
({53})
- Das ist Quatsch. Das sehen Sie völlig richtig. Aber
dann lassen Sie solche Sprüche auch sein.
({54})
Wir wollen erreichen, dass dieses Land wieder fähiger wird, technische Innovationen zu entwickeln, sie in
Arbeitsplätze umzumünzen und damit die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu sichern. Auch das ist im Übrigen Gegenstand der Agenda 2010. Dass darüber nicht
gesprochen wird, liegt an uns, aber auch an anderen. Der
Bundeskanzler hat nämlich in der Agenda 2010 klargestellt, dass der Zuschlag für die Großforschungseinrichtungen ab 2004 weiter erhöht wird und die Frage, wie
wir uns in Deutschland zu technologischen und auch gesellschaftlichen Innovationen stellen, eine Grundfrage in
Bezug auf die Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres
Landes ist. Hier müssen wir aufholen.
Ich habe es schon woanders gesagt, möchte es hier
aber noch einmal wiederholen, da ich es an diesem Pult
noch nicht gesagt habe: Die schlimmste Botschaft der
letzten Jahre lautete doch, dass seit dem Jahr 2001 mehr
Hochtechnologie nach Deutschland eingeführt als ausgeführt wurde. Sie können natürlich jetzt sagen - auf
diesen Einfall kommen Sie bestimmt -, dass wir da regiert haben. Aber wir müssen wohl nicht lange darüber
streiten, dass diese Entwicklung schon in den 90er-Jahren einsetzte. Damals ist zu wenig in diesem Bereich investiert worden. Wir haben also alles zusammengekratzt
und der Bildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsministerin in der letzten Legislaturperiode 25 Prozent
mehr zur Verfügung gestellt. Dieser Weg wird fortgesetzt. Das hat der Kanzler heute hier unterstrichen. Auch
ich will für die Fraktion ausdrücklich noch einmal feststellen: Wer über Altersversorgung und Zukunftssicherung des Landes spricht, der muss wissen, dass wir einen
Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in die Köpfe
und in die Herzen der Jungen investieren müssen: in
Ausbildung, in Bildung, in Forschung und Technologie,
in neue Unternehmen. Damit sichern wir die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.
({55})
Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ich möchte den Gedanken zunächst zu Ende bringen.
Danach gerne, Herr Kollege.
Wenn wir in den nächsten Wochen und Monaten über
Rente, über Nachhaltigkeitsfaktor und Generationengerechtigkeit sprechen, dann muss uns klar sein - das müssen wir auch in der Debatte nach außen vermitteln -,
dass nicht so wichtig ist, ob in dem Gesetz von 67 Prozent, 60 Prozent oder 50 Prozent die Rede ist, sondern
wichtiger ist die Antwort auf die Frage: 67 Prozent bzw.
60 Prozent von was? Wenn im Jahre 2020 bzw. 2030 in
Deutschland das gleiche Wohlstandsniveau wie heute
vorherrscht - wir sind nicht zu reich, aber wir sind wohlhabender als vor 20 oder 50 Jahren; das wissen wir alle
miteinander -, dann werden die Alten und die Jungen in
Wohlstand leben können und wir müssen nur über die
gerechte Verteilung streiten. Wenn es aber anders käme,
dann hätten sowohl die Alten wie die Jungen weniger.
Das muss man wissen, aber das hat sich in der politischen Diskussion noch nicht durchgesetzt. Wer die Substanz des Sozialstaates erhalten will, wer soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau will, der muss dafür sorgen,
dass es bei diesem hohen Niveau bleibt. Das heißt,
Wohlstandssicherung muss durch Investitionen in Bildung, in Qualifizierung und durch technologische und
gesellschaftliche Innovationen erarbeitet werden. Daran
werden wir in dieser Legislaturperiode arbeiten müssen.
({0})
- Ihre munteren Hinweise deuten darauf hin, dass wir
darüber sprechen können.
Herr Hinsken, wenn Sie jetzt noch eine Zwischenfrage stellen möchten, lasse ich sie gerne zu.
Werter Herr Müntefering, es passt vielleicht jetzt sogar noch besser, als es vor fünf Minuten gepasst hätte. Sie haben ja für Ihre Fraktion eine richtungsweisende
Rede gehalten.
({0})
Ich habe aufmerksam zugehört, auch wenn ich nicht alle
Ihre Ansichten teile.
Meine Frage an Sie lautet nun: Haben Sie deshalb die
Außenpolitik ausgeklammert, weil es der Vizekanzler
und Bundesaußenminister vorzieht, über eine Stunde im
Restaurant zu sitzen, statt dem Führer der größten Fraktion zuzuhören, um mitzubekommen, welche Vorstellungen Sie haben?
({1})
Darüber machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir sitzen so oft beieinander und sprechen so oft miteinander,
dass er alles, was ich hier gesagt habe, schon weiß. Da
können Sie ganz sicher sein.
({0})
Mich hat nur erschreckt, dass Sie mich „Führer“ genannt
haben. Das ist für mich ein schwieriges Wort.
({1})
Ich will abschließend noch kurz ein Kapitel ansprechen, das man in der Politik ernst nehmen muss. Man
muss nicht nur gute Politik machen, sondern man muss
auch verstehen, sie zu vermitteln. Dabei gibt es Schwierigkeiten, weil in einer Situation, in der es acht Gesetzentwürfe gibt, zwei weitere Gesetze vorbereitet werden
und über das Haushaltsgesetz diskutiert wird, in der Öffentlichkeit nicht immer unterschieden wird und auch
nicht unterschieden werden kann: Ist das jetzt eine Idee?
Ist es ein Vor-Vorschlag? Ist es ein Vorschlag? Ist es ein
Entwurf? Ist es ein Referentenentwurf? Ist es ein Beschluss? Ist es ein Gesetz?
({2})
Oft steht etwas in großen Buchstaben auf Seite 1 einer
großen Zeitung und die Menschen glauben, das sei
schon beschlossen, obwohl es möglicherweise dann
noch anders kommt.
Ich finde, dass man mit der Situation offen umgehen
muss. Es stellt sich die Frage, ob man versucht, alles
heimlich, still und leise vorzubereiten, oder ob man eine
öffentliche und offene Debatte führt. Ich kann mir nur
vorstellen, dass man die Debatte offen führt. Ich finde,
es gereicht der Koalition sowie meiner Partei und meiner
Fraktion zur Ehre, dass wir in der Lage sind, solche Diskussionen offen zu führen mit der klaren Zielrichtung,
irgendwann in der Fraktion und im Deutschen Bundestag Entscheidungen zu treffen, damit dann das gilt, was
wir gemeinsam beschlossen haben. So muss das laufen
und so wird es in den nächsten Monaten auch sein.
({3})
Man muss einfach zugeben, dass es objektiv schwierig ist, Entscheidungen zu treffen, die ökonomisch vernünftig, finanzwirtschaftlich notwendig und sozial gerecht sind. Es ist ja nicht eine Frage des guten Willens,
wie das aufeinander wirkt. Einige der Gesetze, über die
wir jetzt sprechen, haben viele Schnittmengen zueinander. Wir werden Ende des Jahres das Puzzle wirklich zusammenlegen und das Gesamtbild erkennbar machen
können.
Ich bin mir der Komplexität der derzeitigen Situation
bewusst. Wir alle müssen zur Orientierung beitragen.
Dabei stellt sich auch die Frage, was Demokratie leisten
kann und leisten will. Wir müssen den Menschen deutlich machen, was wir wollen, wohin die Reise geht, aber
man muss auch über Einzelheiten und Feinheiten miteinander sprechen dürfen.
({4})
Weil Herr Hinsken eben angesprochen hat, dass er zuhört, aber möglicherweise nicht alles, was ich sage, teilt,
will ich auch dazu ein offenes Wort sagen, was vielleicht
ungewöhnlich ist. Manchmal wird mir gesagt: Du sagst
etwas, das könnte auch von der CDU oder von der FDP
sein. Ich sage dann: Das stört mich nicht. Das, was wir in
diesem Haus zu leisten haben, ist nicht die Antwort auf
die Frage, wer sich von wem durch was unterscheidet,
sondern vielmehr die Antwort auf die Frage, was für dieses Land nötig ist.
({5})
Wir haben, demokratisch legitimiert, die Aufgabe, in
diesem Land Politik zu machen. Das tun wir. Falls Sie,
aus welchen Gründen auch immer, ab und zu derselben
Meinung sein sollten wie wir und etwas eigentlich doch
ganz gut finden, dann werfen Sie Ihr Herz über die
Hürde und machen Sie dabei mit. Dann bekommen wir
vernünftige Gesetze, denen auch im Bundesrat zugestimmt wird.
Frau Merkel, Sie haben von den zweiten Gründerjahren der Republik gesprochen. Ich glaube, das ist nicht
ganz verkehrt, darin steckt ein Stückchen Wahrheit.
({6})
Wenn das aber so ist, dann war das, was Sie heute Morgen vorgetragen haben, zu wenig.
({7})
Wir hören ganz gespannt zu, was Sie zu den Gründerjahren, die jetzt in Deutschland vor uns liegen, zu sagen haben. Vor allen Dingen geht es darum - das fehlte in Ihrer
Rede völlig -, Zuversicht zu vermitteln in die Gestaltbarkeit der Dinge und in die Zukunft, Zuversicht für die
nächsten Jahre. Das ist der Kern all dessen, worauf wir
uns stützen können.
({8})
Das ist der Kern bei all den Problemen und bei all den
Sorgen, die wir haben, auch bei all dem Streit, den wir
um die richtigen Schritte an der einen oder anderen
Stelle zu führen haben.
Dieses Land Deutschland ist stark, hat tüchtige Unternehmer und tüchtige Arbeitnehmer,
({9})
es hat ein gutes Bildungssystem, es hat hohe Mobilität,
es hat Erfahrung, es hat auch Entwicklung. Dieses Land
ist in der Lage, seinen Weg gut nach vorne zu gehen. Das
werden wir tun. Dazu werden die Schritte, die wir in diesem Jahr gehen, ganz wesentlich beitragen.
Herr Glos hat am Anfang seiner Rede auf die Entscheidung im vorigen Jahr hingewiesen. Dazu sage ich
zum Schluss: Noch heute vor einem Jahr, am 10. September 2002, zwölf Tage vor der Wahl, haben mir Zeitungen, wissenschaftlich untermauert, weismachen wolFranz Müntefering
len, dass wir die Bundestagswahl auf keinen Fall
gewinnen könnten. Wir haben sie aber doch gewonnen.
Nun ärgern Sie sich und das freut mich.
({10})
Jedenfalls kündige ich Ihnen für das Jahr 2006 schon
einmal an - auch Frau Merkel hat darauf hingewiesen;
vermutlich wird sie am 11. Januar wieder irgendwo zum
Frühstück eingeladen sein und etwas unterschreiben
müssen -,
({11})
dass dann wieder das Gleiche wie 2002 stattfinden wird.
Wir wissen, dass wir bei der Aufgabe, die wir jetzt übernommen haben, nicht in jedem Augenblick Volkes Liebling sein können. Das müssen wir auf einer gewissen
Strecke aushalten. Aber das, was wir beschließen und
voranbringen, wird die Anerkennung der Menschen in
diesem Lande finden. Da bin ich ganz zuversichtlich. Sie
werden sehen, dass die Sozialdemokraten im Jahre 2006
weiterregieren werden.
Vielen Dank und Glück auf.
({12})
Das Wort hat der Herr Kollege Dr. Wolfgang
Gerhardt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
immer wieder ein schönes Zeichen parlamentarischer
Gepflogenheiten, dass, wenn ein Redner aus der Opposition in einer der wichtigsten Debatten zum Schicksalsbuch der Nation ans Rednerpult tritt, nahezu die Hälfte
der SPD-Abgeordneten den Raum verlässt.
({0})
Das gehört nicht zum guten Stil. Das sage ich gerade
deshalb, Herr Kollege Müntefering, weil Sie über einige
Prinzipien gesprochen haben. Ich würde darauf gerne
eingehen, aber dazu ist die Zeit viel zu kurz.
Eines möchte ich allerdings sagen, weil Sie die Wahl
2006 angesprochen haben. Hier geht es nicht darum,
dass die Kollegin Merkel, die Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU oder wir von der FDP Fehler gemacht hätten. Unser Vorwurf bezieht sich nicht auf
menschliche Schwächen oder Fehler. Unser Vorwurf
richtet sich zentral an den Bundeskanzler, der das, was er
in zwei Wahlkämpfen gemacht hat, nicht durch die Bezeichnung „Fehler“ beschönigen kann; denn die Daten
bezüglich struktureller Veränderungen, der Globalisierungsprozesse, des demographischen Aufbaus und der
längeren Lebenserwartung waren ihm genauso bekannt
wie uns. Er hat nicht die Wahrheit gesagt; das ist der
Kern.
({1})
Nun diskutieren wir in diesen Debatten über die Folie
eines Haushalts, den Herr Peffekoven als schlechtesten
Haushaltsentwurf in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland bezeichnet hat.
({2})
Dieser schlechteste Entwurf ist zustande gekommen
durch den stetigen Kampf der Sozialdemokraten mit der
Wirklichkeit in ihrer zweiten Legislaturperiode. Sie haben nicht Fehler gemacht, sondern sie haben die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollen
({3})
und diejenigen, die die tatsächliche Lage öffentlich beschrieben haben, beschimpft.
Als wir damals in Bonn Subventionsabbau vorgeschlagen haben, haben sich Herr Fischer und Herr
Lafontaine - nach dem Modell: verhinderter Arbeiterführer - gar nicht schnell genug zu der Kundgebung der
Kumpels aus dem Ruhrgebiet begeben können und diesen wider besseres Wissen in Kenntnis des Alters der
Belegschaften und der Stellung der Kohle in der Zukunft
Zusagen gemacht, die zulasten des Steuerzahlers gingen
und unredlich waren, wie sich herausgestellt hat.
({4})
Herr Eichel hat davon gesprochen, man müsse jetzt
wegen der Kurspflege vorsichtig Privatisierung betreiben. Einverstanden. Ich will aber daran erinnern: Als wir
erwähnt haben, dass man Privatisierung haben müsse,
dass man Post, Bahn und die Energiemärkte privatisieren müsse, mussten wir uns den härtesten Vorwürfen aus
den Reihen der Sozialdemokraten stellen, obwohl sie
auch schon wussten, dass kein Weg daran vorbeiführt.
Es war kein Argument zu klein, um es nicht zu erwähnen. Das ging bis hin zu dem Vorwurf von ausgewachsenen heutigen Regierungsmitgliedern, das seien dann ja
nur die Telekom-Rosinenpicker, die die Grundversorgung für die Großmutter im Bayerischen Wald nicht sicherstellen würden. Diese hatte vom Enkelkind schon
längst ein Handy geschenkt bekommen, als das von Sozialdemokraten noch vorgetragen wurde.
({5})
Sie reden über Wettbewerb. Das Folgende sage ich
insbesondere in Richtung der Grünen. Sie sagen, wir
seien nicht in ausreichendem Maße bereit, Wettbewerb
im Gesundheitswesen herzustellen, weil wir nicht die
Courage hätten, den Abschluss von Einzelverträgen mit
Ärzten zu ermöglichen. Diese Courage haben wir. Sie
müssen nur auf Ihrer Seite die Courage haben, die gesetzliche Krankenversicherung nicht weiterhin als Monopol bestehen zu lassen;
({6})
denn es geht nicht an, einen Monopolanbieter hinzustellen, der mit dem Abschluss oder Nichtabschluss eines
Einzelvertrages über die Zukunft des freien Berufes Arzt
in Deutschland entscheidet.
Wenn Sie die Beitragsbemessungsgrenzen zurückführen und die gesetzlichen Krankenkassen in einen Wettbewerb setzen, dann können wir über Einzelverträge reden.
Eine Bürgerversicherung - im Übrigen ist der Posten
des Vorstandsvorsitzenden einer Bürgerversicherung der
sicherste Job, den die junge Generation haben kann: alle
müssen hinein, die Beiträge sind nicht transparent, sie
können erhöht werden und niemand kann heraus - entspricht nicht unserer Vorstellung von einem freiheitlichen und wettbewerblichen Gesundheitswesen. Da unterscheiden wir uns.
({7})
Es kann gern die Möglichkeit zum Abschluss von
Einzelverträgen geschaffen werden. Eröffnen Sie den
Wettbewerb auf der anderen Seite.
Herr Kollege Müntefering, vielleicht können Sie einen Moment zuhören; denn ich möchte Ihnen Folgendes
sagen: Verwechseln Sie bitte nicht den Flächentarif mit
Tarifautonomie. Das wäre eine Fehler. Tarifautonomie
ist auch mit anderen Modellen als dem gegenwärtigen
Flächentarif denkbar.
Wenn Sie schon über Menschenwürde sprechen wie
ich auch - da unterscheiden wir uns nicht -, dann sage
ich Ihnen, dass es für die Existenz von Arbeitsplätzen in
kleinen mittelständischen Betrieben in regional schwierigen Zonen ein Gesichtspunkt der Menschenwürde ist,
dass, wenn zwei Drittel der Belegschaft anders wollen
als die Spitze der IG Metall, ihnen das der Deutsche
Bundestag auch ermöglicht. Das ist dann auch eine Notwendigkeit.
({8})
Der Zufall, der bei der Kombination unserer Erbanlagen waltet, macht uns alle einzigartig. Wir sind unterschiedlich, auch unterschiedlich leistungsfähig. Sie müssen jetzt den demokratischen Sozialismus etwas beiseite
schieben. Definieren Sie auch Solidarität neu. Die
größte Solidarität ist nicht die Größe der kollektiven Sicherungssysteme in Deutschland.
({9})
Die größte Solidarität, die jemand einem anderen unter
dem Gesichtspunkt der Menschenwürde geben kann, ist
seine eigene Leistungsbereitschaft, bevor er andere in
Anspruch nimmt.
({10})
Deshalb ist die Solidarität nichts, was wir zwischen
unseren Parteien im großen Schlagabtausch diskutieren
müssen. Wir wissen doch alle, dass die alten solidarischen Systeme nicht mehr tragen. Sie haben es erlebt.
Sie machen doch den schmerzhaften Prozess in Ihrer
Partei durch. Begeben Sie sich deshalb in eine offene
Debatte über Solidarität im Strukturwandel der Gesellschaft.
Ich sage Ihnen: Wir sind verpflichtet - auch wir als
Opposition -, alles daran zu setzen, damit Deutschland
wieder stärker wird, im Übrigen nicht nur aus Gründen
der Wettbewerbsfähigkeit. Sie spüren doch, dass wir außen- und europapolitisch rasant an Gewicht verlieren.
Früher hatten wir außenpolitisches Gewicht nicht wegen der Teilnahme an Konferenzen und großer Rhetorik.
Von uns hat man etwas gehalten wegen der Nachkriegsleistung und des Aufbauwillens der Bevölkerung. Das
hat uns international Reputation verschafft. Wenn wir
das nicht ändern, dann nutzt die Teilnahme an Konferenzen nichts. Wir sind heute das Problemkind in der Eurozone. Früher wären wir Problemlöser Europas gewesen.
Das hat sich komplett verschoben.
({11})
Zum Abschluss: Es führt kein Weg, auch keine Erklärung von guten Absichten und keine Beschreibung von
Zielen daran vorbei, dass die rot-grüne Bundesregierung
diesem Parlament einen Haushalt vorgelegt hat, der
schon bei der Vorlage hinten und vorne nicht stimmt,
und zwar nicht in der Dimension früherer Haushaltsrisiken, die es schon immer gegeben hat, sondern in zweistelliger Milliardenhöhe. Ich muss mich also fragen:
Welches Selbstverständnis muss diese Regierung haben,
dass sie dem Parlament so gegenübertritt und einen solchen Haushalt vorlegt? Das entspricht nicht im Entferntesten ihrem eigenen Anspruch.
({12})
Den Haushalt müssen Sie sowieso noch korrigieren und
Ihre Ziele uns in Gesetzesform vorlegen.
Um auf die Situation der Kommunen einzugehen,
Herr Minister Eichel: Sie wollen die Gewerbesteuer revitalisieren. Wir halten das für problematisch. Wir sind
eher dafür, den Kommunen ein eigenes Hebesatzrecht zu
geben und sie deutlicher an der Umsatzsteuer zu beteiligen. Sie könnten doch einmal Ihr Herz über die Hürde
werfen und unserem Vorschlag zustimmen. Verantwortung zu zeigen heißt nicht, dass wir Ihren Vorschlägen zustimmen müssen. Wenn wir die besseren Vorschläge machen, sollten Sie denen zustimmen. Also machen Sie es!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Merkel hat vorhin in ihrer Rede gesagt, England stünde
besser da. Wissen Sie, Frau Merkel: England hatte in den
80er- und 90er-Jahren Maggie Thatcher und wir hatten
Helmut Kohl. In den 90er-Jahren waren Sie doch im Kabinett. Sie standen zwar im Schatten, aber Sie hätten
zum Beispiel Herrn Blüm bei seiner Volksverdummungskampagne „Die Rente ist sicher!“ stoppen können, wenn Sie damals so viel Verantwortung gezeigt hätten, wie Sie heute eingefordert haben. Das haben Sie
aber nicht gemacht. Sie geben auch keinen Fehler zu und
machen außerdem nicht den Eindruck, dass Sie einen Erkenntnisgewinn gehabt haben.
({0})
Ich erinnere mich sehr wohl daran, dass ein jüngerer
Kollege der CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Storm, erst
dann die Chance bekam - nämlich im Frühjahr 1998 -,
den demographischen Faktor in die Rentenversicherung einzuarbeiten und damit Herrn Blüm auf das historische Abstellgleis zu setzen, als Herr Kohl die Wahl
1998 verloren gab. Das sind Ihre Reformanstrengungen.
Sie haben Reformen nur angekündigt. Dann wurden Sie
sozusagen erlöst und mussten sie nie durchsetzen. Das
ist die Wahrheit.
({1})
Um zu erkennen, wie schwierig es ist, Reformen politisch durchzusetzen, kann man einen aktuellen Vergleich
anstellen. Frankreich wird konservativ regiert. Aber der
Premierminister Raffarin kneift; er will keine strukturellen Reformen durchführen. Wir können uns noch ausführlicher darüber unterhalten, wie die Situation innerhalb der EU ist.
Die deutsche Bundesregierung steht zu Ihrem Ziel.
Sie will strukturelle Reformen durchführen und legt fast
jede Woche einen neuen Gesetzesvorschlag dazu auf den
Tisch. Herr Gerhardt, das Parlament hat die Möglichkeit,
die Vorschläge gründlich zu beraten. Das scheint mir
besser zu sein, als einen Haushaltsentwurf vorzulegen,
der so verabschiedet wird, wie er zwei Monate vorher
eingebracht wurde.
({2})
Wir haben alle etwas davon, wenn sich die Parlamentarier in die entsprechenden Diskussionen verantwortlich
einbringen können.
({3})
Wenn man sich anschaut, wo die strukturellen Probleme liegen, von denen wir immer wieder sprechen,
dann wird deutlich, dass Länder mit hohen automatischen Stabilisatoren - das sind hohe Beiträge zur Krankenversicherung, Rentenversicherung und hohe Ausgaben zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit - immer dann
Probleme bekommen, wenn die Konjunktur schlecht
läuft.
Es stellt sich nun heraus, dass es in den anderen Industrieländern im Falle einer schlechten Konjunktur eine
Dämpfungswirkung von durchschnittlich einem Viertel
gibt, wenn die automatischen Stabilisatoren voll wirken.
Deutschland hingegen weist eine Dämpfung von einem
Drittel auf. Umgekehrt gesagt: Nach einer 30-jährigen
prozyklischen Geschichte haben wir schon seit Jahrzehnten zu hohe Beiträge zur Krankenversicherung, zur
Rentenversicherung und zu hohe Ausgaben für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit. Diese Tatsache holt uns
in regelmäßigen Abständen ein. Die Folge ist eine hohe
Neuverschuldung, wenn wir daran nicht arbeiten. Deswegen muss das strukturelle Defizit abgebaut werden
und deswegen brauchen wir die jetzt anstehenden Strukturreformen.
({4})
Ich kann versuchen, für Leute, die sich nicht jeden
Tag mit diesen Fragen beschäftigen, einmal weniger
ökonomisch zu argumentieren. Was hat es mit dem
Strukturumbau auf sich? Ich vergleiche die Situation
mit der einer Familie. Eine Familie hat zum einen monatliche Fixkosten und zum anderen hat sie Ausgaben
für Dinge, die nicht unbedingt notwendig sind. Wenn auf
einmal das Einkommen der Familie sinkt, dann kann
man schlecht etwas an den monatlichen Fixkosten ändern. Die Miete und die Stromrechnung müssen nämlich
bezahlt werden. Wenn das Familieneinkommen zurückgeht, haben sie natürlich die Möglichkeit, weniger zum
Essen auszugehen oder auch den Kinobesuch zu streichen. Die Freizeitmöglichkeiten werden also eingeschränkt. Das ist die normale Verhaltensweise, wenn das
Familieneinkommen sinkt.
Wenn das monatelang so anhält, ist die Folge, dass
der Missmut in der Familie steigt. Alle sind unzufrieden;
keiner hat mehr richtig Lust. Dann kommt irgendwann
der Punkt, dass man sich in der Familie am Küchentisch
sagt: Wir müssen etwas grundsätzlich ändern. Irgendwie
sind alle unzufrieden, weil wir uns mit unserem Einkommen nicht mehr all das leisten können, was wir wollen.
Dann kommt die Frage auf: Müssen wir eigentlich in der
großen Wohnung wohnen bleiben oder sollen wir uns
eine kleinere suchen? Werden wir den Zweitwagen behalten oder schaffen wir den ab?
Solche Vorschläge hat jetzt Rot-Grün auf den Tisch
gelegt. Wir wollen nicht, dass alle Generationen in diesem Land weitere Jahre missmutig bleiben, nur weil das
Bruttoinlandsprodukt nicht die Höhenflüge erreicht, wie
dies zum Teil in den 80er- und 90er-Jahren der Fall war.
Damit muss man sich auseinander setzen.
Wir haben dazu Vorschläge vorgelegt. Wir haben sie
übrigens nicht in rot-grünen Hinterzimmern dunkel ersonnen. Sie sind vielmehr im Erfahrungsaustausch mit
unseren europäischen Kollegen und Freunden entstanden. Ich glaube, dass dies der richtige Weg ist.
({5})
Das Vertrauen der Kommission in Brüssel gegenüber Deutschland ist deutlich größer als das gegenüber
Frankreich. Ich nehme das mit einer gewissen Befriedigung zur Kenntnis, weil es bedeutet, dass wir auf dem
richtigen Weg sind, Strukturreformen durchzusetzen,
egal wie schwierig es sein wird. Sie haben wieder deutlich gemacht, dass Brüssel mit seiner Einschätzung, die
Opposition und die Länder in Deutschland seien das
größte Strukturumbau- und Defizitbereinigungsproblem,
richtig liegt. Ich kann das nachvollziehen.
Wir werden versuchen, den Empfehlungen des Europäischen Rates zu folgen. Es ist zum Beispiel starke Kritik daran geübt worden - dies ist klar im nationalen Stabilitätsprogramm ausgewiesen worden -, dass die
Schulden auch deswegen gestiegen sind, weil es im
Gesundheitswesen eine große Ausgabensteigerung gab.
Hier haben wir einen ersten Schritt getan, obwohl Herr
Seehofer inzwischen Bodyguards beantragen muss,
nachdem er die Meinung seiner Fraktion nicht eins zu
eins durchgesetzt haben soll. Immerhin ist ein erster
Schritt getan worden.
Als Nächstes wird über die Frage der Bürgerversicherung zu diskutieren sein. Das können wir gerne im
Detail machen; aber ein solidarisches System muss es
schon sein.
({6})
- Sie werden natürlich immer dann Wettbewerb haben,
wenn Sie nur Gesunde, nur Fitte haben. Nur, was ist mit
den armen Kranken? Herr Gerhardt, wir können das
gerne ausdiskutieren. Es wird Gelegenheit geben, über
die Einführung von Kopfpauschalen und über die Bürgerversicherung richtig zu streiten. Wir werden einen
produktiven Weg finden müssen. Die Grünen sind sehr
engagiert und sehr interessiert daran, einen vernünftigen
Vorschlag zu unterbreiten.
Ich komme auf die Frage der Länder zurück. Denn
die EU-Kommission hat festgestellt, dass diese ein großes Risiko für den Abbau des strukturellen Defizits in
Deutschland sind. Sie hat uns beauftragt, alle staatlichen
Ebenen an einem strikteren Haushaltsvollzug zu messen.
Das hat inzwischen auch Herr Koch zur Kenntnis genommen, aber eher deswegen, weil Herr Stoiber ihn zusammengepfiffen hat, und vielleicht auch deswegen, weil
die Kreditwürdigkeit des Landes Hessen herabgestuft
worden ist. Genannt wurden aber auch die Systeme der
sozialen Sicherung. Dazu haben wir uns zu verhalten.
Über die Länder sollten wir noch einmal sprechen.
Ich komme auf mein Beispiel mit der Familie zurück: Es
reicht nicht, nur in die kleinere Wohnung zu ziehen und
vielleicht die Oma zu bitten, dass sie ein wenig dazugibt.
Es wird vielmehr wichtig sein, dass alle in der Familie
genau schauen, was die Prioritäten sind und was die
wichtigsten Dinge sind, die finanziert werden müssen.
Ich bin sehr dafür, dass wir uns gemeinsam entscheiden,
das Studium des Nachwuchses zu finanzieren.
Danke.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste! Der Bundeskanzler sagt
gern: Wir leben über unsere Verhältnisse. Alle Getreuen
plappern es ihm nach. Aber keiner fragt: Wer ist eigentlich „wir“? Wer ist gemeint? Die „Bild“-Zeitung hat natürlich eine Antwort: Es ist „Florida-Rolf“, der Sozialhilfeempfänger als der Schmarotzer der Nation. Wir
erlebten in diesem Sommer eine Sozialneidkampagne
ohne Beispiel. Diejenigen, die wenig haben, werden gegen diejenigen ausgespielt, die noch weniger haben.
Wenn wir, die PDS, immer wieder vorschlagen, zum
Beispiel eine Vermögensteuer einzuführen, dann hört
man von der rechten Seite des Hauses gern den Vorwurf,
wir schürten eine Sozialneidkampagne. Doch was Herr
Stoiber und Frau Merkel zusammen mit der „Bild“-Zeitung veranstalten, erinnert mich an den Film „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“. Der Arbeitslose soll
sich nicht nur elend fühlen; er soll auch elend aussehen.
Ist es nicht bezeichnend, dass „Florida-Rolf“ zum
Symbol für Schmarotzertum hochgespielt wird, obwohl
er gegen kein Gesetz verstoßen hat? Er hat die geltenden
Gesetze genutzt, aber keine übertreten. Da frage ich
mich: Warum gibt es keine Kampagne gegen Menschen,
die bewusst immer wieder gegen Gesetze verstoßen?
Was ist zum Beispiel mit den Bürgern, die das Gesetz
übertreten und tagtäglich Steuern hinterziehen oder Geld
schwarz ins Ausland schaffen? Wo sind da der Kanzler,
Herr Stoiber und die „Bild“-Zeitung?
({0})
Für diese Leute wird noch ein roter Teppich ausgerollt,
({1})
damit sie mit ihrem Geld zurückkommen, natürlich
straffrei und mit Steuernachlass. Dafür findet man so
blumige Worte wie „Brücke zur Steuerehrlichkeit“.
Nehmen wir Herrn Schoeps - ein Beispiel aus der
Hauptstadt -, den langjährigen Chef der Immobilientöchter der Berliner Bankgesellschaft. Einer der Konstrukteure dieser Skandalbank sitzt übrigens - im Augenblick ist er nicht anwesend - auf den Bänken der
SPD. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär Dietmar
Staffelt. Darüber sollten Sie übrigens in Ihrer Fraktion
noch einmal diskutieren.
Herr Schoeps hat Immobilien aus Großeinkäufen, die
für den Fonds der Bank bestimmt waren, in sein privates
Vermögen übernommen; der Wert beträgt rund 35 Millionen Euro. Herr Schoeps meint, das sei alles rechtens gewesen. Wo sind die Leute, die hier sofort die Gesetze ändern? Wo ist Herr Stoiber, der den Kanzler in seinen Forderungen um 100 Prozent übertrifft? Wo ist die „Bild“Zeitung mit einer entsprechenden Schlagzeile?
({2})
- Die PDS ist hier und spricht gerade zu Ihnen.
({3})
- Im Berliner Abgeordnetenhaus ist die PDS sehr intensiv damit beschäftigt, diesen Bankenskandal aufzuklären, den wir der CDU und der SPD in Berlin zu verdanDr. Gesine Lötzsch
ken haben. CDU und SPD haben in Berlin gemeinsam
diese Bank konstruiert und wir müssen mit unserer Regierung in Berlin versuchen, diesen Scherbenhaufen aufzuräumen. Das ist schwer genug, das kann ich Ihnen versichern.
({4})
Ich habe Ihnen gerade erklärt, dass Vertreter, die diese
Bank mit konstruiert haben, heute noch immer in den
Reihen der Fraktion der SPD hier im Bundestag sitzen.
Vielleicht erinnern Sie sich: Ich habe das schon mehrmals
angesprochen. Ich werde auch nicht müde, das zu tun.
({5})
Der Kanzler hat unter dem Diktat der „Bild“-Zeitung
angekündigt, dass es bald keine Sozialhilfe mehr unter
Palmen geben wird. Das hört sich gut an. Populismus
kommt immer gut an. Aber wo leben wir eigentlich? Ich
habe manchmal den Eindruck, dass das Haus Springer
das tägliche Drehbuch für die Bundesregierung schreibt.
Das ist aber nur möglich, weil die Bundesregierung kein
eigenes Drehbuch hat.
Nicht wir alle leben über unsere Verhältnisse, sondern
man kann ganz konkret benennen, wer über seine Verhältnisse lebt. Ich fange einmal hier im Hause an. Herr
Struck und Frau Beer - sie gehört zwar dem Hause nicht
an, ist aber einer Partei sehr verbunden - leben über ihre
Verhältnisse, 1,3 Milliarden Euro geben sie für Auslandseinsätze der Bundeswehr aus. Wenn es nach Frau
Beer ginge, würden diese Einsätze bald noch mehr Geld
kosten. Frau Beer will bekanntermaßen die Bundeswehr
in den Irak schicken.
({6})
Warum fragt eigentlich keiner, warum Herr Struck und
Frau Beer bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr
über ihre Verhältnisse leben dürfen?
Auch Herr Eichel lebt über seine Verhältnisse. Diese
Regierung ist immer schnell dabei, Steuern zu senken
und Ausgaben im sozialen Bereich zu kürzen. Doch sie
hat total darin versagt, ihre Einnahmen zu sichern, geschweige denn zu erhöhen. Ich erinnere nur an die Körperschaftsteuer, die Sie von rund 25 Milliarden Euro in
einem Jahr auf unter null Euro gefahren haben.
Nehmen wir Herrn Stolpe. Herr Stolpe lebte bekanntlich schon immer über seine Verhältnisse. Seine Großprojekte in Brandenburg brechen alle zusammen und
nun droht auch das Großprojekt LKW-Maut zu einem
Desaster zu werden. Doch ihn allein trifft nicht die
Schuld; denn offensichtlich leben auch einige beauftragte Konzerne über ihre Verhältnisse. Wo ist das Geschrei darüber?
Herr Stolpe ist nicht nur für den Verkehr zuständig,
sondern auch für Ostdeutschland. Den Arbeitslosenhilfeempfängern kann man wirklich nicht vorwerfen, dass sie
über ihre Verhältnisse leben. Wenn es zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe kommt,
dann betrifft das besonders viele Ostdeutsche; denn der
große Teil der Arbeitslosenhilfeempfänger lebt im Osten. Das macht ungefähr einen Kaufkraftverlust - allein
im Osten - von 1,6 Milliarden Euro aus. Da helfen auch
keine netten Ostalgieshows und keine netten Worte von
der Regierungsbank, wie wir sie gestern und heute gehört haben. Die so genannte Arbeitsmarktreform wird
die Menschen härter, aber geräuschloser treffen als die
Flut im letzten Jahr.
Der Einzige, der nicht über seine Verhältnisse lebt, ist
der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Müntefering. Er
ist bescheiden. Er gibt zu, dass er Marx nie gelesen hat.
So war es in der „Berliner Zeitung“ nachzulesen. Ihm
reicht Nächstenliebe als Programm der SPD.
({7})
Ich denke, Herr Müntefering, dass Sie damit schlecht für
das 21. Jahrhundert ausgestattet sind. Denn wenn Sie
Marx gelesen hätten, würden Sie schnell erkennen, dass
diese Regierung und insbesondere Herr Clement ökonomischen Unsinn betreiben. Es ist seit Marx völlig klar,
dass immer mehr Menschen durch Rationalisierung aus
dem Arbeitsprozess herausgedrängt werden. Das betrifft
nicht nur die Produktionsprozesse, sondern auch die
Dienstleistungsprozesse. Wenn Herr Clement das
wachsende Heer der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger drangsaliert und durch das Land treibt, obwohl es
keine Arbeitsplätze gibt, dann zeigt das, dass auch er
nichts von dem gelesen hat, worauf sich auch die Sozialdemokratische Partei gründet.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre gesamte Politik, ob nun auf dem Gebiet der Steuern, der
Gesundheit oder des Arbeitsmarktes, hat eines gemeinsam: Sie ist unsozial. Kollege Kuhn vom Bündnis 90/
Die Grünen hat das im Rahmen eines Interviews in der
„Berliner Zeitung“ zugegeben.
Ihre Politik ist aber nicht nur unsozial; schlimmer ist,
dass sie dabei ist, aus unserer solidarischen Gesellschaft
eine Angstgesellschaft zu machen. Natürlich ist Angst
eine gewaltige Triebkraft, die das Letzte aus den Menschen herausholen kann. Die Frage ist nur, ob die Menschen in unserem Land in Angst leben wollen. Ich bin
mir sicher, viele wären sogar bereit, auf Reichtum zu
verzichten, wenn man ihnen die tagtägliche Angst vor
der Zukunft nehmen würde. Denn diese Zukunftsangst
haben nicht nur Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger,
sie trifft auch immer mehr die Menschen aus der Mittelschicht, die um ihre Jobs fürchten. Wir als PDS wollen
keine Gesellschaft, die auf Angst basiert. Wir wollen
eine solidarische Gesellschaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine solidarische Gesellschaft gesünder,
glücklicher und letztlich auch dauerhafter als diese
Angstgesellschaft ist.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Bundeskanzler hat heute versucht, uns zu vermitteln,
dass es ein Missverständnis sei, wenn man die Ausführungen des Finanzministers von gestern so verstehe,
dass Ostdeutschland an der desolaten Haushaltslage
schuld sei. Der Kanzler hat gesagt, die Bundesrepublik
Deutschland habe mit der Wiedervereinigung ein Problem, das die anderen europäischen Staaten in dieser Art
nicht hätten. So in etwa hat er sich ausgedrückt, wenn
ich mich richtig erinnere. Das stimmt ungefähr, obwohl
man, wenn man in die Geschichtsbücher sieht, feststellen muss, dass es auch in anderen europäischen Staaten
wie in Italien und Polen Wiedervereinigungsprozesse
gegeben hat, die sich allerdings über viele Generationen
hingezogen haben.
Wenn man das gelten lässt, dann ist aber die Frage berechtigt, was dazu geführt hat, dass die Bundesrepublik
Deutschland auf die Wiedervereinigung so wenig vorbereitet war. Meines Erachtens ist es notwendig, darauf
hinzuweisen, dass in den 60er- und 70er-Jahren in der
damaligen Bundesrepublik Deutschland ein großer kollektiver Irrtum in Bezug auf die Überlebensfähigkeit der
DDR entstanden ist. Wenn man die damaligen politischen Debatten mit Blick darauf durchliest, wer am
Entstehen und an der Aufrechterhaltung dieses kollektiven Irrtums am meisten mitgewirkt hat, dann kommt
man auf die deutsche Sozialdemokratie.
({0})
Damit tragen Sie an den Schwierigkeiten schon von Anfang an eine große Mitverantwortung.
({1})
Zurück zu den Ereignissen vor der letzten Wahl. Ich
habe damals auf Wahlkampftour, auf der wir sicherlich
alle waren, einen Bekannten gesprochen, der unter dem
Eindruck des Hochwassers und der Versprechungen der
Regierung sagte, er wähle dieses Mal SPD. Seine Begründung: Die SPD habe in den letzten vier Jahren ein
so großes Chaos angerichtet, dass er es sich allein schon
aus Gründen der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht anders vorstellen könne, als dass sie aus ihren Fehlern gelernt habe und bei ihr der Knoten geplatzt sei. Das Hochwasser müsse quasi als Katalysator wirken, sodass sich
die ganzen katastrophalen Zahlen in Ostdeutschland unter dieser Regierung höchstwahrscheinlich verbessern
würden.
Nun habe ich mit diesem Mann ein Jahr später wieder
geredet. Die Katastrophe ist perfekt: An seine Ausführungen von vor einem Jahr will er gar nicht mehr erinnert werden.
Die Zahlen für Ostdeutschland sind katastrophaler
denn je. Die Arbeitslosigkeit hat sich auf dem doppelten
Niveau Westdeutschlands verstetigt. Die Abwanderung
hat nicht abgenommen, sondern zugenommen. Die Firmeninsolvenzen nehmen zu. Inzwischen kommen sogar
Insolvenzen von Familien hinzu. Die Zwangsversteigerungen häufen sich.
Die Generaltendenz - das ist eigentlich das
Schlimmste -, dass sich der Abstand zwischen Ost und
West weiter vergrößert, anstelle sich zu verkleinern, hat
in den letzten Jahren keine Umkehrung erfahren. Die
Menschen in Ostdeutschland wissen, dass es mit der Angleichung langsam gehen wird; dass die Tendenz aber
nach unten zeigt, das ist nicht hinzunehmen. Diese Entwicklung haben Sie im letzten Jahr wiederum nicht ändern können, obwohl Sie dafür meines Erachtens jede
Menge Möglichkeiten hatten.
Es gibt in Ostdeutschland nämlich sehr wohl Situationen, die man politisch nutzen könnte, weil mit ihnen
eine enorme Aufbruchstimmung verbunden ist. Im Frühjahr dieses Jahres hat die Stadt Leipzig den Zuschlag als
deutsche Bewerberstadt für die Olympischen Spiele
2012 erhalten.
Wenn ich aber die Maßnahmen der Bundesregierung
betrachte, mit denen sie dieser Bewerbung Nachdruck
verleihen will, kommt bei mir allmählich der Gedanke
auf, dass das Spiel schon verloren ist, bevor es begonnen
hat. Wenn man diese Maßnahmen nämlich mit den Aktionen von Herrn Chirac in Frankreich, Herrn Blair oder
Herrn Aznar vergleicht, die vieles dafür tun, damit ihre
jeweilige Bewerberstadt bei der internationalen Ausscheidung für den Austragungsort der Olympischen
Spiele am Ende den Vorzug erhält, dann muss man feststellen, dass die Bundesregierung im Grunde nichts
macht.
({2})
Im Haushalt sind keine Mittel dafür vorgesehen. Auch
der Bundesverkehrswegeplan sieht keinerlei Infrastrukturmaßnahmen vor, um Leipzig einen Vorzug zu verschaffen. Sie haben überhaupt nichts getan.
({3})
Von allen Seiten wurde ein Angebot unterbreitet. Wir
wollen überhaupt keinen politischen Streit über diese
Frage.
({4})
Wir wollen bei Ihnen nur ein Minimum an Bewegung
sehen, ein Zeichen, dass Sie an dieser Sache tatsächlich
interessiert sind. Dieses Zeichen steht seit einiger Zeit
aus. Das muss ich Ihnen einmal sagen.
({5})
Sie haben den 50. Jahrestag des 17. Juni in diesem
Jahr verstreichen lassen, ohne ein weiteres Zeichen nach
Ostdeutschland zu geben. Sie hätten das Zeichen geben
können, dass Sie das Unrecht, das Menschen länger als
eine Generation lang angetan wurde, in irgendeiner
Weise von Staats wegen zur Kenntnis nehmen. Sie hätten den Opfern eine gewisse Anerkennung zuteil werden
lassen können.
({6})
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt.
({7})
Diesen Gesetzentwurf hätten wir gemeinsam beschließen können. Sie haben das nicht getan.
Der Herr Bundespräsident hat gesagt, dass viele der
Menschen, die damals Nachteile hätten erleiden müssen,
erwartet hätten, nach der deutschen Einheit eine Entschädigung zu bekommen. Sie haben sie aber nicht bekommen. Dasselbe hat der Herr Bundesratspräsident gesagt. Auch der Bundestagspräsident hat sich ähnlich
ausgedrückt. Die einzige, die in dieser Frage nicht handelt, ist die Bundesregierung. Sie haben uns auf Ihrer
Seite, wenn Sie auf diesem Gebiet etwas machen wollen.
Wir können das gemeinsam tun. Sie tun es aber nicht.
Die Tatsache, dass Sie keine Zeichen nach Ostdeutschland schicken, trübt den Optimismus dort noch
wesentlich weiter ein. Mittlerweile befinden wir uns an
einem Punkt, an dem wir zahlreiche Ideen, um den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland in Gang zu bringen, als
Luftblasen identifizieren können: Es ging los mit den
Bündnissen für Arbeit, die nichts wurden; dann kam das
Job-AQTIV-Gesetz, das nichts wurde; dann kamen die
Personal-Service-Agenturen, die im Grunde Menschen
schneller zwischen nicht vorhandenen Arbeitsplätzen
hin und her vermitteln sollten; schließlich hatte man die
Idee für das Programm „Kapital für Arbeit“, wobei hoch
verschuldeten Unternehmen weitere Kredite angeboten
wurden. Sie haben Konzepte für Ostdeutschland vorgeschlagen, die ganz offensichtlich nicht funktionieren
konnten.
Es ist selbstverständlich, dass sich die Menschen bei
uns im Osten allmählich auf den Arm genommen und
von dieser Regierung in keiner Weise ernst genommen
und vertreten fühlen.
({8})
Damit Sie das einmal aus Ihren eigenen Reihen hören,
sage ich Ihnen, wie der Kollege Hilsberg heute in der
„Freien Presse“ zitiert wird:
Nach Einschätzung des ostdeutschen SPD-Politikers Hilsberg werden die Probleme in den neuen
Ländern nicht mehr ernst genommen. So habe sich
die Bundesregierung inzwischen damit abgefunden,
dass die Arbeitslosigkeit im Osten doppelt so hoch
sei wie im Westen.
Sie sind im Augenblick dabei, die Arbeitslosigkeit dadurch weiter zu erhöhen, dass Sie durch das Mindestlohngesetz die Mindestlöhne im Baubereich festlegen
wollen. Das würde nach Auffassung der Spitzenverbände weitere 50 000 Arbeitslose zur Folge haben. Angesichts einer solchen Regierung kann ich verstehen,
dass sich viele Ostdeutsche in die Nostalgiewelle flüchten und sagen, dass sie von diesen Leuten wohl nichts
mehr erwarten können.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Müntefering hat sich vorhin dagegen verwahrt, dass die Sozialdemokratische Partei für
das SED-Unrecht in Anspruch genommen wird. Das hat
hier kein Redner aus dem Bereich der CDU/CSU auch
nur versucht. Herr Kollege Müntefering, Sie müssen sich
aber schon daran erinnern lassen, dass es keine relevante
politische Organisation in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, die so sehr die Nähe des SED-Regimes gesucht hat wie die Sozialdemokratische Partei
Deutschlands.
({0})
Ich erinnere insbesondere an die Geraer Forderungen
nach der doppelten deutschen Staatsangehörigkeit.
({1})
Herr Müntefering, Sie waren - ähnlich wie der amtierende Bundespräsident - zu dieser Zeit leitend in der
deutschen Sozialdemokratie tätig.
({2})
Sie haben noch wenige Monate vor dem Fall der Mauer
mit Einheitspapieren deutlich gemacht, dass Sie im Herzen Ihrer linken Seele mehr für die deutsche Teilung als
für die deutsche Einheit eintreten.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haushalt 2004 ist eigentlich nicht das Papier wert, auf dem er
dem Parlament vorgelegt worden ist. Wesentliche
Grundlagen, das Fundament dessen, was uns der Finanzminister heute auch im Kanzleramtsetat vorgelegt hat,
stimmen nicht. Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Wachstumsprognose viel zu optimistisch ist. Auch die Annahme der Bundesregierung,
dass wir im nächsten Jahr durchschnittlich 4,4 Millionen
Arbeitslose haben werden, ist nach Auffassung aller
Wirtschaftsforschungsinstitute fatal.
Der Kollege Glos und ich sind deswegen der Auffassung, dass es das Anständigste wäre, überhaupt keinen
Cent für den Kanzleramtsetat auszugeben. Das wäre die
gerechteste und vernünftigste Lösung bei einer solch falschen Politik.
({4})
In dieser Debatte ist bereits verschiedentlich darauf
hingewiesen worden, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt kein reiner Stabilitätspakt sei; das ist richtig.
Die Akzentverschiebung, die damit einhergeht, dass der
Bundeskanzler heute hier erklärt hat, dass man ein bisschen weniger Stabilität und dafür mehr Wachstum haben
möchte, halte ich aber wirtschaftspolitisch für ausgesprochen gefährlich.
({5})
Man darf die Stabilität nicht gegen das Wirtschaftswachstum ausspielen. Ohne Stabilität wird es kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum in der Eurozone geben.
Wie gesagt: Der Bundeskanzler hat hier und heute formuliert, dass er ein bisschen weniger Stabilität für ein
bisschen mehr Wachstum haben möchte. Ich glaube,
dann würden wir beides erhalten: weniger Stabilität und
weniger Wachstum für Deutschland.
({6})
Die Sozialdemokraten fordern in diesem Zusammenhang eine Wachstumsinitiative. Ich glaube, darüber werden wir alle hier vortrefflich streiten. Das scheint mir
aber ein Synonym für zusätzliche schulden- und defizitfinanzierte Aktionsprogramme zu sein, die auch dadurch
nicht besser oder wirksamer werden, dass sie jetzt gesamteuropäisch initiiert werden. Eine solche Politik hat
bereits in den 70er-Jahren einen Fehlschlag erlitten. Sie
kostet die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik
Deutschland zumeist mehr, als sie ihnen nützt. Deswegen werden wir einen solchen defizitfinanzierten Aktionismus ablehnen.
({7})
Es muss vielmehr darum gehen, dass wir die verschütteten Quellen des Wirtschaftswachstums durch
Strukturreformen wieder freilegen. Ich weise beispielsweise darauf hin, dass insbesondere die Strukturreformen für neue Technologien in der Bundesrepublik
Deutschland bei einer niedrigen Regelungsdichte ansetzen müssen. Ich weise darauf hin, dass Strukturreformen
bei eigenverantwortlich gestalteten Sozialsystemen ansetzen müssen, die Wirtschaftswachstum ermöglichen.
Zudem weise ich darauf hin, dass die Strukturreformen
bei einer sinkenden Staatsquote ansetzen müssen, wobei
Privatisierung als ordnungspolitische Aufgabe und nicht
so sehr vor dem Hintergrund fiskalischer Zwänge zu sehen ist.
In diesem Zusammenhang wird auch heute gelegentlich über das Vorziehen der vierten Stufe der Steuerreform streitig diskutiert. Jeder, der sich ein bisschen
mit Haushaltspolitik beschäftigt, weiß, dass Schulden
die Steuern von morgen sind. Die Bürgerinnen und Bürger wissen: Wenn heute viele Schulden gemacht werden,
werden morgen die Steuern erhöht. Deswegen ist es
wirtschaftspolitisch geradezu verwegen, dass der Bundesfinanzminister im Jahr 2003, für das er bereits eine
Rekordverschuldung zu verantworten hat, vorgeschlagen
hat, die vierte Stufe der Steuerreform auf das Jahr 2004
vorzuziehen und dies ausschließlich über Schulden zu
finanzieren. So steht es zumindest im gegenwärtigen
Haushaltsentwurf. Eine Steuersenkung durch Schulden
zu finanzieren ist wirtschaftspolitisch unsolide. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass das ein ungedeckter
Wechsel auf die Zukunft ist.
({8})
Jetzt höre ich, dass man zur Verringerung der Schulden mehr privatisieren will. Herr Eichel, das große
Privatisierungsvermögen von Post und Telekom haben
Sie bereits ausgegeben. Wir haben hier im Deutschen
Bundestag beschlossen, dass wir dieses Geld für die Alters- und Versorgungslasten der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in den Unternehmen Post und Telekom verwenden. Nach dem gegenwärtigen Stand reicht das Kapital dafür nicht einmal aus. Jetzt also wollen Sie zum
zweiten Mal Post- und Telekomaktien aus Ihrem Bestand ausgeben. Das ist unsolide und wirtschaftspolitisch
verwegen. Die Menschen in Deutschland werden das
nicht goutieren.
Der Haushalt 2004 enthält auch einige Forderungen
im Zusammenhang mit dem Subventionsabbau. Wir
werden uns einem soliden Vorschlag zum Subventionsabbau im Zusammenhang mit der Steuerreform nicht
verschließen; das ist selbstverständlich. In der Debatte
ist deutlich gemacht worden, dass Blockade und Union
zwei Dinge sind, die einander ausschließen.
({9})
Aber ich will auf eine der zwei größten Steuersubventionierungen hinweisen, die in Ihrem Subventionsbericht
enthalten sind, nämlich die Ausnahmetatbestände bei der
Ökosteuer.
Wenn Sie unter Subventionsabbau verstehen, die Ökosteuer weiter drastisch zu erhöhen, insbesondere in den
energieintensiven Bereichen, dann werden Sie selbstverständlich nicht auf die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stoßen; denn hier wird eine Steuererhöhung unter dem Titel Subventionsabbau verkauft. Wir
wollen den Standort Deutschland durch niedrigere
Steuer- und Abgabensätze stärken und nicht die energieund technologieintensiven Branchen vertreiben, indem
hier noch weiter an der Steuerschraube gedreht wird.
({10})
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion scheint schon
zu Beginn der Haushaltsberatungen klar zu sein, dass
das, was Herr Eichel hier vorzulegen wagt, nicht beratungsreif ist.
({11})
Wir raten Ihnen: Machen Sie erst einmal Ihre Arbeit und
bringen Sie dann einen soliden und anständigen Etat in
dieses Haus ein! Erledigen Sie Ihre Gesetzgebungsarbeit, die Grundlage Ihres Etats ist.
({12})
Legen Sie dann dem Parlament einen Etat vor, der zumindest den Grundanforderungen von Haushaltsklarheit
und Haushaltswahrheit entspricht!
({13})
Sie haben uns für 2003 noch einen Nachtragsetat
vorzulegen. Ersparen Sie uns, dass Sie jedes Jahr nach
dem ordentlichen Etat zum Jahresende noch einmal einen Nachtragsetat vorlegen müssen.
({14})
Ein Nachtragsetat ist das Schädlichste, was es im Bereich der Konsolidierung geben kann. Wenn Sie am
Ende eines Jahres einen Nachtragsetat vorlegen, können
Sie bei den Ausgaben überhaupt nichts mehr einsparen.
Sie erhöhen vielmehr ausschließlich die Schulden. Diese
Politik führt in die Irre. Damit werden Sie bei der CDU/
CSU keine Zustimmung finden. Wir wollen eine solide
Haushaltspolitik und fordern die neue Vorlage Ihres Entwurfes für 2004.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Vaatz, ich habe mich bei Ihrer Rede gefragt,
warum Sie all Ihre Forderungen nicht umgesetzt haben,
als Sie noch die Regierung gestellt haben.
({0})
Ich fand Ihre Rede vor dem Hintergrund der Wirkung
des Solidarpakts II nicht angemessen. Sie ist auch hinsichtlich des Ausgleichs bei den Sozialversicherungssystemen nicht angemessen.
({1})
Nun hat die Opposition heute hier herbe Kritik geäußert. Das war nicht anders zu erwarten. Uns und sicherlich auch der Öffentlichkeit ist aber aufgefallen, dass die
Alternativen dünn gesät waren. Auch das war nicht anders zu erwarten. Das ist die Wahrheit.
Bundeskanzler Schröder hat zu unserer Politik heute
geäußert: Wir tun dies alles, damit diejenigen, die nach
uns kommen, eine Chance haben; wir tun dies alles, damit diejenigen, die nach uns kommen, auch eine gute
Zukunft haben.
Ja, wir haben eine große Aufgabe, auch im sozialen
Bereich. Wir haben Veränderungen mit dem Ziel angepackt, Lohnnebenkosten zu senken, um Voraussetzungen
für die Entstehung von mehr Arbeitsplätzen zu schaffen.
Das ist nicht einfach. Der Opposition müsste das auch
noch in guter Erinnerung sein. Sie haben es doch zum
Beispiel fertig gebracht, von 1994 bis 1998 den Rentenversicherungsbeitrag von 19,2 Prozent auf 20,3 Prozent
steigen zu lassen. Eine Mehrwertsteuererhöhung von
1 Prozent für die Rente kam damals noch hinzu.
Gestern haben wir nun das Gesundheitsmodernisierungsgesetz auf die Schiene gesetzt. Wir erreichen damit mehr Qualität, Patientensouveränität, Strukturverbesserungen, den Abbau von Fehl-, Über- und
Unterversorgung und wir haben dabei die Prämisse, die
Lohnnebenkosten zu senken. Das Ganze ist ein Kompromiss. Jeder hat noch Wünsche; für jeden bleiben Wünsche offen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Leistungsanbieter stärker einbezogen werden. Auf der anderen
Seite passt der CDU/CSU beispielsweise das Institut für
Qualitätssicherung nicht.
Wir, auch ich, müssen dabei Kröten schlucken: beim
Krankengeld und beim Zahnersatz. Dies zu beschließen
fällt schwer; aber es ist wichtig, dass die Maßnahmen in
einem solidarischen Rahmen bleiben. Wichtig ist, dass
es eine Überforderungsklausel gibt. So beträgt der
Eigenanteil der Patienten nicht mehr als maximal 2 Prozent des Bruttoeinkommens. Es wird berücksichtigt,
wenn Kinder in der Familie sind und wenn ein Ehegatte
nicht erwerbstätig ist und deshalb keine Einnahmen hat.
Für chronisch Kranke gilt ein maximaler Eigenanteil von
1 Prozent.
Was wäre denn die Alternative? Die Alternative wären höhere Beiträge mit all den Folgen für die Arbeitsplätze. Wir werden dieses Gesetz gemeinsam verabschieden müssen, damit mehr Arbeitsplätze entstehen
und sich damit auch die Einnahmen der Sozialversicherung verbessern.
({2})
Ich erachte es im Sinne von Gerechtigkeit und Solidarität für wichtig, dass das Ganze wirkungsgleich umgesetzt wird, auch für Abgeordnete, für Minister und für
Beamte. Dieses werden wir auf die Schiene bringen.
({3})
Wir haben bei der Arbeitsmarktpolitik neue Wege eingeschlagen: Hartz-Gesetz I und II, dem folgend die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.
Beides sind steuerfinanzierte Systeme. Vorausgegangen
sind Modelle wie MoZArT. Ich habe in Arbeitsämtern, in
denen diese Modellversuche liefen, Gespräche geführt.
Mir wurde gesagt, dass Sozialhilfeempfänger geäußert
hätten, dass sich endlich einmal jemand richtig um sie
kümmere. Das ist wichtig. Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass Menschen aus der Sozialhilfe herauskommen
und existenzsichernde Arbeit haben. Das ist das Ziel und
das werden wir auch erreichen.
({4})
Herr Glos hat genau dieses Projekt heute Morgen bemäkelt. Ich stelle mir wirklich die Frage, warum es nicht
früher angepackt wurde, wenn man dazu Gedanken
hatte. Ich denke, man kommt erst hinter das eine oder
andere, wenn man auf den Oppositionsbänken sitzt.
Demographische Veränderungen machen ein Umdenken notwendig. Ich halte es auch für nötig, dass sich in
der Gesellschaft, in erster Linie aber in den Personalabteilungen der Unternehmen die Einstellung zum
Alter ändert. In 60 Prozent der Unternehmen wird niemand mehr über 50 Jahre beschäftigt. Es sind doch gerade die Unternehmer, die die hohen Lohnnebenkosten
beklagen. Sie haben aber sehr viel zu dem Anstieg der
Frühverrentung beigetragen und damit auch die Misere
der Sozialkassen mit verursacht. Deshalb müssen auch
sie sich der Verantwortung stellen und ihre Mentalität
ändern.
Als frisch gebackene 60-Jährige stelle ich fest: Mit
60 ist man für die Parkbank zu schade. Denn man kann
noch sehr viel bewegen - in der Politik, aber vor allen
Dingen auch in den Unternehmen.
({5})
Unsere Gesellschaft wird älter. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten bleibt konstant. Auch hierbei
muss sich etwas bewegen. Wir stellen uns unserer Verantwortung bei der Krankenversicherung und der Rentenversicherung. Mit der zusätzlich geförderten RiesterRente haben wir bereits den Weg eingeschlagen, um den
Lebensstandard im Alter zu sichern.
Wir haben auch Verbesserungen für Mütter erreicht.
Wir haben von dieser Reform erwartet, dass sie sich
auch in neuen Arbeitsplätzen niederschlägt; aber dieser
Faktor allein war dafür nicht entscheidend. Neue Arbeitsplätze sind nicht in dem Maße entstanden, wie wir
es uns erhofft hatten. Das hat auch Auswirkungen auf
die Einnahmen in der Rentenversicherung. Dabei müssen wir zudem den Doppeltrend von Geburtenlücke und
Alterung berücksichtigen. Entsprechende Vorschläge,
die bereits vorliegen, müssen wir beraten. Veränderungen sind notwendig. Ich denke, daran führt kein Weg
vorbei.
Ich meine aber auch, dass wir keinen Zweifel daran
aufkommen lassen dürfen, dass Solidarität nach wie vor
gilt, Herr Gerhardt. Solidarität heißt für mich, dass die
Jungen für die Alten und Gesunde für Kranke einstehen
und dass starke Schultern mehr tragen als schwache. Ich
finde, eine Diskussion, in der infrage gestellt wird, dass
jemand medizinisch notwendige Leistungen bekommt,
weil er ein gewisses Alter erreicht hat, ist schädlich für
die Gesellschaft insgesamt.
({6})
Ich halte diese Diskussion für schädlich, weil dadurch
bei den Alten, aber sicherlich auch bei den Jüngeren
Ängste ausgelöst werden. Machen wir uns doch nichts
vor: Wir alle wollen doch alt werden und würden gegebenenfalls selber einer solchen Situation ausgesetzt werden.
Solidarität heißt aber auch, dass viele einzahlen müssen, damit diejenigen, die Hilfe bedürfen, diese auch bekommen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Veränderungen auch von der Bevölkerung getragen werden,
wenn sie solidarisch und gerecht sind. Dafür sind wir der
Garant. Ich lade alle dazu ein, daran mitzuwirken, dass
die notwendigen Veränderungen vorgenommen werden.
Diese sollten aber so erfolgen, dass die Menschen keine
Angst vor Veränderungen bekommen. Denn diese
Angst bedeutet wiederum ein Problem für das Wachstum, wenn sie dazu führt, dass Anschaffungen zurückgestellt werden, weil die Menschen nicht wissen, was auf
sie zukommt.
Deshalb richte ich an dieser Stelle meine Bitte an die
Opposition: Schüren Sie keine Ängste! Das ist für unsere
Gesellschaft und für das gesamte System nicht gut. Wir
alle wissen, dass wir schwierige Aufgaben zu schultern
haben. Das wird nur möglich sein, wenn es uns gelingt,
den Menschen Sicherheit zu geben. Wir sollten sie nicht
noch zusätzlich verunsichern.
Danke schön.
({7})
Liebe Frau Kollegin Lotz, nachdem Sie in Ihrer Rede
darauf hingewiesen haben und ich in den Unterlagen gerade gesehen habe, dass Sie gestern Ihren 60. Geburtstag
gefeiert haben, möchte ich Ihnen dazu noch gratulieren.
Dafür ist es ja nicht zu spät.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Deutschland bewegt sich“ - wieder einmal ist unser Land durch eine von unzähligen Plakat- und Anzeigenkampagnen der Bundesregierung zugeklebt worden.
Was Ankündigungen von Bundeskanzler und Bundesregierung wert sind, hat in diesem Jahr die mit großem Getöse angekündigte Hauruckrede vom 14. März gezeigt.
({0})
Von da an bewegte sich bis zum Sommer nämlich gar
nichts mehr. Zum nicht beratungsfähigen Haushalt 2004
liegen nunmehr Haushaltsbegleitgesetze vor, für deren
Themen bereits sehr viel Zeit verloren ging. Aber:
„Deutschland muss sich ja bewegen.“ Deshalb konnte die
Bundesregierung es wieder nicht lassen, sich vor der
Politik und vor den Inhalten erst einmal um die Verpackung zu kümmern. Seit August dieses Jahres hat die ReBernhard Kaster
gierung Deutschland mit 82 Busplakatierungen, 642 so
genannten Mega-light-Plakaten und 17 435 Großflächenplakaten überzogen.
({1})
„Wieder Arbeit“, „Später eine Rente“ oder „Mehr Jobs“,
das sind die plakativen Sprüche, die im drastischen
Widerspruch zur Realität in Deutschland stehen.
({2})
Sie mögen sagen, Wirtschaftspolitik sei immer auch
Psychologie. Aber die besten Motivationskünstler, eine
noch so gute PR-Arbeit und inszenierte Medienauftritte
können keine Inhalte ersetzen. Herr Bundeskanzler, Politik kann auf Dauer nicht durch PR-Arbeit ersetzt werden. Politik gehört hier in den Bundestag, nicht auf Litfaßsäulen, in Kinos und in Anzeigen.
2004 soll die PR-Arbeit aber noch gesteigert und auf
die absolute Spitze getrieben werden. Nach dem vorliegenden Haushaltsentwurf steigen alleine die Mittel für
Öffentlichkeitsarbeit, die unsere Minister unmittelbar
zur Verfügung haben, um 20 Prozent.
({3})
Insgesamt gibt die Bundesregierung nächstes Jahr fast
100 Millionen Euro für Werbung aus.
({4})
Die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit des Bundespresseamtes sollen um 10,4 Prozent, für die des Gesundheitsministeriums um 26,5 Prozent und für die des
Finanzministeriums sogar um 120,5 Prozent steigen.
Das ist im letzten Fall mehr als eine Verdoppelung.
({5})
Aber damit nicht genug: Die Haushaltsansätze werden
von der Bundesregierung auch noch verschleiert und auf
unzählige Haushaltstitel verteilt.
({6})
Millionenbeträge werden zum Beispiel im Umweltministerium für Broschüren oder für so aussagekräftige
Haushaltstitel wie „Kommunikative Begleitung und
Evaluation wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Vorhaben“ veranschlagt.
({7})
Dahinter verbirgt sich nichts anderes als eine
15 Millionen Euro teure Werbekampagne für das als
Flop bezeichnete Hartz-Konzept.
Angesichts der Veranschlagung von über 100 Millionen Euro für PR-Zwecke quer durch den Haushalt muss
die Frage nach Bedeutung und Rolle des Presse- und
Informationsamtes der Bundesregierung, kurz BPA,
gestellt werden.
({8})
Die Aufgabe des BPA ist eigentlich die Koordination der
Außendarstellung von Ministerien und Kanzleramt.
Doch unter Leitung von Staatssekretär Bela Anda beherrschte das BPA in den vergangenen Monaten selbst
die Schlagzeilen und wurde zur Mitteilung. Es gab fast
keine Zeitung und Zeitschrift, die in diesem Jahr nicht
über Skandale rund um oder im Bundespresseamt berichtet hat.
Ich erinnere daran: Der Bundesrechnungshof stellte
gleich mehrfach eklatante Rechtsverstöße bei Auftragsvergaben im BPA fest. Die Staatsanwaltschaft ermittelte
wegen dubioser Vorgänge um verschwundene Disketten.
Immer wieder gibt es gravierende Verstöße gegen das
Vergaberecht. Erst das Bundeskartellamt konnte im
Frühjahr das von Staatssekretär Anda willkürlich abgebrochene Vergabeverfahren wieder in Gang setzen.
({9})
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ich habe inzwischen eine Loseblattsammlung angelegt, die man
demnächst binden lassen könnte. Seit dem Amtsantritt
von Herrn Anda herrschen beispiellose Rechtsverstöße
und Chaos im Bundespresseamt.
({10})
Vor allen Dingen ist aber auch die Selbstversorgungsmentalität ohne Beispiel. Sie hat mittlerweile einen Wasserkopf im BPA geschaffen, mit dem kaum noch ein Ministerium mithalten kann. Im Bundespresseamt gibt es
inzwischen einen Chef, einen stellvertretenden Sprecher
und stellvertretenden Leiter, einen zweiten stellvertretenden Sprecher, einen Chef vom Dienst und einen stellvertretenden Chef.
({11})
Möge auch der eine oder andere Posten seine Berechtigung haben, so muss man sich doch fragen, was beispielsweise den stellvertretenden Leiter vom stellvertretenden Chef unterscheidet.
({12})
Das ist eine Frage, die sich inzwischen auch die Mitarbeiter stellen und die bei uns die Befürchtung aufkommen lässt, nach dem stellvertretenden Leiter und dem
stellvertretenden Chef könnte demnächst noch die Stelle
eines stellvertretenden Bosses geschaffen werden.
({13})
Eine überzogene Öffentlichkeitsarbeit darf und kann
nicht die Hauptaufgabe von Bundeskanzleramt und Bundespresseamt sein. Laut Art. 65 des Grundgesetzes bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und
trägt dafür die Verantwortung. Zu dieser Verantwortung
muss es gehören, bei einem seit Jahren sichtlich überforderten Finanzminister hart einzugreifen, sprich: den Finanzminister zu entlassen, weil er - bei einer Bundesverschuldung von 800 Milliarden Euro und einem
gesamtstaatlichen Defizit von 1,3 Billionen Euro - mittlerweile im dritten Jahr in Folge verfassungswidrig die
Verschuldung in zweistelliger Milliardenhöhe hochtreibt.
Der Gipfel ist: Bereits der Entwurf des Haushalts für
2004 weist - das gab es in dieser Form noch nie - eine
verfassungswidrige Höchstverschuldung aus.
({14})
Eine gesamtstaatliche Neuverschuldung aller Ebenen
von 80 bis 90 Milliarden Euro in diesem Jahr ist unseren
Bürgern überhaupt nicht mehr vermittelbar. Herr Bundeskanzler, angesichts dieser Verschuldung, dieses Hintreibens zum Staatsbankrott müssen wir unsere Kinder
vor diesem Finanzminister schützen.
Ich möchte eine Schlussbemerkung machen. Vor kurzem wurde die Drohung ausgesprochen, der Bundeskanzler und sein Außenminister träten 2006 noch einmal
an.
({15})
Ich will in diesem Zusammenhang auf die Kinderseiten
der Homepage des Bundeskanzlers verweisen, die den
Titel „Kanzler für Kids“ tragen. Dort wird für die Kinder
in unserem Land erklärt:
Der Kanzler ist ein Repräsentant. Deshalb ist es
ganz gut, dass ein Bundeskanzler nicht sein ganzes
Leben Bundeskanzler ist, sondern nur ein paar
Jahre.
({16})
Herr Bundeskanzler, ein paar Jahre sind 2006 mit Sicherheit vorbei. Was man den Kindern verspricht, das
sollte man auch halten.
Vielen Dank.
({17})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Das Wort hat zunächst Herr Bundesminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl
die Außen- und Sicherheitspolitik als auch die Europapolitik stehen im Mittelpunkt dieser Debatte. Sie stehen
seit einiger Zeit - morgen jähren sich die Terroranschläge vom 11. September - auch im Mittelpunkt der
Arbeit, die der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung zu leisten haben.
Ich möchte die Außenpolitik der Bundesregierung in
dieser Debatte vor allem in drei Schwerpunkten darstellen. Der eine Schwerpunkt ist der europäische Einigungsprozess, der mit dem erfolgreichen Abschluss des
Verfassungskonvents einen entscheidenden Schritt nach
vorn gekommen ist. Wir stehen jetzt vor einem weiteren
Schritt. Die Regierungskonferenz muss durch die Vertreter der Mitgliedstaaten juristisch das umsetzen, was der
Konvent in einem Entwurf vorbereitet hat.
Ein weiterer Schwerpunkt sind die anhaltende Herausforderung des Kampfes gegen den Terrorismus
und dabei - im Gesamtzusammenhang von europäischem Einigungsprozess, zusammenwachsendem Europa
und gemeinsamen neuen Bedrohungen durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Fundamentalismus, ja
einen neuen Totalitarismus - auch die Neudefinition
der transatlantischen Beziehungen.
Der letzte Schwerpunkt ist die Frage, wie sich die
Welt von morgen tatsächlich organisieren soll. Wir meinen mit unseren europäischen Partnern, dass sich eine
Welt mit 6 Milliarden Menschen und nahezu 200 souveränen Staaten nur im Rahmen eines effektiven Multilateralismus wird organisieren können. Wir sind auch der
Meinung, dass die Vereinten Nationen ihre Zukunft
nicht hinter sich haben, sondern unter diesen Bedingungen ihre eigentliche Zukunft erst noch vor sich haben:
als die entscheidende Instanz dieses effektiven Multilateralismus.
({0})
Lassen Sie mich zunächst auf Europa zu sprechen
kommen. Es ist völlig klar - wir können das auch an den
aktuellen Krisen sehen; die ganze Debatte heute Morgen, in der es um die wirtschaftliche Erneuerung ging,
hat das gezeigt -, dass selbst die größten Staaten unseres
Kontinents - die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, Spanien, um nur
die sechs größten zu nehmen - ohne den europäischen
Einigungsprozess, ohne die feste Einbindung in Europa
Wohlstand, Sicherheit, Bildung und Ausbildung, soziale
Sicherheit und nachhaltige Entwicklung nicht mehr garantieren könnten. Im Klartext: Unter den Bedingungen
des 21. Jahrhunderts werden auch die größten Mitgliedstaaten nicht mehr die kritische Betriebsgröße haben.
Wenn der europäische Einigungsprozess nicht zustande
käme, würden wir alle gemeinsam verlieren.
Europa steht jetzt vor der Erweiterung. Die Erweiterung bedeutet, dass wir 25 Mitgliedstaaten bekommen.
Vielen Menschen, auch bei uns im Land, stellt sich die
Frage - ich möchte nochmals darauf zurückgreifen -:
Warum diese Erweiterung?
Nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Stabilität,
von Frieden und Sicherheit hat sich unsere Lage nach
der deutschen Einheit durch den europäischen Einigungsprozess dramatisch zum Positiven verändert.
Deutschland liegt heute inmitten eines zusammenwachsenden Europas - eine historisch völlig andere Situation,
als wir sie in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten, ja
Jahrhunderten gehabt haben. Gleichzeitig bedeutet es
eine enorme wirtschaftliche wie auch politische Chance,
dass sich dieses Europa erweitert. Es ist auch eine der
Verpflichtungen, die sich aus dem Ende des Kalten Krieges und der Erfahrung der Spaltung Europas ergeben.
Ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Wir
mussten auch erkennen, dass dieses Europa nicht zwei
unterschiedlichen Prinzipien folgen kann, dass das
Europa der Integration nicht mit dem Europa des Nationalismus koexistieren kann. Es war dies Anfang der
90er-Jahre - auf dem Balkan - eine schlimme Lektion,
die viele unschuldige Menschen das Leben gekostet hat,
die die Europäer, wir alle gemeinsam, zu lernen hatten.
Es war dringend notwendig, zu erkennen, dass diesem
Morden nicht weiter zugeschaut werden konnte. Dass
wir heute auch für den westlichen Balkan die Perspektive hin zum Europa der Integration haben, ist für unsere
Sicherheit ebenfalls von zentraler Bedeutung.
Damit dieses Europa der 25 und mehr Mitgliedstaaten
funktioniert, damit die Erweiterung erfolgreich sein kann,
sind drei Schritte notwendig, die nicht in einer formellen
Verbindung, aber in einem politischen Zusammenhang
stehen. Nach der Erweiterung ist der zweite Schritt die
grundlegende Reform der europäischen Institutionen.
Ursprünglich waren die europäischen Institutionen für
sechs Mitgliedstaaten, später für zwölf Mitgliedstaaten
gedacht und jetzt sind sie für 15 Mitgliedstaaten da.
Schon mit 15 ist es sehr, sehr schwierig. Es wird aber
extrem schwierig, wenn nicht fast unmöglich, sich eine
effiziente, eine transparente und eine im Interesse der
Menschen und der Mitgliedstaaten wirkungsvolle Europäische Union mit 25 und mehr Mitgliedstaaten ohne eine
grundsätzliche Reform und ohne eine Erneuerung der
Demokratie in diesem erweiterten Europa zu denken.
({1})
Darin liegt die eigentliche Leistung des Konvents.
Ich möchte das aufnehmen, was der Bundeskanzler
heute Morgen gesagt hat. Zugleich weiß ich nicht, was
sich der bayerische Ministerpräsident eigentlich vorstellt. Es lehrt uns doch die Erfahrung - das sage ich aus
eigener Anschauung, aber auch Sie haben diese Erfahrung während der Regierungszeit Kohls häufig genug
gemacht -, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Staaten
bei der anstehenden Regierungskonferenz etwas Besseres produzieren, aufgrund der jeweils legitimen nationalen Interessen sehr gering ist. Sollte es tatsächlich Konsens über Verbesserungsvorschläge geben, dann werden
wir die Ersten sein, die diese mittragen würden, denn für
Verbesserungen sind wir immer zu haben.
Zugleich sollten wir aber den Fehler von Nizza nicht
wiederholen. Die große Leistung, die der Konvent erbracht hat, ist, dass zum ersten Mal 28 Beteiligte, nämlich
die Repräsentanten der Parlamente und der Regierungen
der jetzigen und der künftigen Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten, des Europaparlaments und der Kommission, also das institutionelle Quadrat der Europäischen
Union, zusammengearbeitet haben. Nachdem es in Nizza
nicht gelungen ist, mehr als einen Minimalkonsens zu
formulieren, ist ein Konsens über den Verfassungsentwurf im Rahmen der 28 erzielt worden. Deswegen ist
die Bundesregierung so entschieden dafür, diesen Entwurf zu akzeptieren; ansonsten besteht die Gefahr, dass
es zu Verschlechterungen kommt. Natürlich wäre es hervorragend, wenn wir ihn im Rahmen der 25 verbessern
könnten. Wenn nicht, sollten wir aber die Stärke besitzen,
zuzulassen, dass dieser Entwurf, den ich als einen sehr
guten Kompromiss ansehe, auf der Regierungskonferenz
tatsächlich staatsrechtlich finalisiert wird.
({2})
Hätten Sie mich vor dem 11. September 2001 gefragt,
hätte ich Ihnen drei Punkte genannt, die den europäischen Einigungsprozess dynamisieren: die Erweiterung,
der Druck, der sich durch die Einführung des Euro für
die weitere Integration ergibt, und internationale Krisensituationen. Heute stehen die internationalen Krisen
neben der Erweiterung fast an der Spitze der Agenda.
Auch hier müssen wir sehen, dass die Europäer insgesamt in der Frage des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus gefordert sind. Es war für uns völlig
klar, dass wir nach dem mörderischen Angriff auf die
Menschen und die Regierung der Vereinigten Staaten
von Amerika das Äußerste unternehmen müssen - das
haben wir dann ja auch unternommen -, um unseren Anteil im Kampf gegen den Terrorismus zu leisten, und
zwar nicht nur aus Bündnisverpflichtungen, sondern
auch aus der Erkenntnis, dass sich dieser Terrorismus,
basierend auf einem neuen islamischen Totalitarismus,
nicht nur gegen die Vereinigten Staaten von Amerika
und ihre Menschen richtet, sondern auch gegen uns.
Deswegen müssen wir hier gemeinsam dieser Gefahr
entgegentreten und dort, wo es notwendig ist, diesem
Terrorismus auch mit bewaffneten Mitteln das Handwerk legen und seine Strukturen zerstören.
({3})
Für uns war aber auch immer klar, dass es damit nicht
sein Bewenden haben darf. Wenn wir den Kampf gegen
den Terrorismus ernst nehmen, müssen wir auch die Ursachen entsprechend bekämpfen und dort, wo er Kraft
aus unhaltbaren Zuständen zieht und seine territoriale
Rückzugsbasis findet, so lange stabilisierend eingreifen,
bis solche Bedingungen hergestellt sind, dass die Wurzeln des Terrorismus im Boden keinen Halt mehr finden
und die vorhandenen entweder ausgerissen werden oder
vertrocknen.
Der Afghanistan-Konflikt war lange Zeit ein vergessener Konflikt. Er war eine Sache für humanitäre Organisationen, für die Vereinten Nationen und für die Referate für humanitäre Hilfe in den zuständigen Ministerien,
stellte zugleich aber auch eine große menschliche Katastrophe vor allen Dingen für die Kinder, die Kranken
und die Alten im Winter, eines jeden Jahres dar. Dieser
Konflikt war ebenso vergessen, wie andere Konflikte
vergessen wurden. Exakt aus solch einem vergessenen
Konflikt entstand am 11. September eine Gefahr für die
internationale Stabilität und Ordnung. Daraus müssen
wir die Konsequenz ziehen, dass solche Konflikte nicht
mehr dem Vergessen anheim fallen dürfen. Genau daraus
ergibt sich der Stabilisierungsauftrag.
({4})
In der heutigen Welt haben wir es mit drei Ebenen zu
tun: Auf der untersten Ebene der vergessenen Konflikte
stehen Staaten mit zusammengebrochenen Strukturen.
Auf der zweiten Ebene stehen die Konflikte, wo regionale Akteure agieren: Der Nahostkonflikt ist dabei einer
der gefährlichsten, aber auch der Kaschmirkonflikt und
die Konflikte im nördlichen und südlichen Kaukasus und
an vielen anderen Stellen der Welt, insbesondere in
Afrika, zählen dazu.
Die oberste Ebene sind die großen Mächte und ihre
Bündnisse. Wir Europäer werden uns, wenn wir unsere
Sicherheit und die Sicherheit unserer Kinder ernst nehmen, engagieren müssen, vor allen Dingen in unserem
strategischen Umfeld. Wir dürfen nicht einen neuen Totalitarismus zulassen. Deswegen sind wir in Afghanistan. In Afghanistan sein bedeutet, dass wir umsetzen
müssen, was Brahimi gelungen ist, nämlich einen Konsens herbeizuführen und ihn in den Petersberg-Vereinbarungen entsprechend auszuformulieren.
Dazu wird auch gehören, dass wir jetzt über Kabul hinaus Anstrengungen unternehmen. Das heißt im Klartext, dass wir sehr sorgfältig prüfen, wie weit wir uns beteiligen können, nachdem die NATO dort die Führung
des ISAF-Einsatzes übernommen hat, wie weit wir uns
in dem vor uns liegenden Jahr, in dem es in Richtung
Wahlen geht - vorher gibt es noch die verfassungsgebende Loya Jirga -, über Kabul hinaus mit einer so
genannten ISAF-Insel oder mit einem Rekonstruktionsteam auf Provinzebene verstärkt engagieren können.
Kollege Schäuble, ich habe nicht ganz verstanden,
was ich gestern in der „FAZ“ gelesen habe. Sie sagten,
die Begründung für den Einsatz in Kunduz sei falsch.
Ich habe es zweimal gelesen und immer noch nicht verstanden. Das mag ja an mir liegen.
({5})
Aber ich will Ihnen sagen, warum die Entscheidung für
Kunduz richtig ist. Sie haben gesagt: Herat und nicht
Kunduz. Da Sie gestern nicht im Ausschuss waren,
möchte ich hier die Gelegenheit nutzen.
({6})
- Kein Vorwurf! Ich möchte Ihnen hier nur direkt antworten. - In Kunduz haben wir die Zustimmung des regionalen Machtinhabers, um es einmal so zu formulieren.
In Herat sind die Bedingungen, was die Sicherheitslage
betrifft, ebenfalls gegeben, aber es stellt sich die Frage,
ob wir dahin im Konsens gehen oder nicht. Das war letztendlich entscheidend in der Abwägung zwischen Kunduz
und Herat.
So wichtig die NGOs sind: Es geht nicht hauptsächlich darum, NGOs zu schützen. In erster Linie geht es
um den politischen Prozess. Wir werden im nächsten
Jahr einen höheren mobilen Faktor bei ISAF brauchen,
um die Wählerregistrierung und die Wahlvorbereitung
entsprechend umzusetzen. Aber auch das ist es nicht allein, sondern hinzu kommt die Ausdehnung des Institutionenbaus; ich nenne Polizeiaufbau, Ziviladministration, Infrastruktur. In dem Zusammenhang spielen dann
auch die NGOs eine ganz gewiss nicht unwesentliche
Rolle. Das ist der Gesamtansatz.
Es gibt zwei andere Alternativen: Entweder wir bleiben nur auf Kabul begrenzt - das würde bedeuten, dass
wir den Petersberg-Prozess an einem bestimmten Punkt
abbrechen, das kann allen Ernstes niemand wollen oder aber wir brauchen einen Aufwuchs um 10 000 und
mehr zusätzliche Soldaten, was ich schlicht und einfach
unter praktischen Gesichtspunkten in der internationalen
Gemeinschaft als nicht darstellbar und nicht machbar ansehe. Wir müssen dann auch Acht geben, dass wir nicht
die Frage nach der Hilfe zur Selbsthilfe, nach der Hilfe
zur Wiedergewinnung der Souveränität schließlich überlagern durch etwas, was Besatzung heißt.
Das sind die Entscheidungsalternativen, vor denen die
Bundesregierung steht. Ich würde mich freuen, wenn wir
nach einer intensiven Diskussion der noch offenen Fragen auf eine breite Unterstützung des Hauses zurückgreifen könnten.
({7})
Lassen Sie mich zwei weitere Punkte ansprechen:
Auf den Irak ist der Bundeskanzler heute Morgen schon
eingegangen. Ich möchte die Debatte nicht rückblickend
führen, weil wir den Frieden gemeinsam gewinnen müssen. Nur nützt es nichts, jetzt wieder eine militärisch verkürzte Debatte zu führen. Uns wurde offensichtlich - ich
sage das in Richtung der Opposition - lange vorgehalten, für uns seien wesentlich wahltaktische Gründe ausschlaggebend gewesen. Ich habe Ihnen immer wieder
gesagt: Es waren nicht wesentlich wahltaktische Gründe.
({8})
- Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich finde es völlig
legitim - das würde ich Ihnen nie vorwerfen -, dass demokratische Parteien selbstverständlich Wahltermine
und die Frage nach Mehrheit oder nicht Mehrheit in
Wahlen als ein ganz wesentliches Datum ihrer Politik
veranschlagen. Das geschieht nicht nur bei uns, das geschieht, Gott sei Dank, auch bei Ihnen so. Das geschieht
nicht nur hier so, das geschieht auch bei europäischen
und amerikanischen Partnerstaaten so. Das ist völlig
klar.
({9})
- Was heißt hier „instrumentalisieren“?
({10})
- Haben Sie sich einmal überlegt, wo wir heute wären,
wenn wir Ihrem Ratschluss gefolgt wären? Ich habe Ihnen schon im Februar letzten Jahres gesagt, welche
Punkte für uns die wesentlichen waren: erstens, Bekämpfung des Terrorismus. Wurden bei dieser Entscheidung im Kampf gegen den Terrorismus wirklich die
richtigen Prioritäten gesetzt? Würde ein Krieg im Irak zu
diesem Zeitpunkt den Terrorismus eher stärken oder
schwächen? Das war eine ganz entscheidende Frage, mit
der wir nicht irgendetwas instrumentalisieren wollten,
sondern die mehr als legitim war, wie wir jetzt sehen.
({11})
Der zweite Punkt betraf die regionale Stabilität. Wie
sehen die Konsequenzen aus?
Die dritte Frage, die wir immer gestellt haben, lautete:
Sind die Gründe belastbar? In Demokratien sind die
Gründe ganz entscheidend für die Unterstützung durch
die Mehrheit der Bevölkerung, also für die Durchhaltefähigkeit, vor allem wenn es schwierig wird. Unsere
Sorge war immer, dass dies zu einer Entwicklung beiträgt, die die Region alles andere als stabilisiert. Bedeutet es instrumentalisieren, wenn wir das immer wieder
gesagt haben? Oder waren das nicht, vor allem im Nachhinein im Lichte der bitteren Erfahrungen, zwingende
Gründe?
({12})
Ich führe einen weiteren Punkt an, mit dem wir, wie
ich befürchte, ebenfalls zu tun bekommen werden, nämlich die Frage der territorialen Integrität des Iraks. Auch
das ist bezüglich der Konsequenzen für die regionale
Stabilität keine unwichtige Frage.
Auf diesen Gründen haben wir unsere Position aufgebaut. Ich finde, das sind sehr gute und zwingende
Gründe.
Nun möchte ich nicht über die Haltung der Union
diesbezüglich diskutieren; es geht nicht darum, zurückzublicken. Aber Sie sollten zumindest für die Zukunft
aus diesen Erfahrungen lernen. Aus meiner Sicht wird es
entscheidend darauf ankommen, ob die Anwesenheit
fremder Truppen im Irak von der Bevölkerung eher als
Besatzung oder als Befreiung empfunden wird. Das ist
die politische Grundfrage.
({13})
Das heißt, es geht nicht hauptsächlich um die Frage,
ob weitere Truppen in den Irak geschickt werden sollten,
und erst recht nicht darum, ob das westliche oder deutsche Truppen sein sollten. An erster Stelle steht die
Frage, ob die Strategie, die erwiesenermaßen eine Entwicklung eingeleitet hat, die man nicht als gut bezeichnen kann - um es diplomatisch zu formulieren -, nicht
notwendigerweise geändert werden muss.
Deswegen begrüßen wir die Initiative der amerikanischen Regierung in Form eines neuen Resolutionsentwurfes; denn das ist ein sehr gutes Element. Wir sind
der Meinung, dass der möglichst schnelle Wiederaufbau der irakischen Souveränität und Autorität an erster Stelle stehen muss. Der Bundeskanzler hat heute
Morgen in seiner Rede darauf hingewiesen.
({14})
Vorher muss es einen Übergangszeitraum geben. Der direkte Abzug der Truppen würde zu einem Vakuum führen, das hochgefährlich wäre - milde ausgedrückt.
Wir sind der Meinung, dass die Vereinten Nationen
während dieses Übergangszeitraums - Kofi Annan hat
das gestern dankenswerterweise öffentlich gesagt - die
zentrale Rolle spielen sollten. Das halte ich aufgrund der
im Vordergrund stehenden Befreiung und der Transformation zu einer irakischen Souveränität für sehr wichtig.
Darin besteht übrigens einer der zentralen Unterschiede
zum Prozess in Afghanistan. Dort ist es gelungen, einen
Konsens zu erreichen, der zwar fragil ist und enorme
Schwierigkeiten birgt, aber immerhin existiert. Es gibt
einen politischen Prozess der Wiedererlangung der afghanischen Souveränität und das ist von ganz entscheidender Bedeutung.
Ich halte es ferner für dringend geboten, die moderaten arabischen und islamischen Staaten einzubeziehen,
sowohl in der Frage des Wiederaufbaus als auch in der
Frage der Sicherheit.
({15})
Des Weiteren sind wir bereit zur aktiven Beteiligung
an der humanitären Hilfe, wie es der Bundeskanzler
gesagt hat, und zum Wiederaufbau. Wir sind bereit, uns
zu engagieren, wenn die Bedingungen klar sind. Dabei
müssen allerdings Transparenz und internationale Kontrolle herrschen. Das ist für uns ein wesentlicher Gesichtspunkt.
({16})
Ich sehe mit großer Sorge, dass gleichzeitig im Nahen Osten eine dramatische Eskalation droht. Der Terror muss ein Ende haben. Das Existenzrecht Israels ist
für uns als Bundesregierung von entscheidender Bedeutung.
({17})
Seine Menschen müssen in Frieden leben können. Damit
das möglich wird, werden auch die Palästinenser eine
Perspektive brauchen. Sie brauchen einen eigenen demokratischen Staat, eine eigene Zukunft.
({18})
Deswegen wird es am Ende nicht anders gehen als mit
einem solchen Kompromiss. Ich möchte daher an die
Konfliktparteien appellieren, vor allem an die palästinensische Seite, alles zu tun, um den Terror zu unterbinden, ihn zu beenden. Gleichzeitig appelliere ich auch an
die andere Seite, alles zu tun, um eine Rückkehr zum
Verhandlungstisch zu ermöglichen.
({19})
Gerade diese Krisen machen klar, wie wichtig die
transatlantischen Beziehungen sind.
({20})
- Ich will es Ihnen gerne sagen. Wenn wir Ihrem Rat gefolgt wären, dann würden wir uns heute in einer Situation befinden, in der andere Staats- und Regierungschefs
sind. Ich wollte diese Debatte nicht anfangen. Aber ich
habe die Zitate alle da, auch von Ihnen, Verehrter. Ich
habe alle Zitate zu dem da, was Sie vorgeschlagen haben. Ich bin einmal gespannt, was Sie dazu sagen. Ich
kann nur sagen: Es würde Ihnen gut anstehen, sich an
dem Punkt etwas zurückzuhalten.
({21})
- Das will ich Ihnen sagen. Herr Pflüger, ich werde Ihren
Auftritt in München nicht vergessen. Das sollte man sich
noch einmal anschauen.
({22})
Offensichtlich drängen Sie das alles weg.
Für mich ist von entscheidender Bedeutung: Die
transatlantischen Beziehungen sind ein Eckpfeiler für
Frieden und Stabilität. Das heißt, dass wir uns als Partner
begegnen müssen.
({23})
Das heißt aber auch, dass wir den neuen Bedingungen,
den neuen Herausforderungen und den neuen Gefahren
Rechnung tragen müssen. Für unsere Freunde in den
Vereinigten Staaten heißt das: Ein zusammenwachsendes Europa löst einerseits Sorgen aus, bringt aber, wie
wir auf dem Balkan gesehen haben, auch Partnerschaftsgewinn mit sich. Mit diesem dynamischen Faktor
müssen wir umgehen. Daher brauchen wir eine neue
strategische Debatte, eine Grundsatzdebatte im transatlantischen Verhältnis.
({24})
Wenn dies partnerschaftlich und auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Werte geschieht,
dann, denke ich, werden wir einen wichtigen Beitrag zu
einem effektiven Multilateralismus leisten, einem Multilateralismus, dem sich die Bundesregierung verpflichtet
weiß, eingebunden in das zusammenwachsende Europa
und eingebunden in das transatlantische Bündnis.
Ich danke Ihnen.
({25})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang
Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Erklärungen von Außenministern haben es gelegentlich
an sich, dass sie so allgemein und rundgeschliffen sind,
dass sie noch nicht einmal falsch sind. Das war jetzt in
weiten Teilen auch so, Herr Bundesaußenminister. Aber
das, was Sie zum Schluss zum transatlantischen Verhältnis gesagt haben, hat die Union ziemlich genau so schon
vor einem Jahr gesagt.
({0})
Sie haben damals aus Wahlkampfgründen das transatlantische Verhältnis und die europäische Einigung mutwillig und nachhaltig beschädigt.
({1})
Darüber hinaus ist das, was Sie gesagt haben, in seiner Allgemeinheit mit den konkreten Widersprüchen der
Politik der Bundesregierung schwer in Übereinstimmung zu bringen, was man übrigens schon an Folgendem merkt - das nur als Beispiel aus der Debatte von
heute Morgen -: Zu ein und demselben Gespräch, abgedruckt in einer großen deutschen Tageszeitung, für das
mich der Bundeskanzler heute Morgen gelobt hat, haben
Sie jetzt gesagt, Sie hätten es nicht verstanden. Können
Sie sich nicht wenigstens darauf verständigen, wie Sie
die wenigen Sätze, die da von mir zitiert waren, interpretieren? Das ist aber nicht so wichtig.
Frau Merkel hat in der Debatte heute Vormittag dem
Bundeskanzler und der Bundesregierung vorgeworfen,
die Politik der Bundesregierung ermangele eines klaren
Ziels und einer klaren Grundausrichtung. Das ist auch in
der praktischen Ausgestaltung Ihrer Außen-, Sicherheits- und Europapolitik der Fall.
Ich will das am Beispiel Afghanistan erläutern. Sie
haben gesagt, Sie hätten unsere Haltung nicht verstanden. Unsere Position ist völlig klar. Wir teilen die Einschätzung, dass es nicht nur unsere amerikanischen Partner, sondern uns alle betrifft - auch der Bundeskanzler
und Sie haben das heute glücklicherweise gesagt -,
wenn es in Afghanistan oder im Irak schief geht. Wir sitzen in einem Boot; wir sind in dieser globalisierten Welt
eine Schicksalsgemeinschaft im Kampf gegen den interDr. Wolfgang Schäuble
nationalen Terrorismus und gegen Instabilitäten. Die
Entwicklung in Afghanistan, im Irak und im Nahen und
Mittleren Osten berührt nicht nur amerikanische Interessen, sondern auch unsere. Deswegen haben wir ein gemeinsames Interesse, dass das Engagement in diesen
Regionen erfolgreich ist.
({2})
Die Entwicklung in Afghanistan ist so, wie Sie sie beschrieben haben. Wir haben folgende Alternative - der
Verteidigungsminister hat es vor einiger Zeit gesagt -:
Entweder wir erweitern unser Engagement über Kabul
hinaus und schaffen auch an anderen Orten Stabilität
oder wir beschränken uns ausschließlich auf Kabul.
Aber das macht auf Dauer gesehen keinen Sinn, weil
von einer „Insel“ keine positive Entwicklung ausgehen
kann.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben noch nicht erklärt - auch heute nicht -, was sich eigentlich geändert
hat. Ich erinnere mich genau, dass der deutsche Außenminister anlässlich der Petersberg-II-Konferenz im Dezember vergangenen Jahres erklärt hat, eine Ausweitung
von ISAF über Kabul hinaus komme nicht infrage.
({3})
- Ich war gestern in Paris, wo ich mit Ihrem französischen Kollegen gesprochen habe. Die deutsche Botschaft war auch vertreten. Sie werden sicherlich ihren
Bericht bekommen. Fragen Sie doch einmal Ihren französischen Kollegen, was er von Ihrer Politik in Afghanistan hält. Ich darf Ihnen sagen - ich sage es ganz vorsichtig; ich komme gleich noch darauf zurück -:
ziemlich wenig. Das wird auch in dem Bericht der Botschaft über dieses Gespräch stehen.
Ich möchte Ihnen nun die Widersprüche aufzeigen.
Sie müssen sagen, was sich in der Zwischenzeit geändert
hat. Geändert hat sich die Einschätzung - wahrscheinlich richtigerweise -, was das Verhältnis der Zentralregierung in Kabul, der Übergangsregierung Karzai, zu
den regionalen Machthabern betrifft. Sie wollen sich vor
der Antwort auf die Frage drücken, wie sich Ihre Einschätzung geändert hat. Sie stoßen dann nämlich schnell
auf Fragen bezüglich des Drogenanbaus und auf die
Frage, wie das Verhältnis dieser regionalen Machthaber
zum internationalen Terrorismus ist.
({4})
Warum müssen wir eigentlich ausgerechnet in derjenigen Provinz, in der der starke Mann im Kabinett
Karzai das Sagen hat - er unterhält eine Privatarmee in
einem beträchtlichen Umfang -, die Autorität der Regierung Karzai stärken? Das sind Widersprüche, die Sie uns
erklären müssen. Sie müssen das nicht nur uns - der
Bundestag muss diesem Einsatz zustimmen -, sondern
auch den Soldaten der Bundeswehr erklären, denen wir
gemeinsam diese gefährlichen Einsätze zumuten. Das ist
doch der Punkt.
({5})
Ich sage noch einmal, um sicherzustellen, dass wir
nicht aneinander vorbeireden: Wir teilen die Einschätzung, dass die Bemühungen in Afghanistan nicht scheitern dürfen, dass ein Rückzug eine Katastrophe für uns
alle wäre und dass man deswegen das Engagement nicht
allein auf Kabul beschränken darf. Aber wir sind der
Meinung, dass die Begründung stimmiger sein muss, damit wir die Verantwortung übernehmen können, wenn
wir den Soldaten der Bundeswehr diese gefährlichen
Einsätze zumuten.
Ich will noch ein Weiteres sagen. Sie haben vor der
Sommerpause die Zustimmung der Fraktionsführungen
zu einer Fact Finding Mission in Herat erbeten. Wir
haben sie erteilt. Aber wir haben bis heute keinen Bericht über das Ergebnis dieser Fact Finding Mission in
Herat bekommen. Sie müssen sich Folgendes schon vorhalten lassen: Wenn Sie so ausführlich über das Ergebnis
der Mission in Kunduz berichten, aber kein Wort über
das Ergebnis der Mission in Herat verlieren, dann müssen wir den Verdacht hegen, dass irgendetwas an Ihrer
Begründung nicht stimmt.
({6})
Sie legen doch die Unterlagen nicht vor. Sie haben
uns noch nicht einmal den Bericht des zuständigen Bundeswehrgenerals vorgelegt. Ich habe ihn trotz Anforderung vom Verteidigungsministerium nicht bekommen.
Sie haben mehr zu verbergen, als Sie offenbaren wollen.
Wenn wir diese Entscheidung treffen wollen, brauchen
wir Klarheit. Das Konzept muss stimmig sein. Reden Sie
nicht an der Sache vorbei!
({7})
Wir stimmen darin überein, dass sich deutsche
Außenpolitik im Wesentlichen im europäischen Verbund
vollziehen muss. Für die europäische Außen- und
Sicherheitspolitik ist die Beziehung zu unserem atlantischen Partner der entscheidende Punkt. Wir müssen uns
besser verständigen, als es im vergangenen Jahr der Fall
gewesen ist. Die atlantische Partnerschaft wurde mutwillig beschädigt. Die Fehler sind auf beiden Seiten und
nicht nur auf einer Seite gemacht worden. Das haben wir
immer gesagt.
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Struck?
Bitte sehr.
Herr Kollege Schäuble, Sie haben gerade angesprochen, die Bundesregierung habe nicht über die
Ergebnisse des Fact Finding Teams in Bezug auf Herat,
Charikar und zuletzt Kunduz berichtet.
Über Kunduz schon.
Gut, dann eben nur über die ersten beiden Orte nicht.
Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Herr Kollege Schäuble, dass die Bundesregierung über beide
Missionen, also über die in Bezug auf Herat und die in
Bezug auf Charikar, berichtet hat, und zwar der Außenminister im Auswärtigen Ausschuss und ich den Obleuten des Verteidigungsausschusses - in Sondersitzungen -, und dass wir in dem Afghanistanpapier, das wir
den Fraktionen zugeleitet haben, die Gesamtsituation in
dieser Region dargestellt haben?
Herr Kollege Schäuble, ich möchte Sie bitten, den
Vorwurf, wir hätten nicht ausführlich informiert, im Hinblick auf die Informationen, die wir in den Fachausschüssen gegeben haben, zurückzunehmen.
Wenn das gestern gewesen ist, so entzieht sich das
meiner Kenntnis.
({0})
- Vor der Sommerpause konnten Sie nicht über das Ergebnis der Herat-Mission berichten. Die hat nämlich erst
im Sommer stattgefunden.
({1})
Verdrehen Sie die Dinge nicht!
In der Unterrichtung, die die Bundesregierung den
Vorsitzenden der Fraktionen gegeben hat und an der
Frau Merkel und Herr Glos für unsere Fraktion teilgenommen haben, ist nicht über Herat, sondern nur über
Kunduz berichtet worden.
({2})
Sie können äußerstenfalls sagen, Sie hätten gestern darüber unterrichtet. Ich bin heute Morgen aus Paris zurückgekommen und weiß nicht, was gestern gewesen ist. Da
war ich nicht anwesend.
Mein Kenntnisstand ist: In der Unterrichtung der
Fraktionsvorsitzenden über Kunduz haben Sie nicht über
Herat berichtet. Ich vermute, Sie haben dafür Gründe.
Denn es war bemerkenswert, dass an dem Tag, an dem
Sie gesagt haben, die Mission in Kunduz könne man
durchführen, weil es dort hinreichend sicher sei, sodass
man diese Mission den Soldaten der Bundeswehr zumuten könne, während man die Bundeswehr nicht nach Herat schicken könne, die Entwicklungshilfeministerin hat
streuen lassen, nach Herat könne man eine zivile Mission ohne militärische Absicherung schicken. Das mag
zwar Sinn machen; aber man sollte begründen, warum
das eine zu unsicher ist, um die Bundeswehr dort hinzuschicken, und warum man die Bundeswehr an den anderen Ort schickt. Ihre bisherige Begründung macht keinen
Sinn.
Ich wollte damit sagen: Wir wollen gemeinsam unseren Beitrag dazu leisten, Afghanistan zu stabilisieren.
Dabei sollten die Dinge nicht vermischt werden. Sie
sollten genauere und stimmigere Begründungen liefern.
Diese fehlen uns und sollten nachgereicht werden.
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Nolting?
Ich wollte eigentlich noch etwas zu Herrn Struck sagen.
Entschuldigung, ich habe Ihre letzten Sätze als Ende
Ihrer Antwort auf die Frage des Herrn Struck empfunden. Ich habe die Redezeit bisher gestoppt. Sie können
weiter auf Herrn Struck eingehen.
Ich werde gleich noch etwas dazu sagen. - Herr
Nolting.
Herr Kollege Schäuble, teilen Sie mein Unverständnis
darüber, dass es Bundesminister Struck gestern abgelehnt hat, den Bericht des Generals Riechmann an das
Parlament weiterzuleiten, mit dem Hinweis, dies sei ein
Bericht für die Regierung?
Das hatte ich soeben angesprochen. Dieses Unverständnis teile ich ausdrücklich; ich rüge es. Denn die
Bundesregierung kann so nicht mit dem Parlament umgehen, da wir als Parlament als Ganzes die Verantwortung für gefährliche Einsätze der Bundeswehr tragen
müssen.
({0})
Herr Bundesverteidigungsminister, ich habe gerade
von meinem Kollegen Friedbert Pflüger eine Agenturmeldung gereicht bekommen - dies ist eine Meldung der
„Financial Times“ -, in der ich lese, dass Sie beabsichtigen, schon in den nächsten Tagen ohne ein Mandat des
Bundestages ein Organisationsvorauskommando nach
Kunduz zu entsenden.
({1})
- Machen Sie doch hier kein Ablenkungsmanöver!
({2})
Frau Präsidentin, ich würde jetzt gerne die Agenturmeldung vom 10. September vorlesen:
({3})
Für die Entsendung eines Organisationsvorauskommandos unter einem noch weitgehend auf Kabul
beschränkten Bundestagsmandat wolle der Minister
in den nächsten Tagen
- also nicht gestern alle Fraktionschefs um Zustimmung bitten, schreibt
das Blatt. Mit dem Marschbefehl für ein Vorauskommando ohne Abstimmung im Bundestagsplenum definiere Struck die bisherige Parlamentspraxis im Interesse einer raschen Ausweitung des
Afghanistan-Einsatzes um.
Ich sage Ihnen: Ich glaube nicht, dass Sie die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion bekommen werden.
({4})
- Weil Sie damit vollendete Tatsachen schaffen. - Zuerst
müssen die Fragen geklärt werden, dann können wir
über den Einsatz in Kunduz entscheiden. Das kann
schnell geschehen, aber zuerst müssen Sie unsere Fragen
beantworten. Sie sollten nicht durch die Hintertür die
Zustimmung des Parlaments unterlaufen.
({5})
Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Struck?
Bitte.
Herr Kollege Schäuble, manche Ihrer Äußerungen
kann ich mir nur dadurch erklären, dass Sie an Sitzungen, in denen die Bundesregierung informiert, nicht teilnehmen.
({0})
Ich will aber keine Schärfe in die Debatte bringen; denn
ich glaube, wir sind uns in der Zielrichtung einig.
Ich habe gestern im Auswärtigen Ausschuss in einer
Sondersitzung, an der Sie wegen Ihrer Paris-Reise nicht
teilnehmen konnten, und am Morgen den Obleuten des
Verteidigungsausschusses Folgendes erläutert: Das
ISAF-Mandat erlaubt auch eine Bewegung deutscher
Soldaten außerhalb Kabuls, wenn es darum geht, Abstimmungsgespräche zu führen. Ich werde Ihnen das
nachher in der Verteidigungsdebatte ausführlich erläutern können. Im Übrigen bin ich nicht für Agenturmeldungen verantwortlich.
Ich habe übrigens veranlasst, dass auch Ihr Büro einen Brief, den ich an die Fraktionsvorsitzenden geschrieben habe - das haben wir gestern im Auswärtigen
Ausschuss verabredet -, erhält. In diesem Brief informiere ich über das Vorhaben der Bundesregierung und
lege dar, dass wir, wenn unsere Zielrichtung eingehalten
werden soll, noch vor Eintritt des Winters in Afghanistan
eine Art Vorauskommando installieren müssen, das dafür sorgen soll, dass im März das Wiederaufbauteam in
voller Funktion tätig werden kann.
Jetzt sollen ganz praktische Fragen geklärt werden:
Können wir das Gehöft der Amerikaner in Kunduz übernehmen? Was ist mit dem Flugplatz in Kunduz? Wie
sieht die Zusammenarbeit mit den Amerikanern in Bagram und mit der NATO in Kabul aus? Darüber hinaus
müssen viele andere Dinge geklärt werden.
Die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses werden
bestätigen, dass ich das ausführlich dargelegt habe.
({1})
Darüber gab es keinen Beschluss und ich habe auch keinen erbeten. Mein Eindruck war aber - diesem kann
durchaus widersprochen werden; wir diskutieren ja
nachher über den Verteidigungshaushalt -, dass unabhängig davon, ob der Bundestag - wir vermuten, im Oktober - zustimmen wird oder nicht, geklärt werden muss,
unter welchen Bedingungen - sie beziehen sich auf die
dortigen Verhältnisse und auf die Kosten, die auf uns zukommen werden - wir vor Ort sein können. Unter Berücksichtigung dessen ist die Maßnahme, die ich angeordnet habe, sinnvoll.
Ich bitte Sie also, Ihren Vorwurf, ich wolle das Parlament umgehen, zurückzunehmen.
({2})
Auch ich will keine Schärfe in die Debatte bringen.
Wenn es darum geht, Fragen zu klären, die die Entscheidung ermöglichen, dann ist das in Ordnung. Allerdings
fragt man sich, was die Fact Finding Mission getan hat,
wenn jetzt schon wieder erkundet werden soll.
({0})
Das ist eine zweite Frage. Wir werden das klären, aber
das ist nicht der entscheidende Punkt.
Wir alle, unsere Fraktionsvorsitzende, der Kollege
Pflüger, ich und andere, haben gesagt: Wir sind im
Grundsatz der Meinung, dass wir unseren Beitrag, soweit er verantwortbar ist, leisten müssen, um über Kabul
hinaus Stabilität zu schaffen. Wir glauben aber, es muss
eine in sich stimmige und gegenüber den Soldaten begründbare Politik sein.
Ich wünsche mir, Herr Bundesaußenminister, dass ich
auch in dieser Frage in der Realität etwas mehr von gemeinsamer europäischer Politik sehe. Davon ist in Bezug auf Afghanistan überhaupt nichts zu sehen. Deswegen sind die schönen Reden, dass das alles gemeinsames
europäisches Vorgehen ist, nicht mit der Praxis in Übereinstimmung zu bringen. Das ist einer der Punkte, die
wir kritisieren müssen.
Eine gemeinsame Haltung der Europäer in den
zentralen Fragen von Außen- und Sicherheitspolitik ist
genau das, was im vergangenen Jahr gefehlt hat, was
mutwillig zerstört worden ist. Wenn dies jetzt von allen
Seiten, so gut es geht, repariert wird, ist das richtig; wir
begrüßen das. Wir unterstützen es auch, wenn sich der
deutsche Bundeskanzler möglichst bald mit dem amerikanischen Präsidenten trifft. Das ist gut und richtig. Es
ist schlimm, dass daraus überhaupt ein Ereignis werden
musste. Das zeigt, wie falsch diese Politik gewesen ist.
Wir möchten allerdings den Verdacht widerlegt haben,
dass die Außenpolitik der Bundesregierung im Augenblick nur darin besteht, einen Termin für ein solches
Treffen zustande zu bringen. Das ist zu wenig, um Soldaten einzusetzen.
({1})
Herr Bundesaußenminister, Sie haben viele Zitate gebracht. Ich will Ihnen etwas zu unserer Position sagen.
Ich habe hier einmal gesagt, dass man mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein kann. Das gilt auch
für die Frage, ob die Politik der amerikanischen Regierung und des amerikanischen Präsidenten richtig oder
falsch ist. Wir haben es aber mit der Politik der deutschen Regierung zu tun. Für die Politik der deutschen
Regierung in diesem Zeitraum fehlen mir noch immer
die Argumente. Es geht nicht um die Frage, ob die Politik der amerikanischen Administration richtig oder
falsch war, sondern um die Frage, ob die Politik der
Bundesregierung geeignet war, um die Rolle der Vereinten Nationen zu stärken. Durch das Vorgehen des deutschen Bundeskanzlers, der gesagt hat, was immer die Vereinten Nationen beschließen, wir werden uns nicht
beteiligen, wurden die Vereinten Nationen nicht gestärkt,
sondern geschwächt. Das war unser Vorwurf.
({2})
Wir haben Sie immer ermahnt, keine Popanze aufzubauen. Die Politik der CDU/CSU war, dass für die Entscheidung, notfalls auch militärische Mittel einzusetzen,
ein UNO-Mandat Voraussetzung ist. Dabei hatten wir
immer die Hoffnung, dass eine klare und geschlossene
Haltung des Westens und der Vereinten Nationen den
Einsatz militärischer Mittel entbehrlich machen würde.
So ist es leider nicht gekommen. Dazu hat die Spaltung
des Westens einen entscheidenden Beitrag geleistet.
Herr Bundesaußenminister, ich stimme mit Ihnen
überein, wenn Sie sagen, die Rolle der Vereinten Nationen müsse gestärkt werden. Darin sind wir uns völlig einig. Es muss uns aber auch darum gehen, unseren wichtigsten und verlässlichsten Partner in der ganzen
Nachkriegsgeschichte, die Vereinigten Staaten von
Amerika, in dem Sinne zu beeinflussen, dass er sich
stärker multilateralen Entscheidungen anvertraut und
keine - ich glaube, das ist in seinem Interesse - falsche
Zuflucht in unilateralen Entscheidungen sucht. Dazu
muss man den Amerikanern das Gefühl verlässlicher
Partnerschaft vermitteln.
({3})
Wer das nicht tut, der stärkt in Washington keine multilateralen Tendenzen, sondern erreicht das Gegenteil.
({4})
Das war ein Fehler der Politik der Bundesregierung.
Wir müssen ein starkes Europa bilden und so zu einem stärkeren europäischen Partner werden. Wenn der
europäische Partner stärker wird, wird die Bereitschaft
in den Vereinigten Staaten von Amerika größer werden,
zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen, anstatt
unilateral Entscheidungen zu treffen, die am Ende nicht
im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, von
Europa, des Westens und der Welt insgesamt sind. Aber
dazu brauchen wir ein einiges Europa, müssen einen höheren Beitrag leisten und müssen verlässliche Partner
sein.
Es gibt eine Chance. Ich habe in Paris mit großer Befriedigung gehört, dass Sie beabsichtigen, im Rahmen
der bilateralen Gespräche zwischen Frankreich und
Deutschland mit Großbritannien über eine Stärkung der
Zusammenarbeit in der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik zu sprechen. Das ist meiner
Meinung nach der richtige Weg, Großbritannien stärker
einzubeziehen. Ich glaube, dass die britische Regierung
auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Irakkrieges gut beraten ist, eine Mahnung des früheren britischen
Außenministers Douglas Hurd - heute ist er Lord - zu
beherzigen, der gesagt hat, Großbritannien werde die atlantischen Bindungen besser dadurch stärken, dass es einen größeren Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Politik leiste. Alleine ist auch Großbritannien nicht
stark genug, um in Washington einen ausreichend großen
Einfluss auszuüben. Ein gemeinsames Europa ist dazu in
der Lage. Das muss Ziel der Politik sein.
Wir müssen uns in Europa aber darüber verständigen,
dass dieses Europa nicht eine Alternative zur atlantischen Partnerschaft ist, sondern ein wesentlicher Pfeiler
zur Verstärkung, Vertiefung und Verstetigung der atlantischen Partnerschaft. Das ist der entscheidende Punkt.
Wenn das klar ist, dann werden wir auch weiter vorankommen.
({5})
Ich will einen weiteren Punkt anfügen. Es ist im Verhältnis zu unseren künftigen Mitgliedern in der Europäischen Union, zu unseren Nachbarn im Osten und insbesondere zu Polen viel überflüssiges Porzellan
zerschlagen worden. Ich will auf die verschüttete Milch
nicht wieder zu sprechen kommen; es ist passiert.
({6})
- Diese Kritik müssen Sie sich schon gefallen lassen. Es
sind schwerwiegende Fehler passiert. Ich könnte jetzt so
diplomatisch sein wie der Außenminister und sagen, wer
welchen Anteil daran hat. Es war jedenfalls falsch, dass
der Eindruck entstanden ist, es bestehe eine Achse Berlin-Paris-Moskau.
({7})
Es war falsch, dass unsere polnischen Nachbarn eine
Zeit lang das Gefühl hatten, sie müssten sich dafür entschuldigen, dass sie als künftiges Mitglied der Europäischen Union gute Beziehungen zu Amerika haben. Atlantische Partnerschaft und europäische Einigung sind
keine Gegensätze, sondern sind zwei Seiten derselben
Medaille. Sie bedingen sich gegenseitig. Das eine funktioniert nicht ohne das andere.
({8})
- Richtig, aber wir sind nicht der amerikanische Kongress, sondern der Deutsche Bundestag. Deswegen diskutieren wir über die Politik der Bundesregierung.
Ich möchte Ihnen gern einen Vorschlag machen, Herr
Bundesaußenminister. Wir haben das Weimarer Dreieck,
das wir nach dem Fall der Mauer und des eisernen Vorhangs in der Überlegung begonnen haben, dass es nicht
nur bilaterale Beziehungen geben sollte und dass wir unseren wichtigen polnischen Nachbarn in die privilegierte
deutsch-französische Zusammenarbeit einbeziehen müssen, weil das im Interesse aller in Europa ist. Sollten wir
nicht die Chance einer stärkeren Beteiligung Großbritanniens nutzen, um vorzuschlagen, das Weimarer Dreieck
zu einem Viereck zu machen und Großbritannien einzubeziehen? Ich glaube, manches würde einfacher und
wäre gegen Missverständnisse eher gefeit, wenn aus
dem Weimarer Dreieck ein Viereck unter Einbeziehung
von Großbritannien würde. London, Paris, Warschau
und Berlin könnten zusammen ein wichtige Rolle spielen und auch dazu beitragen, die Erweiterung, Stärkung
und Stabilisierung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik voranzubringen. Ich würde
das in diesem Zusammenhang gern anregen.
Zum Thema Irak will ich noch sagen: Ich begrüße,
dass der Bundeskanzler heute in der Tonlage anderes
geredet hat als in den zurückliegenden Wochen. Wir
stimmen ja darin überein, dass wir eine stärkere Rolle
der Vereinten Nationen brauchen. Ich habe vor dem
Krieg im Irak gesagt: Die Amerikaner werden vielleicht
den Krieg alleine gewinnen können, aber den Frieden
nicht.
({9})
Ich fürchte, dass sich das bestätigt. Wenn sie scheitern,
ist es aber auch unser Scheitern. Deswegen haben wir
das gemeinsame Interesse, dass dies nicht eintritt. Wenn
dem aber so ist, dürfen wir den Amerikanern nicht die
notwendige Partnerschaft verweigern.
({10})
- Entschuldigung, vor einem Jahr hieß es: Was auch immer die Vereinten Nationen beschließen, wir werden uns
nicht beteiligen. Dieses Jahr klang es noch eine ganze
Weile so. Heute Morgen klang es ein bisschen besser;
das habe ich ausdrücklich begrüßt.
({11})
Ich will Sie ermuntern, auf genau diesem Weg weiterzugehen, weil es uns allen nützt und weil wir gar kein Interesse daran haben, künstliche Gräben auszuheben. Wir
wollen vielmehr vorankommen.
({12})
Ich will noch eine Bemerkung machen: Wir sind hier
in einer Haushaltsdebatte und irgendwo müssen sich die
hehren Grundsätze auch in Zahlen ausdrücken; sonst ist
alles nur schöngeredet, aber in der Wirklichkeit stimmt
es nicht. Das ist ein Problem, das wir bei der Bundesregierung öfter feststellen. Im Zusammenhang mit dem
Brüsseler „Pralinengipfel“, von dem wir noch immer
finden, dass er nicht die richtige Form verstärkter Zusammenarbeit war, weil er das Missverständnis der Exklusivität zunächst nicht vermeiden konnte, hat damals
sogar der deutsche Bundeskanzler davon gesprochen,
dass es notwendig sei, die Mittel für Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik im Bundeshaushalt zu erhöhen. Wenn
ich in den Haushaltsentwurf hineinschaue - was auch
immer der für eine reale Grundlage hat; darüber ist
schon viel gesagt worden -,
({13})
stelle ich fest: Nichts davon ist im Haushaltsentwurf zu
finden.
Ich habe schon gelegentlich darauf aufmerksam gemacht - das Problem ist nicht in Ihrer Regierungszeit
entstanden, sondern ist ein generelles Problem der Bundesrepublik Deutschland und damit von uns allen -, dass
die Haushalte von Auswärtigem Amt, Verteidigungsministerium und Entwicklungszusammenarbeit zusammengefasst 1990 noch einen Anteil von über 20 Prozent am
Bundeshaushalt hatten. Im Jahre 2002 war der Anteil
dieser drei Haushalte auf unter 12 Prozent am Bundeshaushalt zurückgegangen. Ich habe mir jetzt die aktuellen Zahlen angeschaut: Von 2003 auf 2004 steigt das Volumen des Bundeshaushaltes um rund 3 Milliarden Euro,
die Ausgaben für Auswärtiges, Verteidigung und
Entwicklungszusammenarbeit zusammengenommen
sinken aber um 463 Millionen Euro. Das heißt, auch im
kommenden Jahr geht der relative Anteil unserer Ausgaben in der Bundespolitik für die äußeren Interessen und
für die äußere Verantwortung der Bundesrepublik
Deutschland weiter signifikant zurück. Das ist der falsche Weg.
({14})
Ich bin ganz davon überzeugt: Wenn wir es nicht
schaffen, unserer Bevölkerung wieder und wieder die
Überzeugung zu vermitteln - das ist die Aufgabe politischer Führung -, dass die Wahrnehmung außenpolitischer Interessen, die Wahrnehmung unserer Verantwortung in dieser enger zusammenrückenden Welt eine
prioritäre staatliche Aufgabe ist, eine Aufgabe, deren
Priorität auch im Haushalt erkennbar sein muss, dann
werden wir die Tendenzen in unserer Gesellschaft, denen wir alle unterliegen, dass wir weniger wettbewerbsfähig und zukunftsfähig sind, eher stärken. Eine Gesellschaft, die der Versuchung zur Introvertiertheit nachgibt
und sagt: „Wir haben viele große Probleme, sodass wir
uns um andere nicht kümmern können“, wird im Zweifel
nur ihre Besitzstände verteidigen. Aber eine Gesellschaft, die nur ihre Besitzstände verteidigt, wird zu den
notwendigen Veränderungen nicht bereit sein.
Sie sagen, Deutschland müsse sich mehr bewegen.
Doch Sie untergraben in der Außen-, Sicherheits- und
Europapolitik mit Ihrer mangelnden Führungskraft und
der Unfähigkeit, die notwendigen Prioritäten zu setzen,
die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft. Auch in diesem Sinne hängen die Außen- und Innenpolitik zusammen. Es ist natürlich auch wahr: Wenn wir nicht in der
Lage sind, unsere inneren Probleme zu lösen sowie unsere wirtschaftliche Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit zu verbessern, dann wird auch unser außenpolitischer Handlungsspielraum wesentlich geringer.
Deswegen spreche ich noch einen letzten Punkt an.
Wenn die europäische Politik von so schicksalhafter Bedeutung für uns alle ist - darin stimme ich überein -,
dann bitte ich Sie: Untergraben Sie doch um Himmels
willen die Perspektiven und Chancen für eine Stärkung
der Europäischen Union nicht mutwillig. Mit Ihrer Politik, die Sie gegenüber dem Stabilitätspakt betreiben, legen Sie die Axt an die Wurzeln der europäischen Leistungsfähigkeit und an die Wurzeln des Vertrauens der
Menschen in die Solidität des europäischen Einigungswerks.
Gerade derjenige, der ein starkes Europa will, darf
mit dem Stabilitätspakt nicht so leichtfertig umgehen,
wie Sie das tun.
({15})
Herr Kollege Schäuble, achten Sie bitte auf die Zeit.
Frau Präsidentin, ich hoffe, ich darf noch einige Sätze
sagen. - Wer die Zustimmung der Menschen zum europäischen Einigungswerk und zur Erweiterung, die so bedeutend ist - das hat auch der Außenminister richtig formuliert -, wieder und wieder gewinnen will, der sollte
auch erklären, dass es in unserem Interesse liegt. Er
sollte nicht unsere Haushaltsschwierigkeiten mit unseren
Zahlungsbeiträgen an die Europäische Union begründen,
wie es der Kanzler heute Morgen getan hat, und er sollte
die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen zu akzeptieren, nicht überfordern.
Wir müssen zehn neue Mitglieder in der Europäischen Union erst einmal verkraften. Wer jetzt schon in
einer nicht sehr verantwortlichen Weise über die nächste
Erweiterungsrunde redet, der untergräbt die Bereitschaft
der Menschen, sich der europäischen Schicksalsgemeinschaft anzuvertrauen, die wir brauchen, wenn wir eine
Politik für die Zukunft betreiben wollen.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete
Joschka Fischer das Wort.
Herr Kollege Schäuble, ich respektiere völlig - das
gilt für uns alle -, dass wir nicht immer bei allen Sitzungen dabei sein können und dass Sie einen wichtigen Termin in Paris hatten. Das ist völlig akzeptabel.
Ich kann es aber nicht akzeptieren, dass wir im Ausschuss unterrichten und Sie am nächsten Tag - ich weiß
nicht, woran das liegt - offensichtlich nicht informiert
sind. Alle Fragen, die Sie gestellt haben, wurden diskutiert. Sie können der Meinung sein, dass sie unzureichend beantwortet worden sind. Das würde ich zwar
nicht teilen, aber diese Meinung wäre legitim und akzeptabel. Sie haben hier aber eine Rede gehalten, als ob wir
diese Fragen gestern nicht behandelt hätten. Angesichts
der Botschafterkonferenz und all der anderen Verpflichtungen war es für mich nicht einfach, fast eineinhalb
Stunden gemeinsam mit dem Verteidigungsminister im
Ausschuss darüber Rede und Antwort zu stehen. Insofern finde ich Ihren Vorhalt nicht akzeptabel.
({0})
Deswegen will ich hier den Eindruck nicht stehen lassen, als hätte die Bundesregierung, wissend um die Fragen der Opposition, nicht zu jedem einzelnen Punkt Stellung genommen. Es würde den Zeitrahmen sprengen,
dies jetzt noch einmal ausführlich zu tun.
Sie haben zum Beispiel die Frage gestellt, warum es
Kunduz und nicht Herat sein soll. Ich habe es vorhin gesagt. Es geht dabei auch um die Akzeptanz durch den
dortigen regionalen Machthaber. Kollege Schäuble, in
Afghanistan gibt es überall in der Provinz Privatarmeen,
weil sie ein Element dessen sind, was im Widerstand gegen die sowjetische Okkupation und später im Bürgerkrieg eine Rolle spielte. Wenn man sich den Charakter
Afghanistans mit seiner multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft anschaut, dann weiß man natürlich
nur zu gut, dass auch die tribalistische Struktur eine wesentliche Rolle spielt.
Auch das Verhältnis der Zentrale zu den Regionalstrukturen wurde von uns ausführlich angesprochen. Es
ist eine irrige Vorstellung, zu meinen, in Afghanistan
würde es so etwas wie einen Zentralstaat geben. Diesen
gab es nur zu Zeiten der Diktatur durch die Taliban. Die
Joseph Fischer ({1})
Fragen der Verflechtung und des selbsttragenden Konsenses werden also eine Rolle spielen. Hierzu haben wir
unsere Position ausführlich dargestellt. Daneben haben
wir hinsichtlich der anderen Provincial Reconstruction
Teams auch die Entscheidungsalternativen ausführlich
dargestellt und erklärt, warum es dort notwendig ist.
Opium und die Rauschgiftproduktion allgemein
sind nicht nur Probleme in dieser Region. Wir müssen
realistischerweise sagen, dass das sowohl in Kabul als
auch überall in diesem Land eine - und zwar keine unerhebliche Rolle spielt.
Kollege Schäuble, es liegt in unserem Interesse, dort
den Polizeiaufbau voranzubringen. Das ist ein wesentliches Element für Kunduz und für Kabul, für das unsere
Polizeibeamten eine große Anerkennung erhalten. Ich
habe das mehrmals in Washington gehört.
({2})
Aber der entscheidende Punkt ist ein anderer, Kollege
Schäuble. Rauschgift ist dort gegenwärtig der ökonomische Faktor Nummer eins. Das heißt, wir reden hier
nicht nur über eine üble kriminelle Erscheinung, sondern
wir reden über den Aufbau einer wirtschaftlichen Alternative. Diese wirtschaftliche Alternative ist an die erfolgreiche Umsetzung der Petersberger Beschlüsse gebunden. Auch das wurde ausführlich dargestellt.
Ich konnte Ihre Worte nicht unwidersprochen stehen
lassen und sage auch im Namen des Kollegen Struck:
Diese Bundesregierung und die beiden Minister bemühen sich intensiv darum - wir haben ein Interesse daran,
dass das Parlament eingebunden ist -, auf Einwände einzugehen; denn im Interesse der Soldaten wollen wir einen Konsens erreichen.
Herr Abgeordneter Fischer, als Abgeordneter haben
Sie für Ihre Kurzintervention nur drei Minuten Zeit.
Letzter Satz. Wenn wir solche intensiven Beratungen in
den Sitzungen durchführen, dann müssen wir uns schon
darauf verlassen können, dass wir uns danach keine Vorwürfe von jemandem anhören müssen, der - meinetwegen
aus guten Gründen - nicht dabei sein konnte.
({0})
Herr Kollege Schäuble, Sie haben das Recht zur Antwort.
Herr Kollege Fischer, vier Punkte. Erstens. Es hilft alles nichts: Meine Kollegen, die in der Sitzung anwesend
waren, erklären, dass Sie all diese Fragen gestern in der
Ausschusssitzung nicht beantwortet haben.
({0})
- Entschuldigung, das sagen die doch.
Herr Kollege Fischer, ich möchte Ihnen gerne antworten. Bitte schenken Sie mir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit, wenn ich Ihnen antworte.
Zweitens. Ich bin sehr dafür, dass wir die Fragen, die
wir auch gegenüber der Öffentlichkeit und insbesondere
gegenüber den Soldaten der Bundeswehr verantworten
müssen, in öffentlichen Sitzungen hier im Deutschen
Bundestag und nicht nur in vertraulichen Ausschusssitzungen behandeln.
({1})
Drittens. Es bleibt dabei: Die Bundesregierung hat
unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers die Vorsitzenden
aller Fraktionen in der vergangenen oder vorvergangenen Woche über Kunduz unterrichtet. Das ist die Grundlage. In dieser Unterrichtung ist über Herat überhaupt
nicht gesprochen worden.
Viertens. Herr Bundesaußenminister, Sie haben auch
in Ihrer Kurzintervention kein Wort dazu gesagt, was
sich seit Petersberg II in Ihrer Bewertung zum Verhältnis von Zentralregierung in Kabul und Provinz bzw. regionalen Machthabern verändert hat. Damals haben Sie
erklärt, dass eine Ausweitung des Einsatzes über Kabul
hinaus nicht infrage kommt. Jetzt sagen Sie das Gegenteil. Meine Vermutung ist, dass Sie genau darauf nicht
eingehen wollen, weil Sie dann zugeben müssten, dass
das so viel gepriesene Petersbergkonzept nicht ganz so
stimmig war. Wahrscheinlich ist auch die Roadmap im
Nahen Osten nicht ganz so erfolgreich, wie es bisher
ausgesehen hat.
Das Drogenproblem können Sie nicht als ökonomischen Faktor hinstellen. Ich sage Ihnen: Die Drogenverbreitung ist eine der großen Gefahren für die Weltpolitik
insgesamt und eine Finanzquelle für den internationalen
Terrorismus.
({2})
Ich will nicht, dass am Ende Soldaten der Bundeswehr
regionale Machthaber und Drogenbosse unterstützen
und schützen.
({3})
Dazu darf es nicht kommen.
({4})
Mir liegen hierzu mehrere Wortmeldungen vor. Ich
bin aber gehalten, zu verhindern, dass sich aus Kurzinterventionen zusätzliche Debattenschlaufen ergeben. Da
noch zehn Redner das Wort haben, glaube ich, dass noch
genügend Gelegenheit besteht, den Sachverhalt während
dieser angemeldeten Reden zu klären.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Gernot Erler das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über die internationale Politik der
Bundesregierung, besonders über die Außen- und Sicherheitspolitik. Ich möchte im Namen der SPD-Bundestagsfraktion erklären: Diese Politik folgt klaren Prinzipien. Sie ist verlässlich. Sie ist getragen vom
Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Menschen in
unserem Lande, besonders auch gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, die wir in gefährliche Auslandseinsätze schicken, und vom Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Weltgemeinschaft, die nach wie vor große
Herausforderungen zu bestehen hat. Weil das alles so ist,
findet die deutsche Politik in der Welt, die Politik von
Bundeskanzler Gerhard Schröder, von Außenminister
Joschka Fischer, von Verteidigungsminister Peter Struck
und Entwicklungsministerin Frau Wieczorek-Zeul auch
eine breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
und hohe Anerkennung in der internationalen Gemeinschaft.
({0})
Herr Kollege Schäuble, daran können Sie mit Ihrer Rede
nichts ändern, die Sie im Wesentlichen dazu benutzt haben, Informationen einzuholen, über die andere Mitglieder dieses Hauses schon verfügen. Das ist nicht der Sinn
einer Plenardebatte.
({1})
Morgen jährt sich zum zweiten Mal der 11. September 2001. Das erinnert uns an schreckliche, schwer erträgliche Bilder und erinnert uns an die vielen unschuldigen Opfer des 11. September und der späteren
Anschläge. Das ist Gelegenheit, noch einmal zu betonen:
Die Bundesrepublik Deutschland hat dem angegriffenen
Amerika von der ersten Minute an beigestanden, hat umfangreiche Beiträge im Kampf gegen den global agierenden Terrorismus geleistet und tut dies auch heute. Heute,
zwei Jahre nach dem 11. September 2001, ist dieser
Kampf noch immer nicht gewonnen. Darauf hat der
Bundeskanzler heute Morgen mit Recht hingewiesen. Es
sind sogar neue, verlustreiche Fronten entstanden, so
etwa im Irak.
Ich stelle hier noch einmal für die SPD-Bundestagsfraktion fest: Es war richtig, dass die Bundesregierung
mit vielen anderen Staaten dem Irakkrieg nicht zugestimmt hat, dass sie versucht hat, ihn zu verhindern, und
dass sie nicht an ihm teilgenommen hat.
({2})
Auch vier Monate nach dem Ende des Krieges fehlt
jeder Hinweis auf Querverbindungen des ehemaligen
Regimes von Saddam Hussein zu al-Qaida, fehlt jede
Spur von den angeblichen Massenvernichtungswaffen,
die an Terroristen hätten weitergegeben werden können.
Ja, es fehlt sogar jeder Beleg dafür, dass es entsprechende Programme oder Anlagen für solche Waffen gegeben hat.
Das bedeutet aber: Der Irakkrieg hatte nichts mit dem notwendigen Kampf gegen den internationalen Terrorismus
zu tun. Wir weisen weiterhin jeden Versuch zurück, ihn
da einzuordnen oder ihn so zu legitimieren.
({3})
Vielmehr sind nach dem Irakkrieg unsere Voraussagen in
schlimmster Weise eingetroffen, nämlich dass die internationale Terrorbekämpfung einen Rückschlag erlitten
hat und dass jetzt im Irak die Netzwerke ein neues Betätigungsfeld finden, wo sie die Verzweiflung der Menschen über die chaotischen Verhältnisse vor Ort erbarmungslos nutzen, wo sie viele, auch so genannte weiche
Ziele finden und mit ihren Anschlägen Amerika treffen,
aber auch die ganze Weltgemeinschaft herausfordern
können. Der Irakkrieg hat dem Kampf der Weltgemeinschaft gegen den weltweit agierenden Terrorismus geschadet.
({4})
Ich hatte gehofft, dass der amerikanische Präsident
die Gelegenheit seiner Rede vom letzten Sonntag nutzen
würde, um sich offen mit dieser Entwicklung auseinander zu setzen. „Offen“ hätte bedeutet, sich auch zu den
Fehleinschätzungen zu bekennen, was die unmittelbare
Gefahr, die von diesem Regime ausging, und was die
Massenvernichtungswaffen angeht. Das ist leider nicht
passiert.
Stattdessen sind wir erneut mit dem Versuch konfrontiert worden, den Irakkrieg als Teil des Kampfes gegen
den internationalen Terrorismus darzustellen. Folgerichtig kam dann die Aufforderung an die Verbündeten und
die Länder, die sich nicht an diesem Krieg beteiligt haben, jetzt die Gelegenheit zur Umkehr zu ergreifen und
ihre Pflicht zu erfüllen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Amerika selbst,
aber auch anderswo gibt es Zweifel an der Wirksamkeit
solcher Empfehlungen. Das zeigen übrigens auch die
Kommentare im In- und Ausland. Die „Frankfurter
Rundschau“ hat zum Beispiel von Patzigkeit gesprochen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ titelte einen
Kommentar mit „Rhetorik der Zumutung“. Ich mache
mir diese Bewertung überhaupt nicht zu Eigen, aber ich
nehme dieses alles noch einmal zum Anlass, um festzuGernot Erler
stellen: Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt ihre
Pflichten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Sie wird dies auch weiterhin tun und braucht dafür
keinerlei Ermahnung, egal von wem.
({6})
Es wäre im Übrigen sehr gefährlich, sich jetzt an dem
Prozess zu beteiligen, alle internationalen Ressourcen allein auf den Irakkonflikt zu konzentrieren. In Wirklichkeit gibt es derzeit fünf verschiedene Regionen, in denen
die Fragen des Weltfriedens und des Kampfes gegen den
Terrorismus entschieden werden. Zu diesen Regionen
zählt neben dem Irak zweifellos Afghanistan. Hinzu
kommt - der Bundesaußenminister hat eben darauf hingewiesen - der Nahe Osten mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt, in dem die Friedensbemühungen
gegenwärtig einen Tiefpunkt erreicht haben, übrigens
entgegen allen Voraussagen, dass die Beseitigung des
Regimes Saddam Husseins den Weg für den Frieden
freimachen würde. Eine weitere Region, die nicht vergessen werden darf, ist Afrika,
({7})
da wir doch wissen, dass die dortigen Bürgerkriege nicht
unbeantwortet bleiben können und dass man sich dort
engagieren muss, weil solche Kriege dem Terrorismus
Möglichkeiten bieten, ja geradezu Biotope für den Terrorismus darstellen. Schließlich meldet sich gerade in
diesen Tagen der Balkan mit den neuen Problemen in
Mazedonien in schmerzlicher Weise zurück und erinnert
uns daran, dass die Aufgaben auch dort noch nicht erfüllt
sind.
Deswegen ist es eine völlig falsche Betrachtungsweise, etwa unseren Einsatz in Afghanistan als zweitrangig anzusehen. Es ist vielmehr erstrangig und notwendig, nicht alle Ressourcen im Irak einzusetzen,
sondern die anderen Aufgaben als gleichrangig anzusehen und sie prioritär zu erfüllen.
({8})
Ich kann nur immer wieder feststellen: Der wirkliche
Testfall im Kampf gegen den Terrorismus ist die Frage,
ob wir in Afghanistan Erfolg haben werden oder nicht.
({9})
Deswegen ist es richtig, dass wir die Kontinuität beibehalten und dass nach der umfangreichen humanitären
Hilfe, dem Petersberg-Prozess und unserem Engagement
in der Operation Enduring Freedom und vor allem bei
ISAF tatsächlich eine Antwort darauf gegeben wird,
Herr Schäuble, wie die nächsten Stufen des Normalisierungs- und Stabilisierungsprozesses in Afghanistan abgesichert werden können. Die nächsten Stufen sind der
Verfassungsprozess in der Loya Jirga und - das ist jedenfalls in Petersberg vereinbart worden - Wahlen, die im
Juni nächsten Jahres stattfinden sollen.
Es waren die Amerikaner, Herr Schäuble, die als erste
über die auf dem Petersberg getroffenen Vereinbarungen
hinaus Handlungsbedarf festgestellt und die Bildung von
Regionalen Wiederaufbauteams beschlossen haben,
um der Bevölkerung zu zeigen, dass die Übergangsregierung Karzai nicht nur in Kabul etwas zu sagen hat
und dass es auch in den Provinzen ankommen muss,
dass sie etwas für die Bevölkerung tun kann. Das ist der
Schwerpunkt der Regionalen Wiederaufbauteams. Damit ein vernünftiger Wahlkampf mit fairer Betätigung
von verschiedenen Parteien stattfinden kann, ist eine Atmosphäre der Freiheit notwendig.
({10})
Das ist die inhaltliche Begründung für die Wiederaufbauteams. Ich bedauere, dass diese Begründung immer
noch nicht bei Ihnen angekommen ist. Wir werden die
Ausweitung unseres Einsatzes in Afghanistan in aller
Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, die dort tätig sind, sehr gründlich vorbereiten und
beraten. Das ist bereits auf dem Weg. Dies und nichts anderes ist der Testfall im Kampf gegen den Terrorismus.
({11})
Ich bin froh darüber, dass Sie dem im Prinzip zustimmen. Meine Fraktion wird die Arbeit der Bundesregierung zu dieser notwendigen Ausweitung unseres Einsatzes vor Ort konstruktiv und sehr sorgfältig begleiten und
unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Werner
Hoyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An die Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Ausschuss gewandt, möchte ich anmerken: Mir wird angst
und bange, wenn ich heute höre, was wir gestern angeblich alles in der notwendigen Tiefe behandelt haben. Um
ein bisschen transparenter zu machen, wie das wirklich
vor sich geht, weise ich darauf hin, dass der Ausschuss
gestern von 17.05 bis 18.15 Uhr getagt hat,
({0})
wobei von vornherein klar war, dass der Bundesminister
des Auswärtigen um 18.00 Uhr würde gehen müssen,
was er aber dankenswerterweise erst um 18.15 Uhr getan
hat.
Zunächst hat uns Minister Struck zehn Minuten präzise und knapp zu dem Themenbereich berichtet, der zu
diskutieren ist. Dann hat uns der Bundesminister des
Auswärtigen 25 Minuten lang äußerst ausführlich die
Weltläufe erklärt. Danach haben die Vertreter der vier
Fraktionen insgesamt 15 Minuten Gelegenheit gehabt,
ihre Position darzustellen und Fragen zu stellen. Anschließend wurden ihre Fragen in der üblichen arroganten Art abgebürstet bzw. bramarbasierend beantwortet.
({1})
Da keine weiteren Beratungsmöglichkeiten bestanden,
({2})
gab es auch keine Gelegenheit mehr, zu dem präzisen
Bericht von Herrn Struck über das Standorterkundungsteam Stellung zu nehmen.
({3})
- Auch ich kann die Aufregung nicht verstehen, Frau
Kollegin Zapf.
Ich finde, das, was vom Standorterkundungsteam geleistet werden soll, ist erforderlich, wenn die Bundesregierung nach einem entsprechenden Beschluss des Kabinetts und der Einbringung in den Deutschen Bundestag
unsere Fragen beantworten soll. Von der Form her ist
diese Angelegenheit nach meiner Auffassung sowohl
durch das ISAF-Mandat als auch durch den Beschluss
des Bundestages gedeckt.
({4})
Außerdem bin ich der Auffassung, dass dieser Vorgang erneut bestätigt, dass wir uns im Rahmen der Beratungen des Geschäftsordnungsausschusses über das Entsendegesetz präziser mit der Frage befassen müssen,
wann ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorliegt.
({5})
Nach meiner Auffassung ist das kein Einsatz bewaffneter Streitkräfte; denn ein solcher soll ja erst vorbereitet
werden. Daher halte ich die Aufregung für verfehlt.
Zur Sache selber: Dass die Herausforderungen für unsere Außenpolitik und für die internationale Politik in
den nächsten Jahren gigantisch sein werden, ist klar. Die
Aufgaben im Zusammenhang mit der Bekämpfung des
internationalen Terrorismus sind bei weitem nicht bewältigt. Die regionalen Konflikte, gepaart mit religiösem Fanatismus und teilweise finanziert aus Quellen der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus, drohen
auszuarten, bis hin zum Kampf der Kulturen. Wenn dieser nicht eingedämmt werden kann, dann wird er eines
Tages nicht mehr nur in fernen Ländern, sondern auch
vor unserer eigenen Haustür stattfinden oder sogar in unsere eigenen Häuser hineingetragen werden. Deswegen
müssen wir uns den diesbezüglichen Fragen sehr intensiv zuwenden.
Hochgefährliche Waffen, insbesondere Massenvernichtungswaffen, vagabundieren durch die Welt. Wir haben, wie der Fall des neulich gesunkenen russischen
Atom-U-Bootes zeigt, bis heute noch nicht einmal ernst
zu nehmende Konzepte, aus denen hervorgeht, wie wir
mit den Gefahren, die von den Waffen der ehemaligen
Sowjetunion ausgehen, fertig werden können. Neue Initiativen im Bereich von Abrüstung und Nichtverbreitung
sind nicht in Sicht.
Zu diesen drei Themenkomplexen könnte man noch
vieles ergänzen. Aber eines verbindet alle drei: Niemand
wird sich diesen Herausforderungen alleine stellen können. Das können wir nur zusammen.
({6})
Das haben mittlerweile alle begriffen. Auch die Vereinigten Staaten haben das schmerzlich lernen müssen.
Wir sollten darüber keine Häme empfinden, sondern das
als eine Chance betrachten; denn wir haben ein nachhaltiges Interesse daran, dass unsere amerikanischen
Freunde Erfolg haben.
Wir müssen mit dem Gejammer über Unipolarität und
Hegemonie aufhören. Das Bild der Polarität stimmt
heute nicht mehr. Wir stellen fest: Es gibt eine Macht,
die alle anderen Staaten wirtschaftlich und militärisch
überragt, die gleichwohl auf Kooperation angewiesen
ist. Erfreulicherweise sind wir mit dieser Macht sehr eng
verbündet und befreundet. Darin liegt für uns auch eine
Chance; denn Amerika merkt, dass es Freunde, Allianzen und sogar die Vereinten Nationen braucht. Wenn
selbst Amerika überfordert ist, seine Interessen im Alleingang zu vertreten, dann gilt das für eine regionale
Macht wie Deutschland erst recht. Das müssen wir uns
klar machen, wenn wir unsere Chance nutzen wollen.
Für uns Deutsche bedeutet das, unsere Interessen mit denen unserer Freunde und Nachbarn zu bündeln und gemeinsam zu vertreten. Die Bündnisfähigkeit ist für
Deutschland deshalb Staatsräson.
({7})
Es ist in unserem vitalen nationalen Interesse, dass die
Europäische Union, die NATO und die Vereinten Nationen intakt sind, funktionieren und die von ihnen erwarteten Rollen spielen können. Genau daran hat es in den
letzten Jahren gehapert, woran die Regierung der Bundesrepublik Deutschland alles andere als unschuldig ist.
({8})
Nach dem 11. September 2001 rief das Bündnis den
Bündnisfall aus und ward danach nicht mehr gefragt.
Auch das hat die Bundesregierung zugelassen. Wir haben
das immer kritisiert. Die Europäische Union macht gerade einen Quantensprung in ihrer Integrationsentwicklung. Ich finde übrigens, dass der Verfassungsentwurf ein
beachtlicher Text ist. Fast alle größeren Änderungswünsche, die jetzt von den Partnern in der Europäischen
Union vorgetragen worden sind - hier stimme ich dem
Bundeskanzler zu -, führen in die falsche Richtung. Sosehr die eine oder andere Änderung auch aus unserer
Sicht wünschenswert erscheint: Wer das jetzt vorliegende Paket noch einmal aufschnürt, wird das Gesamtvertragswerk, die europäische Verfassung nicht verbessern, sondern verschlimmbessern.
({9})
Gerade in der Phase, wo die Europäische Union
außenpolitisch noch nicht voll handlungsfähig ist - leider enthält der Verfassungsentwurf, was die Verfahren
der Entscheidung über die Außenpolitik angeht, eine
Schwäche -, brauchten wir eine handlungsfähige, sich
auf einfachere Entscheidungsverfahren abstützende europäische Außen- und Sicherheitspolitik; sie ist nötiger
denn je.
In dieser Zeit stecken die Vereinten Nationen in
einer tiefen Krise. Das haben wir in den letzten Jahren
gemerkt. Kofi Annan macht jetzt aus der Not eine Tugend. Wir sollten ihn dabei nach Kräften unterstützen.
({10})
Das ist die Chance, die Entscheidungskompetenz, die
Führungsrolle in den Rahmen der Vereinten Nationen
zurückzuholen, und es ist die Chance, das nachzuholen,
was in den 90er-Jahren leider verpasst worden ist, nämlich die Reform der Vereinten Nationen voranzutreiben.
({11})
Als nicht mehr jede Initiative dem Veto- oder dem
Blockadeautomatismus sofort unterworfen war, war das
doch das „Fenster der Gelegenheit“. Wir müssen jetzt
schnell dabei vorankommen, das, was verpasst worden
ist, nachzuholen.
Auch Deutschland hat nach meiner Auffassung zur
Schwächung der internationalen Organisationen beigetragen, nicht etwa, weil man deutlich gemacht hat,
dass der Krieg im Irak nicht gerechtfertigt ist - das war
sowohl meine als auch die Meinung der gesamten FDPFraktion -, sondern weil Deutschland mit der Kategorisierung seiner eigenen Position - man hat gesagt, dass
sich Deutschland an einem militärischen Einsatz im Irak
auf keinen Fall beteiligt, egal wie UNO, NATO oder EU
entscheiden - die Chance verpasst hat, Einfluss auszuüben und Verantwortung zu übernehmen. Die Bundesregierung hat der Arroganz der Macht die Arroganz der
Ohnmacht entgegengesetzt. Das war ein schwerer Fehler.
({12})
Wir müssen zusehen, dass wir im Irak tatsächlich
vorankommen. Natürlich ist es kaum vorstellbar - diese
Auffassung teile ich -, dass diejenigen, die den Irakkrieg
- anders als die Amerikaner - für durchaus vermeidbar
gehalten haben, nunmehr unter amerikanischem Oberbefehl Besatzungsmacht spielen. Aber eine Mandatierung
der NATO durch die Vereinten Nationen, eine Führung
der UNO-mandatierten NATO-Mission durch den
SACEUR könnten immerhin zwei sonst konfligierende
Bedingungen - nämlich amerikanischen Oberbefehl und
NATO-geführte Operation - auf charmante Weise miteinander verbinden. Ich halte auch eine Trennung der
Operation nach dem Vorbild von ISAF und Enduring
Freedom, wie wir sie in Afghanistan erleben, durchaus
für ein Modell, das man diskutieren kann.
Es geht auf jeden Fall nicht mehr darum, die alten
Auseinandersetzungen über die vermeintlich nachträgliche Legitimation des Irakkrieges fortzuführen. Jetzt gilt
es, beherzt anzupacken, den Menschen in diesem geschundenen Land eine Perspektive zu geben, und vor allen Dingen geht es darum, ihnen nach Jahrzehnten der
Unterdrückung ihre Würde zurückzugeben. Daran hat
es vor dem Krieg und, wie ich finde, auch nach dem
Krieg gefehlt.
({13})
Deutschland sollte dabei in Abstimmung mit seinen
europäischen Partnern und im Rahmen der NATO einen
eigenen Beitrag nicht von vornherein verweigern. Dies
muss keineswegs ein militärischer Beitrag sein. Man
sollte ihn erst recht nicht herbeireden; aber man kann
und darf ihn auch nicht a priori und auf Dauer ausschließen.
({14})
Vielleicht werden wir allerdings zu der Erkenntnis
kommen, dass wir objektiv nicht in der Lage sind, einen
militärischen Beitrag zu leisten, weil die Kräfte der Bundeswehr schon völlig überdehnt sind. Aber dann muss
man sich sehr ernsthaft die Frage stellen, wie es mit
Finanzierung, Ausrüstung, Ausbildung und Struktur der
Bundeswehr aussieht. Auf Dauer wird es dem deutschen
Steuerzahler und international nicht zu vermitteln sein,
dass von einer Armee mit 290 000 aktiven Soldatinnen
und Soldaten nur 10 000 oder - setzt man den Regenerations- und Ausbildungsfaktor mit fünf an - 50 000 für
solche Missionen einsetzbar sind. Hier muss über die
Reform der Bundeswehr weiter gestritten werden.
({15})
Ich plädiere keineswegs für Bundeswehreinsätze
weltweit. Ich bin überhaupt überrascht, dass diejenigen,
die noch bis vor kurzem eine sehr dezidierte Meinung
über Soldaten geäußert haben, mittlerweile sehr schnell
dabei sind, die Bundeswehr durch die Welt zu schicken.
Ich verlange Streitkräfte für Deutschland, die hoch effizient sind und jeden Steuergroschen tatsächlich verdient
haben. Was sollen denn leistungsfähige und leistungswillige Soldatinnen und Soldaten machen, wenn ihnen
die Regierenden durch krampfhaftes Festhalten an der
Wehrpflicht eine falsche Streitkräftestruktur verordnen
und wenn dadurch das Geld für eine auftragsgerechte
Ausrüstung und Bewaffnung fehlt?
Den Angehörigen der Bundeswehr schulden wir
Dank und Anerkennung. Sie machen die Fehler der Regierung durch vorbildliche Leistungen wett; aber auf
Dauer werden sie überfordert sein.
({16})
Die Bundesregierung scheint ja noch ein paar Soldaten gefunden zu haben, die sie in der Region Kunduz
einsetzen kann. Wir Freien Demokraten sind von dem
Konzept der Bundesregierung für Kunduz alles andere
als überzeugt.
Das eigentliche Problem Afghanistans, das in der Tat
nie ein Zentralstaat war, besteht doch darin, dass die
Zentralregierung jenseits der Stadtgrenzen Kabuls überhaupt nichts zu melden hat, dass dort die regionalen
Warlords und Drogenbosse das Sagen haben und die
Szene bestimmen. Mit ihnen werden die Soldaten der regionalen Wiederaufbauteams keinerlei Probleme haben,
solange sie deren Kreise nicht stören. Spannend wird es
erst dann, wenn die Zentralregierung bestimmte Dinge
in der Fläche durchsetzen muss, was notwendig sein
kann, wenn die neue Verfassung nicht von vornherein
zum Scheitern verurteilt sein soll. Das wird die Völkergemeinschaft militärisch nicht schaffen. Ich sehe auch
nirgendwo in der Welt die Bereitschaft, dort mit vielen
Zigtausend Mann hineinzugehen. Die Erfahrungen der
Russen dort sollten auch vor unbedachten Entscheidungen warnen.
Spannend wird die Frage, ob die deutschen Soldaten
in der Region Kunduz der Drogenproduktion tatenlos
zusehen wollen, so wie es gegenwärtig die Amerikaner
in der Region Kunduz nach eigenem Bekunden tun. Der
Artikel in „Spiegel Online“ über die Aktivitäten dort
sollte uns sehr nachdenklich machen.
Schließlich ist auch die Frage spannend, ob wir den
zivilen Aufbauhelfern mit einer militärischen Begleitung
überhaupt einen Gefallen tun.
({17})
Die FDP lehnt die Vorstellungen der Bundesregierung
zum Einsatz in der Region Kunduz ab. Das Konzept ist
in sich nicht schlüssig. Es ist keineswegs ungefährlich.
Es überdehnt die Möglichkeiten der Bundeswehr weiter.
Es droht, die Soldaten der Bundeswehr zu Geiseln der
örtlichen Warlords und Drogenbarone zu machen.
({18})
Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes und deswegen
werden wir das ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({19})
Ich erteile dem Kollegen Gert Weisskirchen, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Hoyer, ich knüpfe an den Punkt an, den Sie ungefähr in der Mitte Ihrer Rede angesprochen haben. Wir
sollten wirklich zu der Idee zurückkehren, die UNO zu
reformieren, und grundsätzlich neu darangehen. Es ist
gut, zu sehen, dass Kofi Annan in diesem Punkt wieder
zu der Debatte zurückkehrt, die vor zehn Jahren stattgefunden hat.
Wenn wir uns anschauen, welche Gefahrenlagen sich
abgezeichnet haben, und noch einmal einen Blick zurück
auf die Situation von vor zehn Jahren werfen, dann können wir erkennen, dass wir es heute mit neuen Formen
von Gewalt zu tun haben. Die entstehen und wachsen
gerade im Schatten dessen, was doch die große Chance
für die gesamte Welt sein könnte. Im Schatten der Globalisierung wächst eine ungeheure neue Gefahr heran:
Kriminalität, Terrorismus, Bürgerkriege in völlig neuen
Formen. Die Staatengemeinschaft hat versucht, darauf
eine Antwort zu finden. Mit dem Blick zurück auf diese
letzten zehn Jahre können wir heute sagen: Es waren nur
Versuche. Das gemeinsame, in sich schlüssige Konzept,
wie wir diesen neuen Gefahren wirklich gemeinsam besser begegnen können, ist noch nicht gefunden worden.
Schauen wir noch einmal, wie in der ersten Schrecksekunde auf die beiden zentralen, wirklich großen Gefahren reagiert worden ist, die wir im Rückblick erkennen können, nämlich auf die neuen Formen von
Bürgerkriegen - zu erinnern ist an die Kriege der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die uns alle
erschüttert haben - und auf den 11. September 2001! In
der ersten Schrecksekunde haben die Nationalstaaten als
Nationalstaaten darauf geantwortet. Es ist ja auch verständlich - keine Frage, dass musste so sein -, dass im
Fall des 11. September die USA darauf zuallererst eine
nationale Antwort gegeben haben. Aber allein dadurch,
dass wir als Nationalstaaten darauf reagieren, können
wir die Probleme nicht in den Griff bekommen. Es kann
nicht nur eine unilaterale Antwort geben, sondern es gilt,
die Kraft der Völkergemeinschaft zu mobilisieren, um
diese Probleme auch wirklich anzugehen. Ich weiß nicht,
woher Sie die Kritikpunkte inhaltlich nehmen, Herr
Dr. Hoyer. Die Bundesregierung hat genau die richtigen
Instrumente entwickelt: Krisenprävention, ziviler
Friedensdienst. Sie hat Sorge dafür getragen, dass multilaterales Denken erweitert, vertieft und gestärkt wird.
Das ist das Markenzeichen dieser Bundesregierung und
es ist gut, dass sie dazu auch die entsprechenden Instrumente zur Verfügung gestellt hat. Das unterstützen wir
politisch. Ich sehe nichts, was daran substanziell zu kritisieren wäre. Im Gegenteil: Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihrem multilateralen Handeln.
({0})
Mit den neuen lokalen Bürgerkriegen und dem global
agierenden Terrorismus erleben wir in der Tat einen Angriff auf unsere Zivilisation der offenen Gesellschaft.
Diese Zivilisation soll zerbrochen werden. Das ist das
Ziel derer, die durch ihre Angriffe lokale Bürgerkriege in
Gang setzen oder global terroristisch tätig sind. Die
Feinde der Zivilisation wollen, dass sich Chaos verbreitet. Deswegen setzen sie mit ungeheurer Wucht neue
Formen von Gewalt ein. Was sie aber wirklich wollen,
verbergen sie. Sie wollen politische Macht erobern.
Schwache Staaten sehen sie als ihre Beute. Sind diese
dann erobert, werden sie zu Stützpunkten ausgebaut, damit der gewaltsame Raubzug transnational weitergeführt
werden kann.
Wenn wir uns die letzten zehn Jahre vor Augen führen, können wir doch erkennen, an welchen Punkten das
geschieht: Das geschieht im Zentrum Afrikas, das ist auf
dem Balkan und in Afghanistan geschehen. Überall hier
gab es Versuche, Nationalstaaten von innen bzw. von unten gewaltsam zu erobern, um diese als Stützpunkte für
das Vorantreiben von transnationalem Chaos durch kriminelle Machenschaften, Bürgerkriege und Terrorismus
zu gewinnen. Wir müssen darauf klar und deutlich gemeinsam multilateral antworten. So verständlich es auch
sein mag, wenn die USA im Terrorismus mit Recht einen Angriff auf ihre eigene Existenz sehen, so kann die
Antwort auf diesen nicht in unilateralem Handeln bestehen. Die Antwort kann nur, weil der Terrorismus die
ganze Welt, also uns alle, treffen soll, eine gemeinsame
sein. Jetzt im Irak erleben wir doch - das kann man angesichts der Konflikte, die dort zutage treten, sagen -,
Gert Weisskirchen ({1})
dass der unilaterale Weg in die Sackgasse führt. Auch
die USA muss das jetzt erkennen.
Wir müssen die UNO stärken, sie muss das Heft des
politischen Handelns in die Hand nehmen, damit die Löcher, wie es der Bundesaußenminister zu sagen pflegte,
in der Ordnungsstruktur der Welt geschlossen werden
können. Nicht unilaterales Handeln, sondern gemeinsames Handeln der Nationalstaaten und Stärkung der
UNO sind der entscheidende Schlüssel. Die Bundesregierung unterstützt dies. Deshalb war der Dissens in der
Irakfrage, wie ich finde, auch so etwas wie ein gemeinsamer Lernprozess, welche Schlussfolgerungen für zukünftiges Handeln zu ziehen sind.
({2})
Dabei kann man auf zwei zentrale Sicherheitsinstitutionen zurückgreifen: zum einen auf exklusive Sicherheitsinstitutionen wie etwa die NATO, zum anderen auf
inklusive Sicherheitsinstitutionen wie die UNO. Warum
sind gerade die inklusiven so wichtig? Weil sie alle Nationalstaaten miteinbeziehen, deren Möglichkeiten und
Kräfte mobilisieren und sie auf die entscheidenden
Punkte konzentrieren können. Das ist der entscheidende
Vorzug. Statt immer nur zu sagen - natürlich gibt es immer wieder die Kritikmöglichkeiten -, wie unvollkommen die Instrumente seien, die die UNO einsetzen kann,
sollte man lieber die UNO stärken und ihr helfen, dass
sie bessere Instrumente entwickeln und diese stärker einsetzen kann. Der große Vorzug von inklusiven Sicherheitsinstitutionen - wir sehen gerade plastisch an dem
Beispiel Irak, wie dringend erforderlich das ist - ist, dass
sie politische Legitimation haben. Diese ist notwendig,
bevor Militär als Instrument zur Befriedung eingesetzt
werden kann. Genauso ist es zwingend erforderlich, dass
man beispielsweise auch im nationalen Parlament breite
Unterstützung bekommt.
Umso wichtiger ist es, das auf der globalen Ebene zu
organisieren. Denn wie anders sollte politische Legitimation beschaffen sein, wenn nicht auf der Grundlage
eines globalen Austauschs der Argumente, um die Kraft
dieser Argumente dann auf die richtigen Punkte zu konzentrieren? Es gibt keine andere und keine bessere Organisation als die UNO, diese Legitimation zu beschaffen.
Wenn es sie nicht gäbe, sie müsste geradezu erfunden
werden,
({3})
obwohl wir wissen, welche Schwächen es innerhalb der
UNO gibt. Aber die UNO ist immer nur so stark, wie wir
sie selber machen. Die UNO lebt davon, dass die Mitgliedstaaten der UNO die Chance haben, über andere
und neue Instrumente zu verfügen. Gerade wenn es neue
Gefahren, neue Herausforderungen, neue Formen von
Bürgerkrieg und Terrorismus gibt, müssen wir mit dafür
sorgen, dass die UNO die Chance hat, gemeinsam mit allen Nationalstaaten dafür auch die richtigen Instrumente
zu entwickeln.
Wer die Kontroverse um den Irakkrieg ernst nimmt,
der wird, wie ich meine, daraus einen richtigen Schluss
ziehen können, nämlich dass die VN für die Welt heute
viel bedeutsamer sind als zuvor. Und warum? Weil innerhalb des Weltsicherheitsrats die wirklichen Debatten
geführt werden. Statt abgeschottet in Nationalstaaten
darüber zu diskutieren, wird innerhalb des Weltsicherheitsrats ein Forum geboten, in dem die Argumente ausgetauscht werden und um Zustimmung gerungen wird.
Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis aus den letzten zehn Jahren.
Wir als Politiker können die Herausforderungen nur
dann wirklich annehmen und die richtigen Instrumente
einsetzen, wenn es in der Weltöffentlichkeit und in der
Öffentlichkeit der unterschiedlichen Nationen die Bereitschaft gibt, die Probleme ernst zu nehmen und die
Gefahren richtig zu erkennen. Erst dann sind wir, die Politik, ist die UNO in der Lage, angemessene neue Instrumente einzusetzen. Das ist der ungeheure demokratische
Fortschritt, den wir jetzt erkennen können.
Ich bitte darum, in dieser Debatte und besonders mit
dem Blick auf die Außenpolitik der Bundesregierung das
ernst zu nehmen, was Willy Brandt vor 25 Jahren in seinem Report „Das Überleben sichern“ geschrieben hat.
„Die Zukunft wird gefährlicher“, hieß es im letzten Kapitel seines Reports. Darauf eine vernünftige Antwort zu
geben, multilaterales Handeln zu stärken, das ist die entscheidende Herausforderung. Die Bundesregierung
arbeitet daran und die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt sie dabei.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hintze, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die deutsche Europapolitik ist auf drei Pfeilern aufgebaut: erstens der Freundschaft zu Frankreich, zweitens
der transatlantischen Partnerschaft und drittens einem
fairen Umgang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Ich
muss heute kritisch feststellen, dass Bundesaußenminister Fischer, Arm in Arm mit dem Bundeskanzler, zwei
dieser drei Pfeiler zum Einsturz gebracht hat. Das Verhältnis zu Amerika ist nachhaltig gestört und der Gegengipfel der 15 kleineren Mitgliedstaaten unter Führung
von Wien und Prag signalisiert einen Klimasturz in der
EU. Deshalb meine Aufforderung: Die deutsche Europapolitik muss dringend zu der Balance zurückkehren, die
von Adenauer bis Kohl selbstverständlich war und die
die deutsche Politik ausgezeichnet hat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Diese Balance ist durch ein weiteres Projekt der rotgrünen Regierung gefährdet: das offene Eintreten für
den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Ich
will hier nicht davon sprechen, dass dieselbe Bundesregierung unserem NATO-Partner Türkei Militärhilfe
verweigert. Ich will nicht davon sprechen, dass deutsche
Gerichte die Türkei noch in diesen Tagen als einen Staat
qualifizieren, in den rechtskräftig abgeurteilte Verbrecher nicht abgeschoben werden dürfen. Es liegt natürlich
in unserem Interesse, dass der Weg zur vollen Einhaltung der Menschenrechte, zu Demokratie und einer stabilen Marktwirtschaft in der Türkei konsequent weitergegangen wird.
({1})
Mir geht es aber um eine ganz grundsätzliche Frage.
Die zentrale Frage, vor der die Europäische Union steht,
ist die nach dem Verhältnis zwischen Vertiefung und
Erweiterung. Jeder neue Beitritt zur Europäischen
Union ist unter dem Gesichtspunkt der Integrationsfähigkeit zu prüfen und daran zu messen, ob das, was wir
mit der Europäischen Union wollen, mit diesem neuen
Mitglied auch umgesetzt werden kann.
Wir haben gerade eine große Erweiterungsrunde beschlossen. 75 Millionen Menschen aus zehn Staaten aus
Mittel- und Osteuropa und dem Mittelmeerraum gehören
bald zu uns. Vor jeder zukünftigen Entscheidung bedarf
es auch einer gründlichen Auswertung des Beitrittsprozesses.
Mich bewegen in der Frage des Türkeibeitritts zwei
Gedanken. Ich habe den Verdacht, dass die Bundesregierung diesen Beitritt so massiv forciert, weil sie sich davon ureigene Vorteile verspricht,
({2})
nicht für Deutschland, nicht für Europa, sondern für RotGrün. Ich kann verstehen, dass gute Werte von Umfragen unter türkischstämmigen Wählern in Deutschland
für Sie eine arge Verlockung sind. Aber in der Frage der
Aufnahme eines schnell wachsenden Staates mit weiteren 70 Millionen, 80 Millionen oder gar 100 Millionen
Bürgern in die EU ist hoffentlich der Aspekt bedeutsamer, ob die Europäische Union das verkraftet, ob es ihr
gut tut und ob in dem dann neuen Mitgliedstaat Europa
so gelebt werden kann und wird, wie wir uns Europa
vorstellen.
Diese Frage haben Sie ignoriert, als Sie der Türkei
1999 in Helsinki - an der Bevölkerung und übrigens
auch am Parlament vorbei - in einer Blitzaktion den Beitrittsstatus verliehen haben.
({3})
Diese Frage haben Sie auch in Kopenhagen ignoriert, wo
Sie 2002 einen festen Ablaufplan für den Beitritt vereinbart haben. Und Sie haben diese Frage ignoriert, als Sie
Herrn Ministerpräsidenten Erdogan in Berlin vorige Woche öffentlich Zusagen gemacht haben.
Die Bundesregierung versucht in der Diskussion, die
Frage zu tabuisieren, ob ein islamisch geprägter Großstaat Mitglied der Europäischen Union werden kann.
Dagegen wird eingewendet, die Europäische Union sei
kein christlicher Klub. Dieser Einwand geht in die falsche Richtung. Natürlich geht es bei der Beitrittsfrage
nicht um religiöse Überzeugungen. Es geht vielmehr um
die prägende Wirkung einer Religion auf das Wertesystem einer Gesellschaft. Es geht darum, sicherzustellen,
dass Europa in allen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union tatsächlich gelebt wird. Formale Rechtsangleichung ist das eine, das Leben in einem Wertesystem, wie
wir es für richtig halten, ist das andere.
Ich habe die Sorge, dass die Europäische Union im
Falle eines Türkeibeitritts an dem Spagat zwischen Vertiefung und Erweiterung zerbrechen könnte.
({4})
Ich appelliere an die Bundesregierung, dem Deutschen
Bundestag und auch der Öffentlichkeit ausreichend Zeit
zu geben, diese Frage zu erörtern.
Die Regierung hat auf den Vorschlag der ChristlichSozialen Union in Bayern hin, dieses Thema im Wahlkampf anzusprechen, erklärt, das sei kein Thema für einen Wahlkampf. Ich sage Ihnen dazu in Ruhe: Das hätten Sie wohl gerne, dass zentrale, wichtige Themen, die
das Schicksal und die Zukunft unseres Landes betreffen,
im Wahlkampf nicht behandelt werden! Ich finde, alle
wichtigen Themen müssen im Wahlkampf behandelt
werden, damit die Menschen wissen, was sie wählen,
wenn sie sich für eine Partei entscheiden.
({5})
- Bei dem Zwischenruf des Kollegen Schauerte fällt mir
ein: Ich hatte vorgestern Nacht das Vergnügen, Herr
Bundesminister, in der Wiederholung einer „Tagesschau“-Ausgabe von vor 20 Jahren einen durchaus sehenswerten Parlamentsauftritt von Ihnen zu erleben.
Eine gewisse Differenz zwischen damals und heute sowohl im äußeren Habitus wie auch in Ihrer inhaltlichen
Positionierung ist durchaus festzustellen. Aber ab und an
sollten wir Sie an einige Ihrer eigenen Demokratieforderungen erinnern, auch wenn Sie jetzt in einer anderen
Rolle sind, als Sie es damals waren.
Eines hat mich besonders amüsiert: Sie haben sich damals mit Herrn Zimmermann, dem Bundesinnenminister, auseinander gesetzt. Heute Morgen saßen Sie neben
Herrn Schily, beide leicht ergraut und deutlich ruhiger.
Daran kann man sehen, was im Rahmen der Zeitabläufe
mit Menschen alles passiert. Aber das eine oder andere
Ideal, das Sie vertreten haben, sollten Sie sich doch noch
einmal vergegenwärtigen.
({6})
- Da wäre ich etwas optimistischer. Aber es freut mich,
dass Sie dem noch Aufmerksamkeit schenken. Wenn Sie
einmal der Meinung sind, es sei nach Ihrem Urteil eingetreten, dann können Sie das ja vermelden.
Am Sonntag werden die Schweden entscheiden, ob
sie den Euro einführen. Das ist natürlich eine wichtige
Frage, die auch eine Signalwirkung für andere in Europa
hat. Wir wissen aus den Umfragen, dass es in Schweden
einen beträchtlichen Widerstand gegen die Einführung
des Euro gibt. Warum wird mit einem knappen Ergebnis
gerechnet? Der Grund liegt auf der Hand - der Bundesaußenminister hat es von der Regierungsbank schon
unparlamentarisch herübergerufen -: Die Schweden
schauen natürlich darauf, wie die deutsche Regierung
mit einer gewissen Leichtfertigkeit die Stabilitätskriterien von Maastricht ignoriert und verletzt. Sie fragen
sich mit Grauen, ob man in einem solchen Verbund nicht
möglicherweise verloren ist.
({7})
Ich wünsche mir sehr, dass die schwedische Bevölkerung am Sonntag Ja sagt, damit wir die Euro-Zone erweitern und um Schweden verstärken können. Aber
wenn es am Sonntag ein Nein gibt, dann hat das - das
kann ich schon sagen - die Bundesregierung mit auf dem
Gewissen.
({8})
- Die freudig erregten Zwischenrufe aus der SPD-Fraktion möchte ich gerne einmal aufgreifen: Natürlich ist
Deutschland als das größte Land in der Euro-Zone in hohem Maße für den Euro verantwortlich. Es ist geradezu
eine Ironie der Geschichte, dass das Land, das 1997 den
Stabilitätspakt erwirkt hat, dasjenige ist, das diesen als
erstes massiv und dauerhaft verletzt. Ich meine, das
muss uns doch alle erschrecken. Anstatt solche Zwischenrufe zu machen, sollten Sie lieber sagen: Da ist
wirklich eine Korrektur fällig. - Es ist ein Drama, dass
Rot-Grün es geschafft hat, Deutschland in wenigen Jahren von einem Hort der Stabilität zu einem Verletzer des
Stabilitätspakts zu machen.
({9})
Die Haushaltsdebatte ist die erste Möglichkeit, hier
auf die Ergebnisse des Brüsseler Konvents zu reagieren und sie zu würdigen. Ich freue mich, dass der Kollege Altmaier bei uns ist, der uns - wie Jürgen Meyer in allen Sitzungen des Europaausschusses über die Arbeiten unterrichtet und uns intensiv am Prozess beteiligt
hat. Ich glaube, es ist eine große Leistung, dass Parlamentarier und Regierungsvertreter aus 28 Staaten ein
solches Werk geschaffen haben und nun ein Vorschlag
für eine europäische Verfassung vorliegt. In der Gesamtbewertung komme ich zu einem positiven Urteil. Die
Verschmelzung der bestehenden Verträge ist geglückt.
Die Aufnahme der Grundrechtecharta ist richtig. Es ist
eine klare Normenhierarchie entwickelt worden. Die
Entscheidungsverfahren sind transparenter und die Abstimmungsregeln demokratischer.
({10})
- Der Bundesaußenminister, der sich in der zweiten
Hälfte dieses Konvents ja auch sehr intensiv beteiligt
hat, fordert mich, gewissermaßen von der Bank aus, auf,
ich solle doch noch etwas Freundliches zu ihm sagen.
Sie haben sich nach meinem Geschmack etwas zu massiv um die Entwicklung des europäischen diplomatischen Dienstes - Schaffung einer Flugbereitschaft usw. gekümmert. Deswegen sind in der letzten Runde einige
andere wichtige deutsche Anliegen auf der Strecke geblieben, wie etwa die Klarstellung der Binnenmarktklausel, die Wünsche der Europäischen Zentralbank oder
aber die Abwehr der im letzten Moment eingefügten Gesetzgebungskompetenz der Europäischen Union für die
Daseinsvorsorge. Es bleibt ein Mangel der neuen Verfassung, dass die Verantwortung des Menschen vor Gott
und der ausdrückliche Bezug auf das christliche Erbe
Europas keinen rechten Platz fanden.
Gleichwohl müssen wir natürlich entscheiden, wie es
weitergeht. Ich halte es für richtig, dass man den Versuch
unternimmt, den gefundenen Kompromiss zu verteidigen und als Verfassung durchzubringen.
Wenn dieses Paket allerdings wieder aufgeschnürt werden sollte - wir haben schon viele Änderungswünsche
gehört -, dann erwarten wir natürlich, dass unsere Kritikpunkte in diesen Prozess eingehen.
Ein letzter Punkt, Herr Präsident. Es geht in Zukunft
noch stärker um die Rechte des Deutschen Bundestages.
Der Verfassungsentwurf sieht vor, dass der Europäische
Rat jene Bereiche, die bisher der Einstimmigkeit unterlagen, in das Mehrheitsprinzip überführen kann. Wir wollen deshalb im Ratifizierungsgesetz sicherstellen, dass
der Deutsche Bundestag beteiligt wird, bevor der Bundeskanzler für unser Land in einer solchen Frage eine
Entscheidung trifft. Es handelt sich um eine Änderung
der EU-Verfassung. Daher ist es wichtig, dass der Deutsche Bundestag seine Rechte wahrt. Wir erwarten von
der Regierung hierzu konstruktive Vorschläge.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Gloser,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Hintze, wenn Sie schon die Behauptung
aufstellen, die Bundesregierung sei schuld daran, dass es
zu diesen Veranstaltungen in Wien und Prag gekommen
ist, dann hätten Sie Belege dafür anführen müssen. Die
Frage, wofür diese Bundesregierung noch alles verantwortlich sein soll, ist natürlich berechtigt. Man kann es
sich ja so einfach machen. Wir sollten diese Dinge, wie
es in den Debattenbeiträgen heute Vormittag schon der
Fall war - ich rechne den Beitrag von Herrn Glos ausdrücklich nicht dazu -, etwas differenzierter betrachten.
Nach der sehr fruchtbaren Diskussion im Europaausschuss hatte ich eigentlich geglaubt, dass Sie heute nicht
einfach undifferenziert Behauptungen in den Raum stellen. Darauf komme ich noch zurück.
({0})
Für die Öffentlichkeit war es wichtig, zu erfahren,
dass wir vor einigen Wochen im Deutschen Bundestag
nahezu einstimmig das Ratifizierungsgesetz zum Beitritt
von zehn Staaten verabschiedet haben. Das war ein sehr
gutes Signal, das vom Deutschen Bundestag ausgegangen ist.
Große Übereinstimmung gab es auch in der Beurteilung der Ergebnisse des Konvents. Es muss einmal gesagt werden - von mir wird das eher erwartet als von
Ihnen -, dass die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition in der Tat in diesem Bereich die Weichen gestellt
haben. Zum einen wurden Hindernisse in Bezug auf den
Beitrittsprozess beiseite geräumt und zum anderen
wurde der Anstoß gegeben, aus den Fehlern von Nizza
die Konsequenzen zu ziehen und einen Konvent einzuberufen. Auch das sollte an dieser Stelle einmal herausgestellt werden.
({1})
Das Leitmotiv von Nizza hieß Vertiefung und Erweiterung. Wir alle wissen, dass wir dieses Ziel auf dieser
Regierungskonferenz nicht erreicht haben. Die Frage
war, wie man dieses Ziel auf andere Weise erreichen
konnte. Die Antwort auf diese Frage war die Einberufung des Konvents. Nun stellt sich die Frage - eine Antwort darauf ist auch Herr Hintze schuldig geblieben -,
wie wir mit diesem Ergebnis umgehen. Sie haben gesagt,
man sollte möglichst bei diesem Ergebnis bleiben und
alles so belassen. So lautete auch Ihre Aussage im Ausschuss.
Aber wie verhält sich die Union insgesamt, also CDU
und CSU, dazu? Sie sind doch eine Fraktionsgemeinschaft. Gestern sagte der bayerische Ministerpräsident,
Bayern wolle neu verhandeln. Zunächst einmal der ganz
formale Einwand: Bayern kann nicht verhandeln. Bayern ist zwar größer als Estland und andere Länder; trotzdem verhandelt Bayern nicht. Natürlich wird die Bundesregierung Einwände, Anregungen und Anstöße der
Bundesländer aufnehmen. Das ist auch richtig so. Aber
die Nachverhandlungen, die Herr Stoiber fordert, kann
es nicht geben. Er will das Paket sozusagen aufschnüren.
Aber er macht keine Vorschläge, wie man es wieder zuschnüren kann. Ich sage ganz deutlich: Die Union aus
CDU und CSU sollte sich erst einmal darüber einig werden, wie sie mit dem Paket umgehen will. Am besten
würde sie Ihren Vorschlag, Herr Hintze, aufgreifen, das
Paket nicht mehr aufzuschnüren; denn ich glaube, dass
der Konvent eine gute Arbeit geleistet hat.
({2})
Herr Stoiber sagt, man könne nicht erwarten, dass die
Teilnehmer dieser Regierungskonferenz, die Staats- und
Regierungschefs, nur wie Notare handeln. Was soll diese
Feststellung eigentlich? War es nicht vielmehr so, dass
in der Vergangenheit wir Parlamentarier uns als Notare
verstanden haben, weil wir an den Ergebnissen, die auf
Regierungskonferenzen erarbeitet worden waren, nichts
mehr ändern konnten? Demgegenüber hat dieser Konvent jetzt auf demokratische Weise einen Verfassungsentwurf erarbeitet, unter Beteiligung von Parlamentariern und von Regierungsvertretern - aus kleinen und
großen, aus alten und neuen Mitgliedsländern - sowie
von Vertretern der Kommission. Warum sagt Herr
Stoiber plötzlich, er wolle nicht nur Notar spielen? Herr
Stoiber spielt ihn schon gar nicht. Wenn, dann ist es unsere Regierung. Aber die Regierung hat deutliche Zeichen gegeben: Wir wollen dieses Paket nicht aufschnüren. Darin werden die SPD und, wie ich denke, auch
Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung unterstützen.
({3})
Vor diesem Hintergrund möchte ich ein - nicht überraschendes - Signal an die vielen Länder geben, die im
Jahre 2004 beitreten wollen. Man hört jetzt Kritik aus
Prag und aus Wien. Wir haben mit diesen Ländern im
Auswärtigen Ausschuss und in anderen Fachausschüssen, in Arbeitsgruppen und auf europäischer Ebene einen intensiven Dialog geführt, wie es sich gehört.
Auch wir haben diesen Prozess mitgemacht. Auf der
einen Seite ist es völlig legitim, ein nationalstaatliches,
mitgliedschaftliches Interesse zu formulieren. Auf der
anderen Seite steht das europäische Interesse. Wir alle
tragen sozusagen einen Doppelhut. Irgendwann muss ich
aber entscheiden, welcher Hut mir wichtiger ist. Die Verantwortung für Europa muss wichtiger sein als das alleinige mitgliedschaftliche Interesse. Das sollten wir in den
nächsten Wochen noch intensiv mit unseren Kolleginnen
und Kollegen aus den Beitrittsländern diskutieren.
({4})
Ich will darauf nicht im Einzelnen eingehen; das wird
die Kollegin Zapf noch tun. Aber es ist interessant, wie
vor dem Hintergrund des Wahlkampfes in Bayern bestimmte Themen aus dem Hut gezaubert werden. Aber
man sollte nicht nur mit Blick auf den 21. September
dieses Jahres handeln.
Für mich ist klar, dass die Europäische Union keine
Religionsgemeinschaft im klassischen Sinne des
Wortes ist. Für mich ist klar, um das mal salopp zu
formulieren, dass die Europäische Union kein
Christenverein ist.
({5})
Für mich macht die Vorstellung an sich auch Sinn,
dass wir ein islamisches Land von der Größe, der
Bevölkerungsdichte der Türkei in die Europäische
Union integrieren, um uns selbst und der Welt zu
zeigen, dass das machbar ist, dass Menschen unterschiedlicher religiöser Ausprägung sehr gut miteinander in einer von integrationsweiterführenden
Ambitionen getragenen europäischen Konstruktion
zusammenleben können.
Wie stellt sich die Union dazu? Diese Aussage stammt
von Jean-Claude Juncker. Soviel ich weiß, ist auch er
Mitglied der christlich-sozialen Volkspartei.
Ohne Zweifel kann man über viele Dinge streiten.
Aber sowohl vom Kollegen Dr. Schäuble als auch vom
Kollegen Hintze erwarte ich eine etwas differenziertere
Betrachtungsweise. Dass meine bayerischen Freunde
von der CSU immer mit der Holzhammermethode kommen, ist schon klar. Darauf will ich nicht mehr viel geben. Das liegt quasi in ihren Genen. Die können nicht
mehr anders.
({6})
Die wollen einfach immer nur draufhauen. Sie wollen
vor allem immer Befürchtungen schüren, die überhaupt
nicht anstehen.
Auch Herr Dr. Schäuble hat heute wieder vor dem
Parlament den Eindruck erweckt, als stehe im nächsten
Jahr der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union an.
Das ist überhaupt nicht der Fall. Sie wissen doch viel
besser, dass die Europäische Union im nächsten Jahr erst
einmal darüber entscheiden wird, ob überhaupt Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Wie lange diese
dauern, wissen wir. Was umgesetzt werden muss, wissen
wir auch. Insofern sollte auch von der Union eine etwas
differenziertere Betrachtung kommen.
Ich will den Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion
nicht erwähnen - sonst hat er vielleicht nur Schaden -,
der für eine differenziertere Betrachtungsweise eintritt.
Darüber bin ich froh. Es gibt auch eine Arbeitsgruppe in
der CDU, die sagt: Wir müssen mit dem Thema umgehen, aber differenzierter. - Warum dann immer vor der
Öffentlichkeit diese undifferenzierte Art und Weise, dieses kurzfristige Spielchen, dieses Angsteinjagen vor einem Wahltermin - als ob die Türken wieder vor Wien lägen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen vor allem von der
CSU, Sie sollten endlich Ihren Kurs ändern.
({7})
Wenn Sie schon für Aufklärung sind, dann können wir
sie in der Tat in der Debatte betreiben. Frau Merkel sagt
dem türkischen Ministerpräsidenten: Nein, wir möchten
natürlich nicht diesen Wahlkampf missbrauchen. Von
der Union aus München höre ich etwas ganz anderes.
Einer der gestrigen Vorwürfe aus München lautete,
Rot-Grün sei schuld daran, dass keine öffentliche Debatte über die europäische Verfassung geführt werde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dann lasst uns in den
nächsten Monaten bis Mai/Juni 2004 eine Debatte über
diese europäische Verfassung führen! Sie muss möglicherweise in folgenden Punkten fortentwickelt werden:
Was heißt das für die nationalstaatliche Ebene? Was
heißt das für die Außenbeziehungen? Man kann das aber
nicht immer auf diese dumpfe, dreiste Art machen, auf
die es der vermeintliche Alpenherkules, Herr Stoiber,
machen will.
({8})
Ich würde dafür plädieren, dass wir, wie schon in den
letzten Wochen und Monaten, auch durch die Bundesregierung einen intensiven Dialog über den Fortgang der
Regierungskonferenz führen. Wir haben uns, denke
ich, eindeutig - auch was den Zeitplan angeht - über die
Parteigrenzen hinweg verständigt. Es wäre gut, wenn die
Regierungskonferenz in diesem Jahr, unter italienischer
Ratspräsidentschaft, über den Verfassungsentwurf entscheiden könnte, damit er dann auch den Parlamenten
zugeleitet werden kann.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich die Rede des Bundesaußenministers gehört
habe, konnte ich feststellen: Vieles ist sehr richtig und
findet unsere Zustimmung - insbesondere seine Ankündigung, das Verhältnis zu Amerika zur Grundlage der
Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Viele internationale Fragestellungen sowie die großen Probleme in
der Wirtschaft, in der Sozial-, in der Klimapolitik, aber
insbesondere auch bei der Terrorismusbekämpfung können wir nur auf der Basis eines guten transatlantischen,
europäisch-amerikanischen Freundschaftsverhältnisses
angehen. Darin stimmen wir Ihnen hundertprozentig zu.
Herr Bundesaußenminister, als Sie Ihre Ausführungen
zum Thema Wahlkampf gemacht haben - nach dem
Motto „Naja, da ist man halt ein Stück weit bereit, über
das Ziel hinauszuschießen“ -, habe ich eine Zeit lang gedacht: Jetzt zeigt der Mann Charakter. Heute früh hat der
Bundeskanzler beim Thema Rente seinen Fehler eingestanden. Wenn Sie, wie der Bundeskanzler, Ihren Fehler
eingestanden und gesagt hätten, dass der deutsche Sonderweg einer Vorfestlegung in der Irakfrage auf einer
Wahlkampfkundgebung falsch war, dann hätten Sie Charakter gezeigt.
({0})
So sind wir jetzt in einer Situation, in der es heißt - so
ein Sprecher des Auswärtigen Amtes -: Es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass es bei der nächsten UNVollversammlung zu einem Händedruck zwischen dem
deutschen Bundeskanzler und dem US-Präsidenten
kommt.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir rufen
Ihnen zu: Bringen Sie das deutsch-amerikanische Verhältnis schnell wieder in Ordnung. Wir wollen Sie dabei
unterstützen.
({2})
In der Außen- und Europapolitik ist das grundlegende
Prinzip das Vertrauen der Partner zueinander. Sie haben
im transatlantischen Verhältnis und im europäischen
Binnenverhältnis - darauf komme ich noch zurück - viel
davon zerstört. Herr Gloser, bei den früheren Bundesregierungen war es auch so, dass es in der Außenpolitik
Vertrauen im Parlament gab. Ihre Auslassungen, Herr
Fischer, zur gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und der Versuch, den Kollegen Schäuble hier
vorzuführen, weil er nicht da war - er war in Paris und
hat dort Gespräche geführt -, entsprachen nicht dem
Verlauf der Sitzung. Auch darauf komme ich noch einmal zu sprechen.
Wir müssen Europa vereinen, nicht spalten. Sie spalten.
Auch innerhalb von Europa ist es Ihnen gelungen, Vertrauen zu zerstören. Der Kollege Hintze hat darauf aufmerksam gemacht. Der „Pralinengipfel“ mit Belgien und
Luxemburg - eine europäische Sicherheitsinitiative -, die
Neuauflage des Achsendenkens - Paris-Berlin-Moskau -,
({3})
Ihr Verhalten gegenüber Österreich und das Urlaubstheater des Bundeskanzlers gegenüber Italien:
({4})
All diese Aktionen zerstören Vertrauen, insbesondere
das Vertrauen unserer kleinen EU-Mitgliedspartner in
Deutschland.
({5})
Deshalb ist die EU tief verunsichert. Es geht ein Riss
durch die Staatengemeinschaft.
Der Verfassungsentwurf ist eine gute Grundlage für
die Regierungskonferenz. Wenn ich diesen Entwurf aber
an Ihrer Rede in der Humboldt-Universität messe, für
die Sie sich ja schon den Nobelpreis zuschreiben lassen
wollten - als freier Bürger -,
({6})
dann bin ich doch einigermaßen enttäuscht. Es kommt
nicht von ungefähr, dass Sie selber acht Tage vor der
Schlussberatung 56 Änderungsanträge in den Konvent
eingebracht haben.
Meine Damen und Herren, in welcher Demokratie leben wir eigentlich? Die Bundesregierung und der Bundesaußenminister, der Spontidemokrat der früheren Jahrzehnte, wollen uns, dem Parlament, verbieten, mit dem
Volk in Dialog zu treten und dieses Verfassungswerk offen zu diskutieren. Demokratie heißt doch Dialog mit
dem Bürger und nicht Geheimdiplomatie des Außenministers. Deshalb müssen wir, wenn wir beim Bürger Akzeptanz für den europäischen Verfassungsprozess erhalten wollen, den Dialog, das Gespräch und die Öffnung
suchen. Man kann doch ganz offen miteinander reden.
Es gibt natürlich noch offene Fragen. Darauf möchten
wir hinweisen. 15 Mitgliedstaaten haben Änderungsbedarf angekündigt. Deutschland dagegen sagt Nein, es
werde das Paket nicht aufmachen. Es werde darüber
nicht gesprochen, weder im Parlament noch in der Öffentlichkeit. Geschweige denn, dass eine Volksabstimmung stattfinden werde.
Brüssel bekommt gewaltige Macht. Die Bürger können das in der Praxis anhand des neuesten EuGH-Urteils
nachvollziehen, nach dem 15 000 Ärzte zusätzlich eingestellt werden müssen. Grund ist die Auslegung der Arbeitsrechtrichtlinien. Mit dem neuen Verfassungsentwurf
gibt es so gut wie keinen Politikbereich - ich nenne nur
die Bereiche Kultur, Zivilschutz, Sport, Wirtschaftspolitik, Kompetenz für Zuwanderung, Daseinsvorsorge und
Sozialpolitik -, in dem die EU zukünftig nicht ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeiten hat.
Das war nicht das ursprüngliche Ziel des SchäubleBocklet-Entwurfes. Wir haben ein geschlossenes Gesamtkonzept mit einer klaren Kompetenzabgrenzung
der verschiedenen Ebenen vorgelegt. Wir sind der Meinung, dass in den Verhandlungsprozess an bestimmten
Punkten, die ich zum Teil genannt habe, durchaus deutsche Positionen eingebracht werden müssten. Ich nenne
als Beispiel noch einmal die Daseinsvorsorge. Hierbei
haben Sie uns im Europaausschuss im Übrigen ausdrücklich unterstützt.
Dass Sie das christliche Wertefundament Europas und
einen Gottesbezug leugnen, das ist keine Überraschung.
Dass Sie sich mit aller Kraft für die Aufnahme der Türkei stark machen, das ist auch keine Überraschung. Herr
Gloser, das ist aber kein Wahlkampfthema.
({7})
- Ich verstehe die Erregung nicht. Ich komme gerade aus
einer Diskussionsrunde mit türkischen Professoren.
({8})
Mit den Türken kann man diese Frage viel vernünftiger
diskutieren als mit der SPD-Bundestagsfraktion.
({9})
In der Türkei wird durchaus der Standpunkt vertreten,
dass dieser Prozess aus türkischer Sicht auch kritisch zu
bewerten ist. Zum Beispiel müssten aufgrund des
EuGH-Urteils die Arbeitsrechtrichtlinien auch in der
Türkei in den dortigen Krankenhäusern umgesetzt werden. Angesichts dessen möchte ich die Frage stellen, ob
der acquis communautaire, diese 40 000 Gesetze und
Verordnungen, die wir in 45 Jahren in Europa entwickelt
haben, aus heutiger Sicht wirklich die Antwort auf die
Fragen bezüglich der Entwicklung der Türkei in dem
kommenden Jahrhundert ist. Ich bin der Meinung, dass
er das nicht ist. Wir müssen an dieser Frage weiterarbeiten. Deswegen sagen wir Nein zur Aufnahme, bieten der
Türkei aber eine privilegierte Partnerschaft, eine Zusammenarbeit auf allen Feldern an.
Im Rahmen der Haushaltsdebatte gäbe es noch viel in
der Europapolitik anzumahnen. Wir treiben die Osterweiterung weiter voran. Es gibt jedoch kein Konzept
zur Förderung der deutschen Grenzregionen, obwohl das
von Bundeskanzler Schröder in Weiden groß verkündet
wurde. Es gibt keine Reform des Finanzsystems. Es gibt
keine Reform der Strukturförderung. Wir haben eine
völlig unzureichende Haushaltskontrolle. Ihre grüne EUKommissarin erhält vom Europäischen Rechnungshof
nicht ein einziges Jahr das Testat der Zuverlässigkeit der
Rechnungsführung. Das muss man sich einmal vorstellen! Für 10 Prozent der europäischen Ausgaben im EUDr. Gerd Müller
Haushalt gibt es nicht einmal einen Verwendungsnachweis; und das unter Verantwortung einer grünen EUHaushaltskommissarin. Das ist ein echter Skandal, den
in Europa niemand wahrnimmt. Es scheint keine Rolle
zu spielen.
Einige Schlussbemerkungen zum Thema Auslandseinsätze der Bundeswehr: Wir teilen hier die von
Wolfgang Schäuble vorgetragenen Positionen. Ich habe
nicht ausreichend Zeit, Einzelheiten zu vertiefen.
({10})
Vor einer Zustimmung müssen Sie uns aber natürlich
noch entscheidende Fragen beantworten. Der Bürger
möchte ein Gesamtkonzept. Welches ist die nationale Interessenlage? Können unsere Soldaten die Belastungen
überhaupt noch tragen? Terrorismusbekämpfung ist das
wohl nicht in Kunduz. Drogenbekämpfung oder Bekämpfung der Drogenbosse ist es ja wohl auch nicht. Für
humanitäre Hilfe werden die Soldaten nicht gebraucht.
Ich zitiere die „Berliner Zeitung“: „Wir werden missbraucht für eine Politik der militärischen Symbolik“.
Ferner sagt Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker, „das eigentliche Ziel der Stationierung
deutscher Truppen in Kunduz sei die Verbesserung der
Beziehungen zu den USA“. Er nennt den Einsatz „ein
idiotisches Konzept“. Ich nenne es kein idiotisches Konzept; denn ich sehe noch kein Konzept. Sie sind uns hier
die Antworten auf die von Herrn Schäuble angemahnten
Fragen schuldig geblieben. Dieser jetzt angestrebte Afghanistan-Einsatz darf aber kein Kompensationsgeschäft
für eine Verweigerung im Irak sein. Er muss in sich selber logisch begründet sein. Nur dann können Sie von uns
eine Zustimmung erhalten.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Uta Zapf, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ost-West-Konfrontation ist vorbei, aber Frieden will
sich überhaupt nicht einstellen. Wir haben es mit neuen
Bedrohungen vielfältiger Art zu tun. Wir haben dies
heute schon alles angesprochen: instabile, zerfallene
Staaten, Proliferation von Massenvernichtungswaffen,
internationaler Terrorismus. Wir haben es zunehmend
mit asymmetrischen Kriegen zu tun, mit nicht staatlichen Akteuren und mit Terroranschlägen. Der Krieg ist
im ehemaligen Jugoslawien nach Europa zurückgekehrt.
Wir und alle Institutionen, sowohl die EU als auch die
NATO und auch die UN, haben unsere Lektionen aus
diesen Konflikten gelernt oder müssen sie dringend lernen. Ich glaube, eine der wichtigsten Erkenntnisse heißt,
dass wir Stabilität nur schaffen können, indem wir Integration und Kooperation auf nationaler und internationaler Ebene betreiben.
({0})
Dies zeigt sich doch zum Beispiel an der Institution
NATO und deren Erweiterung aus stabilitätspolitischen
Gründen. Dies zeigt sich an der EU und ihrer Erweiterung aus stabilitätspolitischen Gründen; das ist unter anderem aber auch ein wichtiges Argument. Das zeigt sich
am Balkan und dem Stabilitätspakt bzw. den Stabilitätsund Assoziationsabkommen mit der Perspektive, in die
europäischen Institutionen integriert zu werden, um dort
Stabilität zu bewirken. Deshalb, Kollege Schäuble, verstehe ich nicht, warum Sie dieser Regierung einen leichtfertigen Umgang mit dem Stabilitätspakt unter der Prämisse vorwerfen, dass man Europa schwäche, wenn man
zu vielen die Perspektive des Beitritts signalisiere.
Ich vermute allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Sie sich so vehement an dieser Stelle äußern, dass Sie sich vor allen Dingen auf den
Beitritt der Türkei beziehen. Das haben die Kollegen
Schäuble, Glos, Hintze und jetzt auch noch einmal der
Kollege Müller entsprechend vorgeführt. Ich möchte
dann einmal darum bitten, dass Sie in Bezug auf die
Frage nach der Integration der Türkei in die Europäische
Union ein bisschen geschichtsbewusst denken.
({1})
Seit 1993 läuft ein Prozess der Annäherung der Türkei an die EU mit vielen Versprechen,
({2})
die jetzt plötzlich nicht mehr wahr sein sollen. Auch die
Regierung Kohl hat sich ausdrücklich für eine Integration der EU eingesetzt.
({3})
Was passiert jetzt? Herr Glos hat heute früh auf ungeheuer subtile Art eine Xenophobie mit dem Argument
geschürt, die Türkenflut stehe vor der Tür.
({4})
Gerade eben haben wir das auch noch einmal bei Herrn
Hintze erlebt. Ich halte das für eine unerhörte Diskussion
und empfehle Ihnen zwei Dinge: Zum einen empfehle
ich Ihnen das kurze Papier des deutsch-türkischen Forums Ihrer eigenen Partei, der CDU, in dem mit sehr vernünftigen Argumenten, auch stabilitäts- und sicherheitspolitischen Argumenten, Erwägungen zum Beitritt der
Türkei in die EU angestellt werden.
Zum anderen empfehle ich Ihnen einen Blick in die
Fortschrittsberichte bzw. in die Berichte über die Reformen, die die Türkei in den letzten zwei Jahren mit einer
großen Vehemenz und mit einem Erfolg betrieben hat,
der unterstützt und nicht konterkariert gehört.
({5})
Man ist das Problem der Folter mutig angegangen; das
haben wir immer verlangt. Daneben haben wir immer
verlangt, dass das Militär politisch kontrolliert wird.
Amnesty International und die anderen Menschenrechtsorganisationen sagen, dass das alles in der Praxis noch
nicht in dem Maße, wie wir es verlangen, unten angekommen ist. Wir erwarten ja auch nicht, dass dieser Prozess bereits morgen abgeschlossen ist. Jetzt müssen erst
einmal die politischen Kriterien, die Kopenhagener Kriterien, erfüllt werden. Wir sollten die Türkei unterstützen, sodass die Umsetzung ihrer Vorhaben dort auch gelingt, und es nicht zu einem Prozess der Entmutigung
kommen lassen. Die Türkei hat die Schwächen selbst erkannt. Wenn Sie mit Herrn Erdogan gesprochen hätten,
dann wüssten Sie, dass er selbst sagt, dass noch nicht alles implementiert ist, dass sie das aber implementieren
werden.
Werfen Sie einen Blick auf die gesamte Geschichte
der Türkei in den letzten 70 Jahren. Dies ist ein islamisches Land mit einer Westorientierung und einem laizistischen System. Da wir die Austarierung mit den islamischen Staaten suchen, sind wir gut beraten, die Türkei
als einen ganz engen Partner zu gewinnen, um diese Probleme, die bis hin zum Terrorismus reichen, zu bewältigen.
({6})
Wir werden diese Diskussion noch weiter führen müssen; das sehe ich auch so.
In den letzten paar Minuten, die ich für meine Rede
noch habe, möchte ich noch ein paar Dinge zu anderen
politischen Themen sagen, die für die zukünftige Entwicklung unserer Sicherheitspolitik eine Rolle spielen.
Ich bedauere es wirklich sehr, dass das Gesamtkonzept der Außen- und Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung offensichtlich nicht wahrgenommen wird. Wir
diskutieren über bestimmte Teile. Es gibt aber immer
wieder Missverständnisse oder auch Nichtkenntnis. Deshalb empfehle ich allen Kolleginnen und Kollegen die
Lektüre des vom Bundessicherheitsrat am 28. Juni dieses Jahres abgesegneten Gesamtkonzepts zur zivilen
Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung.
Ich glaube, wenn wir die Dinge auf der militärischen
Seite und die zivilen Konzepte endlich einmal als ein
Gesamtkonzept betrachten, dann werden wir auch in anderen Dingen nicht mehr so stark differieren.
({7})
- Das ist doch überhaupt nicht wahr.
Herr Fischer hat heute früh ausdrücklich gesagt, dass
bei der akuten Bekämpfung des internationalen Terrorismus auch militärische Instrumente benötigt werden.
({8})
Es gab eine große internationale Einigkeit bezüglich der
UN-Resolution in dieser Frage und darüber, dass Massenvernichtungswaffen eine Bedrohung darstellen und
dass die Verhütung von Proliferation eine der wichtigen
Zukunftsaufgaben für uns ist. Wir sind uns darüber einig, dass wir alle uns dort engagieren müssen.
Es gibt aber keinen Konsens über die Strategien, Instrumente und Prioritäten. Wir plädieren dafür, multilateral zu arbeiten, wenn man diese Gefährdungen bewältigen will. Man muss die staatlichen Akteure mit
multilateralen Abkommen erreichen. Wir wissen allerdings auch, dass die nicht staatlichen Akteure mit anderen Maßnahmen erreicht werden müssen.
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstungshilfe
sind wichtige Stichpunkte, wenn wir darüber reden, wie
wir die Proliferation von Massenvernichtungswaffen
verhindern können. Wir müssen in diesem Bereich zu einem Konsens zurückkommen. Ich möchte noch einmal
erwähnen, dass ich die globale Partnerschaft der G 8 für
eine wichtige Aktion halte, um die Proliferation an nicht
staatliche Akteure zu verhindern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesamtkonzept
der Bundesregierung heißt Prävention statt Präemption. Ich glaube, wir sind an einer Stelle angekommen,
an der wir keinen internationalen Konsens mehr haben,
an der wir diesen internationalen Konsens aber dringend
suchen müssen, weil wir eine gemeinsame Bedrohungsanalyse und eine multilaterale Kooperation brauchen.
Das geht nur, wenn wir gemeinsame Strategien haben,
die wir auch gemeinsam umsetzen. Ansonsten kann weder für den Irak noch für Afghanistan eine Strategie
entwickelt werden, die in dieser Zeit der Diskussion
durch den Aufbau von Institutionen ein innenpolitisch
sicheres Umfeld schafft, in dem Rechtsstaatlichkeit,
Menschenrechte und Demokratie gelten.
Ein letztes Stichwort: Der Aufbau der Wirtschaft ist
dringend erforderlich. Ich bin der tiefen Überzeugung,
dass nur wirtschaftliche Teilhabe die den Konflikten zugrunde liegenden Probleme beseitigen kann. Keiner darf
von der wirtschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden. Wenn wir Ursachenbekämpfung wollen, dann müssen wir auch an dieser Stelle ansetzen. Organisierte Kriminalität und Korruption sind wichtige Stichworte, die
in ein sicherheitspolitisches Konzept hineingehören.
Um diesen Punkt abzuschließen: Ich halte das Konzept, das die Bundesregierung für Afghanistan vorgelegt
hat, für richtig, weil es die sicherheitspolitische Komponente und den zivilen Aufbau zusammenbindet. Wir
müssen uns bemühen, im Konsens mit den Vereinten
Nationen ein Konzept für den Irak zu finden. Wir alle
sind darauf angewiesen, die Gefahren, die uns sicherheitspolitisch global drohen, gemeinsam zu bekämpfen.
Danke.
({9})
Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Haushalt ist in Zahlen gegossene Politik, heißt es. Die
PDS im Bundestag hat sich deshalb die Teile besonders
angesehen, die sich mit Verteidigungs-, Außen- und Entwicklungspolitik befassen. Ich komme daher gleich auf
die politischen Differenzen zu sprechen, die sich anhand
der Zahlen und auch heute in der Debatte zeigen.
CDU/CSU drängen auf einen in absoluten Zahlen
größeren Verteidigungshaushalt.
({0})
Rot-Grün hat einen relativ, also im Verhältnis zu den anderen Posten größeren Verteidigungshaushalt vorgelegt.
Wir aber wollen einen kleineren Verteidigungshaushalt - absolut und auch relativ.
({1})
Das ist der erste Grund, warum wir diesen Haushalt ablehnen.
Nun gehöre ich nicht zu den Linken, die die Mittel im
Verteidigungshaushalt zigmal verteilen wollen, um alle
Übel dieser Welt zu bekämpfen. Das ändert aber nichts
an der Frage, wofür wir die Milliarden ausgeben, während sie zugleich an allen Ecken und Enden fehlen. Der
Bundesrechnungshof hat dieser Tage den Eurofighter
moniert, weil er nicht die versprochenen militärtechnischen Parameter erfülle. Ich kritisiere nicht die Parameter des Eurofighters, sondern den Eurofighter an sich
und die Milliarden Euro an Steuergeldern, die dafür
sinnlos hinausgeworfen werden. Dieselbe Rechnung
ließe sich noch an weiteren Posten aufmachen. Das ist
der zweite Grund, warum wir diesen Haushalt ablehnen.
Nun möchte ich an eine Debatte erinnern, die wir hier
vor knapp einem Jahr geführt haben. Ich habe sie gut in
Erinnerung, weil der Kollege Schäuble von der CDU/
CSU-Fraktion dafür plädierte, Präventivkriege, also Angriffskriege künftig nicht mehr auszuschließen, sondern
sich im Gegenteil darauf vorzubereiten. Das war eine
Bundestagspremiere. Ich erinnere mich auch deshalb so
gut an die Debatte, weil bei Rot-Grün plötzlich das
große Schweigen ausbrach, als hätte man nichts gehört.
({2})
Inzwischen wurde die Präventivkriegsoption über den
Umweg EU politisch manifestiert. Sie wird auch mit diesem Haushalt verfolgt. Herr Minister Fischer, Sie haben
kürzlich auf der Botschafterkonferenz gesagt, dass Sie
den Status quo nicht mehr akzeptieren können und ein
neues Kapitel deutscher Außenpolitik begonnen habe.
Ich stelle besorgt fest: Die Differenz, die es wegen des
Irakkrieges mit den USA gab, schmilzt.
({3})
Die Politik wird militarisiert, das Völkerrecht verbogen
und die Vernunft immer mehr vertrieben. Das muss in
die Sackgasse führen und dafür können Sie von der PDS
keine Zustimmung erwarten, ganz im Gegenteil.
({4})
Ich habe gerade in aktuellen Agenturmeldungen gelesen, Minister Struck wolle einen Voraustrupp der Bundeswehr nach Kunduz in Afghanistan schicken - völlig
ohne Mandat, wohlgemerkt. Wo sind wir hier eigentlich:
im Bundestag oder im Tollhaus? Noch gilt das Grundgesetz und es ist höchste Zeit, dass der Bundeskanzler und
der Herr Innenminister die Verfassung vor diesem Verteidigungsminister schützen.
({5})
Gegen diesen Militärgeist, gegen dieses neue Kapitel
deutscher Außenpolitik und gegen dieses neue Europa
haben in diesem Jahr Millionen Menschen demonstriert,
auch die PDS. Das ist der dritte Grund, warum wir diesen Haushaltsteil ablehnen.
Es gibt eine Grundoption, die auch diesen Haushalt
prägt. Sie wollen im Marschkonzert der mächtigen Militärmächte wenigstens die zweite Tuba spielen und weltweit mit auf Tournee gehen. Das ist kein Geheimnis. Das
sagen die geltenden Militärdoktrinen. Sie sind der vierte
Grund, warum die PDS im Bundestag diesen Haushaltsteil ablehnt.
Schließlich, haben Sie schon einmal verglichen, wie
viele Milliarden Sie für Rüstung, für Bundeswehr und
Auslandseinsätze planen und wie wenig Geld für Konfliktforschung, Prävention, Entwicklungshilfe oder, wie
die Kollegin Zapf eben in ihrem letzten Redeteil gesagt
hat, Abrüstungshilfe? Die absolut ungleichen Zahlen
verraten die tatsächlichen Schwerpunkte Ihrer Politik.
Wir finden sie grundfalsch. Das ist der fünfte Grund, warum wir diesen Haushalt ablehnen.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Lothar Mark, SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Liebe Kollegin Pau, ich muss zumindest darauf hinweisen, dass der Voraustrupp, den Sie ansprachen, durch das
ISAF-Mandat abgedeckt ist. Deswegen gehen diese Anschuldigungen ins Leere.
({0})
Ich will zum Haushalt des Auswärtigen Amtes reden,
der heute auf der Tagesordnung steht. Es wurde sehr viel
indirekt dazu gesagt.
({1})
Bei weltweit über 8 000 Beschäftigten einschließlich
Orts- und Sicherheitskräften weist der Haushalt des Auswärtigen Amtes einen überdurchschnittlich hohen Personalkostenanteil auf. Mehr als ein Viertel des Haushalts des Auswärtigen Amtes ist durch Pflichtbeiträge an
internationale Organisationen mit durchlaufenden Posten gebunden. Zusammen mit den Ansätzen für institutionelle Förderungen, ebenfalls überwiegend Personalausgaben, besteht der Haushalt des AA zu über zwei
Dritteln aus rechtlich gebundenen Ausgaben und damit
nicht disponiblen Mitteln.
Der AA-Haushalt liegt im laufenden Jahr mit einem
Gesamtvolumen von 2,24 Milliarden Euro um 83 Millionen Euro bzw. 3,9 Prozent über dem Ansatz von 2002.
Der Anteil am Gesamthaushalt stieg damit von 0,85 auf
0,90 Prozent. Ursachen hierfür waren in erster Linie die
Veranschlagung von bisher im Einzelplan 60 etatisierten
Mitteln aus dem Antiterrorpaket im Einzelplan 05 sowie
die Neuveranschlagung von Mitteln für das G-8-Programm „Globale Partnerschaft“ zur Beseitigung ehemaliger Massenvernichtungswaffen und -materialien.
Der Haushaltsentwurf 2004 führt allerdings für das
AA zu einer Absenkung um 2,1 Prozent. Somit steht ein
Volumen von 2,18 Milliarden Euro zur Verfügung. Das
sind 0,87 Prozent des Gesamthaushalts. Diese Reduktion
ist ohne substanzielle und strukturelle Veränderung möglich, da alleine im Beitrag an die Vereinten Nationen
durch Änderung des Wechselkurses über 45 Millionen
Euro gegenüber 2003 eingespart werden können und das
Haus durch Kosten-Leistungs-Rechnung in wesentlichen
Teilen sehr effizient wirtschaftet.
Während das Deutsche Archäologische Institut einen
Aufwuchs erfährt, werden die Mittel für das Goethe-Institut im In- und Ausland leicht gekürzt. Die Mittel für
Stipendien und den Schulfonds werden jedoch verstetigt.
Probleme sehe ich derzeit bei der Ausstattung der
Botschaften in der Programmarbeit, die - schon jetzt
auf niedrigem Niveau - von 1,37 Millionen Euro auf
0,65 Millionen Euro halbiert wurde, und im Bereich Facility Management. Jetzt nicht vorgenommene Instandsetzungen, Reparaturen und Erneuerungen rächen sich
später mit einem immens hohen Kostenaufwand, wenngleich ich mit großer Freude zur Kenntnis nehme, dass
der Titel für Liegenschaften im Ausland um fast 7 Millionen Euro erhöht wurde. Das heißt, an dieser Stelle
stimmt die Linie.
Über die Stellungnahme des Bundesrechnungshofes
zum Facility Management des Auswärtigen Amtes wird
an anderer Stelle zu reden sein. Allerdings steht das
Thema - wenn auch nicht unter diesem Begriff, sondern
dem des Liegenschaftsmanagements - schon seit mindestens 20 Jahren auf der Agenda und tangiert sicherlich
fast alle Ministerien. Das AA hat sehr schnell auf den
Bericht reagiert und für Abhilfe gesorgt.
Im Entwurf zum Einzelplan 05 scheinen zwei redaktionelle Fehler vorzuliegen. Auf Seite 41 sind in dem
Haushaltstitel zu den Stipendienfonds eine Erhöhung um
87 000 Euro für die Konrad-Adenauer-Stiftung und eine
Absenkung um 35 000 Euro für die Friedrich-Ebert-Stiftung vorgesehen.
({2})
Nach dem Protokoll des Stiftungsgesprächs vom 12. Februar 2003 müsste es umgekehrt sein. Ich denke, das ist
ein Versehen; hier muss eine Korrektur erfolgen.
Eine zweite Korrektur muss auf Seite 20 vorgenommen werden. In den Erläuterungen zum Haushaltstitel
„Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe“ wird angeführt, dass für Minenbeseitigungsprogramme 4,75 Millionen Euro vorgesehen sind. Tatsächlich sind es aber
9,75 Millionen Euro.
({3})
Unter diesem Haushaltstitel sind 5 Millionen Euro für
die Ausstattungshilfe vorgesehen und die restlichen Mittel stehen der Demokratisierungshilfe zur Verfügung.
Die Leistungen im Rahmen des Stabilitätspakts für
Südosteuropa betrugen 2003 47 Millionen Euro. Für
2004 sind sie vermeintlich auf null gesetzt, aber tatsächlich sind sie beim BMZ etatisiert und stehen ebenso wie
die Mittel für die Afghanistanhilfe dem AA zur Verfügung.
Kritisch ist aus meiner Sicht anzumerken, dass die
Mittel für die aktuelle Konfliktbewältigung im Rahmen
der Vereinten Nationen aufgrund zunehmender internationaler Einsätze und Verpflichtungen zwar stetig anwachsen, die finanzielle Ausstattung der Krisenprävention demgegenüber aber nicht in der Größenordnung
wächst, wie sie angemessen und nachhaltig wäre. Ich
denke, in diesem Bereich muss über neue Konzepte und
Strategien nachgedacht werden, da ich fest davon überzeugt bin, dass letztendlich eine intelligente und mit den
Partnern abgestimmte Prävention kostengünstiger wäre,
mehr Probleme dauerhaft gelöst und militärische Konflikte eher verhindert werden könnten.
Lieber Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich sehe gerade, dass meine Redezeit leider abgelaufen ist.
Ich möchte abschließend festhalten, dass ich sehr erfreut darüber bin, dass im Haushalt des AA die gegenseitige Deckungsfähigkeit und Übertragbarkeit großenteils
erreicht worden ist und dass der Haushalt insgesamt solide ist und von großem Verantwortungsbewusstsein des
AA gegenüber dem Gesamthaushalt zeugt.
({0})
Deswegen kann man ihm sehr wohl zustimmen.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Joachim Hörster, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich nicht wie mein Vorredner konkret zum
Haushalt äußern, sondern einige Aspekte streifen, die
vorhin schon angesprochen worden sind, allerdings nicht
so intensiv.
Der Kollege Gloser hat vorhin in seinem Beitrag ausgeführt, wir würden über den Beitritt der Türkei reden,
als stünde er unmittelbar bevor und als müsste man sich
direkt damit auseinander setzen.
({0})
Das ist zweifelsohne nicht so. Aber die Türkei ist ein
langjähriger treuer Verbündeter innerhalb der NATO, der
in den Zeiten des Kalten Krieges verlässlich an unserer
Seite gestanden hat. Deshalb sollte man ehrlich mit ihr
umgehen. Ich finde, zur Ehrlichkeit gehört, dass man der
Türkei sagt, dass sie kein europäisches Land ist. Auch
die innere Beschaffenheit der Türkei lässt nicht die Hoffnung zu, dass sie auf absehbare Zeit beitrittsfähig wird.
Es gibt hier eine Reihe von Brüchen.
In den letzten Wochen ist mit großer Genugtuung
festgestellt worden, dass der Einfluss des Militärs auf die
türkische Politik - angeblich - zurückgegangen sei. Ich
möchte darauf hinweisen, dass es gerade dem türkischen
Militär weitestgehend zu verdanken ist, dass die Türkei
noch heute ein laizistischer Staat ist; denn es hat in der
Geschichte der Türkei zweimal eingegriffen, um die
Übernahme durch Islamisten zu verhindern. Hier gibt es
einen Widerspruch: Um die Stabilität des Landes zu gewährleisten, braucht man einerseits das Militär möglicherweise auch im Innern. Auf der anderen Seite wollen
wir natürlich eine von staatlicher Macht unbeeinflusste
Demokratie. Dieser Widerspruch wird sich auf die
Schnelle nicht lösen lassen. Das sollte man auch unseren
türkischen Verbündeten deutlich machen.
Ich möchte nicht auf die Widersprüche zwischen Panzerverkäufen, Auslieferungen und der Wertegemeinschaft der Europäischen Union hinweisen, die jedem geradezu ins Auge springen, der sich mit diesem Thema
befasst.
({1})
Aber ich möchte auf einen Punkt näher eingehen: Die
Türkei hat eine gemeinsame Grenze mit dem Irak. Wenn
man also die Türkei als Verbündeten und künftiges Mitglied der Europäischen Union für denkbar hält, dann
kann man sich nicht einem Beitrag zur Ordnung der Verhältnisse im Irak verweigern; denn sonst würde man
beim türkischen Verbündeten für Unsicherheit sorgen.
Auch die Türkei braucht sichere Verhältnisse im Irak.
Aber in diesem Zusammenhang sind die Beziehungen
ebenfalls spannungsgeladen. Zu diesem Schluss kommt
man, wenn man daran denkt, wie sich die amerikanische
Administration und die türkische Regierung unter anderem über die Fragen zerstritten haben, welchen Beitrag
die Türkei zum Einsatz im Irak leisten soll und welchen
Einfluss ein solcher Beitrag auf die Kurdenfrage haben
wird. In Anbetracht aller Schwierigkeiten muss man
feststellen, dass es keinen Indikator gibt, der auch nur
annähernd die Hoffnung aufkommen lässt, dass die Türkei eine Chance hat, der Wertegemeinschaft der Europäischen Union anzugehören.
Im Übrigen hat die Türkei - man muss sich nur die
Landkarte genau anschauen - eine völlig andere geopolitische Aufgabe. Sie hat gemeinsame Grenzen mit dem
Iran - es besteht also die Möglichkeit, auf die Turkvölker einzuwirken - und mit Syrien, das noch immer zur
so genannten Achse des Bösen gehört. Es gibt also überhaupt keinen vernünftigen Ansatzpunkt, der es rechtfertigt, die Europäische Union in diesem Bereich auszuweiten.
Die Notwendigkeit, die Verhältnisse im Irak vernünftig zu regeln, betrifft uns alle. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, sich der dortigen Mithilfe nicht zu
verweigern. Ich bin kein Anhänger des militärischen
Teils unserer Hilfe. Aber ich bin der Auffassung, dass
wir als Deutsche aufgrund unseres Ansehens in dieser
Region einen wichtigen Beitrag zum Aufbau ziviler
Strukturen leisten können; denn man bringt uns Vertrauen entgegen, und zwar nicht nur in den „normalen“
Bevölkerungsschichten, sondern auch in den gebildeten
Kreisen. Da Deutschland keine ehemalige Kolonialoder Hegemonialmacht ist, können wir beim Aufbau der
zivilen Infrastruktur sehr viel leisten. Ich bin deswegen
der Auffassung, dass es gut wäre, wenn die UNO - ich
persönlich halte die Weltorganisation nicht für ein Allheilmittel; wenn man sich anschaut, wie viele Demokratien im Sicherheitsrat vertreten sind, dann müsste man
eigentlich manches hinterfragen - ein Mandat für den
Wiederaufbau im Irak erteilen würde und wenn sich
Deutschland zusammen mit der Europäischen Union im
Rahmen eines solchen Mandats am Wiederaufbau im
Irak beteiligen würde.
Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass die Probleme nicht alleine mit Soldaten gelöst werden können.
Wenn die Menschen im Irak nicht sehen, dass die Lebensverhältnisse nach dem Sturz von Saddam Hussein
spürbar besser werden, wenn also die Friedensdividende
ausbleibt, dann wird es dort keinen Frieden geben.
({2})
Das Problem Irak hängt mit dem Problem Naher Osten immanent zusammen. Ich sage das, auch wenn das
von einer bestimmten Seite nicht so gern gehört wird.
Eine Lösung des Nahostproblems ist nach den Entwicklungen der letzten Tage kaum mehr zu erreichen. Die
Roadmap scheint im Prinzip gescheitert zu sein. Das berühmte Quartett aus USA, Russland, der UNO und der
Europäischen Union hat einen wunderbaren Fahrplan
aufgestellt, um Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu erreichen und um den Weg zu einem selbstständigen palästinensischen Staat bei gleichzeitiger Sicherheit für Israel - wir haben uns für dieses Land verbürgt zu ebnen. Wir müssen aber leider Gottes feststellen, dass
dieses Quartett nichts unternommen hat, um sozusagen
durch eine Art Monitoring mit dafür zu sorgen, dass die
Roadmap Schritt für Schritt umgesetzt wird.
({3})
So hat man das Schicksal der Roadmap am Schluss den
extremen Flügeln - sowohl der terroristischen Hamas
auf der palästinensischen Seite als auch dem radikalen
Flügel auf der israelischen Seite - überlassen.
Es ist gut zwei Jahre her, dass Dr. Carlo Strenger, Psychologieprofessor an der Universität von Tel Aviv - er
gehört zur israelischen Friedensbewegung -, in einem
mahnenden Artikel, der in der „Welt“ erschienen ist,
schrieb: „Ohne Druck von außen wird es keinen Frieden
geben.“ Das heißt, sowohl die deutsche als auch die
europäische Politik müssen sich der Frage annähern, ob
es weiterhin bei gut gemeinten Erklärungen und traurigem Stirnrunzeln bleiben kann, wenn wieder ein oder,
wie in den letzten Tagen, gar zwei Selbstmordattentate
begangen worden sind oder wenn der palästinensische
Regierungschef zurücktritt, weil er keine Chance für die
Schaffung von Frieden sieht.
Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sich nicht
auch die internationale Staatengemeinschaft auf diesem
Gebiet in einer anderen Weise engagieren muss, als sie
es bisher getan hat. Nur so kann dieser Teufelskreis - die
gegenwärtige Situation kostet jeden Tag Menschenleben
und erzeugt zusätzlich Hass, Neid und Misstrauen - beendet werden. Ich denke, dass sich die deutsche Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Union mit dieser
Frage intensiv befassen sollte.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Peter Struck.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will dem Kollegen Austermann nicht vorgreifen; aber ich will einmal prognostizieren, was er sagen wird.
Er wird erstens sagen: Die Soldaten der Bundeswehr
- gerade im Auslandseinsatz, aber auch im Inland - verdienen höchsten Respekt sowie Dank und Anerkennung
für ihre Arbeit. Das sehe ich ganz genauso.
({0})
Er wird zweitens sagen: Aber dafür steht im Haushalt
nicht genügend Geld bereit.
({1})
Auch ich hätte natürlich gerne mehr Geld; aber jeder von
Ihnen weiß, dass wir in einer bestimmten Finanzsituation sind.
Ich würde sagen, wenn ich ihm antworten dürfte
- aber ich bringe den Haushalt ein; deshalb rede ich als
Erster -: Wenn Sie mir Vorschläge machen, wie Ihre zusätzlichen Forderungen finanziert werden sollen, bin ich
immer dabei. Ich weiß allerdings aus der letzten Haushaltsberatung - die erste, die ich als Minister miterleben
durfte -, dass Ihre Finanzierungsvorschläge unseriös
sind.
Er wird dann drittens auf Veröffentlichungen von
Rechnungshofberichten zum Eurofighter und zu anderen
Dingen hinweisen. Dazu will ich, um das gleich aufzugreifen, sagen: Wir werden eine Stellungnahme zum
Rechnungshofbericht abgeben. Wir werden im Haushaltsausschuss darüber zu diskutieren haben. Wir können sicher auch, wenn Sie das wünschen, im Rechungsprüfungsausschuss darüber diskutieren. Manches von
dem, was der Rechnungshof aufgeschrieben hat, ist absolut nicht zu verantworten. Ich will es bei dieser Bemerkung belassen. Wir werden es noch im Einzelnen zu
erörtern haben.
Die Situation der Bundeswehr wird durch folgende
Punkte gekennzeichnet: Wir befinden uns in einer Reform der Bundeswehr, die wir konsequent fortsetzen
werden; da werden wir auch nachjustieren. Unsere internationalen Einsätze werden fortgesetzt werden. Wir werden internationale Verpflichtungen im Rahmen der
NATO und der Europäischen Union haben. Wir werden
auch zusätzlich gefordert werden, zum Beispiel bei der
im Aufbau befindlichen NATO-Response-Force, im Zusammenhang mit den Dauervereinbarungen zwischen
NATO und EU über eine EU-Eingreiftruppe und über
die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO sowie
im Zusammenhang mit der Umsetzung der von mir am
21. Mai dieses Jahres erlassenen verteidigungspolitischen Richtlinien.
Ich habe in den vergangenen Wochen zahlreiche
Truppenbesuche durchgeführt und dabei Folgendes
festgestellt: Die Angehörigen der Bundeswehr haben die
Notwendigkeit der umfassenden Reform akzeptiert und
unterstützen sie ausdrücklich. Ich habe hoch motivierte
Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiter kennen gelernt. Das gilt trotz schmerzlicher Eingriffe für
Tausende Angehörige der Bundeswehr als Folge der notwendigen Stationierungsentscheidungen. Das gilt auch
trotz der enormen Belastungen, die die laufenden Einsätze für alle Verbände mit sich bringen, nicht nur für
die, die im Auslandseinsatz sind, sondern auch für die,
die zu Hause geblieben sind und die Aufgaben der anderen mit übernehmen müssen.
Wir sind im Augenblick mit etwa 8 200 Soldaten im
Auslandseinsatz und damit nach wie vor einer der größten Truppensteller für internationale Friedenseinsätze.
Es geht nicht darum, sich überall und jederzeit an interBundesminister Dr. Peter Struck
nationalen Einsätzen zu beteiligen, aber unser Engagement ist wichtig - auch für unsere Sicherheit. Darum tun
wir das,
({2})
im weltweiten Kampf gegen internationalen Terrorismus
genauso wie auf dem Balkan oder beim Aufbau in Afghanistan.
Über die aktuelle Situation in Afghanistan haben wir
heute Morgen und auch vorhin in der Debatte über den
Einzelplan des Kollegen Fischer diskutiert. Ich will dazu
deshalb nur noch auf die Entscheidung hinweisen, die
ich getroffen habe, nämlich ein so genanntes Standortuntersuchungsteam zu entsenden. Ich habe die Obleute
des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses sowie die Fraktionsvorsitzenden schriftlich
über die beabsichtigte Aufgabe informiert. Ich will die
Aufgabe auch dem Gesamtparlament noch einmal kurz
darstellen.
Es geht um die Frage: Können wir die derzeit durch
die USA genutzte Infrastruktur in Kunduz übernehmen?
In dem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen:
Wie wird diese ISAF-Insel in Kunduz, wenn wir sie
denn installiert haben, mit Kommunikationseinrichtungen, Führungsmitteln - Stichwort: Interoperabilität - an
das ISAF-Headquarter in Kabul sowie nach Deutschland
angebunden? Wie werden die Liegenschaften, die wir
dort in Kunduz nutzen werden - entweder die von den
Amerikanern übernommenen oder neu einzurichtende -,
versorgt und bewacht? Welchen Umfang brauchen wir
bei der sanitätsdienstlichen Versorgung? Es gibt auch
noch andere Fragen.
Der Kollege Lothar Mark hat schon darauf hingewiesen: Das ist durch den ISAF-Beschluss des Bundestags
eindeutig gedeckt, der Abstimmungsgespräche auch
außerhalb Kabuls erlaubt. Als Parlamentarier, der die
Rechte des Parlaments durchaus zu schätzen weiß, wie
die Kollegen bestätigen können, hielt ich es nur für richtig, Sie vorher einzubinden, obwohl ich Sie überhaupt
nicht darüber informieren müsste. Ich habe das gestern
in den Ausschüssen und bei den Obleuten getan.
Die maximal bis zu 20 Soldaten werden so schnell
wie möglich auf den Weg nach Kunduz geschickt. Ich
erwarte dann innerhalb von neun bis zehn Tagen, nachdem sie zurückgekommen sein werden, eine Bewertung
der Situation von ihnen. Bis dahin werden wir vermutlich auch einen entsprechenden Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen haben, dem ein Beschluss des NATO-Rats folgen wird, sodass wir nach der
bisherigen Planung im Oktober hier im Parlament darüber zu entscheiden haben, und zwar über Konkreteres als
das, was Inhalt der jetzt vom Kabinett getroffenen Vorentscheidung ist. Wir werden dem Parlament dann auch
sagen können - darauf werden die Haushaltsausschussmitglieder zu Recht Wert legen -, um welches finanzielle Volumen und um welche Größenordnung der Zahl
der Soldaten es gehen wird. „Zwischen 250 und 450“ haben wir zunächst einmal festgelegt.
Ich will an dieser Stelle eine Frage des Kollegen
Schäuble aus der vorherigen Debatte beantworten.
({3})
Er hat gefragt: Gibt es denn Möglichkeiten der Beteiligung anderer Nationen, entweder in unserem regionalen Wiederaufbauteam oder in Form eines eigenen
Teams? Ich bin mit vielen europäischen Amtskollegen
im Gespräch und - das habe ich auch gestern im Auswärtigen Ausschuss vorgetragen - halte es durchaus für
denkbar, dass sich entweder ein europäischer Partner an
unserem Team in Kunduz beteiligt oder dass andere
europäische Staaten eigene regionale Aufbauteams in
Afghanistan installieren.
Ich bin - das habe ich dem Kollegen Hoyer eben auch
schon in einem privaten Gespräch gesagt - nicht glücklich darüber, dass die FDP einen Einsatz schon jetzt klar
ablehnt. Ich halte diese Entscheidung für vorschnell und
falsch. Man sollte doch lieber zunächst abwarten, bis
man weiß, wie die konkrete Situation dort aussieht
- möglicherweise können wir im Oktober auch schon sagen, welche anderen europäischen Nationen sich beteiligen wollen -, und erst dann eine Entscheidung treffen.
Wir sind in Afghanistan in der Tat an einem Wendepunkt. Niemand ist in der Lage - das haben Sie, Herr
Kollege Hoyer, eben selbst in der Debatte aufgezeigt -,
20 000 bis 30 000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Eine Alternative wäre demnach, das
Mandat für beendet zu erklären. Da wir das nicht können
- es wurde ja auch von Ihnen ausgeführt, warum das
nicht geht -, wählen wir den Mittelweg mit den Wiederaufbauteams. Wenn es gelingt, acht bis zwölf in Afghanistan zu installieren, bietet sich damit eine Chance. Ich
will nicht verschweigen, dass wir damit Neuland betreten, zum einen mit der Art, denn Teams aus 250 bis
450 Soldaten stellen ja kein massives Truppenkontingent
dar, zum anderen, indem wir unsere Wiederaufbauteams
anders als die bisherigen vier der Amerikaner gestalten.
In diesen ist der Anteil von zivilen Personen ja sehr viel
geringer als der von Soldaten.
Wir wollen, dass der zivile Aufbau Afghanistans im
Vordergrund der Arbeit unserer Teams steht. Deren
Hauptaufgabe soll es also sein, ordentliche zivile Strukturen in diesem Land zu schaffen. So sieht unsere Konzeption aus. Dabei wird es sicherlich auch Learning by
Doing geben. Aber mit Ihrer Haltung, wie Sie es eben
für die FDP-Fraktion erklärt haben, diese Chance überhaupt nicht zu ergreifen und einen solchen Einsatz abzulehnen, nehmen Sie meiner Meinung nach keine verantwortliche politische Position ein.
({4})
Ich will noch einige kurze Bemerkungen machen, um
den Kollegen nicht Redezeit wegzunehmen. Das gehört
sich ja für einen Minister in einer ersten Lesung nicht.
({5})
- Ich rede ja jetzt für mich.
Wir befinden uns in der Phase der Nachjustierung
der Bundeswehrreform. Das heißt, wir wollen die Synchronisierung von veränderten Aufgaben und der dazu
notwendigen Ausrüstung in Übereinstimmung mit den
verfügbaren Mitteln erreichen. Das ist das Ziel. In den
vergangenen Monaten habe ich vor diesem Hintergrund
bereits wichtige Rüstungs- und Standortentscheidungen
getroffen. Ich will hier ausdrücklich sagen: Es werden
noch weitere folgen; der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Der Generalinspekteur hat von mir den Auftrag bekommen, bis Ende dieses Jahres die neue Konzeption der Bundeswehr vorzulegen und auf dieser
Grundlage ein neues Material- und Ausrüstungskonzept
zu erarbeiten.
Eine Tatsache steht für mich fest - ich richte diese
Worte jetzt auch an den Koalitionspartner -: Eine Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht oder eine
Verkürzung der Wehrdienstdauer ist für mich kein Bestandteil der Modernisierung der Bundeswehr.
({6})
Die Grundwehrdienstleistenden mit einer Wehrdienstdauer von neun Monaten nehmen in den Streitkräften
wichtige Funktionen wahr. Sie leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Einsatzbasis
hier in Deutschland. Wir werden die Ausgestaltung des
Grundwehrdienstes ändern; dazu erwarte ich Vorschläge
vonseiten der Soldaten. Aber ich stelle den Grundwehrdienst von meiner Seite aus nicht zur Disposition. Darüber müssen wir in der Koalition diskutieren und dann
entscheiden.
Wir leisten mit unserem Etatansatz in Höhe von
24,4 Milliarden Euro einen Beitrag zur Konsolidierung
und Festigung unseres Haushalts. Dass das praktisch weniger bedeutet als im Vorjahr, muss mir niemand erzählen. Das hängt mit der Erhöhung der Besoldung und dem
Anstieg der Preise zusammen. Trotzdem werden wir
- wenn ich den Haushalt jetzt einmal zusammenfassend
bewerten darf, Herr Kollege Austermann - versuchen
müssen, die Effizienzsteigerung im Rahmen des Plafonds von 24,4 Milliarden Euro zu erreichen, durch die
Überprüfung all dessen, was wir bisher tun. Sie haben
immer abgelehnt, Sie stimmen bei den Haushaltsberatungen immer dagegen. Sie waren gegen die Maßnahmen zur Zusammenarbeit von Bundeswehr und Wirtschaft, die mein Vorgänger Rudolf Scharping ergriffen
hat. Sie waren gegen die Einrichtung der GEBB und beantragen jedes Jahr in schöner Regelmäßigkeit ihre Abschaffung, was jedes Jahr in schöner Regelmäßigkeit abgelehnt wird.
Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie einmal zu einem Mobilitätszentrum der Bundeswehr und sehen Sie sich an,
was dieser neue Fuhrparkservice leistet. Sehen Sie sich
an, was die LH-Bekleidungsgesellschaft der Bundeswehr leistet. Durch diese Einrichtungen beginnen wir
jetzt Geld einzusparen, obwohl die Leistungsfähigkeit
und das Serviceangebot für die Soldaten in keiner Weise
verschlechtert worden sind. Es gibt natürlich Anlaufschwierigkeiten; das weiß jeder. Aber der Weg, durch
die Kooperation mit der Wirtschaft unsere Kostenlast zu
reduzieren, ist ein richtiger Weg, von dem ich auch nicht
abzuweichen gedenke - um Ihnen das gleich für die
Haushaltsberatungen mit auf den Weg zu geben.
({7})
Ich komme zu den Beschaffungsvorhaben, die anstehen. Ich vermute, dass Sie auch die Denkschrift des
Heeres 2020 ansprechen werden. Wenn Sie es wollen,
können Sie es streichen, weil ich es jetzt schon erledige.
({8})
Ich weiß, dass die Inspekteure der Teilstreitkräfte bestimmte Wünsche haben. - Er streicht es schon heraus,
das habe ich mir gedacht. - Jeder hat Wünsche, aber jeder Inspekteur des Heeres, der Marine, der Luftwaffe,
der Streitkräftebasis, der Sanität weiß, dass alles auf dem
Prüfstand steht, was irgendwann vielleicht einmal in einer Bundeswehrplanung aufgeschrieben worden ist. Ich
bin nicht bereit, dem Parlament eine Bundeswehrplanung vorzulegen, von der ich weiß, dass sie nicht abgesichert ist, weil die finanziellen Grundlagen nicht stimmen.
({9})
Das kann man dem Parlament und auch der Bundeswehr
nicht zumuten. Hier muss jetzt Klartext gesprochen werden. Wir werden das tun.
({10})
- Ich sage das ja nur für den Fall, dass Sie wieder mit Ihren unrealistischen Forderungen kommen, was alles zusätzlich gemacht werden soll.
Ich sage: Die Denkschrift des Heeres ist interessant,
aber sie ist überhaupt nicht verbindlich. Das weiß der Inspekteur des Heeres und die anderen wissen es auch.
Darüber werden wir zu entscheiden haben, wenn wir
über die Ausrüstungs- und Materialplanung der Bundeswehr diskutieren. Deshalb können Sie die Denkschrift
gern zitieren und fragen: Warum wird all das, was in der
Liste steht, nicht gemacht? Ich sage Ihnen nur: Alles,
was irgendwann irgendwo aufgeschrieben worden ist für
die Zeit bis zum Jahre 20XY, steht auf dem Prüfstand.
Darüber werden wir anhand von realistischen Daten hier
entscheiden und wir werden uns nicht von Wunschdenken leiten lassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
dem Verteidigungsminister sehr dankbar für seine Ausführungen, nicht nur, weil er offensichtlich einen ganzen
Eimer Kreide zu sich genommen hat, bevor er ans Pult
gegangen ist, um die Debatte von sich aus zu harmonisieren, sondern weil er schon auf einige Dinge hingewiesen hat, bei denen er mit Recht davon ausgeht, dass ich
sie anspreche. Ich will entsprechend antworten, aber ein
paar Dinge müssen schon klar gesagt werden.
Ich beginne zunächst mit der Frage: Wie steht es tatsächlich um die Finanzen der Bundeswehr? Es stimmt
ja nicht, Herr Minister, dass die Bundeswehr in diesem
und im nächsten Jahr 24,4 Milliarden Euro zur Verfügung hat. Es fehlt in der Tat eine Viertelmilliarde Euro
durch Haushaltskürzung, globale Minderausgabe und
Einnahmen, die an anderer Stelle erbracht werden müssen. Wenn Sie dann noch Besoldungserhöhung und Inflationsrate ansprechen, dann wird das, was die Bundeswehr zur Verfügung hat, in der Tat ständig weniger. Und
wenn man ständig weniger zur Verfügung hat, wird es
immer schwieriger, die zu leistenden Aufgaben zu erfüllen.
Im Klartext heißt das: Der Verteidigungsetat sinkt
nicht nur real, sondern auch nominal. Dieses Bild wird
auch nicht dadurch besser, dass Sie ankündigen, im
Jahre 2007 solle das besser werden. Da Sie dann mit Sicherheit nicht mehr an der Regierung sind, ist das ein
Versprechen, das Sie gar nicht zu halten brauchen.
({0})
Es ist auch uninteressant für die Soldaten und die zivilen
Mitarbeiter, die heute auf die Lösung ihrer Probleme
warten.
Gleichwohl ist die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Steigerung der Verteidigungsausgaben richtig. Auf
der anderen Seite muss man sich aber auch anschauen:
Wie haben sich innerhalb dieses Etats einzelne Ansätze
verändert? Dabei möchte ich auf die große Zahl von internationalen Einsätzen hinweisen. Natürlich dankt die
Union den vielen Tausend Soldaten und zivilen Mitarbeitern für das, was sie bei diesen Einsätzen leisten.
({1})
Die Mittel für gepanzerte Fahrzeuge sanken in den
letzten vier Jahren um 59 Prozent, die für Munition um
24 Prozent, die für Entwicklung um 25 Prozent und die
für wehrtechnische Forschung um 28 Prozent. Demgegenüber ist der Ansatz für Flugzeuge auf 2,1 Milliarden Euro verdoppelt worden.
({2})
- Das bestreite ich überhaupt nicht. Vielleicht kann ich
dazu gleich mehr sagen, Herr Kollege.
Wir haben gemeinsam beschlossen, dieses Flugzeug
anzuschaffen; lediglich eine Abgeordnete aus Ihren Reihen, die längst nicht mehr Mitglied dieses Parlaments ist,
wollte das verhindern. Das ist nicht das Problem. Als
Problem stellte sich allerdings im Nachhinein heraus:
Wie gehen wir mit diesem Auftrag um? Ist die Art der
Zusammenarbeit mit der Industrie richtig? Hat nicht der
industrielle Auftragnehmer einen Anspruch darauf, bezüglich seiner Leistung, der Termine und vieler anderer
Dinge ernst genommen zu werden? Alleine mit der
Preisgleitklausel für den Eurofighter, wie sie zurzeit gehandhabt wird, können Sie die gesamten Wünsche von
Herrn Gudera bis zum Jahre 2020 erfüllen.
({3})
- Ich spreche von der Preisgleitklausel, wie sie jetzt gehandhabt wird, Kollege Wagner. Die Frage ist: Gehe ich
mit dem Geld, das mir anvertraut wird, anständig um?
Wir haben den Bericht des Rechnungshofes im Entwurf vorliegen. Zuerst ist er übrigens im „Spiegel“ erschienen, wahrscheinlich sogar, bevor er dem Ministerium vorlag. Wir müssen den Bericht ernst nehmen,
selbst wenn wir wissen, dass einer der Verfasser die Beschaffung immer skeptisch betrachtet hat. Aber die Mängel, die in diesem Bericht aufgeführt werden, sind so
eklatant, so gravierend, dass man sie nicht einfach wegwischen kann. Es reicht nicht, wenn Sie aufgrund des
Berichtes jetzt eventuell bereit sind, einzelne Teile zu reparieren. Bevor nicht über die Mängel gesprochen worden ist und nicht klare Aussagen getroffen worden sind,
wird es von uns keine Zustimmung für das zweite Los
geben.
Für mich ist Folgendes besonders entscheidend; der
Kollege Kossendey wird auf das Thema gleich noch näher eingehen. Wenn der Haushaltsausschuss im Jahre
2001 Beschlüsse gefasst hat, um das in den Griff zu bekommen, Herr Kollege, die dann nicht eingehalten werden, dann tragen diejenigen die Verantwortung, die das
Ministerium zurzeit führen.
({4})
Was hier zurzeit stattfindet, passt im Übrigen auch zu
einem anderen Thema, nämlich dem Verschenken von
23 MiG-29-Jägern. Das haben Sie nicht erwähnt. Der
Gegenwert eines Eurofighters entspricht etwa 120 Millionen Euro. Wir „verkaufen“ jetzt 23 MiG-29-Jäger
zum Preis von 1 Euro und reißen damit eine Lücke, die
durch den Eurofighter noch nicht geschlossen wird. Es
war vereinbart, dass mit der deutschen Industrie im Gegenzug ein Wartungsvertrag für diese Flugzeuge abgeschlossen werde. Aber dieser Wartungsvertrag kommt
nun nicht zustande und die Polen, an die diese Flugzeuge
sozusagen verschenkt worden sind, lassen sie nun in den
USA warten. Das hat mit Sicherheit auch noch andere
Gründe. Aber wenn dieser Wartungsvertrag mit der deutschen Industrie zustande gekommen wäre, wären die
Flugzeuge zunächst einmal hier geblieben und wir hätten
die Lücke geschlossen, die durch die Anschaffung des
Eurofighters entstanden ist. Auch das ist ein Versäumnis.
({5})
Der Verteidigungsetat benötigt auch eine substanzielle Erhöhung, um bekannte Defizite bei der Führungsfähigkeit, der Nachrichtengewinnung, der Aufklärung, der Mobilität, der Wirksamkeit im Einsatz, der
Unterstützung und Durchhaltefähigkeit, der Überlebensfähigkeit, dem Transport und dem passiven Schutz der
Soldaten auszugleichen.
Die finanziellen Handlungsspielräume werden angesichts langfristiger Verpflichtungen auch in Zukunft
gering sein. Auch die internationalen Forderungen, die
den Verteidigungsetat betreffen, werden uns belasten.
Angesichts dieser Situation bin ich der Meinung, dass
man bei neuen Auslandseinsätzen sehr kritisch hinterfragen muss, ob wir uns diese noch leisten können.
({6})
Wenn wir ein Kunduz-Papier des Bundeskabinetts haben, dann ist es hinsichtlich dessen, was darin beschrieben ist, interessant. Interessant ist aber auch die Tatsache, dass das Finanztableau fehlt, dass die Frage, was
denn 250 bis 350 Soldaten im Auslandseinsatz und das,
was an Infrastruktur vorbereitet werden muss, zusätzlich
kosten, einfach nicht beantwortet worden ist.
Es gelingt bei dem Etat 2004 offensichtlich auch
nicht, eine Trendwende bei den Betriebsausgaben einzuleiten. Die Mittel für Materialerhaltung stagnieren.
Die verteidigungsinvestiven Ausgaben sinken gegenüber
2003 um 140 Millionen Euro. Für internationale Einsätze steht zu wenig Geld zur Verfügung. Für Sofortbeschaffungen, die Sie für diese internationalen Einsätze
brauchen, damit die Soldaten genügend gepanzert sind
- jeder weiß aus den Erfahrungen des letzten Jahres, wie
wichtig das ist -, stehen lediglich 240 Millionen Euro
zur Verfügung. Die Ausstattung unserer Soldaten mit
passivem Schutz ist dringend verbesserungsbedürftig.
Wenn ich das alles zusammenfasse, muss ich sagen,
dass die objektiven Angaben des Haushalts die Behauptung einer erforderlichen Bundeswehrreform „am laufenden Motor“ als Märchen entlarvt haben.
Herr Minister, Sie haben das Thema GEBB angesprochen. Ich hatte eigentlich den Eindruck, Sie seien da ein
ganzes Stückchen weiter, nicht ein Stückchen weiter,
was die Frage betrifft, dass wir neue zusätzliche Beschäftigungsfelder erschließen. Die Nibelungentreue gegenüber Ihrem Vorgänger sollte auch ihre Grenzen haben, wenn man feststellt, dass die GEBB nicht das
bringt, was sie eigentlich bringen sollte.
Stattdessen wachsen immer neue Reformorganisationen wie Pilze aus dem Boden und verbrennen Geld für
Gutachter und Zwischenlösungen. Auch dieses Geld
wäre sicherlich besser für Beschaffungen auszugeben.
Gerade wurde der frühere Büroleiter Rudolf
Scharpings nach für ihn lukrativen Jahren als Reformmanager verabschiedet, da sitzt schon wieder ein so genannter Reformer als Geschäftsführer eines so genannten Modernisierungsboards im gemachten Nest. Auch
das kostet natürlich Geld, das man im Verteidigungsetat
an anderer Stelle brauchte.
Das Flottenmanagement ist wesentlich teurer als der
Eigenbetrieb. Wenn man durch die Lande fährt, dann
sieht man eine Vielfalt von Autos, übrigens auch tschechischer Produktion und aus anderen Ländern. Da frage
ich mich, ob es wirklich Not tut für die Bundeswehr,
dass jeder Fahrzeugtyp anders aussieht.
Wenn ich einmal die Haushaltsansätze für die Fahrzeughaltung der Bundeswehr im Jahre x, heute und im
nächsten Jahr vergleiche, dann stelle ich fest, dass das
Flottenmanagement zum Betrieb dieser Autos, für die
dann auch noch Soldaten erforderlich sind, die nicht
mehr im Etat erscheinen - es wird ein bisschen herumgemogelt -, teurer ist. Muss das so sein?
Das Bekleidungsmanagement verstößt gegen
Art. 87 b des Grundgesetzes, hat das Oberlandesgericht
Düsseldorf gesagt.
Beim Milliardenvorhaben „Herkules“, das seit einiger Zeit im Rohr ist und über 6 Milliarden Euro kosten
soll, gibt es bis heute kein abschließendes Ergebnis. Der
Bundesrechnungshof hat über 70 Fragen gestellt, wenn
ich richtig gezählt habe, weil auch er nicht glaubt, dass
das gigantische Projekt so in die Tat umgesetzt werden
kann.
Herr Minister, gucken Sie sich das Thema GEBB
noch einmal genau daraufhin an, ob es wirklich so weitergeht und ob es, wenn man schon das Vorhaben „Herkules“ verwirklichen will, sinnvoll ist, an anderer Stelle
für Informationstechnik so viel Geld auszugeben. Die
Aufgabe ist zu groß, als dass sie so bewältigt werden
kann, wie es geplant ist.
Der Traum, durch Zusammenarbeit mit der Industrie
mehr Geld zur Anschubfinanzierung für neue Beschaffungen zu bekommen, scheint mir ausgeträumt zu sein.
Die Bundesregierung verweigert sich dieser Erkenntnis
und trägt damit die Verantwortung für das sinkende Vertrauen der Angehörigen der Bundeswehr in ihre politische Führung sowie für das sinkende Vertrauen ihrer
Partner im Bündnis, was die Bereitschaft zur Solidarität
angeht, und das sinkende Vertrauen der Industrie in die
Absicherung des Erhalts wehrtechnischer Handlungsfähigkeit.
Nun haben Sie sich überlegt, dass man das eine oder
andere tun sollte, um den Firmen auf die Beine zu helfen, die mit Aufträgen nicht üppig ausgestattet sind. Sie
wollen jetzt aber zunächst nur die unternehmerische
Freiheit einschränken. Damit keine Geschäftsanteile von
HDW oder anderen an ausländische Firmen verkauft
werden - als ob man Angst haben müsste, dass amerikanische Unternehmen Teile von HDW an Bin Laden oder
jemand Ähnlichen verkaufen -, soll ein Gesetz gemacht
werden, durch das der Verkauf von Geschäftsanteilen
deutscher wehrtechnischer Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen verboten wird. So helfen Sie weder
den Firmen, die keine Aufträge haben und denen Sie
auch noch den Export in bestimmte Länder verweigern,
noch tragen Sie zum Erhalt von Arbeitsplätzen in
Deutschland bei. Sie helfen also weder der Werftindustrie noch anderen.
Ich warne davor, dass wir im Bereich U-Boote ein
französisches Monopol bekommen und sich dann eine
Entwicklung abzeichnet, die bei der EADS eine leichte
Deformation in Richtung überlastiger Einflüsse, die
nicht aus Deutschland kommen, gebracht hat. Wenn sich
das bei den Werften wiederholt, wäre das sicherlich eine
Entwicklung, die nicht gutzuheißen ist.
Wenn wir uns den Regierungsentwurf für den Verteidigungsetat und die Absichtserklärungen, die wir bisher
gehört haben, vor Augen führen, dann bietet sich aus
meiner Sicht folgendes Bild:
Die Reform der Bundeswehr, noch von Herrn
Scharping geplant, ist gescheitert. Der Verwaltungsvollzug durch die Spitze des Ministeriums und insbesondere
durch die Rüstungsabteilung verwirrt mehr, als dass
klare Führung gezeigt wird. Das schadet unserem Land.
Die großen Reformvorhaben laufen total aus dem Ruder.
Weder der Haushalt insgesamt noch die Investitionen
steigen.
Die Diskussion in der Regierungskoalition um die zukünftige Wehrstruktur - an dieser Stelle danke ich für
Ihre Klarstellung im Hinblick auf die Wehrpflicht - ist
günstigstenfalls noch völlig offen. Herr Nachtwei wird
sich sicherlich gleich dazu auslassen. Eine optimistische
Zukunftsperspektive wird weder den Angehörigen der
Bundeswehr noch unseren Bündnispartnern geboten.
Die Signale an die Industrie sind mehr als ernüchternd.
Die Entwicklung der Ausstattung des Heeres ist dramatisch.
Sie werden sich sicherlich nicht wundern, dass ich
trotz einiger einvernehmlicher Worte und trotz gemeinsamer Überzeugungen in bestimmten Bereichen zu dem
Schluss komme: Der Haushaltsentwurf für den Verteidigungsbereich ist wie der gesamte Haushalt nicht beratungs- und zustimmungsfähig. Wir erwarten, dass Sie in
einzelnen Bereichen umsteuern und dafür sorgen, dass
mehr Mittel im Haushalt für die Beschaffung umgeschichtet werden. Wir sollten uns gemeinsam bemühen,
den Etat entsprechend zu verbessern.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Reinhold Robbe, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Austermann, ich weiß, wie risikobehaftet es ist, einem
Haushälter zu widersprechen. Gestatten Sie mir trotzdem zwei kurze Anmerkungen.
Erste Anmerkung. Wir sollten uns alle, die wir auf nationaler Ebene die Verantwortung für die Außen- und Sicherheitspolitik tragen, davor hüten, wichtige Rüstungsprojekte durch populistische Äußerungen zu beschädigen.
Das dient weder den Projekten noch nutzt es denen in
den Betrieben, die auf ihre Leistungen stolz sind. Es
dient erst recht nicht den Exportchancen derjenigen Betriebe, die diese Rüstungsgüter nicht nur auf den nationalen, sondern auch auf den internationalen Markt bringen wollen.
({0})
Zweite Anmerkung. Eines sollte von vornherein vermieden werden - ich sage das ganz bewusst vor dem
Hintergrund, dass es über diesen Punkt im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages nie einen
Streit gegeben hat -: Die Sicherheit der Soldatinnen und
Soldaten, insbesondere der Soldatinnen und Soldaten in
Auslandseinsätzen, hat immer ganz oben gestanden. Es
hat weder unter der alten noch unter der jetzigen Bundesregierung irgendwelche Zweifel daran gegeben, dass
das Geld, das für den Schutz der Soldaten notwendig ist,
auch tatsächlich zur Verfügung gestellt wird. Auch das
sollte an dieser Stelle einmal festgestellt werden.
Der Entwurf zum Verteidigungshaushalt 2004 orientiert sich konsequent an dem Ziel, Auftrag, Fähigkeiten
und Ausrüstung unserer Bundeswehr mit den verfügbaren Mitteln in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.
Der Finanzplan sieht bis 2007 eine kontinuierliche Steigerung der Ausgaben auf rund 25 Milliarden Euro vor,
dies alles trotz des Umstandes - der Minister hat schon
darauf hingewiesen -, dass auch das Verteidigungsressort seinen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts
leisten muss.
Der Spagat zwischen der Verpflichtung, die Schulden abzubauen und gleichzeitig die Streitkräfte an die
neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen, sowie dem Vorhaben, die begonnene Reform
weiterzubringen, wird nach meiner festen Überzeugung
gelingen. Die Bundeswehr muss bekommen, was sie
unbedingt braucht. Die Menschen in der Bundeswehr
dürfen dabei nicht vergessen werden. Es muss den
Streitkräften möglich sein, neben der Bewältigung aktueller Herausforderungen auch künftige Unwägbarkeiten zu meistern.
Für die Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an
internationalen Einsätzen sind im Einzelplan 14 Mittel
in Höhe von rund 870 Millionen Euro vorgesehen.
Hinzu kommen weitere rund 223 Millionen Euro für die
materielle und personelle Vorbereitung auf internationale Einsätze. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind bestmöglich ausgestattet. Dies gilt auch im
internationalen Vergleich. Das muss, wie ich gerade
schon erwähnte, erste Priorität bleiben. Aber die aktuellen politischen Entwicklungen verdeutlichen, dass es immer wieder unabsehbare Ereignisse geben kann, für die
auch mit einer bestmöglichen Finanzausstattung nur bedingt vorgesorgt werden kann.
Tatsache ist, dass sich das Einsatzspektrum der Bundeswehr grundlegend gewandelt hat. Das gilt auch für
den Charakter der Auslandseinsätze, angefangen in
Kambodscha und Somalia über den Balkan bis hin zum
militärischen Engagement im Rahmen der Operation
„Enduring Freedom“ am Horn von Afrika und im Rahmen der ISAF in Afghanistan. Sie hatten und haben ausschließlich den Auftrag der Friedensschaffung, der Friedenserhaltung und der Konfliktprävention.
Für Afghanistan bedeutet das: Die Unterscheidung
zwischen Terrorismusbekämpfung einerseits und Stabilisierungs- und Wiederaufbauarbeit andererseits entspricht
der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung der Mandate
ebenso wie der Wahrnehmung der Interessen der afghanischen Bevölkerung.
Dies alles sind Aufgaben, die aus dem Verteidigungshaushalt finanziert wurden und werden. Wenn es aber
künftig verstärkt darum geht, eigene Konzepte für ein ziviles und ein militärisches Engagement zu entwickeln
und umzusetzen, muss meines Erachtens über Finanzierungsalternativen nachgedacht werden.
Ziel des deutschen Engagements in Afghanistan ist es,
das Land bei seinen Anstrengungen zu unterstützen, wieder zu einem funktionierenden Staat zu werden. Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum und das Wohl der Bevölkerung müssen dabei ganz obenan stehen. Militärisches
Engagement ist damit untrennbar mit der Unterstützung
des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus verbunden. Es entfernt sich vom klassischen
Einsatzauftrag der Bundeswehr, etwa dem Auftrag der
Kampfflugzeuge der Luftwaffe über dem Balkan oder
auch dem Auftrag der Marine zur Überwachung des Seegebietes am Horn von Afrika. Dies gilt beispielsweise
für den jetzt geplanten erweiterten Einsatz der Bundeswehr im äußersten Nordosten Afghanistans.
Wenn dies so ist, ist der Ansatz, die Finanzierung solcher Aufträge weiterhin ausschließlich aus dem ohnehin
knapp bemessenen Verteidigungshaushalt zu bestreiten,
aus meiner Sicht durchaus zu überdenken. Eine anderweitige Lösung würde zusätzliche finanzielle Belastungen im Einzelplan 14, insbesondere zulasten von Investitionen, vermeiden.
Meine Damen und Herren, ein Schwerpunkt des Entwurfs zum Verteidigungshaushalt 2004 ist die effiziente
Verbesserung und Modernisierung der materiellen
Ausstattung der Streitkräfte. Die Anpassung der Fähigkeitsprofile aller Teilstreitkräfte an die neuen Aufgaben
wird fortgesetzt. Das heißt konkret: weniger Panzer, weniger Flugzeuge, weniger Boote usw. Das darf aber auf
gar keinen Fall zu einem Verlust von Kernfähigkeiten
führen. Der Verteidigungsminister hat mit den verteidigungspolitischen Richtlinien die realistischen Perspektiven vorgegeben.
Volkswirtschaftliche Überlegungen dürfen dabei aber
nicht außen vor bleiben. Ich will das am Beispiel der
Marine kurz verdeutlichen. Für die Überwachung von
Seegebieten braucht man in Krisenzeiten notwendigerweise Kriegsschiffe, beispielsweise Fregatten, und das
monate-, vielleicht sogar jahrelang. Sie müssen bei jedem Wetter in See bleiben können und eine entsprechende Durchhaltefähigkeit besitzen.
Noch sind unsere Werften in der Lage, leistungsstarke
Fregatten zu bauen. Aber diese Fähigkeit basiert auf
Aufträgen, Beschäftigung und Umsätzen. Im Kampf
hoch spezialisierter, effizienter und auf dem Weltmarkt
führender Firmen kann Deutschland zumindest zurzeit
noch gut mithalten. Allerdings fehlt es an Folgeaufträgen. Wir müssen das ganz klar erkennen. Sollte es dabei
bleiben, liegen Kapazitäten brach und es besteht die Gefahr eines endgültigen Wegbrechens von hochwertiger
Technologie und Know-how. Hierbei stellt sich die
Frage, ob Deutschland sich das leisten kann. Wenn es
aber mehr und zunehmend parallel geführte Einsätze
gibt, wird die Marine schon in wenigen Jahren an ihre
Grenzen stoßen, wenn die Anforderungen an den Einsatz
der Flotte erfüllt werden sollen.
Meine Damen und Herren, bei allen Entscheidungen
über die zukünftige Ausrichtung der Bundeswehr muss
die Frage nach lebens- und generationsfähigem Gerät
positiv gelöst sein. Das gilt für das Bataillon, die Flugzeugstaffel und das Schiff ebenso wie für die Soldaten
im Einsatz und für die Unternehmen, die industrielle
Kernfähigkeiten behalten müssen. Es muss als Aufgabe
von uns allen verstanden werden, auf solche Zusammenhänge zu achten. Es ist aus meiner Sicht auch unsere
Verpflichtung, erforderlichenfalls auf entsprechende
Entscheidungen zu drängen.
Meine Damen und Herren, abschließend ein Wort zur
Wehrpflicht. Ich danke dem Bundesminister der Verteidigung für sein klares Wort. Ich freue mich darüber, dass
sich der Bundesminister für eine Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen hat. Neben den hinlänglich bekannten Vorteilen der Wehrpflicht ist an dieser Stelle
nicht zuletzt darauf hinzuweisen, dass eine Wehrpflichtarmee allemal kostengünstiger ist als eine Freiwilligenarmee.
({1})
Das wird in der allgemeinen Diskussion oftmals verkannt, auch wenn der Kollege Nolting offensichtlich
nicht ganz mit dieser Aussage einverstanden ist.
Bitte schön, Kollege Nolting.
Herr Kollege Robbe, Sie haben vorhin die verteidigungspolitischen Richtlinien angesprochen. Im konventionellen Bereich - so wird dort festgehalten - gibt es
keine Bedrohung mehr. Stimmen Sie mit mir überein,
dass man Wehrpflicht aber nur aus sicherheitspolitischen
und aus außenpolitischen Gründen legitimieren kann
und nicht mit den 31 Thesen, die der Verteidigungsminister zur Begründung der Wehrpflicht hat aufschreiben
lassen? Wie stehen Sie zu den Äußerungen der GrünenVorsitzenden Angelika Beer? Ich zitiere:
Es kann nicht sein, dass es eine Reformblockade
nur noch in einem Ressort gibt, nämlich im Verteidigungsministerium. Wir wollen raus aus der Wehrpflicht.
Sie hat auch einen Zeitpunkt genannt, nämlich Ende des
Jahres.
Zunächst einmal, Kollege Nolting, ist für mich in dieser ganzen Debatte um die Wehrpflicht interessant, welche Liaison es zwischen Ihrer Fraktion und anderen politischen Richtungen in diesem Hause gibt. Meine zweite
Feststellung: Ich stimme natürlich nicht mit Ihnen überein, dass die Richtlinien des Bundesministers der Verteidigung nicht ganz klar und eindeutig definieren, dass die
Wehrpflicht unter einem neuen Blickwinkel betrachtet
werden muss. Ich möchte an dieser Stelle nicht alles
wiederholen, was der Bundesminister der Verteidigung
dazu gesagt hat. Ein Satz hat sich inzwischen aber eingeprägt - den kennt jeder -, und zwar der, dass dieses Land
auch anderswo verteidigt wird, beispielsweise in Afghanistan.
({0})
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache,
dass sich die ganze sicherheitspolitische Situation in der
Welt - natürlich auch bei uns - verändert hat, ist die
Wehrpflicht durchaus auch heute zu begründen. Sie ist
auch bezogen auf die Verteidigung unseres Landes zu
begründen. Das hat sich alles geändert, das wissen wir.
Die ganze Welt hat sich verändert. Ich bin davon überzeugt, dass auch die FDP, also Ihre Fraktion, das irgendwann erkennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen
wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Jürgen Koppelin, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Verteidigungsetat ist sicherlich ein besonderer Etat, denn
er ist der Haushaltsplan für die Armee dieses Parlaments. Ich glaube, man muss die Bundesregierung in
dieser Debatte daran erinnern, dass unsere Bundeswehr
die Armee des Parlaments ist und nicht die Armee einer Regierung.
Ich sage das auch, weil ich kein Verständnis dafür
habe, wenn zum Beispiel die Inspekteure von Heer und
Luftwaffe das Parlament schriftlich informieren wollen
und der Verteidigungsminister das unterbindet. Herr
Bundesverteidigungsminister, es ist nicht in Ordnung,
finde ich, dass sich ein Abgeordneter des deutschen Parlaments diese Papiere von außen, bei Journalisten, beschaffen muss. Nun steht hier auch noch drauf: „Für den
Dienstgebrauch“. Ich brauche das für meinen Dienst und
meine Fraktion braucht das auch.
({0})
Sie sind sicher damit einverstanden, dass ich das entsprechend kopiere und an die Mitglieder der FDP-Fraktion verteile; da habe ich sicherlich Ihre Zustimmung. Es
ist nicht in Ordnung, dass man sich das von außen holen
muss und dass Sie solche Informationen unterbinden;
denn wir, das Parlament, haben Anspruch darauf, ungeschminkt die Situation und den Zustand der Bundeswehr
zu erfahren - wenn schon nicht von der Regierung, die
dazu anscheinend nicht in der Lage ist, dann doch zumindest von den Inspekteuren der Teilstreitkräfte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die FDP
möchte natürlich allen Angehörigen der Bundeswehr
Dank sagen für den nicht immer einfachen Dienst. Besonderer Dank gilt natürlich all denen, die zurzeit in
schwierigen Auslandseinsätzen sind.
({1})
Sie, Herr Minister, haben den Beschluss der FDPFraktion, den wir in Nürnberg gefasst haben und den wir
im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen in
Afghanistan angesprochen haben, nicht richtig gelesen.
Ich bin gerne bereit, Ihnen ein Exemplar dieses Beschlusses zu geben - ich habe ihn auch hier, Sie bekommen ihn nachher von mir -, damit Sie ihn dann wirklich
lesen können. Ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich
ein bisschen geschockt bin, dass ein Bundesminister so
schlecht über Beschlüsse anderer Fraktionen informiert
ist.
({2})
Darin steht ganz klar: Wenn Sie den Auftrag in Afghanistan erweitern und Soldaten dorthin entsenden wollen,
dann müssen wir diese Entsendung zum jetzigen Zeitpunkt ablehnen. - Das haben Sie noch richtig gesagt. Wir haben auch eine Begründung dafür gegeben, die Sie
natürlich vergessen haben vorzutragen. Wir sagen, es
darf keine unkoordinierten, nicht zielführenden Sonderaktionen geben. Davon wollen wir Abstand nehmen. Bevor weitere Soldaten nach Afghanistan entsandt werden,
müssen Sie die Afghanistanpolitik erst einmal mit den
europäischen Partnern abstimmen. Es kann nicht angehen, dass Sie eine Entscheidung treffen, bevor Sie sich
abgestimmt haben.
({3})
Wir sind der Auffassung: Bevor der Bundeswehreinsatz
in Afghanistan ausgeweitet wird, muss es ein schlüssiges politisches Gesamtkonzept für Afghanistan geben.
Das ist keine Kritik an Ihrer Position, sondern in erster
Linie Kritik am Bundesaußenminister, der hier völlig
versagt hat.
({4})
Seit 1999 stehen Auftrag, Aufgaben und Mittel der
Bundeswehr nicht mehr im Einklang miteinander. Das
sage nicht nur ich als ein Vertreter der Opposition in dieser Debatte, das steht so auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesverteidigungsministers
vom Mai dieses Jahres. Der jetzt vorgelegte Haushaltsentwurf für die Bundeswehr lässt nicht erkennen, dass
sich in Zukunft an dieser Situation etwas verbessern
wird. Auftrag, Aufgaben und Mittel der Bundeswehr
sind im Bundeshaushalt 2004 nicht im Einklang miteinander.
Wenn der Bundesverteidigungsminister öffentlich die
weitere Entsendung von deutschen Soldaten nach Afghanistan diskutiert, dann fragt man sich, warum er sich
nicht erst einmal mit den Kernthemen der Bundeswehr
beschäftigt. Man fragt sich auch, was in dieser Koalition
verteidigungspolitisch eigentlich los ist, wenn die Vorsitzende der Grünen, Angelika Beer - Kollege Nolting hat
sie schon genannt -, über den Einsatz deutscher Soldaten
im Irak schwadroniert. Wird überhaupt nichts abgestimmt?
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder Soldat muss
wissen, wie die Zukunft der Bundeswehr aussieht. Frau
Beer, die Vorsitzende der Grünen, sagt heute in der „Berliner Zeitung“ - Kollege Nolting hat eben schon daraus
zitiert -:
Es kann nicht sein, dass es eine Reformblockade
nur noch in einem Ressort gibt, nämlich im Verteidigungsministerium.
Ich finde, zu diesem Vorwurf einer Vorsitzenden einer
Koalitionspartei hätten Sie, Herr Bundesverteidigungsminister, heute Stellung nehmen müssen. Wir hätten
gerne gehört, was Sie zu diesen Aussagen einer Parteivorsitzenden gesagt hätten. Aber vielleicht wird der Kollege Nachtwei gleich darauf eingehen.
Im Rahmen des Bundeshaushalts hätte der Bundesverteidigungsminister an die Kernthemen der Bundeswehr herangehen müssen. Die Kernthemen der Bundeswehr sind zurzeit die Probleme, die beim Personal
bestehen; das Personal ist erheblich vernachlässigt worden. Wir haben eine mangelhafte Ausrüstung und Bewaffnung der Bundeswehr zu verzeichnen. Im Bereich
Forschung und Entwicklung für die Bundeswehr bestehen ebenfalls erhebliche Vernachlässigungen. Und wir
haben - das muss ich Ihnen deutlich sagen - eine völlig
verkorkste Streitkräftestruktur.
Während die Verteidigungsetats von Frankreich und
Großbritannien bei rund 2,5 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes liegen, erreicht Deutschland gerade
einmal 1 Prozent. Das sagt eigentlich fast alles. Warum,
Herr Bundesverteidigungsminister, haben Sie vergessen,
was Sie selbst am 21. Mai dieses Jahres in den Verteidigungspolitischen Richtlinien geschrieben haben? Dort
heißt es unter Nr. 64:
Die strukturelle Neuausrichtung und die materielle
Modernisierung stehen aufgrund begrenzter Finanzmittel noch nicht in Übereinstimmung. Deshalb ist
eine Umschichtung innerhalb des Verteidigungshaushalts zugunsten von Investitionen notwendig.
Dort steht, es gibt noch keine Übereinstimmung. Wann
werden Sie es denn in Übereinstimmung bringen? Das
hätten Sie uns hier heute beantworten müssen.
({6})
Zum Thema Investitionen. Ich kann nicht erkennen,
dass Sie bei den Investitionen umgeschichtet haben, obwohl es dort zu lesen ist. Sie wollen eine Investitionsquote von 27 Prozent erreichen. Dafür hätten Sie selbstverständlich unsere Unterstützung. Aber warum tun Sie
das nicht? Warum schreiben Sie darüber, warum reden
Sie davon, tun aber nichts? Das kritisieren wir. In der
Richtung wären wir uns einig, wenn Sie es denn doch
nun tun würden. Der Verteidigungsetat 2004 gibt, was
Ihre Aussagen angeht, nichts wieder. Sie haben nur davon gesprochen, aber nichts getan. Die Investitionen im
Etat steigen nämlich nicht, sondern sinken um 2,3 Prozent.
Wie wenig diese Bundesregierung für die Ausrüstung, die die Sicherheit der Soldaten zu einem Teil ausmacht, ausgibt, machen Vergleichszahlen deutlich.
Frankreich gibt für die Ausrüstung seiner Soldaten pro
Euro an Personalkosten 35 Cent aus, Großbritannien sogar 50 Cent. Deutschland liegt pro Euro an Personalkosten bei 20 Cent für die Ausrüstung. Auch das spricht
eine klare Sprache. Deutlicher können wir die Schwächen des Verteidigungsetats 2004 wohl nicht aufzeigen.
Dieser Verteidigungsetat ist, wenn man zum Beispiel
den Bereich Forschung und Entwicklung nimmt, so
niedrig, dass wir uns bei den Haushaltsberatungen überlegen müssen, was wir als Haushälter tun. Ich bin insofern erstaunt gewesen, dass die SPD-Bundestagsfraktion
in ihrer Fraktionssitzung dem Haushalt schon vorab zugestimmt hat. Ich weiß nicht, Herr Kollege Robbe, wie
Sie sich zu diesem Etat verhalten haben. Ich habe nur die
Agenturmeldung gelesen - es war etwa Mitte August -,
dass Sie in Ihrer Fraktion dem Gesamtetat zugestimmt
haben. Haben Sie in Ihrer Fraktion gesagt: Das geht
nicht, was ihr da mit der Bundeswehr macht? Davon
habe ich nichts gehört. Bitte reden Sie nicht nur hier,
sondern auch in der Fraktion, in der Sie Einfluss haben.
Übernehmen Sie dort Verantwortung und sprechen Sie
ein klares Wort.
({7})
Von Verantwortung für die Bundeswehr kann ich in diesem Etat jedenfalls nicht viel erkennen.
Kollege Robbe - dafür bin ich sehr dankbar - und
auch Kollege Austermann haben die wehrtechnische
Industrie angesprochen. Untrennbar mit der Bundeswehr verbunden ist die wehrtechnische Industrie in
Deutschland. Wenn die bisherige Beschaffungspolitik
der Bundesregierung für die Bundeswehr so fortgesetzt
wird, werden wir bald kaum noch wehrtechnische Industrie in Deutschland haben. Sie können doch nicht von
der wehrtechnischen Industrie erwarten, dass sie Personal vorrätig hält, wenn Sie keine Aufträge bekommt.
Wenn dann die Unternehmen sagen: „Gut, dann verkaufen wir ins Ausland, wenn wir hier keine Aufträge bekommen“, dann kommen Sie mit neuer Gesetzgebung
und sagen: „Moment einmal, das geht natürlich nicht; da
wollen wir als Bundesregierung zustimmen können.“ So
geht das nicht. Darüber müssen wir auch bei den Haushaltsberatungen reden. Ich denke, Sie müssen offen legen, warum Sie Gesetze einbringen wollen, durch die
der Verkauf von wehrtechnischen Unternehmen ins Ausland genehmigungspflichtig werden soll.
Wir bedauern das sehr - Kollege Austermann hat das
Beispiel HDW angesprochen -, aber es sind politische
Entscheidungen. Sagen Sie einmal bestimmten Leuten
im Kanzleramt, was es mit Rüstungsexporten auf sich
hat. Wenn es da Möglichkeiten gibt, zum Beispiel im
Bereich U-Boote oder Schiffe, dann könnten unsere
Werften sicher existieren. Dann bräuchten sie keine Käufer im Ausland zu suchen. Für andere Bereiche können
wir das Gleiche sagen.
({8})
Wir brauchen eine Bundeswehr, die gut ausgerüstet
und gut ausgebildet ist und die motivierte Soldaten hat.
Das trifft heute in keinem Bereich der Bundeswehr zu.
Es wird immer schlimmer. Insofern sage ich Ihnen, in
welche Richtung wir gehen. Dabei komme ich auch
gleich auf die Wehrpflicht zu sprechen. Wir als FDP sagen: Wir brauchen heute keinen Verteidigungsumfang
mehr von 500 000 Soldaten.
({9})
Wir benötigen auch keine Depots, in denen teures Gerät
für einen überhöhten, völlig überflüssigen Verteidigungsumfang gelagert wird. Vielleicht schauen Sie auch
noch einmal in das Konzept, das die Weizsäcker-Kommission vorgelegt hat. Da sind wir als FDP ja in guter
Gesellschaft. Auch wir denken, dass wir die allgemeine
Wehrpflicht nicht mehr benötigen. Wir wollen sie aussetzen. Wir wollen sie nicht abschaffen, sondern aussetzen.
Kollege Robbe, ich sage, weil Sie es angesprochen
haben, an Sie gerichtet, aber auch in Richtung des Verteidigungsministers: Lassen Sie uns ganz sachlich über
das Thema Wehrpflicht diskutieren. Sachlich, Herr
Bundesminister, ist es allerdings nicht, wenn Sie sagen:
Wehrpflicht heißt für mich, deutsche Soldaten sollen
nicht zu Söldnern werden. Ich mache es mir jetzt einmal
ganz einfach und sage: Die BGS-Angehörigen, die im
Ausland sind, sind auch keine Söldner. Oder stellen Sie
die auf die gleiche Linie? Für diese Thesen, die Sie, Herr
Bundesminister, und auch Sie, Herr Kollege Robbe, hier
heute vorgetragen haben, werden Sie kaum noch Unterstützung in der Bevölkerung bekommen, höchstens vielleicht bei der CDU/CSU-Fraktion. Aber in der Bevölkerung werden Sie dafür keinen Beifall mehr bekommen.
({10})
Wenn Sie den Aufgaben gerecht werden wollen,
wenn Sie eine Bundeswehr haben wollen, die für zukünftige Aufgaben gerüstet und ausgebildet ist, dann
reicht nach unserer Auffassung ein Personalumfang von
240 000 Soldaten. Sie werden es erleben: Die Wehrpflicht hat ausgedient. Sehen Sie sich nur einmal die
Diskussion an, die wir seit zehn Jahren über die Wehrpflicht führen. Sie haben die Dienstzeit immer wieder reduziert, auch wir haben sie reduziert, obwohl alle möglichen Verantwortlichen gesagt haben: Das kommt
überhaupt nicht in Frage. Ich sage Ihnen: Bei diesem
Umfang der Wehrpflicht, bei diesen paar Monaten,
macht sie keinen Sinn mehr. Die Wehrpflicht hat ausgedient. Wenn Sie der Auffassung sind, die Wehrpflicht sei
notwendig, Kollege Robbe, dann stellen Sie sich hier hin
und sagen, sie sollte mindestens 15 Monate betragen.
Dann würde ich sagen, dass es ehrlich ist. Aber so, wie
die Wehrpflicht jetzt ist, ist sie nicht mehr machbar.
Ich komme zum Schluss. Wir sind der Auffassung,
dass dieser Haushalt des Verteidigungsministers erheblich nachgebessert werden muss. Die Fraktion der FDP
wird sich intensiv an der Diskussion beteiligen. Ich habe
vorhin gesagt, dass die Bundeswehr unsere Armee ist,
unsere Parlamentsarmee. Deswegen werden wir diese
Diskussion nicht aus der Rolle der Opposition heraus
führen, sondern einzig und allein in der Verantwortung
für unsere Soldaten.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({11})
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie zunächst ein persönliches Wort. Zurück aus
Kabul wurde unser Kollege Christian Schmidt in einen
fürchterlichen Unfall verwickelt. Wir wünschen ihm von
ganzem Herzen vollständige und möglichst schnelle Genesung.
({0})
Die Entwicklung der gesamten wirtschaftlichen Lage
macht die Rahmenbedingungen für den Einzelplan 14
besonders schwierig und kompliziert. Es ist der erste
Haushaltsentwurf nach der Intensivierung der Bundeswehrreform durch Minister Struck, nach seiner Entscheidung zur Stilllegung verschiedener Waffensysteme und
nach der Veröffentlichung der Verteidigungspolitischen
Richtlinien.
Wesentliche Maßnahmen zur Reduzierung von Betriebskosten sind einschneidend, sie wirken sich zum
großen Teil aber erst mittelfristig aus. Vor der Tür stehen
überdies die Hypotheken früherer Beschaffungsentscheidungen - besonders deutlich wird dies beim Eurofighter -, deren Dimensionen einen zukunftsfähigen und
ausgewogenen Verteidigungshaushalt sprengen.
Die notorische Forderung aus den Reihen der Opposition nach einer Erhöhung des Verteidigungshaushaltes
ist jenseits jeder Verantwortbarkeit und ohne Realisierungschance. Sie führt in die Sackgasse. Zwei Schlüsselfragen gehören deshalb an die Spitze der Tagesordnung
und der Debatte:
Erstens. Wie können die vorhandenen begrenzten
Mittel effizienter genutzt werden?
Zweitens. Welche Aufgaben soll die Bundeswehr
konkret übernehmen und welche nicht?
Die Koalition hat sich vorgenommen, die Wehrform
in den nächsten Monaten zu überprüfen. Hierbei ist in einer sachlichen Diskussion und Auseinandersetzung in
der Koalition zu klären, ob die Wehrpflicht für die ausreichende Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr noch
unverzichtbar ist oder ob sie eine finanzierbare Bundeswehrreform durch die Absorption von Personal und Ressourcen blockiert.
({1})
Ich kann Ihnen sagen - ich glaube, dass etliche andere
von uns auch diese Erfahrung machen -, dass sich in der
Bundeswehr und gerade bei Offizieren mit Einsatzerfahrungen die Stimmen in Richtung dieser zweiten Position
deutlich mehren.
Wie notwendig eine genauere Aufgabenbestimmung
der Bundeswehr über die Aussagen der Verteidigungspolitischen Richtlinien hinaus ist, zeigt sich auf drei Ebenen.
Erstens zeigt sie sich auf der Ebene der Risiko- und
Bedrohungswahrnehmung. Unter Sicherheitspolitikern
- wenn ich mich hier umsehe, dann stelle ich fest: unter
uns allen - besteht Konsens darüber, dass der internationale Terrorismus heute zu den Hauptbedrohungen der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens gehört. Der
11. September war und ist dafür ein Menetekel. Tatsache
ist aber auch, dass 20 Prozent der deutschen Bevölkerung
den al-Qaida-Hintergrund des 11. September anzweifeln
bzw. abstreiten. Ich meine, dies ist ein krasses Beispiel
dafür, wie die Risikowahrnehmungen in der Politik und
in Teilen der Gesellschaft auseinander driften.
Zweitens. Zwei Jahre nach den Ereignissen vom
11. September gerät die militärisch verkürzte Variante
der Terrorismusbekämpfung immer mehr in eine katastrophale Sackgasse. Einerseits hat sie eine beispiellose
militärtechnische Kriegsführungsfähigkeit gegenüber militärischen Gegnern entwickelt, andererseits findet sie
ihre Grenzen bei asymmetrisch agierenden Gegnern und
beweist zugleich eine bestürzende - das ist ehrlich gemeint - Friedensunfähigkeit. Deutlicher denn je erweisen sich schnelle Militärinterventionen als Illusion.
Drittens. Die große Masse der Bundeswehreinsätze
dient der Stabilisierung und dem Nation Building. Dass
in den letzten Monaten verstärkt nach Kriterien und
Grenzen von Bundeswehreinsätzen gefragt wird, ist berechtigt.
Ich komme zum Thema Kongo. Wider manche Befürchtungen wurde der erste außereuropäische Kriseneinsatz der Europäischen Union in diesen Tagen tatsächlich abgeschlossen. Gemessen an seinem zeitlich und
räumlich begrenzten Auftrag war dieser Einsatz erfolgreich. Zumindest in Bunia hörte das Morden auf und die
UN-Truppe MONUC konnte zwischenzeitlich gestärkt
werden. Das ist schon ein Erfolg.
({2})
Auf dem Land und jenseits der Kameras der internationalen Fernsehstationen ging das Morden aber weiter.
Es ist noch offen, ob die gestärkte MONUC endlich
wirksame Autorität gewinnt. Es wäre verantwortungslos,
wenn es nach den wenigen Monaten der verstärkten Aufmerksamkeit Richtung Afrika wieder zu einem überwiegenden Wegsehen der Staatengemeinschaft käme.
({3})
In den Bürgerkriegen und in zerfallenen Staaten sind die
Menschenrechte krass außer Kraft gesetzt und die Vereinten Nationen sind im Sinne von vereinten Nationen
selbstverständlich gefordert.
Ich nenne noch einen zweiten Punkt: Afrika gehört
zur europäischen Nachbarschaft. Damit meine ich auch
das Afrika jenseits der Sahara, nicht nur die berühmte
Krisenregion Maghreb. Die Entwicklung in Afrika
auch südlich der Sahara hat zumindest mittelfristig Auswirkungen auf die europäische Sicherheit. Vor diesem
Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass die westlichen Industriestaaten und - das müssen wir feststellen insbesondere die Bundesrepublik die Vereinten Nationen
mit den von ihr geführten Friedensmissionen in Afrika
im Wesentlichen hängen lassen.
({4})
Eine Delegation des Verteidigungsausschusses besuchte vor zwei Monaten New York. Der Untergeneralsekretär Guehenno hat uns deutlich darauf hingewiesen,
dass die Vereinten Nationen sichtbare Unterstützung
auch Deutschlands bei solchen Friedensmissionen brauchen, und zwar nicht durch größere Kontingente - nein,
darum geht es nicht -, sondern durch Spezialisten, die
gleichfalls von manch anderen Ländern zur Verfügung
gestellt werden. Ich meine, diesen Wunsch dürfen wir
nicht länger beiseite schieben.
({5})
- Wir führen hier eine Diskussion, oder? Gut.
Vom Kongo zu Afghanistan. Am 17. Juni dieses Jahres richteten 85 internationale und hoch angesehene
Nichtregierungsorganisationen einen Aufruf an die Staatengemeinschaft, ISAF unter NATO-Kommando auf andere Regionen auszuweiten.
Herr Kollege, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des
Kollegen Nolting zuzulassen?
Bitte schön, Herr Nolting. Sie wollen wahrscheinlich
meine Position unterstützen?
Ich habe nur eine ganz kurze Frage. Herr Nachtwei,
Sie wissen, dass bei diesen Themen, die Sie gerade angesprochen haben, der Außenminister federführend ist. Haben Sie denn Ihre Erkenntnisse, die Sie uns gerade nahe
gelegt haben, auch schon an den Außenminister herangetragen, der schließlich aus Ihrer Fraktion kommt?
Aber sicherlich. Bevor ich solche Anregungen hier im
Hohen Hause verkünde, habe ich sie an anderer und geeigneter Stelle platziert. Ich habe sie auch in entsprechenden Kreisen bei der Botschafterkonferenz zur Sprache gebracht.
({0})
Aber Sie werden es sicher begrüßen, wenn ein auch in
der Koalition immer noch unabhängiger Abgeordneter
hier sinnvolle Anregungen gibt. Danke schön, Herr
Nolting.
({1})
Die Freude über sinnvolle Anregungen ist im ganzen
Hause breit gestreut. Bitte schön.
Ich hatte zuletzt den Aufruf der 85 internationalen
Nichtregierungsorganisationen bezüglich einer ISAFAusweitung angesprochen.
Im Sommer 2004 sollen in Afghanistan Wahlen stattfinden, und zwar ausgehend von dem Rahmenkonzept,
das die internationale Gemeinschaft für Afghanistan sehr
wohl festgelegt hat. Insofern ist die Forderung nach einem schlüssigen Gesamtkonzept wohl einem sehr kurzen politischen Gedächtnis geschuldet. Wahlen sind also
das eine, das andere ist die teilweise bedrohliche Entwicklung der Sicherheitssituation, vor allem in den östlichen und südlichen Provinzen Afghanistans. Diese beiden Entwicklungen und Daten machen es unabdingbar,
dass die Staatengemeinschaft ihr Stabilisierungsengagement über Kabul hinaus ausweitet und verstärkt.
Dafür gibt es aber drei Hebel, nicht nur immer das Militärische. Erstens. Die Reform des Sicherheitssektors
muss angegangen werden. Dabei ist kurzfristig der Aufbau der Polizei auf dem Land besonders wichtig und
wirksam. Hier spielt die Bundesrepublik eine besondere
Rolle. Wir müssen dafür sorgen, dass das deutsche Polizeikontingent deutlich aufgestockt wird.
({0})
Zweitens. Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau! Auf
dem Land ist ein sichtbarer Wiederaufbau dringend erforderlich. Es reicht nicht, nur da und dort etwas aufzubauen. Natürlich haben auch kleine Projekte als Graswurzelprojekte ihre Berechtigung, aber wir brauchen
sichtbare und schnelle Wiederaufbauleistungen.
({1})
Drittens. Wir brauchen in der Tat multinationale Stabilisierungskräfte. Hier spräche meiner Meinung nach vieles
für eine tatsächliche ISAF-Ausweitung, aber - das ist
schon mehrfach festgestellt worden - die Staatengemeinschaft ist nicht bereit, mindestens 10 000 Soldaten
oder mehr dorthin zu schicken. Deshalb sind Wiederaufbauteams die zweitbeste Lösung.
Hier gibt es einige Missverständnisse, zum Beispiel dass
die Soldaten direkt zivile Helfer schützen sollten. Darum
geht es gar nicht, auf keinen Fall. Es geht darum, dass etwas Ähnliches wie in Kabul geschieht, nämlich dass
durch Präsenzpatrouillen und Verbindungsarbeit mit verschiedenen Autoritäten eine Art Stabilitätswindschatten
geschaffen wird, in dem dann humanitäre Organisationen und Nichtregierungsorganisationen in Unabhängigkeit und Neutralität, die wichtig ist, arbeiten können.
({2})
Ausgesprochen gut ist, dass die Bundesregierung
nicht ein schwaches Team vorsieht, sondern ein solide
ausgestattetes, also sehr kräftiges Team mit deutlichen
zivilen und polizeilichen Komponenten. Völlig richtig
ist auch, dass dieses Team im Rahmen eines erweiterten
ISAF-Mandates agieren soll.
Eine offene und kritische Frage bleibt allerdings, wie
Stabilisierung und Wiederaufbau in den Paschtunengebieten und heißen Krisenprovinzen Richtung Pakistan
geschehen können. Das ist eine Aufgabe der Staatengemeinschaft insgesamt.
In der Öffentlichkeit werden immer wieder Stimmen
laut, die eine angebliche Intransparenz und Beliebigkeit
von Entscheidungen der Koalition zu Auslandseinsätzen
der Bundeswehr kritisieren, gar eine Art Kompensationsgeschäft mit Washington - das ist vorhin von dem
Kollegen Müller behauptet worden - unterstellen. Das
trifft eindeutig nicht zu. Man muss sich nur einmal die
Situation und die Rahmenbedingungen dieser in Diskussion stehenden Einsätze bzw. des Einsatzes in Afghanistan angucken. Hier lässt sich zusammenfassend feststellen: Die laufenden Einsätze sind dringend notwendig,
weil es hier um zentrale, kollektive, europäische und
deutsche Sicherheitsinteressen geht. Sie sind eindeutig
rechtmäßig, weil sie im Auftrag der Vereinten Nationen
geschehen. Sie haben eine Erfolgschance, weil sie zumindest in politische Rahmenkonzepte eingebunden
sind, bei denen es natürlich immer wieder Nachbesserungsbedarf gibt. Sie sind multilateral und multidimensional, also zivil, polizeilich und militärisch angelegt. Sie
sind schließlich leistbar und verantwortbar angesichts eigener Kapazitäten und der zu erwartenden Risiken und
sie sind von breiter Akzeptanz in Parlament und Gesellschaft getragen.
Diese Kriterien machen deutlich, warum ein militärischer Beitrag der Bundesrepublik Deutschland im Irak
nicht zur Diskussion steht, warum wir ihn nicht wollen.
Dass Deutschland sehr wohl wichtige Beiträge zur humanitären Hilfe, zum Wiederaufbau, zur Polizeiausbildung usw. im Irak leisten kann, haben Bundeskanzler
und Bundesaußenminister zugleich sehr deutlich festgestellt.
Danke schön.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Hans Raidel, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zuerst möchte ich Sie herzlich von Christian
Schmidt grüßen. Es geht ihm wieder besser und er hofft,
wieder bald bei uns zu sein.
Verehrter Herr Minister, bei aller persönlichen Wertschätzung: In Ihrer Bilanz und in Ihrem Ausblick auf die
Zukunft finden sich viele Ankündigungen und fromme
Wünsche, die der täglichen Realität in der Außen- und
Sicherheitspolitik und vor allem in Fragen der Bundeswehr nicht oder nur bedingt standhalten. Die Bundeswehrreform dümpelt, es fehlt der richtige Drive, zu
viele Baustellen sind auch von Ihnen aufgemacht worden. Vieles ist dabei Stückwerk geblieben. Wir sind alle
gespannt, wie Sie Anspruch und Wirklichkeit zusammenführen wollen.
Ich möchte mich insbesondere mit den Folgen dieser
falschen Haushaltspolitik auseinander setzen. Bis 2006
bleibt der Haushalt gedeckelt. Dieser nominal stagnierende Haushalt, real aber sinkende Etat, wird die Unterfinanzierung der Bundeswehr fortsetzen.
Jeder weiß aber, dass wir zur Erfüllung unserer internationalen Verpflichtungen, für die Modernisierung der
Bundeswehr, für Rationalisierungsaufgaben und für die
Attraktivitätssteigerung mehr Haushaltsmittel brauchen.
Das In-Aussicht-Stellen für 2007 reicht dabei nicht aus.
Diesem Haushalt fehlt ein wirkliches Signal für die
dringend notwendige Modernisierung der Ausrüstung
und der Infrastruktur und den Abbau des Investitionsstaus. Rot-Grün verschließt die Augen davor, dass die
Sicherheit unseres Landes und unserer Bürger - auch
nach Meinung unserer Bündnispartner - mehr Investitionen erfordert, als Sie zu geben bereit sind. Nach wie vor
ist - das ist die Schwierigkeit bei Ihnen - kein politischer Wille erkennbar, der Verteidigungspolitik eine größere Priorität einzuräumen. Deswegen können wir uns
nicht in der Lage sehen, diesem Haushaltsplanentwurf
und der mittelfristigen Finanzplanung zuzustimmen.
Bis heute liegen nur die Verteidigungspolitischen
Richtlinien vor. Es gibt weder ein verbindliches Weißbuch der Bundesregierung noch ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Verteidigung. Die Verzahnung der inneren und äußeren Sicherheit ist nicht vorangekommen
und auch für das Parlamentsbeteiligungsgesetz für Auslandseinsätze liegt noch kein Entwurf vor.
({0})
- Sie sind vielleicht dran, aber wann werden Sie damit
fertig?
Dasselbe gilt für ein schlüssiges Reservistenkonzept.
Sie hätten genügend Zeit gehabt, diese Fragen zu klären
und entsprechende Entwürfe vorzulegen.
({1})
Wir alle sind für die Beibehaltung der Wehrpflicht.
({2})
Herr Minister, Ihre persönliche Haltung in dieser Frage
ehrt Sie sehr. Aber hat sie auch Bestand? Das ist eine
Frage, die sich in nächster Zeit stellen wird.
Herr Kollege, Sie haben vorhin auf die Bevölkerung
verwiesen. Die Bevölkerung vertraut eher uns. In Bayern
beispielsweise wählen uns 60 Prozent der Bevölkerung.
Sie bringen es gerade einmal auf 2 oder 3 Prozent. Wer
ist also in Ihren Augen die Bevölkerung? Ich glaube,
dass wir mit unserer Aussage zur Wehrpflicht in diesem
Zusammenhang auf der sicheren Seite sind.
Herr Minister, Sie schieben wichtige Entscheidungen
vor sich her. Ihnen fehlen die Mittel, um Entscheidungen
umzusetzen. Ein Ausrüstungs- und Materialkonzept
fehlt bis heute. Der Generalinspekteur soll es wohl bis
Ende 2003 vorlegen. Unklar bleibt aber, welche neuen
Rüstungsprojekte vielleicht noch in diesem Jahr beschafft bzw. realisiert werden können.
Besonders bedenklich ist - alle Kollegen haben darauf hingewiesen -, dass Sie die Investitionen für Forschung und Entwicklung um weitere 100 Millionen Euro
auf den Stand von 1984 senken.
({3})
Bei einem statistischen Vergleich werden Sie das bestätigt finden.
Damit verspielt Rot-Grün nicht nur die Zukunft und
Technologiefähigkeit der Bundeswehr, sondern auch die
der deutschen wehrtechnischen Industrie. Bei der Lektüre des so genannten Grünen Buches, das Sie, Herr Minister, herausgegeben haben, kann jeder nachvollziehen,
dass Sie bei diesem Etat neue Vorhaben nur in einem
sehr geringen Umfang quer durch alle Teilstreitkräfte
einleiten können. Der Kollege Austermann ist in seinen
Ausführungen bereits ausführlich darauf eingegangen.
Damit - ohne Aufträge und entsprechende Mittel für
Forschung und Entwicklung - machen Sie es der wehrtechnischen Industrie unmöglich, sich am internationalen Markt zu behaupten.
Das Vetorecht ist doch ein Griff in eine uralte Klamottenkiste. Wer ein Vetorecht platzieren will, muss
Geld in die Hand nehmen, weil ein Vetorecht zur Folge
hätte, dass Firmen Pleite gehen. Wir brauchen stattdessen - das wäre konsequent - Planungssicherheit in der
Beschaffungspolitik, eine Harmonisierung der europäischen Rüstungsexportrichtlinien und eine verstärkte
Rüstungskooperation.
Auf das erheblich gestiegene Finanzrisiko bei Auslandseinsätzen ist bereits hingewiesen worden. Deshalb
nur so viel dazu: Wir haben die große Befürchtung, Herr
Minister, dass Sie bei künftigen Auslandseinsätzen wieder auf den Kosten im Einzelplan 14 sitzen bleiben werden; Afghanistan lässt grüßen. Was im Irak noch auf uns
zukommt, wissen wir zwar nicht. Aber auch hier wird
wohl der Einzelplan 14 bluten müssen.
Um nicht weiter auf die schiefe Ebene zu geraten, ist
es deshalb erforderlich, endlich einmal die deutsche Sicherheitsinteressen zu definieren, damit Aufgaben und
Fähigkeiten wieder in Einklang gebracht werden können, und für eine angemessene Finanzierung aus dem
Gesamthaushalt zu sorgen. Stattdessen werden - oft
ohne ausreichende politische Konzepte - Aufgaben in
NATO und EU im Rahmen der internationalen Friedenssicherung übernommen, denen die Soldaten immer weniger gerecht werden können. Schon heute sind wichtige
Teile der Bundeswehr personell überstrapaziert. Das
deutsche Heer kann mit 35 000 einsatzfähigen Soldaten
kaum mehr die Aufgaben schultern; denn durch das Revolving-Konzept sind rund 28 000 bis 30 000 Soldaten
jeweils gebunden.
Den zukünftigen Hauptlastträgern der Auslandseinsätze, der DSO und der DLO, fehlt schon heute das
Geld, um die notwendige Ausrüstung zeitgerecht zu beschaffen. Sie kennen ja die Zeitachse: Erst war von 2006
und dann von 2007 die Rede. Nun spricht man von 2010.
Noch offensichtlicher wird die auseinander klaffende
Schere bei einem Soll-Ist-Vergleich. Wenn Sie eine Kaserne besuchen, in der hauptsächlich Truppen untergebracht sind, die im Inland eingesetzt werden, dann werden Sie feststellen, dass die Verantwortlichen nur noch
über total veraltetes Gerät verfügen. Der sichtbare Niedergang unserer Armee ist nicht mehr zu beschönigen.
Reden Sie mit Kommandeuren und schauen Sie sich genau an, wie sie leben müssen! Dabei sollten Sie nicht
vergessen, dass die Kommandeure nach außen nicht
über alles berichten dürfen; denn bevor Sie eine Kaserne
besuchen, bekommen alle einen Maulkorb verpasst.
Auch die soziale Lage der Soldaten im Einsatz hat
sich trotz der vollmundigen Versprechen bis heute nicht
entscheidend verbessert. Die von uns im Frühjahr im
Verteidigungsausschuss besonders unterstützte Neuregelung der so genannten Einsatzversorgung für Soldaten
im Auslandseinsatz ist noch nicht genügend vorangekommen. Das Familienbetreuungssystem der Bundeswehr im Inland ist personell und materiell noch immer
nicht ausreichend ausgestattet. Die finanziellen Anreize
für einen Auslandseinsatz sind gerade für Spezialkräfte
wenig attraktiv. Auch die ständigen Versuche, die Zulagen zu kürzen oder sogar ganz abzuschaffen, sorgen
nicht für gute Stimmung in der Truppe. Die letzte Wehrsolderhöhung ist im Übrigen bereits fünf Jahre her. Wir
haben zwar die ganze Zeit darüber geredet. Aber getan
haben wir nichts.
Über erhoffte Erlöse, Rationalisierungsgewinne und
Privatisierungserfolge wurde bereits ausreichend geredet. Ich glaube, dass die angesprochenen Projekte nicht
das bringen werden, was man sich von ihnen verspricht.
Wir alle sind zwar der Meinung, dass das der richtige
Weg ist. Aber mittlerweile sind so viele Fehler gemacht
worden, dass uns allmählich der Glaube an die Richtigkeit fehlt. Hier wäre eine Nachsteuerung in die Richtung,
die Herr Kollege Austermann angesprochen hat, dringend notwendig.
({4})
Eine verantwortliche Sicherheitspolitik wäre es, auch
in schwierigen finanziellen Zeiten die Auszehrung des
Verteidigungsetats zu stoppen und dem Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger endlich wieder die notwendige
Priorität einzuräumen. Jeder weiß doch: Wer an der Verteidigung spart, geht ein hohes Risiko ein. Der Herr Minister hat neulich in Fürth einen Vortrag mit dem Titel
„Quo vadis, Bundeswehr?“ gehalten. Herr Minister
Struck hat festgestellt, dass ein einziges Wort die Antwort ausmacht: Ausland. Wir sind der Meinung, dass die
Verteidigungspolitischen Richtlinien zu kopflastig sind,
da sie sich zugunsten der Auslandseinsätze und zulasten
der Heimatverteidigung sowie der inneren Sicherheit
auswirken.
({5})
Im selben Vortrag kündigte der Minister mit großer
Geste an, die wehrtechnische Industrie müsse wissen, er
kaufe nichts, was er nicht brauche. Herr Minister, es
wäre schon sehr viel gewonnen, wenn Sie kaufen könnten, was die Bundeswehr braucht.
({6})
Mehr verlangen wir doch überhaupt nicht! Wir verlangen nur das Geld, das notwendig ist, um Ihrem eigenen
Anspruch zu genügen.
Strecken, Schieben, Streichen ist weiter an der Tagesordnung, zulasten der Soldaten, zulasten der wehrtechnischen Industrie und damit zulasten unserer Sicherheit.
Rot-Grün lässt die Bundeswehr über die Haushaltspolitik austrocknen, um nicht zu sagen: ausbluten. Wir lehnen diesen Haushaltsentwurf ab, weil von ihm keine positiven Signale und keine Perspektive ausgehen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Merten,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Raidel, ich weiß nicht, welche Kasernen Sie besuchen.
({0})
Möglicherweise sind es nur bayerische. Ich stelle bei
meinen Besuchen jedenfalls nicht fest, dass sich die Soldaten den Mund verbieten lassen. Im Übrigen habe ich
noch Augen im Kopf. Das heißt, es ist an mir, genau hinzuschauen, um zu erkennen, was ich eigentlich sehen
möchte. Außerdem kann ich nach dem fragen, worauf es
mir ankommt.
Herr Kollege Austermann, zu Beginn möchte ich
noch eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen machen.
Sie haben hier im Gewand des seriösen Haushaltspolitikers ganz besorgt gefragt, ob wir es uns angesichts dieser Haushaltslage überhaupt noch leisten können, ja ob
es überhaupt noch verantwortbar ist, zusätzliche Auslandseinsätze zu beschließen - sofern wir das überhaupt
tun. Sie haben an dieser Stelle vergessen, auf den Widerspruch zu der relativ forschen Haltung Ihrer Fraktionsund Parteivorsitzenden in Fragen des Irakkonfliktes hinzuweisen. Ich hätte es gut gefunden, wenn Sie das getan
hätten.
({1})
- Ich will da nicht hin. Das ist keine Frage.
Herr Kollege Austermann, Sie haben beklagt, dass
wir es mit einem Ausverkauf der deutschen wehrtechnischen Industrie zu tun haben. Gleichzeitig haben Sie die
angestrebte Lösung, die genau dies verhindern soll, angeprangert.
({2})
Dazu sage ich Ihnen: Bei HDW, bei den Howaldtswerken -, handelt es sich nicht um einen Verkauf, weil man
dort nicht rentabel ist und keine Gewinne macht. HDW
ist - natürlich - verkauft und gekauft worden, weil man
dort Gewinne macht. Ladenhüter bleiben in der Regel im
Regal liegen.
Herr Kollege Koppelin, Sie haben ein ähnliches Argument gebraucht.
({3})
- Nun warten Sie einmal ab. - Sie haben in Ihrer Rede
beklagt, dass wir es mit verkorksten Strukturen zu tun
haben. Ich will Ihnen dazu Folgendes sagen: Es mag
einiges geben, was verbesserungswürdig ist, was auch
bei der Neuorientierung der Bundeswehr nachjustiert
werden muss. Das tun wir auch. Aber im Grunde genommen ist Ihre Klage eine Unverschämtheit: Sie waren in
der Verantwortung, als sich das Aufgabenspektrum der
Bundeswehr verändert hat, und Sie haben nichts unternommen, um die Strukturen so auszurichten, dass wir
diesen Aufgaben gerecht werden können.
({4})
Dass Sie jetzt in einer Situation, die, bezogen auf den
Haushalt, insgesamt schwierig ist - wir sind in mannigfaltigen Einsätzen -, von uns verlangen, all das auf einmal zu bewältigen, was Sie uns an Problemen hinterlassen haben, weil Sie niemandem auf die Füße treten
wollten, ist eine Unverschämtheit.
({5})
Ich will noch ein paar Worte zum Einzelplan 14 verlieren, den Sie in dieser Debatte wirklich pausenlos
schlechtreden. Ich will überhaupt nicht verschweigen,
dass der Einzelplan 14 natürlich in einem ganz schwierigen haushaltspolitischen Umfeld entstanden ist. Gleichzeitig sage ich: Wenn man sich ihn genau ansieht, dann
ist der schwierige Weg
({6})
der notwendigen nachhaltigen Haushaltskonsolidierung,
ohne dabei auf gestaltende Politik zu verzichten, deutlich zu erkennen.
({7})
Wir wissen - Sie wissen das auch -, dass Sie, wie ich
finde, außerordentlich unrealistische und auch unseriöse
Forderungen stellen. Auch für den Einzelplan 14 kann
und darf es meines Erachtens keine Ausnahme geben,
wenn wir die Staatsfinanzen auf Dauer in Ordnung bringen wollen. Darauf ist in den Debatten gestern und heute
mehrfach hingewiesen worden.
Wer wollte leugnen - wir tun es nicht -, dass der Weg
bis 2007 natürlich schwierig bleibt? Erst dann werden
wir verantwortlich - ich lege jetzt das Gewicht auf „verantwortlich“ - eine deutliche Steigerung der Verteidigungsausgaben um rund 950 Millionen Euro vorsehen
können.
Mit dem verfügbaren Volumen für 2004, das gegenüber 2003 konstant bleibt, und dem, was im Finanzplan
bis 2007 vorgesehen ist, kommen wir dem Ziel der Bundesregierung, Auftrag, Fähigkeiten und Ausrüstung der
Bundeswehr und die zur Verfügung stehenden Mittel in
ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, einen ganz erheblichen Schritt näher. Ich wünschte mir auch, es ginge
schneller. Ich wünschte mir auch, wir hätten mehr Geld
zur Verfügung. Aber es geht hier nicht um das Wünschbare, sondern um das Machbare.
Ich will darauf hinweisen, dass die Belastungen gegenüber dem Vorjahr nicht kleiner werden. Auf den Betrag, den wir für internationale Einsätze aufzubringen
haben, hat der Kollege Robbe hingewiesen. Wir bekennen uns ganz ausdrücklich - auch das gehört zur Kontinuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik - zu unserer Verantwortung gegenüber unseren Partnern im
Bündnis und der internationalen Staatengemeinschaft.
({8})
Aber wir bekennen uns auch zu unserer Verantwortung gegenüber den Soldaten, die wir stellvertretend in
die Einsätze schicken. Wir wissen nicht erst seit dem
Selbstmordanschlag an Pfingsten in Kabul, dass unsere
gut 8 000 Soldaten und Soldatinnen, die momentan im
Auslandseinsatz sind, ganz außerordentlichen Gefährdungen ausgesetzt sind. Das ist mit Einsätzen im Frieden
nicht zu vergleichen.
Wir hoffen natürlich - ich denke, ich kann Sie da einschließen -, dass Unfälle auch in Zukunft, wann immer
es geht, vermieden werden können. Bei einem Unfall,
der ja immer möglich ist, sollten wir den Soldaten und
Soldatinnen sowie ihren Angehörigen ersparen, sich in
einen für sie unerträglichen Rechtsstreit darüber einlassen zu müssen, ob der Unfall im besonderen Auslandseinsatz als qualifizierter Dienstunfall zu gelten hat oder
nicht. In diese Regelung sollten wir auch Soldaten auf
Zeit und solche, die freiwillig länger Dienst leisten, einbeziehen, die zurzeit bei gleichen Einsatzbedingungen
schlechter gestellt sind als ihre Kameraden, die den Status des Berufssoldaten haben.
Um die Versorgungsleistungen für Soldaten und
Soldatinnen bei Auslandseinsätzen auszubauen, haben
wir einen interfraktionellen Antrag eingebracht, miteinander beraten und darüber im Konsens entschieden. Wir
sind da auf einem guten Weg. Ich finde es gut und richtig, an einer solchen Stelle - man hat ja selten die Gelegenheit dazu - noch einmal darauf hinzuweisen, dass es
in wichtigen Fragen des Verteidigungshaushalts durchaus auch einen breiten Konsens geben kann. An dieser
Stelle war das so.
Aber nicht nur in Versorgungsfragen haben wir unseren Soldaten und Soldatinnen gegenüber eine hohe Verantwortung, wenn es um Auslandseinsätze geht, sondern
auch in der Frage der Betreuung, auch der Betreuung
und Begleitung ihrer Familien. Die Familien leiden ja
unter den langen Trennungszeiten. Wir haben nur ganz
langsam gemerkt, dass die sachgerechte Ausrüstung bei
Auslandseinsätzen nur eine Seite ist. Die andere Seite
ist, dass solche Einsätze in besonderer Weise begleitet
werden müssen. Ich bin sehr froh, dass wir den Familienbetreuungszentren zusätzliche Planstellen zur Verfügung stellen konnten. Wir sind jetzt bei einer Zahl von
19 Betreuungszentren angelangt. Angestrebt sind 32, damit das Netz wirklich flächendeckend ist. Das wird noch
ein bisschen dauern. Aber wenn man sich einmal die Arbeit in den Betreuungszentren, das hohe Engagement der
dort arbeitenden Soldaten und der ehrenamtlichen Kräfte
anschaut, dann wird man einsehen, wie wichtig es für die
Menschen, deren Männer oder Väter im Einsatz sind, ist,
dass sie kurze Wege haben und die Informationen wirklich fließen und dass dieses Geld auch in Zukunft gut angelegt ist.
Meine Damen und Herren, im Zuge der Neuausrichtung wird die Bundeswehr insgesamt kleiner, aber moderner und leistungsfähiger. Wie mutig, aber auch wie
schwierig die Realisierung eines solchen Vorhabens in
einer Großorganisation wie der Bundeswehr ist, wissen
wir nicht erst seit dem Zeitpunkt, seit dem mit der Umsetzung begonnen wurde. Natürlich sehen auch wir, dass
zum Beispiel der beabsichtigte Abbau der Zahl der Zivilbeschäftigten von circa 135 000 auf dann circa 90 000
langsamer vorangeht als erwartet. Aber zu Beginn haben
wir ja gesagt: Betriebsbedingte Kündigungen wird es
nicht geben, der Personalabbau wird sozialverträglich gestaltet. Es ist keine Frage, dass Modernität und Effizienz
unabdingbar sind, wenn die Streitkräfte noch leistungsfähiger werden sollen. Aber im Mittelpunkt müssen die Interessen der Beschäftigten stehen. Dies auch gegen den
berechtigten Wunsch, an der einen oder anderen Stelle etwas schneller voranzukommen, durchgesetzt zu haben,
finde ich richtig. Das möchte ich an dieser Stelle noch
einmal unterstreichen.
Ich möchte zum Abschluss zusammenfassen: Dieser
Haushalt leistet einen wichtigen Beitrag zur weiteren
Konsolidierung der Staatsfinanzen. Das wichtige Ziel,
unsere Streitkräfte weiter zu modernisieren und Betriebsstrukturen zu optimieren, bleibt ganz oben auf der
Tagesordnung. Wir nehmen unsere Verantwortung, einen
angemessenen Beitrag bei der Bewältigung internationaler Krisen zu leisten, außerordentlich ernst. Die Politik
der Bundesregierung ist hier wie in den vergangenen
Jahren von Verlässlichkeit und Kontinuität geprägt.
Entscheidend ist aber auch: Die Soldatinnen und Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass sie ihre
Aufgaben sachgerecht und mit dem bestmöglichen
Schutz versehen erfüllen können. Dies stellt dieser
Haushalt sicher. Das ist ein ganz wichtiges Signal. Es
geht also letzten Endes um mehr als nur um Geld. Es
geht um die Sicherheit, die unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Letzter Redner in der Debatte zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums der Verteidigung ist der Kollege Thomas Kossendey, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte hat es gezeigt - auch die Vertreter der Koalition haben es nicht abgestritten -: Dieser Haushalt
steht auf tönernen Füßen. Das beziehe ich nicht nur auf
den Haushalt 2004, wie er dem Parlament jetzt zur Beschlussfassung vorliegt, sondern auch auf die Haushaltslage insgesamt. Daraus ergeben sich Risiken, in deren
Folge nicht Nachbesserungen, sondern eher noch weitere Verschlechterungen zu erwarten sein werden. Diese
Verschlechterungen werden - wer Rot-Grün kennt, weiß
das - im Wesentlichen zulasten der Bundeswehr gehen.
Das darf und kann nicht sein.
Selbst wenn der Haushaltsansatz bei nominell
24,4 Milliarden Euro bliebe, hieße das de facto jedes
Jahr ein Minus von real 500 Millionen Euro, wegen des
Inflationsausgleichs, wegen der Kosten der internationalen Einsätze, aber auch wegen des Ansteigens der Gehälter der Soldaten und der Zahl der zivilen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter. Der Minister selber hat ja - das ist noch
kein Jahr her - in der Führungsakademie in Hamburg
deutlich gesagt, dass er der Meinung sei, dass er zu wenig Geld für die Verteidigung habe. Er hat damals darauf
hingewiesen, dass er gute Beziehungen zu den Haushältern der Regierungskoalition unterhalte und es ihm
schon gelingen werde, das eine oder andere nachzubessern. Nun, verehrter Herr Minister, wie gut es um ihre
Beziehungen zu den Haushältern bestellt ist, weist dieser
Haushalt eindeutig aus.
({0})
Nun hat der Minister in den letzten Monaten einige
Sparmaßnahmen angekündigt: Er will Flugzeuge außer
Dienst stellen und er will Schiffe außer Dienst stellen.
Davon erhofft er sich einen Sparbeitrag. Richtig, das
wird eines Tages sicher kommen. Nur, im nächsten Jahr
wird uns das nicht helfen, weil bis dahin diese Einsparungen nicht realisiert werden können.
Hier sind der Minister und letztendlich das gesamte
Kabinett so realitätsfern, wie es schon bei der Diskussion um die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die
dann auch in Kraft gesetzt wurden, zu erleben war.
Letztendlich, Herr Minister, ist von diesen Verteidigungspolitischen Richtlinien nicht viel mehr hängen geblieben als die Überschrift „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“. Das ist eigentlich sehr schade; denn
es stehen eine Menge Dinge darin, die eine politische
Diskussion verdient hätten.
Ich will Ihnen ein Zitat aus dem Weißbuch von 1994
vorhalten. Darin hat Minister Rühe im Hinblick auf
deutsche internationale Einsätze geschrieben:
Dabei gilt, dass jeder konkrete Einsatz daraufhin zu
prüfen sein wird, ob ein politisches Konzept zur
Lösung des Konfliktes vorhanden ist und ob der
Einsatz militärischer Mittel geeignet ist, zur Konfliktbewältigung beizutragen. Es wird auch in jedem Einzelfall zu prüfen sein, ob die Möglichkeiten
der friedlichen Konfliktlösung ausgeschöpft sind
und ob es deutschen Interessen und Wertvorstellungen entspricht, mit militärischen Mitteln zur Konfliktbewältigung beizutragen. Es gilt letztlich immer, dass Deutschland nie allein, sondern nur mit
Verbündeten und Partnern handeln wird.
Viel besser kann man das nicht ausdrücken. Sie hätten
eigentlich in diesem Punkt das Weißbuch 1994 nehmen
sollen, vielleicht um einige aktuelle Zahlen ergänzt;
({1})
dann wären Sie besser davongekommen als mit diesen
Richtlinien.
({2})
Der Hauptkritikpunkt an diesen Richtlinien ist aus
meiner Sicht, dass sie eigentlich nur für Ihr Ministerium
verbindlich sind. Sie haben es vermieden, im Kabinett
und im Parlament darüber eine Debatte und eine Abstimmung herbeizuführen. Da fragt man sich natürlich: Woran hat das gelegen? Lag es vielleicht daran, dass die Zustimmung einiger Minister im Kabinett zum Beispiel zur
Frage der Wehrpflicht nicht zu erreichen gewesen wäre?
Lag es vielleicht daran, dass einigen Ministern die
Zustimmung schwer gefallen wäre, weil dort sehr viele
positive Worte zum transatlantischen Bündnis, zu unserem Verhältnis zu Amerika, zu finden sind?
In Ziffer 32 und 40 lesen wir: „Die USA bleiben für
die Sicherheit Europas unverzichtbar“ und „Die Transatlantische Partnerschaft bleibt Grundlage unserer Sicherheit.“ Wenn das so ist, Herr Minister, dann frage ich Sie:
Warum haben Sie es zugelassen, dass das Verhältnis zu
Amerika im letzten Jahr zum Spielball kleinkarierter
parteipolitischer Interessen geworden ist? Was haben Sie
persönlich eigentlich in den letzten Monaten unternommen, um diese Aussagen in den Verteidigungspolitischen Richtlinien mit Leben zu erfüllen?
({3})
- Danke.
In den Nrn. 43 und 45 lesen wir über die wichtige
Rolle der Vereinten Nationen in den Krisengebieten der
Welt und dass Deutschland mit substanziellen Beiträgen
die Rolle der Vereinten Nationen stärken wolle. Wenn
das so ist, Herr Minister, warum gab es dann im Irakkonflikt von vornherein die Festlegung, dass sich Deutschland unabhängig von der Beschlusslage der Vereinten
Nationen an keiner Aktion beteiligen werde?
({4})
In diesen Wochen und Monaten laufen Sie übrigens
Gefahr, diesen Fehler zu wiederholen. Wenn Sie hier der
FDP vorwerfen, sie hätte sich in Bezug auf Kunduz vorschnell festgelegt und das sei politisch unklug, dann gilt
das umso mehr für Fragen, die im internationalen Bereich von Deutschland zu beantworten sind.
Die Vereinten Nationen, Herr Minister, kann man eigentlich in zweierlei Hinsicht schwächen. Zum einen
kann man sagen: Was auch immer die beschließen, wir
machen es anders, weil es unseren eigenen Interessen
eher entspricht. Das haben Sie den Amerikanern unterstellt. Man kann aber auch sagen: Was auch immer die in
New York beschließen, wir werden uns nicht daran beteiligen. Das ist die Rolle, die Sie gespielt haben. Wer
praktisch die Vereinten Nationen auf gleiche Weise
schwächt, sollte sich hüten, die Amerikaner dafür zu kritisieren.
({5})
In Ziffer 69 der Verteidigungspolitischen Richtlinien
können wir lesen, dass die Bundesregierung eine leistungs- und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie
aufrechterhalten möchte und dass das durch internationale Kooperation gut möglich sein wird. Das hört sich
prima an. Aber warum streichen wir dann gerade bei den
internationalen Rüstungsvorhaben? Das Geeiere um den
A400M ist uns allen noch gut in Erinnerung. Warum planen Sie mittlerweile sogar ein Gesetz gegen den Ausverkauf deutscher Rüstungstechnologie? Mir scheint das ein
verspäteter Reflex der alten Stamokap-Theorie zu sein,
nach dem Motto: Ein bisschen Sozialismus kann ja eigentlich nie schaden.
({6})
Besser wäre gewesen, Sie hätten in der Vergangenheit
dafür gesorgt, dass der Verteidigungsindustrie in
Deutschland im Interesse einer vernünftigen Ausrüstung
der Bundeswehr eine verlässliche Perspektive gegeben
wird. Die Franzosen haben das mit ihrem Programmgesetz hervorragend geregelt; wir hinken da hinterher.
Unsere Industrie kann sehr wohl mit einem geringeren Verteidigungshaushalt leben, wenn er denn verlässlich ist und ihr Planungssicherheit gibt - auch zum Erhalt der Arbeitsplätze und zum Erhalt des technischen
Know-hows. Hier ist in den letzten Jahren gesündigt
worden. In dem Verteidigungshaushalt, den Sie heute
vorgelegt haben, sind weitere Sündenfälle programmiert.
Die Themen HDW und EADS wurden hier angesprochen. Mir ist ein bisschen schwummerig, wenn ich daran
denke, was wir im Verteidigungsbereich industriepolitisch alles gemeinsam mit den Franzosen machen sollen.
Wer einmal erlebt hat, wie der von Franz Josef Strauß
initiierte Airbus mittlerweile in Toulouse unter Abspielen der französischen Nationalhymne in Dienst gestellt
wird, der wird nie und nimmer auf die Idee kommen,
dass dieses Flugzeug seinen Ursprung in Deutschland
hatte. Ich möchte ungern erleben, Herr Minister, dass
deutsche U-Boote im Mittelmeer ihre Jungfernfahrt machen. Sorgen Sie also bitte dafür, dass Deutschland,
wenn es hier mit den Franzosen eine industriepolitische
Kooperation eingeht, die Führung in diesem Konsortium
erhält, damit wir nicht zum guten Schluss auch in diesem
Fall wieder am Ende der Tabelle stehen!
({7})
Da hilft es Ihnen eigentlich auch nichts, wenn in
Ziffer 13 beschworen wird, dass Aufgaben und Ausrüstungen in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden sollen. Ehrlicher wäre es gewesen, zu
schreiben, dass der Auftrag ausgeweitet und die Ausrüstung entsprechend der reduzierten Mittel beschafft werden soll. Diese Ehrlichkeit fordern sowohl die Soldaten
als auch wir im Parlament von Ihnen. Da haben Sie noch
einiges nachzuholen.
Sie haben sich hier über das Thema GEBB ausgelassen. Manches, was Sie eingeleitet haben, gibt den Befürchtungen, die wir vor drei Jahren geäußert haben,
Recht. Als Minister Scharping die GEBB eingerichtet
hat, war es eigentlich nicht mehr als eine Versorgungsanstalt für ausgemusterte SPD-Funktionäre. Diesen Punkt
haben wir kritisiert. Die GEBB hat in den Jahren seit ihrer Gründung mehr Geld verschlungen, als sie eingebracht hat.
({8})
Wenn Sie die Protokolle des Verteidigungsausschusses nachlesen, dann werden Sie feststellen, dass sich nie
auch nur einer aus unserer Fraktion gegen den Weg einer
besseren Kooperation mit der Wirtschaft ausgesprochen
hat. Aber die Art und Weise, in der das damals geschah,
entsprach nicht dem, was wir uns vorgestellt haben.
Selbst Sie haben inzwischen durch Ihr praktisches Handeln eingeräumt, dass es die falsche Art war.
In den Ziffern 75 und 80 der Verteidigungspolitischen
Richtlinien wird angesprochen, dass die Bundeswehr in
Zukunft auch im Inneren eingesetzt werden und einen
veränderten Beitrag zur inneren Sicherheit leisten soll.
Dabei bleibt allerdings die Frage offen, in welcher Beziehung, wo und vor allen Dingen auf welcher rechtlichen Basis ein veränderter Beitrag geleistet werden soll.
Es muss doch schon nachdenklich stimmen, dass es eines verwirrten Hobbypiloten bedurfte, um den Innenminister darauf aufmerksam zu machen, dass wir hier
dringend eine gesetzliche Regelung brauchen. Ich
glaube, wir sind uns einig, dass das Gesetz zur Luftsicherheit nur ein erster Schritt sein kann. Auch die Seewege und das Land müssen geschützt werden.
Dazu gibt es einiges zu sagen. Ich erinnere nur der guten Ordnung halber daran: Wenn unsere Phantom-Jäger
in Wittmund aufsteigen, um ein Flugzeug zur Landung
zu veranlassen, haben sie noch nicht einmal Leuchtspurmunition, um das dem Piloten jenes Flugzeuges anzuzeigen. Ihr Vorgänger hat mir damals gesagt, es werde erwogen, diese anzuschaffen, wenn der Eurofighter in
Dienst gestellt werde. Hoffentlich erinnern sich die Terroristen daran, wenn es einmal hart auf hart kommt.
Ich glaube, Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie
glauben, durch das Ausklammern von Problemen und
die Negierung der Wirklichkeit Planungssicherheit zu
erreichen. Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie die
Motivation der Soldaten, der Wehrpflichtigen, der Zivilbediensteten, der Zeit- und Berufssoldaten aussieht,
wenn sie im täglichen Dienst viele kleine Übel feststellen müssen, die man mit wenig Geld beseitigen könnte,
und gleichzeitig in der Zeitung lesen, dass die beiden
VIP-Airbusse für 155 000 Euro neu gespritzt worden
sind? Es gibt weder einen sachlichen noch einen politischen Grund dafür. Wenn dann gesagt wird, es gebe Länder, in denen das Flugzeug mit der Aufschrift „Luftwaffe“ nicht landen könne, weil dadurch bei einigen
Leuten komische Gefühle aufkämen, möchte ich gern
wissen: In welchem konkreten Fall ist das eigentlich passiert? Ich kenne keinen solchen Fall. Ich glaube, weder
Konrad Adenauer noch Willy Brandt, Richard von
Weizsäcker oder Walter Scheel haben darunter gelitten,
mit so einem Flugzeug zu fliegen. Zu guter Letzt wird
uns vielleicht noch irgendein Land das Gefühl vermitteln, es sei besser, wenn unsere Piloten ihre Flugzeuge in
Zivil fliegen, weil jemand negativ beeindruckt sein
könnte, wenn sie in Luftwaffenuniform aus ihren Flugzeugen aussteigen.
Das ärgert die Leute: fünf Jahre keine Wehrsolderhöhung, in manchen Truppenteilen fehlt es am Notwendigsten, aber an anderer Stelle wird das Geld mit vollen
Händen zum Fenster hinausgeschmissen.
({9})
Zum Schluss. Die in Ziffer 87 formulierte Forderung,
hervorragend qualifiziertes und motiviertes Personal in
der Bundeswehr einzusetzen, ist ein frommer Wunsch.
Das beginnt damit, dass wir die Kräfte selbst ausbilden
und guten und geeigneten Nachwuchs finden müssen.
Ich lese Ihnen einmal die Zahlen der Wehrbereichsverwaltung Nord - auch der Kollege Robbe kommt von
dort - vor: Im Jahre 2000 hatten wir im mittleren nicht
technischen Dienst 114 Ausbildungsplätze, heute sind es
86. Im gehobenen nicht technischen Dienst waren es damals 255, heute sind es 136. Bei der Ausbildung zum
Verwaltungsfachangestellten hatten wir 267, heute sind
es 155. Woher nimmt diese Regierung eigentlich den
Mut, öffentlich darüber zu schwadronieren, Betriebe mit
Ausbildungsabgaben zu belasten, wenn sie selber über
10 Prozent der Ausbildungsstellen in diesem Bereich
einspart?
({10})
Wollen Sie den Verteidigungshaushalt vielleicht auch
noch mit einer Ausbildungsabgabe belasten? Ich kann
mir eigentlich nicht vorstellen, dass das der tiefere Sinn
sein soll.
Ich kann Sie nur auffordern: Treten Sie endlich den
Marsch in die Realität an, sonst wird die Bundeswehr
Schaden nehmen! Den Aufbruch in eine bessere Zukunft, Herr Minister, können wir in Ihrem Haushaltsentwurf nicht finden. Wenn es Ihnen nicht gelingt, hier wesentlich nachzubessern, dann werden wir diesen Entwurf
ablehnen, so Leid uns das im Einzelfall auch tun mag.
Schönen Dank.
({11})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Als Erster erteile ich das
Wort der Bundesministerin - ({0})
- Habe ich „Verteidigung“ gesagt? Ich bitte um Nachsicht. Beim Aufrufen der zuständigen Ministerin war ich
offenkundig auf der richtigen Fährte.
({1})
Hier wird ein Sachzusammenhang hergestellt, der sich in
der Debatte ganz gewiss eindrucksvoll bestätigen wird.
Wir kommen also zum Geschäftsbereich des Bundesminsteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Ich erteile das Wort der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erstens möchte ich von dieser Stelle aus einen Gruß an
den Kollegen Thilo Hoppe, den Sprecher für Entwicklungspolitik der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,
richten, der aus Krankheitsgründen nicht an der Sitzung
teilnehmen kann. Ich denke, wir alle wünschen ihm, der
unsere heutige Debatte sicherlich begleitet, gute Genesung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer häufiger und
immer zahlreicher - das hat die Debatten am heutigen
Tag durchzogen - sind die politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Krisen in den Entwicklungsländern, zumal
in zerfallenen Staaten oder in Staaten, die zu zerfallen
drohen. Das heißt für die internationale Politik, aber
auch für die Entwicklungspolitik: Wir müssen schnell,
flexibel und effizient auf veränderte Herausforderungen
reagieren und das mit den langfristigen Aufgaben zusammenbringen, die uns allen gestellt sind, nämlich die
Armut zu bekämpfen, die Globalisierung gerecht zu gestalten und die Friedenssicherung voranzubringen.
Gleichzeitig erkennt die internationale Gemeinschaft
von Tag zu Tag mehr: Wir können Krisen nur bewältigen
und Entwicklungserfolge nur dann erreichen, wenn wir
als Weltgemeinschaft gemeinsam vorgehen. Wir brauchen eine kooperative Politik und müssen die Kräfte
bündeln. Statt eines Rückfalls in Unilateralismus brauchen wir eine Renaissance des Multilateralismus.
({1})
Darum geht es. Das spürt jeder Tag für Tag.
In den Ländern, in denen Regierungen auf Unilateralismus gesetzt haben oder noch setzen, muss jetzt die
Diskussion darüber geführt werden, dass kein Land, sei
es noch so mächtig, die Weltordnung bestimmen kann,
sondern dass die Zukunft der multilateralen Weltordnung gehört.
Ich bin heute Nachmittag von den Vortreffen zurückgekommen, die die WTO, die Europäische Union und
die Entwicklungsländer in Cancun vor der Konferenz,
die heute praktisch zum gleichen Zeitpunkt beginnt,
durchgeführt haben. Die in Cancun stattfindende WTOVerhandlungsrunde ist eine Nagelprobe dafür, ob die
internationale Gemeinschaft es mit ihren Versprechungen ernst meint, die sie den Entwicklungsländern in der
so genannten Doha-Runde gegeben hat.
({2})
Es geht auch um die Frage, ob Entscheidungen getroffen werden, durch die die Armut bekämpft wird. Die
Weltbank hat zu Recht darauf hingewiesen, dass, wenn
die Handelshemmnisse beseitigt würden, die sich heute
den Entwicklungsländern stellen, rund 144 Millionen
Menschen aus extremer Armut befreit werden könnten.
Deshalb kommt es sehr darauf an, dass diese Ungerechtigkeit, die zulasten der Entwicklungsländer heute noch
in der Welthandelsstruktur besteht, beseitigt wird. Die
2,7 Milliarden Menschen - das ist fast die Hälfte der
Menschheit -, die von weniger als 2 Dollar am Tag leben, stehen vor doppelt so hohen Handelshindernissen
und Handelsbarrieren wie die Reichen. Das ist eine dauernde Diskriminierung von Entwicklungsländern, die
endlich beseitigt werden muss.
({3})
Die Gelegenheit dazu besteht jetzt. Wir fordern die
Beteiligten auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen;
denn eine Globalisierung kann nicht nachhaltig sein,
wenn sie auf einem derartigen Unrecht basiert. Deshalb
müssen wir Veränderungen zugunsten der Entwicklungsländer vor allem durch ein Auslaufen von Exportsubventionen im Agrarbereich, also durch eine Beseitigung der
handelsverzerrenden Subventionen, erreichen. Wir müssen auch Fortschritte erreichen, indem den Entwicklungsländern ein besserer Zugang zu den Märkten verschafft wird.
Ich bin in Cancun mit Vertretern von vier westafrikanischen Staaten - diesen Punkt möchte ich besonders erwähnen -, nämlich Mali, Tschad, Benin und Burkina
Faso, zusammengetroffen. Wir haben gemeinsam einen
„Cotton Day“ veranstaltet. Die vier Handelsminister dieser Länder haben dargestellt, wie 10 Millionen Menschen in ihren Ländern von Subventionen der USA
- zumal für ihre großen Farmer im Bereich der Baumwolle in Höhe von 3,7 Milliarden US-Dollar - betroffen
sind, weil sie keine Chance mehr haben, wettbewerbsfähig ihre Produkte auf dem Weltmarkt abzusetzen.
Diese vier Länder wollen keine zusätzliche Entwicklungshilfe. Sie erwarten aber von der WTO - das haben
sie vorgetragen -, dass alle Staaten in gleicher Weise die
Spielregeln beachten. Hierdurch wird das Schicksal von
Menschen mehr bestimmt und ihnen besser geholfen als
durch allgemeine Erklärungen.
({4})
Deshalb unterstützt die Bundesregierung die so genannte
Baumwoll-Initiative. Die westafrikanischen Länder wollen, dass die entsprechenden Subventionen in anderen
Staaten auslaufen. Wie gesagt, sie verlangen, dass sich
alle an die Spielregeln halten.
Ich will Ihnen an einem Beispiel einmal aufzeigen,
welches Missverhältnis sich aufgrund der Handelshemmnisse ergeben kann. Mali hat im Jahr 2001 im
Rahmen der Entschuldungsinitiative einen Schuldenerlass in Höhe von 41 Millionen Euro erhalten. Aber diesem Land entsteht ein Verlust bei den Exporterlösen in
Höhe von 43 Millionen Euro. Was auf handelspolitischem Gebiet an Unrecht besteht, können wir also durch
finanzielle Hilfe nicht ausgleichen. Deshalb müssen
diese Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden. Da
gebe ich den vier westafrikanischen Ländern Recht.
({5})
Dieser Punkt muss in der heutigen Debatte erwähnt werden.
Wie notwendig gemeinsames Vorgehen auch in anderen Regionen ist, zeigt die Situation in Afghanistan. Ich
war vor anderthalb Jahren dort, zum Ende der Talibanherrschaft, also noch bevor die Regierung Karzai ins
Amt kam. Vor gut zwei Wochen war ich wieder in Kabul. Entgegen allen öffentlichen Berichten gibt es doch
beeindruckende Wiederaufbauleistungen der afghanischen Bevölkerung, die wir nicht kleinreden dürfen.
Wichtig ist, was für die Frauen geschehen konnte. Die
Frauen haben nun eine Chance auf Ausbildung und die
Mädchen können wieder in die Schule gehen. Es gibt sogar Polizistinnen, was vorher völlig undenkbar gewesen
ist.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat in
Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft
dazu beigetragen, dass in zehn Regionen außerhalb Kabuls Gesundheitszentren und Schulen aufgebaut werden
konnten. Diese große Leistung gewährleistet, dass nach
über 20 Jahren Bürgerkrieg, Zerstörung und Gewalt die
Menschen in diesem Land die Chance auf eine gute Zukunft haben.
({6})
Ich habe den Kindern, die ich dort getroffen habe, dieses
Versprechen gegeben. Wir sollten gemeinsam alles tun,
damit dieses Versprechen gehalten wird. Diese Kinder
haben es verdient, dass wir uns gemeinsam für ihre Zukunft engagieren.
({7})
In der Debatte heute Nachmittag ist schon deutlich
geworden, dass sich an dem Erfolg beim Wiederaufbau
die Frage entscheidet, ob der Kampf gegen den Terrorismus gewonnen wird. Niemand kann sagen, dass es in anderthalb Jahren der Fall sein wird. Es bedarf vielmehr
des dauerhaften Engagements.
Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass die GTZ, unsere Durchführungsorganisation, am
heutigen Tag von der Weltbank auf Initiative der afghanischen Regierung den Auftrag erhalten hat, in Afghanistan landesweit die dörflichen Strukturen aufzubauen,
Ausbildung und den Wiederaufbau voranzubringen. Das
zeigt, wie sehr die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und die Arbeit unserer Durchführungsorganisation
in diesem Land anerkannt werden.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle ein Grundsatzproblem ansprechen, das mir auf der Seele liegt. Wenn wir Soldaten
schicken, dann versuchen wir die Voraussetzungen dafür
zu schaffen, dass sie sich schützen können. Ich danke
den vielen Menschen, die in solchen schwierigen Situationen ungeschützt als Entwicklungs- und Aufbauhelfer tätig sind.
({9})
Leider ist es nicht mehr so, dass nicht angegriffen wird,
wer ungeschützt ist. Das haben wir erlebt und das lastet
mir bei Entscheidungen über solche Fragen auf der
Seele.
Ich werbe dafür, den Wiederaufbau und das Engagement der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in
Kunduz zu unterstützen. Sie haben das heute im außenpolitischen Bereich und auch im Zusammenhang mit
dem Verteidigungsressort diskutiert. Die Kritik, die ich
im Vorfeld gehört habe, bezieht sich nur auf das USamerikanische Modell des PRT, bei dem die Militärs den
zivilen Aufbauhelfern sagen, was gemacht werden soll.
Das ist für uns völlig unvorstellbar. Wir haben ein eigenes Konzept: Militär und Wiederaufbauhelfer sind getrennt. Niemand ist dem anderen untergeordnet. Jeder
nimmt seine Verantwortung wahr. An die Adresse derjenigen, die das grundsätzlich kritisieren, sage ich: Was in
Kabul richtig ist - dass die ISAF für ein Klima der Sicherheit sorgt, in dem die Wiederaufbauhelfer arbeiten -,
das kann doch in Kunduz nicht falsch sein.
Die Nichtregierungsorganisationen leisten eine klasse
Arbeit. Die Welthungerhilfe war in dieser Region schon
zu Zeiten tätig, als alle anderen das Land verlassen hatten. Ich danke ausdrücklich für das Engagement.
Es wird niemand für irgendein Konzept vereinnahmt.
Aber ich möchte, dass verstanden wird: Es geht darum,
auch in dieser Region zur Stabilität beizutragen. Wir
müssen doch ein eigenes Interesse daran haben, dass ein
gemäßigtes, selbstbestimmtes Afghanistan erwächst, das
positiv auf andere Länder in der Region wirkt.
({10})
Ein Schwerpunkt wird die Demobilisierung von Soldaten sein. Denn wenn die Reform der Streitkräfte vorankommen soll, dann muss demobilisiert werden. Dann
braucht es auch Zukunftsperspektiven, „Cash for Work“
zum Beispiel. Der Aufbau in ländlichen Regionen soll
dazu beitragen, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu
schaffen. Die Gesundheitszentren sollen die dramatisch
hohe Müttersterblichkeit zurückdrängen. Diese Aufgaben sind so wichtig für die Zukunft dieses Landes, dass
sich unser Engagement lohnt.
Wir möchten uns in dieser Region mit etwa 50 zusätzlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Entwicklungszusammenarbeit engagieren. Ein großer Teil werden örtliche Fachkräfte sein, mit denen wir gerne und
gut kooperieren. Ich bitte Sie alle, dieses Konzept des zivilen Wiederaufbaus und eines Klimas der Sicherheit zu
unterstützen.
Zum Schluss: Es war bei diesem Haushalt schwierig,
hohe Steigerungen zu erreichen.
({11})
- Das Schicksal von Menschen ist für mich das Wichtigste, Herr Brauksiepe.
({12})
Wir haben unsere Zusagen eingehalten. Trotz des
Sparzwangs wächst unser Haushalt, wenn auch nur
leicht. Wir halten das 0,33-Prozent-Ziel bis 2006 ein.
Der Plafond wird im Jahr 2007 sogar um 8,4 Prozent höher liegen.
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Diskussion
in der Öffentlichkeit nicht immer so geführt wird, wie
sie hier geführt wird. Ich finde es toll, wenn Sie sagen:
Mehr Geld in diesen Bereich!
({13})
Das finde ich Klasse. Ich bedanke mich bei jedem, der
das unterstützt. Ich werfe das niemandem vor. Wir wissen aber auch, dass es viele im Land gibt, die im Moment andere Probleme sehen. An ihre Adresse möchte
ich sagen: Wir haben natürlich auch in unserem Land
Probleme zu lösen. Wir dürfen aber unsere Verantwortung für den Interessenausgleich zwischen den Regionen
unserer Erde und für die Überwindung der Kluft zwischen Nord und Süd nicht vernachlässigen. Diese Themen sind für die Zukunft und für die Sicherheit von großer Bedeutung. Die Agenda 2010 und die Bekämpfung
der globalen Armut, also der Aktionsplan 2015, sind im
Übrigen zwei Seiten einer Medaille: der Zukunftsfähigkeit einerseits unseres Landes, andererseits aber auch international.
In diesem Sinne bedanke ich mich für die Unterstützung und hoffe, dass wir gemeinsam in den Fragen, die
uns doch allen am Herzen liegen, im Sinne der Gerechtigkeit und im Sinne der Chancen der Menschen in den
Entwicklungsländern die Arbeit voranbringen.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Jochen Borchert,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich habe mit Interesse Ihren Bericht zu den WTO-Verhandlungen gehört. Es wäre sicherlich spannend, darüber intensiver zu diskutieren. Ich
unterstreiche die Bedeutung, die die WTO-Verhandlungen für die Entwicklungshilfe und für die Entwicklung
gerade der ärmsten Länder haben. Ich habe auch mit Interesse Ihren Bericht über Afghanistan gehört. Wir sind
aber in der ersten Lesung des Haushaltes 2004.
({0})
Mich hätte natürlich vor allem interessiert, wie der Mitteleinsatz gerade für diese Probleme in Ihrem Haushalt
aussieht. Angesichts der Probleme Ihres Haushalts kann
ich natürlich verstehen, dass Sie lieber über die WTO
und über Afghanistan reden als über die konkreten Fakten Ihres Haushalts.
Der eingebrachte Etatentwurf zur Entwicklungspolitik für das Jahr 2004 muss auch gemessen werden an den
Ankündigungen der rot-grünen Koalition und Ihren Ankündigungen, Frau Ministerin, die in den vergangenen
Jahren immer wieder gemacht wurden. Trotz großer Erklärungen im Koalitionsvertrag von 1998 wurde der Etat
des Entwicklungshilfeministeriums im ersten Jahr, 1999,
drastisch gekürzt und hat auch mit dem Entwurf für das
Jahr 2004 das Volumen von 1998 noch nicht wieder erreicht. Er liegt immer noch über 100 Millionen Euro unter dem Ansatz von 1998.
Der Etat 2004 ist gerade vor dem Hintergrund der
Probleme in Afghanistan und anderen Ländern kein Signal des Aufbruchs; er ist vielmehr ein Etat der Stagnation. Bei den Risiken, die der Haushalt insgesamt hat, ist
offen, wie dieser Etat am Ende der Beratungen aussieht.
Mit diesem Entwurf wird die Koalition den Herausforderungen in der Entwicklungspolitik nicht gerecht.
({1})
Diese Herausforderungen sind nach dem 11. September
2001 noch größer geworden.
Frau Ministerin, in Ihrer Rede zum Haushalt 1999 haben Sie erklärt - ich zitiere -:
Die Entwicklungspolitik steht vor der Aufgabe, gemeinsam mit der Außen- und Sicherheitspolitik,
dazu beizutragen, dass Krisen in der Welt erst überhaupt nicht entstehen können.
Aber welche Konsequenzen hat die Bundesregierung
daraus für die Entwicklungspolitik gezogen?
Nach dem 11. September 2001 hat die Bundesregierung, haben gerade Sie, Frau Ministerin, immer wieder
betont, zum Kampf gegen den Terror gehöre der Kampf
gegen die weltweite Armut. In einem Papier der Bundesregierung wurde ihre Bereitschaft zu einem New
Deal mit den Entwicklungsländern erklärt. Knapp zwei
Jahre später ist das Ergebnis des New Deal ein Haushalt
der Stagnation.
Frau Ministerin, es ist weder Ihnen noch der Bundesregierung gelungen, wenn Sie es denn überhaupt je gewollt haben, die Bedeutung der Entwicklungspolitik als
Eckpfeiler der Sicherheitspolitik und als Politik der Krisenprävention in der politischen Debatte deutlich zu machen und im Bewusstsein der Menschen zu verankern.
Nach dem 11. September haben Sie zwar gut 100 Millionen Euro aus dem Antiterrorpaket erhalten; heute müssen Sie davon allerdings 80 Millionen Euro dem Auswärtigen Amt zur Bewirtschaftung überlassen.
Wenn die Bundesregierung die Gebote der Haushaltswahrheit und -klarheit ernst nehmen würde, dann wären
diese 80 Millionen Euro nicht im Einzelplan 23, sondern
im Einzelplan 05 etatisiert. Es ist doch das Gegenteil von
Haushaltswahrheit und -klarheit, wenn Mittel, über die
Sie nicht verfügen können, in Ihrem Etat veranschlagt
werden. Damit das nur niemand merkt, damit die Fassade Ihres Haushalts nicht noch mehr bröckelt, wird
nicht im Haushalt, sondern nur durch einen Kabinettsbeschluss festgelegt, dass Ihr Kollege Fischer über 80 Millionen Euro aus Ihrem Etat verfügen darf. Aus dem angekündigten Abbau von Krisenursachen, aus dem
Kampf gegen den Terror durch Kampf gegen die weltweite Armut ist in erster Linie ein Kampf mit dem Auswärtigen Amt geworden.
({2})
Dieser Haushalt ist der New Deal gegenüber den Entwicklungsländern in kleinster Münze.
Auch in einem anderen Bereich der Darstellung der
Entwicklungspolitik wird geschönt. Um die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit in ein möglichst rosarotes
Licht zu rücken, verweisen Sie immer wieder auf den
Aufwärtstrend der ODA-Quote, das heißt auf den steigenden Anteil der Ausgaben für Entwicklungshilfe am
Bruttonationalprodukt.
({3})
- Ich komme noch darauf zu sprechen, wie er heute tatsächlich ist. - Dieser Anstieg soll das entwicklungspolitische Engagement zum Ausdruck bringen. Der Anstieg
der ODA-Quote ist aber nicht auf einen höheren Etat des
BMZ zurückzuführen, sondern auf den Schuldenerlass
im Rahmen der so genannten Kölner Schuldeninitiative.
({4})
- Hören Sie noch einen Augenblick zu! - Wird die
ODA-Quote um den Schuldenerlass bereinigt, dann
zeigt sich, dass die Quote nicht gestiegen, sondern weiter
gesunken ist. Es besteht die Gefahr, dass die bereinigte
Quote auf unter 0,20 Prozent absinkt. Das Ziel, bis zum
Jahr 2006 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu erreichen, wird mehr und mehr zu einer Utopie.
Bei der ersten Lesung des Haushalts 1999 haben Sie,
Frau Ministerin, erklärt:
Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushalt haben
wir den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes
gestoppt und die Grundlage für eine Aufwärtsentwicklung geschaffen.
Daraus wurde in den folgenden Jahren bis heute ein immer weiterer Rückgang der Dotierung des Einzelplans 23.
Der Stellenwert, den die Entwicklungspolitik bei dieser
Bundesregierung hat, wird am Anteil des Einzelplans 23
am Bundeshaushalt deutlich. Dieser Anteil ist auch in
den Jahren von 1990 bis 1998, also in unserer Regierungszeit, angesichts der finanziellen Herausforderungen der Wiedervereinigung zurückgegangen. Er betrug
1998 aber immerhin noch 1,7 Prozent.
({5})
- Hören Sie weiter zu! - Im Haushalt 2004 sinkt der Anteil des Einzelplans 23 auf 1,5 Prozent und, bereinigt um
die 80 Millionen Euro, erstmals auf unter 1,5 Prozent.
Der Anteil des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt ist damit auf einen Wert zurückgefallen, den er zum letzten
Mal 1965, also vor fast 40 Jahren, hatte. Dies zeigt den
Stellenwert der Entwicklungspolitik.
({6})
Ernüchternd ist aber nicht nur die allgemein schlechte finanzielle Ausstattung der Entwicklungshilfe in Deutschland, sondern auch die Aufteilung des Einzelplans 23. So
steigen im Haushalt 2004 die Mittel für die multilaterale
Entwicklungszusammenarbeit um über 95 Millionen
Euro weiter an, während die Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit um 61 Millionen Euro zurückgehen. Besonders problematisch ist der Rückgang
der Mittel für die finanzielle und die technische Zusammenarbeit. Im Bereich der finanziellen Zusammenarbeit
reicht der Baransatz gerade noch aus, um die bestehenden Verpflichtungen erfüllen zu können. Neue Maßnahmen sind nicht möglich. Der Barmittelansatz und die
Verpflichtungsermächtigungen begrenzen den entwicklungspolitischen Handlungsspielraum sozusagen auf
null. Damit werden die Ziele bei der Armutsbekämpfung
und der Steigerung der ODA-Quote faktisch aufgegeben.
Dieser massive Rückgang der bilateralen Mittel geht
zulasten eines klaren Profils der deutschen Entwicklungspolitik. Unser nationaler Einfluss auf die Entwicklungspolitik nimmt kontinuierlich ab und immer mehr
Mittel werden ohne direkten deutschen Einfluss in den
großen multilateralen Fonds eingesetzt. Dabei geht die
spezifische Handschrift der deutschen Entwicklungspolitik verloren.
Positiv möchte ich beurteilen, dass Sie unseren Vorschlag aufgegriffen haben und den Haushaltstitel „Aktionsprogramm 2015“ in Höhe von 40 Millionen Euro aufgelöst
und die Mittel wieder in die einzelnen Titel integriert haben.
Auch ist die Anzahl der Deckungsvermerke zurückgegangen; das ist erfreulich. Aber für meinen Geschmack
gibt es nach wie vor zu viele Deckungsvermerke.
Frau Ministerin, die Bundesregierung ist aufgefordert, die Entwicklungshilfe nicht nur mit einem Lippenbekenntnis zu unterstützen, sondern den Einzelplan 23
so auszustatten - auch in seinem Anteil am Bundeshaushalt insgesamt -, dass die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland ihren Teil zum globalen Frieden beitragen kann. Mit diesem Etat wird die
Bundesregierung den Herausforderungen in der Entwicklungspolitik nicht gerecht.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sie müssen heute mit mir Vorlieb nehmen, weil der Kollege Thilo Hoppe leider krank ist. Wir haben ihm ja
schon gute Besserung gewünscht.
Ich werde mich bemühen, zunächst zu erklären, Herr
Kollege Borchert, warum ich glaube, dass Sie vieles einfach nicht verstanden haben.
({0})
Die Frau Ministerin hat völlig zu Recht - ich hatte das
auch vorgesehen und wollte mich jetzt eigentlich nur den
Worten der Frau Ministerin anschließen; aber vielleicht
sage ich doch ein paar Sätze dazu - an den Anfang und man kann fast sagen - in den Mittelpunkt gestellt, dass
das, was im Augenblick in Cancun stattfindet, wesentlich wichtiger oder sogar noch wichtiger ist als das, was
wir heute im Bundestag beraten.
({1})
Selbst wenn wir auf diesen Etat, den wir im Zusammenhang mit dem Einzelplan 23 diskutieren, die eine oder
andere Million oder sogar 10 oder 100 Millionen Euro
drauflegen würden, ist dies im Vergleich zu der Bedeutung der Beschlüsse, die dort hoffentlich getroffen werden oder vielleicht auch nicht getroffen werden, von untergeordneter Bedeutung.
Ich hatte gestern Abend die Gelegenheit, die „Tagesthemen“ zu sehen. Da konnte man verfolgen, dass die
USA durch ihre Subventionen des Mais erreicht haben,
dass sich im Mutterland des Mais, nämlich in Mexiko,
Maisanbau heute nicht mehr lohnt. Die Maisbauern gehen dazu über, den Mais aus den Vereinigten Staaten zu
kaufen, weil er dort um ein Drittel billiger ist, als sie
selbst ihn bei niedrigsten Löhnen herstellen können. Wir
wollen ja nicht immer alles auf die Amerikaner schieben. Das tun wir alle ja ganz gern, weil das so weit weg
ist und wir meinen, wir hätten nicht so viel damit zu tun.
({2})
- Ja, ich mache das auch manchmal.
Jetzt bleiben wir aber einmal in Europa. Auch darauf
hat die Ministern schon früher hingewiesen. In Europa
- zum Beispiel in Bayern - zahlen wir pro Jahr pro
Rindvieh 913 Dollar.
({3})
- Die ist in Cancun, um das zu ändern. - In Afrika leben
die Menschen im Durchschnitt - die meisten liegen weit
darunter - von der Hälfte dieses Betrages. Das ist nicht
nur eine Ungerechtigkeit, sondern wir machen damit
auch ganze Wirtschaften kaputt. Das konnten Sie vor ein
paar Tagen in den Zeitungen lesen. In Jamaika beispielsweise, wo es eine blühende Milchwirtschaft gab, ist die
Milchproduktion inzwischen nahezu zusammengebrochen, weil in Europa, in Deutschland das Milchpulver so
billig und hoch subventioniert hergestellt wird, dass wir
es dorthin liefern. Die Menschen dort können die Milch
nicht zu dem Preis herstellen, den sie für deutsches
Milchpulver zahlen. Das ist ungerecht.
Herr Kollege Ruck, ich habe heute ein Interview mit
Ihnen in einer Zeitung gelesen, in dem Sie sagen, dass
die Globalisierung auch gewisse Risiken birgt. Nein,
ich sage Ihnen: Die heutige Globalisierung ist zutiefst
ungerecht. Das ist nicht nur ein Risiko. Ganze Volkswirtschaften, wie zum Beispiel die in Jamaika, sind
durch die ungerechten und unfairen Austauschbedingungen ruiniert worden. Deshalb gehört in einer Rede zum
Haushalt über die Entwicklungszusammenarbeit dieser
Punkt auch an die erste Stelle. Hier müssen wir bei den
USA, in Europa und auch in Deutschland ansetzen und
etwas ändern.
({4})
Wenn wir das nicht tun, dann kommen wir nicht zu gerechten Austauschverhältnissen. Dann könnten wir hier
1 Million Euro und dort 50 Millionen Euro mehr für die
Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen - es
würde verpuffen und letztlich nicht wirken. Deshalb ist
das so wichtig und deshalb haben wir auch mehrere
Minister nach Cancun geschickt.
({5})
Die Haushaltsrede von Renate Künast ist vorgezogen
worden, damit sie heute dort sein kann. Sie muss versuchen, das Werk weiterzuführen, das sie begonnen hat.
Ich bin zwar skeptisch, aber ich hoffe, dass dabei etwas
herauskommt. Wir alle müssen daran weiterarbeiten.
({6})
Nun komme ich zu Ihrem zweiten Irrtum. Sie stellen
es hier so dar, als ob es allein darauf ankommt, dass der
Einzelplan 23 möglichst hoch dotiert ist. Das ist für Sie
das Wichtigste; dort schauen Sie hin. Anhand dieser
Zahlen stellen Sie fest, was diese Bundesregierung für
die Entwicklungszusammenarbeit und für die armen
Länder auf dieser Welt tut.
({7})
- Nein. - Ich sage Ihnen: Der Etat ist zwar wichtig - auf
die Einzelheiten komme ich gleich noch -, wir müssen
aber alles zusammen sehen. Was tut die Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik Deutschland insgesamt
für die armen Länder des Südens? Hierbei müssen Sie zu
der Erkenntnis kommen, dass die frühere Bundesregierung den Anteil der Gelder für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit von 0,42 Prozent auf 0,26 Prozent
zurückgeführt hat. Aufgrund der vielen Sparnotwendigkeiten sind wir jetzt langsam - das ist mühsam - dabei,
diesen Anteil in diesem Jahr auf immerhin 0,27 Prozent
zu erhöhen.
Sie müssen alles zusammen betrachten. Sie müssen
sich fragen: Was leisten die Länder? Was leisten andere
Organisationen? Was leistet das AA? Was wird bei anderen Haushaltstiteln in diesem Zusammenhang geleistet?
Das alles müssen Sie zusammenfassen; darauf kommt es
an. Ich gebe Ihnen Recht, dass man hier nicht genug tun
kann. Sie dürfen den Einzelplan 23 aber nicht alleine sehen, sondern Sie müssen ihn im Zusammenhang betrachten. Ich denke, hier sieht es inzwischen viel besser
aus als zu der Zeit, als Sie aufgehört haben, zu regieren.
({8})
Nun komme ich zu diesem Etat. Ich war auch in der
letzten Legislaturperiode im AwZ und ich habe in allen
Diskussionen - auch in den internen mit Vertretern der
anderen Ressorts und mit unseren Haushältern - keinen
Hehl daraus gemacht, dass ich es für grundfalsch halte,
dass aufgrund der Sparnotwendigkeiten jetzt und in den
früheren Jahren auch bei diesem Etat gespart werden
muss. Ich habe mich dagegen gewehrt, aber wir konnten
es nicht ändern.
Sie wissen ja, dass die Bundesregierung angetreten
ist, um endlich die Schulden, die Sie gemacht haben, zu
senken.
({9})
Deswegen musste leider auch dieser Etat bluten. Das hat
mir immer wehgetan. Ich war einer derjenigen, die immer wieder - auch schriftlich - vorstellig geworden sind,
um dort eine Verbesserung zu erreichen.
Sie sagen, Sie haben das damals mit kritisiert. Dann
seien Sie doch jetzt ein bisschen zufriedener damit, dass
wir in diesem Jahr zum ersten Mal die Kurve genommen
und langsam wieder in die andere Richtung fahren.
({10})
Schauen Sie sich an, was wir der Bevölkerung und
den anderen Haushalten, die hier diskutiert worden sind,
zumuten. Ich denke, dies ist ein kleines Zeichen. Es wird
verstanden, dass wir jetzt mehr für die Stiftungen - auch
für Ihre Stiftung -, für die NGOs und für den gesamten
zivilen Bereich tun.
({11})
Ich glaube, dieser zivile Bereich betreibt Entwicklungspolitik viel näher an den Nöten und Bedürfnissen
der Bevölkerung dort. Das sollten Sie mit uns gutheißen.
Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass wir nun zum
ersten Mal ein wenig draufgesattelt haben und dass wir
auf diesem Weg weitermachen werden.
Herr Kollege.
So werden wir im Jahre 2006 auch zu dem Ergebnis
kommen, das wir uns vorgenommen haben, nämlich
0,33 Prozent zu erreichen.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Löning für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Ströbele, das, was Sie ausgeführt haben, war sehr interessant. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede, ohne es explizit
zu sagen, das Ziel, die ODA-Quote von 0,33 Prozent jemals zu erreichen, infrage gestellt.
({0})
- Sie haben sehr deutlich gesagt, dass eine vernünftige
Handelspolitik wichtiger als die eine oder andere Million
im Einzelplan 23 ist. Das ist eine sehr interessante Anmerkung, weil diese ODA-Quote hier immer sehr hoch
gehalten wird. In der Diskussion wird der ODA-Quote
im Gegensatz zur Handelspolitik oft zu viel Aufmerksamkeit gewidmet.
Sie haben geredet, als wären Sie nicht tragendes Element dieser Bundesregierung. Sie und Ihre Minister sind
in Verantwortung. Sie können doch nicht die Abschlüsse, die im Agrarrat in Luxemburg gemacht werden, kritisieren. Sie und Ihre Ministerin haben sie doch
zu vertreten. Ihre Ministerin sitzt zurzeit in Cancun und
kann handeln.
({1})
Handeln Sie, Herr Ströbele! Sie reden, als wären Sie in
der Opposition.
({2})
Ich möchte etwas zur WTO sagen, was in der Diskussion bisher etwas zu kurz gekommen ist. Die WTO muss
in Cancun Handlungsfähigkeit beweisen. Es ist außerordentlich wichtig, dass die Staatengemeinschaft zeigt,
dass sie in der Lage ist, im Rahmen einer solch großen
Konferenz durch internationale Vereinbarungen internationales Recht zu setzen. Ein Rechtsrahmen muss geschaffen werden, der gerade den Schwachen nutzt. Ich
wünsche mir von Ihnen, Herr Ströbele, dass Sie öfter
Globalisierungskritikern entgegentreten, die die WTO
angreifen.
({3})
Die WTO setzt nämlich einen Rechtsrahmen, der gerade
auch den Entwicklungsländern hilft. Hier gilt es, die
Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren
durchzusetzen. Ich vermisse es, dass Sie das einmal mit
der entsprechenden Verve vertreten.
({4})
Bundespräsident Rau hat bei einer Rede vor einigen
Wochen, ähnlich wie Sie das gemacht haben, Frau
Ministerin, auf die Bedeutung des Handels hingewiesen.
Es ist der richtige und entscheidende Ansatz, gerade in
Cancun über die Bedeutung des Handels zu reden. Wenn
wir uns anschauen, welche Länder in den letzten Jahrzehnten erfolgreich gewesen sind, dann werden wir sehen: Es sind die Länder, die einen vernünftigen Rechtsrahmen gesetzt, ihren Bürgern und Unternehmen ein
halbwegs verlässliches Gerichtswesen und eine verlässliche Verwaltung gegeben und auf freien Handel gesetzt
haben. Sie haben darauf gesetzt, dass ihre Bürger ihre
Kreativität entfalten und dass durch unternehmerisches
Handeln die Armut bekämpft wird.
Wir können mit Entwicklungshilfe nie das leisten,
was die Menschen aus eigener Kraft leisten können. Es
geht darum, diesen Kräften die Möglichkeit zur Entfaltung zu geben. Es ist falsch, in Form einer Weltsozialpolitik Geld zu verteilen und darauf zu hoffen, dass sich die
Situation verbessert. Man braucht die Initiative der Menschen vor Ort.
({5})
Wir brauchen Entwicklung vor Ort. Wir brauchen den
Willen der Menschen vor Ort. Wir brauchen die Rahmenbedingungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie in den betreffenden Staaten. Wir brauchen
Unterstützung für Staaten, die ihren Menschen Bildung
und Ausbildung und ihrer Wirtschaft freien Handel und
Marktwirtschaft ermöglichen.
Genau das ist für die Freien Demokraten richtig verstandene Globalisierung. Wenn es gelingt, diese Gedanken nicht nur vorzutragen, sondern in der Dritten Welt in
Politik umzusetzen, dann bringt genau das Entwicklung
und bekämpft Armut.
({6})
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass es mir
bei Ihnen manchmal am entschiedenen Entgegentreten
gegen Leute mangelt, die genau dies kritisieren. Diese
Leute kritisieren mit einem falschen Unterton, dass internationale Transparenz und Informationsfreiheit zwischen
den entwickelten und den nicht so entwickelten Ländern
herrscht. Nur so können sich doch die Gedanken von
Freiheit, von Bürgerrechten und Marktwirtschaft verbreiten und durchsetzen. Das ist Globalisierung und Globalisierung bekämpft Armut, wenn sie richtig gestaltet ist.
({7})
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Ströbele zulassen?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass das Beispiel Jamaika, das ich gebracht habe, genau
zeigt, dass die Ordnung, die Sie dort einfach einführen
wollen, dieses gerade nicht leistet. Den Jamaikanern
können Sie nicht erklären, dass, nachdem 1992 die Weltbank von ihnen gefordert hat, alle Zollschranken zu beseitigen, das Ergebnis ist, dass die hoch subventionierten
Waren aus Deutschland und den USA dorthin gelangen
und ihre Wirtschaft ruinieren. Sind Sie mit mir der Meinung, dass alle unsere Forderungen nach Transparenz,
Offenheit und Zollabbau verlogen sind, solange wir selber unsere eigenen Subventionen und Zollschranken
- mit „wir“ meine ich die Länder des Nordens - nicht
zuerst beseitigen?
Herr Ströbele, ich bin völlig einer Meinung mit Ihnen.
Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist, dass Sie an
der Regierung sind und handeln können. Tun Sie es;
handeln Sie in diesem Bereich!
({0})
Was haben Sie denn beim Agrarkompromiss ausgehandelt? Das ist zu wenig. Die Übergangsfristen sind zu
lang, die Subventionen sinken zu langsam. Das Beispiel
Baumwolle, das die Ministerin genannt hat, ist richtig.
Aber sie sitzt in der Regierung und kann den Prozess beeinflussen. Sie haben den Einfluss im Ministerrat in
Brüssel, sich dafür einzusetzen, dass die Subventionen
für Baumwolle gesenkt werden. Tun Sie es!
({1})
Ich möchte zum Schluss noch etwas ansprechen, was
manchmal in der Diskussion vergessen wird. Wir müssen in der Entwicklungspolitik dazu kommen, die
Entwicklungsländer stärker in die Verantwortung zu
nehmen. Wenn ein Land nicht rechtsstaatliche Rahmenbedingungen setzt, wenn ein Land die Menschenrechte
verletzt, wenn ein Land eine negative Wirtschaftspolitik
betreibt, die wirtschaftliche Entwicklung und damit die
Armutsbekämpfung behindert, dann müssen wir den
Mut aufbringen, zu sagen, dass es keinen Zweck hat zu
helfen. Wir können nicht mit ein paar Euro Entwicklungshilfe gegen eine konträre Politik arbeiten. Das zu
sagen, dazu fehlt uns noch zu oft der Mut. Wir sind zu
oft von einem schlechten Gewissen getrieben und glauben, helfen zu müssen, obwohl eigentlich angesichts der
Tatsachen in vielen Ländern gesagt werden muss: Da ist
nicht zu helfen, wenn die Regierung oder das Volk des
Landes nicht selbst den Willen zur Entwicklung haben
und die richtigen Rahmenbedingungen setzen.
Viele Länder tun das und diese Länder sollten wir viel
stärker unterstützen als jene, die das nicht tun und ihren
eigenen Bürgern die Chance zur Entwicklung verweigern.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Karin Kortmann, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meines Wissens war es heute Morgen das erste Mal,
dass ein deutscher Bundeskanzler seine Ausführungen
zur Regierungspolitik, die er im Rahmen der Haushaltsberatungen vorstellte, mit Deutschlands Verantwortung
in der einen Welt begann. Dafür, dass er diese Verantwortung so prominent angesprochen hat, und vor allem
auch dafür, dass sie zu einem wichtigen Leitmotiv der
gesamten Bundesregierung und damit ressortübergreifend geworden ist, dem Leitmotiv nämlich, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit in der einen Welt innovativ
und verlässlich mitzugestalten, danke ich ihm und vor
allem auch der Ministerin.
({0})
- Pscht, Sie sind gleich dran.
Egal, ob wir hier die Begriffe von globaler Strukturpolitik, von globaler Politikgestaltung, von Weltinnenpolitik oder auch von Global Governance verwenden es geht um die Verantwortung der Staatengemeinschaft,
es geht um die internationalen Vereinbarungen und um
deren Überprüfung.
Am Beispiel von Cancun wird deutlich, welche Erwartungen und hehre Vorstellungen damit verbunden
sind. Es bleibt zu hoffen, dass dieses zarte Pflänzchen
nicht so schnell wieder vertrocknen wird.
Unabdingbar notwendig ist nach unserem Verständnis
die Kooperation mit der Wirtschaft und mit den national
und international tätigen Nichtregierungsorganisationen. Dass sich dabei auf internationaler Ebene auch die
Parlamentarier immer stärker vernetzen, hat beispielsweise in der vergangenen Woche die UN-Konferenz zur
Bekämpfung der Desertifikation gezeigt. Dass wir dort
ein Steering Committee einrichten konnten, belegt, dass
die Desertifikation nicht nur die afrikanischen Länder
angeht, sondern dass sie uns auch in Europa betrifft. Die
Tatsache, dass jedes Jahr eine Fläche wichtigen Bodens,
der zur Ernährung beiträgt, in der Größe von Belgien
vernichtet wird, macht deutlich, dass wir dafür eine Gesamtverantwortung wahrnehmen müssen.
Für uns - darin unterscheiden wir uns sehr, Herr
Borchert - ist besonders die Stärkung der europäischen
und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit hervorzuheben, die im Haushaltsentwurf angemessene Berücksichtigung findet und die Arbeit der Vereinten Nationen und der Weltbank - auch durch unseren
Exekutivdirektor - sehr erfolgreich unterstützt. Der uns
vorliegende Einzelplan 23 unterstützt diesen Politikansatz des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Es ist belegbar - das wissen Sie aus den Haushaltsberatungen, Herr Borchert -, dass bis zum Jahr 2007 durch
den jetzigen Haushaltsansatz und vor allem durch die
mittelfristige Finanzplanung die internationalen Vereinbarungen wie auch das 0,33-Prozent-Ziel schrittweise
umgesetzt werden.
({1})
Sie können aus der mittelfristigen Finanzplanung auch
ersehen, dass wir bis zum Jahr 2007 eine prozentuale Steigerung um 8,5 Prozent gegenüber dem Haushalt 2003
vorgesehen haben.
Ich habe aber in allen Beratungen immer wieder darauf hingewiesen, dass das Finanzvolumen an sich noch
kein Gütekriterium ist und wir uns nicht der Illusion hingeben sollten, dass die Steigerung der ODA-Quote bereits wie der Zaubertrank des Miraculix wirkt und automatisch zur Stärkung der Entwicklungspotenziale in den
Partnerländern führt.
Was wir in der Finanzdiskussion brauchen, ist die
Verständigung über die überfälligen Reformen bei Weltbank und IWF sowie über den wirkungsvollen Einsatz
und die Mittelverwendung des Europäischen Entwicklungsfonds. Ich denke, darin stimmen wir überein, Herr
Brauksiepe. Auch wenn ich Ihren Tonfall nicht immer
nachvollziehen kann, glaube ich, dass wir in der Sache
weiterkommen.
Wir brauchen ferner eine Diskussion über die Übertragung von zusätzlichen und erweiterten Aufgaben,
die das BMZ - beispielsweise beim Wiederaufbau in
Afghanistan - zu erfüllen hat. Wenn die Ministerin über
Kunduz redet, bedeutet das mehr Einsatzkräfte, Knowhow und einen verstärkten Mitteleinsatz. Wenn es um
Hilfe für die Menschen im Irak geht, so wissen wir, dass
es mit dem bisherigen Haushaltsansatz nicht mehr getan
ist und dass wir die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung stellen müssen.
({2})
Wir müssen uns aber auch darüber verständigen, die
Verbundfinanzierung zu verstärken, damit es endlich zu
einem abgestimmten und effizienteren Mitteleinsatz
kommt.
({3})
Haushaltsmittel und Marktmittel werden nämlich derzeit
noch in getrennten Tranchen gewährt. Unter finanz- wie
auch entwicklungspolitischen Kriterien sollte beides zusammengefasst werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines anmerken,
weil mich Ihr rein bilateraler Ansatz bzw. die Diskussion
über die ODA-Quote ärgern. Das Center for Global Development in Washington und die Zeitschrift „Foreign
Policy“ haben in diesem Jahr erstmals einen Geberberatungsindex von 21 westlichen Geberländern veröffentlicht. Bewertet wurden nicht nur die Höhe und die Qualität der Hilfeleistungen, sondern es wurden fünf wichtige
Themenfelder zentral in den Bewertungskatalog mit aufgenommen und es wurde geprüft, ob sie den armen Ländern eher helfen oder schaden. Ich möchte Ihnen diese
fünf Punkte nennen.
Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie die Punkte im Rahmen Ihrer Redezeit nur
schwer im Einzelnen vortragen können? Vielleicht können Sie sich auf die Schlussfolgerung beschränken. Bei
den Redezeiten ist es immer so, dass einem die Zeit davonläuft.
Lassen Sie mich die Punkte kurz anführen, damit wir
endlich von der ODA-Diskussion wegkommen. Es geht
darum, ob die Offenheit der Grenzen für Importe gegeben ist. Ferner geht es um das Volumen der Direktinvestitionen in ärmeren Weltgegenden, um die Bereitschaft,
Migranten aufzunehmen, um das Engagement in Sachen
Friedenssicherung und um das ökologische Wohlverhalten.
Dadurch - jetzt hören Sie gut zu - wurden erstmals
die rein quantitativen Messverfahren durch qualitative
Kriterien ersetzt. Nach diesem Ranking - Herr Ruck, lesen Sie das bitte nach - kommt Deutschland als einziger
G-7-Staat in das obere Drittel und damit auf Platz 6 der
Liste der so genannten Best-Practice-Länder. Das verdanken wir unserer Ministerin; denn sie verfolgt seit
1998 eine andere Strukturpolitik und einen anderen Friedensansatz als den, den Sie, Herr Borchert, gerade eben
beschrieben haben und den wir wirklich nicht unterstützen können.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
- Jede angemeldete Kurzintervention nehme ich gerne
auf. Zu einer nicht angemeldeten Kurzintervention kann
ich schlecht das Wort erteilen.
Jetzt hat der Kollege Peter Weiß das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben hier ein Musterbeispiel politischer Rhetorik:
Peter Weiß ({0})
Wenn einem der eigene Haushalt peinlich ist, redet man
von anderen Themen.
({1})
Keine Frage, die Welthandelsordnung ist von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklungschancen der
Entwicklungsländer. Aber darüber zu reden exkulpiert
nicht, davon zu sprechen, wie es um den deutschen Beitrag in der Entwicklungszusammenarbeit bestellt ist.
Inhaltlich habe ich Folgendes anzumerken: Selbst
wenn es zu den gewünschten Liberalisierungen im Welthandel käme, hieße das nicht automatisch, dass die
Ärmsten der Armen in allen Entwicklungsländern eine
Chance bekämen. Dafür sind zusätzliche Maßnahmen
notwendig. Auch darüber muss in einer Haushaltsdebatte gesprochen werden. Der Grund, warum Sie hier
ausweichen, ist, dass der Entwicklungshaushalt 2004
nur zum Schein wächst. In Wahrheit nimmt er weiter ab.
Rot-Grün ist verantwortlich für einen weiteren Abstieg
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.
({2})
Im Gegensatz zu den schönen Reden, die hier gehalten
werden, lügen die nackten Zahlen und Fakten nicht. Selbst
wenn man die im diesjährigen Haushalt integrierten Mittel
aus dem so genannten Antiterrorpaket, die Sie weiterhin für
den Einsatz in Afghanistan bereitstellen wollen - darüber
haben Sie, Frau Ministerin, gesprochen -, mit einrechnet,
stellt man fest, dass Sie im neuen Haushalt im Vergleich
zum alten 92 Millionen Euro verlieren. Hinzu kommt,
dass Sie 80 Millionen Euro unter Umgehung des Haushaltsrechts des Parlaments an das Auswärtige Amt abführen müssen.
({3})
Dadurch verlieren Sie an finanzieller Schlagkraft. Das
können auch Sie in noch so schönen Reden nicht wegdiskutieren.
Nun haben Sie sich hier noch einmal dazu bekannt,
dass die Umsetzung des Aktionsplans 2015, in dessen
Mittelpunkt die Armutsbekämpfung steht, ein zentrales
Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sei.
Sie wollen einen substanziellen Beitrag dazu leisten,
dass die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen
bis zum Jahr 2015 halbiert wird. Ich frage Sie, Frau Ministerin: Findet sich diese inhaltliche Zielsetzung denn
im Bundeshaushalt 2004 wieder? Gerade wenn man nur
begrenzte Finanzmittel zur Verfügung hat, bedarf es zur
Armutsbekämpfung einer klaren Konzentration auf die
Instrumente, die vorrangig helfen, Menschen aus einer
menschenunwürdigen Situation herauszuführen und ihnen Mittel zur Selbsthilfe an die Hand zu geben.
Ein zentraler Ansatzpunkt ist dabei die Bildung, vor
allem die Grundbildung für junge Männer und Frauen.
Genauso wichtig sind eine verbesserte gesundheitliche
Versorgung, der Zugang zu sauberem Wasser sowie der
Erhalt der natürlichen Umwelt und ihrer Ressourcen.
Gerade für die Sektorprogramme Bildung, Gesundheit,
Wasser sowie Umwelt- und Ressourcenschutz bringt der
Entwurf des Bundeshaushalts 2004 einen zum Teil deutlichen Rückgang des deutschen finanziellen Beitrags.
Aber mit diesem Haushaltsentwurf werden nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich falsche Akzente gesetzt.
({4})
Herr Ströbele, auch die Steigerung der Mittel für die
nicht staatlichen Träger der Entwicklungszusammenarbeit wie Kirchen und Stiftungen lässt sich nicht finden.
({5})
- Nein. Wenn Sie das aufgelöste Aktionsprogramm 2015
und die daraus umgelegten Mittel hineinrechnen, werden
Sie sehen, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt.
Das heißt - der Kollege Borchert sagte es schon -, es ist
ein Haushalt der Stagnation. Eine Steigerung ist nirgendwo zu finden. Das ist die Wahrheit.
({6})
Besonders problematisch ist, dass Sie die Aktionsmöglichkeiten der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit massiv beschädigen. Die Haushaltsansätze für den Bereich der finanziellen
Zusammenarbeit - sie wird hauptsächlich über die KfW
abgewickelt - und für den Bereich der technischen Zusammenarbeit - Sie haben die Deutsche Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit für ihre Projekte sehr gelobt - werden nicht erhöht, sondern gekürzt. Zusätzlich
werden jene 80 Millionen Euro, die Sie an das Auswärtige Amt abführen müssen, aus den Bereichen der finanziellen und der technischen Zusammenarbeit abgezogen.
Ein Bundesministerium, das seine rechte und seine linke
Hand amputiert, ist ein Torso, aber kein aktionsfähiges
Haus mehr. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Wenn die FDP, wie ich annehme, in der zweiten und
dritten Lesung wieder ihren Antrag aus der Mottenkiste
holt, das BMZ in das Auswärtige Amt einzugliedern,
dann werden wir von der CDU/CSU das entschieden ablehnen.
({7})
Frau Ministerin, ich muss Ihnen sagen: Mittlerweile liefern Sie selbst mit Ihrer Politik und Ihrem Haushalt die
beste Begründung für den FDP-Antrag.
({8})
Frau Ministerin, mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass Sie mit der Art und Weise, wie Sie reden und
sich öffentlich darstellen, einen bedeutenden Platz in der
inzwischen 40-jährigen Geschichte des Bundesminsteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung einnehmen.
({9})
Peter Weiß ({10})
Dieser Platz wird Sie aber als diejenige Ministerin ausweisen, die die größten öffentlichen Versprechungen gemacht hat und die davon am wenigsten gehalten und eingelöst hat. Deswegen lehnen wir den Bundeshaushalt
2004 ab.
({11})
Nun hat die Abgeordnete Wieczorek-Zeul um eine
Kurzintervention gebeten, zu der ich ihr hiermit das
Wort erteile.
Ich will auf die konkrete Frage des Kollegen Löning
„Wie können eigentlich vonseiten der Europäischen
Union Subventionen für Baumwolle abgebaut werden?“
eingehen. Es ist realistisch, zu behaupten, dass mein
Vorschlag innerhalb der Europäischen Union umgesetzt
werden kann. Die USA geben Subventionen in Höhe
von 3,7 Milliarden US-Dollar und die EU gibt 0,7 Milliarden US-Dollar Subventionen. Diese Subventionen
fließen in zwei EU-Mitgliedsländer: Griechenland und
Spanien. Im Herbst wird die Baumwollmarktordnung
ohnehin beraten.
Jetzt liegen die Regelungen der Entkopplung von der
Produktsubventionierung vor. Es muss aus meiner Sicht
möglich sein, dass die Europäische Union einen
Schlussstrich in Bezug auf die Subventionierung des
Produktes zieht und die ländliche Entwicklung in den
jeweiligen Staaten - das hat sie sich ja auch vorgenommen - entsprechend fördert. Wenn das geschieht, dann
wäre der Druck auf die USA sehr viel stärker, dass auch
sie in diesem Bereich Konsequenzen ziehen. Das ist ein
ganz konkreter Vorschlag. Ich hoffe, Sie unterstützen
ihn.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Weiß, als Sie hier von der Amputation der linken und der
rechten Hand sprachen, ist mir durch den Kopf gegangen: Entwicklungspolitik hat viel mit Kopfarbeit zu tun.
Ich finde, dass die Köpfe des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hervorragend eingesetzt worden sind und dass wir gerade in den
letzten Jahren wesentliche Beiträge zu einer Strukturveränderung erlebt haben, die zu mehr Effektivität in der
Zusammenarbeit - ob im bilateralen oder im multilateralen Bereich - geführt haben.
Ich möchte mich jetzt dem Thema zuwenden, das der
Kanzler heute Morgen in die Diskussion eingebracht hat:
Sicherheitspolitik. Damit ist mehr als der militärische
Aspekt gemeint. Wenn man die Sicherheitspolitik betrachtet, dann ist festzuhalten, dass Entwicklungspolitik
dafür eines der wichtigsten Instrumente ist. Das beginnt
schon im Bereich der Prävention, in dem unsere Möglichkeiten weit über das Militärische hinausgehen. Wenn
darüber gesprochen wird, dass dem Terror der Nährboden entzogen werden muss - das ist seit zwei Jahren immer wieder der Fall -, dann können wir selbstbewusst
sagen, dass das unser Tagesgeschäft ist. Genau darum
geht es bei der Armutsbekämpfung, bei der Förderung
des Zugangs zur Bildung, beim Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen, bei der Stärkung der Menschenrechte
und der Zivilgesellschaft, bei der menschlichen Gestaltung der Globalisierung.
Wenn man sich vorstellt, dass der amerikanische Präsident für den Militäreinsatz vom Kongress zusätzlich
87 Milliarden Dollar erwartet, dann kann man eben wegen jener Erkenntnis schon daran verzweifeln, nur
3,8 Milliarden Euro für entwicklungspolitische Maßnahmen zur Verfügung zu haben. Das ist bitter. Wenn man
sich vor Augen hält, wie brüchig die Sicherheit im Irak
noch ist, dann erkennt man, dass dort inhaltlich mehr bewegt werden muss.
Ich will die Gelegenheit hier nutzen, einmal darzustellen, wie aus entwicklungspolitischer Sicht ein erweiterter Sicherheitsbegriff aussehen soll. Ich will dafür
ein Stufenmodell verwenden.
Die erste Stufe: kein Krieg, kein Mord und keine willkürliche Gewalt mehr. Das wird ohne militärische Hilfe
überhaupt nicht machbar sein; aber selbst davon ist der
Irak noch ein ganzes Stück entfernt.
({0})
Die zweite Stufe: Versorgung mit Wasser, mit Nahrungsmitteln und mit Medikamenten. Erste Ansätze von
Polizei, Verwaltung und Infrastruktur sind nötig. Das
schließt ein: funktionsfähige Schulen, Krankenhäuser,
Straßen und Stromversorgung. Wir versuchen, das alles
mit vereinten Kräften in Afghanistan aufzubauen. Die
GTZ hat von der Weltbank den Auftrag erhalten, das wesentlich mit zu gestalten. Das ist genau der Dialog, der
zwischen multilateraler und bilateraler Arbeit entstehen
soll. Dass eine funktionstüchtige effektive Durchführungsorganisation diesen Auftrag bekommen hat, zeigt
im Grunde, dass die rein fiskalische Diskussion, wie wir
sie hier geführt haben, nicht ausreichend ist.
({1})
Die dritte Stufe: Bildung und Ausbildung müssen
wieder zum Tagesablauf gehören. Wir müssen Handel,
Landwirtschaft und Steuersystem funktionsfähig machen. Politische Strukturen mit Parteien, Wahlen und
Medien sollten existieren. Der Justiz- und Verwaltungsapparat muss arbeiten können. Für den Aufbau des Justizapparats in Afghanistan ist Italien zuständig. Man sollte
einfordern - auch öffentlich -, dass die Mittel, die dafür
notwendig sind, zur Verfügung gestellt werden. Auch
das ist eine Leistung, die erbracht werden muss.
Schließlich halte ich hierbei für wichtig, dass der
Austausch mit den Nachbarstaaten und die regionale Zusammenarbeit funktionieren und als normal angesehen
werden. Wir sind in diesem Bereich in Südosteuropa international sehr weit gekommen. Das macht deutlich,
wie notwendig der multilaterale Ansatz ist. Niemand
kann sich vorstellen, dass selbst ein Land wie Deutschland mit einer so engagierten Entwicklungspolitik - das
gilt sowohl für das Parlament als auch für die
Regierung - in der Lage wäre, diese Aufgabe allein zu
schultern. Bei der Bedeutung, die das hat, wird es immer
darauf ankommen, eine vernünftige multilaterale Zusammenarbeit zu begründen.
Als vierte und letzte Stufe der Sicherheit definiere ich
das, was wir an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben. Das ist eigentlich die höchste Stufe, die man bei der
Sicherheit erreichen kann. Ich habe noch nicht erlebt,
dass von Demokratien Krieg, Zerwürfnisse und Zwietracht ausgegangen sind.
({2})
- Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wenn man sich
diese Maßstäbe vor Augen führt, dann sieht man, welcher Weg im Irak, aber auch in Afghanistan noch zurückzulegen ist.
Wenn man sich mit Menschen unterhält, die in Afghanistan Aufbauarbeit geleistet haben - wir haben das
im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung getan -, dann erfährt man, welche Vorstellungen die Leute von Sicherheit haben. Man wird sehr
schnell begreifen, dass es diesen Menschen darum geht,
vor Ort ein Sicherheitsgefühl zu haben. Selbst die Diskussion um beleuchtete Straßen lässt sich auf das Sicherheitsempfinden dieser Menschen zurückführen.
Dazu gehört, dass Schüler und insbesondere Schülerinnen ohne Angst Schulen besuchen können, dass Teilhabe am öffentlichen Leben möglich ist, dass man
keine Angst mehr vor Bomben oder Attentaten haben
muss. Dazu braucht es Polizeikräfte. Gerade in der
Ausbildung dieser Kräfte zum Beispiel sind wir auf einem guten Weg.
Die Menschen wollen Getreide anbauen und Rohstoffe nutzen. Wenn das möglich wird, dann stellt der
Anbau von Drogen nicht mehr die einzige Alternative
dar, dann gibt es vernünftige Perspektiven.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Es kommt
darauf an, dass wir Perspektiven für ein Leben ohne
Angst eröffnen. Wir sehen daher einen wesentlichen
Maßstab für Sicherheitspolitik darin, wie Menschen geholfen werden kann, ihr Haus, ihre Firma und ihre Fabrik zu erhalten sowie ihre Schule zu ertüchtigen. Eine
solche Sicherheitspolitik wiederum kann nur umfassend
geleistet werden.
Ich appelliere auch an uns, Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Ressort- und Ausschussegoismus zu überwinden, die Notwendigkeit zu übergreifender Arbeit in diesem Bereich zu erkennen und mehr
kohärente Antworten einzubringen.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege, der Appell ist beim Präsidenten angekommen. Wie das beim Auditorium aussieht, kann ich
nur schwer feststellen.
Ich möchte zwischendurch noch gerne einen Hinweis
geben: Mich beeindruckt immer weniger, wenn Redner
mit großer Geste ihr Manuskript zusammenpacken. Inzwischen habe ich nämlich immer häufiger die Erfahrung
gemacht, dass dies die zweite Hälfte der vorbereiteten
Rede ankündigt. Bei aller Neigung zur Großzügigkeit
muss ich darauf hinweisen, dass die jeweiligen Präsidenten darauf achten müssen, dass die von den Fraktionen
festgelegten Redezeiten wenigstens annäherungsweise
eingehalten werden.
Nach diesem fröhlichen Hinweis erteile ich nun als
letztem Redner in dieser Debatte dem Kollegen Dr. Ralf
Brauksiepe für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Auch der Entwicklungshilfehaushalt ist symptomatisch
für den Gesamthaushalt. Wie die Bundesregierung haushaltspolitisch insgesamt vor die Wand gefahren ist, so
leisten die rot-grünen Entwicklungspolitiker auch mit
diesem Haushalt ihren entwicklungspolitischen Offenbarungseid.
({0})
Weil Sie ja wissen, dass das so ist, reden Sie so wenig
über den Haushalt. Wenn Sie überhaupt über den Haushalt reden, reden Sie deutlich anders darüber, als es noch
vor Jahren der Fall gewesen ist. Das wollte ich schon
noch einmal in Erinnerung rufen.
Ich beziehe mich dabei jetzt gar nicht auf das 0,7-Prozent- oder das 0,33-Prozent-Ziel. Wenn Sie sagen würden, Sie wollten diese Ziele erreichen, wäre das genauso
unglaubwürdig, als wenn Sie heute beteuerten, Sie hielten die Maastricht-Kriterium ein. Darum geht es ja eigentlich.
({1})
Sie haben uns hier heute aber auch interessante Erkenntnisse präsentiert. So sagten Sie, dass es eigentlich gar
nicht so sehr darauf ankomme, wie hoch der BMZ-Etat
sei. Es wurde gesagt, da gebe es noch anderes, was in die
ODA-Quote einginge. Sie, Herr Kollege Ströbele, haben
sogar gesagt, das Ganze sei eigentlich gar nicht so wichtig.
({2})
Mit dieser Begründung könnten Sie am Ende auch eine
Entwicklungspolitik ohne Geld propagieren. Das wäre
im Grunde genommen die logische Konsequenz daraus.
({3})
Wenn Sie es uns nicht abnehmen, dass es wichtig ist,
auch in diesem Bereich finanziell mehr zu tun,
({4})
sollten Sie sich doch wenigstens einmal an den von Ihnen selbst im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Ansprüchen messen. Allein dann, wenn Sie dem Koalitionsvertrag treu bleiben wollten, müssten Sie schon
deutlich höhere Anstrengungen in diesem Bereich unternehmen.
({5})
Jetzt will ich, da der Haushalt inhaltlich ja keine
neuen Akzente setzt, über die man hier streiten könnte,
noch einmal auf die Frage von bilateraler und multilateraler Entwicklungszusammenarbeit zu sprechen kommen, die auch die Kollegin Kortmann angesprochen hat.
Es steht überhaupt nicht infrage, dass Multilateralismus
notwendig ist und die schon erwähnten Exportsubventionsprobleme multilateral gelöst werden müssen. Wir
sind in dieser Frage überhaupt nicht auseinander. Nur,
wir legen darüber hinaus Wert darauf, dass die Konsequenz nicht sein kann, den Entwicklungsländern zu
empfehlen, die Zollmauern zu erhöhen. Vielmehr müssen wir überall auf der Welt entschlossen für den Abbau
von Subventionen und Zollschranken eintreten.
Aber dabei geht es um etwas völlig anderes als um die
Frage, wo wir in unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit im bilateralen und im multilateralen Bereich die Schwerpunkte setzen. Wenn Sie selber von Ihrem entwicklungspolitischen Konzept überzeugt wären,
müssten Sie auch ein Interesse daran haben, dass Ihr eigenes entwicklungspolitisches Profil deutlich wird.
Das ist nun einmal bei multilateraler Entwicklungszusammenarbeit sehr viel schwieriger zu entwickeln als bei
der bilateralen. Von daher ist es schon bemerkenswert,
dass Sie nun mehr Geld für die Weltbank vorsehen, die
von Ihnen ja so häufig als Ausführungsorgan von USPolitik kritisiert wurde. Ich bin nicht sicher, ob das wirklich unser entwicklungspolitisches Profil schärft.
Sie wissen auch, dass der Etataufwuchs für den europäischen Entwicklungsfonds nicht notwendig ist, um dafür zu sorgen, dass die zur Verfügung gestellten Mittel
auch entwicklungspolitisch effizient abfließen können.
Durch eine Erhöhung dieses Ansatzes können wir unser
eigenes entwicklungspolitisches Profil nicht stärken,
wenngleich ich mit Interesse gehört habe, dass wir inhaltlich offenbar etwa den gleichen Reformbedarf sehen.
Insofern freue ich mich schon auf Ihre volle Unterstützung unseres Antrages, den wir zu diesem Thema noch
zu beraten haben.
({6})
Ich will aber doch noch einmal darauf hinweisen, dass
es aus unserer Sicht bei der bilateralen finanziellen und
technischen Entwicklungszusammenarbeit sehr bedenkliche Fehlentwicklungen gibt. Diesen Hinweis kann man
Ihnen nicht ersparen, auch wenn Sie selber nur ungern
über diese Fragen reden. Es gibt manchmal sehr bemerkenswerte Differenzen zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der Realität. In der öffentlichen Wahrnehmung - dazu muss man Ihnen neidlos gratulieren herrscht gelegentlich immer noch der Eindruck vor, Sie
täten etwas für Umwelt- und Ressourcenschutz sowie für
Bildung. Die wenigsten Menschen in diesem Land ahnen, dass Sie genau in diesen Bereichen die bilaterale
Entwicklungszusammenarbeit am stärksten zurückgefahren haben.
({7})
- Die finanzielle Unterlegung dieser Bildungspolitik ist
durch Zwischenrufe des Kollegen Tauss nicht zu ersetzen.
({8})
Sie haben eine Rückführung des Ansatzes im Bereich
Bildung von 146 Millionen im Jahr 1998 auf jetzt
82 Millionen und im Bereich Umwelt- und Ressourcenschutz von 420 Millionen auf 284 Millionen zu verantworten. Das ist das traurige, das erbärmliche Ergebnis
Ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, das wir
hier noch einmal feststellen müssen.
({9})
Wir stimmen sicherlich grundsätzlich auch darin überein, dass man dies durch Medienpräsenz allein nicht ausgleichen kann. Wir brauchen mehr als nur eine Politik
des internationalen Katastrophenhoppings.
Wir müssten auch gemeinsam ein Interesse daran haben, dass die Entwicklungspolitik der Verteidigungspolitik nicht nur hinterherläuft. Wir warten noch auf eine
plausible politische Begründung für den vom Bundesverteidigungsminister geplanten Einsatz in Kunduz.
Hier sind noch jede Menge Fragen offen, die auch das
BMZ beantworten muss. Der Hinweis darauf, dass die
Region militärisch angeblich relativ sicher ist, kann uns
Entwicklungspolitikern als Begründung nicht ausreichen.
Alles in allem genommen halten wir in der Tat eine
Erhöhung des BMZ-Etats politisch für dringend geboten, wobei wir keinen Hehl daraus machen, dass wir uns
nicht so ganz sicher sind, ob Sie höhere Mittel für die
Entwicklungszusammenarbeit am Ende wirklich sinnvoll bewirtschaften würden.
({10})
Unsere Konzepte dazu und unsere entwicklungspolitischen Richtlinien liegen auf dem Tisch. Wir fordern Sie
auf, dazu nicht einfach nur platt Nein zu sagen, sondern
sich damit nun endlich einmal ernsthaft auseinander zu
setzen,
({11})
zum Wohle und im Interesse der Menschen, für die wir
hier gemeinsam arbeiten sollten.
Vielen Dank.
({12})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der letzte
Redner hat mit dem Zusammenfalten seines Manuskripts
zeitgleich seine Rede beendet. Dafür danke ich ihm
herzlich.
Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Donnerstag, den
11. September, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.