Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie sehr herzlich zur Wiederaufnahme
der Parlamentsarbeit nach der Sommerpause. Auf uns
warten intensive Arbeit und sicherlich heftige Diskussionen. Ich wünsche mir für uns, dass trotz aller Kontroversen Ergebnisse erzielt werden, die die gesellschaftliche
Situation in Deutschland verbessern.
({0})
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere
ich zunächst dem Kollegen Dr. Wolfgang Bötsch im
Namen des Hauses herzlich zu seinem gestrigen
65. Geburtstag.
({1})
Ebenso herzlich gratuliere ich der Kollegin Erika
Lotz und dem Kollegen Peter Dreßen zu ihrem heutigen 60. Geburtstag.
({2})
Die besten Wünsche nachträglich gehen auch an die
Kolleginnen Erika Steinbach und Dr. Herta DäublerGmelin, die während der Sommerpause ebenfalls ihren
60. Geburtstag feiern konnten.
({3})
Wir kommen nun zur heutigen Tagesordnung. Nach
einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Beratung
des Einzelplans 15 - Gesundheit und Soziale
Sicherung - heute erfolgen. Der Einzelplan 10 - Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft - soll
bereits heute als letzter Tagesordnungspunkt, der Einzelplan 07 - Justiz - in Verbindung mit Einzelplan 19 - Bundesverfassungsgericht - soll erst am Donnerstag als letzter Tagesordnungspunkt beraten werden.
Die Tagesordnung soll außerdem um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:
1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Soforthilfegesetzes für die Gemeinden ({4})
- Drucksache 15/1470 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({6})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Baumann, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU: Unterstützung für ehemalige politische Häftlinge umgehend sicherstellen
- Drucksache 15/1524 - ({7})
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({9})
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom
5. November 2002 zum Abkommen vom
11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Belgien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerungen und
zur Regelung verschiedener anderer Fragen
auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern
- Drucksache 15/1188 ({10})
Redetext
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11})
- Drucksache 15/1401 Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Leo Dautzenberg
4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ({12})
- Drucksache 15/1525 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({13})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
5 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/1514 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L.
Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Zukunft gestalten statt Krankheit verwalten
- Drucksache 15/1526 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({15})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Interfraktionell ist darüber hinaus Folgendes vereinbart worden: Die Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zur Verordnungsfähigkeit
von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung
- Drucksachen 15/800 und 15/1071 - sowie die dazu vorliegende Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung auf Drucksache 15/1203
sollen an den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung zurücküberwiesen werden. In gleicher Weise
soll mit dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/
CSU und FDP zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen
Rentenversicherung - Drucksache 15/542 - und einem
Antrag der CDU/CSU-Fraktion zum Beitragssatzsicherungsgesetz auf Drucksache 15/652 ({16}) sowie der
dazu vorliegenden Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung - Drucksache 15/1202 - verfahren werden. Erneute Mitberatungen anderer Ausschüsse sind nicht vorgesehen.
Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Die in der 48. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich
dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
zur Mitberatung überwiesen werden.
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2003
bis 2006
- Drucksache 15/861 überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Förderung der Steuerehrlichkeit
- Drucksache 15/1309 überwiesen:
Finanzausschuss ({18})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
und Landwirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer
Verbrauchsteuergesetze
- Drucksache 15/1313 überwiesen:
Finanzausschuss ({19})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich
dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Hans Büttner ({20}), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian
Ströbele, Volker Beck ({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung der Armut und der Hungerkrise im
südlichen Afrika
- Drucksache 15/1307 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({22})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker,
Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck
({23}), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Welternährungssituation
und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung
- Drucksache 15/1316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({24})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich sehe, es gibt eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Frau Dr. Lötzsch, bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hiermit beantrage ich im Namen meiner Kollegin
Petra Pau und im eigenen Namen, die Zusatzpunkte 4
und 6 nicht auf die Tagesordnung zu setzen.
Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung - Drucksache 15/1525 - ist gestern um 20.50 Uhr in mein Fach gelegt worden. Dieses
Gesetz soll nun heute beraten werden. Es umfasst, wie
Sie alle wissen, 472 Seiten. Ich gebe ehrlich zu: Ich habe
es nicht geschafft, heute Nacht das Gesetz zu lesen und
außerdem noch Expertinnen und Experten zu konsultieren.
Nun werden Sie sagen: Das ist doch die erste Lesung. - Aber Ihr Fahrplan ist bekanntermaßen sehr eng.
Am 26. September soll das Gesetz bereits durch den
Bundesrat gebracht werden. Ich denke, Sie werden mir
zustimmen: Eine ordentliche Diskussion ist so nicht
möglich.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich würde
gern einmal eine Blitzumfrage bei Ihnen machen, wer
den Gesetzestext wirklich vollständig gelesen und ihn
vielleicht auch mit vorhergehenden Entwürfen verglichen hat. Ich glaube, es wäre eine solide Minderheit.
({0})
Wir beantragen, die Zusatzpunkte 4 und 6 nicht auf
die Tagesordnung zu setzen, weil wir darin eine Entmachtung des gewählten Parlaments sehen. Es darf nicht
sein, dass Experten und Kungelrunden der Parteiführungen das Parlament ersetzen. Wenn Sie in Ihre Wahlkreise
kommen, können Sie nicht Herrn Rürup oder den Fraktionsvorsitzenden mitnehmen. Er wird Ihnen nicht die
Arbeit abnehmen, es Ihren Wählerinnen und Wählern zu
erklären. Ich glaube, sie würden diesen Experten, Herrn
Rürup, auch nicht verstehen.
Wir beantragen, die Zusatzpunkte 4 und 6 nicht aufzusetzen, weil es hier nicht um irgendein Gesetz geht,
sondern um den radikalen Umbau des Gesundheitssystems. Grundpfeiler dieses Systems werden mit diesem
Gesetz infrage gestellt. Ich nenne nur ein einziges Beispiel: die paritätische Finanzierung des Gesundheitssystems durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen: Nehmen Sie sich selbst ernst
und setzen Sie das Gesetz nicht auf die heutige Tagesordnung!
Vielen Dank.
({1})
Zur Gegenrede Kollege Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Kollegin
Lötzsch geht ins Leere.
Erstens hat sie wie alle anderen Mitglieder des Hauses die Unterlagen in der vorigen Woche zugestellt bekommen. Das ist übrigens nachweisbar. Auch das ist
zwar relativ kurzfristig, aber ein ganz anderer Zeithorizont als der, den Sie gerade geschildert haben. Woran es
liegt, dass Sie diesen Gesetzentwurf erst gestern Abend
Wilhelm Schmidt ({0})
persönlich in die Hand bekommen haben, müssen Sie
bei sich und Ihren Informationsströmen untersuchen.
({1})
Zweitens mache ich im Namen aller Fraktionen des
Hauses darauf aufmerksam, dass wir uns diesem
Komplex der Gesundheitsreform nicht erst seit den vergangenen Tagen und Wochen widmen. Vielmehr haben
wir uns schon vor der Sommerpause nach Einbringung
des Gesetzentwurfs der Koalition mit diesem Thema
auseinander gesetzt. Ganz frisch ist die Materie also jedenfalls nicht.
Drittens haben wir gerade auch vor dem Hintergrund der Notwendigkeit sehr intensiver Beratungen
den Termin für die zweite und die dritte Beratung vom
23. auf den 26. September verlegt. Dadurch eröffnen
wir uns zusätzliche Möglichkeiten, uns in den zuständigen Ausschüssen mit dem Gesetzentwurf auseinander
zu setzen.
Schließlich will ich auch darauf hinweisen, dass wir
alle - jedenfalls die Koalition; ich denke, alle hier in
Deutschland - darüber hinaus der Auffassung sind: Wir
brauchen Reformen, gerade auch auf diesem Sektor. Das
kann und darf nicht durch Verfahrenstricks und durch
solche Verfahrensweisen aufgehalten werden.
Deswegen bitte ich darum, die Tagesordnung in der
von allen Fraktionen vereinbarten Form zu beschließen.
({2})
Ich lasse jetzt über den Antrag auf Aufsetzung der
Zusatzpunkte 4 und 6 auf die Tagesordnung abstimmen.
Wer ist für die Aufsetzung der Zusatzpunkte? - Wer
ist dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Aufset-
zung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2004 ({0})
- Drucksache 15/1500 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007
- Drucksache 15/1501 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2004 ({1})
- Drucksache 15/1502 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 1 d bis
1 j sowie Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
der Gewerbesteuer
- Drucksache 15/1517 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum
Steuervergünstigungsabbaugesetz
- Drucksache 15/1518 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto
Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Regierung muss Haushaltssicherungsgesetz
vorlegen
- Drucksache 15/997 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Friedrich Merz, Volker Kauder,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Nachtragshaushalt umgehend vorlegen
- Drucksache 15/1218 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({6})
- zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2001 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des
Bundes ({7}) - zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
2002 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung ({8})
- Drucksachen 14/8729, 15/345 Nr. 43, 15/60,
15/973 Nr. 1, 15/1262 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gerhard Rübenkönig
i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({9})
zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2001
- Einzelplan 20 - Drucksachen 15/1047, 15/1258 Berichterstattung:
Abgeordnete Anja Hajduk
Iris Hoffmann ({10})
Bernhard Kaster
j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({11})
zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2002
- Einzelplan 20 - Drucksachen 15/1048, 15/1259 Berichterstattung:
Abgeordnete Anja Hajduk
Iris Hoffmann ({12})
Bernhard Kaster
ZP 1 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Soforthilfegesetzes für die Gemeinden ({13})
- Drucksache 15/1470 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die heutige Aussprache im Anschluss an die Einbringung des Haushalts neun Stunden, für Mittwoch achteinhalb Stunden, für Donnerstag acht Stunden und für
Freitag eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
({15})
Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
({16})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
({0})
Dies ist der fünfte Haushalt, den ich als Bundesfinanzminister einbringe.
({1})
Zweifelsfrei ist es der Haushalt mit den bisher größten
Risiken. Das größte Risiko besteht allerdings darin, dass
insbesondere Sie von der Union in dieser kritischen Situation unseres Landes überhaupt nicht wissen, was Sie
im Bundesrat, in dem Sie eine entscheidende Verantwortung tragen, selbst wollen. Darauf werde ich im Zuge der
Haushaltseinbringung im Einzelnen noch zurückkommen.
({2})
Ich habe gesagt, dass es in der Tat der Haushalt mit
den größten Risiken ist. Im Jahre 1999 sind wir mit einer
Haushaltskonsolidierung gestartet, durch die wir, bezogen auf den Bund, in den Jahren 1999, 2000 und 2001
Erfolge erzielt haben. Im Jahre 2000 hatten wir die mit
großem Abstand geringste Neuverschuldung seit der
Wiedervereinigung. Sie betrug 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das war weniger als die Hälfte von dem,
was Sie drei Jahre vorher noch abgeliefert hatten.
Wahr ist aber, dass durch die dreijährige wirtschaftliche Stagnation das meiste von dem, was wir erreicht hatten, wieder infrage gestellt wurde. Die entscheidende
Frage ist, wie wir da wieder herauskommen. Das ist Gegenstand unseres Konzepts.
({3})
Im vorigen Jahr, also im zweiten Jahr der wirtschaftlichen Stagnation, belief sich das Defizit des öffentlichen
Gesamthaushalts nach der Maastricht-Abgrenzung auf
74 Milliarden Euro. In diesem Jahr wird es möglicherweise noch etwas mehr sein. Wenn wir nicht eingreifen,
wird dies im nächsten Jahr in gleicher Weise der Fall sein.
({4})
Diese Situation des Bundes, der Länder, der Gemeinden
und der sozialen Sicherungssysteme kann nicht hingenommen werden.
Dabei ist eines klar: Wer sich die Haushaltspolitik genau ansieht, stellt fest, dass alle Konsolidierungsmaßnahmen, die wir 1999 eingeleitet haben, auch in den
Haushalten voll gegriffen haben.
({5})
Als Folge der Stagnation der letzten drei Jahre haben
sich zwei Dinge verändert: Die Steuereinnahmen sind
weggebrochen und die Ausgaben für den Arbeitsmarkt
sind wesentlich höher.
Das macht sich überall bemerkbar. Für den Bundeshaushalt gilt dies in besonderer Weise, weil er sowohl
von der Einnahmeseite - den wegbrechenden Steuereinnahmen - als auch von der Ausgabenseite her - ich
nenne die Ausgaben für den Arbeitsmarkt - betroffen ist.
Die Länder werden an dieser Stelle übrigens nicht in
gleicher Weise belastet. Bei den Kommunen ist das
schon eher der Fall, weil die Kosten der Sozialhilfe voll
auf sie durchschlagen. Bei den sozialen Sicherungssystemen macht sich das durch Defizite - zum Beispiel bei
den gesetzlichen Krankenkassen - bemerkbar; heute
wird ja noch über die Reformen im Gesundheitswesen
beraten. Das sind die Folgen von drei Jahren Stagnation.
({6})
Übrigens gibt es diese Stagnation nicht nur in
Deutschland, sondern überall in Europa. Wer jetzt nach
den Ursachen fragt, der kommt zu einem ganz einfachen
Ergebnis.
({7})
Sehen wir uns den Unterschied zwischen dem Jahr 2000
und dem Jahr 2001 an. Im Jahr 2000, in dem wir die mit
großem Abstand niedrigste Neuverschuldung seit der
Wiedervereinigung und ein Wirtschaftswachstum von
2,9 Prozent hatten, verzeichneten die Vereinigten Staaten
als Lokomotive der Weltwirtschaft ein Wirtschaftswachstum von 3,8 Prozent. In 2001 hatten sie nur noch
eines von 0,3 Prozent. Das war ein richtiges Entgleisen
der Lokomotive der Weltwirtschaft. Wie eng der Zusammenhang zwischen den Vereinigten Staaten, der Weltwirtschaft und uns ist, hat der Sachverständigenrat in
seinem entsprechenden Gutachten deutlich gemacht.
Das bedeutet auch bei uns einen Absturz von 2,9 Prozent
- das hatten wir ursprünglich berechnet - auf 0,6 Prozent
bzw. 0,8 Prozent, wie wir heute wissen.
({8})
Die enge Verflechtung unseres Landes mit der Weltwirtschaft und seine große Stärke im Welthandel wird
auch in Zukunft Bestand haben. Diese Stärke hat sich
auch in diesen schwierigen Zeiten bewährt; aber sie bedeutet zugleich, dass wir das Auf und Ab der Weltwirtschaft mehr zu spüren bekommen als viele andere.
({9})
Deutschland hat auch eigene Wachstumsschwächen.
({10})
- Seien Sie ganz vorsichtig! Wir haben nämlich die EUKommission gebeten, diese Wachstumsschwächen im
Zusammenhang mit der Wiedervereinigung zu untersuchen. Übrigens will ich mit diesem Thema keinen Streit
auslösen. Aber Sie werden schon merken, dass jeder sein
Päckchen selber tragen muss.
Was ist das Ergebnis dieser Untersuchung? Etwa zwei
Drittel der deutschen Wachstumsschwäche, also der
größte Teil, sind Folgen der Wiedervereinigungspolitik.
Ich meine das gar nicht negativ; denn eines ist klar: Das,
was wir politisch machen mussten, muss kein anderes
Land in Mittel- und Osteuropa ökonomisch leisten. Alle
anderen Volkswirtschaften können sich der Europäischen Union erst dann anschließen, wenn sie eine funktionierende Marktwirtschaft und wettbewerbsfähige Betriebe haben. Beides war in der ehemaligen DDR nicht
vorhanden. Trotzdem haben wir uns sozusagen über
Nacht wiedervereinigt und die ostdeutsche Wirtschaft
der Weltwirtschaft ausgesetzt.
Die Folgen, die politisch zwingend waren, aber ökonomisch einen Prozess der Massenarbeitslosigkeit und
der Deindustrialisierung der alten DDR mit sich brachten, zu bewältigen dauert eine ganze Generation. Dies
hätte besser am Anfang gesagt werden sollen, damit klar
geworden wäre, wo die Probleme liegen.
({11})
Ich will das im Einzelnen gar nicht weiter ausführen.
Aber eines muss deutlich gemacht werden: Dies ist ein
besonderes Paket, das wir zu tragen haben und das wir
auch gerne tragen. Man darf jedoch nicht, wie es damals
passiert ist, den Menschen vormachen, dass die Wiedervereinigung aus der Portokasse bezahlt werden könne.
Man muss ehrlich sagen: Dies bedeutet, eine ganze Generation von Deutschen muss mehr als alle anderen arbeiten, um die Folgen der Wiedervereinigung wirklich
meistern und die Vereinigung vollziehen zu können. Das
ist so.
({12})
Jedes Jahr wird in der Größenordnung von 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Transfer in die
neuen Bundesländer verwendet. Davon wird ein erheblicher Teil in die sozialen Sicherungssysteme gesteckt.
Dieser Anteil wird nämlich als Ausgleich zwischen Ost
und West in Deutschland benötigt, weil es andernfalls zu
einem Auseinanderbrechen käme. Sie sollten sich daran
erinnern, dass Ihr Kanzlerkandidat genau diesen solidarischen Zusammenhang zwischen Ost und West infrage
gestellt hat. Eine Konsequenz davon war, dass man ihm
in Ostdeutschland nicht vertraut hat. Diese Solidarität
mit Ostdeutschland müssen wir aufbringen und auch
ökonomisch abarbeiten.
({13})
Es gibt auch hausgemachte Probleme, auf die ich
gleich zu sprechen komme. In einer solchen Lage - warum sollte man darum herumreden? - muss alles auf den
Tisch;
({14})
denn nur das, was klar angesprochen wird, kann auch gelöst werden. Allerdings muss klar sein: Unser Land steht
nicht am Abgrund. Es ist, gemessen am Weltmaßstab,
ein außerordentlich starkes Land, wie unsere Position im
Welthandel jedes Jahr erneut beweist.
({15})
Ich verweise auf die Internationale Funkausstellung, die gerade zu Ende gegangen ist, oder die Internationale Automobilausstellung, die vor uns liegt.
({16})
Lesen Sie auch, was die Chefs der großen Unternehmen,
die in Deutschland investieren, über den Standort
Deutschland sagen, zum Beispiel Jürgen Schrempp. Man
muss zwar mit ihm nicht immer einer Meinung sein;
aber er weiß, wovon er redet, wenn er Standorte in der
Welt vergleicht. Wenn er den Standort Deutschland für
sehr gut hält und in Deutschland investiert, dann heißt
das: Wir haben eine Chance, unsere Probleme zu lösen.
Wir befinden uns nicht in einer Position der Schwäche,
sondern in einer Position der Stärke, aus der heraus wir
unsere Problem anpacken können.
({17})
Wir stehen vor großen Herausforderungen. Die erste
Herausforderung - ich habe sie erwähnt - ist die Gestaltung der deutschen Einheit. Wo gibt es das denn, dass ein
Solidarpakt II, wie wir ihn ausgehandelt haben, mit
einer Laufzeit von 15 Jahren und fünf Jahre im Voraus
abgeschlossen wird? Das ist eine Zusage an unsere „ostdeutschen Brüder und Schwestern“, wie wir früher
gesagt haben, an unsere Landsleute, dass sie sich darauf
verlassen können: Die innere Einheit Deutschlands wird
hergestellt! Aber das muss erarbeitet werden.
({18})
Wir haben eine besondere Chance und Herausforderung
durch die europäische Einigung, insbesondere durch die
Osterweiterung der Europäischen Union. Ich will darauf hinweisen, dass die Wachstumsraten in den mittelosteuropäischen Reformstaaten relativ hoch sind und unser Handel mit ihnen bereits unseren Handel mit den
Vereinigten Staaten überschreitet. Daran sieht man, welche Chancen in diesem Bereich liegen.
Als Finanzminister sage ich aber auch, ohne gegenwärtig über Zahlen zu reden: Von 2007 bis 2013, bei der
nächsten finanziellen Vorausschau, wird es ein knüppelhartes Geschäft werden, zu erreichen, dass der deutsche
Staatshaushalt dann die Kosten der Erweiterung tragen
kann, die auf uns zukommen. Ich sage einmal an den
spanischen Ministerpräsidenten gewandt: So wie er können auch wir verhandeln.
({19})
Der entscheidende Punkt, die Konsequenz langer
Fehlentwicklungen, ist der demographische Wandel.
Jetzt muss ich einmal einige Zahlen nennen. Schauen Sie
sich den Bundeshaushalt von 1961 an. Damals mussten
wir gerade einmal 16 Prozent des Bundeshaushalts als
Zuschuss an die Rentenversicherung zahlen.
({20})
Das war zu einem Zeitpunkt, als auf 100 Menschen im
erwerbsfähigen Alter, das heißt zwischen 20 und 60 Jahren, 33 kamen, die im Rentenalter waren. Heute ist der
Bundeszuschuss an die Rentenversicherung bereits bei
einem Drittel des Bundeshaushalts angelangt. Gleichzeitig aber ist die Zahl der Rentner, bezogen auf 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter, auf 44 gestiegen. Lassen
Sie mich eine Generation oder noch etwas weiter denken, nämlich bis zum Jahr 2050.
({21})
Dann lautet das Verhältnis nicht mehr 44 zu 100, sondern mindestens 80 zu 100. Daran wird die Dramatik der
Alterung unserer Gesellschaft sichtbar. Auch das wird in
diesem Herbst noch Gegenstand unserer Debatte und
von Vorschlägen der Bundesregierung sein.
Es ist schön, dass wir immer älter werden, und wir
wollen das genießen. Dass wir aber so wenig Kinder haben und weltweit auf einem der letzten Plätze stehen, ist
ein Drama für die Familien- und Gesellschaftspolitik in
diesem Lande. Das muss nicht so sein; das hätte auch anders sein können.
({22})
Darauf geben wir Antworten, und zwar keine, die kurzfristig wirken. Das weiß wohl jeder.
Ich möchte ein Wort zu den innerdeutschen Verhältnissen sagen. Man kann und muss vieles kritisch über
die DDR sagen, weil sie eine Diktatur war und man
diese nicht akzeptieren konnte. Aber die Ostdeutschen
sind mit einer jungen Bevölkerung in das wiedervereinigte Deutschland gekommen. Die Frauen dort und fast
überall in Europa hatten und haben mehr Chancen, Kinderwunsch und Berufstätigkeit zu verbinden als bei uns
im Westen. Darüber muss nachgedacht und daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Wir tun das.
({23})
Wir brauchen
({24})
Reformen für ein nachhaltiges Wachstum und für Konsolidierung.
({25})
Denn eines ist klar geworden: Es gibt - anders als ich zu
dem Zeitpunkt betont habe, der Konsolidierungskurs
eingeleitet wurde und wir ein Wirtschaftswachstum hatten - keine Haushaltskonsolidierung ohne nachhaltiges
Wachstum. Es gibt allerdings auch kein nachhaltiges
Wachstum ohne konsolidierte Staatsfinanzen. Das eine
wie das andere sind zwei Seiten derselben Medaille.
({26})
- Da müssen Sie ganz vorsichtig sein! Ich habe vorhin
noch ganz freundlich über den Bericht der EU-Kommission geredet.
Deswegen musste der Reformstau aufgehoben werden, der Ihre Politik in den letzten 16 Jahren gekennzeichnet hatte.
({27})
Wir haben damit durch die Einleitung der Haushaltskonsolidierung, die Steuerreform und die Einführung der kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen. Aber ich stehe
nicht an zu sagen: Das war zu wenig. Es war zu wenig,
um unser Land durch diese Fährnisse zu bringen. Wir
müssen das Reformtempo drastisch erhöhen und wir
müssen unser Land auf allen Feldern der Gesellschaft
modernisieren. Das ist das Konzept, das wir Ihnen vorlegen. Das ist anstrengend und das muss in diesem Herbst
verabschiedet werden.
({28})
Was wir Ihnen vorlegen - übrigens liegt bereits ein
Großteil davon zur Beratung im Hause vor; ein weiterer
Teil ist schon im Bundeskabinett verabschiedet worden,
sodass nur noch wenige Punkte im Kabinett verabschiedet werden müssen -, ist ein Dreiklang aus Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung und Wachstumsimpulsen. Dieses Paket enthält Zumutungen für sehr viele, ja
für alle. Denn wenn im öffentlichen Gesamthaushalt ein
Defizit von 70 bis 80 Milliarden Euro besteht, dann kann
dies nicht beseitigt werden, ohne dass es alle merken. Es
kann auch nicht beseitigt werden, ohne dass alle - jedenfalls die bedeutenden Gruppen dieses Landes, sofern sie
politische Verantwortung tragen - zusammenwirken.
Wir leben schließlich im Föderalismus und nicht in
einem Zentralstaat.
({29})
Dabei sind sehr viele Besitzstände nicht nur infrage
zu stellen, sondern abzuschaffen. Das geht gar nicht anders, wenn man die Zukunft gewinnen will. Ich glaube
schon, dass die Menschen dazu bereit sind, aber - das ist
der entscheidende Punkt - unter einer Voraussetzung:
dass sie sehen, dass auch wirklich jeder seiner Leistungsfähigkeit entsprechend seinen Beitrag leistet.
Ich sage mit aller Freundlichkeit - zu der ich auch in
der Lage bin, meine Damen und Herren -,
({30})
aller Zurückhaltung und Vorsicht - wir werden noch
über die Gesundheitsreform diskutieren -: Auch ich als
Finanzminister stehe zu dem, was Sie verabredet haben
und bin froh darüber, dass wenigstens an dieser Stelle
ein Zeichen der Zusammenarbeit gesetzt werden konnte.
Passen Sie aber bei dem, was Sie mitgestalten, auf, dass
Sie die Klientel, von der Sie meinen, dass Sie sie vertreten müssen, genauso gerecht in die Zumutungen mit einbeziehen, wie auch alle anderen einbezogen werden!
({31})
Ich bin Graf Lambsdorff und Herrn Professor Pinkwart
sehr dankbar dafür, dass sie dies auf der FDP-Seite in aller Offenheit ausgesprochen haben. Ich bitte Sie sehr
herzlich, dies auch in der großen Volkspartei CDU/CSU
so zu diskutieren.
Denn wir werden in einer Demokratie den großen Reformprozess, der vor uns liegt und der enorm anstrengend ist, nur dann bewältigen können, wenn ihn die
Menschen akzeptieren und diesen Weg mitgehen. Sie
werden ihn aber nur dann akzeptieren, wenn sie nicht
meinen, einige seien privilegiert und blieben außen vor,
während sie selbst das ganze Päckchen tragen müssten.
Das geht nicht an. Es unterminiert den gesamten Prozess
und damit unsere Zukunftsfähigkeit.
({32})
Zu dem ersten Punkt, den wir zu entscheiden haben,
nämlich zu den Strukturreformen, will ich nur wenig
sagen, weil Ihnen bereits alles vorliegt oder in sehr kurzer Zeit vorliegen wird. Worum geht es? Es geht zum
einen darum, die sozialen Sicherungssysteme - ich habe
Ihnen die Zahlen genannt - an die Herausforderungen
des demographischen Wandels anzupassen. Es ist eine
bittere und harte Entscheidung, die in diesem Zusammenhang fällig ist.
Es geht dabei auch um eine völlige Neubestimmung
des Verhältnisses von Solidarität und Eigenverantwortung. Grundsätzlich muss Solidarität gewahrt bleiben.
Der Kranke muss wissen, dass er das medizinisch Notwendige bekommt, ganz unabhängig davon, wie viel er
verdient. Jeder muss wissen, dass er im Alter nicht in
Armut fällt. Das haben wir geschafft und das muss auch
in Zukunft gelten.
({33})
Aber gleichzeitig gilt vor dem Hintergrund dieser
Herausforderungen auch: Kleinere Risiken - die in der
Vergangenheit von der Allgemeinheit getragen werden
konnten - müssen wir wieder selber tragen.
({34})
Sie, verehrter Herr Kollege Dr. Gerhardt, haben in diesem Zusammenhang einmal von der Vollkaskomentalität
unserer Gesellschaft gesprochen. Daran ist sehr viel
Wahres. Ich bitte nur um eines: Spitzen Sie das nicht auf
einzelne Gruppen der Bevölkerung zu! Es gilt nämlich
für alle. Diese Mentalität gibt es bei Arbeitnehmern wie
bei Unternehmern.
({35})
Deshalb gilt meine Feststellung, dass wir wieder bereit
sein müssen, kleinere Risiken selber zu tragen, wirklich
für alle.
Ich komme damit auf Ihren Zwischenruf zurück, Herr
Kollege Rexrodt. Sie werden nämlich in diesem Herbst
die Gelegenheit haben, bei den Strukturreformen zu beweisen, ob Sie das auch wirklich selber meinen.
({36})
Bei den sozialen Sicherungssystemen geht es darum, die
Lohnnebenkosten zu senken, weil nämlich hohe Lohnnebenkosten ein Einstellungs- und ein Jobhindernis sind.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eine Grundsatzbemerkung machen ({37})
ich könnte im Übrigen fast den Kollegen Waigel zitieren -: Die Versuchung, in einer Reihe von Fällen - zum
Beispiel in den sozialen Sicherungssystemen - die Probleme nicht wirklich zu lösen, sondern nur nach anderen
Finanzquellen, nach Umfinanzierung zu suchen und die
Probleme in den Haushalt zu verschieben, ist nicht gering.
({38})
- Seien Sie da einmal ganz vorsichtig. - Ich will auf diesen Punkt nur ausdrücklich hinweisen. Wenn die Probleme im System gelöst sind, kann man über die Frage
reden, was die günstigste - auch die volkswirtschaftlich
und für den Arbeitsmarkt günstigste - Finanzierung sei.
Die Voraussetzung ist aber, dass alle anderen Probleme
in den Systemen gelöst worden sind. Das darf nicht etwa
eine Ausflucht sein, weil man sich die Einschnitte, die
man wirklich machen muss, nicht zutraut.
({39})
Es geht außerdem um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, um die Chancen für Ältere, um die Beseitigung von Fehlanreizen, um die Chancen für gering
Qualifizierte, wieder eine Arbeit zu bekommen. Das ist
das, was mit Hartz I bis IV vorliegt und zum Teil auch
schon beschlossen worden ist.
Es geht auch - Herr Dr. Rexrodt, das habe ich vorhin
gemeint, als Sie „Richtig!“ gesagt haben - um die Flexibilisierung der Handwerksordnung. Es gilt nicht nur
dann, verkrustete Strukturen aufzubrechen, wenn es um
Arbeitnehmer geht. Es gilt auch dann, wenn es um das
Handwerk und um viele andere Bereiche geht.
({40})
Lassen Sie mich dazu eine Grundsatzbemerkung machen, die sehr viel mit der europäischen Einpassung unserer Politik zu tun hat.
({41})
Herr Kollege Clement hat ein paar Mal deutlich gemacht, dass Betriebe aus den Niederlanden oder demnächst aus Polen, die die Anforderungen, die wir stellen,
nicht stellen, bei uns auftreten und arbeiten können. Die
entscheidende Frage, die wir uns jetzt stellen müssen,
ist, ob dann nicht auch Inländer dieselben Chancen haben sollten wie die Ausländer. Der Meisterbrief soll
nicht abgeschafft werden. Im Gegenteil, ich denke, er
kann an Wert gewinnen, wenn er als Herausforderung
angesehen wird, der sich jeder persönlich stellt, um damit sozusagen seinen Betrieb zu qualifizieren. Das ist es:
nicht staatlich verordnet, sondern als eigene Herausforderung, die man besteht. Da werden sie Chancen haben.
({42})
Es geht in der Agenda 2010 um die Investitionsfähigkeit der Gemeinden. Es geht um die Gemeindefinanzreform. Meine Damen und Herren, wir haben dazu ein
Konzept auf den Tisch gelegt.
({43})
- Vorsicht! Ich komme gleich zu Ihnen, verehrter Herr
Kalb.
Darüber sind wir uns noch nicht in allen Teilen, aber
in den Grundsätzen einig in der Koalition. Ich sage „in
den Grundsätzen einig“, weil wir genau dem folgen, was
die große Mehrheit der Gemeindefinanzreformkommission beschlossen hat, nämlich die Gewerbesteuer zu modernisieren.
({44})
Bei uns ist das klar. Es gibt Streit - das wissen wir alle um die Frage, ob so genannte ertragsunabhängige Elemente einbezogen werden sollen oder nicht, und in welchem Umfang. Sie wissen, der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht das nicht vor. Er sieht aber - darin
sind wir uns einig - eine starke Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer und damit eine
gewaltige Stabilisierung vor. Das ist, glaube ich, noch
nicht richtig bei den kommunalen Spitzenverbänden angekommen. - Das ist die gemeinsame Grundlage. Jetzt
reden wir im Zusammenhang mit der Frage, ob noch etwas hinzugerechnet wird oder nicht, über Einzelheiten.
Ich sage Ihnen: Wenn das Gesetzgebungsverfahren mit
den Anhörungen gelaufen ist, dann wird es dazu auch
eine einvernehmliche Position in der Koalition geben; da
bin ich mir ganz sicher.
({45})
Nun, meine Damen und Herren, komme ich zu Ihnen.
Das ist eine spannende Veranstaltung. In der Kommission sitzen alle Finanzminister oder auch Innenminister
der CDU- bzw. CSU-geführten Landesregierungen. Alle
beschließen - alle! -, es solle zum 1. Januar nächsten
Jahres eine grundlegende Reform geben. Die grundlegende Reform soll aufbauen auf einer modernisierten
Gewerbesteuer. Was passiert dann bei Ihnen? Ich sage an
dieser Stelle zum ersten Mal - und komme darauf zurück -, wo das Risiko liegt, das Sie für den Konsolidierungsprozess in Deutschland darstellen. Da sagt Herr
Merz: Die Gewerbesteuer muss weg; ich will das BDI/
VCI-Modell. Das ist ja eine ehrenwerte Position.
({46})
- Gut, dann nehme ich es zurück. Herr Kollege Merz,
das mag eine Überinterpretation sein. Sie haben aber gesagt, Sie wollten einen Zuschlag auf die Einkommenund die Körperschaftsteuer.
({47})
- Also nur die Gewerbesteuer weg? Herr Merz, das
macht die Sache nicht besser; denn das bedeutet, dass
Sie zwar wissen, was Sie nicht wollen, dass Sie aber
nicht wissen, was Sie wollen.
({48})
Das ist doch das Problem. Das ist das Problem der gesamten Opposition.
Herr Stoiber, der sich in besonderem Maße als derjenige aufspielt, der die Kommunen schützt, bringt es glatt
fertig, dass die bayerischen Kommunen im vergangenen
Jahr weit vor allen anderen ihre Verschuldung erhöht haben. Warum weisen denn 2002 die Kommunen im wirtschaftsstarken Bayern im Vergleich zu allen anderen den
höchsten Zuwachs bei der Neuverschuldung auf? Weil
Bayern - das alles kann man im Einzelnen nachweisen mit seinen Kommunen noch nie gut umgegangen ist.
Aber das ist ein anderes Thema.
({49})
- Das ist so, weil es in Bayern den geringsten kommunalen Finanzausgleich gibt und weil dort Staatsaufgaben
von den Kommunen wahrgenommen werden.
({50})
Was hört man aus Bayern? Obwohl Herr Faltlhauser
in der Kommission für die Modernisierung der Gewerbesteuer und für das In-Kraft-Treten der Reform am
1. Januar 2004 gestimmt hat, fordert der bayerische Ministerpräsident ein Sofortprogramm. Aber die grundsätzliche Lösung wird in die Zukunft verschoben. Das hat in
der Kommission niemand gewollt, weder die kommunalen Spitzenverbände noch die Landesregierungen.
({51})
Herr Koch hat gefordert, dass ertragsunabhängige
Elemente in die Gewerbesteuer einbezogen werden.
Herr Merz, Herr Stoiber und Herr Teufel sagen dagegen:
Ertragsunabhängige Elemente sollen einbezogen werden? Mit uns nie! - Sehr verehrte Frau Merkel, wie soll
man denn zu einer Verständigung mit Ihnen kommen,
wenn nicht einmal im Grundsatz klar ist, ob Sie die Gewerbesteuer modernisieren wollen oder nicht, weil es bei
Ihnen so stark widerstreitende Auffassungen gibt?
({52})
Zu einer Verständigung müssen wir aber kommen. Die
Kommunalhaushalte zu sanieren ist aber zuallererst Ländersache; denn nach unserer Verfassung gehören die
Kommunen zu den Ländern. Es gibt einen Vorschlag des
Bundes zur Sanierung der Kommunalhaushalte, den Sie
nicht mögen müssen. Aber wo sind denn die Vorschläge
der Länder, aus denen hervorgeht, wie die Kommunalhaushalte saniert werden können? Wo ist Ihr Vorschlag?
Es gibt von Ihrer Seite keinen Vorschlag, obwohl Sie die
Mehrheit im Bundesrat stellen. So kann das nicht weitergehen.
({53})
Wir sind uns in der Koalition auch über die Summen
einig. Die Kommunen sollen im nächsten Jahr auf jeden
Fall um 4,5 Milliarden Euro - anwachsend auf 5 Milliarden Euro - entlastet werden. Eine leichte Steigerung der
Entlastung wird es auch in den Folgejahren geben. Darauf kommt es an. Wir werden den Kommunen mit dem
Haushaltsstabilisierungskonzept
({54})
- jedenfalls wenn es auf die Kommunalhaushalte entsprechend übertragen wird - eine zusätzliche Entlastung
von knapp 2 Milliarden Euro verschaffen. Das bedeutet
also, dass die Kommunalhaushalte bereits im nächsten
Jahr um knapp über 6 Milliarden Euro - in den Folgejahren ansteigend auf über 7 Milliarden Euro - entlastet
werden. Das ist ein Wort.
({55})
- Natürlich stimmen sie.
Natürlich können die Kommunalhaushalte nicht aus
dem Bundeshaushalt saniert werden. Der Bund leistet lediglich einen freiwilligen Beitrag. Aber nur in einem Gesamtpaket von Gewerbesteuerreform, Zusammenführung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe - auch das bedeutet
eine Entlastung für die Kommunen - und einem Konsolidierungskonzept für alle öffentlichen Haushalte können
die Probleme des Bundes, der Länder, der Kommunen
und der sozialen Sicherungssysteme gelöst werden.
({56})
Jetzt komme ich auf einen weiteren Baustein unseres
Konzepts zu sprechen: das Haushaltsstabilisierungsgesetz im Vollzug der Haushalte 2003 und 2004. Ich
möchte darauf hinweisen, dass der Haushalt 2003 zweifelsfrei wieder eine wesentlich höhere Nettoneuverschuldung aufweist, die eine Verdoppelung dessen bedeutet, was wir ursprünglich veranschlagt haben. Ich
werde im Spätherbst im Zusammenhang mit der Steuerschätzung im Kabinett und im Bundestag einen Nachtragshaushalt einbringen.
({57})
Dieser Haushalt zeigt aber eindeutig: Alle Maßnahmen,
die wir zum Zwecke der Konsolidierung seit 1999 beschlossen haben, werden in vollem Umfang fortgesetzt.
Die unbereinigten Ausgaben des Bundes sind von 1999
bis 2004 insgesamt nur um 2 Prozent gestiegen. Das sind
gerade einmal 0,4 Prozent pro Jahr. Das gibt es in keinem anderen Land. Hessen ist beispielsweise deswegen
in der Bredouille, weil es in den letzten vier Jahren über
die Stränge geschlagen hat. Es muss nun alle Leistungen,
die es gewährt hat, quasi wieder einsammeln. Das gilt in
der Tat für uns nicht.
({58})
Das, was uns große Probleme bereitet - darauf habe ich
schon hingewiesen -, sind das Wegbrechen der Steuereinnahmen und die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Das
alles zusammen bringt den Bundeshaushalt sehr stark in
die Bredouille.
Wir werden aber - das ist auch mit Brüssel verabredet - in einer solchen, von Wachstumsschwäche gekennzeichneten Situation dem Konjunkturabschwung
nicht noch „hinterhersparen“. In dieser Phase müssen die
automatischen Stabilisatoren wirken. Deswegen ist es in
dieser Situation richtig, Probleme nicht etwa durch zusätzliche Sparmaßnahmen zu verschärfen.
({59})
Auch wenn das heute eher etwas fern erscheint, gilt:
Wenn der Aufschwung kommt und es wieder richtig aufwärts geht, dann muss in Deutschland das gemacht werden, was bisher zu wenig gemacht worden ist, nämlich
eine beinharte Konsolidierung.
({60})
Damit komme ich zum Haushalt 2004.
({61})
Die Grundlage der gesamtwirtschaftlichen Eckdaten lautet: 2 Prozent Wachstum nächstes Jahr. Dazu habe ich
die unterschiedlichsten Äußerungen gelesen. Wir haben
gesagt - darauf komme ich nun zurück -, dass wir mit
dem Vorziehen der Steuerreform unseren Beitrag dazu
leisten wollen, dass es im nächsten Jahr wirklich zu
einem Wachstum von 2 Prozent kommt. Wir wollen dieses Maß an sich verfestigender Arbeitslosigkeit nicht
hinnehmen.
({62})
Dieses Maß an Arbeitslosigkeit ist die entscheidende
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, die
beseitigt werden muss, und zwar durch offensive Maßnahmen.
({63})
Mittlerweile haben sich einige Indikatoren wieder ein
Stückchen verändert. Auch das muss man festhalten. Am
nächsten Wochenende treffen wir, die EU-Finanzminister, uns in Stresa. Eine Woche später treffen sich die
Finanzminister im Rahmen der IWF-Tagung und des
Treffens der G 7 in Dubai. Vermutlich werden wir feststellen, dass zum ersten Mal seit über einem Jahr die
Chancen etwas größer als die Risiken sind. Das ist noch
nicht gesichert. Man muss das mit aller Vorsicht sagen.
Ich verweise auf den Ifo-Index zum Weltwirtschaftsklima. Ich verweise darauf, dass der Ifo-Geschäftsklimaindex zum vierten Mal in Folge für Deutschland einen
Anstieg - dieses Mal ist es ein starker - prognostiziert.
Nicht nur die Zukunftserwartungen, sondern auch die
Gegenwartsbeurteilungen sind positiv. Ich verweise
auch auf das, was das ZEW seit längerem sagt. Übrigens, es spiegelt nur das wider, was an den Aktienmärkten passiert. Derartige Prognosen werden in der Wirtschaft in der Regel nach einem halben Jahr real.
Außerdem verweise ich - ich tue das ganz vorsichtig,
weil ich noch nicht weiß, wie gefestigt das ist - auf harte
Fakten wie die Zahl der Auftragseingänge bei der Industrie. Zum ersten Mal hat ein Institut, das Ifo in München,
mit Hinweis auf unser Konzept - Strukturreformen,
Haushaltskonsolidierung und das Vorziehen der Steuerreform - seine Wachstumsprognose - sie lag unter unserer - von 1,5 Prozent auf 1,75 Prozent nach oben korrigiert. Das sind jedenfalls ein paar Hoffnungszeichen.
Eines ist in Deutschland komplett out, sozusagen
mega-out, nämlich Schwarzmalerei. Die Wirtschaft hat
begriffen, dass auch Schwarzmalerei ein Standortnachteil ist.
({64})
Man soll die Dinge beim Namen nennen, aber nichts kaputtreden. Ich verweise noch einmal auf das Interview
mit Jürgen Schrempp.
Mein Ziel war,
({65})
bei einer ohne Gegenmaßnahmen für das nächste Jahr zu
erwartenden Neuverschuldung des Bundes von 38 Milliarden Euro zunächst die Neuverschuldung unter die
veranschlagten Investitionen zu drücken. Mein Ziel war
also, die Neuverschuldung auf 24 Milliarden Euro zu
senken. Das damit verbundene Sparpaket ist ein harter
Schritt. Er hat dieselbe Größenordnung wie die von uns
1999 mit allen Folgewirkungen eingeleitete Konsolidierung. Allerdings hat dieser Schritt erhebliche positive
Folgewirkungen für die Entlastung der Landes- und
Kommunalhaushalte, wenn eine gleichgerichtete Übertragung erfolgt. Da sind sie dann wieder mit am Zuge.
Dabei wird klar, dass der Weg zur Haushaltskonsolidierung von uns nicht verlassen wird - im Gegenteil.
({66})
Ohne dass man über den Stabilitäts- und Wachstumspakt im Einzelnen diskutieren muss, kann man feststellen, dass es zum Beispiel zwischen den europäischen Finanzministern und den Ländern in Europa
trotz mancher Differenzen eine grundlegende Übereinstimmung gibt: dass die mit der alternden Gesellschaft
verbundenen Herausforderungen erzwingen, dass wir die
damit einhergehenden Belastungen in der Zukunft nicht
mit hohen Schulden aus der Vergangenheit kombinieren dürfen. Deswegen müssen wir für einen ausgeglichenen Haushalt sorgen, sobald das irgendwie möglich ist.
({67})
In einer Zeit der Wachstumsschwäche und der Stagnation werden wir das allerdings nicht schaffen.
({68})
Deswegen müssen wir aus dieser Situation herauskommen.
({69})
Deswegen ist die Konsolidierung erforderlich. Deswegen wird sie auch gemacht.
({70})
Was sind die Wege zur Konsolidierung? Ich nenne zunächst die Einschränkung des Staatsverbrauchs.
({71})
Wir haben den Haushalt des Bundes 2004 auf
11,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedrückt. Der
letzte Haushalt, den Sie verantwortet haben, lag bei
12,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist in der
heutigen Währung eine Differenz in der Größenordnung
von 20 Milliarden Euro. Das ist die Konsolidierung auf
der Ausgabenseite! Die wischen Sie mit nichts vom
Tisch, weil die Zahlen ganz eindeutig sind.
({72})
- Die Zahlen sind klar. Da hilft Ihr Zwischenruf auch
nichts mehr.
({73})
Wenn ich „Einschränkung des Staatsverbrauchs“
sage, dann heißt das zum Beispiel: Eingriffe bei den
Sonderzahlungen im öffentlichen Dienst. Wir reduzieren
das Weihnachtsgeld sowohl für die Pensionsempfänger
als auch für die noch aktiven Bediensteten. Das Urlaubsgeld fällt weg. - Übrigens: Ich erinnere mich noch daran,
dass der hessische Ministerpräsident unmittelbar vor der
Hessenwahl noch der Meinung war, der Tarifabschluss
müsse sofort und in vollem Umfang auch auf die Beamten übertragen werden; da könne man nichts machen.
Noch nicht einmal ein halbes Jahr später sieht man das
auch dort ganz anders. Die Realität holt Sie überall ein,
meine Damen und Herren!
({74})
Ich will auf etwas hinweisen, das im Land nur wenig
bekannt ist: Die Stellenzahl des Bundes liegt heute, im
wiedervereinigten Deutschland, unter der Stellenzahl,
die die alte Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung
hatte, und unter der, die die alte, kleinere Bundesrepublik 1970 hatte. Es gibt 287 000 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. 300 000 waren es
1970 in der alten Bundesrepublik.
({75})
Das ist eine wirkliche Einschränkung des Staatsverbrauchs und das ist auch vernünftig; denn in einer
schrumpfenden Gesellschaft muss auch der öffentliche
Dienst kleiner werden, weil wir anderenfalls Steuererhöhungen in der Zukunft vorprogrammieren.
Wir haben die Finanzhilfen - in dem Punkt sind wir
ganz allein entscheidungsfähig, weil wir nicht die Zustimmung des Bundesrats brauchen - ordentlich abgeBundesminister Hans Eichel
baut, nämlich seit 1998 um mehr als 30 Prozent, von
11,4 Milliarden Euro auf 7,7 Milliarden Euro in diesem
Jahr. Im nächsten Jahr werden es 7 Milliarden Euro sein.
Das ist viel mehr, als sich Herr Steinbrück und Herr
Koch - darauf komme ich noch zu sprechen - vorgenommen haben. Wir müssen da sehr viel härter herangehen und wir werden es auch tun.
({76})
Ich bin gespannt, wie Sie reagieren, wenn wir zum
Beispiel über die Agrarsubventionen - es geht nicht um
die Steinkohle; da sinken die Subventionen systematisch
degressiv - reden. Ich habe dazu aus Bayern schon wieder die alten Töne vernommen.
({77})
Wenn Sie sich als Schutzheiliger von einzelnen Subventionen aufspielen, meine Damen und Herren, werden Sie
den Staatshaushalt nie in Ordnung bringen.
({78})
Damit komme ich zu den Subventionen, die sich auf
der Einnahmeseite finden. Da sind sie ja sehr schön versteckt. Ich habe schon im Haushaltsausschuss gesagt:
Ich glaube, dass das bayerische Modell - nein, das gibt
es ja gar nicht; ich hätte aber nichts dagegen, wenn es
das gäbe, weil wir in Bayern dann schon einen Verbündeten hätten -, das Schweizer Modell, bei dem Subventionen nicht mehr bei den Steuern versteckt werden Subventionen sollen, wenn sie überhaupt gegeben werden, auf der Ausgabenseite stehen, damit sie jeder sehen
kann, damit man sie leichter überprüfen kann und damit
man leichter an sie herankommt -, ein vernünftiger Weg
ist. - Darüber müssen Sie bei Gelegenheit auch einmal
nachdenken.
({79})
- Für die Windkraft ist nichts im Haushalt veranschlagt.
Das will ich hier gar nicht diskutieren. Das sollten Sie
diskutieren, wenn es um die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes geht.
Nun komme ich auf einzelne Subventionen zu sprechen. Da ist zunächst die Eigenheimzulage zu nennen.
Ich habe vorgeschlagen, sie gänzlich zu streichen.
({80})
Der Sachverständigenrat ist dafür. Die Bundesbank ist
dafür. Der gesamte ökonomische Sachverstand ist dafür.
Was, verehrte Frau Merkel, ist jetzt Ihre Position?
({81})
Ich höre Gemeckere an der einen oder anderen Stelle.
Ich habe von Herrn Merz gehört, als wir zusammen bei
Christiansen waren, man könne vielleicht darüber reden.
Andere - Herr Stoiber oder auch Herr Koch - sagen, das
gehe überhaupt nicht.
Meine Damen und Herren, wie können wir eine Subvention vertreten in einem Markt, der überwiegend, von
ganz wenigen Regionen in Deutschland abgesehen,
übersättigt ist?
({82})
Es geht um eine Subvention, die - da ist in diesem Jahr
noch einmal ein ordentlicher Zuwachs zu verzeichnen nachhaltig 8 bis 10 Milliarden Euro beträgt. Können Sie
das wirklich noch vertreten, meine Damen und Herren?
({83})
Können wir nicht in diesem Herbst zu dem Ergebnis
kommen, dass diese Subvention abgebaut wird?
({84})
- Wenn wir über Finanzpolitik reden, dann will ich dazu
noch einen Satz sagen. Macht es eigentlich Sinn, dass
der Staat Schulden macht, damit Private Eigentum
schaffen können?
({85})
Über den Punkt müssen Sie einmal nachdenken. Das
kann doch keinen Sinn machen.
Nächster Punkt: Wir wollen die Subvention in Form
der Entfernungspauschale auf die Hälfte des bisherigen
Niveaus zusammenstreichen. Auch daran wird nur an allen Ecken herumgemosert. Wie sieht denn nun Ihre Position aus? Das Defizit des Gesamthaushaltes liegt zwischen 70 und 80 Milliarden Euro.
({86})
Wir können das nicht beseitigen, ohne dass die Menschen es merken und viele etwas abgeben müssen. Sind
Sie bereit, diesen Weg mitzugehen, meine sehr verehrten
Damen und Herren? In diesem Zusammenhang komme
ich wieder auf die Landeshaushalte, für die Sie doch in
den meisten Fällen die Verantwortung tragen, und die
Kommunalhaushalte zu sprechen. Alle sind ja davon betroffen: zu 42,5 Prozent die Länder und zu 15 Prozent
die Kommunen. Wir reden hier über richtig viel Geld.
Allein die Entfernungspauschale macht 3 Milliarden
Euro aus - jedes Jahr. Sie müssten doch irgendwann zu
einem Ergebnis kommen.
Oder wie stehen Sie zu der Abschaffung der Vereinfachungsregelungen bei den Abschreibungen? Wie soll
man denn jemandem erklären, dass im Dezember angeschaffte Wirtschaftsgüter rückwirkend ab Juli abgeschrieben werden können? Das hat man früher gemacht,
als die Buchführungsmöglichkeiten noch schlechter
waren; heute sind sie aber prima. Hierbei handelt es sich
um eine reine Steuersubvention, die schön für denjenigen ist, der sie bekommt, die aber angesichts des Defizits
des öffentlichen Gesamthaushaltes nicht verantwortbar
ist.
({87})
Nächster Punkt: Der Kampf gegen die Schwarzarbeit ist ein schwieriges und sehr mühevolles Unternehmen. Über die Maßnahmen hinaus, die wir auf dem
Verwaltungswege ergreifen können, werden wir Ihnen in
diesem Herbst in einem Gesetzentwurf Vorschläge unterbreiten. Ich hoffe, dass wir uns über die vorgesehenen
Maßnahmen gegen Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung verständigen können. Wir haben zwar eine Reihe
von Maßnahmen ergriffen, aber sie reichen nicht aus. So
ist mittlerweile ziemlich klar, dass dem Staat allein bei
der Umsatzsteuer durch den so genannten Karussellbetrug pro Jahr zwischen 12 bis 13 Milliarden Euro verloren gehen. Wir werden auch da viel härter eingreifen
müssen, um dieses Problem zu lösen.
Wenn es wahr ist, dass die Schattenwirtschaft in
Deutschland etwa 15 bis 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, dann ergibt sich daraus folgerichtig,
dass wir kein Problem mit unseren Staatsfinanzen hätten, wenn jeder seine Sozialabgaben und Steuern so
zahlte, wie es gesetzlich vorgesehen ist.
({88})
Es sind die ehrlichen Arbeitnehmer und die ehrlichen
Unternehmer, die geschädigt werden, wenn wir zulassen,
dass sich andere illegal bereichern. Deswegen müssen
wir diese Dinge angehen. Ich setze sehr darauf, dass Sie
alle dabei mitmachen denn allein durch Kontrolle kann
man diese Dinge nicht ausrotten. Das ist auch gar nicht
meine Vorstellung. Wir brauchen in diesem Lande wieder eine andere Kultur und eine andere Einstellung zu
diesen Dingen. Wir wollen die Steuern senken - der Vorschlag ist ja in unserem Paket enthalten -, aber umgekehrt muss dann auch jeder das, was er dem Staat schuldet, geben, damit nicht die Ehrlichen die Dummen in
diesem Lande sind. Ansonsten schwindet nämlich die
Zustimmung zur Demokratie.
({89})
Darüber hinaus müssen wir natürlich auch weitere
Subventionen abbauen. Vorschläge hierfür erwarten wir
aus der von den Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück initiierten Arbeitsgruppe. Wenn die Arbeitsgruppe
nichts liefern sollte, werden wir selber Vorschläge machen. Grundsätzlich begrüße ich natürlich, dass es diese
Arbeitsgruppe gibt und sie sich dem Thema, wenn auch
in Trippelschritten, langsam nähert. Ich erwarte also
konkrete Vorschläge aus dieser Arbeitsgruppe, mache
mich davon aber - das sage ich ganz deutlich - nicht abhängig.
({90})
Die Einsparungen auf der Ausgabenseite und den Abbau von Steuersubventionen - das ist nicht das Ende der
Veranstaltung, ich komme gleich darauf zurück - nehmen wir nicht allein um des Sparens willen vor - natürlich muss das Defizit weg -, sondern auch, um Gestaltungsspielraum für die Zukunft zu gewinnen. Die
alternde Gesellschaft - darüber gibt es ja schon viele
Grundsatzdebatten - wird dann zu einem Albtraum für
alle, wenn es uns nicht gelingt, deutlich höhere Wachstumsraten zu erzielen; denn ansonsten werden wir Verteilungskämpfe erleben, die ziemlich schaurig sind.
({91})
Es stellt sich deswegen, meine Damen und Herren, jetzt
die Frage, wie der Beitrag der Finanzpolitik aussieht. Ich
sehe hier zwei Schwerpunkte:
Zum einen brauchen wir mehr Mittel für Zukunftsfelder wie Familienpolitik, Kinderbetreuung, Bildung,
Ausbildung, Forschung und Entwicklung.
({92})
Wir haben in den letzten Jahren die entsprechenden Ausgaben gegenüber 1998 schon um 30 Prozent erhöht. Wir
sind dabei auch besser als vergleichbare Staaten in Europa. Wir haben aber noch nicht das Niveau erreicht, das
in Skandinavien herrscht. Wir haben auch noch nicht so
viel erreicht wie die Amerikaner, die Japaner und die
Kanadier. An dieser Stelle müssen wir also noch viel
besser werden. Der Erfolg der Strategie Europas, zu einer der wettbewerbsfähigsten Regionen zu werden,
hängt in großem Umfang davon ab, ob es uns gelingt,
unser Erneuerungspotenzial in allen Bereichen zu stärken.
({93})
- Ja, wir machen es ja, indem wir die entsprechenden
Ausgaben seit 1998 um 30 Prozent erhöht haben, alleine
von 2003 auf 2004 um 6 Prozent.
({94})
Dazu muss man natürlich ausdrücklich sagen, dass in
diesen Zahlen das Ganztagsschulprogramm enthalten ist
und auch die Kinderbetreuung für unter Dreijährige.
Ebenso sind in das Finanztableau die Forschungsorganisationen eingearbeitet, die wieder mehr Geld bekommen.
Dasselbe gilt - ich sage das ausdrücklich - für die
öffentlichen Investitionen. Die Verkehrsinvestitionen bis
2007 belaufen sich immerhin auf knapp 10 Milliarden
Euro
({95})
- unter Einschluss der Maut.
Die bislang für die Eigenheimzulage verwendeten
Mittel fallen nicht ersatzlos weg. Mit 25 Prozent dieses
Volumens richten wir ein neues InvestitionsförderproBundesminister Hans Eichel
gramm für die Städte und Gemeinden ein und wir schlagen den Ländern und Kommunen vor, dasselbe zu tun.
Das ist, denke ich, der richtige und moderne Weg, mit
dem auf die unterschiedlichen Situationen am Wohnungsmarkt reagiert werden kann.
({96})
Worauf kommt es bei der Finanzpolitik an, wenn sie
zum Wachstum beitragen soll? Auf der einen Seite stehen die Zukunftsaufgaben, auf der anderen Seite - das
sage ich mit allem Nachdruck - geht es um die Rente.
Es geht nicht so weiter, wie wir es bisher gemacht haben.
Ich habe Ihnen vorhin die Zahlen genannt. Deswegen
haben wir im Haushaltsentwurf eine Absenkung des
Bundeszuschusses um 2 Milliarden Euro vorgesehen.
Gleichzeitig muss eine Stabilisierung des Rentenversicherungsbeitrages erfolgen. Das alles wird ein hartes
Geschäft.
Meine Damen und Herren, wir werden uns angesichts
der Dramatik der Zahlen darauf konzentrieren müssen,
sicherzustellen, dass Altersarmut, die wir heute Gott sei
Dank nicht mehr haben, trotz der dramatischen demographischen Veränderungen auch in Zukunft nicht entsteht.
({97})
Damit wir das leisten können, werden wir uns in der
Finanzpolitik von vielen schönen Dingen verabschieden
müssen.
({98})
Auch das ist ein Argument dafür, warum wir uns die Eigenheimzulage und anderes nicht mehr leisten können.
Wir sind voll dadurch gefordert, Altersarmut in der Zukunft zu vermeiden. Wenn Sie die vielen schönen großen
Umverteilungstöpfe, die wir im Steuersystem in der
Mitte der Gesellschaft eingerichtet haben, behalten wollen, dann kommen Sie um massive Steuererhöhungen
nicht herum. Das wäre die Alternative, aber das ist genau
der Weg, den ich nicht gehen will.
Ich bin froh, dass die Mehrwertsteuerdebatte einen
sanften Tod gestorben ist; denn der Subventionsabbau ist
in der Tat der richtige Weg.
({99})
Das Gesamtpaket, das wir zur Konsolidierung vorschlagen, umfasst 14 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt, 23 Milliarden Euro für den gesamtstaatlichen
Haushalt - Bund, Länder und Gemeinden außer Acht gelassen; das geschieht im Rahmen der Agenda 2010 zur
Konsolidierung der sozialen Sicherungssysteme.
Man wird sich fragen müssen, meine Damen und Herren - das ist der entscheidende Punkt -, wie Konsolidierungspolitik in einer Phase der Stagnation aussieht.
Muss sie anders sein als in einer Phase des Wirtschaftswachstums wie 1999/2000, als wir diese Politik eingeleitet haben? Ich sage ausdrücklich: ja. Denn wenn wir in
einer Phase der Stagnation 23 Milliarden Euro - 14 Milliarden Euro allein für den Bund - aus dem Kreislauf
herausnehmen, dann wirkt das natürlich zunächst kontraktiv.
({100})
Das Wichtigste aber ist: Wir müssen heraus aus der Stagnation und hinein ins Wachstum,
({101})
weil wir anderenfalls unsere Probleme nicht lösen. Deswegen legen wir dieses Konzept auf den Tisch.
({102})
Angesichts dieses Konsolidierungspaketes, das wir
auf den Tisch legen, ist es auch richtig, dass wir vorschlagen, die nächste Stufe der Steuerreform, die für
2005 vorgesehen ist, um ein Jahr vorzuziehen, um einen
Wachstumsimpuls zu geben und dafür zu sorgen, dass
die Finanzpolitik in einer stagnativen Phase nicht kontraktiv wirkt. Darauf kommt es an, meine Damen und
Herren.
({103})
Übrigens ist es schon verwunderlich, wie sich bei Ihnen die Positionen ändern. Ich denke, diese Spielchen
sollten wir jetzt einmal lassen. Sie waren bereit, Steuersenkungen auch in ganz anderen Phasen vorzunehmen,
völlig unabhängig davon, welche Staatsverschuldung
das nach sich zieht. Ich erinnere mich lebhaft daran, was
Sie hinsichtlich der Steuerreform 2000 gesagt haben das war Ihnen alles nicht genug. Ich erinnere mich lebhaft daran, was Sie vorigen Sommer erzählt haben, und
daran, was Herr Koch noch vor der Landtagswahl gesagt
hat, nämlich das sei eine Phase, in der man Schulden
machen müsse. Die Konsequenz ist jetzt, dass Hessen
von einer Ratingagentur heruntergestuft worden ist.
Ich wiederhole es: Wenn man den Mut hat, nicht auszuweichen und auch in Phasen der Stagnation harte
Strukturreformen in den Sozialsystemen und im Haushalt durchzuführen, ist man quasi gezwungen, vonseiten
der Finanzpolitik einen Wachstumsimpuls zu geben.
Deshalb wundere ich mich darüber, dass in den letzten
Tagen in der Presse zu lesen ist, wir würden unser
Wachstumsziel aufgeben. Wir geben es nicht auf; aber
wir sagen, dass es schwer zu erreichen ist. Das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform ist ein Element
zur Abwehr der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts und zur Erreichung des Wachstums und
des Beschäftigungsaufbaus. Darum geht es.
Den Vorteil haben der Mittelstand wegen seiner verbesserten Investitionsbedingungen und eine große Zahl
von privaten Haushalten.
({104})
Was die Finanzierung angeht, so sage ich: Wir bauen
Steuersubventionen ab. Ich habe schon wieder gehört:
Was Sie da machen, passt uns nicht. - Im Rahmen der
Umsatzsteuer beseitigen wir einige Ungleichbehandlungen der Landwirtschaft.
Ferner setzen wir Privatisierungserlöse ein. Dadurch
werden die 7 Milliarden Euro, die der Bund braucht, um
2 Milliarden Euro reduziert. Das kann auch mehr werden. Aber ich kann nur das veranschlagen, was ich jetzt
zusagen kann. Ich will die Märkte nicht negativ beeinflussen.
({105})
Wenn es am Aktienmarkt so weitergeht, wie es gegenwärtig der Fall ist, dann wird man möglicherweise auch
früher über andere Privatisierungserlöse reden können,
aber auch nur dann. Ich privatisiere nur, wenn es vom
Kurs her vertretbar ist, andernfalls nicht.
Ferner haben wir eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme vorgesehen. Eine der Bedingungen dafür lösen
wir selber ein, indem wir die Finanzhilfen weiter abbauen, nämlich im Zeitraum der mittelfristigen Finanzplanung jedes Jahr mindestens um 5 Prozent. Außerdem
bieten wir dem Bundesrat an, dass wir uns über einen
weiteren Abbau steuerlicher Subventionen ab 2005 verständigen, einen Abbau, der über das hinausgeht, was in
unserem Konzept steht und was die Herren Koch und
Steinbrück nach meinen Erwartungen vorlegen werden;
denn es ist vernünftig, diesen Weg des Abbaus von Subventionen konsequent weiterzugehen, egal welcher Lobbyist jeweils gerade dagegen ist.
({106})
Ich sage ausdrücklich: Das Vorziehen der Steuerreform, das die öffentlichen Haushalte mit insgesamt
16,6 Milliarden Euro belastet, ist mit dem 23-Milliarden-Paket längst abgegolten. Dass die Länder sagen,
sie wollten noch mehr zur Konsolidierung ihrer Haushalte tun, ist in Ordnung. Der Bund tut das ja auch.
Infolgedessen kann ich das nur begrüßen. Aber ich
betone: Der Bund hat die Bedingungen geschaffen,
die man vernünftigerweise schaffen kann. Es liegt am
Bundesrat und an den Länderregierungen, dem Vorziehen der Steuerreform und damit einem Wachstumsimpuls in einer stagnativen Phase zuzustimmen. Da
wird auch die FDP, wenn die CDU nicht will, in den
Landesregierungen, in denen sie mitregiert, denke ich,
ein Wort mitzureden haben. Da werden Sie sich entscheiden müssen.
Meine Damen und Herren, dies ist eine Politik, die
mit dem Dreiklang von Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung und Wachstumsimpulsen auch unsere europäischen Verpflichtungen erfüllt.
({107})
Sie können - das mag Ihnen nicht passen - gerade
heute Morgen im „Handelsblatt“ lesen, was der zuständige Kommissar der Europäischen Union dazu sagt. Die
Bundesregierung bekennt sich zum Stabilitäts- und
Wachstumspakt mit all seinen Elementen.
({108})
- Ich komme gleich darauf zurück. - Wir werden alles
daransetzen, dass wir das 3-Prozent-Kriterium im
nächsten Jahr erfüllen. Das wird schwierig. Darum ist
überhaupt nicht herumzureden. Es bedarf auch eines höheren Wirtschaftswachstums. Es bedarf aller Anstrengungen, die ich eben geschildert habe.
In Brüssel ist übrigens bekannt - man muss sich nur
die Zahlen ansehen -, dass Deutschland bei all den
Schwierigkeiten, die es hat, das Land mit den geringsten
Schätzabweichungen bei der Projektion von Finanzierungssalden ist.
({109})
- Seien Sie vorsichtig! Ich glaube nicht, dass Sie gelesen
haben, was der schwedische Ministerpräsident Göran
Persson, der die großen Länder zu Recht kritisiert hat,
gesagt hat.
({110})
Er hat nämlich gesagt: Die großen Länder haben in den
90er-Jahren, als wir, die kleinen, die Konsolidierung eingeleitet haben, dies nicht gemacht. - Der Vorwurf richtet
sich nicht an uns; denn als wir an die Regierung kamen,
haben wir die Konsolidierung sofort eingeleitet.
({111})
Hätten Sie drei Jahre früher angefangen, wären wir
nicht mit 1,2 Prozent Defizit, sondern - wie die kleineren Länder - mit einem ausgeglichenen Haushalt oder
mit einem kleinen Überschuss in die Stagnationsphase
gegangen und mit dem 3-Prozent-Kriterium gäbe es
keine Probleme. Deswegen sind jetzt alle gefordert.
Verehrter Herr Storm, Sie haben, wie in der Zeitung
nachzulesen war, gesagt, die sozialen Sicherungssysteme seien nicht dazu da, dem Bundesfinanzminister zu
helfen, das 3-Prozent-Kriterium zu erfüllen. Das ist völlig falsch. Das 3-Prozent-Kriterium ergibt sich aus der
Situation der sozialen Sicherungssysteme, des Bundeshaushalts, der Länderhaushalte und der kommunalen
Haushalte. Ich bin bereit, für all das die Verantwortung
zu übernehmen, über was ich entscheiden kann. Aber es
gibt Dinge, über die andere entscheiden. Deswegen sage
ich ausdrücklich: Bei der Konsolidierung der Sozialsysteme, des Bundeshaushaltes, der Länderhaushalte und
der Kommunen ist ein Zusammenwirken aller gefordert.
({112})
Was in Europa und in Deutschland fehlt, ist nicht Stabilität. Deutschland ist in Sachen Stabilität der Musterschüler der Europäischen Union.
({113})
Dabei bleibt es. Was aber fehlt, ist Wachstum - das ist
wahr -, und zwar im dritten Jahr infolge.
({114})
Deutschland hat als größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union eine besondere Verantwortung.
({115})
Auch kleinere Länder, die sehr lange auf einem ziemlich hohen Roß gesessen haben, schauen inzwischen
sehr nachdenklich - das Pendel ist stark zur anderen
Seite ausgeschlagen - auf ihr Wachstum und ihre Haushaltsdefizite. Polen, die Beitrittsländer und die kleineren
Länder um uns herum stellen jetzt die Frage - es ist
nicht nur die eine von Herrn Balcerowicz, die ich gelesen habe -: Was ist mit eurem Wachstum? Wir wollen
aus diesem Loch endlich herauskommen. - Vor uns liegt
eine riesige Aufgabe.
({116})
- An dem Beispiel Schweden sehen Sie, dass Sozialdemokraten eine gute Politik machen; das ist überhaupt
keine Frage.
Wir müssen ein großes Paket schnüren. Unsere Antwort liegt in dem Dreiklang von Strukturreformen,
Haushaltskonsolidierung und Wachstumsimpulsen. Es
wird in diesem Herbst für alle in diesem Lande sehr anstrengend werden, übrigens auch für die gesetzgebenden
Körperschaften. Unsere Antwort wird in Brüssel wie
auch beim Internationalen Währungsfonds verstanden.
Stimmen von außerhalb Deutschlands sagen: Wir hätten
nicht gedacht, dass Deutschland in Bewegung kommt; in
Deutschland geht es richtig voran.
({117})
Darauf kommt es an.
({118})
- Ich will gar nicht mehr über die Vergangenheit reden.
Wenn ich das tun würde, dann müsste ich auch über Ihre
Vergangenheit reden. Was soll denn das? Wir müssen
vorankommen.
({119})
Die Menschen wollen,
({120})
dass das Land für die Zukunft fit gemacht wird, auch
wenn es schmerzlich ist. Es gibt eben keine Medizin, die
nicht bitter schmeckt.
Unsere Vorschläge liegen, wie Sie es immer gefordert
haben, auf dem Tisch. Sie müssen sie nicht mögen. Wir
haben unsere Verhandlungsbereitschaft längst erklärt.
Ich habe dem Finanzplanungsrat angeboten, eine gemeinsame Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Gemeinden einzurichten und über die Folgekosten von
Bundesgesetzen zu reden. Die B-Seite war aber vor der
Bayernwahl nicht in der Lage, zu verhandeln. Was ist
denn das für ein Verständnis von den Problemen in diesem Land?
({121})
Damit komme ich zu Ihrer Verantwortung. Man kann
der Meinung sein, dass die Opposition keine Vorschläge
machen muss; die Regierung muss Vorschläge machen.
Das ist in Ordnung. Aber die meisten Entscheidungen
können im föderalen System - ich bin Föderalist, auch
wenn ich inzwischen an manchen Stellen ein Fragezeichen setzen würde - von Bundestag und Bundesrat, in
denen es gegenwärtig unterschiedliche Mehrheiten gibt,
nur gemeinsam getroffen werden.
({122})
- Ja, das ist ganz neu.
({123})
Es gibt drei Möglichkeiten, wie Sie sich mit Ihrer
Mehrheit verhalten können. Sie können erstens die Landesregierungen ihre verfassungsmäßige Pflicht tun lassen. Das ist in Ordnung. Wir kommen damit klar, wenn
Sie die Landesregierungen nicht an die parteipolitische
Leine legen wollen.
({124})
Sie können zweitens eine Blockadepolitik machen - ich
komme gleich noch darauf zurück -, weil Sie sich nicht
einigen können.
({125})
Das ist aber unverantwortlich. Drittens können Sie ein
eigenes Konzept vorlegen, weil Sie, Frau Merkel, nicht
wollen - das kann ich verstehen -, dass die Bundespartei
und die Union in den Ländern nicht einig sind. Aber
dann müssen Sie auch ein Konzept auf den Tisch legen.
Wo sind denn Ihre Vorschläge zu den Strukturreformen
in diesem Land?
({126})
Was ist denn Ihr Konzept zur Haushaltskonsolidierung beim Bund, bei den Ländern und Gemeinden? Was
ist Ihr Konzept zum Vorziehen der Steuerreform? Was ist
Ihr Konzept zur Gemeindefinanzreform? Wo sind die
gemeinsamen Stellungnahmen der Union zu einigen
Schwerpunkten der Haushaltskonsolidierung, zur Eigenheimzulage, zur Entfernungspauschale und zu anderen
Punkten? Wo ist das gemeinsame Konzept der Union,
sehr verehrte Frau Merkel? Man hat gedacht: Die mogeln sich durch - das kann ich politisch verstehen -, um
bei den Wählern besser dazustehen.
({127})
Denn nichts, was man jetzt auf den Tisch legt, ist angenehm. Das ist wahr; Medizin ist bitter.
Nach der Hessen- und der Niedersachsenwahl haben
eine Reihe Unionskollegen gesagt, nun könne man anfangen, miteinander zu reden. Nichts ist geschehen! Sie
haben wieder Zeit gebraucht. Einen ganz kleinen Teil
des Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen haben Sie schließlich zuwege gebracht.
({128})
Dann war die Frage: Vielleicht geht es nach der Bremenwahl? Es ging wieder nicht.
Jetzt heißt der neue Termin: Bayernwahl. Herr Koch
und Herr Steinbrück werden nichts vorlegen, bevor die
Bayernwahl nicht vorüber ist. Was heißt denn das? Das
heißt, dass Sie vor der Bayernwahl nicht sagen wollen,
was Sie im Hinblick auf die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale und viele andere Dingen vorhaben. Ist das
ein Verhalten, das in dieser Situation unseres Landes angemessen ist?
({129})
Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass das
so ist. Wir werden aber auch den Menschen im Lande sagen müssen, dass das so ist.
Nach der Bayernwahl ist definitiv Schluss: Entweder
Sie versündigen sich an diesem Lande - ich hoffe das
nicht ({130})
oder Sie kommen nach der Bayernwahl mit einem
schlüssigen Konzept oder Sie lassen die Landesregierungen ihre verfassungsmäßige Pflicht tun.
({131})
So viele Reformnotwendigkeiten und - auch das sage
ich - so viele Reformmöglichkeiten wie gegenwärtig hat
es nie zuvor in Deutschland gegeben. Wir müssen die
jetzige Situation, die verdammt schwierig ist, nutzen. Es
braucht eine große gemeinsame Kraftanstrengung in diesem föderalen Staat. Das erwarten die Menschen und das
ist unsere Verantwortung für dieses Land und für
Europa.
Die Chancen stehen besser als je zuvor in den letzten
drei Jahren, dass wir aus der Stagnation herauskommen,
dass wir, wenn wir das zart keimende Pflänzchen des
Aufschwungs mit einer entschlossenen Politik der Strukturreformen, der Haushaltskonsolidierung und der
Wachstumsimpulse richtig begießen, aus der Wachstumsschwäche herauskommen und wieder in ein ordentliches Wirtschaftswachstum hineinkommen.
({132})
Es kann gelingen und es wird gelingen, wenn Sie bereit
sind, Ihren Teil der Verantwortung, der Ihnen nach der
Verfassung über den Bundesrat zugewiesen ist, zu übernehmen. Wir sind zu jedem vernünftigen Gespräch und
auch zu Kompromissen, die in der Sache weiterführen,
bereit.
Dies ist der Weg, Deutschland aus einer schwierigen
Lage herauszuführen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken!
({133})
Bevor ich die Aussprache eröffne, begrüße ich auf der
Tribüne den Präsidenten des Bundesrechnungshofes,
Herrn Dr. Engels.
({0})
Herr Engels, ich freue mich, dass Sie an diesen Beratungen teilnehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Friedrich Merz von der CDU/CSUFraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion wurde
am Wochenende in verschiedenen Zeitungen aus der
Klausurtagung der Fraktion der SPD am letzten Donnerstag mit den Worten zitiert: Hans, das reicht erst mal!
({0})
Diese Worte hätte man auch heute Morgen sagen können. Wahrscheinlich reicht es bald endgültig.
Herr Eichel, das, was Sie heute Morgen dargeboten
haben, war eine bizarre Veranstaltung:
({1})
30 Minuten Kritik an der Opposition!
({2})
Das Einzige, was Sie offensichtlich noch mit Ihrer Fraktion und Ihrer Regierung verbindet, ist die Kritik an der
Opposition.
({3})
Wer während Ihrer Rede - Herr Eichel, Sie konnten
es nicht beobachten - das Mienenspiel der Regierung
- insbesondere das des Bundeskanzlers - gesehen hat,
der konnte sich ein Bild davon machen, wie der Stand
des Bundesfinanzministers in der Regierung ist.
({4})
Herr Bundeskanzler, Sie haben während dieser Rede genauso wie in den letzten Tagen vor dem Abgang Rudolf
Scharpings geschaut. Mit dem gleichen Gesichtsausdruck haben Sie hier auf der Regierungsbank gesessen.
({5})
Sie wissen doch, dass das, was heute vorgelegt worden ist, keinen Bestand hat. Sie wissen doch, dass wir
hier einen Haushaltsentwurf beraten, dessen Grundlage
schon überholt ist, bevor er überhaupt in der ersten Lesung im Deutschen Bundestag beraten worden ist. Sie,
Herr Eichel, wissen doch, dass es so ist.
({6})
Sie kämpfen hier ganz offenkundig Ihren letzten Kampf.
Sie stehen mit dem Rücken zur Wand.
({7})
Sie sind politisch, fachlich und auch persönlich gescheitert.
({8})
Herr Eichel, in einer solchen Situation müsste die Opposition eigentlich den Rücktritt des zuständigen Finanzministers fordern.
({9})
- Ich lasse mich durch Zwischenrufe normalerweise
nicht irritieren, aber die Art und Weise, in der Sie, Herr
Bundesaußenminister, sich auf der Regierungsbank aufführen, ist für einen Außenminister der Bundesrepublik
Deutschland unerträglich.
({10})
Es ist wirklich unerträglich, wie Sie auf der Regierungsbank herumröhren. So hat sich noch kein deutscher Außenminister benommen.
({11})
Es ist noch kein Jahr her
({12})
es war am 12. September 2002,
({13})
dass wir über den Bundeshaushalt 2003 beraten haben.
Herr Finanzminister, Sie haben damals Ihren Konsolidierungskurs verteidigt und zehn Tage vor der Bundestagswahl - wohl wissend, dass die Zahlen eine ganz andere Sprache sprachen - hier im Deutschen Bundestag
gesagt - ich zitiere -:
Nach 21,1 Milliarden Euro in diesem Jahr bleibt es
bei der für 2003 geplanten Neuverschuldung in
Höhe von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wert
werden wir festhalten.
Das Protokoll verzeichnet „Beifall bei der SPD sowie
bei Abgeordneten des Bündnisses 90/Die Grünen“.
Als wir den Haushalt im März dieses Jahres verabschiedeten - wissend, dass auch diese Zahlen schon wieder überholt waren -, haben wir über 18,9 Milliarden
Euro Neuverschuldung gesprochen und abgestimmt.
Heute hätten Sie zunächst einmal dem Deutschen Bundestag einen Nachtragshaushalt zum Haushalt 2003
vorlegen müssen;
({14})
denn als Sie Anfang September der EU-Kommission
nach Brüssel richtigerweise die zu erwartende Defizitüberschreitung meldeten, wussten Sie auch, wie sich der
Haushalt des laufenden Jahres 2003 bis zum Jahresende
voraussichtlich entwickeln wird.
Warum haben Sie heute keinen Nachtragshaushalt für
das laufende Jahr 2003 vorgelegt? Sie hätten es tun müssen.
({15})
Sie hätten dabei eingestehen müssen, dass Sie die Defizitgrenze des laufenden Budgets wegen der Mindereinnahmen bei den Steuern um 7 Milliarden und wegen des
erhöhten Zuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit um
10 Milliarden Euro noch einmal überschreiten werden.
Sie hätten eingestehen müssen, dass Sie bei der Arbeitslosenhilfe 2 Milliarden Euro drauflegen müssen und
wahrscheinlich ein Liquiditätsproblem in der Rentenversicherung bekommen werden, sodass im Oktober wahrscheinlich - erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - ein Zuschuss an die deutsche
Rentenversicherung gewährt werden muss, damit die
Renten überhaupt noch ausgezahlt werden können.
Sie hätten ferner darauf hinweisen müssen, dass Sie
bereits im laufenden Haushaltsjahr 2003 ein unkalkulierbares Zinsrisiko tragen; denn der Schuldendienst des
Staates hat sich in kürzester Zeit erheblich verteuert. Da
Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit von den so genannten
Langläufern auf die Kurzläufer umgestellt haben, tragen
Sie kurzfristig ein Zinsrisiko für das laufende Haushaltsjahr 2003 in einem beträchtlichen Umfang und in einem
noch höheren für das Jahr 2004.
Das alles hätten Sie hier heute sagen müssen. Stattdessen haben Sie eine halbe Stunde lang die Opposition
beschimpft.
({16})
Sie haben es erneut für richtig gehalten, die deutsche
Einheit als Erklärung dafür heranzuziehen, warum Sie
so große Schwierigkeiten haben. Im selben Atemzug
haben Sie gesagt, dass wir in Deutschland im Jahr 2001
- zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Einheit bereits
zehn Jahre her - ein hohes Wachstum gehabt haben.
Danach ist das Wachstum in diesem Land abrupt eingebrochen. Das hat doch nichts mehr mit der deutschen
Einheit zu tun! Es ist geradezu perfide, 17 Millionen
Deutsche in den neuen Bundesländern für die Erklärung
der Probleme in Anspruch zu nehmen, die diese Regierung hat. Die Probleme haben nichts mit den Menschen
dort und mit der deutschen Einheit zu tun, sondern mit
Ihrer Regierung.
({17})
- Herr Müntefering, ich sage Ihnen das zum wiederholten Male von dieser Stelle aus: Wir lassen uns von Ihnen,
von denjenigen, die damals abseits gestanden haben, als
es darum ging, eine der größten Aufgaben dieses Landes
zu bewältigen, keine Vorwürfe hinsichtlich einer falschen Finanzierung der deutschen Einheit machen.
({18})
Meine Damen und Herren, es gibt gegenwärtig einen
hochinteressanten Vortragszyklus an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu diesen Vorträgen werden diejenigen
Männer und Frauen eingeladen, die damals in der Treuhandanstalt gesessen haben - es war parteiübergreifend
Konsens, dass das die richtigen Männer und Frauen gewesen sind - und die schwierigste Aufgabe im Zusammenhang mit der deutschen Einheit - man muss besser
sagen: bei der Überwindung der deutschen Teilung - zu
bewältigen hatten. In dieser Vortragsreihe brachten alle
Beteiligten, die dort bisher gehört wurden, übereinstimmend zum Ausdruck, dass die Finanzierungsmethode,
wie sie von der Regierung Kohl/Waigel gewählt worden
ist, nämlich ein Drittel über höhere Verschuldung, ein
Drittel über die sozialen Sicherungssysteme und ein Drittel über höhere Steuern - diese sind erhoben worden - zu
finanzieren, damals richtig gewesen ist und dass sie auch
aus der Rückschau zu keinerlei grundlegenden Korrekturen Anlass gibt. Das muss hier gesagt werden.
({19})
Ich weiß, dass große Teile der Regierung dabei sind,
die deutsche Geschichte umzuschreiben.
({20})
Meine Damen und Herren, hier geht es nicht nur um die
Details einer Haushaltsdebatte, hier geht es um ganz
grundlegende Richtungsentscheidungen für dieses Land.
Mit diesen stereotyp wiederholten Vorwürfen an die frühere Regierung versuchen Sie, vergessen zu machen,
was Sie damals im Deutschen Bundestag - er war noch
in Bonn - zur Bewältigung dieser Aufgabe beigetragen
haben.
({21})
Es ist eine jämmerliche Leistung, die Sie damals erbracht haben. Das wollen Sie heute alle miteinander vergessen machen.
({22})
Bevor ich auf die Haushaltsdaten eingehe, muss ich
noch einige Bemerkungen machen, weil es der Bundesfinanzminister wieder einmal für richtig gehalten hat, die
Opposition und zum Teil auch mich persönlich zu kritisieren. Sie haben völlig zu Recht auf die demographische Entwicklung hingewiesen, Herr Eichel. Aber wer
hat denn den demographischen Faktor in der Rentenversicherung eingeführt und wer hat ihn wieder abgeschafft? Das war nicht die Opposition, das war Ihre Regierung!
({23})
Jetzt führen Sie lauthals Klage darüber, dass ein Drittel
der Ausgaben im Bundeshaushalt in die Rentenversicherung fließt. Wer hat das denn zu verantworten? Doch
nicht die Opposition. Ihre fatale Fehlentscheidung, die
Rentenreform so zu strukturieren, hat dazu geführt, dass
mittlerweile mehr als ein Drittel der Rentenauszahlungen nicht mehr über Beiträge finanziert wird, sondern
über Steuern finanziert werden muss. Das Problem haben Sie verursacht, Herr Eichel, nicht die Opposition.
({24})
Sie haben hier etwas zur Gewerbesteuer gesagt. Sie
waren nach den Koalitionsverhandlungen 1998 kein
Bundesminister - das wurden Sie erst später -, kennen
aber sicherlich den dort verabschiedeten Koalitionsvertrag. In diesem Koalitionsvertrag zwischen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gibt es eine Verabredung, zur
Reform der Kommunalfinanzen eine Kommission einzusetzen. Das muss nicht immer falsch sein. Häufig stellt
die Einsetzung einer Kommission die Flucht aus der politischen Verantwortung dar, manchmal kann es aber
auch richtig sein. Ich vermute, in diesem Fall war diese
Entscheidung richtig. Aber hätten Sie es nur getan. Es
hat über drei Jahre gedauert, bis diese Kommission ins
Leben gerufen wurde. Sie ist im Juni 2001 berufen worden. Dann haben Sie dort anderthalb Jahre beraten. Es
sind sieben verschiedene Modelle diskutiert, zwei sind
konkret gerechnet worden.
Als dann die Bundesregierung - am 13. August war
es wohl - ein eigenes Konzept vorlegte, waren alle Beteiligten dieser Kommission hoch überrascht, dass nicht
Modell eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben vorgeschlagen wurde, sondern ein achtes Modell. Plötzlich
saßen Sie mit Ihrem Vorschlag zur Gewerbesteuer zwischen allen Stühlen. Das ist doch nicht das Problem der
Opposition. Es ist Ihr Problem, Herr Eichel, dass Sie die
Dinge nicht im Griff haben
({25})
und dass Sie selber nicht wissen, was Sie bei der Gewerbesteuer nun wirklich machen wollen, dürfen, sollen
oder müssen. Ihr Entwurf ist Ihnen in der letzten Woche
doch nicht von unserer Fraktion aus der Hand genommen worden, sondern von Ihrer.
({26})
Herr Bundeskanzler, da Sie so fröhlich schauen:
({27})
Sie haben es für richtig gehalten, die Grünen bei dieser
Fraktionsklausur zu kritisieren und zum Besten zu geben, was Sie da alles „zum Kotzen“ fänden. Mit Verlaub,
angesichts dessen, was wenige Tage später die „Leipziger Volkszeitung“ geschrieben hat, fällt es mir schwer,
dem zu widersprechen:
Politisch aber, um in des Kanzlers Sprachgebrauch
zu bleiben, darf man „zum Kotzen“ finden, was die
Mächtigen bei Rot-Grün in Sachen Vertrauen und
Verlässlichkeit zustande bringen. Allein die angekündigte Nachbesserung des nachgebesserten
Eichel-Clement-Vorschlages zur finanziellen Besserstellung der Gemeinden ist eine Zumutung.
Meine Damen und Herren, das richtet sich an Sie, nicht
an die Opposition im Deutschen Bundestag.
({28})
Ich will Ihnen klar und deutlich sagen: Es gibt bei uns
bei diesem sehr komplexen Thema in der Tat unterschiedliche Auffassungen.
({29})
- Entschuldigung, auch wir sind eine Volkspartei.
({30})
- Jetzt meckert und lacht er wieder auf der Regierungsbank herum! Ich weiß nicht, ob Sie etwas von Gewerbesteuer und Kommunalpolitik verstehen, Herr Bundesaußenminister.
Dies ist in der Tat ein komplexes Thema. Aber eines
ist doch klar - insofern gibt es hier eine gemeinsame
Verantwortung -:
({31})
Wir wollen mit Ihnen zusammen
({32})
- Frau Scheel, auf Sie komme ich gleich auch noch ({33})
den Gemeinden im Jahr 2004 helfen. Den Gemeinden
muss geholfen werden. Wir machen hier erneut den Vorschlag, die Gemeinden stärker an der Umsatzsteuer zu
beteiligen und die Gewerbesteuerumlage abzusenken.
({34})
Wir machen auch den Vorschlag, den Gemeinden auf
der Ausgabenseite zu helfen. Denn nicht nur auf der
Einnahmenseite haben sie ein Problem, sondern nach
meiner Einschätzung sogar ein größeres auf der Ausgabenseite.
({35})
Aber glauben Sie denn im Ernst, dass nach einer langen, fruchtlosen Debatte in der Regierung in den Monaten September, Oktober, November und Dezember eine
grundlegende Reform der Kommunalfinanzen noch
wirklich möglich ist? Was Sie jetzt diskutieren, wäre
- wenn es denn verabschiedet würde, wenn wir sozusagen völlig willenlos all dem zustimmen würden, was Sie
da machen - Pfusch und Flickwerk. Das ist doch keine
wirkliche Reform.
Ich biete Ihnen deswegen noch einmal an: Lassen Sie
uns gemeinsam den Gemeinden helfen.
({36})
- Für uns.
({37})
- Man kann nicht alle Papiere lesen, die im Deutschen
Bundestag vorgelegt werden. Herr Müntefering, das gestehe ich Ihnen gerne zu. Aber lesen Sie doch einmal die
Anträge, die die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu gestellt hat.
Wir haben Ihnen in Form eines Antrages den konkreten Vorschlag gemacht, den Gemeinden mit einer Absenkung der Gewerbesteuerumlage und mit einer höheren Umsatzsteuerbeteiligung zu helfen. Wir stehen zu
diesem Antrag. Sie brauchen dem nur zuzustimmen.
Dann haben wir für das Jahr 2004 geholfen.
({38})
Meine Damen und Herren, wir reden mit Ihnen leider
noch nicht über den Nachtragshaushalt 2003; das wird
irgendwann im November kommen, im Nachhinein. Wir
reden jetzt über den Haushalt 2004. Jedenfalls sollten
wir den Versuch unternehmen, einmal wieder über diesen Haushalt zu sprechen.
Heute Morgen hat die Vorsitzende des Finanzausschusses im Radio ein Interview gegeben. Sie hat dabei
erstaunlich offen eingeräumt,
({39})
dass es erhebliche Probleme mit einer der ganz wesentlichen Grundvoraussetzungen für einen soliden Haushalt
gibt, nämlich mit den Wachstumserwartungen für das
Jahr 2004. In der dazugehörigen Agenturmeldung - ich
habe das Radiointerview nicht hören können - steht:
Nach Einschätzung der Grünen-Finanzexpertin
- Vorsitzende des Finanzausschusses des Deutschen
Bundestages ist auch die Konjunkturannahme von 2 Prozent
Wirtschaftswachstum für 2004 überholt. Gegen ein
solches Wachstum sprächen derzeit alle Indikatoren ...
({40})
- Zu solchen Äußerungen fällt einem dann wieder der
Bundeskanzler ein.
Uns wird heute, am 9. September, der Haushaltsentwurf dieser Bundesregierung für das Jahr 2004 vorgelegt. Dieser basiert auf einer Wachstumsannahme der
Bundesregierung von 2 Prozent. Am selben Tag, zwei
Stunden bevor die Beratungen im Parlament beginnen,
erklärt die Vorsitzende des Finanzausschusses des Bundestages - eine Abgeordnete der Grünen! -, dass eine
der wesentlichen Grundannahmen dieses Haushaltes
nicht zu halten sei, da derzeit alle Indikatoren gegen sie
sprächen.
({41})
Meine Damen und Herren, was sollen wir von einer
solchen Politik halten?
({42})
Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier heute vorgelegt haben,
ist keine beratungsfähige Grundlage. Damit verschaukeln und verladen Sie das ganze deutsche Parlament.
({43})
Herr Kollege Merz, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Scheel?
Gerne.
Bitte schön, Frau Scheel.
({0})
Herr Merz, ich finde es beachtlich, dass Sie die Agenturmeldungen so intensiv lesen. Ich bitte Sie allerdings:
Wenn Sie schon zitieren, dann zitieren Sie auch zu Ende!
Da Sie das nicht getan haben, will ich es gerne tun.
({0})
- Finden Sie nicht auch, dass es darum geht, was danach
noch kommt?
Als wichtigsten Punkt für den Haushalt 2004 bezeichnete Scheel die anstehenden Entscheidungen
zum Subventionsabbau.
Bezogen auf die Indikatoren steht dort vorher noch:
Es sei nun an der Politik, darauf zu reagieren.
Diese Reaktionen hat Hans Eichel in seiner Rede vorgestellt.
({1})
Die Union ist aufgefordert - auch das steht in dieser
Agenturmeldung -, die Karten auf den Tisch zu legen,
damit das Wachstum, das wir erreichen müssen, tatsächlich erreicht werden kann.
({2})
Das gehört dazu, wenn man vollständig zitiert, und
dazu stehe ich auch; ich halte es nämlich für richtig. Sie
sind am Zug. Sagen Sie uns endlich einmal Ihre Vorschläge zum Haushalt 2004, zum Subventionsabbau und
zur Gemeindefinanzreform. Davon haben wir bis heute
nichts gehört.
Frau Scheel, ich bin mir nicht ganz sicher, ob es nicht
besser gewesen wäre, wenn ich Ihnen diese Zwischenfrage nicht ermöglicht hätte; denn diese in eine Zwischenfrage gekleidete Wortmeldung hat noch einmal das
ganze Dilemma Ihrer rot-grünen Finanzpolitik schlagartig beleuchtet.
({0})
Sie haben in dem Interview, das Sie heute Morgen gegeben haben,
({1})
die Opposition aufgefordert, jetzt die Gesetze zu verabschieden, die Grundlage für die Haushaltsplanung der eigenen Regierung sind. Das zeigt doch das ganze Ausmaß des rot-grünen Regierungschaos, mit dem wir auch
heute Morgen hier konfrontiert werden. Damit Sie in Ihrer Koalition über die Runden kommen, appellieren Sie
an die Opposition, Gesetzen zuzustimmen, die noch gar
nicht eingebracht, erst recht nicht verabschiedet sind, die
aber bereits heute die Grundlage für die Daten Ihres
Haushaltsplans für das Jahr 2004 darstellen.
({2})
Frau Scheel, das, was Sie tun, ist abenteuerlich.
({3})
Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank,
nun legen Sie uns einen Haushalt vor, der, anders als im
letzten Jahr, schon von den Plandaten her Art. 115 unseres Grundgesetzes verletzt, weil die Ausgaben für Investitionen niedriger sind als das bereits in den Daten
angelegte zusätzliche Defizit. Geplant sind Schulden in
Höhe von 30,8 Milliarden Euro, bei Investitionen in
Höhe von 24,8 Milliarden Euro.
Für das Jahr 2004 kommt erneut ein beachtliches zusätzliches Haushaltsrisiko hinzu: Sie werden erneut
Steuerausfälle einbeziehen müssen; Sie werden einen
Zuschuss an die Bundesanstalt für Arbeit leisten müssen,
der um 5 Milliarden höher sein wird, als Sie planen; Sie
werden bei der Arbeitslosenhilfe drauflegen müssen und
Sie werden die Frage beantworten müssen, wie bei der
Rente Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden realisiert
werden sollen.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen eine Kostprobe davon geben, wie diese rot-grüne Bundesregierung arbeitet.
Laut Haushaltsbegleitgesetz wird ein um 2 Milliarden
Euro niedrigerer Zuschuss des Bundes für die Rentenversicherung veranschlagt. Das dafür notwendige Gesetz, mit dem dieser Zuschuss zur Rentenversicherung
um 2 Milliarden Euro reduziert werden soll, liegt uns
noch nicht vor. Trotzdem schreibt die Bundesregierung
in dem angesprochenen Haushaltsbegleitgesetz Folgendes:
Ausgehend von der beabsichtigten Stabilisierung
des Beitragssatzes zur Rentenversicherung in 2004
bei 19,5 v. H. werden die allgemeinen Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung um 2 Milliarden
Euro jährlich reduziert. Einzelmaßnahmen zur Absicherung der Stabilisierung werden später durch
Änderungen des Sozialgesetzbuches umgesetzt.
Die dafür zuständige Ressortministerin, die es gar
nicht für nötig hält, heute Morgen hier anwesend zu
sein, denkt überhaupt nicht daran, Ihnen diese 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen, Herr
Eichel, damit Sie diese 2 Milliarden Euro in den Haushalt einstellen können. - So etwas nennt man unseriöse
Finanzpolitik, Herr Eichel.
({4})
Ganz unabhängig davon, wie Sie den Haushalt beschließen und im nächsten Jahr umsetzen: Sie werden in
jedem Falle das Grundgesetz verletzen. Nun enthält das
Grundgesetz eine Ausnahmebestimmung, die eine solche Überschreitung der Defizitgrenzen erlaubt, und
zwar zur - nicht „bei“! - Abwendung der Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Wie immer machen Sie es sich im Umgang mit Institutionen und
Gesetzen - hier dem Grundgesetz - relativ leicht und
lassen einfach im Kabinett beschließen: Nach 2002 und
2003 wird auch für 2004 die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festgestellt.
({5})
So einfach kann man dies nicht machen; es war auch
vom Grundgesetz nicht so vorgesehen. Denn erstens
müssen die Maßnahmen, die Sie beschließen, zur Abwendung der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts geeignet sein und zweitens muss die
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts an
den Fakten bemessen werden können.
Dazu hat Ihnen der Sachverständigenrat Folgendes
aufgeschrieben, und zwar nicht vor drei oder vier Jahren,
sondern in seinem Gutachten 2002/2003:
Der Sachverständigenrat sieht nicht, wie eine höhere Nettokreditaufnahme geeignet sein könnte,
mögliche Zielverfehlungen in Form eines zu geringen Wachstums oder einer zu hohen strukturellen
Arbeitslosigkeit zu korrigieren. Allenfalls könnte
eine höhere Staatsverschuldung bei einer schweren
Rezession als geeignetes Instrument zur Abwehr einer solchen Störung in Erwägung gezogen werden.
Von einer Rezession kann gegenwärtig aber nicht
gesprochen werden.
Wir haben keine Rezession. Wir haben rezessive Tendenzen. In zwei Quartalen ist das Wachstum unter der
Nulllinie geblieben. Aber eine schwere Rezession ist das
nicht.
Im Übrigen befinden Sie sich in einem fundamentalen
Widerspruch, wenn Sie auf der einen Seite für das
nächste Jahr ein Wachstum von 2 Prozent prognostizieren und auf der anderen Seite im Kabinett beschließen,
die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
feststellen zu lassen. Diesen Widerspruch müssen Sie
auflösen. Das passt nicht zusammen.
({6})
Was nun allerdings aus meiner Sicht noch schwerer
wiegt als dieser rein innerstaatliche Vorgang - den kann
man vielleicht noch unterschiedlich beurteilen -, ist die
massive erneute Verletzung des Maastricht-Vertrages.
Sie haben eben in einer Nebenbemerkung gesagt: Das,
was der spanische Ministerpräsident kann, können wir
auch. Es macht die Sache nicht besser, dass es um jemanden geht, der uns politisch näher steht als Ihnen.
Wenn die Bundesregierung bei den Verhandlungen über
die Agenda 2000 zu Beginn ihrer Amtszeit etwas härter
und klarer verhandelt hätte, dann wäre das, was dort zugunsten Spaniens verabredet worden ist, nicht beschlossen worden. Das wird uns noch sehr lange belasten. Aber
in Wahrheit geht diese Bemerkung über diesen eigentlichen Sachverhalt weit hinaus.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in der letzten Woche,
unbemerkt von großen Teilen der Öffentlichkeit, in der
Beachtung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes eine
Kurskorrektur eingeleitet, indem Sie darauf hingewiesen
haben, dass dieser Vertrag nicht Stabilitätspakt, sondern
Stabilitäts- und Wachstumspakt heißt. Das ist unterschwellig mehrfach gesagt worden, darüber ist keine
größere öffentliche Debatte geführt worden. Tatsächlich
aber verändern Sie mit dem, was Sie gerade machen,
nicht nur den Schwerpunkt innerhalb des europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspaktes, sondern Sie walzen
ihn nieder.
Im Zusammenwirken mit Frankreich und Italien beseitigen Sie dieses Korsett, das wir Deutsche damals mit
besonderem Nachdruck gefordert haben, weil wir
wussten, was es bedeutet, eine stabile Währung haben
zu müssen. Das wird jetzt von Ihnen infrage gestellt.
Das Defizit wird nicht nur bei 3,8 Prozent, sondern bei
mehr als 4 Prozent im laufenden Jahr liegen und damit
überschreiten Sie die Defizitgrenze von 3 Prozent eindeutig.
({7})
- Der Pakt heißt Stabilitäts- und Wachstumspakt.
({8})
- Danke für den Zwischenruf, Herr Müntefering.
Die Möglichkeit eines Defizits von bis zu 3 Prozent
ist eben einer der automatischen Stabilisatoren, die für
eine Zeit schwieriger Haushaltslage und Konjunktur im
Vertrag verankert wurden - in politisch normalen Zeiten
geht der Vertrag von ausgeglichenen Haushalten bzw.
Haushaltsüberschüssen aus -; diese 3 Prozent bedeuten
doch gerade die Möglichkeit, in schwieriger Zeit die
Staatsverschuldung etwas zu erhöhen.
({9})
Sie überschreiten diese Grenze jetzt, was der Vertrag
ausdrücklich nicht zulässt. Im Zusammenwirken mit
Frankreich und Italien wollen Sie ihn in Wahrheit beseitigen, weil Ihnen Währungsstabilität weniger wichtig ist
als das Strohfeuer, das Sie mit dem, was Sie planen, in
der Volkswirtschaft entfachen wollen.
Das ist der Rückfall in die kreditfinanzierten Konjunkturprogramme der 70er-Jahre,
({10})
wie wir sie unter den Regierungen des Bundeskanzlers
Willy Brandt und des Bundeskanzlers Helmut Schmidt
schon einmal hatten.
({11})
An den Lasten der massiven Überschuldung der öffentlichen Haushalte tragen Bund, Länder und Gemeinden 30 Jahre später immer noch. Das ist die Wahrheit.
({12})
Sie, Herr Bundeskanzler, sind dabei, genau die Politik zu wiederholen, die Ihr Vorgänger Helmut Schmidt
einmal mit den Worten charakterisiert hat: „Mir sind
5 Prozent Inflation lieber als 5 Prozent Arbeitslosigkeit.“ Am Ende seiner Regierungszeit hatte er von beidem mehr als 5 Prozent. Auf genau diesen Weg begeben Sie sich. Sie sind nicht mehr in der Lage, die für
unser Land notwendigen Strukturreformen durchzusetzen, weil Sie sich am Anfang völlig vergaloppiert haben und weil Sie plötzlich merken, dass Ihnen die
Volkswirtschaft zwischen den Fingern zerfließt und insbesondere im Export und mit der Abwanderung von
Unternehmen aus Deutschland ein Trend eingesetzt hat,
den Sie mit der Politik, die Sie machen, nicht korrigieren können.
({13})
Das ist die Wahrheit über die Lage unserer Volkswirtschaft: katastrophale Fehleinschätzungen hinsichtlich
Konjunktur, Wachstumserwartungen und Arbeitsmarktentwicklungen!
Herr Eichel, Sie führen so beredt darüber Klage, dass
die Menschen im ersten Arbeitsmarkt nicht mehr genügend arbeiten. Ich will Ihnen sagen: Der wesentliche
Grund dafür ist, dass die Betroffenen, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber und die Verbraucher, das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung im ersten Arbeitsmarkt nicht mehr als angemessen empfinden. Deshalb
weichen sie in die Schattenwirtschaft aus. Das werden Sie mit noch so viel Reglementierung, Bürokratie
und 12 000 zusätzlichen Beamten bei der Bundesanstalt für Arbeit
({14})
niemals korrigieren können, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass sich reguläre Arbeit im ersten Arbeitsmarkt zu
akzeptablen Bedingungen für alle Beteiligten wieder
lohnt. Das ist der entscheidende Zugang zu mehr Wachstum und zu mehr Beschäftigung.
({15})
Ich möchte zum Abschluss sagen: Sie machen es der
Opposition mit der Art und Weise, wie Sie Politik betreiben und diesen Haushalt vorlegen, ziemlich leicht.
Trotzdem macht es ziemlich wenig Freude, sich mit Ihnen auseinander zu setzen, wenn man das hört, was Sie
heute Morgen gesagt haben. Es erfüllt uns mit tiefster
Sorge, was Sie diesem Land in den nächsten zwölf Monaten zuzumuten beabsichtigen. Was diese Bundesregierung anrichtet, wird dazu führen, dass sich die nachfolgenden Generationen
({16})
wünschen werden, dass Sie schon früher zum Teufel gegangen wären, als es ohnehin bald der Fall sein wird.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Kollege Merz! Meine Damen und Herren! Herr
Präsident! Die 3 Prozent im Jahr 2004 können wir einhalten
({0})
- wie Sie selbst wissen -, und zwar dann, wenn Sie Ihren
Kurs der Obstruktion aufgeben und endlich Ihrer staatspolitischen Verantwortung für Bund, Länder und Kommunen gerecht werden.
({1})
Dann können wir wirklich die 3 Prozent im Jahr 2004
einhalten.
({2})
Das hat der Bundesfinanzminister auch heute im Einzelnen dargestellt. Wünschenswert wäre es, wenn Sie sich
bewegen und schon heute - vor der Bayernwahl - Signale geben würden, dass Sie dieser Verantwortung endlich gerecht werden wollen.
({3})
- Das ist doch das magische Datum.
({4})
Heute haben Sie im Übrigen bewiesen, dass ökonomische Zusammenhänge Ihre Sache nicht sind, finanzpolitische ohnehin nicht. Eines muss deutlich gesagt werden:
Bei aller Härte in der Auseinandersetzung hat die Art
und Weise, in der Sie heute den Bundesfinanzminister
auch persönlich angegangen sind, Herr Merz,
({5})
das Maß des Erträglichen und Akzeptablen bei weitem
überstiegen,
({6})
im Übrigen auch wider besseres Wissen. Man muss sich
dabei schon die Frage stellen: Was bilden Sie sich eigentlich ein?
Hans Eichel hat als Bundesfinanzminister seit 1999
Enormes geleistet und tut dies noch immer.
({7})
Das gilt für die Haushaltskonsolidierung, den Umbau
und die Modernisierung des Steuersystems wie auch die
Reform des Bank- und Börsenwesens und der Finanzverwaltung. Dafür gebührt ihm unser aller Respekt,
meine Damen und Herren. Es ist schlicht unfair, die finanziellen Probleme, die sich aus der wirtschaftlichen
Situation - drei Jahre Stagnation - ergeben,
({8})
Hans Eichel anzulasten.
Wenn ich mir dagegen Ihre Bilanz anschaue, Herr
Merz, komme ich zu dem Schluss, dass Sie mit Herrn
Eichel persönliche Probleme haben müssen. Ich kann
mich an kein finanzpolitisches Gesetz erinnern, dem Sie
hier oder im Vermittlungsausschuss Ihren Stempel aufgedrückt haben. Sie sagen immer, was Sie nicht wollen,
aber nie, was Sie wirklich wollen. Konstruktiv waren Sie
nie, Herr Merz.
({9})
Das werden Sie noch lernen müssen. Gefragt sind sachorientierte Problemlösungen, aber außer blumigen Reden haben Sie nichts bewirkt, Herr Merz. Das aber reicht
nicht!
Im Übrigen scheuen Sie nicht davor zurück, zu täuschen. Sie haben Hans Eichel vorgeworfen, dass er für
seine Finanzpolitik 17 Millionen Ostdeutsche in die
Pflicht genommen habe.
({10})
Das ist eine Täuschung, Herr Merz. Herr Eichel hat den
Sachverständigenrat zitiert, der auf die ökonomischen
Konsequenzen der deutschen Einheit hingewiesen hat.
Das ist die Wahrheit. Warum täuschen Sie im Deutschen
Bundestag die Öffentlichkeit?
({11})
Wir haben dem Einigungsvertrag im Deutschen Bundestag mit voller Überzeugung zugestimmt. Wir haben
aber stets auf die ökonomischen und sozialen Konsequenzen hingewiesen. Wir haben auch 1990 - zu einem
Zeitpunkt, als Sie systematisch getäuscht und mit diesen
Mitteln auch die Wahlen gewonnen haben - die Wahrheit gesagt. Das ist die historische Wahrheit über das
Jahr 1990.
({12})
Im Übrigen zählen auch noch andere Tatsachen. Wir
haben tatsächlich in der Koalitionsvereinbarung 1998
die Bildung einer Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen in Aussicht gestellt. Dann aber zogen
Edmund Stoiber und Herr Teufel - andere haben sich ihnen angeschlossen - mit der Forderung, den Finanzausgleich neu zu ordnen, vor das Bundesverfassungsgericht,
Stichwort Solidarpakt II. Das waren die Töne, die auch
in Ostdeutschland für Verstörung gesorgt haben. Erst
nachdem wir diese Neuordnung gemeinschaftlich geschultert hatten, konnten wir uns der anderen Aufgabe
zuwenden, wie jeder wissen müsste, der sich mit Finanzpolitik beschäftigt. Das ist die Wahrheit, meine Damen
und Herren.
({13})
Hinsichtlich der Gemeindefinanzen gilt das, was
Petra Roth am 4. September nach dem Gespräch mit Ihnen, Frau Merkel und anderen festgehalten hat, nämlich
dass Sie über dieses Thema einen Grundsatzstreit führen. Wir setzen uns mit einem Modell auseinander; Sie
hingegen führen einen Grundsatzstreit. Frau Roth hat
völlig zu Recht festgestellt, dass ein Sofortprogramm
niemals das ersetzen kann, was die Kommunen fordern
und was wir ihnen gewähren wollen, nämlich eine umfassende Gemeindefinanzreform zum 1. Januar 2004.
Darum geht es. Davon lenken Sie ab.
({14})
Die Bundesregierung hat am 13. August in mehreren
Gesetzentwürfen ein umfassendes und detailliertes finanz-, arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Maßnahmenbündel beschlossen, das von heute an Stück für Stück im
Bundestag beraten wird. Dieses Konzept bietet wichtige
Lösungsschritte für zentrale aktuelle und strukturelle
Probleme der Gesellschaft und der öffentlichen Finanzen. In einem sehr schwierigen ökonomischen Umfeld,
das der Bundesfinanzminister überhaupt nicht geleugnet
hat, hat Hans Eichel mit dem Haushaltsentwurf und dem
Haushaltsbegleitgesetz 2004 eine schlüssige und alternativlose Konzeption vorgelegt. Von großer Bedeutung
sind insbesondere seine Vorschläge zum nachhaltigen
Umbau der Haushaltsstrukturen.
Was die Opposition angeht, so herrscht leider nach
wie vor ein heilloses Durcheinander; es ist überhaupt
kein Lösungsansatz zu sehen. Auch Herr Merz hat einen
solchen Lösungsansatz nicht geliefert, wie jeder, der zuhören kann, gemerkt haben wird.
({15})
Wo ist denn ein konkretes, ein realistisches, ein einvernehmliches Maßnahmenbündel der Union zur Sicherstellung der dauerhaften finanziellen Handlungsfähigkeit
von Bund, Ländern und Kommunen? Jede Maßnahme,
die wir hier vorschlagen und die helfen könnte, wird von
vornherein abgelehnt. Das ist weder konstruktiv noch
verantwortungsvoll und schon gar nicht zukunftssichernd. Wo ist also die Strategie der Union zur nötigen
schnellen Belebung der Wirtschaft? Was ist aus den
Wahlversprechen der Union geworden, die Steuern stärker und schneller zu senken? Haben Sie all Ihre Wahlversprechen - Programm „3-mal 40 Prozent“ etc. - eingesammelt? Dann erklären Sie doch einmal deutlich,
dass Sie vor der Wahl Versprechungen gemacht haben,
von denen Sie wussten, dass Sie sie niemals würden einhalten können. Das ist die Wahrheit, meine Damen und
Herren.
({16})
Im Bundestagswahlkampf galt Ihnen das Senken von
Steuern noch als ökonomisches Allheilmittel. Da müssten Sie uns jetzt doch ohne Wenn und Aber zustimmen,
wenn die bereits vor Jahren beschlossene Steuerentlastung 2005 um ein Jahr vorgezogen wird.
Seit Jahren redet die Union vom notwendigen Subventionsabbau. Welche Maßnahmen sie aber konkret
damit meint, verschweigt sie bis heute. Auch heute, in
der Rede von Herrn Merz, war wieder kein konkreter
Vorschlag zum Subventionsabbau, nur heiße Luft - das
ist das Programm der Union.
({17})
Immer wenn wir etwas vorschlagen - Hans Eichel hat
das heute Morgen noch einmal unterstrichen -, finden
Sie sofort irgendwelche Gründe, diese Vorschläge abzulehnen. Wann wollen Sie endlich mit dieser Blockade
aufhören? Wird das wirklich nach der Bayernwahl sein?
Bisher, noch im Frühjahr, war es doch so, dass jeglicher
Abbau von steuerlichen Privilegien und steuerlichen
Subventionen von Ihnen gleich als Steuererhöhung diskreditiert und torpediert wurde. Damit haben Sie übrigens - was öffentlich gar nicht so bekannt ist - Maßnahmen für eine größere steuerliche Gerechtigkeit
verhindert, zum Beispiel zur verstärkten Bekämpfung
von Steuerhinterziehung und zur Besteuerung von Veräußerungsgewinnen. Sie, die Union, verhindern mehr
soziale und steuerliche Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Das müssen die Menschen wissen,
auch diejenigen, die Ihnen in den Umfragen zustimmen.
({18})
Die Union ist im Übrigen nicht erst im Bundesrat gefragt, sondern bereits hier im Parlament. Wir brauchen
bereits hier verbindliche Antworten von Ihnen. Frau
Merkel wird diese Antworten morgen sicherlich geben.
Herr Merz war dazu nicht in der Lage. Das war womöglich ein Grund, weshalb er von der Spitze der Fraktion
verschwinden musste: Er war nicht in der Lage, Antworten zu geben. Frau Merkel ist jetzt aber gefordert, diese
Antworten zu geben. Wir warten also gespannt. Wenn
heute keine Antworten kommen, wollen wir morgen
Antworten von dieser Opposition hören. Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, konkrete Antworten zu hören.
({19})
Wir brauchen also eine Oppositionsfraktion im Bundestag, die sich ihrer Verantwortung stellt. Es kann doch
nicht sein, dass sich eine große Volkspartei wie die CDU
in fast allen wichtigen Fragen zu keiner eindeutigen
Meinung durchringen kann oder will, nur weil ihrem regionalen bayerischen Partner, der CSU, Landtagswahlen
wichtiger sind.
({20})
Unsere Vorschläge zu den wichtigen Problemen und
Herausforderungen liegen in detaillierten Gesetzesinitiativen auf dem Tisch. Zum einen geht es dabei um die
Antwort auf strukturelle Probleme. Zum anderen geht es
um die richtige Reaktion auf kurzfristige konjunkturelle
Probleme.
Auch wenn es bei den Strukturreformen der Agenda
2010 erst um mittel- und langfristige Wirkungen geht,
bedeutet das nicht, dass die Umsetzung der StrukturJoachim Poß
reformen noch weiter aufgeschoben werden darf. Verzögerungen bei der Umsetzung der Strukturreformen - von
wem auch immer zu verantworten - werden zu einer
weiteren Verunsicherung der privaten Investoren und
Konsumenten führen und so die konjunkturelle Entwicklung in den nächsten Monaten negativ beeinflussen. Das
ist die Wahrheit.
({21})
Wenn auch Sie die wirtschaftliche Entwicklung zum Guten wenden wollen, dann müssen Sie eine andere Haltung einnehmen, dann müssen Sie die Haltung teilen,
wie sie zunehmend - das ist auch erkennbar - in der
Wirtschaft eingenommen wird. Ihr Weg des Schwarzmalens hat uns zusätzliche Probleme beschert. Ich hoffe,
dass Sie diesen Weg bei den jetzigen Haushaltsberatungen verlassen werden. Es wird höchste Zeit.
Wir haben als Ergänzung zu unserer Haushaltskonsolidierungspolitik und der Agenda 2010 vorgeschlagen,
die für 2005 geplante Steuerentlastungsstufe auf den
1. Januar 2004 vorzuziehen. Nicht das Vorziehen, aber
die Entlastungsstufen hatten wir schon vor Jahren beschlossen. Herr Merz wird sich bestimmt noch gut an die
bemerkenswerte Bundesratssitzung vom 14. Juli 2000
erinnern.
({22})
Durch das Vorziehen der für 2005 geplanten Steuerentlastungsstufe - das ist keine übertriebene Maßnahme - sollen diejenigen Kräfte gestärkt werden, die eine
konjunkturelle Belebung in den nächsten Monaten erwarten lassen. In diesem Zusammenhang werden wir
uns über die Auslegung von Art. 115 des Grundgesetzes
auseinander setzen müssen, also darüber, ob das eine geeignete Maßnahme ist, um die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwenden. Wir sind der
Meinung, dass das eine geeignete Maßnahme ist. Da der
Staat darüber hinausgehend nicht so viel im Köcher hat,
haben wir das vorgeschlagen.
Die Union scheint uns im Grundsatz zuzustimmen.
Bei dem vielstimmigen Chor der Unionssprecher ist es
aber nicht immer einfach zu erkennen - sicher ist es
schon gar nicht -, ob die Union das Vorziehen tatsächlich will. Auch darüber gab es in der bisherigen Debatte
keinen Aufschluss von Herrn Merz. Die Steuerpflichtigen werden jedenfalls durch das Vorziehen bereits im
nächsten Jahr um 22 Milliarden Euro entlastet. Das ist
erheblich mehr als das, was im nächsten Jahr durch das
Konsolidierungspaket aus dem Wirtschaftskreislauf herausgenommen wird. Deshalb wird der stagnierenden
Wirtschaft damit bereits kurzfristig ein starker positiver
Impuls gegeben, der helfen wird, das von uns angestrebte Wirtschaftswachstum von 2 Prozent zu erreichen.
Wir wissen, dass es keine Garantie für mehr Konsum
und Investitionen gibt. Aber das Vorziehen bietet eine
gute Chance auf eine notwendige Stimmungswende und
auf eine tragfähige Wirtschaftsbelebung. Bei ehrlicher
und realistischer Betrachtung hat die Finanzpolitik kurzfristig kein anderes Instrument, das ähnlich gute Erfolgschancen bietet wie das Vorziehen der letzten Steuerentlastungsstufe.
Mit dem Vorziehen bleiben wir in der Kontinuität unserer Steuerpolitik seit 1998/99. Im Mittelpunkt unserer
Steuerpolitik stand und steht die stetige Entlastung vor
allem der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Geringverdiener, der Familien mit Kindern sowie des Mittelstandes. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele für Entlastungen nennen:
({23})
Ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem zu versteuernden Einkommen von 30 000 Euro wird nach geltendem
Recht 2005 im Vergleich zu 1998 bei den Steuern um
2 616 Euro entlastet. 2 616 Euro zusätzlich für die Familie eines Durchschnittsverdieners! Ein verheirateter
Bäckermeister - Mittelstand! - mit einem Gewinn vor
Steuern von 35 000 Euro wird 2005 im Vergleich zu
1998 um 2 202 Euro entlastet. Wenn es nach uns geht,
dann wird es diese Entlastungen durch das Vorziehen
bereits 2004 geben. Blockieren Sie also nicht diesen
Schritt, der für viele Normalverdiener, für Familien mit
Kindern und für den wirtschaftlichen Mittelstand wichtig ist.
({24})
- Herr Kampeter, Sie sind heute Morgen offenkundig
hierhin gesetzt worden, um nicht ganz saubere Bemerkungen zu machen.
Die Menschen jedenfalls werden die Entlastungen
merken. Ihre Blütenträume angesichts der schönen Umfragewerte werden sich schnell verflüchtigen, wenn die
Menschen immer mehr begreifen, dass Sie aus eigensüchtigen, parteipolitischen und taktischen Gründen das,
was jetzt wirtschaftlich notwendig ist, blockieren. Diese
Rolle spielen Sie und das spricht sich immer mehr herum.
({25})
Unsere Bitte lautet deswegen: Sortieren Sie sich jetzt
konzeptionell und personell! Sie sind nämlich nicht aufgestellt. Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Koch, auch
Herr Merz, Sie sollten endlich etwas mehr als den parteiinternen Kampf um Ihre eigenen Karrieren in den Blick
nehmen. Das haben die Bürgerinnen und Bürger schon
verdient.
Auch im kommenden Jahr - das wissen wir - werden
die Nachwirkungen der weltweiten und mehrjährigen
krisenhaften Konjunkturentwicklung sowohl bei den
Steuereinnahmen als auch bei den Sozialausgaben zu
spüren sein. Das gilt für alle öffentlichen Haushalte. Da
alle öffentlichen Haushalte von der dreijährigen Stagnation betroffen sind, bieten die Beschlüsse der Bundesregierung vom 13. August dieses Jahres ganz folgerichtig
an mehreren Stellen Maßnahmen an, die zur fiskalischen Entlastung nicht nur des Bundes, sondern auch der
Länder und der Kommunen führen würden. Herr Eichel
hat diese Maßnahmen benannt.
Wenn Sie also auch den von Ihnen geführten Ländern
und Kommunen etwas Gutes tun wollen, dann verlassen
Sie Ihre bisherige Haltung. Was die Bundesregierung
vorgeschlagen hat, ist auch im Interesse der von Ihnen
geführten Länder und Kommunen.
({26})
Wie im Vermittlungsverfahren zum Steuervergünstigungsabbaugesetz im Mai dieses Jahres zwischen den
Beteiligten parteiübergreifend vereinbart worden ist, soll
der nach wie vor erhebliche steuerliche Gestaltungsspielraum bei der Körperschaftsteuer vermindert und
somit das Körperschaftsteueraufkommen nachhaltig stabilisiert werden. Ich hoffe, dass Sie Ihre Propaganda aus
dem Bundestagswahlkampf 2002 nicht vergessen, wenn
wir im Vermittlungsausschuss demnächst wieder darüber
verhandeln, dass Sie nicht alles wieder vergessen, was
Sie den Menschen erzählt haben, dass Sie wirklich mitmachen, wenn es um die Stabilisierung des Körperschaftsteueraufkommens geht. Bei Ihnen sind Reden und
Handeln nämlich immer zweierlei. Wir werden Sie an
diesem Punkt stellen.
({27})
Zu diesen - erforderlichen - Maßnahmen liegen seit
dem 13. August dieses Jahres ausformulierte Gesetzesänderungen vor.
({28})
- Nein, ausformulierte, gute Texte,
({29})
auch zu den Sondertatbeständen Eigenheimzulage und
Entfernungspauschale. Dazu hat der Bundesfinanzminister hier ausreichend Stellung genommen.
({30})
Wir werden uns in den weiteren parlamentarischen Beratungen im Bundestag und auch im Bundesrat noch eingehend damit beschäftigen. Wir werden uns damit auch
noch koalitionsintern beschäftigen. Dabei gilt eine Zielrichtung, der Sie sich eigentlich anschließen müssten:
Jede Änderung der Regierungsvorschläge muss sicherstellen, dass die beabsichtigten Entlastungen für die
Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen so
weit wie möglich erhalten bleiben.
Ich gehe davon aus, dass sich die unionsgeführten
Länder - jedenfalls die meisten - im Bundesrat diesen
einnahmeverbessernden Maßnahmen nicht mehr verweigern werden, nachdem ihnen ihre eigene Haushaltslage
in den letzten Wochen schmerzhaft deutlich geworden
ist. Da von Etatrisiken die Rede war, will ich hier noch
einmal unterstreichen: Das größte Etatrisiko ist die
Union selbst, und zwar auf allen staatlichen Ebenen,
wenn sie die notwendigen Einnahmeverbesserungen
weiterhin blockiert.
Bei den Ausführungen von Herrn Merz zum Stabilitäts- und Wachstumspakt ist der Eindruck entstanden,
als trüge insbesondere der Bund die Verantwortung für
die Einhaltung der Kriterien. Auch Herr Austermann hat
sich kürzlich in ähnlicher Weise geäußert. Nein, die Einhaltung dieser Obergrenze liegt in der Verantwortung aller: des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Sozialversicherungen. Das Ergebnis wird eben nicht nur
von der Haushaltspolitik des Bundes und von Herrn
Eichel bestimmt.
({31})
Ich erinnere daran, dass die Länder diese Verpflichtung
mit ihrer Zustimmung zum Maastricht-Vertrag ausdrücklich übernommen haben. Also kann diese Verantwortung
nicht in billiger Weise beim Bundesfinanzminister abgeladen werden.
({32})
Es kann nicht sein, dass der europäische Stabilitäts- und
Wachstumspakt von den teilnehmenden Staaten ein „Hineinsparen in die Krise“ verlangt. Darüber sollte eigentlich bei allen Klarheit bestehen. Bei sorgfältigem Lesen
des Maastricht-Vertrages kann man feststellen, dass der
europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt den konjunkturellen Erfordernissen gegenüber alles andere als
blind ist.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schauerte?
Ja, gern.
({0})
- Ich versuche es. Ich gebe die Hoffnung, dass er bei
der Wahrheit bleibt, einfach nicht auf.
Herr Kollege Poß, Sie haben gerade mit Recht auf
eine Mitverantwortung der Länder bei der Einhaltung
des Stabilitätspakts verwiesen. Das ist in Ordnung. Sind
Sie mit mir der Meinung, dass die Hauptverantwortung
dafür dennoch beim Bund liegt? Sind Sie nicht ebenfalls
mit mir der Meinung, dass es besonders erstaunlich ist,
dass sich die sozialdemokratisch regierten Länder in der
Bundesrepublik bei der Überschreitung der für die Neuverschuldung geltenden Höchstgrenze in besonderer
Weise schuldig machen, während das Land Bayern in
dieser Frage sehr gut dasteht und alle Kriterien einhält?
Die bemerkenswertesten Abweichungen der letzten
Jahre sind eindeutig im Fall Hessen festzustellen. Sie
von der CDU/CSU haben in der Zwischenzeit leider das
Saarland sozusagen politisch erobert. Das Saarland und
Bremen waren Sonderfälle. Ansonsten kennen wir Länder mit besonderen Strukturproblemen.
({0})
Das Problem auf die Frage der Parteifarbe zu reduzieren,
wie Sie das wollen, lenkt hier ab. Der größte Sünder der
letzten Jahre, was die Abweichungen angeht,
({1})
ist derjenige, der - so hat er es versprochen - „brutalstmöglich“ sparen will, nämlich Roland Koch. So viel zu
Ihrer Frage.
({2})
Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, dass die
von der Regierung Kohl und insbesondere vom damaligen Bundesfinanzminister Waigel ausgegangene deutsche Initiative zu einem europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt die europäischen Partner zu einem ökonomisch unsinnigen Verhalten zwingen wollte. Ich bin
sicher, dass die europäischen Partnerstaaten zusammen
mit der Europäischen Kommission für eine ökonomisch
und politisch verantwortungsvolle Anwendung des Paktes und der mit ihm verbundenen Vorschriften sorgen
werden, die beidem gerecht wird, dem Stabilitäts- und
dem Wachstumsgedanken.
Von zentraler Bedeutung für das gesellschaftliche Leben und auch für die ökonomische Entwicklung in
Deutschland ist, dass es uns gelingt - davon wurde
schon gesprochen -, den Kommunen eine nachhaltige
finanzielle Perspektive zu geben. Ich will hier noch einmal unterstreichen: Die Kommunen - darüber sind sich
die Kommunalvertreter parteiübergreifend einig - brauchen eine stabile und nachhaltig sichere Einnahmequelle. Ein Sofortprogramm ist kein Ersatz dafür. Bundesregierung und Regierungskoalition wollen, dass die
Kommunen schon im nächsten Jahr erheblich und mit
nachhaltiger Perspektive entlastet werden. Auch dafür
gilt angesichts der Mehrheiten im Bundesrat: Wir können im Sinne der Kommunen nur erfolgreich sein, wenn
die Mehrheit im Bundesrat mitspielt.
({3})
Wenn Sie es mit den Bürgerinnen und Bürgern in den
Städten und Gemeinden gut meinen, meine Damen und
Herren, dann dürfen Sie nicht das machen, was sich hier
andeutet: Sie gönnen der Bundesregierung nicht, einen
politischen Erfolg zu erzielen.
({4})
Sie gönnen uns von der Koalition nicht, dass wir - zum
ersten Mal seit 30 Jahren - eine umfassende Gemeindefinanzreform in Gang setzen. Deshalb wollen Sie hier
blockieren. Das ist verantwortungslos! Das müssen die
Bürgerinnen und Bürger wissen.
({5})
Ich sage das vor dem Hintergrund anstehender Proteste in den Städten und insbesondere hier in Berlin, wo
Einrichtungen geschlossen werden müssen. Wir können
es für die Kommunen richten, wenn sich die Union und
die FDP ihrer Verantwortung entsprechend verhalten.
Bisher ist das nicht gewährleistet.
({6})
In dem Sinne, meine Damen und Herren, wünsche ich
mir noch viel Aufschluss und konstruktive Beiträge von
der Opposition im weiteren Verlauf der Haushaltsdebatte. Ich bin gespannt, ob demnächst jemand aus Ihren
Reihen das, was der Bundesfinanzminister konkret vorgeschlagen hat, konstruktiv aufgreift
({7})
und die Linie verlässt, die Herr Merz hier heute Morgen
wieder angedeutet hat: täuschen, diffamieren, aber jede
konkrete Antwort gegenüber der Wahlbevölkerung verweigern.
({8})
Bevor ich dem Kollegen Rexrodt als nächstem Redner das Wort erteile, möchte ich einen kleinen Hinweis
geben. Mir liegen aus gegebenem Anlass Auszüge aus
dem Wortprotokoll der heutigen Sitzung vor, in denen
sowohl aus den Reihen der Koalition als auch aus den
Reihen der Opposition gelegentlich Zwischenrufe vermerkt sind, die man als persönlich herabsetzend verstehen könnte. Ich will das zu Beginn dieser Debatte mit
dem Energieüberschuss aus der Sommerpause entschuldigen und nicht ausdrücklich rügen, werbe aber dafür,
dass wir im weiteren Verlauf der Haushaltsdebatte die
nötige Schärfe in der Auseinandersetzung mit persönlichem Respekt verbinden. Ich bin sicher, das bekommt
dem Klima der Debatte und schadet der angestrebten
Verdeutlichung der Standpunkte nicht.
Nun hat der Kollege Rexrodt für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie, Herr
Präsident, geben mir ein gutes Stichwort. Herr Kollege
Poß, anstatt über den Haushalt zu sprechen, stellen Sie
sich hier 25 Minuten hin und beschimpfen die Opposition. Nichts anderes haben Sie gemacht. Dann bezeichnen Sie deren Kritik am Desaster Ihrer Finanz- und
Haushaltspolitik als im Maß überzogen. Das Einzige,
was alle Maßstäbe sprengt, ist das Ergebnis Ihrer Finanz- und Haushaltspolitik. Es ist nicht mehr akzeptabel
und ein Desaster, was Sie uns hier als Haushaltsentwurf
2004 vorlegen.
({0})
Es handelt sich nicht mehr nur um ein Zahleninferno,
das einigen wenigen Fachleuten zugänglich ist, sondern
dieses betrifft die Menschen in unserem Land, die immer
häufiger über schlechte Straßen und unpünktliche Züge
klagen; es trifft die jungen Wehrpflichtigen, die nicht
einmal mehr eine Fortbildungsmaßnahme oder einen
Lehrgang bezahlt bekommen; es trifft die Unternehmensgründer und die kulturellen Einrichtungen; es trifft
in besonderer Weise die neuen Länder.
Aus einem Land, das mit der Wiedervereinigung eine
große Herausforderung geschultert hat und nach vorne
orientiert war, ist in wenigen Jahren ein Gemeinwesen
geworden, in dem sich Verzagtheit breit gemacht hat und
dem es an Vertrauen in die Zukunft mangelt.
({1})
Darüber kann sich niemand freuen. Ich bin, Herr Eichel,
sogar bereit, zuzugestehen, dass ich den allenthalben anzutreffenden Pessimismus in seiner überzogenen Form
und die Schwarzmalerei in ihrer überzogenen Form für
nicht berechtigt halte. Wir sind in vielen Bereichen immer noch ein leistungsfähiges Land. Wir sind aber nicht
wegen, sondern trotz der rot-grünen Politik in den letzten fünf Jahren so leistungsfähig. Das ist Fakt.
({2})
Die Art und Weise, wie Sie, Herr Eichel, die Misere erklären, indem Sie nämlich sagen, das Ganze sei mehr
oder weniger das Ergebnis einer schlechten weltwirtschaftlichen Lage und des von der alten Koalition übernommenen Schuldenberges, ist töricht und unverantwortlich. Es muss sich angesichts dessen niemand wundern,
dass der Vertrauensschwund in die Regierung immer
stärker wird. Die schlechte wirtschaftliche Lage in
Deutschland ist hausgemacht: Das Hinterherhinken in
den letzten drei Jahren hinter den USA um durchschnittlich 2 Prozent und um etwa 1,5 bis 2 Prozent hinter dem
Durchschnitt der EU hat zu einer Wachstumslücke in
Deutschland, die in der Summe 70 Milliarden Euro ausmacht, und zu einem Verlust von Arbeitsplätzen in einer
Größenordnung von mindestens 500 000 in diesen drei
Jahren geführt. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({3})
- Den Maßstab, den ich anlege, müssen Sie mir überlassen. Tatsache ist, dass wir bedingt durch den Vereinigungsboom bis 1995 ein überdurchschnittliches Wachstum hatten, dass wir im Jahre 1998 mit 2,7 Prozent
Wachstum wieder an der Spitze in Europa lagen, was
sich in 1999 und 2000 fortsetzte, aber das Wachstum danach so tief wie noch nie zuvor einbrach. So stellen sich
die Fakten dar, Herr Spiller.
({4})
Dabei hat Rot-Grün in den ersten beiden Jahren, den
noch fetteren Jahren, die Haushaltspolitik wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Der Bundeskanzler und Hans
Eichel konnten sich gar nicht einkriegen, als es darum
ging, den Menschen weiszumachen, dass sie gewissermaßen die Erfinder der Konsolidierung und des Sparkurses seien, und es ist so getan worden, als sei das Wort Generationengerechtigkeit von Rot-Grün geradezu erfunden
worden. Dabei waren Sie in den 90er-Jahren nie so fair
- ich erinnere mich noch an die Jahre 1999/2000 -, die
besondere Herausforderung durch die Wiedervereinigung, die zu diesen hohen Schulden geführt hat, anzuerkennen. Heute führen Sie in Ihrer Not ebendieses Argument für die Ergebnisse in Ihrer Regierungszeit an.
Außerdem führen Sie als Argument - das zu drei Vierteln falsch ist - die schlechte weltwirtschaftliche Entwicklung an. Aber Deutschland ist im Weltmaßstab wirtschaftlich erfolgreich, weil die Zahl unserer Exporte
enorm hoch ist. Von den Exporten kommen eher belebende Impulse in unsere Volkswirtschaft. Das ist ein
Faktum. Deshalb kann die weltwirtschaftliche Lage
nicht zur Entschuldigung Ihrer verfehlten Wirtschafts-,
Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik herangezogen werden,
Herr Finanzminister.
({5})
Die Fakten sind sehr bitter für Sie; aber Sie können
sie hier nicht mit verwirrenden Relationen, wie sie vor
allen Dingen Herr Poß verwendet, verschleiern. Im Kern
muss sich Wirtschafts- und Finanzpolitik daran messen
lassen, wie sich das Bruttoinlandsprodukt und der Arbeitsmarkt entwickeln und ob wir am Ende auf Pump
leben oder nicht. Daran müssen Sie sich messen lassen.
Es bedarf nur weniger Bemerkungen, um das traurige
Ergebnis Ihrer Politik zu beschreiben: Das Bruttoinlandsprodukt hinkt hinterher und wird in diesem Jahr
eher schrumpfen als wachsen. Die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit erreicht 2003 mit voraussichtlich
4,4 Millionen Arbeitslosen ihren traurigen Höhepunkt
und eine Besserung ist nicht abzusehen. Die Steuereinnahmen des Bundes sind in einer konjunkturell schwierigen Situation in etwa gleich geblieben; ich werde auf die
Effekte der Steuerpolitik noch eingehen.
Bei den Ausgaben, Herr Eichel, die im Haushaltsentwurf 2004 um etwa 8 Milliarden Euro über denen des
Jahres 1999 liegen, ist es Ihnen nie gelungen, wirklich
einschneidende Veränderungen nach unten vorzunehmen. Der Anteil der Sozialausgaben - Sie haben es
selbst gesagt - ist in dieser Zeit von 40,5 auf 45,4 Prozent gestiegen. Herr Eichel, keiner bestreitet angesichts
Ihrer allgemeinen Zielbeschreibung, dass Sie sparen
wollen. Welcher Finanzminister wollte nicht sparen! Das
hat hier jeder gesagt und das wollte auch jeder. Aber den
Kurs verkünden und am Ende an der richtigen Stelle ankommen, das ist zweierlei. Sie sind ganz woanders angekommen, als Sie vorher verkündet haben.
({6})
Das Ganze musste in dem Desaster enden, das wir
nun haben. Sie veranschlagen 30,8 Milliarden Euro
Neuverschuldung für 2004; aber realistischerweise
werden es zwischen 40 und 50 Milliarden Euro sein. Das
bestreiten Sie nicht einmal mehr. Wer so angetreten war
wie Rot-Grün - und auch Sie, Herr Eichel - und nun so
dasteht, wie die Bilanz es widerspiegelt, der braucht sich
nicht zu wundern, wenn das Land gelähmt ist und nur
noch auf Impulse von außen wartet.
Die Gründe für dieses Desaster liegen in der Tatsache,
dass Sie die notwendigen Reformen, Ihren Ankündigungen zum Trotz, nicht oder nur unzulänglich und immer
verbunden mit einem hohen Maß an Unberechenbarkeit
auf den Weg gebracht haben - Reformen, an denen angesichts der globalen Entwicklung und des demographischen Desasters kein Weg vorbeigeht.
Kernstück der Politik der letzten Legislaturperiode
war die Politik der Bündnisse und der runden Tische.
Diese Politik, die im Grunde darauf zielt, dringend notwendige Entscheidungen durch Konsensrunden zu umgehen, ist total gescheitert.
({7})
Ihre Politik der Bündnisse ist in den letzten vier Jahren
total gescheitert - vier vertane Jahre.
Jetzt ziehen Sie das Tempo an; das gebe ich zu. Aber
dabei sind Sie nicht der Treibende, sondern der Getriebene.
({8})
Sie werden von den Landtagswahlergebnissen der letzten Jahre getrieben. Das ist der Punkt.
({9})
Was Sie veranstalten, ist vielstimmig und kontrovers
und den Bürgern am Ende, selbst wenn es einmal in die
richtige Richtung geht - ich bin bereit, das zuzugeben -,
nicht mehr vermittelbar. Diese Vielstimmigkeit und die
Unfähigkeit, sich auf einen Kurs zu einigen, haben zu
der Vertrauenskrise und der Lähmung geführt. Die Menschen begreifen das nicht mehr.
Das ist keine leere Aussage. Das ist zum Beispiel in
der Steuerpolitik so. Dort hatten Sie zwar mit Steuersenkungen den richtigen Ansatz, haben aber die Großunternehmen über Jahre hinweg sehr viel stärker entlastet als
den Mittelstand.
({10})
Dies hat im Mittelstand zu Ärger, Verdrossenheit und
mangelnden Investitionen geführt.
({11})
Jetzt beginnen Sie das zu korrigieren. Aber es ist zu spät.
Noch dazu haben Sie den aktiven Teil des Mittelstands
und der Menschen mit Ihrer unseligen Ökosteuer überzogen. Sie haben also aus der einen Tasche wieder herausgeholt, was Sie ihnen in der anderen Tasche belassen
hatten.
Darüber hinaus verunsichern Sie die Konsumenten
und die Unternehmen mit der Erhöhung der Tabaksteuer
und dann noch einmal mit der Erhöhung der Tabaksteuer
sowie mit der Versicherungsteuer. Sie stellen sich hin
und sagen, das sei alles nicht so wichtig. Wichtig ist das
schon; denn das verunsichert die Investoren und die
Konsumenten. Das eigentliche Desaster und das eigentliche Übel in diesem Land ist, dass die Menschen kein
Vertrauen mehr in diese Regierung haben.
({12})
Dann haben Sie auch noch gesagt, die höhere Ökosteuer würde zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge führen. Die Rentenversicherungsbeiträge sind gestiegen. Die Krankenversicherungsbeiträge steigen auch.
Das Desaster in der Pflegeversicherung steht uns erst bevor. Wer soll bei einer solchen Politik noch investieren?
Das ist das Übel.
Meine Partei stellt einer solch erratischen Politik ein
klares und berechenbares Konzept bei den Ertragsteuern entgegen
({13})
- das werden Sie nicht bestreiten, Herr Poß; Sie sind ein
sehr dreister Mann, aber so weit können Sie nicht gehen -,
verbunden mit konkreten Schritten zum Subventionsabbau. Wir entwickeln ein System zur sauberen Reform
der Gemeindefinanzen, das auf die systemfremde Gewerbesteuer verzichtet und den Gemeinden mehr Gestaltungsspielräume gibt. Das ist der richtige Ansatz.
({14})
- Das ist nicht Wolkenkuckucksheim. Sie bringen überhaupt nichts auf die Beine. Sie schaffen eine unmoderne
Steuer, die ein Fremdkörper in unserem System ist. Anstatt sie abzuschaffen, wird sie neu ausgestaltet. Das verunsichert die Gewerbetreibenden zusätzlich. Das wird
wiederum Arbeitsplätze vernichten.
({15})
Wir sagen Ja zum Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform, aber nicht auf der Basis von Verschuldung, sondern auf der Basis des Abbaus von Subventionen.
In die Rentenversicherung - Kollege Merz hat das
schon gesagt - fließen mittlerweile mehr als 30 Prozent
unseres Haushalts. Wir warnen davor, die Probleme der
Rentenversicherung durch eine Bürgerversicherung lösen zu wollen. Das begräbt jeden Leistungsanreiz. Das
bestraft diejenigen, die für ihr Alter selbst vorsorgen.
Die Befürworter einer solchen Bürgerversicherung vergessen, dass die Rentenkassen - im Übrigen auch die
Krankenkassen - mit einer solchen Versicherung allenfalls für ein paar wenige Jahre entlastet werden können,
dass die Zahl der Anspruchsberechtigten dann aber steigt
und wir von neuem dasselbe Desaster haben werden.
({16})
Die FDP hat schon vor vielen Jahren eine Umsteuerung auf mehr private Vorsorge gefordert. Was sind wir
damals hier im Hause verteufelt worden. Heute nähern
sich die anderen Parteien unseren Vorstellungen, die wir
seit Jahren haben, unter Schmerzen und unter riesigen
Diskussionen an. Ich will hier gar nicht in Hybris verfallen. Für meine Partei, für die FDP - das ist die Wahrheit -,
sage ich mit Selbstbewusstsein, aber auch mit Stolz: Die
Prinzipien und Leitlinien der Politik, der Sie sich jetzt
unter Schmerzen annähern, sind von unserer Partei seit
langem am klarsten und deutlichsten vertreten worden.
Sie aber haben uns dafür gescholten.
({17})
Das sage ich mit großem Ernst und ohne die parlamentarische Schärfe, die hier manchmal angesagt ist.
Ich warne ausdrücklich davor, dass den Krankenkassen die so genannten versicherungsfremden Leistungen aus dem Bundeshaushalt vorab erstattet werden. Damit wird die Büchse der Pandora mit unglaublichen
Folgen für den Bundeshaushalt, Herr Eichel, geöffnet.
Wenn man damit einmal anfängt, dann nimmt das kein
Ende.
Nun lassen Sie mich beim Haushalt 2004 - Wesentliches hat Herr Merz schon gesagt - noch einmal die Risiken in Erinnerung rufen. Das ist das eigentliche Kernstück. Die Risiken liegen in dem bei 2 Prozent
angesetzten Wachstum. Sie wissen, dass das nicht zu erreichen ist. Die Risiken liegen ferner darin, dass Sie erwarten, aufgrund der Steueramnestie Steuern in Höhe
von 2,1 Milliarden Euro einzunehmen. Dieses Geld wird
nicht zurückfließen; das wissen auch Sie. Andere Risiken liegen darin, dass Sie aufgrund der Bekämpfung der
Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit Mehreinnahmen erwarten. Ich weiß leider nicht, wie Sie das erreichen wollen.
Weitere Risiken liegen in Ihrem Haushaltsbegleitgesetz - die Vielstimmigkeit im Zusammenhang mit der
Eigenheimzulage und mit der Entfernungspauschale
kennen wir alle - und in der Unsicherheit, ob die Arbeitsgruppe Koch/Steinbrück überhaupt etwas Konkretes liefert.
Herr Kollege Rexrodt, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja, ich komme gleich zum Schluss, Herr Präsident. Die Risiken liegen außerdem in den notwendigen Nachbesserungen, die Sie in Bezug auf die Finanzen der Gemeinden leisten müssen.
Am größten aber ist das Risiko bei den Arbeitsmarktausgaben. Bei der Umstellung auf das neue System infolge von Hartz IV müssen Sie 28 Milliarden Euro ausgeben. Rechnet man die 19 Milliarden Euro dagegen, die
das alte System heute kostet, dann ergibt sich ein Risiko
von 8 bis 9 Milliarden Euro.
In der Summe ergibt sich also ein Risiko in Höhe von
40 bis 50 Milliarden Euro. Sie sprechen aber nur von
30,8 Milliarden Euro. Das ist unverantwortlich, Herr
Eichel. Ich sage Ihnen deswegen: So können Sie mit
dem Parlament nicht umgehen.
({0})
Ich habe noch nicht von der 3-Prozent-Hürde von
Maastricht gesprochen, die wir zum dritten Mal reißen.
Sie führen dafür konjunkturelle Gründe an. Die Kriterien
von Maastricht sind vor dem Hintergrund eingeführt
worden, dass Volkswirtschaften damit gescheitert sind,
das Wachstum durch eine höhere Nettoneuverschuldung
zu beschleunigen. Darum hat man eine Grenze von maximal 3 Prozent eingeführt. Viele Länder sind auf diese
Linie eingeschwenkt, Deutschland aber nicht.
Herr Kollege, es hilft alles nichts.
Das ist wahr, Herr Präsident.
({0})
Eine solche Politik funktioniert nur in einer offenen
Volkswirtschaft. Ziehen Sie den Haushalt zurück, Herr
Eichel! Am besten gehen Sie gleich mit.
({1})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte nochmal mit dem Haushalt beginnen. Wenn man
einmal die Kosten durch das Vorziehen der Steuerreform
- wir begleichen sie mit einer höheren Neuverschuldung herausrechnet, dann ist der Haushalt in Bezug auf die Investitionsgrenze, die uns das Grundgesetz vorschreibt,
mit Ach und Krach verfassungsgerecht. Wenn wir uns
das aber nochmal genauer angucken, sehen wir, dass wir
noch 14 Milliarden Euro einsparen müssen, um dieses
Ziel zu erreichen. Viele Punkte sind dabei noch unsicher.
Es ist völlig korrekt - auch wir haben das heute getan -,
dieses zu erwähnen. Kein Mensch hat da irgendetwas
verheimlicht oder beschönigt.
Wir werden noch Entscheidungen zur Rente, weitere
Entscheidungen zum Arbeitsmarkt und auch zum Abbau
der Steuersubventionen treffen müssen. Die entsprechenden Gesetzgebungsverfahren laufen parallel. Auf
der einen Seite schlagen Sie vor, diese Entscheidungen
erst im nächsten oder im übernächsten Jahr zu treffen
- diesen Vorschlag kann ich Ihren merkwürdigen Reden
entnehmen; Sie sind anscheinend der Meinung, das alles
ginge zu schnell -, und auf der anderen Seite argumentieren Sie, dass wir seit Jahren nicht das gemacht haben,
was hätte getan werden müssen. Dazu muss ich sagen:
Ich verstehe Sie nicht; ich bin strategisch ratlos. Ich kann
nicht nachvollziehen, was Sie umtreibt.
({0})
Als Haushälterin bin ich sehr erleichtert, dass wir
nach drei Sparhaushalten, in denen es immer darum
ging, in einem letzten Kraftakt den Beamten sozusagen
das Radiergummi aus den Händen zu winden, zu einem
Strukturumbau kommen, den auch die Haushälter der
rot-grünen Koalition seit langem immer wieder gefordert
haben. Ich bin stolz darauf und wäre dankbar, wenn es
den Haushältern aller Fraktionen gelänge, sich in den
Haushaltsberatungen darauf zu konzentrieren, die strukturellen Defizite endlich abzubauen.
Meine Erfahrung aus circa zehn Jahren Haushaltsberatungen im Bundestag ist, dass in dieser Zeit, also seit
1993, als Herr Waigel das Konsolidierungsprogramm
vorgelegt hat, der Abbau des strukturellen Defizits weder aufseiten des Bundes noch aufseiten der Länder nennenswert vorangekommen ist. In dem, was wir vorlegen,
liegt die Chance, sowohl dem Bund als auch den Bundesländern die Möglichkeit zu geben, ihre Strukturprobleme zu lösen, die sie daran hindern, konjunkturell vernünftig zu reagieren.
({1})
Wenn ich mir die Rede von Herrn Merz vor Augen
führe, dann muss ich ihn fragen: Warum lamentieren Sie
so, Herr Merz? Sie tun so, als ob wir Ihnen etwas weggenommen hätten, weil wir das tun, was Sie schon immer
gefordert haben. Ihre Rede wirkte furchtbar wehleidig.
Ich habe nicht ein einziges Mal gehört, wohin Sie eigentlich wollen.
Mein Wunsch wäre, dass wir in der Lage sind - denn
der Haushalt ist nur ein Instrument, um Dinge deutlich
zu machen und Prozesse zu begleiten -, auch in der
Haushaltsberatung über folgende Fragen zu debattieren:
Wohin wollen wir eigentlich? Wie wollen wir leben?
Wie wollen sich die Deutschen in der Europäischen
Union verhalten? Diese Fragen müssen wir beantworten.
Wir als Koalition haben das Haushaltsbegleitgesetz
vorgelegt. Darin sind eine ganze Reihe von strukturellen
Veränderungen enthalten. Eigentlich ist das seit dem von
mir vorhin zitierten Konsolidierungsprogramm von
Theo Waigel aus dem Jahre 1993 die größte Veränderung der Finanzströme. Wie gesagt, hier findet eine gesamtstaatliche Entlastung statt. Nicht nur der Bund profitiert davon, wenn wir zueinander finden, sondern auch
die Länder. Ich glaube, dass das taktisch aufgehen wird egal ob Frau Merkel gestern vollmundig behauptet hat,
sie werde da eine Blockade oder sonst was betreiben.
Mir kam die Reaktion von Frau Merkel ein bisschen wie
bei Leonid Breschnew vor, von dem der Witz kursierte,
er habe, als der Zug stillstand, die Gardine zugezogen
und vorgetäuscht, der Zug fahre noch.
Die Öffentlichkeit ist weiter als eine ganze Reihe
von Politikern, die auf der rechten Seite des Parlaments
sitzen. Die Öffentlichkeit ist aufgrund der seit Monaten
anhaltenden Debatte gut über die fiskalischen und wirtschaftlichen Probleme, die dieses Land hat, informiert.
Die Öffentlichkeit hat sehr wohl mit Bauernschläue und
gesundem Menschenverstand erkannt, welche Probleme
als Nächstes angepackt werden müssen. Sie will keine
langen Debatten mehr darüber hören, wer 1997, 1995
und 1993 welchen kleinen oder großen Fehler gemacht
hat. Sie will jetzt hören: Was sind die Ansagen für die
Zukunft? Wird das ordentlich durchgezogen? Wird die
Opposition mitmachen oder wird sie nicht mitmachen?
Die Beantwortung dieser Fragen ist in diesem Herbst an
der Reihe.
({2})
Der Haushalt begleitet das als Instrument finanzpolitisch, nicht mehr und nicht weniger.
Ich bin sehr darüber enttäuscht, dass Sie sich in dieser
Debatte einen schlanken Fuß machen und so tun, als ob
die Länder hier keine Aktien hätten. Ich habe mir einmal
herausgesucht - man soll ja in Haushaltsdebatten mit
Zahlen argumentieren -, wie hoch der Anteil der gesamtstaatlichen Schulden, das heißt der des Bundes,
der Länder, der Kommunen und der sozialen Sicherungssysteme, am Bruttoinlandsprodukt ist: 1970, also
zwei Jahrzehnte vor der deutschen Einheit,
({3})
lag er bei 18 Prozent, 1980 bei 31 Prozent und 1990 bei
42 Prozent. Dann kam die deutsche Einheit. 2000 lag er
bei 60 Prozent. Helmut Kohl - dies zum Abschluss der
Vergangenheitsdebatte - war eben nicht Maggie Thatcher
oder Göran Persson. Diejenigen Länder, die wie Schweden oder Finnland Mitte der 90er-Jahre Strukturreformen angepackt haben, weil sie sich nicht selbst überschätzt und gedacht haben, das Wachstum werde ewig
weitergehen, haben inzwischen einen Substanzaufbau
geleistet, während wir unsere Substanz weiter verzehren.
Die gesamtwirtschaftliche Sparquote in Deutschland von 1990 bis 2001 - auch diese Zahl habe ich mir
herausgesucht - ist um 3,5 Prozent gesunken. In Finnland ist sie um 11,5 Prozent und in Schweden um fast
6 Prozent gestiegen. Das heißt - wenn man es in einfaches Deutsch übersetzen möchte -, Deutschland lebt von
seiner Substanz, weil es ihm früher gut ging. Andere
bauen neue Kapazitäten - auch in Richtung des Humankapitals - auf. Der PISA-Schock hat nicht Finnland
ereilt, sondern Deutschland. Nokia hat seinen Sitz in
Finnland und nicht in Deutschland.
({4})
Wo liegt jetzt unsere Zukunft? Wie bekommt man die
Entwicklung in den Griff, ohne eine exorbitante Verschuldung machen zu müssen und ohne eine neue gesellschaftliche Spekulationsblase aufzubauen? Mitte der
90er-Jahre haben viele Privatanleger an den Aktienmärkten erlebt, was es heißt, wenn eine privatwirtschaftliche
Spekulationsblase zusammenbricht. Damals ging der
Wert der Aktien steil bergab; da platzte die Blase der New
Economy. Inzwischen besteht gesamtgesellschaftlich
etwas Ähnliches: Die Überschätzung unserer Wachstumskräfte hat zu einer Art gesellschaftlichen Spekulationsblase geführt, weil wir alle dachten, wir könnten
uns weiter neu verschulden und bekämen irgendwann
ein wunderbares Bruttoinlandsprodukt und wahnsinnige
Zuwächse, sodass wir alles zurückzahlen könnten.
Ich gehe nicht davon aus. Ich gehöre einer Partei an,
die früher als sehr wachstumskritisch galt und inzwischen, wie ich finde, sehr realistische Wachstumspfade
vorschlägt. Aber bei der Gegenseite höre ich eine
Wachstumsgläubigkeit heraus, die nicht gesund sein
kann.
Wenn man jetzt beides hinter sich lässt und sich über
realistische Wachstumspfade, und zwar über Jahre hinweg, unterhält und das Ganze mit den Zielen abgleicht,
die wir insgesamt in der Europäischen Union im Frühjahr 2000 in Lissabon vereinbart haben, als es darum
ging, ganz Europa zu der dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen,
dann ist festzustellen: Wir müssen uns jetzt zügig ranhalten.
Sie können - vielleicht zu Recht - mit Häme anmerken: Dieser Prozess hat bei Rot-Grün eine Weile gedauert.
({5})
Es fördert nicht gerade die Beliebtheit, wenn man keine
Zuwächse mehr verteilen kann, sondern wenn man im
Prinzip ganz intelligent und auch ermutigend den Mangel verwalten muss.
({6})
Diesen aber haben wir alle zusammen über Jahrzehnte
hinweg - jede Partei, jedes Bundesland, jede Kommune
und auch der Bund, egal wer regiert hat - aufgehäuft.
Sie, Herr Rexrodt, waren einmal Wirtschaftsminister. Ich
habe das noch einmal nachgeschlagen: In den 90er-Jahren gab es mehrfach - 1994, 1995 und 1998 - eine Zinseszinsfalle. Ganz so unschuldig, wie Sie gerade getan
haben, sind Sie also nicht, Herr Rexrodt; aber lassen wir
das.
Mir geht es um Folgendes: Wie können wir den Übergang von der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts
in die globalisierte Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts schaffen? Dabei sind die Haushalte die Steuerungsinstrumente. Deswegen sind die Strukturreformen in
diesem Herbst so enorm wichtig.
Seien wir ehrlich: Wenn wir es schaffen, die Bürger in
öffentlichen Debatten davon zu überzeugen, dass die
Strukturreformen - ihnen stimmt nicht jeder in der Koalition mit freudigem Herzen zu, das wissen Sie und ich
ganz genau; Sie haben das mit Schmerzen beschrieben unerlässlich sind, dann sollten auch Sie erkennen, dass
wir die Zukunft gewinnen müssen.
Ich erinnere daran, wie verquer Sie in der Debatte
über die Frage der Zuwanderung und bezüglich der Familienpolitik - beide Bereiche hängen mit unseren demographischen, aber auch unseren wirtschaftlichen Problemen eng zusammen - argumentiert haben. Ich frage:
Wie wollen wir Zukunft moderner gestalten, wenn das
Regelungsgefüge in Deutschland die Zustimmung der
Opposition und der Länder in vielen Bereichen erzwingt,
während diese programmatisch noch den Zeichen der
Zeit hinterherhinken?
({7})
Herr Austermann, Sie haben im April in einer Aktuellen Stunde gesagt - ich habe das herausgesucht -, die
Regierung fabuliere bislang nur über Reformen, es sei
völlig ungewiss, ob sie sich gegen die Widerstände in
den eigenen Reihen durchsetzen könne. Aber immerhin
haben Sie die Agenda 2010 für einen Schritt in die richtige Richtung gehalten.
Im Unterschied zum Frühjahr haben wir aufgrund der
Debatten der letzten Monate eine neue Geschäftsgrundlage. Die Koalition hat sich nämlich durchgerungen. Wir
werden die Reformen umsetzen. Die Gesetzentwürfe liegen auf dem Tisch. Im Haushaltsbegleitgesetz sind sehr
viele Vorschläge enthalten. Jetzt sind Sie am Zug. Wir
haben nämlich den Spieß umgedreht, Herr Austermann.
Auch die CDU/CSU muss jetzt damit anfangen, die Zukunft zu skizzieren, wenn sie unsere Skizzen ablehnen
will. Als Haushälter wissen Sie ganz genau, dass Sie aus
der Debatte nicht herauskommen, wenn Sie nicht Vorschläge vorlegen, die genauso viel Geld erbringen wie
unsere Vorschläge. Wir können uns gern über die eine
oder andere Sache unterhalten, aber in der Summe muss
es stimmen. Das ist Ihnen genauso klar wie allen anderen.
Ich kann Sie nur ermahnen: Dieser Herbst ist nicht
der Herbst der politischen Showeffekte. Jetzt geht es darum, einen neuen Politikstil zu etablieren, der vielleicht
auch mit den Herausforderungen des neuen Jahrhunderts
angemessen verbunden werden kann. Die Gemeinwohlorientierung ist nun einmal wichtiger als das parteipolitische Hickhack.
Wir haben einen Finanzplanungsrat, in dem Herr
Eichel und die Länderfinanzminister Empfehlungen aussprechen können, wenn eine Landesregierung nicht in
der Lage ist, das Defizit zu begrenzen. Eine solche Situation gab es in den letzten zwei Jahren unter Herrn Koch
in Hessen. Herr Koch in Hessen kümmerte sich einen ...
darum.
({8})
Nachdem Herr Stoiber ihn richtig zusammengepfiffen
hat, war Herr Koch ein paar Wochen später der größte
„Sparminator“ des Jahrhunderts. Ich frage mich da natürlich: Machen sie Sachpolitik oder Machtpolitik?
({9})
Herr Carstens, der Vorsitzende unseres Haushaltsausschusses, hat in der Debatte im März gesagt, dass seitens
der Regierung, aber auch seitens der Opposition noch
mehr als bisher auf den Weg gebracht werden müsse. Ich
kann ihm nur beipflichten. Herr Carstens hat 1993 in
sehr verantwortlicher Position gewirkt, er hat 1997 miterlebt, wie Deutschland versucht hat, das MaastrichtKriterium einzuhalten. Er hat 1993 an Waigels Konsolidierungsprogramm mitgearbeitet.
Was stand vor über zehn Jahren im Konsolidierungsprogramm Waigels? Da hieß es: Die zentrale finanzpolitische Aufgabe in der derzeitigen Phase wirtschaftlicher
Rezession ist es, mit erneuten überzeugenden Konsolidierungsschritten die strukturellen Finanzierungsdefizite
des Bundes nachhaltig abzubauen und zugleich auf den
nationalen und internationalen Finanzmärkten keinen
Zweifel aufkommen zu lassen, dass die Bundesrepublik
Deutschland in der Lage ist, die Herausforderungen aus
der deutschen Einheit und der aktuellen Wirtschaftsschwäche mittelfristig zu bewältigen.
Ich denke, zehn Jahre sind ein mittelfristiger Zeitraum. Wir haben die Strukturkrise nicht wirklich bewältigt; deswegen wurden wir von der Konjunktur so stark
in die Knie gedrückt. Ich sagte bereits, dass Länder und
Bund nicht wesentlich mit dem Abbau des strukturellen
Defizits vorangekommen sind. Ein Grund dafür liegt in
der Konjunkturschwäche seit 2001.
Nun liegen relevante Vorschläge auf dem Tisch. In einem Zukunftsentwurf, wie wir, Rot-Grün, uns die Zukunft Deutschlands in der EU vorstellen, heißt es, Altes
so zügig, wie es nur geht, abzuarbeiten - inzwischen haben viele in der Bevölkerung begriffen, worum es geht und Neues anzupacken. Dazu haben wir jede Menge
Vorschläge unterbreitet, zu denen Sie Stellung nehmen
müssen. Es ist nicht so, wie Herr Merz gesagt hat, dass
wir es Ihnen zu leicht machen; vielmehr machen Sie es
sich selbst zu leicht.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dietrich
Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
heute bereits mehrfach darüber gesprochen worden, dass
wir uns seit drei Jahren in einer Phase der Stagnation befinden. Dabei wurde der Eindruck vermittelt, als habe
die Politik, insbesondere die Bundespolitik, zu dieser Situation überhaupt keine Ursache geliefert. Ich denke, das
muss gründlich untersucht werden, um daraus Folgen für
künftiges Verhalten ableiten zu können. Das ist genauso
wichtig bei der Frage, welche Programme man für die
Zukunft entwickeln will. Wenn man sich nicht über die
Ursachen klar wird, wird man die Fehler, die in den letzten vier Jahren gemacht wurden, möglicherweise wiederholen.
Sehen wir uns die Situation einmal an. 1998 gab es
in allen wesentlichen politischen Bereichen einen positiven Trend - ich will die Vergangenheit nicht zu lange
bemühen und aufrollen -: Die Gemeinden hatten damals noch Überschüsse; auf dem Arbeitsmarkt ging die
Arbeitslosigkeit drastisch zurück; wir hatten bei den
Energiepreisen eine positive Situation; die gesamtstaatliche Verschuldung lag etwa bei einem Drittel von dem,
was wir in diesem Jahr zu verzeichnen haben werden.
Im Jahre 1999 gab es einen kräftigen Schluck aus der
Pulle - Lafontaine stand dafür -, man hat die Ausgaben aufgebläht. Heute liegt die Höhe der Ausgaben in
gewaltigem Maße über der Höhe der Ausgaben des Jahres 1998.
Weil man jetzt davon spricht, die Haushaltsstruktur
werde verändert, möchte ich, da auch der Finanzminister
immer mit vielen unleserlichen Zetteln wedelt, eine Grafik zeigen - das ist eigentlich nicht üblich und nicht
meine Art -, die vielleicht deutlich macht, welche Entwicklung wann eingetreten ist.
({0})
Die eine Kurve zeigt die Steuereinnahmen, die andere
Kurve die festen Ausgaben wie Sozial-, Versorgungs-,
Zins- und Personalausgaben. Darin ist kein Cent für Verteidigung, für Familie, für Investitionen oder sonst etwas
enthalten. Ab dem Jahre 2000 ist ein deutlicher Knick
bei den Steuereinnahmen und ein Anstieg bei den sozialen Ausgaben zu sehen. Dieser zeigt, dass Sie eine Haushaltsänderung, eine Richtungsänderung eingeschlagen
haben, die zu einer Aufblähung der konsumtiven, der sozialen Ausgaben führte, und dass immer weniger Ausgaben für das bereitgestellt werden, was in der Zukunft von
den Menschen erwartet wird.
Das haben Sie durch eine regelrechte Orgie an Steuerbelastungen und an Energiekostenbelastungen begleitet,
was natürlich jeden Mut zu Investitionen genommen hat.
Ich kann das am Beispiel Ökosteuer und Energiepreise
deutlich machen: 1998 mussten wir für 1 Liter Sprit
1,50 DM bezahlen, heute müssen wir umgerechnet etwa
2,10 DM bis 2,20 DM bezahlen. Diese 60 Pfennig Differenz treffen jeden Arbeitnehmer, der morgens zur Arbeit
fährt, jeden, der investiert, jeden, der sich als Spediteur
betätigt usw.
({1})
Weil Sie gemerkt haben, dass das für die Arbeitnehmer fatal ist, haben Sie einen Teil davon den Arbeitnehmern als Entfernungspauschale zurückgegeben. Jetzt
fordern Sie uns auf, mit Ihnen zusammen die Entfernungspauschale zu streichen. Was bedeutet das im Ergebnis? Sie kommen mit Konzepten, die eine zusätzliche
Belastung für die Menschen darstellen, die zusätzlichen
Druck auf die Menschen ausüben, und sagen, das könnte
eine positive Perspektive sein, Sie hätten den Haushalt
umstrukturiert. Nein, das ist es nicht. Das wiederholen
Sie auch für das kommende Jahr, so wie wir es bei dem,
was ersichtlich ist, erkennen können. Es sind nämlich
nur Rudimente eines Haushaltes erkennbar. Das ist kein
Haushalt, was vorgelegt worden ist. Ein Schweizer Käse
ist dagegen ein Betonklotz.
({2})
Oder wie andere sagen: Sie legen Rührei vor und wir
sollen nachträglich Spiegelei daraus machen. Das, was
Herr Eichel vorgelegt hat, kann kein Mensch als einen
vernünftigen Ansatz bezeichnen, auf dessen Grundlage
man seriös miteinander diskutieren kann.
({3})
Ich glaube, Sie sollten zunächst einmal die eigene Arbeit
machen.
Das betrifft auch andere Dinge. Frau Kollegin
Hermenau, Sie haben gesagt, ich hätte in der Aktuellen
Stunde gesagt, wir hielten das, was der Bundeskanzler
im März als Agenda 2010 beschrieben habe, für einen
brauchbaren Ansatz. - Das ist richtig. Das haben wir damals, im April, noch so gesehen. Aber mittlerweile ist
aus der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein bürokratisches Monstrum geworden. Jetzt
verlangen Sie den Ländern ab, mal eben 7 Umsatzsteuerprozentpunkte an den Bund abzutreten, um das Ganze
auszugleichen. Man sehe sich auch die anderen Vorschläge an, soweit sie überhaupt vorliegen.
Die so genannte Agenda 2010 - Friedrich Merz sagt
immer, sie reiche gerade bis zum 20.10.; dann müsse etwas Neues vorgelegt werden - ist bis heute nicht als ein
fertiges, schlüssiges Konzept erkennbar, das den Weg
aus der Krise, in der sich unser Land befindet, aufzeigen
kann. Insofern kann man gar nicht Ja sagen. Zu nichts
kann man keine Alternative entwickeln - und das, was
vorgelegt wurde, ist nichts.
({4})
- Ich werde detailliert etwas zu unseren Plänen sagen.
Machen Sie sich darum keine Sorgen!
Ich hätte eigentlich erwartet, dass sich der Bundesfinanzminister heute als Erstes beim deutschen Volk dafür entschuldigt, dass er es über drei Jahre lang durch
falsche Prognosen und falsche Zahlen in die Irre geführt
hat.
({5})
Heute hat er das erste Mal die Wahrheit gesagt ({6})
Nettoneuverschuldung 70 bis 80 Milliarden -, weil es
gar nicht anders geht und weil wir ihm die Zahlen vorhalten. In der letzten Woche klang das noch etwas anders. Vorletzte Woche hat er noch von 3,5 Prozent Defizit gesprochen.
Der „Spiegel“ hat Recht. Er hat am 19. Mai dieses
Jahres getitelt: „Die Stunde der Wahrheit im Land der
Lügen“. Herr Eichel, Sie tragen einen erheblichen Teil
Verantwortung für diesen Titel. Er ist gewissermaßen die
Überschrift für Ihre Finanz- und Haushaltspolitik.
Heute ist die Stunde der Wahrheit. Sie müssen endlich
damit aufhören, die Menschen darüber zu täuschen, was
Sie machen und welche Wirkungen das entfaltet. Ich bin
der Meinung, Sie sollten sich entschuldigen - ich gebe Ihnen gerne die zwei Minuten von meiner Redezeit ab, die
es dafür braucht -: Liebe Landsleute, ich habe das falsch
gemacht. Ich habe euch getäuscht. Ich habe euch belogen.
Sie können auch sagen: Ich habe es nicht besser gewusst und nicht besser gekonnt. - Allein das wäre ein
Anlass dafür, zu sagen: Jetzt ist es an der Zeit, dass er
geht.
({7})
Denn es gibt so viele Sachverständige, die von Monat zu
Monat stärker gewarnt haben. Was wir zu diesem Haushalt gesagt haben, gilt auf Punkt und Komma. Jeder unser Redner hat Ihnen das vorgehalten. Es hat vor einem
Jahr gegolten. Es hat vor der Bundestagswahl gegolten,
als die Menschen mit den Zahlen, die Sie vorgetragen
haben, systematisch belogen worden sind.
({8})
Herr Eichel, Sie haben vorhin gesagt: Wir können es
nicht tun, ohne dass alle etwas merken. - Es mag ja sein,
dass es so ist. Aber wenn alle etwas merken, dann nimmt
man allen etwas weg. Wenn man allen etwas wegnimmt
und gleichzeitig eine Steuersenkung ankündigt, die ein
bisschen ausgleicht, dann kann man sich davon doch
nicht versprechen, dass die Menschen mit großer Freude
und großem Elan vor Weihnachten die Konsumtempel
stürmen. Das täten sie vielleicht, wenn sie mehr Geld in
der Hand hätten und sie sicher wären, dass es im nächsten Jahr bergauf geht.
Nein, Sie verfolgen das gleiche Prinzip wie bisher:
linke Tasche, rechte Tasche. Auf der einen Seite hängen
Sie eine Wurst ins Schaufenster und auf der anderen Seite
stehlen Sie den Menschen den Schinken. Genau so machen Sie es auch mit Ihrer vorgezogenen Steuerreform.
({9})
Es ist an der Zeit, die Dinge so deutlich zu benennen,
wie sie sind.
Jetzt sage ich konkret etwas zu den Haushaltszahlen.
In unserer Verfassung sind die Prinzipien von Haushaltsklarheit, Haushaltswahrheit, Haushaltsvollständigkeit und Wirtschaftlichkeit vorgeschrieben. Es gibt darüber hinaus das Prinzip, dass man nicht mehr Schulden
machen darf, als man an Investitionen tätigt. Das hat einen Sinn: Schulden darfst du nur machen, wenn du wie
ein Häuserbauer dafür einen Wert schaffst.
Herr Eichel, Sie haben für das nächste Jahr eine Neuverschuldung veranschlagt, die 6 Milliarden Euro über
den Investitionsausgaben liegt. Das heißt, Sie verstoßen
gegen die Verfassung. Wir haben mehrfach deutlich gemacht, dass es dafür keine Ausnahmegründe gibt. Sie
verstoßen aber auch gegen die Grundsätze der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit, indem Sie Einnahmen veranschlagen, die mit Sicherheit nicht kommen.
Sie wissen, welche Haltung wir zur Entfernungspauschale und zur Eigenheimzulage haben.
Sie können in Ihrem Haushalt doch nicht davon ausgehen, dass Sie das nötige Geld vom Bundesrat schon
gebilligt bekommen. Sie können das auch an anderen
Beispielen sehen.
({10})
- Herr Poß, auf der Tribüne wurde der Präsident des
Bundesrechnungshofes begrüßt.
({11})
Der Bundesrechnungshof hat in diesem Jahr etwa fünf Berichte vorgelegt, in denen massive Verstöße der Verwaltung gegen die Sparsamkeit und den wirtschaftlichen Umgang mit dem Geld in Deutschland festgestellt wurden.
Herr Poß, der erste Vorschlag wäre,
({12})
dass Sie sich mit uns die Berichte des Rechnungshofes
anschauen. Wiederholen Sie nicht ständig die alten Fehler, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben!
({13})
In dem Haushaltsentwurf ist eine Reihe von Vorschlägen enthalten - ({14})
- Passen Sie auf, ich bin jetzt bei Ihren Vorschlägen. - In
dem Haushaltsentwurf des Finanzministers, den Sie wie
immer abnicken, ist eine Reihe von Vorschlägen enthalten, bei denen noch nicht einmal Ihre eigene Zustimmung sichergestellt ist. Wie soll der Haushalt auf dem
Konzept für die Gemeindefinanzen aufgebaut werden,
wenn dieses Konzept in Ihrer Koalition nicht Konsens
ist? Wie soll durch die Rentenreform, die noch nicht einmal als Gesetzentwurf in den Köpfen vorhanden ist, ein
Nachlass bei den Rentenausgaben um 2 Milliarden Euro
erreicht werden?
Nein, Sie haben mit Ihrem Entwurf einen Haushalt
aufgestellt, der nicht akzeptiert werden kann und der gegen die Verfassung verstößt. Sie werden uns nicht abverlangen können, dass wir sagen, dass auf der Basis dieser
Reform - ({15})
- Herr Poß, Sie brauchen sich hier nicht als Brüllwurst
darzustellen. Das, was Sie vorhin hätten sagen können,
haben Sie nicht gesagt und das, was gemacht werden
muss, haben Sie nicht erkannt.
({16})
Sie müssen nicht versuchen, anderen, die die Dinge so
beschreiben, wie sie tatsächlich sind, ins Wort zu fallen.
({17})
Herr Poß, im Übrigen haben Sie bei der Frage, welches Land die meisten Schulden macht, Unrecht gehabt.
Nicht weil jetzt die Wahlen in Bayern anstehen, sondern
weil es den Fakten entspricht, will ich Ihnen das ganz
konkret sagen.
({18})
Herr Kollege Poß, Sie haben sich vorhin mit einer bewundernswerten Disziplin an Ihre Redezeit gehalten.
Wenn Sie die vorhin nicht vorgetragenen Bemerkungen
während der Reden von Kollegen vortragen wollen,
wäre das nur begrenzt überzeugend.
({0})
Ich glaube, dass man einmal deutlich machen muss,
wie die Situation bezüglich der Verschuldungspolitik in
den einzelnen Bundesländern aussieht. Unsere Haushaltsgruppe war in Bayern - die Grünen waren auch
dort; das hat aber offensichtlich nicht zur Erleuchtung
beigetragen - und hat festgestellt, dass der bayerische
Haushalt eine Verschuldungsquote von 1 Prozent aufweist, während der Bundeshaushalt nicht eine Verschuldungsquote von 2, 3 oder 4, sondern von 16 Prozent aufweist. Es ist also eindeutig falsch, den Bundesländern
vorzuwerfen, sie würden gegen die Maastricht-Kriterien
verstoßen.
({0})
Das gilt im Übrigen auch für das Land Hessen.
Schauen Sie sich bitte einmal Nordrhein-Westfalen
und andere Länder an. Welchem Land musste denn
schon mehrfach bescheinigt werden, dass es gegen die
Verfassung verstößt? Das war Hessen, als Hans Eichel
noch Finanzminister war.
({1})
Darauf muss Koch aufbauen. Jetzt ist es in NordrheinWestfalen so, wo Steinbrück Finanzminister war. Deswegen muss man sagen: Versuchen Sie nicht, von der
tatsächlichen Situation abzulenken.
Meine Damen und Herren, unser Land befindet sich
in der stärksten Finanzkrise der Nachkriegszeit.
({2})
Diese stärkste Finanzkrise der Nachkriegszeit wurde von
Rot-Grün verursacht - ich habe das nachgewiesen - und
sie wird von Rot-Grün nicht beherrscht.
({3})
In den Reihen der Wirtschaft wird diese Finanzkrise so
definiert - dies sagte der Vorstandsvorsitzende der
Linde AG -, dass diese Regierung dabei ist, den Staatsbankrott für die nächste Generation zu organisieren.
Ich will das an Zahlen deutlich machen. Wir hatten in
diesem Jahr - ({4})
- Dass die Leute bei diesem Thema lachen können,
zeigt, dass sie das, was sie den Bürgern in der Zukunft
zumuten, nicht ernst nehmen.
({5})
Auf der Regierungsbank wird bei der Frage gefeixt, ob
diese Regierung dabei ist, den Staatsbankrott für die
nächste Generation zu organisieren, wie es der Vorstandsvorsitzende der Linde AG gesagt hat.
Ich will Ihnen das anhand konkreter Zahlen demonstrieren: Das gesamtstaatliche Defizit gemäß den
Maastricht-Kriterien wird in diesem Jahr 90 Milliarden
Euro, oder, in richtigem Geld ausgedrückt, etwa 180 Milliarden DM betragen.
({6})
- Ein altes Ding? Schauen Sie sich doch an, wie es sich
entwickelt hat. 1998 lagen wir nicht einmal bei einem
Drittel dieses gesamtstaatlichen Defizits. Jetzt liegen wir
- gemessen anhand der Maastricht-Kriterien - bei 90 Milliarden Euro. Dieser Betrag wurde auch mit den Schulden, die allein in diesem Jahr gemacht werden, angehäuft.
Man muss davon ausgehen, dass sich das gesamtstaatliche Defizit - gemessen anhand der MaastrichtKriterien - im nächsten Jahr um 10 Milliarden Euro
erhöhen, das heißt, sich in Richtung 95 bis 100 Milliarden Euro bewegen wird. Sie können feststellen, dass in
den letzten drei Jahren das Defizit jedes Jahr um etwa
10 Milliarden höher war. Die Entwicklung zeigt also
ganz klar in eine dramatische Richtung. Diese Entwicklung können Sie auch nicht dadurch beherrschen, dass
Sie immer mehr Schulden machen, um die Hauptkrise,
nämlich die Zunahme der Arbeitslosigkeit und das Wegbrechen der Steuereinnahmen, aufzufangen. Dies ist mit
zusätzlichen Schulden nicht möglich. Aber dies ist Ihre
Antwort.
Ich sage Ihnen ganz klar: Bei dem, was Sie bisher
vorgelegt haben, diesem Schweizer Haushaltskäse, ist
die finanzielle Basis für das, was Sie Agenda 2010 nennen, eindeutig weggebrochen. Wie unzuverlässig Sie als
Vertrags- und Verhandlungspartner sind, können Sie daran erkennen, dass Herr Eichel noch im Mai dieses Jahres - er hat es wie immer etwas später gemerkt, er ist gewissermaßen die Regierungsschnecke - erklärte: Die
nächste Stufe der Steuerreform vorzuziehen kommt
überhaupt nicht infrage. Diese Forderung ist abwegig.
Schröder hat dies noch am 14. März abgelehnt. - Heute
will man uns dafür beschimpfen, dass wir nicht dabei
helfen, dieses Vorziehen der Steuerreform zu finanzieren.
({7})
Sie haben die Finanzen in die Krise geführt. Sie gehen
mit den Wörtern „Nachhaltigkeit“ und „Reform“ so um,
als hätten Sie sie erfunden. Sie aber haben das Thema
Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik wie keine andere Regierung in Europa vor Ihnen verraten.
({8})
Sie haben die Situation immer weiter verschärft. Diese
Politik hat Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten Jahr für Jahr ein Stückchen ärmer gemacht.
Sie haben den Haushalt nicht saniert, sondern die Defizite immer weiter ansteigen lassen. Dies ist eine falsche
Politik.
Angesichts dieser Entwicklung, die kein einziger Bürger positiv beurteilt - schauen Sie sich doch die Umfragen an -, empfinde ich die Ansage von Schröder und
Fischer, bei der nächsten Wahl wieder anzutreten, geradezu als Drohung. Das muss doch jeder Mensch als besorgniserregend empfinden. Der Kanzler an der Spitze
trägt doch die Verantwortung für die Regierung und der
Finanzminister die Verantwortung für Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik. Beide wollen nach den nächsten
Wahlen weitermachen, nachdem ein Jahr vergangen ist
und sie das Land in die Krise geführt haben. Das kann
doch nicht wahr sein und kann auch nicht akzeptiert werden.
Damit Sie mir nicht hinterher wieder vorwerfen, die
Opposition habe nicht gesagt, was sie will, will ich Ihnen ganz konkrete Vorschläge nennen. Dazu werde ich
die mir verbleibenden vier Minuten nutzen.
({9})
- Herr Schmidt, dafür brauche ich keinen Zettel, dafür
nehme ich die Rückseite. Was auf diesem kleinen Zettel
steht, ist Ihre Politik.
({10})
Unsere Politik ist ganz eindeutig. Dieser Haushaltsentwurf ist unbrauchbar. Sie müssen für das Jahr 2003 einen
Nachtragshaushalt vorlegen. Sie müssen einen Kassensturz machen.
({11})
- Es gehört doch mit dazu, dass ich auf der Basis der Realität Haushaltspolitik mache und in diesem Jahr mit
dem Sparen anfange. Ein Kassensturz muss gemacht,
eine Haushaltssperre verhängt und ein Nachtragshaushalt vorgelegt werden. Das ist der erste Vorschlag.
Merken Sie es sich.
({12})
- Natürlich ist das ein Vorschlag. Herr Eichel lehnt ihn
aber ab. Schon im Mai hätte er eine Haushaltssperre verhängen können. Damit hätte man viele Milliarden gespart.
Unser zweiter Vorschlag ist: Sie müssen erst einmal
mit dem Sparen anfangen.
({13})
- Wieso „heiße Luft“? Mit diesen Vorschlägen können
Sie mindestens 4 Milliarden Euro im Verwaltungsvollzug sparen.
({14})
Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass in der Verwaltung bisher die Rückseite von Blättern beschrieben
und Bleistifte angespitzt werden. Die Regierung nimmt
bei der Öffentlichkeitsarbeit sogar noch einen kräftigen
Schluck aus der Pulle. Die Ausgaben hierfür werden im
nächsten Jahr steigen. Das Motto lautet wohl: Je
schlechter die Regierung, umso mehr muss für Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben werden. Dort können Sie zig
Millionen sparen.
({15})
Sie können auch dadurch sparen, dass Sie eine verlässliche Politik machen und mit der Bekämpfung des
Umsatzsteuerbetruges endlich anfangen. Das, was der
Rechnungshof vor etwa 14 Tagen festgestellt hat, Herr
Eichel, ist den Eingeweihten, den Mitarbeitern in Ihrem
Hause seit langem bekannt. Ich meine diese Karussellgeschäfte in Form von Verschieben der Vorsteuern. Wir haben hier seit langem Änderungen gefordert. Die Länderfinanzminister sprechen bei der Bekämpfung dieses
Umsatzsteuerbetrugs von einem Einsparpotenzial - Herr
Poß, hören Sie gut zu - von 20 Milliarden Euro. An
diese Sache muss man allerdings herangehen. Es reicht
nicht, nur ein paar kleinere Korrekturen vorzunehmen.
({16})
- Nein, dazu liegt doch von Ihnen gar kein Vorschlag
vor. Die Regel im Parlament ist: Die Regierung macht
Vorschläge und die Opposition macht die Alternativen
deutlich.
({17})
Aber wenn nichts auf dem Tisch liegt, können wir keine
Alternative entwickeln.
Sie müssen ganz konkret die Entscheidung treffen,
dass Sie nicht - ich habe das anhand der Grafik gezeigt ständig die Sozialausgaben ausweiten. Mit Ihrem Konzept zum Arbeitslosengeld II werden zunächst einmal
800 000 bis 1 Million Sozialhilfeempfänger Arbeitslosengeld II beziehen. Das heißt, sie bekommen eine höhere Leistung. Anstatt das Lohnabstandsgebot zu beachten, schöpfen Sie auch hier aus der falschen Quelle.
Wir sind der Meinung, dass man bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die in einer Weise ausgeufert ist, die
bisher nicht bekannt war, ansetzen sollte. Wir sind der
Meinung, dass man durchaus noch entschieden privatisieren kann. Wir sind der Meinung, dass man eine richtige Steuerreform machen sollte.
Wenn Sie einen verfassungsgemäßen Haushalt vorlegen, wenn im Ergebnis nicht eine Mehrbelastung der
Bürger, sondern eine Entlastung herauskommt, und
wenn die Entlastung nicht nur für ein Jahr, sondern auf
Dauer gilt, dann machen wir die vorgezogene Steuersenkung mit. Aber ich vermute, dass es dazu nicht kommen wird. Dann werden wir als Alternative unser Steuerkonzept vorlegen.
({18})
Das bedeutet: Abschaffung der Ausnahmen und Senkung der Tarife, was einen gewaltigen Impuls für die Arbeit ergeben wird.
({19})
Für solch stümperhafte Steuerkonzepte, wie Sie sie
haben, werden wir keine Vorschläge machen.
Das entscheidende Thema im Zusammenhang mit
der Finanz- und Haushaltspolitik, dem wirtschaftlichen
Wachstum und dem Arbeitsmarkt ist Folgendes: Es gibt
zurzeit kein Vertrauen der Bürger in diesem Land in
eine verlässliche Regierungsarbeit.
({20})
Jeder von uns stellt bei seinen Besuchen in Betrieben
fest, dass der eine oder andere jetzt eigentlich investieren
müsste und investieren könnte. Die Unternehmer sagen
uns aber alle übereinstimmend: Solange so gewurstelt
wird und solange ich nicht weiß, welches Gesetz, das
vielleicht noch heute gilt, aber morgen eine Veränderung
erfährt, mich trifft, investiere ich nicht. Solange für die
Menschen kein klarer Regierungskurs erkennbar ist, der
zurzeit nicht da ist - das Schädlichste an der gegenwärtigen Situation ist der Missbrauch des Vertrauens der Bevölkerung -, konsumieren sie nicht, sondern sie halten
das Geld zurück. Wir haben zurzeit die höchste Sparquote aller Zeiten.
({21})
Unter dieser Regierung und diesen Rahmenbedingungen
konsumieren die Leute nicht.
Deshalb ist unsere wichtigste Forderung: Betreiben Sie
eine verlässliche und vertrauenswürdige Politik. Dann
bekommen Sie auch mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätze. Dann bekommen Sie auch unsere Zustimmung.
({22})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Schöler,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
waren also die „knallharten Sparvorschläge“, mit denen
die Union jetzt aus der Deckung kommen wollte. Das ist
der Originalton vom Kollegen Dietrich Austermann in
der „Welt am Sonntag“ vom 31. August.
({0})
Ich war im Übrigen noch hoffnungsvoll, als ich zu unserer Klausur fuhr, dass Sie sich nicht wie in den letzten
Jahren verweigern, sondern wirklich mit eigenen Vorschlägen aufwarten werden. Aber als ich dann nach Ihrer
Klausur Ihre Presseverlautbarung am 5. September las
- viel Text, wenig Inhalt -, da zerbarst Ihre Ankündigung als Fata Morgana, weil sie nur aus heißer Luft bestand, wie Ihre Rede gerade auch, in der Sie überhaupt
keinen Vorschlag gebracht haben.
({1})
Ich habe die Befürchtung, auch nach dieser Rede wird
der Ruf in das Schattenkabinett Ihres Kollegen Peter
Harry Carstensen aus Schleswig-Holstein problematisch
sein. Kollege Austermann wird uns sicherlich noch bis
zum Ende dieser Legislaturperiode erhalten bleiben. Wir
werden damit leben können.
({2})
Die sich nun in das dritte Jahr hinziehende Stagnation belastet alle öffentlichen Haushalte auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite mit noch nicht erlebter
Wucht. Um die Größenordnung des Problems einmal zu
verdeutlichen: Das Bruttoinlandsprodukt liegt um 80 bis
100 Milliarden Euro niedriger, als wenn wir ein mittelfristiges durchschnittliches Wachstum von jährlich
1,5 Prozent gehabt hätten. Die dadurch klaffende Lücke
ist, abgesehen von den Kosten der Wiedervereinigung,
die größte Herausforderung, vor der die Finanzpolitik je
gestanden hat. Dieser Herausforderung wollen wir uns
mit dem Bundeshaushalt 2004 und dem Gesamtpaket der
Reformgesetze der Agenda 2010 annehmen und wir
wollen dieses Problem meistern.
({3})
Der Bundeshaushalt ist Teil eines Modernisierungsprogramms, das auf die Förderung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung zielt, ein Dreiklang, wie es
der Finanzminister hier darstellte, von Strukturreformen,
Haushaltskonsolidierung - ({4})
- Sorg du einmal dafür, dass der Eurofighter so ausgestattet wird, dass wir ihn auch einsetzen können, wenn
der Ernstfall eintreten sollte! Ich habe in diesem Zusammenhang große Befürchtungen. Das ist auch ein Finanzproblem, das ihr uns in den Jahren, in denen ihr regiert
habt, ins Nest gelegt habt. Davon wollt ihr heute nichts
mehr wissen.
({5})
Kerngedanke des von der Bundesregierung vorgelegten Pakets ist es, die von Hans Eichel vor vier Jahren begonnene Konsolidierung der Staatsfinanzen mit einer
Stärkung von Wachstum und Beschäftigung zu verbinden.
({6})
Die Stärkung von Wachstum und Beschäftigung muss
wieder mehr Menschen in Lohn und Brot bringen.
Wir sind die Probleme angegangen. Wenn sich jemand
entschuldigen müsste, wie es der Kollege Austermann
eben verlangt hat, dann müssten das diejenigen aus der
schwarz-gelben Regierungszeit sein, die uns 1998 ein
Desaster hinterlassen haben.
({7})
Das Angehen der Probleme, die vor uns liegen, ist mit
schmerzhaften Einschnitten verbunden. Das wissen wir
alle. Es funktioniert auch nicht wie in einer chemischen
Reinigung nach dem Motto „Heute gebracht, morgen gemacht“. Wir wissen doch alle, dass die Wirkung von
Reformgesetzen - ob Hartz I, II, III oder IV - ihre Zeit
braucht. Das beweisen auch Entwicklungen in anderen
europäischen Staaten, über die heute schon gesprochen
worden ist und die seinerzeit, als die damalige Regierung versagt hat, rechtzeitig ihre Reformen begonnen
haben. Das hat in manchen Fällen einige Jahre gebraucht.
Ich weiß, dass in Deutschland eine große Ungeduld
herrscht. Das ist auch verständlich. Aber dass Sie Maßnahmen schon zerreden, bevor sie in das Gesetzblatt
kommen und Wirkung entfalten können, ist nicht in Ordnung. Das aber ist Ihre Politik: Sie schaffen Verwirrung.
Sie schaffen kein Vertrauen; Sie wollen vielmehr Misstrauen schüren. Das ist Ihr kurzsichtiges Ziel.
({8})
Wir können mit der Konsolidierung nicht warten, bis
wir wieder ein ordentliches Wachstum erreicht haben.
Im Jahr 2003 wird - das ist bereits dargestellt worden die Neuverschuldung des Bundes durch die konjunkturell bedingten Steuermindereinnahmen wie auch durch
Mehrbelastungen am Arbeitsmarkt mit einem Nachtragshaushalt, den wir im Dezember beraten und sicherlich auch verabschieden werden, auf rund 38 Milliarden
Euro steigen. Dieses Niveau verlassen wir mit dem
Haushalt 2004 schleunigst wieder.
Was die Konsolidierung angeht, erfüllen wir den Verfassungsgrundsatz aus Art. 115 Grundgesetz - zu dem
heute die seltsamsten Interpretationen aus den Reihen
der Union vorgetragen worden sind - und zugleich auch
das Maastricht-Kriterium. Daran führt kein Weg vorbei.
Wir sichern die Handlungsfähigkeit des Staates über den
Tag hinaus.
({9})
Sehr interessant ist - man höre und staune -, dass es
dafür auch einen neuen Kronzeugen gibt, nämlich den
hessischen Ministerpräsidenten Koch. In den vergangenen Jahren ist er sehr exzessiv in die Verschuldung geWalter Schöler
gangen und hat nun dafür seine Quittung bekommen. Er
ist von den Ratingagenturen heruntergestuft worden; das
Triple A ist futsch. Das hat ihm wohl einen gehörigen
Schrecken eingejagt. Denn der Verlust der Bonität ist
eine äußerst schlechte Empfehlung für einen Kanzlerkandidaten in spe. Nun reiße er das Ruder herum, behauptet er: Er will brutalstmöglich sparen. Der brutalstmögliche Aufklärer mutiert jetzt zum brutalstmöglichen
Sparer. Festzuhalten ist in jedem Fall: Hessen hat mit
Koch sein Triple A verloren. Die Bonität des Bundes
steht hingegen außer Frage. Der Bund mit Finanzminister Eichel hat sein Triple A.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die Regierungskoalition im Bund betreibt seit
Jahren Konsolidierung mit Nachdruck, aber auch mit
Augenmaß. Indikator dafür ist die Entwicklung bei den
Ausgaben; denn die bereinigten Ausgaben liegen im
Entwurf 2004 rund 8,6 Milliarden Euro oder 4 Prozent
niedriger als 1998, dem letzten Jahr von Schwarz-Gelb.
Das Bruttoinlandsprodukt ist hingegen im gleichen
Zeitraum um 15 Prozent gewachsen.
Der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt betrug 1998 unter Kohl und Waigel noch 12,2 Prozent. Wir haben ihn über die Jahre bis zu dem Entwurf
2004 auf 9,8 Prozent zurückgeführt. Das heißt, wir haben auf der Ausgabenseite schon gewaltig konsolidiert.
Insofern ist unser Konzept, das sich auf dem schmalen Grat zwischen dem Konsolidierungserfordernis und
der unstreitig existierenden Gefahr kontraktiver Effekte
bewegt, ausgewogen. Aber das Konzept entlastet den
Bund schon 2004 mit rund 14 Milliarden Euro. Es entlastet aber auch - das ist genauso wichtig - die Länder
und Gemeinden 2004 um 9,1 Milliarden Euro, ansteigend auf 11,6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2007.
Mit dem Haushaltsstabilisierungskonzept wird der
Zuwachs der Sozialausgaben gebremst und es werden
Subventionen abgebaut. Glauben Sie mir, wir bemühen
uns, die notwendigen Belastungen sozial gerecht auf
viele Schultern zu verteilen. Das fällt uns auch nicht
leicht; wir machen das schweren Herzens. Das Erfordernis einer Konsolidierung ließ uns aber keine andere
Wahl. Dazu gehören auch die hier schon erwähnten
4 Milliarden Euro im Bereich des Arbeitsmarktes und
die 2 Milliarden Euro jährlich als Zuschuss an die Rentenkassen. Kürzungen beim Weihnachtsgeld und Streichungen beim Urlaubsgeld für Beamte, Richter und
Soldaten gehören ebenso dazu wie der Abbau von Subventionen in dreistelliger Millionenhöhe. Wir bitten alle
Gruppen, die davon betroffen sind und die ihren Anteil
- gerecht verteilt - erbringen müssen, dafür um Verständnis, dass wir handeln müssen.
Auf der Einnahmenseite werden Steuervergünstigungen abgebaut oder gekürzt - ich nenne noch einmal die
Eigenheimzulage und die Entfernungspauschale.
Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit werden verstärkt bekämpft. Das sind doch Handlungsfelder, die die
Oppositionsfraktionen während ihrer Regierungszeit
über Jahre sträflich vernachlässigt haben. Wir ändern das
jetzt mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit, der
von der Regierung in Kürze hier vorgelegt wird.
Der Bundesrechnungshof - sein Präsident ist hier anwesend - ist erwähnt worden. Er hat für den Bereich der
Umsatzsteuer dargelegt, dass durch wirksame administrative und auch gesetzliche Maßnahmen zur Verhinderung der Steuerhinterziehung und des Umsatzsteuerbetruges hohe Mehreinnahmen für Bund, Länder und
Kommunen erwirkt werden können. Dazu erwarten wir
die Vorschläge für den weiteren Abbau von Steuervergünstigungen und Subventionen auf der Basis der Ankündigung der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück.
Wir sind hier zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Es geht aber nicht, dass Sie, wie in der Vergangenheit, einfach Ihre Mitarbeit verweigern.
({10})
Die Reden von Herrn Merz und auch vom Kollegen
Austermann soeben haben gezeigt, dass überhaupt keine
Vorschläge gekommen sind. Das ist nichts anderes als
die Verweigerung einer Mitarbeit durch die Opposition.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die Konsolidierung durch schon umgesetzte Gesetze, aber auch
durch ein Paket von Maßnahmen, das in den nächsten
Wochen vor Verabschiedung des Haushaltes beraten und
die zweite und dritte Lesung hier im Parlament erreichen
wird, begleiten. Die Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte ist nur durch Strukturreformen zu schaffen.
Ich nenne hier die moderne Arbeitsmarktverfassung, die
wir vorgesehen haben. Auch die Gesundheitsreform, auf
die wir uns verständigt haben und die heute einvernehmlich - zumindest was die Koalitions- und die Unionsfraktionen betrifft - eingebracht wird, gehört dazu.
Ich will noch auf Folgendes hinweisen. Ich bin davon
überzeugt: Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, in
Zukunft weiter das von manchen Sozialpolitikern angestrebte Ziel einer verstärkten Steuerfinanzierung der
Systeme der sozialen Sicherung auf Kiel zu legen. Es
geht nicht so weiter. Wir werden auf Dauer - das zeigt
sich bei den Renten - von diesem hohen Zuschuss
herunterkommen müssen.
({12})
Wir können deshalb aus keinem Grunde auch noch andere Systeme, zum Beispiel gerade das System der
Krankenversicherung, auf Dauer durch Schulden, geschweige denn durch Staatsschulden finanzieren.
({13})
Auch da sind Sie aufgefordert, mitzuarbeiten. - Gut,
Bartl, machen wir das. Wir werden ja die Debatte erleben.
Wir brauchen also keine Finanzierung aus Schulden.
Wir brauchen keine Verlagerung der Finanzprobleme in
unsolide Lösungen. Wir brauchen eine umfassende Konsolidierung der Sozialversicherungssysteme. Daran arbeiten wir.
({14})
Das gilt auch für die Vorschläge zur weiteren Reform in
der Rentenversicherung im Sinne der Generationengerechtigkeit, die gewährleistet sein muss.
Sie sehen also, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir haben ein Konsolidierungskonzept. Die Opposition hingegen steht völlig blank da.
({15})
Außer leeren Ankündigungen - wir haben es eben wieder erlebt - ist nichts zu bieten. Herr Austermann wollte
bis zu 4 Milliarden Euro einsparen. Das sollte dann ein
knallharter Vorschlag sein. Der Vorschlag ist nicht gekommen, es war heute nichts davon zu hören.
({16})
Wir hingegen haben ein Paket von 14 Milliarden Euro in
den Haushalt eingearbeitet. 14 bei uns, 4 bei Ihnen - das
ist ein ganz eindeutiges Ergebnis.
({17})
Das ist die Wahrheit, von der der Kollege Austermann
eben gesprochen hat.
({18})
Sie fordern gleichzeitig, die Neuverschuldung zu
senken. Wie soll das denn zusammenpassen? Bei Ihnen
wäre eine Neuverschuldung doch - nach Adam Riese eine um 10 Milliarden Euro höhere Zusatzverschuldung.
Damit lägen wir dann schon beim Basishaushalt - ohne
das Vorziehen der Steuerreform, das wir beschließen über der Verfassungsgrenze.
({19})
Ohne das Vorziehen der letzten Steuerentlastungsstufe
läge die Neuverschuldung im Haushalt 2004 unterhalb
der Verfassungsgrenze. Aber Sie, die Sie schon unter
Kohl und Waigel in sehr fahrlässiger Weise auf Pump
gelebt und den Staat aus den Sozialkassen finanziert haben, wollen jetzt das Schuldengebirge erhöhen, das Sie
seinerzeit aufgebaut haben. Eine solch unsolide Politik
machen wir nicht mit.
({20})
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie
sind unsolide und wir konsolidieren.
({21})
Im laufenden Haushalt 2003 wird die Neuverschuldung das Volumen der Investitionsausgaben wegen des
Vorziehens der dritten Stufe der Steuerreform deutlich
übersteigen. Das ist verfassungsgemäß, da das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht angesichts eines viel zu
geringen Wachstums bzw. von Stagnation sowie angesichts einer viel zu hohen Arbeitslosigkeit ganz offensichtlich gestört ist. Das bekämpfen wir mit unseren
Maßnahmen, unter anderem durch das Schaffen von Investitionsanreizen und das Vorziehen der dritten Stufe
der Steuerreform. Art. 115 des Grundgesetzes wird also
von uns auch 2004 eingehalten.
Auch die Grundregel das Maastricht-Defizitkriteriums wird von uns eingehalten. Wir arbeiten hart daran,
dass die diesjährige Überschreitung - 3,8 Prozent wurden nach Brüssel gemeldet - im nächsten Jahr abgebaut
wird. Wir wollen das nicht noch einmal erleben. Das tut
uns selber weh. Dieser Wert muss zurückgeführt werden.
Die Maastricht-Kriterien sind sicherlich kein Fetisch.
Aber aus Sicht eines Haushälters muss ich sagen, dass
sie für uns nicht zur Disposition stehen, und zwar auch
dann nicht, wenn wir Hauptzahler in der EU sind und als
einziger Staat in Europa zusätzlich die Lasten der deutschen Einheit zu finanzieren haben. Diese wollen wir gar
nicht erst herausrechnen. Wir wollen uns auch in Zukunft an die Vereinbarungen halten.
({22})
Die Überschreitung der Defizitgrenze im Jahr 2003
hat konjunkturelle Effekte, die nicht kompensierbar sind,
wollten wir die Konjunktur nicht vollends abwürgen.
Aber das wollen Sie offensichtlich tun. Wir können das
Defizit nur durch die von uns geplanten Strukturreformen zurückführen. Brüssel hat uns ausdrücklich bestätigt, dass wir hier den richtigen Weg beschreiten. Deshalb wird von dort letztlich keine Rechnung kommen,
das heißt, es droht kein Ungemach in Form von Strafzahlungen.
Wir sind beim Bundeshaushalt 2004 von der knappen
Defizitgrenze von 3 Prozent ausgegangen. Wir halten
dieses Ziel nach wie vor für erreichbar, auch wenn sich
in den letzten Tagen - das gilt ebenfalls für die heutige
Debatte - mehr oder weniger ausgewiesene Sachverständige mit höheren Schätzungen geradezu überboten haben. Kollege Austermann spricht inzwischen von über 4
Prozent. Das ist zumindest seiner Presseerklärung zu
entnehmen. Aber wir wissen ja, was wir von den Prognosen des Kollegen Austermann zu halten haben. Sie
waren in der Vergangenheit falsch und werden es auch in
Zukunft sein.
({23})
Ich meine, dass es durchaus Grund für Optimismus
gibt. Die Konjunktursignale stehen zwar noch nicht auf
Grün, können aber bald von Gelb auf Grün umspringen.
Die binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind
für den weiteren Konjunkturverlauf günstig. Finanzminister Eichel hat dies eben in seiner Rede noch einmal
sehr eingehend nachgewiesen.
Entscheidend wird aber neben der weltwirtschaftlichen Entwicklung sein, Bürgern und Unternehmern Vertrauen in die zukünftige Entwicklung zu geben. Das, was
Sie heute gesagt haben, bewirkt das genaue Gegenteil.
Sie schüren Misstrauen. Wir alle brauchen aber Vertrauen. Sie sollten nicht so tun, als ob die Opposition
nicht genauso auf das Vertrauen der Bevölkerung in
die Parteien angewiesen wäre wie wir in der Regierung.
Das ist nun einmal unabdingbar. Wir haben noch ein
ganzes Paket an Lasten zu tragen, bis wir das Vertrauen
der Bevölkerung wiederhergestellt haben. Wir wollen es
durch unsere Politik und auch mit dem Haushalt 2004
fördern. Wir werden das in den Beratungen über die Einzelpläne - dafür haben wir bis Mitte November noch einige Wochen Zeit - hinreichend belegen. Das Vertrauen
der Menschen in die Zukunft - davon bin ich fest überzeugt - wird sich mit der Realisierung unserer Reformpolitik wieder festigen. Wenn Vertrauen vorhanden ist,
wird die aufgestaute Nachfrage sehr schnell wirksam
werden. Sie können davon ausgehen, dass die Binnenkonjunktur anspringen wird. Dafür werden unsere Modernisierungspolitik und insbesondere unsere Reformen
Impulse geben.
Die Opposition behauptet, der Bundeshaushalt 2004
enthalte Risiken. Sie versteigt sich dabei in abenteuerliche Größenordnungen.
({24})
Herr Austermann konnte noch nie rechnen; er hat mit
seiner Schwarzmalerei immer völlig danebengelegen.
({25})
Kollege Austermann, immer wenn Sie sich korrigieren
mussten - das war beim letzten und auch beim vorletzten
Haushalt so -, dann war das Ihre Stunde der Wahrheit.
Richtig ist aber natürlich - das wollen wir gar nicht
verschweigen; so ist das nun einmal -: Es gibt Risiken.
Es gibt in diesem Lande keinen Propheten, der Konjunkturentwicklungen zuverlässig voraussagen kann. Leider
haben auch wir noch keine Methode für zuverlässige Voraussagen erfunden. Deshalb muss immer wieder nachgesteuert werden.
Das war auch zu Zeiten Ihrer Regierung nicht anders;
auch da ist nachgesteuert worden. Ich erinnere mich an
die von Ihnen immer wieder beschriebene goldene Zeit
der 80er-Jahre unter Stoltenberg, als Steuern gesenkt
worden sind. Aber um welchen Preis? Der Preis war eine
absolute Erhöhung der Staatsverschuldung, und zwar zu
einem Zeitpunkt, als überhaupt noch niemand von der
deutschen Einheit geredet hat.
({26})
Sie - kein anderer - haben die Staatsverschuldung in
dieser Höhe zu verantworten. Davon wollen Sie immer
wieder ablenken.
({27})
Im Übrigen hat im Frühjahr die Konjunktur- und
Steuerschätzung stattgefunden. Im Herbst wird diese
Schätzung wieder durchgeführt. Wenn es notwendig sein
wird, dann werden wir wieder nachsteuern. Richtig ist
auch, dass im Haushalt einige Schätzansätze enthalten
sind, für die es keine absolut sichere Berechnungsbasis
gibt, zum Beispiel bei der „Brücke zur Steuerehrlichkeit“, für die es acht gute Gründe gibt, wie das „Handelsblatt“ geschrieben hat. Alle Sachverständigen erwarten,
dass unsere Prognose eintreffen wird. Ich bin davon
überzeugt, dass sie sogar überschritten werden kann.
Herr Kollege Schöler, ich habe den Eindruck, dass Sie
die vom Kollegen Kalb gewünschte Zwischenfrage zulassen wollen.
Das ist so, Herr Präsident.
Bitte schön.
Herr Kollege Schöler, können Sie bestätigen, dass es
in den Jahren von 1982/83 bis 1989 gelungen ist, die unter einer SPD-geführten Regierung geplante Neuverschuldung von - ich hoffe es richtig in Erinnerung zu
haben - etwa 54 Milliarden DM auf 19 Milliarden DM
zurückzuführen? Können Sie bestätigen, dass Waigel bereits im Jahre 1990 einen absolut ausgeglichenen Haushalt hätte vorlegen können, wenn nicht der glückliche
Umstand der Wiedervereinigung eingetreten wäre?
({0})
Können Sie außerdem bestätigen, dass in den Jahren von
1986 bis 1989 die Zahl der Arbeitsplätze in Deutschland
gleichzeitig um 3,5 Millionen gestiegen ist?
Wir können uns über verschüttete Milch so lange unterhalten, wie wir wollen.
({0})
Fakt ist natürlich: Die Regierung Schmidt hat damals
Schulden in Höhe von 300 Milliarden DM hinterlassen.
Herr Merz hat heute im Zusammenhang mit der Finanzierung der deutschen Einheit über Drittelung - Stichwort Portokasse - gesprochen: ein Drittel über Schulden,
ein Drittel über Mittel der Sozialversicherungssysteme,
ein Drittel über Steuern usw. Auch wenn man die Kosten
der deutschen Einheit berücksichtigt: Sie haben zu verantworten, dass in den 16 Jahren Ihrer Regierung die
Staatsverschuldung und die Belastung der Bürger eine
absolute Rekordhöhe erreicht haben. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln. Es nützt nichts, wenn Sie durch
diese Zwischenfrage ablenken und sich rechtfertigen
wollen. Wir können das anhand der Jahresdaten in der
Statistik überprüfen.
({1})
Kollege Kalb, auch nach den Reden Ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Ihres haushaltspolitischen Sprechers Dietrich Austermann ist das Problem
unverändert; Sie haben keine Vorschläge gemacht. Es
bleibt dabei: Das größte Risiko für den Haushalt sind
Sie, die Neinsager, die Hü-und-hott-Sager von der Opposition.
({2})
Die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat - wir kennen sie - sind, wie sie sind; wir werden damit leben müssen. Aber Sie haben eine Verantwortung, wenn nicht in
diesem Parlament, wo Sie in der Minderheit sind, so
doch im Bundesrat, wo Sie die Mehrheit haben. Dieser
Verantwortung werden Sie gerecht werden müssen. Sie
müssen Ihre Vielzüngigkeit und Ihre Konzeptlosigkeit
beenden. Sie veranstalten - leider Gottes, wie ich sagen
muss - ein Machtgerangel um eine chancenlose Kanzlerkandidatur für 2006. Egal wer Ihr Kandidat wird: Diese
Person wird in diesem Machtgerangel untergehen.
Sie können sich nicht erlauben, Ihre bisherige Haltung beizubehalten. Ich glaube, auch die Bevölkerung
nähme Ihnen das nicht ab. Sie können sich auch nicht erlauben, wie im Frühjahr noch einmal Nein zu sagen. Sie
haben im Frühjahr zum Steuervergünstigungsabbaugesetz Nein gesagt, wodurch den Gemeinden 6 Milliarden
Euro - Geld, das sie dringend brauchen - vorenthalten
wurden.
({3})
Ich kann Sie von der Opposition nur auffordern: Tragen Sie unsere Politik zur Schaffung von Wachstum und
Beschäftigung bei Wahrung sozialer Gerechtigkeit mit!
({4})
Stimmen Sie unseren Gesetzentwürfen und auch dem
Haushaltsentwurf 2004 zu!
({5})
Nun hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDPFraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nur wenige Minuten und
will deswegen auch nur ganz wenige Bemerkungen machen.
Das verloren gegangene Vertrauen - Sie erkennen
selbst an, dass es verloren gegangen ist - ist nur durch
eine Verbesserung der Fakten zurückzugewinnen. Das
Schattenboxen hier im Parlament wird Ihnen dabei nicht
helfen. Auch die Versuche, die Opposition in die Verantwortung zu ziehen, werden Ihnen nicht helfen. Das Vertrauen werden Sie nur zurückgewinnen, wenn Sie als
Endergebnis nachhaltige Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt erreichen.
({0})
Ihre Aufgabe ist, nun konkret zu überlegen: Wie erreiche
ich solche Verbesserungen? Die Ansätze, die Sie dazu
machen, sind - das ist das Entscheidende - völlig unzureichend.
Ich stimme Herrn Eichel zu: Der Dreiklang - Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung, Wachstumsimpulse - hört sich gut an. Aber man muss das eben auch
umsetzen.
({1})
Ich bedaure Sie ein wenig, Herr Eichel, weil ich weiß,
dass Sie in dem, was Sie erreichen wollen, durch Ihre eigene Fraktion gehemmt werden,
({2})
die nicht bereit ist, die notwendigen Schritte mitzugehen.
({3})
Ich will mich auf die Steuer- und Finanzpolitik konzentrieren. Mir liegt hier eine Liste der Steuerbelastungen und der Steuerentlastungen von 1999 bis heute vor.
Danach kommen wir im Saldo - ich will das nicht im
Einzelnen vortragen - zu einer Mehrbelastung von rund
15 Milliarden Euro.
({4})
Aber darin sind schon die Entlastungen durch die Steuerreform insgesamt enthalten, obwohl die zweite und dritte
Stufe noch gar nicht in Kraft getreten sind. Das heißt: Im
Moment haben wir es mit einer Steuermehrbelastung der
Bürger von 30 bis 40 Milliarden Euro gegenüber damals
zu tun. Deswegen ist das verfügbare Einkommen der
Bürger ganz stark zurückgegangen.
({5})
Wie kommen Sie eigentlich zu der Überzeugung, die
Bürger würden jetzt den zurückgestauten Verbrauch
nachholen und einen Boom auslösen? Das können sie
gar nicht, weil sie das Geld dafür nicht haben. Dazu
kommen noch die gestiegenen Beiträge zur Krankenund Rentenversicherung. Das ist dabei noch gar nicht
berücksichtigt.
({6})
Sie werden die Bürger nur zum Verbrauch ermutigen,
wenn sie bei den Beiträgen zu den gesetzlichen Sicherungssystemen und bei den Steuern konkret entlastet
werden. Beides erreichen Sie trotz Steuerreform nicht.
({7})
Jetzt komme ich zum Subventionsabbau. Herr
Eichel, ich stimme Ihnen zu: Man muss natürlich über
alle diese Punkte reden. Man kann auch über alle diese
Punkte reden. Aber Sie können die steuerlichen Vergünstigungen nur im Zusammenhang mit einer insgeDr. Hermann Otto Solms
samt durchgreifenden Steuerreform und Steuerentlastung abbauen.
({8})
Wenn Sie die Steuerbelastung so hoch lassen und
gleichzeitig die Vergünstigungen abbauen, dann werden
Sie natürlich ökonomischen Schaden anrichten. Wenn
Sie die Eigenheimzulage jetzt unabhängig von einer
breiteren Steuerentlastung abbauen, dann wird sich das
auf dem Wohnungsmarkt niederschlagen,
({9})
der gegenwärtig ohnehin der schwächste Teil unserer
Wirtschaft ist.
({10})
Das müssen Sie im Auge haben, nicht deshalb, weil ich
das sage, sondern deshalb, weil das faktisch so ist. Deswegen kann man so, wie Sie es tun, nicht vorgehen. Man
muss die Dinge im Zusammenhang sehen. Die Steuern
müssen gesenkt, die Vorschriften und die Bürokratie
müssen abgebaut und die Systeme der sozialen Sicherung müssen in sich reformiert werden, sodass sie nachhaltig wieder tragfähig sind.
Bei Ihnen von den Grünen denken viele ähnlich, nur
handeln Sie nicht entsprechend. Deswegen verlieren
auch Sie an Glaubwürdigkeit, wenn Sie diese unentschlossene, mutlose Politik weiter betreiben, obwohl die
ökonomisch denkenden Kräfte in Ihren Reihen wissen,
was die Stunde geschlagen hat und was Sie tun müssten.
Ich will abschließend nur noch Folgendes anmerken:
Herr Eichel, wenn das Ihre erste Haushaltseinbringungsrede gewesen wäre, hätte ich gesagt: Respekt; Sie haben
die Probleme erkannt. Da das aber Ihre fünfte gewesen
ist, haben Sie Ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Die Leute
wissen: Er hat das jedes Jahr gesagt, aber es ist nicht so
gemacht worden.
Jetzt ist die Zeit zu handeln. Die Regierung muss handeln oder sie wird abgelöst werden. So ist das Gesetz der
Demokratie. Ihre Vorschläge, so wie sie jetzt auf dem
Tisch liegen, sind absolut unzureichend - in allen Details.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Anja Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte anfänglich kurz etwas zum Haushalt 2004, über
den wir hier heute sprechen, skizzieren. Den Entwurf des
Haushaltsplans für das Jahr 2004, der insgesamt circa
250 Milliarden Euro umfasst, kann man grob in sechs
Teile zerlegen: 101 Milliarden für die Alterssicherung,
38 Milliarden für Zinsen - wenn man aus diesen vergangenheitsbezogenen Kosten, nicht unbedingt Lasten, eine
Summe bildet und sie in Bezug zum Gesamtvolumen
setzt, macht das schon 55 Prozent aus -, 24,8 Milliarden für
Investitionen, 24,2 Milliarden für Verteidigung, 30 Milliarden für sonstige soziale Sicherung - dieser Posten soll
aufgrund der geplanten Hartz-Reformen ja geringer werden - und 30 Milliarden für den Rest. Wenn man sich
diesen Haushalt insbesondere auch unter Berücksichtigung der perspektivischen Weiterentwicklung anschaut
- so werden aus den 55 Prozent für Alterssicherung und
Zinsen bis zum Ende der Finanzplanperiode 2007
60 Prozent -, dann erkennt man deutlich, dass wir in der
Tat einen großen Strukturreformbedarf haben. Darüber werden wir in diesem Herbst zum Beispiel hinsichtlich der Rente noch diskutieren; dabei sollte man dann
auch Versorgungsleistungen mit einbeziehen.
({0})
An der Stelle gebe ich angesichts der heutigen Diskussionen übrigens gerne zu, dass wir mit dem Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rente etwas einführen, was zwar
nicht identisch, aber in der Zielrichtung in einer durchaus ähnlichen Form schon von Ihnen vorgeschlagen
worden war. Ich persönlich halte nämlich nichts davon,
gegenteilige Entscheidungen, die man vor fünf Jahren
getroffen hat, stur gesundzubeten. Umgekehrt hoffe ich
aber, dass wir dann bei der Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors auch zusammenarbeiten. Ich denke, dass Sie
diesen Weg auch mitgehen können.
({1})
Bevor ich auf den Anspruch dieses Haushaltes zu
sprechen komme, gestehe ich im Übrigen auch eine gewisse Schwäche ein. So wurde vorhin bemängelt, dass
noch nicht erkennbar ist, wodurch die angestrebte Konsolidierung im Rentenbereich in einer Größenordnung
von 2 Milliarden unter Zugrundelegung eines Beitragssatzes von 19,5 Prozent erreicht werden soll. Dass wir
entsprechende Vorschläge im Herbst vorlegen müssen,
ist richtig. Einen Teil der diesbezüglichen Kritik akzeptiere ich. Ich akzeptiere aber nicht die in meinen Augen
insgesamt überzogene Kritik; darauf gehe ich noch ein.
Wir haben im Haushalt eine Nettokreditlinie von
30,8 Milliarden, auch bedingt durch das Vorziehen der
Steuerreform. Auch ich halte diese 30,8 Milliarden für
unbefriedigend. Nachdem Sie hier vorhin sehr groß und
laut getönt haben, möchte ich Ihnen aber vor Augen halten, dass Sie von 1996 bis 1998, in den letzten drei Jahren, in denen Sie Regierungsverantwortung trugen und
wo wir ein durchschnittliches Wachstum von rund
1,5 Prozent hatten, neue Schulden von etwas über
100 Milliarden Euro gemacht haben. Wir haben in den
Jahren 2001, 2002 und 2003, also in den vergangenen
drei Jahren, wo es ein durchschnittliches Wachstum von
0,3 Prozent gab - zwar kennen wir für 2003 noch nicht
die genauen Zahlen, aber sie werden nicht sehr hoch ausfallen -, 90 Milliarden Euro neue Schulden gemacht.
({2})
Das ist keine Leistung, mit der man zufrieden sein kann,
aber ich möchte Sie nur darauf hinweisen - ({3})
- Lassen Sie einmal die UMTS-Milliarden außen vor. Es
geht um die reine Neuverschuldung. Wir haben diese
Milliarden ja auch zum Abbau der Verschuldung verwendet, was in der Sache ganz richtig war.
Ich will nur darauf verweisen, dass Sie zuzeiten eines
viel höheren Wachstums viel mehr Schulden aufgehäuft
haben; denn zwischen 1,5 Prozent Wachstum und Stagnation besteht eine erhebliche Differenz.
({4})
Seien Sie also ein bisschen vorsichtig mit Ihrer Kritik
und überziehen Sie sie nicht. Ich lege Ihnen das nur noch
einmal dar, damit Sie zu einer gerechten Beurteilung
kommen, wenn wir demnächst weiter darüber beraten.
Sie können sich nicht davon freisprechen: Diese Verschuldung ist auch Ihre Geschichte.
({5})
Man erkennt daran - deswegen habe ich am Anfang
von den Säulen gesprochen -: Wir haben in diesem
Haushalt strukturelle Mängel, angesichts derer wir uns
auch bei besserer konjunktureller Lage nicht einfach
ausruhen können. Sie haben, wie gesagt, bei besserer
konjunktureller Lage schlechter gewirtschaftet als wir
heute.
({6})
Sie drohen jetzt mit der Blockade des gesamten
Haushalts. Das halte ich für eine schwerwiegende Ankündigung. Wenn Sie das machen, setzen Sie eine Verantwortungslosigkeit fort, die sich vielleicht in den Vorjahren schon gezeigt hat; ich habe gerade die Zahlen
genannt. Sie werden bei den Wählern damit nicht durchkommen. Auch Sie haben eine Verantwortung für die
wirtschaftliche Erholung im Lande, die sich abzeichnet.
Sie haben uns jahrelang gesagt, wir sollten die Steuern senken, und sind bei diesem Thema, auch zusammen
mit der FDP, immer gerne vorangegangen. Wir haben
seit 2001 in mehreren Stufen Steuersenkungen vorgenommen. Das halte ich für ganz wesentlich und richtig;
aber wir sollten ehrlicher in dem Punkt argumentieren,
dass die heute vorhandenen Ausnahmetatbestände abgeschafft werden müssen, und zwar auch aus Gründen der
Gerechtigkeit. Nach der Steuerreform haben wir nicht
das Problem zu hoher Steuertarife; dann haben wir gute
Tarife. Aber ein Steuersystem ist dann gerecht, wenn die
Leute ihre Steuern wirklich zahlen.
({7})
Dafür muss ein System transparent sein und Ausnahmetatbestände müssen abgeschafft werden. Deswegen müssen Sie beim Subventionsabbau mitmachen.
({8})
Für Sie schlägt nun die Stunde der Wahrheit. Sie haben gesagt, die Steuerreform solle vorgezogen werden,
aber nicht durch höhere Schulden. In diesem Punkt können Sie mitwirken und Alternativen formulieren; aber
ich halte es für eine unverantwortliche Volksverdummung, Herr Austermann, die Sie nicht nötig haben, wenn
Sie den Vorwurf „linke Tasche, rechte Tasche“ erheben.
Die Einführung niedriger Tarife für alle und die Abschaffung von Ausnahmetatbeständen sind gerecht, weil
letztere nur einige betreffen. Wenn Sie sagen, die Senkung der Tarife und die Abschaffung der Ausnahmetatbestände geschehe nach dem Prinzip „linke Tasche,
rechte Tasche“, dann plädieren Sie für eine ungerechte,
intransparente Steuerpolitik. Das halte ich für einen großen Fehler. Da gehen wir Ihnen voran.
({9})
Von „linke Tasche, rechte Tasche“ zu reden ist eine
billige Politikpolemik, die man sich bei diesem Haushalt
strukturell nicht mehr leisten kann. Ich bitte Sie, ernsthaft darüber nachzudenken, ob Sie auf der Höhe der Zeit
sind, wenn Sie sich bei der Eigenheimzulage und der
Entfernungspauschale prinzipiell sperren.
({10})
Sie sind unglaubwürdig in Ihrer finanzpolitischen Kompetenz.
({11})
Ich finde es durchaus richtig, dass wir noch begründen müssen, was es mit dem Vorziehen der Steuerreform
und der Neuverschuldung auf sich hat. Wir sind bereit,
kritisch über die Ausgabenstreichungen, die wir vornehmen, zu reden. Aber Sie wissen, dass das Haushaltsstabilisierungskonzept, das wir Ihnen vorlegen, schon eine
ganze Menge an Ausgabenkürzungen beinhaltet. Wir
kürzen stark im öffentlichen Dienst. Wir haben enorme
Einsparungen im Arbeitsmarktbereich vorgesehen.
Wenn Sie uns da mit guten Vorschlägen toppen können,
müssen wir uns im Zweifel damit auseinander setzen.
Aber wenn Sie ernsthaft glauben, dass dieser Haushalt
mit der Verkleinerung des Etats der Öffentlichkeitsarbeit
der Bundesregierung saniert werden kann - das war der
einzige konkrete Vorschlag in der 20-minütigen Rede von
Herrn Austermann; ich habe Ihnen genau zugehört -,
({12})
dann ist das in einer so ernsten Situation lächerlich und
peinlich; es tut mir Leid.
({13})
Ich möchte auch etwas zum Thema Maastricht sagen.
Das Maastricht-Kriterium ist im Moment sehr in der
Diskussion. Ich vertrete die Auffassung, man soll nicht
in dem Moment Kriterien infrage stellen, in dem man
gerade Probleme mit ihnen hat. Das sage ich bezüglich
der Diskussion, die es auch in unseren Reihen gibt. Ich
formuliere es so: Mit Blick auf den Haushalt 2004 muss
man ins Auge fassen, dass wir an diesem MaastrichtKriterium scheitern können, weil noch nicht klar ist, wie
das Vermittlungsverfahren ausgehen wird und wie das
Wachstum im November geschätzt wird. Wir haben eine
Zielrichtung, in der ich dem Finanzminister nicht widersprechen will; aber der Finanzminister weiß selber, welche Risiken es da gibt. Er hat sie fairerweise vor dem
Parlament und der Öffentlichkeit beschrieben.
Aber bei dem Maastricht-Kriterium wollen wir uns
darum bemühen, es einzuhalten. Wenn wir das nicht
schaffen, dann - dafür plädiere ich - sollten wir die Aufforderungen der EU ernst nehmen und die Auflagen annehmen. Das ist wichtig für das Zusammenspiel und Zusammenwirken der verschiedenen europäischen Länder
im Wachstums- und Stabilitätspakt. Es nützt uns in dem
Bemühen, unseren Haushalt strukturell auf die Beine zu
stellen; denn die Empfehlungen der EU und die Beobachtung unserer Haushaltsentwicklung haben uns Haushältern in den letzten Jahren immer genützt. Deswegen
hat die Diskussion um Maastricht meiner Ansicht nach
eine unterstützenswerte Richtung, auch wenn wir im Ergebnis noch nicht zufrieden sein dürfen.
({14})
Ich möchte zum Schluss betonen: Wenn Sie meinen,
Sie könnten mit der Androhung einer Blockade gegenüber der Öffentlichkeit erfolgreiche Oppositionspolitik
machen, dann, glaube ich, haben Sie sich geschnitten.
Wir werden Sie an Ihre Verantwortung erinnern. Wir
werden einklagen, dass Sie Alternativen vorlegen. Sie
kommen nicht so davon, dass Sie sagen können - wie
Herr Koch es im Sommer getan hat -: „keine Steuerreform zu Lasten unserer Kinder“, aber bei den Finanzierungsvorschlägen passen.
Insbesondere dürfen Sie nicht - Sie haben ja noch
Zeit, darüber nachzudenken - die Hoffnung und die
Chance, die in der wirtschaftlichen Erholung liegt, die
sich jetzt ein bisschen zeigt, gefährden. Aber Sie hätten
die Möglichkeit dazu, sie zu gefährden. Deswegen plädiere ich dafür: Nehmen Sie Ihre Verantwortung anders
wahr, nämlich in der Nennung von Alternativen und
nicht in der Ankündigung einer Blockade.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bisherige Verlauf der Debatte hat deutlich gemacht, dass der
Haushaltsentwurf auf einer äußerst maroden Grundlage
beruht. Er beruht auf Daten, an die selbst diejenigen, die
ihn vorgelegt haben, nicht mehr glauben. Er beruht auf
Gesetzen, die noch nicht einmal eingebracht, geschweige denn verabschiedet sind. Vor diesem Hintergrund macht es auch keinen Sinn, dass wir zu diesem
Haushaltsentwurf Änderungsanträge einbringen.
({0})
Nun versprechen die Regierung und die Koalitionsfraktionen den Gemeinden im Land seit Monaten, sie
bekämen finanzielle Hilfe vonseiten des Bundes. Letztendlich ist uns heute ein Gesetzentwurf dazu vorgelegt
worden. Aber siehe da: Kein einziger Redner hat im
Rahmen der Debatte etwas zum Inhalt dieses Gesetzentwurfs gesagt. Alles hat sich nur in Überschriften vollzogen. Sowohl der Finanzminister als auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende haben bei diesem Punkt nur
in Überschriften geredet. Sie haben von einer Modernisierung der Gewerbesteuer und von einer Revitalisierung gesprochen. Sie haben von einer Gemeindewirtschaftssteuer geredet. Sie haben davon gesprochen, dass
die Kommunen finanzielle Hilfen bekommen.
({1})
Aber wo, bitte sehr, sind diese Hilfen konkret? Sie sind
die Antwort darauf schuldig geblieben. Ich sage Ihnen
auch, warum: Sie sind sie schuldig geblieben, weil Sie in
den eigenen Reihen keine Einigkeit haben. Wir haben in
dieser und in der vergangenen Legislaturperiode schon
viel erlebt. Aber nun ist ein Gesetzentwurf von den Regierungsfraktionen und der Regierung gemeinsam eingebracht worden, von dessen Inhalt sich nicht erst im
Laufe der Debatte, sondern bereits zum Zeitpunkt der
Einbringung, ja sogar schon vor der offiziellen Einbringung maßgebliche - nicht nur irgendwelche - Leute aus
der Regierungskoalition distanzieren. So wird hier Politik gemacht!
({2})
Die Kakophonie geht weiter. Vor wenigen Tagen war
in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen, dass ein Kollege aus dem Lager von Bündnis 90/Die Grünen Folgendes gesagt haben soll - ich zitiere aus der „Süddeutschen
Zeitung“ vom 5. September 2003 -:
Diese Reform sei symptomatisch für den Politikstil
Schröders, moserte ein Grüner: „Erst interessiert er
sich nicht dafür. Dann spricht er mit drei Wirtschaftsbossen, und plötzlich sagt er: Jetzt machen
wir da mal eine Reform - und genau so sieht das
Ergebnis dann auch aus.“
Genau das ist Ihre Politik: Schnell wird eine Reform
angekündigt, eine Überschrift und eine Botschaft
produziert. Wenn es aber ans Eingemachte geht, dann
bleibt man die Antwort schuldig.
({3})
Wenn die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Frau
Sager, sagt, das Zahlenwerk von Hans Eichel sei untauglich, dann muss man sich schon fragen: Wer soll dem
Zahlenwerk des Finanzministers glauben, wenn dies
schon die eigene Koalition nicht tut? Sollen etwa die
Bürger im Land den Finanzminister für glaubwürdiger
halten als die eigene Koalition? Das kann es doch nicht
sein!
({4})
Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern gesagt:
Wenn es den Kommunen finanziell so schlecht geht,
dann müssen sie halt mehr Schulden machen. - Wenn es
ein Problem auf dieser Ebene gibt, dann fällt Ihnen als
Einziges ein, mehr Schulden zu machen. Der Bundeskanzler hat in seinem Sommerinterview auf die Frage,
wie er die Gebührenerhöhungen der Kommunen bewerte, geantwortet, das sei nicht sein Problem, das liege
in der Verantwortung der Kommunen. Ich sage ganz
deutlich: Es ist schäbig, sich so aus der Verantwortung
zu ziehen, da doch bekannt ist, dass diese Regierung die
schlechte Finanzsituation der Kommunen, die sie zu einem derartigen Handeln zwingt, verursacht hat. Das ist
der eigentliche Punkt.
({5})
Herr Kollege Solms hat in seinen Ausführungen deutlich gemacht, wie sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und vor allen Dingen die Steuerbelastungen
in den Jahren seit Ihrer Regierungsübernahme entwickelt
haben. Diese negative Entwicklung ist ein wesentlicher
- wenn auch nicht der einzige - Grund dafür, dass die
wirtschaftliche Situation nahezu von einem Nullwachstum und von einer Zurückhaltung der Investoren gekennzeichnet ist. Es ist doch nicht von Gott gegeben,
dass es kein Wachstum im Lande mehr gibt.
({6})
Sie haben zu Beginn Ihrer Regierungszeit aufgrund
der guten Arbeit der Regierung Kohl eine hervorragende
wirtschaftliche Situation vorgefunden. Sie haben aber
diese positive Entwicklung durch Ihre Maßnahmen kaputt gemacht.
({7})
Damit haben Sie dazu beigetragen, dass die Steuereinnahmen des Bundes, der Länder und der Gemeinden zurückgegangen sind. In den ersten Jahren Ihrer Regierung
gab es noch steigende Steuereinnahmen, gerade auch bei
der Gewerbesteuer. Die Gewerbesteuer ist dann aber in
den Jahren 2001 und 2002 eingebrochen. Der Grund
liegt zum einen in Ihrer Steuerreform und zum anderen
in der permanenten Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im gesamten Land, für die
Sie verantwortlich sind.
Bei dem, was wir an Reformen für die Gemeinden
vorsehen, muss die Maxime sein, alles zu tun, um Wachstum zu stimulieren und um die Wachstumskräfte freizusetzen. Wir dürfen aber nicht das Gegenteil tun, nämlich
die Steuern erhöhen und damit zusätzliche Steuerbelastungen schaffen, wie Sie es mit Ihrem Gesetzentwurf tun.
({8})
Man muss deutlich darauf hinweisen, dass die finanzielle Not der Städte, Gemeinden und Landkreise nicht
erst seit wenigen Monaten bekannt ist. Diese Entwicklung war schon im Jahr 2001 deutlich sichtbar. Friedrich
Merz hat heute ebenfalls darauf hingewiesen, dass in der
Koalitionsvereinbarung aus dem Jahre 1998 eine Kommission in Aussicht gestellt wurde, die an einer grundlegenden Reform der Gemeindefinanzen arbeiten sollte.
Das war richtig so. Dieser Vorschlag war damals völlig
unabhängig von der akuten Finanznot der Kommunen,
die sich erst später einstellte.
({9})
Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders darauf hinweisen, dass in der Diskussion die aktuelle
Finanznot der Kommunen mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Gemeindefinanzen vermischt wird. Wir haben zwei unterschiedliche Probleme!
Wir haben bei den Gemeindefinanzen zwei Probleme:
zum einen die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Gemeindefinanzen. Dies ist spätestens seit
1998 bekannt, aber eigentlich auch schon zuvor. Auch
wir hatten vor, eine ähnliche Arbeit anzugehen. Seit
2001 besteht zum anderen eine akute Finanznot der Gemeinden, die im Wesentlichen durch eine falsche Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik der Regierung verursacht wurde. Deshalb muss auch dort der Hebel
angesetzt werden.
({10})
Wenn man akzeptiert, dass es diese zwei Probleme
gibt, dann genügt die Ausrede des Herrn Poß von vorhin
nicht, dass die Gemeindefinanzreformkommission nicht
eingesetzt werden konnte, weil man ein anderes Anliegen, die Arbeit am Finanzausgleichsgesetz, zu Ende
bringen wollte.
({11})
Erstens hatten wir dazu einen eigenen Unterausschuss,
der sich damit intensiv beschäftigt hat, und zweitens
kann man die Probleme, die auf der Hand liegen, nicht
einfach beiseite schieben und sagen: Wir haben jetzt anderes; um dieses Problem kümmern wir uns danach.
Sie haben es durch die verspätete Einsetzung der Kommission verzögert, die Lösung dieser beiden Probleme anzugehen. Sie haben durch eine einseitige Auftragsübertragung an diese Kommission nur Teilergebnisse erreicht.
Sie versuchen jetzt letztlich, das alles miteinander zu vermischen und die grobe Überschrift „Hilfe für die Kommunen“ zu erhalten, ohne ins Detail zu gehen.
Unser Ansatz liegt auf dem Tisch. Er stand schon vor
einigen Monaten, schon vor der Sommerpause, zur Diskussion.
({12})
In ihm wird deutlich gemacht, dass wir die Problematik,
die aus zwei Gesichtspunkten besteht, nämlich die akute
Finanznot zu lindern und grundlegende Reformen durchzuführen, mit unterschiedlichen Maßnahmen zu lösen
haben.
Wir bleiben dabei: Eine Soforthilfe ist notwendig.
Denn die Kommunen sind in weiten Bereichen nicht
mehr in der Lage, einen rechtmäßigen Haushalt vorzulegen. Dies hat gravierende negative Auswirkungen auf
die wirtschaftliche Entwicklung und auch auf die Situation der Bürger in vielen Gemeinden. Wir bleiben dabei,
dass neben diesem Soforthilfeprogramm - ich sage bewusst: neben diesem und zusätzlich zu diesem Soforthilfeprogramm - eine grundlegende Reform auf der Basis
einer sauberen und von allen anerkannten Berechnungsgrundlage angepackt werden muss.
({13})
Ihr Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der
SPD und von den Grünen, wird - mit Verlaub - keinem
dieser Anliegen gerecht. Er wird nicht dem Anliegen gerecht, sofort zu helfen, und nicht dem Anliegen, eine
grundlegende Reform durchzuführen.
Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen:
Sie wollen jetzt - das ist zumindest bei Ihnen Konsens die freien Berufe in die Gewerbesteuer mit einbeziehen.
Ich weise darauf hin, dass der Bundeskanzler noch im
vergangenen Jahr aus Anlass des Tages der freien Berufe
das Gegenteil verkündet hat.
({14})
Mittlerweile sind wir es aber gewohnt, dass man auf das
Wort des Bundeskanzlers nicht vertrauen darf.
({15})
Unabhängig davon sollte man sich einmal vor Augen
halten, welche Konsequenzen damit verbunden sind:
700 000 zusätzliche Steuerpflichtige,
({16})
die neben ihrer Einkommensteuererklärung zusätzlich
eine Gewerbesteuererklärung abgeben müssen, die anderen Regularien unterliegt als die Einkommensteuererklärung. Wenn sie die Gewerbesteuererklärung abgegeben
haben, dann können sie einen Teil der von ihnen zu zahlenden Gewerbesteuer pauschal auf die Einkommensteuer anrechnen. Unter dem Strich ist dies eine riesige
Umverteilungsaktion von den Haushalten des Bundes
und der Länder auf die Kommunen. Das könnten wir
viel einfacher haben, nämlich durch eine Änderung der
Gewerbesteuerumlage und ohne diesen umständlichen
und verwaltungsintensiven Weg der Einbeziehung in die
Gewerbesteuer.
({17})
Das, was Sie da vorhaben, ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Finanzbeamte und Steuerberater. Es
ist keine Reform, die auch nur ansatzweise die Überschrift „Vereinfachung“ verdient und die sachgerecht ist.
Im Rahmen der Reform der Gewerbesteuer verkaufen
Sie noch eine ganze Reihe unterschiedlicher Maßnahmen: beispielsweise die Einführung der Mindestbesteuerung, die Abschaffung des Betriebsausgabenabzugs oder
die Hinzurechnung von Zinsen im Hinblick auf Gesellschafter, die einer Gesellschaft Fremdkapital zur Verfügung stellen. Es handelt sich dabei um eine Reihe ganz
unterschiedlicher Maßnahmen, die jedoch eines gemein
haben: Sie belasten zusätzlich insbesondere den Mittelstand aufgrund der Gewerbesteuerpflicht. Dadurch wird
nichts einfacher, stattdessen ist es eine Politik, die gerade in einer Zeit, in der wir zusätzliches Wachstum
brauchen, kontraproduktiv wirkt. Das Schlimmste daran
aber ist, dass es Flickwerk ist. Es geht um verschiedene
Einzelmaßnahmen, die herausgegriffen werden und einmal Bund und Länder zugunsten der Kommunen belasten, während andere Maßnahmen umgekehrt wirken. So
ist für jeden etwas dabei. Tatsache ist: Unterm Strich ist
es eine zusätzliche Belastung. Es steckt auch keine stringente Idee, kein schlüssiges Konzept dahinter.
({18})
Es ist reine Flickschusterei.
({19})
Ich kann daher nicht oft genug betonen, dass es darum
geht, zweigleisig zu fahren und die zwei unterschiedlichen
Probleme, nämlich die Finanznot der Kommunen einerseits und die grundlegende Reform der Gemeindefinanzen
andererseits, getrennt durch unterschiedliche Maßnahmen
zu lösen. Unser Programm liegt auf dem Tisch: Senkung
der Gewerbesteuerumlage mindestens auf das Niveau,
das vor Ihrer Steuerreform bestand, und Erhöhung des
Anteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer.
Sie haben mittlerweile eingesehen, dass das Letztere
notwendig ist. Noch vor Wochen, als wir darüber vor der
Sommerpause diskutierten,
({20})
haben Sie, als wir diesen Vorschlag auf den Tisch gelegt
haben, gesagt: Das können wir nicht machen, es ist nicht
finanzierbar. Die Erhöhung des Anteils an der Umsatzsteuer ist im jetzigen Programm enthalten. Das ist gut.
Auf dieser Basis können wir weiterarbeiten.
Uns sind auch Signale einiger Mitglieder der Koalitionsfraktionen bekannt - zum Teil kommen sie hinter
vorgehaltener Hand -, dass man auch bei der Gewerbesteuerumlage unseren Vorschlag als richtungsweisend
und zielführend betrachtet.
Auf eines möchte ich noch hinweisen: Nicht nur die
Einnahmenseite ist wichtig, sondern mindestens genauso
wichtig ist die Ausgabenseite.
({21})
Auch hierzu liegen konkrete Vorschläge in dem Antrag,
den wir im Sommer eingebracht haben, für die Bereiche
Jugendhilfe, Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe und Grundsicherung vor. Sie haben in diesen Bereichen durch Ihre
Gesetzgebung zusätzliche Lasten auf die Gemeinden
übertragen.
Lassen Sie uns zunächst einmal an dem Sofortprogramm arbeiten, damit wir eine schnelle Entlastung zu
Jahresbeginn 2004 für die Gemeinden erreichen können.
Danach müssen wir an die Arbeit gehen, um eine grundlegende Reform durchzuführen. Dabei ist es notwendig,
dass wir ohne ideologische Scheuklappen auf der Basis
solider und von allen anerkannter Berechnungen gemeinsam mit den Kommunen an langfristig tragbaren
Lösungen zur Verbesserung und Verstetigung der Finanzsituation der Gemeinden arbeiten. An diesen Kriterien sollten wir uns alle miteinander messen lassen.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Merz hat heute Morgen schon mit der Legendenbildung angefangen und die Kollegin Hasselfeldt hat das
soeben fortgesetzt. In der Tat - Kollege Merz hat es
heute Morgen gesagt - stand in der Koalitionsvereinbarung von 1994,
({0})
dass wir in der laufenden Wahlperiode
({1})
- stimmt, seit 1998, aber ich glaube, der Kollege Merz
sprach heute von 1994 - die Gemeindefinanzreform anpacken wollten.
({2})
In diesem Zusammenhang muss man aber auch daran erinnern, weshalb eine Reform in dieser Wahlperiode nicht
gelingen konnte. In sehr hohem Maße hat dazu beigetragen, dass Ihre Parteifreunde in Bayern und BadenWürttemberg in dieser Zeit vor das Bundesverfassungsgericht gezogen sind und den Länderfinanzausgleich in
Zweifel gezogen haben.
({3})
Erst als wir in der letzten Wahlperiode den Länderfinanzausgleich auf neue Füße stellen konnten - das war
eine unabdingbare Voraussetzung -, bestand auch die
Möglichkeit, den Bereich der Kommunalfinanzen neu zu
regeln.
({4})
- Auch Sie, Herr Kollege Kalb, haben in dieser Zeit
durchaus die Möglichkeit gehabt, sich Gedanken zu machen. Was ist dabei herausgekommen? Ich darf die
„Hannoversche Allgemeine Zeitung“ vom 27. August
zitieren:
Und dann ist da noch die Union, die ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat. Was sie will, bleibt
… ein Rätsel. Den Kommunen wird mehr Geld aus
dem Umsatzsteuertopf versprochen, was immer gut
ankommt. Den Freiberuflern will man die neuen
Steuerbescheide der Stadt ersparen, was Anwälte
freut. Aber Details? Fehlanzeige. Man wird wohl
schlicht Nein sagen.
Ich kann im Interesse der Kommunen nur hoffen, dass es
dazu nicht kommt.
Die Bundesregierung hat, nachdem sich die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen auf kein einheitliches Modell hatte einigen können, ihr Konzept für eine
nachhaltige Stärkung der Gemeindefinanzen vorgelegt.
Wie die beiden in der Kommission intensiv behandelten
Modelle sieht auch der Regierungsentwurf in der personellen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch
die Einbeziehung der Freiberufler einen wesentlichen
Schlüssel zur Stabilisierung der kommunalen Steuerbasis.
Das Ganze machen wir doch nicht aus Jux und Tollerei. Sie wissen genauso gut wie wir, wie viele Tausende
Prozesse hinsichtlich der Abgrenzung geführt werden,
was freiberufliche und was gewerbliche Tätigkeit ist.
Man muss doch die Augen verschließen, um nicht wahrzunehmen, dass die derzeitige Regelung zu Wettbewerbsverzerrungen führt. Warum soll der eine Zahntechnikermeister gewerbesteuerpflichtig sein und der
Zahntechniker in der Praxis eines Zahnarztes oder einer
Zahnärztin nicht? Niemand, der ein wirklich langfristig
tragfähiges Konzept umsetzen will, wird an diesem Element vorbeikommen. Gefälligkeiten allein gegenüber einer Gruppe in diesem Staat helfen den Gemeinden nicht
weiter und tragen nicht zu einer Stabilisierung der Gewerbesteuer oder der Gemeindewirtschaftsteuer bei.
Ich will nicht verheimlichen: Das, was die Bundesregierung vorgelegt hat, ist auf Kritik gestoßen, bei den
kommunalen Spitzenverbänden wie auch - das sage ich
ganz freimütig - in meiner Fraktion. Wir alle, die wir
wissen, wie angespannt die Finanzsituation der Kommunen ist, verstehen die Erwartung der Städte und Gemeinden an eine solche Reform. Wir alle wissen auch um die
Schwächen und Probleme der Gewerbesteuer. Es gibt
unterschiedliche Auffassungen, in meiner Fraktion wie
bei den kommunalen Spitzenverbänden. Aber gerade
deswegen, meine ich, müssten wir zum Wohle der Gemeinden und Städte jenseits von parteitaktischen Überlegungen zu einer konstruktiven gesetzgeberischen Arbeit
kommen.
Das Ziel der Bundesregierung wie auch der Koalitionsfraktionen ist und bleibt: Zum 1. Januar 2004 wollen
wir die kommunale Finanzsituation verbessern. Wir
brauchen eine dauerhaft und umfassend verstetigte
Grundlage der kommunalen Finanzen. Die wesentlichen
Zielsetzungen haben wir mit der Annahme des Antrags
der Koalitionsfraktionen am 4. Juli im Deutschen Bundestag beschlossen. Die Ausräumung der bestehenden
Zweifel, ob der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung
jetzt vorgelegt hat, diesen Zielen, die der Deutsche Bundestag mit Mehrheit beschlossen hat, gerecht wird, wird
Aufgabe der zukünftigen parlamentarischen Beratungen
im Gesetzgebungsverfahren sein. Wo es notwendig ist,
werden wir Änderungen vornehmen. Maßstab dafür sind
die vom Bundestag im Juli beschlossenen Eckpunkte.
Vorhin hat der Kollege Rexrodt auf den Vorschlag der
FDP-Fraktion verwiesen. Dieser Vorschlag ist in der Öffentlichkeit offensichtlich nicht wahrgenommen worden;
selbst der Innenminister fragte, wo denn dieser Vorschlag sei. Es ist sicherlich gerechtfertigt, dass man diesem Vorschlag nicht über Gebühr Aufmerksamkeit
schenkt; denn er geht letztlich davon aus, dass bei der
Umsatzsteuerverteilung zehn Punkte zusätzlich verschoben werden. Ich habe von der FDP noch keine Aussage darüber gehört, woher diese zehn zusätzlichen
Punkte für eine Umsatzsteuerverteilung kommen sollen.
({5})
Wer soll das bezahlen? Der Bund oder die Länder oder
Bund und Länder zusammen? Dann hätten wir, im Gegensatz zu dem, was die Opposition zum Haushalt gesagt hat, wirklich ein Problem mit diesem Haushalt.
Frau Kollegin Hasselfeldt, die Union preist natürlich
wieder ihr Sofortprogramm: mehr Umsatzsteuer für die
Gemeinden und weniger Gewerbesteuerumlage - allerdings erst einmal nur für ein Jahr, zumindest was die
Umsatzsteuerbeteiligung anbelangt. Dieses Sofortprogramm ist doch letztlich nur ein Alibi. Es verschleiert,
dass die Union kein Konzept für die Zukunft hat.
Auch Sie hätten doch in all den Jahren ein Konzept
entwickeln können. Sie haben nach fünf Jahren nicht
einmal einen Gesetzentwurf, sondern nur ein kurzatmiges Sofortprogramm. Dieses Sofortprogramm ist der
kleinste gemeinsame Nenner, allerdings auf Kosten der
Haushalte von Bund und Ländern, die ebenfalls nichts
mehr verkraften können.
Wir haben in den Eckpunkten, die wir hier im Deutschen Bundestag im Juli beschlossen haben, ausgeführt,
wie wir dieses Sofortprogramm beurteilen. Man kann sicherlich über eine Senkung der Gewerbesteuerumlage
im Rahmen des Gesamtpaketes zur Zukunft der Gewerbesteuer diskutieren. Eine Senkung der Gewerbesteuerumlage macht aber nur dann Sinn, wenn man die Steuer
selbst wieder zu einer für die Kommunen akzeptablen
Einnahmequelle macht.
({6})
Dann kann man darüber reden. Dann können wir auch
einschätzen, was das bringt.
Das Gleiche gilt für einen höheren Umsatzsteueranteil zugunsten der Kommunen. Die Bundesregierung hat
das vorgeschlagen. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass seit 1997, als wir die Umsatzsteuerbeteiligung
der Kommunen als Äquivalent für die abgeschaffte Gewerbekapitalsteuer geschaffen haben, kein vernünftiger
Kommunalsteuerschlüssel zur Verteilung dieser Mittel
eingeführt wurde.
Meine Damen und Herren, wir stehen alle gemeinsam
in der Verantwortung, in den kommenden Wochen das
Nötige zu beraten, zu verabschieden und dann auch
schnell umzusetzen.
({7})
Bei allem Für und Wider und allen Nuancierungen hoffe
ich, dass wir am Ende zu einem Ergebnis kommen. Dafür möchte ich hier noch einmal werben.
Danke schön.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir stehen am Beginn einer Haushaltswoche.
Ich hätte mir zunächst einmal gewünscht, dass die Bundesregierung einen Bundeshaushalt für das Jahr 2004
vorlegt, der auf der Basis unseres Grundgesetzes steht.
Wir haben im Jahr 2002 erlebt, dass die Neuverschuldung höher als die Investionen war. Sie werden in diesem Jahr mit einer Neuverschuldung abschließen, die
höher als die Investitionssumme ist. Sie legen uns jetzt
einen Haushaltsentwurf für 2004 vor, der wieder mehr
neue Schulden als Investitionen vorsieht.
({0})
Dem Selbstverständnis des Deutschen Bundestages
würde es entsprechen, wenn der Bundesfinanzminister
auf den Boden unseres Grundgesetzes zurückkehren und
uns einen verfassungsgemäßen Haushalt zur Beratung
vorlegen würde.
({1})
Das, was er hier vorlegt, entspricht nicht dem Grundgesetz. Das müssen Sie sich anheften lassen. Ich will jetzt
nicht auf die Gerichtsurteile in Nordrhein-Westfalen eingehen. Aber wenn man das in drei Jahren auf Bundesebene tut, ist man von der Verfassungswidrigkeit nicht
mehr weit entfernt.
({2})
Der Bundesfinanzminister ist 1999 mit einer Vision
angetreten: ausgeglichener Bundeshaushalt 2004. Dann
wurde gesagt: 2006. Ich frage mich heute: Was ist von
dieser Perspektive übrig geblieben?
({3})
Seit 2001 steigt in jedem Jahr die Neuverschuldung. Das
heißt, wir bewegen uns nicht auf den ausgeglichenen
Haushalt zu, sondern von ihm weg.
({4})
Ich verlange, dass die Bundesregierung entweder ihre
Perspektive einhält und darlegt, wie wir die Neuverschuldung auf null senken, oder offen sagt, was ihre
künftige finanzpolitische Perspektive ist. Wir können
doch hier keine Haushaltsberatungen führen, in denen
diese Fragen offen bleiben.
Der Bundesfinanzminister hat uns vor zwei Jahren
hier gesagt: Die Schulden von heute sind die Steuern von
morgen. Jetzt steigert er seit drei Jahren die Schulden.
Das hat doch mit nachhaltiger Finanzpolitik nichts mehr
zu tun.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie wissen alle, dass ich
aus Hessen komme. Heute ist im Laufe der Debatte Hessen mehrfach angesprochen worden. Der Herr Bundesfinanzminister hatte ja, als er sein Amt antrat, seine Referenzen aus Hessen. Er war dort acht Jahre lang
verantwortlicher Ministerpräsident. In diesen acht Jahren hat er es geschafft, die Gesamtverschuldung des
Landes Hessen um rund 40 Prozent zu erhöhen.
({6})
Ich weiß nicht, ob ihn das qualifiziert, hier jetzt aufzutreten und zu sagen, er sei der Sparkommissar. Entsprechende Referenzen aus Hessen kann er nicht vorweisen.
Mit dieser Altlast haben wir heute zu kämpfen.
Ich würde mir wünschen, dass wir einen Bundeskanzler hätten, der eine Operation Zukunftssicherung betreiben und ein ähnlich entschlossenes Programm wie die
hessische Landesregierung vorlegen würde, um endlich
den Schuldenabbau und eine seriöse Haushaltsplanung
voranzutreiben.
({7})
Die Bundesregierung finanziert momentan die Werbekampagne „Deutschland ist in Bewegung“.
({8})
Wenn ich mir anschaue, was am Arbeitsmarkt, im Bereich der Neuverschuldung und im Bereich der Insolvenzen geschieht, dann muss ich sagen: Ja, Deutschland ist
in Bewegung, nämlich in einer massiven Abwärtsbewegung. Dafür braucht man nicht zu werben; das muss man
beenden und umkehren. Das müsste das Ziel sein.
({9})
Als der Bundeskanzler - er ist jetzt leider nicht anwesend - 1998 angetreten ist, hat er gesagt, dass der Arbeitsmarkt, der ja einer der größeren Haushaltsrisiken ist - wir
reden an dieser Stelle über ein Haushaltsrisiko in Höhe
von mehr als 5 Milliarden Euro, das im Haushalt nicht
gebucht ist -, Chefsache ist. Ich nehme an, er kümmert
sich gerade darum, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland zurückgeht. Deshalb ist er wohl auch nicht hier.
Das Ziel, das er persönlich zu seiner Chefsache erklärt hat, nämlich das Sinken auf 3,5 Millionen, wird
nicht erreicht. Die zuständige Bundesanstalt für Arbeit
und alle Institute sagen, dass wir im nächsten Jahr auf
über 5 Millionen zumarschieren. Was ist mit der Chefsache, wo sind die Lösungen und wo sind - damit verbunden - die Antworten im Bundeshaushalt darauf? Ich
kann hier nichts erkennen. Der Chef ist an dieser Aufgabe offensichtlich gescheitert.
Weiterhin will ich sagen: Diese Bundesregierung
nimmt die Realitäten nicht mehr wahr. Heute Morgen
sind die Risiken des Haushaltes dargelegt worden. Wir
haben einen Bundesfinanzminister, der sich im Bereich
des Arbeitsmarktes und im Bereich des Wachstums weit
von jeglicher Realität entfernt hat. Wenn wir aber hier
seriös miteinander diskutieren wollen, brauchen wir endlich wieder seriöse Grundannahmen, die sich an den Realitäten und nicht an den Wunschträumen orientieren.
({10})
Drei Jahre lang haben Sie bei den Arbeitsmarktzahlen
und den Wachstumserwartungen vollkommen falsche
Daten zugrunde gelegt, weswegen Sie sich nicht wundern dürfen, dass die ganzen Debatten, die wir hier über
Haushaltspläne führen, nicht zielführend sein können.
Deshalb fordere ich Sie auf: Haben Sie endlich Einsicht
in die Realitäten und kommen Sie von Ihren Luftschlössern wieder ein Stück weit auf den Boden zurück!
({11})
Herr Poß, Sie haben von der Opposition Konzepte gefordert und gesagt, dass wir eine Mitverantwortung haben. Ich sage Ihnen hier deutlich: Ich bin gerne dafür
verantwortlich, dass wir zu Jahresbeginn über
40 Steuererhöhungen in Deutschland verhindert haben.
({12})
Ich bin der Meinung, dass das für das Wachstum und die
Beschäftigung in Deutschland eine gute Entscheidung
war. Wir wären heute in einer noch viel schlimmeren Situation, wenn Sie diese über 40 Steuererhöhungen in
Deutschland durchgesetzt hätten, weil dann das Wachstum noch bescheidener gewesen wäre. Dann könnten Sie
heute nicht mehr von Stagnation, sondern müssten von
einer Rezession reden.
({13})
Das wäre das Ergebnis gewesen, wenn Sie ihre Pläne
damals durchgesetzt hätten.
({14})
Sie haben nach den Konzepten der Opposition gefragt. Ich nenne Ihnen die 400-Euro-Jobs. Wer hat denn
nach 1998 diesen Mist bei den 630-Mark-Jobs gemacht,
({15})
der dann korrigiert werden musste? Es gibt jetzt ja eine
Frau Ministerin Schmidt, die lobend erwähnt, dass es
fast 1 Million neue Beschäftigte in diesem Bereich gibt.
Das ist kein Wunder. Hätten Sie diesen Mist nach 1998
nicht gemacht, dann hätten wir diese Beschäftigten
schon lange. Es waren Ihre Fehler, die wir jetzt mit einem hohem Aufwand korrigieren müssen.
Im Deutschen Bundestag liegt ein Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Fraktion zum Bereich des Arbeitsrechts vor;
wir haben einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt.
Herr Poß, wo ist Ihre Mitwirkung und wo ist die Zustimmung Ihrer Fraktion, sodass wir Deutschland im Bereich
des Arbeitsrechts voranbringen können?
Bezüglich der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe haben wir einen Gesetzentwurf
der hessischen Landesregierung über den Bundesrat eingebracht. Wir werden ihn auch hier im Deutschen Bundestag in Form eines konkreten Gesetzentwurfs zur Debatte stellen. Frau Kollegin Hasselfeldt hat eben unsere
Vorschläge vorgetragen, die wir selbstverständlich in die
Beratungen einbringen.
Auch bezogen auf die Zukunft der Gewerbesteuer liegen konkrete Gesetzestexte und ein Sofortprogramm der
Opposition vor. Herr Poß, es ist eine Schimäre, wenn Sie
einfach behaupten, wir hätten keine Konzepte. Wir tun
mehr, als es eigentlich Aufgabe der Opposition ist. Wir
legen konkrete Anträge und Gesetzentwürfe vor. Es
wäre an Ihnen, sie nicht einfach wegzuwischen, sondern
sich mit diesen Vorschlägen ernsthaft auseinander zu setzen.
({16})
- Herr Poß, zum Haushalt und zu den Finanzen: Wir haben auch zur Steuerreform und zum Vorziehen der dritten Stufe klare und deutliche Ansagen gemacht. Wir haben gesagt, dass wir der Meinung sind, dass ein
Vorziehen der dritten Stufe unter vier Bedingungen möglich ist.
({17})
Die vier Bedingungen sind:
Erstens. Keine Neuverschuldung. Wir wollen keine
Steuerreform auf Kosten der Zukunft finanzieren. Mit
dem Haushalt, den Sie uns heute vorlegen, sind Sie an
diesem Kriterium gescheitert. Sie treiben die Neuverschuldung über die Verfassungsgrenze und auch über die
Verschuldungsgrenze des Maastricht-Vertrages.
({18})
Zweitens. Wir wollen keine Steuererhöhungen, die einer Entlastung dauerhaft entgegenstehen. Was Sie zum
Beispiel bei der Pendlerpauschale machen, ist nichts
anderes, als über mehrere Jahre die Steuern zu erhöhen,
um das Vorziehen der Steuerreform für ein Jahr zu finanzieren.
Die Menschen in Deutschland werden von Ihrer Politik hinters Licht geführt, indem sie dauerhaft stärker belastet werden. Dies wird zwar als Entlastung verkauft, ist
aber auf längere Sicht gesehen eine Mehrbelastung. Das
haben die Menschen in Deutschland auch gespürt: bei
der Ökosteuer, der Erhöhung der Tabaksteuer, der Versicherungsteuer. All diese Steuern haben Sie erhöht und
damit die Entlastungen mehr als kompensiert.
({19})
Die Menschen in Deutschland merken, dass Ihre Politik
nicht zu Entlastungen führt, sondern dass Ihre Politik die
Unternehmen, die Menschen heute und in der Zukunft
belastet. Deswegen ist sie falsch und muss verändert
werden.
({20})
Drittens. Sie haben weiterhin deutlich gemacht: Wir
brauchen Strukturreformen in Deutschland. Ich habe
eben einige Gesetzentwürfe angesprochen, die wir eingebracht haben. Im Bereich Arbeitsmarkt, Wirtschaftspolitik und Sozialsysteme müssen wir vorankommen.
Dazu gibt es konkrete Vorlagen; aber sie müssen umgesetzt werden.
An dieser Stelle unterliegen Sie, Herr Poß und Fraktion, einem gewaltigen Irrtum. Sie sind der Ansicht:
Wenn diese dritte Stufe der Steuerreform vorgezogen
wird, dann wird damit die Konjunktur angeschoben. Wir
haben aber in Deutschland im Wesentlichen kein Konjunkturproblem, sondern ein Strukturproblem. Wir müssen die Strukturprobleme lösen, wenn wir dauerhaftes
Wachstum und eine dauerhafte wirtschaftliche Erholung
erreichen wollen.
({21})
Sie versuchen, sich der Lösung der Strukturprobleme zu
verweigern, und setzen an dieser Stelle auf kurzfristige
Strohfeuerprogramme. Diese werden aber die Probleme
nicht lösen.
({22})
Sie fordern, dass wir uns zu den steuerpolitischen
Maßnahmen äußern. Ich nehme einmal das Gesetz zur
Förderung der Steuerehrlichkeit heraus, die so genannte Brücke in die Steuerehrlichkeit. Das Gesetz
wurde ebenso wie die Kapitalertragsbesteuerung lange
angekündigt und dann verschoben. Sie glauben, dass die
Mehreinnahmen - diese Summe ist im Haushalt fest gebucht -, die Sie an dieser Stelle für den Bundeshaushalt
sowie für die Haushalte der Länder und Kommunen erwarten, ein wesentlicher Teil der Entlastung für Kommunen und Länder werden, die Sie propagieren.
Ich sage Ihnen: Solange bei Ihnen die Frage der Erbschaftsteuer virulent ist und ständig jemand eine Erhöhung dieser Steuer vorschlägt und solange Ihre Positionen zur Vermögensteuer nicht geklärt ist - Ihre Position
zur Vermögenssteuer wollen Sie irgendwann auf einem
Bundesparteitag klären -, werden Sie zu keinem Ergebnis kommen. Unsere Position ist, diese Steuer abzuschaffen und sie aus dem Grundgesetz zu streichen.
Wenn Sie nicht klären, wie die Frage der Kapitalertragsbesteuerung beantwortet wird, werden Sie niemanden
über diese Brücke der Steuerehrlichkeit nach Deutschland zurücklocken. Das, was Sie als Gesetz beschließen
und im Haushalt gebucht haben, hat keine seriöse
Grundlage. Deshalb werden Sie am Ende wieder Löcher
im Bundeshaushalt haben und zu keinem positiven Ergebnis kommen.
Abschließend lassen Sie mich etwas zum Korb II sagen. Auch mit ihm werden viele finanzpolitischen Fragen aufgeworfen. Wir wollen in Deutschland keine Mindestbesteuerung. Deshalb werden wir als Union
Vorschlägen, die eine Mindestbesteuerung vorsehen,
nicht zustimmen.
({23})
Wir sind bereit, mit Ihnen konstruktiv zu diskutieren.
Dies darf aber nicht zu Beschlüssen führen, mit denen
die Zahl der Insolvenzen in Deutschland nach oben getrieben wird.
({24})
Bei der Frage der Fremdfinanzierung bin ich der Auffassung, dass wir nicht nur einfach den EuGH-Beschluss
umsetzen müssen, sondern dass wir auch dafür sorgen
müssen, dass Unternehmen in Deutschland investieren
können. Deshalb muss Ihr Gesetzentwurf in diesem
Punkt geändert werden.
Wir müssen uns auch um das Thema Lebens- und
Krankenversicherungen kümmern. Dafür muss eine
Lösung gefunden werden. Ansonsten werden wir in eine
sehr heikle Lage kommen. Wir alle müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir das Problem der Alterssicherung und der Demographie lösen. Wenn wir die Unternehmen, die dazu Angebote machen, behindern,
werden wir es nicht lösen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich hoffe, dass ich
auch Herrn Poß und seiner Truppe einige Gedanken näher gebracht habe
({0})
und dass sie in Zukunft den Herrn Bundesfinanzminister
stärken und ihm bei den weiteren Debatten nicht in den
Rücken fallen werden.
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg-Otto Spiller,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Dr. Meister, ich bescheinige Ihnen
neidlos: Sie können schnell sprechen.
({0})
Es wäre aber besser gewesen, Sie hätten etwas langsamer gesprochen und dafür deutlicher gemacht, was Sie
eigentlich wollen.
({1})
Mir ist das nicht klar geworden. Ich glaube auch nicht,
dass den Besuchern auf den Tribünen klar geworden ist,
was Ihr Konzept ist. Ich habe nicht erkannt, was Sie wollen.
Wir haben im ersten Teil - das hat mit dem Kollegen
Merz angefangen - überwiegend Polemik gehört. Von
der Opposition kam nur Polemik.
({2})
Ich glaube allerdings nicht, dass die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland Polemik hören wollen, sondern
ich glaube, dass sie wissen wollen, was die unterschiedlichen Konzeptionen sind, um unser Land voranzubringen.
Wir haben dafür eine klare Konzeption vorgelegt.
({3})
Diese stützt sich auf drei Säulen: Wir müssen die finanziellen Handlungsspielräume zurückgewinnen,
({4})
indem wir eine mittelfristige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte betreiben, wir müssen Beschäftigung fördern und wir müssen die Wachstumsschwäche
überwinden.
({5})
Eine Wachstumsschwäche - jetzt ist der Kollege
Rexrodt leider nicht mehr da ({6})
haben wir in Deutschland seit zehn Jahren. Seit 1993
war das gesamtwirtschaftliche Wachstum in Deutschland jedes Jahr niedriger als im Durchschnitt der Europäischen Union. Es macht überhaupt keinen Sinn, über
die letzten drei, die letzten fünf oder die letzten sieben
Jahre zu reden.
({7})
Wir müssen uns vielmehr mit der Frage beschäftigen, wo
die strukturellen Belastungen liegen, die dazu geführt
haben, dass wir anders als in früheren Zeiten schwächer
wachsen als der Durchschnitt der Europäischen Union.
({8})
Es ist ganz offenkundig, dass ein Teil der Ursachen mit
den Lohnnebenkosten zusammenhängt und dass es darauf ankommt, dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme auch unter schwierigen demographischen Bedingungen zukunftssicher machen und Arbeit nicht noch
mehr verteuern, als das ohnehin der Fall ist.
({9})
Deswegen ist die erste Aufgabe unserer Politik, die für
die strukturelle Schwäche verantwortlichen Faktoren zu
beseitigen. Das haben wir mit der Agenda 2010 konkret
auf den Weg gebracht.
({10})
Der zweite Bereich ist die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Dazu zählen nicht nur die Einnahmen,
sondern natürlich auch die Ausgaben. In Bezug auf die
Einnahmen habe ich beim Kollegen Merz wie beim Kollegen Austermann - auch beim Kollegen Dr. Meister konkrete Vorschläge vermisst. Wir haben oft genug bei
vielen Debatten von Ihrer Seite gehört, das Prinzip
müsse sein, Sonderregelungen und Subventionen, insbesondere Steuersubventionen, abzubauen und dafür die
Tarife zu senken.
Wir senken die Tarife. Wir haben die Tarife auch
schon gesenkt.
Wir haben erlebt: Jedes Mal, wenn es beim Abbau
von Steuersubventionen konkret wurde,
({11})
haben Sie, auch Sie, Herr Thiele, gesagt: Aber meine
Klientel darf nicht geschädigt werden.
({12})
Gestern haben wir wieder eine Erklärung von Frau
Merkel zum Bundeshaushalt und zur Einhaltung der
Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes lesen
können. Sie sagt, für die vorgezogene Tarifsenkung
müsse eine seriöse Finanzierung verlangt werden. Man
fragt sich, was die seriöse Finanzierung ist. Sie sagt, es
dürfe aber in keinem Punkt irgendwo einen Abbau von
Subventionen geben. Das passt überhaupt nicht zusammen.
Die CDU/CSU ist eine zu bedeutende Partei, als dass
sie solche Sprüche machen und ihrer Verantwortung ausweichen könnte.
({13})
Man kann vielleicht sagen: Es ist nicht schlimm, wenn
Herr Merz reine Polemik macht; auf Herrn Merz kommt
es letzten Endes nicht an. Das trifft auch für Herrn
Austermann zu. Wir brauchen im Deutschen Bundestag
nicht unbedingt Ihre Zustimmung. Das ist wahr.
({14})
Aber bei Frau Merkel verhält sich das schon anders.
Frau Merkel ist die Vorsitzende der CDU.
({15})
Die Entscheidungen im Bundesrat müssen, meine ich,
verantwortungsbewusst erfolgen. Es trifft nicht zu, dass
die Union im Bundesrat die Opposition darstellt. Im
Bundesrat gibt es nämlich keine Opposition; vielmehr
sind im Bundesrat nur Landesregierungen vertreten. Der
Bundesrat ist ein Organ des Bundes. Die Verantwortung
für den Gesamtstaat muss auch dort wahrgenommen
werden. Täuschen Sie sich nicht: Die Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes erwarten, dass Sie nicht nur in
Polemik ausweichen.
Im Zusammenhang mit dem Stichwort Polemik
- auch Herr Dr. Meister hielt sie für notwendig - will
ich etwas zu den Defizitkriterien ausführen, und zwar
zum einen zu dem innerstaatlichen Kriterium nach
Art. 115 Grundgesetz und zum anderen zu dem im Stabilitäts- und Wachstumspakt innerhalb der Europäischen Union aufgeführten Kriterium der 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts. Herr Dr. Meister, Sie wissen genau, dass Art. 115 Grundgesetz geradezu verlangt,
({16})
dass im Haushalt - und zwar von Bund und Ländern auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Rücksicht
genommen wird und dass Bund und Länder ihre Finanzpolitik im Sinne einer gesamtwirtschaftlich vernünftigen
Entwicklung ausrichten.
Wir können uns nicht der Verantwortung entziehen,
dass bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts eine Steuerung durch die Finanzpolitik
notwendig ist. Wer will denn bei mehr als 4 Millionen
Arbeitslosen und einem derzeit äußerst schwachen
Wachstum leugnen, dass das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht gestört ist? Dafür gibt es - Sie haben
Recht - vier Kriterien: die Stabilität des Preisniveaus, das
Wachstum, den Beschäftigungsgrad und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht. Derzeit sind zwei Kriterien
wirklich beeinträchtigt, nämlich das Wachstum und die
Beschäftigung. Es ist durchaus verantwortungsbewusst,
die Haushaltspolitik danach auszurichten. Wir wissen allerdings, dass es sich nicht ausschließlich um konjunkturelle Nachfrageschwankungen handelt. Ich habe bereits
ausgeführt, dass es auch strukturelle Ursachen gibt.
Es wäre verkehrt, sich nur auf Defizitsteuerung zu beschränken. Aber das machen wir nicht. Wir betreiben
eine auf die Verbesserung der Strukturen ausgerichtete
Politik, die von einer auch auf Wachstumsimpulse setzenden Haushalts- und Finanzpolitik begleitet wird. Das
erfolgt in Übereinstimmung mit dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt der Europäischen Union.
Ich halte es für völlig unangemessen, dass heute von
Herrn Merz und gestern von Frau Merkel mit einer Polemik begonnen worden ist, derzufolge die Stabilität des
Euro gefährdet erscheint. Wir haben eine im EU-Durchschnitt harmonisierte Steigerungsrate der Verbraucherpreise von 2 Prozent. Wir haben in Deutschland eine
Inflationsrate von knapp 1 Prozent; das ist die niedrigste
Inflationsrate in Europa. Wir haben einen stabilen und
starken Euro im Außenwert.
Angesichts dessen ist es völlig deplatziert, von einer
Destabilisierung der Währung zu reden. Machen Sie den
Leuten keine Angst! Tragen Sie vielmehr dazu bei, dass
das Vertrauen wieder wächst! Auch die Union hat eine
Mitverantwortung für die Entwicklung in unserem Land
insgesamt. Wenn Sie diese Mitverantwortung im Bundestag nicht wahrnehmen wollen, kann ich das nur bedauern. Aber ich baue darauf, dass auch im Bundesrat
eine verantwortungsbewusste Mehrheit zustande kommt.
Ich danke Ihnen.
({17})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Gerhard Rübenkönig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Vorsitzender des Rechnungsprüfungsausschusses
habe ich jetzt die Aufgabe, losgelöst von der aktuellen
Debatte die Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2001 zu beantragen.
({0})
In diesem Zusammenhang begrüße ich ganz herzlich
den Präsidenten des Bundesrechnungshofes, Herrn Professor Dr. Dieter Engels, bei dem ich mich gleichzeitig
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken
möchte.
({1})
Dank sagen möchte ich auch den Kolleginnen und
Kollegen im Ausschuss für die sachbezogenen und fairen Debatten und auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats.
Die Entlastung der Bundesregierung ist auf den ersten
Blick ein Routinevorgang, der in der Öffentlichkeit
kaum zur Kenntnis genommen wird. Dies ist eigentlich
schade; denn das Thema Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes verdient durchaus mehr Aufmerksamkeit. Es geht um die wirtschaftliche und ordnungsgemäße Verwendung aller Einnahmen und Ausgaben des
Bundes, also um die korrekte Verwendung von Steuermitteln. Wir reden hier immerhin über 243,1 Milliarden
Euro, die der Bund im Jahre 2001 eingenommen und
verausgabt hat.
Der Bundesrat hat bereits im Februar grünes Licht für
die Entlastung der Bundesregierung gegeben. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die Anträge des Finanzministeriums sowie die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes in sieben Sitzungen ausführlich beraten und
dem Haushaltsausschuss einvernehmlich die Entlastung
empfohlen. Der Haushaltsausschuss hat ebenso einvernehmlich dem Bundestagsplenum, also Ihnen, empfohlen, die Entlastung zu erteilen.
Lassen Sie mich nun einige kurze Ausführungen zur
Jahresrechnung 2001 machen:
Die Ausgaben lagen nach dem Jahresabschluss für
2001 mit umgerechnet 243,1 Milliarden Euro um 0,7 Milliarden Euro unter dem veranschlagten Soll. Die Einnahmen unterschritten mit 220,2 Milliarden Euro ebenfalls
das veranschlagte Soll, und zwar um 1,2 Milliarden Euro.
Die in Anspruch genommene Nettokreditaufnahme lag
mit 22,8 Milliarden Euro um 0,5 Milliarden Euro über der
Kreditermächtigung im Haushaltsgesetz. Die Nettoneuverschuldung war um 4,5 Milliarden Euro niedriger als
die Summe der Investitionsausgaben von rund 27,3 Milliarden Euro. Die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze wurde damit auch im Haushaltsvollzug des Jahres
2001 eingehalten.
Die über- und außerplanmäßigen Ausgaben erreichten
mit 4,9 Milliarden Euro wieder ein erhebliches Volumen.
Mehrausgaben gab es vor allem bei der Arbeitslosenhilfe, beim Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit
und bei den Münzausgaben.
Die seit 1998 bestehende Haushaltsflexibilisierung in
den Verwaltungskapiteln hat nach Einschätzung des
Bundesrechnungshofes positive Auswirkungen auf den
Haushaltsvollzug. Das Bundesministerium der Finanzen
sollte hier aber am Ball bleiben und die haushaltswirtschaftlichen Instrumente zugunsten einer zukunftsgerichteten Haushaltspraxis weiterentwickeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundesrechnungshof hat bereits in seiner letztjährigen Bemerkung
einige Probleme aufgegriffen, die uns auch in der aktuellen finanzwirtschaftlichen Diskussion beschäftigen. So
hat er darauf hingewiesen, dass die Haushaltsprobleme
nicht nur auf die enttäuschende wirtschaftliche Entwicklung zurückzuführen sind, sondern dass sie - wir haben
es eben in der aktuellen Diskussion gehört - auch strukturelle Ursachen haben. Da ist zum einen der hohe
Anteil der Sozialausgaben und der Zinsausgaben. Die
Zinslast ist dabei das Ergebnis einer jahrzehntelangen
Aufnahme immer neuer Schulden. Zum Ende des Jahres
2002 betrugen die Schulden des Bundes und seiner Sondervermögen rund 779 Milliarden Euro. Die Bundesleistungen an die gesetzliche Rentenversicherung übertreffen in ihrer Dynamik alle anderen Ausgabenbereiche.
Der Bundeshaushalt trägt bereits jetzt einen Anteil von
rund einem Drittel der Rentenversicherungsausgaben.
Nach der Finanzplanung werden die Rentenleistungen
im Bundeshaushalt weiter überproportional steigen. Daneben fließen zusätzliche Haushaltsmittel des Bundes in
andere Alterssicherungssysteme wie die Versorgungsausgaben für Beamte und Soldaten, die Leistungen für
die Versorgungsempfänger aus dem Bereich der ehemaligen Bahn und Post sowie die Ausgaben für die Alterssicherung der Landwirte.
Der Bundesrechnungshof weist zu Recht darauf hin,
dass sich der Bund im Vergleich zum Durchschnitt der
Bundesländer keinesfalls in einer besseren finanzwirtschaftlichen Lage befindet. Eher das Gegenteil dürfte
zutreffen. So ist der Bundesanteil am Steueraufkommen
in den letzten zehn Jahren vor allem zugunsten der Länder deutlich zurückgegangen, und zwar von 48,5 Prozent
im Jahr 1994 auf 43,5 Prozent im Jahr 2003. Die Länder
sind daher auch in einer besonderen Pflicht bei der Umsetzung der finanzpolitischen Ziele des europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Wir stehen in der laufenden Wahlperiode vor gewaltigen Reformaufgaben. Für den Rechnungsprüfungsausschuss sehe ich einige interessante Themenkreise, mit
denen wir uns in nächster Zeit intensiv befassen sollten.
Das betrifft zum Beispiel die Fortsetzung der eingeleiteten Verwaltungsreform. Zu dieser Thematik gehört
die weitere Modernisierung des Haushaltsrechts. Hier
sind wir mit der Haushaltsflexibilisierung, mit der Einführung einer Kosten-Leistungs-Rechnung in weiten Bereichen der Bundesverwaltung sowie mit den Pilotprojekten betreffend den Einsatz von Produkthaushalten auf
einem guten Weg.
({2})
Wir sollten aber mögliche Probleme, die mit einer verstärkten Privatisierung öffentlicher Aufgaben verbunden sind, nicht aus den Augen verlieren. Ich denke hierbei insbesondere an den Verlust oder zumindest die
Einschränkung parlamentarischer Kontrollrechte. Ich bin
sicher, dass der Bundesrechnungshof uns dabei wie bisher fachkundig beraten wird.
Wir werden noch genügend Gelegenheit haben, diese
Themen im Rechnungsprüfungsausschuss eingehend zu
erörtern. Für heute möchte ich aufgrund meiner kurzen
Redezeit hiermit schließen und mich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken. Ich bitte Sie um Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2001.
Herzlichen Dank.
({3})
Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Finanzde-
batte liegen nicht vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1502 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Federführung beim Haushaltsaus-
schuss. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wün-
schen Federführung beim Finanzausschuss. Ich lasse zu-
erst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP abstimmen, also die Federführung
beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
der Koalition und der beiden fraktionslosen Abgeordne-
ten gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abge-
lehnt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak-
tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, also die
Federführung beim Haushaltsausschuss? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvor-
schlag ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-
vor angenommen. Damit liegt die Federführung beim
Haushaltsausschuss.
Tagesordnungspunkte 1 d bis 1 g: Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 15/1517, 15/1518, 15/997 und 15/1218 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 15/1517 und
15/1518 sollen abweichend von der Tagesordnung an
den Haushaltsausschuss ausschließlich gemäß § 96 der
Geschäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 1 h: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesminis-
teriums der Finanzen zur Entlastung der Bundesregie-
rung für das Haushaltsjahr 2001 sowie zu den Bemer-
kungen des Bundesrechnungshofes 2002 zur Haushalts-
und Wirtschaftsführung, Drucksachen 14/8729, 15/60
und 15/1262. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ent-
haltung der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 1 i: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidenten
des Bundesrechnungshofes zur Rechnung für das Haus-
haltsjahr 2001, Drucksachen 15/1047 und 15/1258. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 1 j: Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidenten
des Bundesrechnungshofes zur Rechnung für das Haus-
haltsjahr 2002, Drucksachen 15/1048 und 15/1259. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe
und Enthaltungen entfallen, weil die Beschlussempfeh-
lung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen
worden ist.
Zusatzpunkt 1: Interfraktionell wird die Überweisung
des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1470 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1481 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt
- Drucksache 15/1509 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von Cartagena vom 29. Januar 2000
über die biologische Sicherheit zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt
- Drucksache 15/1519 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Stärkung der europäischen Raumfahrtpolitik - Gewinn für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland
- Drucksache 15/1230 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Baumann, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Unterstützung für ehemalige politische Häftlinge umgehend sicherstellen
- Drucksache 15/1524 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1509 - Tagesordnungpunkt 3 b - soll zusätzlich gemäß § 96 der
Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die Vorlage auf Drucksache 15/1230 - Tagesordnungspunkt 3 d - soll zusätzlich an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen
ist.
Tagesordnungspunkt 4:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 30. Juli 2002 zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die deutsch-französischen Gymnasien und das deutsch-französische Abitur
- Drucksache 15/717 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({7})
- Drucksache 15/1364 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Griefahn
Dr. Andreas Schockenhoff
Claudia Roth ({8})
Harald Leibrecht
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1364, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom
5. November 2002 zum Abkommen vom
11. April 1967 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Belgien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerungen und
zur Regelung verschiedener anderer Fragen
auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern
- Drucksache 15/1188 ({9})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({10})
- Drucksache 15/1401 Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Leo Dautzenberg
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/1401, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen und Enthaltungen
entfallen, da der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden ist.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir setzen die Haushaltsberatungen fort und kommen
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Gesundheit und Soziale Sicherung.
Außerdem rufe ich die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ({11})
- Drucksache 15/1525 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({12})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/1514 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({13})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L.
Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Zukunft gestalten statt Krankheit verwalten
- Drucksache 15/1526 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({14})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Das Wort hat die Bundesministerin Ulla Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Präsident hat die Sitzung heute Morgen mit den
Worten eröffnet:
Auf uns warten intensive Arbeit und sicherlich heftige Diskussionen. Ich wünsche mir für uns alle,
dass trotz aller Kontroversen Ergebnisse erzielt
werden, die die gesellschaftliche Situation in
Deutschland verbessern.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Modernisierung
der gesetzlichen Krankenversicherung dokumentiert ein
solches Vorgehen; denn mit ihm nehmen die Fraktionen
im Deutschen Bundestag, die Regierungsfraktionen und
die Opposition, gemeinsame Verantwortung wahr, um
die drängendsten Probleme des Gesundheitswesens zu
lösen: die Beiträge zu senken, die Ausgaben zu bremsen
und die Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen zu
steigern. Koalition, CDU/CSU-Fraktion, Länderregierungen und Bundesregierung haben sich der Verantwortung für eine Erneuerung des Gesundheitswesens gestellt. Das Ergebnis wochenlanger Verhandlungen, die in
außergewöhnlich kollegialer und konstruktiver Atmosphäre stattgefunden haben, ist ein für alle annehmbarer
Kompromiss. Ich stelle das hier ganz nüchtern fest. Es
gibt keinen Grund für Euphorie, aber es gibt auch keinen
Grund, diesen Kompromiss kleinzureden; denn er dient
den Gesunden und den Kranken, er hilft den Krankenkassen und er verbessert die Situation der Leistungserbringer in diesem Bereich. Diese Reform ist notwendig, damit Gesundheit auch morgen noch bezahlbar ist.
Ohne Kompromiss geht es in der Gesundheitspolitik
nicht; denn alle wichtigen Entscheidungen bedürfen der
Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates.
Hätte eine Seite allein die Mehrheit gehabt, dann sähe
das Konzept wahrscheinlich anders aus. Was jetzt durch
Kompromissbereitschaft erreicht wurde, ist mehr, als
jede Seite allein gegen die andere hätte durchsetzen können. Das ist das Entscheidende. Wer das leugnet, der verschließt die Augen vor politischen Realitäten.
({1})
Es war bedauerlich, dass die FDP kurzfristig nicht der
Versuchung widerstehen konnte, Klientelpolitik vor das
Gemeinwohl zu setzen.
({2})
Otto Graf Lambsdorff hat hierzu alles gesagt - ich zitiere
das „Handelsblatt“ vom 8. Juli 2003 -:
Dass die FDP-Führung Internetapotheken, die Aufhebung des Mehrbesitzverbots für Apotheken und
die Lockerung des Vertragsmonopols der Kassenärztlichen Vereinigungen bei der ambulanten ärztlichen Versorgung ablehnt, ist mir unverständlich.
Recht hat er.
({3})
Ich danke all denjenigen, die zum Kompromiss gestanden haben und stehen - trotz unterschiedlicher politischer Auffassungen. Ich danke an dieser Stelle auch all
denjenigen, die in unermüdlicher Arbeit hinter den Kulissen immer dafür gesorgt haben, dass das, was auf der
politischen Ebene entschieden wurde, auch tatsächlich in
Gesetzesform gegossen wurde. Das waren nicht nur die
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Gesundheitsministeriums, sondern auch die der Fraktionen und der Länderministerien. Wir haben allen Grund, ihnen zu danken.
({4})
Mit dem Kompromiss bei der Gesundheitsreform
setzt das Parlament eine gute Tradition in unserem Land
fort, die Tradition, für das Wohlergehen der Menschen
grundlegende sozialpolitische Fragen möglichst im Konsens zu beantworten. Die Bürgerinnen und Bürger können schwierige Entscheidungen akzeptieren, aber sie
wollen in den sozialen Sicherungssystemen in der Regel
Sicherheit und Planbarkeit über den Wahltermin hinaus,
also jenseits der jeweiligen politischen Mehrheiten. In
der Regel ist das bei Dingen, die im Kompromisswege
entschieden wurden, in den vergangenen Jahren auch so
gehandhabt worden. Niemand hat das mehr grundsätzlich infrage gestellt. Unabhängig davon muss natürlich
jedes Gesetz entsprechend der Entwicklung angepasst
werden.
Der Kompromiss mit der Union zur umfassenden Reform des Gesundheitswesens ist ein Baustein zur Umsetzung der Agenda 2010. Er ist ein wichtiger Eckpfeiler
zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine wirtschaftliche Belebung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland. Alle am Kompromiss beteiligten
Fraktionen und Parteien bekennen sich zu dem Ziel, Arbeitskosten und Lohnnebenkosten zu verringern, damit
es gelingt, in Deutschland Beschäftigung zu schaffen.
Denn eines ist klar: Alles, was im Gesundheitswesen
verteilt wird, muss erst erwirtschaftet werden. Nur was
erwirtschaftet wird, kann zur Finanzierung dienen.
Mit dieser Reform werden wir die Beitragssätze zur
gesetzlichen Krankenversicherung schon im Jahre 2004
spürbar senken und in den Folgejahren den durchschnittlichen Beitragssatz unter die 13-Prozent-Grenze drücken. Dabei handelt es sich um eine riesengroße Kraftanstrengung, die nicht kleingeredet werden sollte. Sie ist
notwendig, um die Arbeitskosten zu senken, aber auch,
um die Akzeptanz der solidarischen Versicherung zu
stärken. Es sollte nämlich nie vergessen werden: Solidarität hat auf Dauer nur Bestand, wenn sie den Einzelnen
nicht überfordert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer den Gesetzentwurf genau studiert, wird feststellen: Es ist kein Entwurf,
der die Versicherten und Patienten einseitig belastet, wie
vielfach geschrieben wird. Pharmazeutische Industrie,
Großhandel und Apotheker haben schon im Zusammenhang mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz einen erheblichen Beitrag geleistet und werden ihn auch zu dieser
Reform leisten. Bei aller Diskussion um die Einbeziehung der Leistungserbringer sollten wir aber niemals
vergessen, dass das Gesundheitswesen ein entscheidender Wirtschaftsfaktor ist und dass die 4,2 Millionen Beschäftigten in diesem System auch einen Anspruch auf
angemessene Bezahlung und humane und sichere Arbeitsplätze haben.
({5})
Mit den vorliegenden Maßnahmen wird niemand
überfordert. Es ist richtig, dass die Patienten und Patientinnen mehr Zuzahlungen als heute werden leisten müssen, aber für die Versicherten sinken die Beiträge. Es gilt
für alle eine einkommensabhängige Überforderungsklausel. Es gibt besondere Erleichterungen für Familien
und chronisch Kranke und - das kommt als neues Instrument hinzu - die Krankenkassen erhalten das Recht, Anreize für kosten- und gesundheitsbewusstes Verhalten
der einzelnen Versicherten zu setzen. Damit hat es jeder
Einzelne in der Hand, die jetzt vorgesehenen Zuzahlungen zu reduzieren. Ich bin überzeugt, dass dieser Weg
richtig ist.
Mit der Gesundheitsreform werden entscheidende
Weichen für umfassende strukturelle Erneuerungen
im Gesundheitswesen gestellt. Ich gebe zu: Die Koalitionsfraktionen hätten sich mehr Wettbewerb gewünscht.
Wenn auch beispielsweise die Details zur Neuregelung
der ärztlichen Vergütung komplex und schwierig zu verstehen sind, so kann niemand mit Sachverstand davon
sprechen, dass sich mit dieser Reform nichts positiv verändern würde. Im Gegenteil: Wir öffnen in allen Versorgungsbereichen kollektivvertragliche Strukturen zugunsten wettbewerblicher Lösungen. Wir fördern die
integrierte Versorgung bis an die Grenze des Möglichen.
Wir geben vielfache Anreize zur Förderung von Wirtschaftlichkeit und Qualität in besonderen Versorgungsformen wie zum Beispiel den Chronikerprogrammen.
Wir schaffen Anreize für die Teilnahme an diesen Programmen, die ja ein Quantensprung bei der Verbesserung der medizinischen Versorgung chronisch kranker
Menschen sind, indem Krankenkassen mit Bonusprogrammen oder auch mit besonderen Tarifen werben können.
Wir geben den Krankenkassen mehr Möglichkeiten
zur Steuerung. Wir verlangen aber auch etwas: So müssen die Krankenkassen in Zukunft stärker als bisher Rechenschaft über die Verwendung der Beiträge zum einen bei den Leistungs-, zum anderen bei den
Verwaltungs- und Personalausgaben ablegen. Damit erhöhen wir auch die Transparenz für die Versicherten. Sie
können selbst darauf achten, ob ihre Kasse effizient arbeitet. Angesichts der Steigerung der Verwaltungskosten
in den letzten Jahren ist eine solche Maßnahme mehr als
überfällig.
({6})
Meine Damen und Herren, wir können als Gesetzgeber nur die Rahmenbedingungen setzen; handeln müssen
die Akteure selbst.
Es ist mir in der Diskussion sehr wichtig: Diese Gesundheitsreform ist, anders als es oft behauptet wird,
kein Einstieg in den Ausstieg aus der Solidarität. Auch
wenn gerade für unsere Seite die Neuregelung des
Zahnersatzes eine der bittersten Pillen unseres Kompromisses ist, lassen wir die Menschen mit der jetzt gefundenen Lösung nicht allein. Eine Privatisierung von Leistungen und Risiken findet mit dem Kompromiss nicht
statt. Die Menschen erhalten Wahlmöglichkeiten. Sie
können selbst entscheiden, ob sie den Zahnersatz in der
gesetzlichen oder in der privaten Krankenversicherung
absichern wollen. Für diejenigen, die sich für die GKV
entscheiden, bleiben der gesetzliche Leistungsumfang
mit der medizinisch notwendigen Regelversorgung und
die beitragsfreie Familienmitversicherung erhalten. Wir
sind uns alle darin einig, dass wir als Gesetzgeber sehr
genau darauf achten werden, dass die Ansprüche der
Versicherten durchgesetzt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele wollen es
nicht glauben, aber die Gewinner und Gewinnerinnen
werden die Patienten und Patientinnen sein. Sie erhalten
mehr Wahl- und Mitsprachemöglichkeiten. Sie können
sich endlich erkundigen, wo sie die beste Behandlung ihrer Erkrankungen bekommen. Wir überwinden die strengen Strukturen und starren Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Wir öffnen überall
dort, wo es notwendig ist und gewünscht wird, die Krankenhäuser für die ambulante Versorgung, zum Beispiel
zur Behandlung schwer kranker Menschen, die heute
zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung pendeln müssen. Wir schaffen für diese Menschen auch in
der integrierten Versorgung mehr Möglichkeiten. Wir
führen Hausarztmodelle ein.
Außerdem entsprechen wir einem alten Anliegen gerade der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer: Wir werden in Deutschland künftig medizinische
Versorgungszentren, die insbesondere in Brandenburg
als Gesundheitszentren bekannt sind, zulassen. Sie sind
klassische Zentren der integrierten Versorgung. Damit
werden erstmals auch angestellte Ärzte und Ärztinnen in
ganz Deutschland in der ambulanten Versorgung zugelassen. Dabei freut mich besonders - diese Freude spüre
ich auch bei den Menschen, mit denen ich auf verschiedenen Veranstaltungen diskutiere -, dass endlich ein
Stück Erfahrung aus Ostdeutschland in den Westen exportiert wird.
({7})
Der Gesetzentwurf enthält viele Regelungen, mit denen wir die besondere Situation in den neuen Bundesländern berücksichtigen und die medizinische Versorgung
dort stärken wollen. Unser Ziel ist, auch im medizinischen Bereich die Angleichung der Lebensverhältnisse
von Ost und West voranzubringen.
Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, bei dem oft
so getan wird, als hätten wir ihn vergessen. Inzwischen
gibt es ein Urteil zur Arbeitszeit der Ärzte und Ärztinnen. Auch darüber haben wir ausführlich gesprochen.
Bereits vor dem Urteil waren wir uns einig, dass wir erwarten, dass die Hierarchie in den Krankenhäusern abgebaut werden muss und dass die Krankenhäuser Arbeitszeitmodelle schaffen, durch die den Ärzten und
Ärztinnen Schichtarbeit ermöglicht wird. Wir wollen für
die Beschäftigen keine Arbeitszeiten von 30 Stunden.
Daher gibt es in diesem und im kommenden Jahr Geld
zur Unterstützung der Krankenhäuser, die hier einen anderen Weg beschreiten wollen. Die Einführung der Fallpauschalen und der neuen Finanzierung in den Krankenhäusern ist ein integraler Bestandteil der Reform. Ich
sage ganz klar und spreche für alle Teilnehmerinnen und
Teilnehmer der Konsensrunde: Wir wollen, dass Ärzte
und Ärztinnen nicht mehr 30 Stunden am Stück arbeiten
müssen. Wir setzen darauf, dass das, was schon heute in
fast 40 Prozent aller Krankenhäuser möglich ist, auch in
den übrigen 60 Prozent endlich entsprechend gehandhabt wird.
({8})
Nicht nur in der Gesundheitspolitik, sondern in der
gesamten Sozialpolitik sind Sicherheit und Bezahlbarkeit für uns die entscheidenden Leitplanken. Im Alter,
bei Krankheit oder in anderen schwierigen Lebenssituationen kann es für jeden von uns Momente geben, in denen wir auf die Solidarität der anderen angewiesen sind.
Diese Solidarität unter veränderten ökonomischen Bedingungen in einer globalisierten Welt, aber auch angesichts der veränderten demographischen Entwicklung zu
gewährleisten ist unsere Aufgabe. Dass wir alle glücklicherweise immer älter werden und die Lebenserwartung
steigt, auf der anderen Seite aber zu wenig Kinder geboren werden, ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts.
({9})
Aus diesem Grund sind die anstehenden Sozialreformen notwendig. Sie sind notwendig, damit die Solidarität
gewahrt bleibt und damit - das sollte nicht unterschätzt
werden - Gemeinsinn und Zusammengehörigkeitsgefühl
der Menschen gestärkt werden; denn ohne Solidarität
bricht eine Gesellschaft auseinander. Dass wollen wir
nicht.
Deshalb werden wir auf dieser Grundlage eine breite
gesellschaftliche Diskussion nicht nur um die langfristige Finanzierung unseres Gesundheitswesens führen
müssen. Es wird viel über die Bürgerversicherung diskutiert. Ich habe den Eindruck, dass die Modelle noch nicht
entscheidungsreif sind und dass wir noch sorgfältig prüfen und abwägen müssen, um eine klare Perspektive aufzuzeigen. Aber wir werden die Diskussion über die
nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung führen
müssen und auch Beschlüsse zur nachhaltigen Finanzierung der Alterssicherung in Deutschland fassen müssen.
Auch dabei gelten für uns die beiden Gesichtspunkte Sicherheit und Bezahlbarkeit.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode bereits
Strukturreformen in der Rentenversicherung umgesetzt. Wir haben den Einstieg in die kapitalgedeckte Zusatzversorgung geschaffen, der damals vom Kollegen
Seehofer als Quantensprung in der Rentenpolitik bezeichnet worden ist. Gleichwohl müssen wir weitergehen und weitere Maßnahmen auf den Weg bringen. Daher werden wir im Herbst Maßnahmen vorstellen, die
sowohl die kurz- als auch die mittelfristige Stabilisierung der Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung zur Folge haben und die zugleich eine langfristige
Konsolidierung der gesetzlichen Rentenversicherung sichern. Auch das wird nicht einfach. Es wird unbequem.
Aber es ist der einzige Weg, der dazu führt, dass die Alterssicherung für die Jungen bezahlbar und für die Älteren
verlässlich bleibt; denn eines sollten wir nie vergessen:
Nur bezahlbare Renten sind sichere Renten.
Mit der anstehenden Reform der Sozialhilfe stellen
wir einfache und transparente Hilfeleistungen zur Verfügung. Einmalige Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt werden in den Regelsatz mit einbezogen. Dies
bringt neben der Stärkung der Eigenverantwortlichkeit
der Leistungsberechtigten für die Verwaltung erhebliche
Vereinfachungen. Leistungen müssen künftig nicht mehr
einzeln bewilligt werden und der Einzelne kann besser
mit einem eigenen Budget haushalten und eigene Prioritäten setzen.
Sicherheit und Bezahlbarkeit als Leitplanken unserer
Sozialpolitik sind auch Kennzeichen des vorliegenden
Haushalts. Wir garantieren auf der einen Seite die Bereitstellung der notwendigen Mittel für die Sicherung
und Fortentwicklung der Systeme der sozialen Sicherung. Auf der anderen Seite trägt dieser Haushalt zugleich dem Kurs der strikten Haushaltskonsolidierung
Rechnung.
In der Zukunft wird es keine Sozialpolitik mehr nach
dem Motto geben: Wasch mir den Pelz, aber mach mich
nicht nass. Dieses Motto macht unsere sozialen Sicherungssysteme nicht zukunftsfähig. Es verschiebt Probleme, löst sie aber nicht. Wir haben keine Wahl. Wir
müssen uns den notwendigen Reformen stellen, und
zwar heute. Dies sage ich auch als Mutter und Großmutter; denn ich möchte, dass auch unsere Kinder und Enkelkinder im Alter noch ein vergleichbares Stück Sicherheit haben, das für uns alle so selbstverständlich
geworden ist. Auch sie haben ein Recht darauf.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Seehofer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das deutsche Gesundheitswesen ist in den letzten Monaten - wie selten zuvor - in den Mittelpunkt der
sozialpolitischen Diskussion gerückt. Ich glaube, es ist
zu Beginn dieser Beratungen über den Gesundheitskonsens ganz wichtig, dass wir uns einmal Klarheit darüber
verschaffen, wo wir mit unserem Gesundheitswesen stehen und wo die eigentlichen Probleme liegen. In den
letzten Wochen und Monaten ist nämliches vieles vermischt worden.
Wir haben es in Deutschland nicht mit einer Krise
bei der Versorgung kranker Menschen zu tun. Uns bewegt - nicht zum ersten Mal, aber immer drängender die Finanzierungskrise in der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir können auch im internationalen Vergleich feststellen, dass unser Gesundheitswesen in allen
Teilen Deutschlands einen sehr hohen Versicherungsschutz bietet, ein beinahe flächendeckendes Angebot an
Gesundheitsleistungen bereitstellt und einen vergleichsweise hohen Versorgungsgrad aufweist.
Wenn wir also im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform über die Versorgungsqualität diskutieren,
dann diskutieren wir nicht darüber, wie wir sozusagen
aus dem Keller in eine obere Etage gelangen können,
sondern darüber, wie wir es schaffen können, dass wir
trotz der vielen Veränderungen in der Arbeitswelt, der
wirtschaftlichen Schwäche, der steigenden Lebenserwartung und trotz des medizinischen Fortschritts in einer
oberen Etage bleiben, vielleicht sogar noch eine Etage
höher kommen können.
Diejenigen, die im Gesundheitsbereich in verschiedenen Berufen insbesondere als Mediziner oder als Pflegekräfte tagtäglich einen sehr kompetenten und auch humanen Dienst für kranke Menschen leisten, sind nicht
die Verursacher der Probleme im deutschen Gesundheitswesen. Deshalb möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, den Frauen und Männern zu danken, die rund
um die Uhr, ständig konfrontiert mit dem Leid, mit dem
Schicksal von kranken Menschen und nicht selten mit
dem Tod, ihren Dienst für kranke Menschen mit hoher
Kompetenz und mit sehr viel Humanität leisten. Sie haben unseren Dank verdient.
({0})
Wenn ich sage, dass wir weniger Probleme in der Versorgungsqualität haben, dann heißt das nicht, dass dort
alles perfekt ist. In Menschenhand ist nichts perfekt; alles kann noch verbessert werden. Aber in der VersorHorst Seehofer
gungsqualität liegt nicht der Ansatzpunkt für eine Gesundheitsreform. Unser primäres Problem ist die
Finanzierungskrise. Bei allem Konsens und bei aller
Konsensbereitschaft kann ich Rot-Grün die Feststellung
nicht ersparen, dass die Finanzierungskrise in der gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands in den letzten
Jahren politisch verschuldet worden ist.
({1})
- Frau Bender, wenn Sie sagen, das hätte jetzt nicht sein
müssen, dann muss ich erwidern: Bei allem Konsens und
bei allen gegenwärtigen Konsensbemühungen muss man
schon deutlich machen, wo die Ursache für die Krise
liegt, damit man in der Zukunft die Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholt. Einer Ihrer größten Fehler
ist, 1997 und 1998 gegen mehr Eigenverantwortung im
deutschen Gesundheitswesen politisch zu Felde gezogen
zu sein und 1999 die Gesundheitsreform zurückgenommen zu haben. Wir hätten einen ganzen Rucksack weniger Probleme in Deutschland, wenn Sie 1999 unsere Sozialreformen nicht zurückgenommen hätten.
({2})
- Wir haben 1998 Überschüsse übergeben und die Beiträge waren deutlich niedriger. Jetzt haben wir die
höchsten Beitragssätze in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung. Die gesetzlichen Krankenkassen sind enorm verschuldet, nämlich mit zwischen
7 und 8 Milliarden Euro. Viele Krankenkassen können
die Leistungen nur noch finanzieren, weil sie Schulden
aufnehmen.
({3})
Es gibt überhaupt keine Krankenkasse mehr, die die gesetzlich vorgeschriebenen Rücklagen vorweisen kann.
Ich neige bei Bewertungen nicht zum Superlativ; aber
hier muss man von einer Finanzierungskrise sprechen.
Es gibt sicher externe Faktoren. Aber ein Hauptgrund
sind die fehlerhaften politischen Entscheidungen. Deshalb bin ich froh, dass sich Rot-Grün bei diesem Konsens in vielen Bereichen, was Eigenverantwortung, Freiheit sowie Rücknahme des Staates und Rücknahme von
Paragraphen betrifft, im Grundsatz in die richtige Richtung bewegt hat.
Ich halte es für einen ganz großen Ertrag der Konsensverhandlungen, dass es uns geglückt ist, die freie Arztwahl, die freie Krankenhauswahl und die freie Krankenkassenwahl der Bürger in Deutschland zu erhalten.
({4})
Dies ist ein großes Bürgerrecht. Qualität und Effizienz
können Sie im Gesundheitswesen nicht mit Planwirtschaft, sondern nur mit Wettbewerb und freier Arztwahl
erhalten.
({5})
Der Europäische Gerichtshof hat heute ein Urteil mit
dem Inhalt gefällt, dass Bereitschaftsdienstzeiten künftig bezahlte Arbeitszeiten sein müssen. Wir haben uns in
der Konsensrunde darauf verständigt, ein solches Urteil
- dessen Inhalt wir nicht kannten - nicht abzuwarten.
Wir haben vielmehr gesagt: Unabhängig von der Rechtsprechung wollen wir dieses brennende Problem lösen
- Frau Schmidt hat schon darauf hingewiesen -, und
zwar indem wir die Bereitschaftsdienstzeiten als bezahlte Arbeitszeiten anerkennen.
Deshalb ist im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen, dass wir bis zum Jahre 2009 jährlich 100 Millionen
Euro, also insgesamt 700 Millionen Euro, zur Verfügung
stellen, damit dieses Problem finanziell bewältigt werden kann. Die andere Hälfte - auch das sagen wir offen muss durch eine Eigenleistung der Krankenhäuser erbracht werden. Es gibt in Deutschland viele Krankenhäuser, die bereits eine Optimierung des Arbeitszeitmanagements durchgeführt haben. Es sind sogar
Krankenhäuser dafür prämiiert worden. Diejenigen
Krankenhäuser, die jetzt glauben, sie stünden vor einem
unlösbaren Problem, sollten sich bei diesen vorbildlichen Krankenhäusern umsehen.
So kann man auch in Zukunft die Probleme richtig lösen: auf der einen Seite ermöglichen, dass Dinge, die
noch nicht effizient genug sind, in der Eigenverantwortung der Krankenhäuser gelöst werden, und auf der anderen Seite Unterstützung durch den Gesetzgeber bzw.
durch die Krankenkassen gewähren, damit zusätzliche
Mittel zur Verfügung gestellt werden, sodass künftig
keine überlasteten Ärzte für kranke Menschen eingesetzt
werden müssen.
({6})
Überhaupt möchte ich feststellen: Bei der Lösung dieses Problems haben wir nicht das Urteil abgewartet.
Diese Vorgehensweise steht schon im Gesetzentwurf.
Der Gesetzentwurf ist bekanntlich vor diesem Urteil formuliert worden.
({7})
Auch ich teile das Urteil, dass in diesem Gesetzentwurf viel mehr Strukturelemente enthalten sind, als es in
der öffentlichen Diskussion gelegentlich zum Ausdruck
kommt. Ich sage manchmal scherzhaft zu Journalisten:
Ich habe Verständnis dafür, dass sie einfach nicht den
Platz haben, auch über die Strukturelemente der Gesundheitsreform zu schreiben.
Meine Damen und Herren, wir haben jahrzehntelang
über die Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen diskutiert. Ich finde, es ist ein großer Fortschritt,
dass versicherungsfremde Leistungen künftig nicht mehr
aus Beitragsmitteln, aus Sozialversicherungsbeiträgen,
sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Das wird
jetzt Wirklichkeit. Dies wird die Krankenversicherungen
um fast einen halben Prozentpunkt entlasten.
Ich finde es gut, dass wir bei der Reform der ärztlichen Vergütung Einigkeit erzielt haben. Ärzte werden
künftig für gute Qualität und nicht mehr für die Ausweitung der Leistung bezahlt. Das wird übrigens zu qualitativ wesentlich verbesserter medizinischer Versorgung
führen. Es wird also die Qualität finanziert und nicht die
Menge, die Ausweitung der Leistung.
Die Budgetierung wird auch im ambulanten Bereich
- im Krankenhaus ohnehin - abgeschafft. Denn sosehr
man die Budgetierung zeitlich befristet als Steuerungsinstrument wählen kann, sie führt, wenn sie auf Dauer eingeführt wird, bei den kranken Menschen zur Rationierung, zur Einschränkung von Leistungen. Dies hat in
Deutschland in der Praxis zu der absurden Situation geführt - die Dauerbudgetierung war in diesem Zusammenhang das Hauptproblem -, dass Sozialhilfeempfänger medizinisch umfassender versorgt wurden als die
beitragszahlenden Krankenversicherten. Denn für die einen gab es ein Budget und für die anderen nicht. Deshalb
ist es eine zweite wichtige strukturelle Maßnahme, dass
Sozialhilfeempfänger künftig medizinisch wieder genauso behandelt werden und die gleichen Zuzahlungen
zu leisten haben wie beitragszahlende Krankenversicherte. Das ist ein Stück mehr Gerechtigkeit.
({8})
Nach jahrelanger Diskussion wird jetzt das Wahlrecht der Versicherten im Hinblick auf die Kostenerstattung eingeführt. Nicht Funktionäre und Institutionen,
sondern niemand anders als der Versicherte, der Beiträge
zahlt, hat zu entscheiden, ob er eine Kostenerstattung
oder eine Sachleistung will. Es kommt zu einer Stärkung
der Patientenrechte mit dem Recht auf Ausstellung einer
Rechnung und mit einer Beteiligung der Selbsthilfegruppen und Patientenverbände in Gesundheitsinstitutionen,
Krankenkassen und Bundesausschüssen, wo sie mitreden können. Denn es wird zwar oft über den Patienten
gesprochen; aber die Patienten sind viel zu wenig in die
Entscheidungsprozesse der deutschen Gesundheitspolitik eingebunden. Das ändert sich jetzt. Wir stärken die
Patientenrechte massiv, ohne dass damit Bürokratie verbunden ist. Wir öffnen die Krankenhäuser teilweise wieder bei schwierigen medizinischen Indikationen und bei
hoch spezialisierter Versorgung für die ambulante Behandlung. Wir konnten den Menschen nicht mehr länger
erklären, warum eine Frau nach einer Brustamputation
mit wochenlangem stationären Aufenthalt nicht zur ambulanten Behandlung in das Krankenhaus zurückkann,
in dem sie Vertrauen zum Pflegepersonal und zu den
Ärzten hat. Dass sich dies jetzt ändert, ist ein großer
Wunsch der Bevölkerung.
Wir öffnen die integrierte Versorgung mit weniger
gesetzlichen Vorgaben. Ein großes Problem des deutschen Gesundheitswesens besteht in der starren Trennung von stationärer und ambulanter Behandlung. Diese
wird jetzt gesetzgeberisch deutlich erleichtert. Wir
schreiben nicht für ganz Deutschland vor, wie das zu geschehen hat, sondern die Ärzte, Krankenkassen und andere vor Ort sollen darüber im Sinne eines freiheitlichen
selbstverwalteten Gesundheitswesens entscheiden, wie
sie es für richtig halten.
Wir lassen medizinische Versorgungszentren zu, und
zwar nicht als Spielwiese für gescheiterte Sozialingenieure, nicht für die Sozialversicherungen und nicht für die
öffentliche Hand. Sie kommen in unternehmerische Verantwortung und junge Ärzte erhalten somit die große
Chance, vor der Niederlassung in einem medizinischen
Versorgungszentrum tätig zu sein.
Wir stärken die Prävention. Wer an seriösen Präventionsmaßnahmen teilnimmt, der kann von seiner Krankenkasse einen Bonus bekommen. Wir haben verabredet, dem Deutschen Bundestag noch in diesem Jahr ein
Präventionsgesetz vorzulegen; denn bei allem Lob, das
man dem deutschen Gesundheitswesen aussprechen
kann und muss, muss man sagen: Wir sind bei der Prävention immer noch zurückhaltend. Die Präventionen
müssen wir verstärken.
({9})
Einige strukturelle Maßnahmen, die in der gesundheitspolitischen Diskussion lange umstritten waren und
jetzt im Konsens auf den Weg gebracht werden, ermöglichen eine grundlegende strukturelle Umorientierung
weg von immer weiter wachsender Bürokratie hin zu
mehr Freiheit und eigenverantwortlichen Entscheidungen der Betroffenen im Gesundheitswesen.
Ich bin bei diesem Konsens am glücklichsten darüber,
dass wir den Trend gerade der letzten vier, fünf Jahre
durchbrechen, bei dem mehr für die Bürokratie im Gesundheitswesen und immer weniger für die Medizin ausgegeben wurde. Die Beitragsmittel sind dafür da, damit
mit ihnen kranke Menschen versorgt werden. Sie sind
nicht dafür da, damit mit ihnen Bürokratie finanziert
wird. Deshalb ist es richtig, die Verwaltungskosten der
Krankenkassen bis zum Jahre 2007 einzufrieren und die
Krankenkassen zu verpflichten, die Vorstandsgehälter zu
veröffentlichen. Das hat präventiveren Charakter als alles andere.
Es war richtig, eine Bundesbehörde für Qualität in der
Medizin zu verhindern. In diesem Institut wären ohnehin
nur die gescheiterten Ärzte, die darüber frustriert sind,
dass sie nicht Chefarzt geworden sind, tätig gewesen. Sie
hätten sich als Oberlehrer für diejenigen aufgespielt, die
für die kranken Menschen ihren Dienst tun.
({10})
Das haben wir vermieden.
({11})
Ich weiche auch der Frage der Selbstbeteiligungen
nicht aus. Ich bleibe dabei: Wenn Sie Rationierung von
Gesundheitsleistungen vermeiden wollen, wenn Sie vermeiden wollen, dass kranken Menschen das Notwendige
nicht mehr zuteil wird, dann kommen Sie an einer sozial
verträglichen Zuzahlung nicht mehr vorbei. Es ist sozial
weitaus gerechter, die Menschen in verträglicher Weise
an den Gesundheitskosten zu beteiligen, als chronisch
kranke Menschen durch Leistungsausschlüsse von der
Versorgung auszugrenzen. Das ist weitaus verträglicher.
({12})
Wir haben auf die soziale Situation der kleinen Leute
Rücksicht genommen. Kein chronisch kranker Mensch
muss mehr als 1 Prozent seines Einkommens zuzahlen.
Das ist Eigenverantwortung, die zumutbar ist. Alle anderen Menschen müssen nicht mehr als 2 Prozent aufbrinHorst Seehofer
gen. Wir haben Freibeträge für die Kinder eingeführt.
Für die Kinder und Jugendlichen gibt es keine Zuzahlungspflicht und auch ein nicht berufstätiger Ehegatte
bekommt Freibeträge. Es gibt die klare Definition, dass
die 1 bis 2 Prozent des Einkommens Eigenverantwortung darstellen und der Rest in solidarischer Absicherung erfolgt. Es ist gewissermaßen gesetzlich definiert,
was Eigenverantwortung und was Solidarität ist.
Weil wir die Kraft dazu haben, werden wir auch das
oberste gesundheitspolitische Ziel in den nächsten Jahren finanzieren können - und zwar bei sinkenden Beiträgen -: Das Allerwichtigste ist - das ist noch wichtiger
als die Lohnnebenkostenfrage -, dass kranke Menschen
darauf vertrauen können, auch in Zukunft medizinisch
und pflegerisch erstklassig versorgt zu werden.
Wir werden keine Unterschiede hinsichtlich des
Finanzstatus, des Einkommens oder des Alters machen.
Es muss beim Prinzip der Solidarität bleiben, das in
der Bevölkerung hohen Respekt und hohe Wertschätzung genießt, nämlich Jung für Alt, Stark für Schwach
und Gesund für Krank. Das ist mit dieser Gesundheitsreform realisiert.
({13})
Meine Damen und Herren, Beteiligte an einem Konsens neigen immer dazu, den Konsens höher zu bewerten, als er tatsächlich ist. Trotzdem kann ich als Beteiligter an vielen Reformen sagen, dass es zumindest vom
Finanzvolumen her - die Kostenersparnis wird in den
nächsten vier Jahren über 20 Milliarden Euro betragen ein sehr großes Werk ist. Ich darf an den Kompromiss
von Lahnstein aus dem Jahr 1992 erinnern, bei dem es
um ein Volumen von 5 Milliarden ging.
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen. Eine Beitragssatzsenkung, die zu Ersparnissen
und zu einer Erleichterung bei den Lohnnebenkosten
führt, sowie die Einlösung unseres politischen Versprechens, eine erstklassige Medizin für alle sicherzustellen
- das ist unsere Absicht -, werden auf Dauer nur gelingen, wenn die Quelle, aus der die Sozialsysteme finanziert werden, in der Zukunft wieder zum Sprudeln gebracht wird. Erstklassige Wirtschaft ist Voraussetzung
für erstklassige Gesundheitsleistungen. Deshalb sage ich
an die Adresse von Rot-Grün: Sie müssen Ihre Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik fundamental ändern;
({14})
denn wir können im Gesundheitswesen nicht so viel reformieren, wie uns durch eine verfehlte Wirtschaftspolitik auf der Einnahmeseite wegbricht.
({15})
Ich bleibe dabei: Das Werk, das durch unsere gemeinsamen Reformen entsteht, ist ein großes Werk. Es war
im Augenblick, in der Notsituation der gesetzlichen
Krankenversicherung, parteiübergreifend zu leisten.
Aber dieses Werk wird am Ende nicht gelingen, wenn es
nicht zu positiven Impulsen für Wachstum und Beschäftigung und durch einen Abbau der Arbeitslosigkeit wieder zu mehr Beitragszahlern und somit zu mehr Einnahmen für die Krankenversicherung kommt. Noch nie war
der Satz „Sozial ist, was Arbeit schafft“ so richtig. Ein
erstklassiges Medizinwesen ohne eine erstklassige Wirtschaft ist nicht vorstellbar. Darauf wollte ich am Schluss
noch hinweisen.
Abschließend richte ich einen herzlichen Dank an
alle, die mitgewirkt haben. Es war ein einmaliges Vorgehen. Frau Schmidt, es waren ja einige schöne Nächte, die
ich erlebt habe. Trotzdem meine ich: Es sollte im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens der Regelfall sein
- das kann ich aus der Erfahrung der letzten Tage
sagen -, dass man sich in der Zukunft wieder auf die
Transparenz eines parlamentarischen Beratungsverfahrens besinnt. In diesem Fall war es eine Ausnahme wegen der Notsituation. Aber aus der eigenen Erfahrung
heraus plädiere ich, der ich voll zu diesem Konsens
stehe, dafür, dass wir künftig wieder Bundestag und
Bundesrat als Plattform für parlamentarische Beratungen
und die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen wählen.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Seehofer, ich hätte erwartet, dass Sie beim
Thema erstklassige Finanzierung das Stichwort Bürgerversicherung nennen. Ich denke, darüber werden wir
demnächst noch reden.
Vor wenigen Tagen meldete sich von unerwarteter
Seite ein Kronzeuge dafür, dass der vorliegende Gesetzentwurf so schlecht nicht ist, wie gelegentlich behauptet
wird. Herr Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, prognostizierte, dass diese Reform in kurzer Zeit
für sehr viel mehr Wettbewerb als bisher sorgen werde.
Das liege, so Herr Hoppe weiter, insbesondere an der
Zulassung von Gesundheitszentren und den erweiterten
Kooperationsmöglichkeiten zwischen Krankenhäusern
und dem ambulanten fachärztlichen Bereich.
({0})
Zugegeben, Herr Hoppe hat diese Äußerungen kritisch gemeint. Er beschwor die aus unserer Sicht völlig
unrealistische Gefahr herauf, dass die niedergelassenen
Fachärzte durch die neue Konkurrenz verdrängt würden.
Doch ich sage Ihnen: Diejenigen, die für mehr Wettbewerb und mehr Kooperation im Gesundheitswegen plädieren, hat er mit seiner Äußerung nicht schrecken, sondern nur ermutigen können.
({1})
Meine Damen und Herren, im Kern hat der Präsident
der Bundesärztekammer Recht: Diese Reform wird allen
Akteuren größere Chancen für Strukturveränderungen
bieten als jede Gesundheitsreform vor ihr. Die Diagnose,
dass das Gesundheitswesen in Deutschland vor allen an
der starren Abschottung der Leistungsbereiche leidet - und daran die Patientinnen und Patienten leiden -,
wird allgemein geteilt. Die Behebung dieses Leidens
wird umso drängender, als wir alle wissen, dass die Zahl
der chronisch Kranken zunimmt und dass gerade sie es
sind, die aufeinander abgestimmte Versorgungsketten für
eine gute Behandlung brauchen.
Wir haben deswegen bereits im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 versucht, mit der Einführung der integrierten Versorgung einen Bereich zu schaffen, aus
dem heraus allmählich mehr Kooperation zwischen Ärzten, anderen Gesundheitsberufen und Krankenhäusern
entsteht. Aber es hat sich in den letzten Jahren gezeigt,
dass die rechtlichen und wirtschaftlichen Barrieren für
diese Zusammenarbeit so hoch sind, dass keine große
Zahl neuer Versorgungsnetze entstanden ist.
Genau hier liegt die wichtigste Strukturveränderung
in diesem Gesetzentwurf: Zusammenarbeit wird möglich, sie wird sogar gefördert. Wir haben die rechtlichen
Schranken abgebaut. Darüber hinaus werden bis zum
Jahr 2006 bis zu 600 Millionen Euro bereitgestellt, um
den schlafenden Riesen Integrationsversorgung zu wecken. Das ist auch ein Weg zu mehr Qualität.
({2})
Die Botschaft, dass mehr Zusammenarbeit möglich
wird, senden auch andere Reformmaßnahmen. Die in
den neuen Bundesländern erfolgreich erprobten Gesundheitszentren werden zur Regelversorgung zugelassen und endlich überall möglich. Das kommt dem Bedürfnis der Patientinnen und Patienten nach kurzen
Wegen und Versorgung aus einer Hand entgegen. Durch
die Ausweitung der Hausarztmodelle erhalten die Patientinnen und Patienten die Gelegenheit, selbst etwas
zum Zusammenwachsen des Versorgungssystems beizutragen. Durch die Teilöffnung der Krankenhäuser für die
fachärztliche ambulante Versorgung wird gerade für
schwer erkrankte Patientinnen und Patienten die Kontinuität der Behandlung sichergestellt.
Dieses Gesetz macht vieles möglich. Es verordnet
nicht von oben herab mehr Zusammenarbeit. Aber es
bietet allen Akteuren im Gesundheitswesen, den Leistungserbringern, den Kassen und den Patienten, die
Möglichkeit, sich für mehr Zusammenarbeit zu entscheiden. Ob diese Chance genutzt wird, wird von den Akteuren im Gesundheitswesen abhängen.
Meine Damen und Herren, einen großen Schritt nach
vorn bedeutet das Gesetz auch für die Weiterentwicklung der Beteiligungsrechte von Patientenverbänden,
Selbsthilfezusammenschlüssen und Behindertenorganisationen. Seit den 80er-Jahren haben wir aus der Gesundheitsbewegung heraus immer wieder die Kritik gehört, dass das Gesundheitswesen eine der letzten
demokratiefreien Zonen dieser Gesellschaft sei, dass Patienten nicht als Beteiligte, sondern als Objekte von Behandlungsprozessen behandelt würden, dass das System
einseitig auf Kostenträger und Leistungserbringer ausgerichtet sei, dass die Beteiligungsrechte von Patienten und
Versicherten gegen null gingen.
Nun können wir als Gesetzgeber den alltäglichen
Umgang mit Patientinnen und Patienten in den Praxen
und Krankenhäusern nur bedingt beeinflussen. Wir haben auch gar nicht vor, hier durch eine staatliche Steuerung einzugreifen. Aber ob Patienten als Partner oder als
Abhängige behandelt werden, hängt neben der Ausbildung auch von Lernprozessen in der Ärzteschaft ab. Da
hat sich in den letzten Jahren etwas getan. Aber es ist unsere Aufgabe, die institutionellen Rahmenbedingungen
für die Beteiligung der Betroffenen zu schaffen. Dieses
Gesetz trägt dazu bei. Endlich werden in allen Gremien
des Gesundheitswesens die Betroffenen-, die Patientenverbände beteiligt. Auf diese Weise werden aus Betroffenen Beteiligte.
({3})
Damit tun wir auch etwas für die Qualität im Gesundheitswesen. Denn wer wüsste besser etwas über die Qualität von Behandlungen zu sagen als diejenigen, die sie
im wahrsten Sinne des Wortes hautnah erleben?
({4})
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist - das
sage ich für die Grünen - einerseits gut, da es den Akteuren den notwendigen Bewegungsspielraum gibt, um unser Gesundheitswesen gemeinsam und auf Augenhöhe
besser zu machen. Andererseits - auch dies sage ich
deutlich - weist das vorliegende Gesetz ein Defizit auf.
Dieses Defizit wird offensichtlich, wenn man den Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen hier ins Parlament eingebracht haben, und den jetzigen Konsensentwurf einmal nebeneinander legt; denn wir sind mit
unserem Gesundheitssystem-Modernisierungsgesetz der
Grundidee gefolgt, dass mehr Wettbewerb erforderlich
ist, um im Gesundheitswesen mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit hervorzubringen.
Dazu sollten in allen Leistungsbereichen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, um neben den Kassen,
die ja bereits im Wettbewerb stehen, auch die Leistungserbringer in den Wettbewerb zu bringen, sodass sie um
Qualität und Wirtschaftlichkeit wetteifern. Leider ist dieser Wettbewerbsgedanke im vorliegenden Gesetzentwurf stark reduziert worden. Ich sage aber auch deutlich:
Er wurde zwar reduziert, aber nicht eliminiert. Es ist mir
wichtig, das an dieser Stelle festzuhalten.
Auch die nun vorgesehenen Reformmaßnahmen - hier
verweise ich wieder auf den eingangs zitierten Professor
Hoppe - werden zu weitaus mehr Wettbewerb führen,
als das Gesundheitswesen bisher kennt. Das liegt an dem
Ausbau der Integrationsversorgung - das sind letztlich
Direktverträge -, an weiteren Flexibilisierungen im Vertragsrecht und an der Zunahme der Wahlmöglichkeiten
für die Versicherten zwischen verschiedenen Versorgungsformen. Zudem ist es in der Arzneimitteldistribution gelungen, mit der wenngleich begrenzten Aufhebung des Mehrbesitzverbotes bei den Apotheken, der
Zulassung des Arzneimittelversandhandels und der
Preisfreigabe für verschreibungsfreie Arzneimittel wichtige Wettbewerbselemente einzuführen. Hier wurde eine
Tür aufgestoßen, damit die Schutzzäune, die den Wettbewerb bisher verhindert haben, fallen.
Trotzdem sind auf dem Weg vom ursprünglichen Gesetzentwurf zum Konsens einige Reformmaßnahmen für
mehr Wettbewerb über Bord gegangen. Ich sage hier für
die Grünen: Wir wollen dafür sorgen, dass diese Maßnahmen wieder ins Boot kommen; denn wir brauchen
diese Wettbewerbselemente, um Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen und die unvermeidbaren zusätzlichen Belastungen für die Versicherten in einem sozialstaatlich akzeptablen Rahmen zu halten. Daneben
brauchen wir sie als Suchverfahren, um zu Innovationen
zu kommen, die unser Gesundheitswesen dringend benötigt, um zukunftsfähig zu sein.
({5})
Kurzum: Dieses Gesetz ist nicht das Nonplusultra.
Man merkt ihm an, dass zu seiner Durchsetzung ein Parteienkonsens über die Koalitionsgrenzen hinaus erforderlich war. Große Koalitionen sind in ihrer Reformfähigkeit nun einmal begrenzt.
({6})
- Herr Seehofer, auch Sie werden es hinter den Kulissen
zugeben. - Dieses Gesetz stößt aber Türen auf, die bisher verschlossen waren. Deswegen sagen wir: Es ist ein
Kompromiss mit Perspektiven.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Thomae,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Seit 1998 erleben wir, dass die Gesetzgebung
von Rot-Grün permanent in das System eingreift. Wir
stellen fest: Die Intervention funktioniert nicht.
Wenn man diesen Gesetzentwurf sehr sorgfältig liest,
muss man eindeutig feststellen, dass es auch hier entscheidende Punkte gibt, deren Umsetzung weiter in die
Planwirtschaft führen würde. Herr Seehofer, ich bin
nicht so euphorisch wie Sie und viele andere; denn wenn
Sie zum Beispiel die Befugnisse des Bundesausschusses
analysieren, stellen Sie fest, welchen Einfluss letztlich
die Bundesregierung auf die Genehmigungsbehörde hat.
Der Bundesausschuss wird eine staatliche Genehmigungsbehörde mit massivem Einfluss darauf, ob neue Investitionen getätigt und Innovationen erreicht werden
können oder nicht - ein bürokratisches Monster!
({0})
Zudem zeigt der Gesetzentwurf eine Diskriminierung der Leistungserbringer in allen Bereichen auf.
({1})
- Ich habe diesen Gesetzentwurf mit Experten genau
analysiert. Sie sprechen davon, die Budgetierung bis
2007 abzuschaffen. Aber die Budgetierung wird nicht
tatsächlich abgeschafft. Wenn sie abgeschafft werden
soll, dann ist es für mich unverständlich, dass laut Gesetzentwurf nicht nur die bestehende Budgetierung der
Gesamtvergütung auf Landesebene beibehalten wird,
sondern diese Budgetierung auf landesweite Facharztgruppen ausgeweitet wird und schließlich bis hin zu einem Praxisbudget reicht. Wenn das keine Budgetierung
in vollendeter Form ist, dann begreife ich nicht, was man
unter Regelleistungsvolumina versteht.
({2})
So einfach, wie Sie sich das machen, werden sich die
Maßnahmen im Gesetz nicht umsetzen lassen. Die westdeutschen Ärzte sollen nach diesem Gesetzentwurf kollektiv für die Ostärzte haften - Ende, fertig, aus! Man
muss sich fragen: Was haben Sie in der Vergangenheit
auf den Weg gebracht? Hinzu kommt noch eine Thematik, von der ich glaube, dass sie in der Öffentlichkeit
überhaupt noch nicht bekannt ist: In Zukunft wird das
Arzneimittelbudget noch strenger gehandhabt. Wenn
nämlich irgendwo eingespart wird, dann wird die eingesparte Summe teilweise auf die Honorare der Ärzte verlagert.
({3})
Wenn Sie dieses Wechselspiel tatsächlich betreiben,
werden Sie feststellen, welche Probleme bei der Arzneimittelversorgung demnächst auftreten werden. Leiden
werden die Patienten.
({4})
Sie wollen - darüber kann man mit Recht diskutieren;
auch ich bin dafür - die integrierte Versorgung einführen. Aber wie Sie das finanziell organisiert haben, finde
ich unverantwortlich. Jedes Krankenhaus, ob Transplantationszentrum, Kreiskrankenhaus oder Kinderonkologie, muss die nächsten drei Jahre 1 Prozent seines Volumens für die integrierte Versorgung zur Verfügung
stellen. Ähnliche Regelungen sind für die Ärzteschaft
vorgesehen. Diejenigen, die aus den unterschiedlichsten
Gründen an der integrierten Versorgung nicht teilnehmen können, werden zu Zahlungen verpflichtet. Wenn
Sie wissen, was es bei der finanziellen Situation der
Krankenhäuser heute für ein Kreiskrankenhaus bedeutet,
auf 1 Prozent seines Volumens zu verzichten, können Sie
sich die Folgen ausrechnen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kirschner?
Nein, ich möchte meine Rede im Zusammenhang halten.
Finstere Kostendämpfung führt zur Missachtung
marktwirtschaftlicher Prinzipien. Ich kann mich gut an
Gesetzentwürfe in diesem Haus erinnern, die ähnliche
Ziele hatten und mit denen man es vermieden hätte, innovative Pharmaunternehmen mit Abschlägen zu bestrafen. Wir haben 1997/98 solche Gesetzentwürfe eingebracht. Wenn Sie glauben, die finanziellen Engpässe des
gesetzlichen Systems damit zu beseitigen, dann irren Sie
sich. Sie können zwar ein bestimmtes Einsparvolumen
fordern, aber damit können Sie keine vernünftige Forschungs- und Arbeitsmarktpolitik in Deutschland betreiben.
({0})
Die Unternehmen werden in Deutschland nicht mehr
forschen und das Land verlassen. Die ersten Signale dafür haben Sie schon bekommen. Das liegt an Ihrer verfehlten Politik. Hätten Sie 1998 - Herr Seehofer hat es
Ihnen schon deutlich gesagt - nicht die Zuzahlung zurückgenommen und Leistungen verlagert, dann wären
diese Maßnahmen nicht notwendig gewesen.
({1})
Sie reden immer von der Förderung des Wettbewerbs
in diesem System. Sie verstehen unter dem Begriff Wettbewerb doch nur eines, nämlich die Macht der Krankenkassen zu stärken, das heißt, den Krankenkassen eine
monopolartige Stellung zu übertragen. Das kann nicht
die Zielsetzung sein.
({2})
- Beispielsweise bei Einzelverträgen.
({3})
Wenn einer Ihrer Eckpunkte schon „fairer Wettbewerb“ lautet, dann hätten Sie auch für den Versandhandel fairen Wettbewerb organisieren müssen. Das tun Sie
nicht. Fairer Wettbewerb mit dem Versandhandel ist
nicht gegeben: unterschiedliche Mehrwertsteuersätze,
unterschiedliche Zuzahlungen, gar nicht zu reden davon,
dass sich die traditionelle Apotheke an Öffnungszeiten
halten muss.
Wenn Sie schon von Fairness reden, dann sollten Sie
entsprechende Gesetze machen. Es gibt kein Land in
dieser Welt, das bei Arzneimitteln den Versandhandel
über die Landesgrenzen hinweg zulässt, auch nicht die
Schweiz oder Amerika. Sie aber wollen jetzt mit diesem
Gesetz den Versandhandel von anderen europäischen
Staaten nach Deutschland organisieren. Warten Sie ab,
bis demnächst die Arzneimittel aus Polen und Tschechien kommen! Dann möchte ich sehen, wie Sie die
Leistungen sicherstellen wollen.
({4})
- Doch, wenn sie in der Europäischen Union sind, geht
das.
({5})
Nun zur schönsten Thematik, Ihrem Finanztableau.
({6})
Versicherungsfremde Leistungen sollen über die Tabaksteuer finanziert werden. Bisher haben wir kein Signal
von Herrn Eichel, dass er diese Differenz übernimmt,
um die versicherungsfremden Leistungen gegenzufinanzieren.
({7})
- Wir werden es sehen, wenn das Gesetz verabschiedet
ist.
({8})
Die Finanztableaus von Rot-Grün haben noch nie gestimmt und so wird es auch in diesem Fall sein. Sie werden sich noch wundern!
Die Krankenkassen sind nicht mit 7 Milliarden Euro
verschuldet, sondern die Krankenkassen sind erheblich
höher verschuldet. Denn hinzugerechnet werden müssen
die Verbindlichkeiten gegenüber Leistungserbringern,
vor allen Dingen gegenüber Krankenhäusern, die mehr
als 2 Milliarden Euro ausmachen. Wie wollen Sie angesichts dessen Ihr Finanztableau halten?
({9})
Schon heute können die Krankenkassen die Krankenhäuser nicht bezahlen, mancherorts sind die ausstehenden Zahlungen seit mehr als drei oder vier Monaten fällig. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?
Ich bin nicht so optimistisch wie viele meiner Vorredner; ich bin pessimistisch. Wenn Sie dieses Tableau
seriös analysieren, dann stellen Sie fest, dass es in den
nächsten Jahren keine Beitragssatzsenkungen geben
wird.
({10})
Dass ich nicht so falsch liege, sehen Sie daran, dass die
Vorstände der Krankenkassen nicht bereit sind, die Aussage zu treffen, dass in der nächsten Zeit eine Beitragssatzsenkung erfolgt.
Mit diesen Maßnahmen werden Sie das Ziel verfehlen. Schauen Sie unseren Leitantrag an. Wir sind der
Überzeugung, dass unser Weg der richtige ist.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga KühnMengel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Thomae, ich war doch etwas überrascht. Eigentlich wollte ich meine Rede mit einem Dank an die
Mitglieder der Konsensrunde beginnen und mich ausdrücklich für die gute, wenn auch anstrengende Arbeit
bedanken. Ich wollte auch Ihnen danken, Herr Thomae,
weil Ihre Beiträge immer sehr deutlich machen, wohin
die Reise gehen würde, wenn Sie nur könnten.
({0})
Ich muss gleichzeitig Ihre Begrifflichkeiten weit zurückweisen. Von planwirtschaftlichem Denken kann in diesem Gesetz weiß Gott keine Rede sein.
({1})
Wir wollten mehr Wettbewerb, den Sie, solange Sie am
Tisch saßen, vehement bekämpft haben.
({2})
Wir haben natürlich den Ausgleich zwischen den Ärzten
in Ost und West mit diesem Gesetz befördert. Das ist
aber ein Ausgleich, keine Haftung. Wenn wir das Arzneimittelbudget strenger fassen, dann ist das ein wichtiger Schritt zur Konsolidierung desjenigen Bereiches, der
erheblich zu den Ausgabensteigerungen der gesetzlichen
Krankenkassen beigetragen hat. Wir befördern die integrierte Versorgung durch eine Anschubfinanzierung und
bauen bürokratische Hemmnisse ab. Das ist ein deutlicher und wichtiger Fortschritt.
Der Kompromiss ist vor dem Hintergrund einer
Schritt für Schritt gewachsenen Einsicht zustande gekommen, dass wir den Sozialstaat umbauen müssen,
wenn wir ihn erhalten wollen. Wir alle nehmen diesen
Sozialstaat als etwas Selbstverständliches hin. Wir verlassen uns darauf, dass unser Lebensstandard im Falle
von Arbeitslosigkeit nicht abrupt abnimmt und dass wir
ärztlich versorgt werden, wenn wir krank sind.
Es ist richtig, Herr Kollege Seehofer, dass wir - auch
im weltweiten Vergleich - ein sehr gutes System haben.
Aber es ist auch ein teueres System, das nicht in allen
Facetten wirksam und effektiv ist. Deswegen ist festzustellen, Herr Kollege Seehofer - diesen Ball spiele ich
zurück -: Sie hätten diese Strukturreformen auch in Ihrer
Amtszeit längst durchführen können. Denn in den Gutachten der Sachverständigen haben sich auch schon damals Hinweise auf Ineffizienzen aufgetan. Sie hätten
echte Reformen durchführen können, statt sich auf Kostendämpfungsgesetze zu beschränken.
({3})
Im Übrigen - auch das muss ich noch kurz anmerken hat das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale
Sicherung bereits im vergangenen Jahr, also noch vor
dem erzielten Konsens, Zuschüsse für flexible Arbeitszeitmodelle zur Verfügung gestellt, und zwar im Vorgriff
auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes.
In Deutschland vertrauen mehr als 70 Millionen Menschen auf das System der solidarischen Krankenversicherung, in dem Jüngere für Ältere, Alleinstehende für
Familien, Gesunde für Kranke und Einkommenstärkere
für Einkommenschwächere einstehen. Dieses solidarische Grundprinzip ist und bleibt richtig. Alle Reformen
müssen an dieser Stelle ansetzen.
Gleichzeitig müssen wir uns aber auf zukünftige
Entwicklungen vorbereiten. Wir müssen den medizinischen Fortschritt, die demographische Entwicklung und
den damit verbundenen Ausgabenanstieg bewältigen.
Wir müssen uns den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit den entsprechenden Auswirkungen
auf den Arbeitsmarkt anpassen, unser stark lohnbezogenes System abfedern und nicht zuletzt auch die Lohnnebenkosten senken. Um all das gewährleisten zu können,
müssen die vorhandenen Mittel effizient und wirtschaftlich eingesetzt werden. Die Finanzierungslücke wollen
wir nicht durch höhere Beiträge decken; denn steigende
Sozialbeiträge schwächen die Arbeitsmarktpolitik.
({4})
Die Rationierung der Leistungen zulasten von Patientinnen und Patienten gehörte nicht zu unserer Verhandlungsmasse. Auch die freie Arzt- und Krankenhauswahl
stand nicht zur Disposition. Für uns stand und steht fest:
Sozial gerechter ist eine - für die Schwächeren maßvoll
abgefederte - Beteiligung der Versicherten an den
Krankheitskosten, durch die auch weiterhin ein hohes
Versorgungsniveau bei gleichzeitig angemessenen Beitragssätzen gesichert wird.
({5})
Reformieren wir dieses System nicht oder nur halbherzig, geraten wir über kurz oder lang unter die Räder.
Deswegen haben wir uns gemeinsam mit der CDU/CSU
und den Vertretern und Vertreterinnen der Länder auf
eine umfassende und nachhaltig wirksame Reform zur
Förderung von Qualität und Wirtschaftlichkeit im deutschen Gesundheitswesen verständigt.
Das GMG sendet das Signal aus, dass die Deutschland AG nicht erstarrt und verkrustet, sondern reformbereit, reformwillig und reformfähig ist.
({6})
Dieses Gesetz bietet den Auftakt für weitere Reformen
in den Sozialsystemen, die den Standort Deutschland
stärken werden.
Gleich im Anschluss an diese Beratung bringen SPD
und Bündnis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch
ein, um auch dieses Recht weiterzuentwickeln. Die weiteren Sozialsysteme Rente und Pflegeversicherung stehen zur Beratung für diesen Herbst an, zudem ist ein
Präventionsgesetz geplant. Hierdurch befördern wir tatsächlich Veränderungen und die Zukunftsfähigkeit unserer Systeme.
Wir wissen, dass wir uns den Herausforderungen stellen müssen, und wir packen sie an. Wir werden mit Argusaugen darüber wachen, dass die Gerechtigkeit beim
Umbau des Sozialstaates nicht auf der Strecke bleibt.
({7})
Die breiteren Schultern müssen auch in Zukunft mehr
tragen als die schwachen.
Das darf nicht mit Besitzstandswahrung verwechselt
werden. Wir wollen aber eine solidarische Gesellschaft
erhalten, in der soziale Gerechtigkeit als essenzielles
Ziel anerkannt ist. Wir werden auch dafür sorgen, dass
die Gesundheits- und Sozialpolitik wegen des Anpassungsdruckes nicht zum bloßen Anhängsel der Wirtschaftspolitik verkommt. Gesundheits- und Sozialpolitik
muss auf den ökonomischen Gegebenheiten basieren,
das ist richtig, sie darf aber nicht zur Variablen der Wirtschaftspolitik herabgestuft werden.
({8})
Jetzt noch etwas zum Kompromiss. Dieser Begriff
hat hier oftmals einen negativen Beigeschmack; „fauler
Kompromiss“ und „kleinster gemeinsamer Nenner“ sind
häufig gebrauchte Redewendungen. Das war aber nicht
unser Ansatz. Wer das Wünschbare verabsolutiert und
das Machbare gering schätzt, ist in der Politik fehl am
Platz. Wir sagen: do ut des - ich gebe, damit du gibst.
Kompromisse sind gelebter Pragmatismus. Sie sind der
Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhält. Das gilt für
Staat und Gesellschaft.
Es ist richtig: Die Bürger werden stärker an den
Krankheitskosten beteiligt - an vielen Stellen neu und
auch schmerzhaft. Wir haben aber dafür gesorgt, dass die
Kosten verträglich sind und dass Bürgerinnen und Bürger in vielen Feldern auch auf der Habenseite ein Plus
verzeichnen.
Die gesetzliche Krankenversicherung - das ist unser
Ansatzpunkt - dient den Versicherten und den Patientinnen und Patienten. Ihre Belange standen deshalb für uns
im Mittelpunkt der Reform. In diesem Gesetz werden
Patienten stärker in die Entscheidungsprozesse der gesetzlichen Krankenversicherung eingebunden. Die entscheidende Voraussetzung ist die Herstellung von
Transparenz über Angebote, Leistungen, Kosten und
Qualität. Wenn das gewährleistet ist, erhöhen sich auch
Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen.
Dabei - ich sage es noch einmal - bleibt die freie Arztwahl erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir in
diesem Gesetz die Patientensouveränität durch mehr
Transparenz, Wahlmöglichkeiten und Beteiligungsrechte
gestärkt.
Folgende Instrumente stehen den Versicherten ab
2004 zur Verfügung: die Einführung einer Patientenquittung, die Einführung der intelligenten Gesundheitskarte,
ein Versichertenbonus für viele Bereiche - auch für präventives Verhalten; Anreize, die die Krankenkassen ihren Versicherten geben können -, ein Patientenbeauftragter als Sprachrohr für Patienteninteressen, die
Inanspruchnahme von Leistungserbringern auch im EUAusland, Wahlmöglichkeiten bei Versicherungskonditionen und qualifizierte Anhörungsrechte für Patientenverbände. Zusammen ergibt sich ein breites Spektrum von
Verbesserungen und Beteiligungen für Patienten und Patientinnen.
In vielen Diskussionen wird dieses Gesetz als Kostendämpfungsgesetz abqualifiziert. Wer das tut, hat den
Entwurf nicht gelesen. Ihm ist entgangen, dass es die
Qualitäts- und die Wirtschaftlichkeitsoffensive fortsetzt,
die Rot-Grün schon mit einem entsprechenden Gesetz
im Jahre 2000 eingeleitet hat; denn wir müssen nach wie
vor sagen: Unser Gesundheitswesen leidet an strukturellen Überkapazitäten. Auch hier setzt das Gesetz an.
Bettenüberhänge und überlange Verweildauern der Patienten in Krankenhäusern, eine vielfach zu hohe Arztdichte, die daraus resultierende medizinisch nicht begründete Mengenausweitung der Versorgungsleistungen
und knallharte innerärztliche Verteilungskämpfe, die damit zu tun haben, belegen Ineffizienzen in unserem Gesundheitswesen. Hinzu kommen die bekannten Über-,
Unter- und Fehlversorgungen, die gerade bei den besonders behandlungs- und kostenintensiven chronischen
Volkskrankheiten gehäuft auftreten.
An dieser Stelle kann ich lediglich auf einige strukturelle Weichenstellungen des GMG näher eingehen, die
das Preis-Leistungs-Verhältnis unseres Gesundheitssystems verbessern. Eine Schlüsselrolle nimmt hier das
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit ein. Es
soll unter anderem den Nutzen von Therapien, zu denen
auch Arzneimittel gehören, bewerten. Es soll die Spreu
vom Weizen trennen, indem es Scheininnovationen endlich entlarvt. Außerdem soll es Patienten und Patientinnen in einer verständlichen Sprache über aktuelles Wissen zu bestimmten Krankheiten informieren.
Ursprünglich hatten wir uns ein noch schlagkräftigeres
Institut gewünscht. Aber auch die abgespeckte Version
wird zu einer Einbeziehung neuer wissenschaftlicher
und praktischer Erkenntnisse in die medizinische Versorgung führen.
Wir sind des Weiteren der Meinung, dass die Qualität
der medizinischen Versorgung ganz entscheidend von
der beruflichen Qualifikation der im Gesundheitswesen
tätigen Menschen abhängt. Deswegen stärken wir die
Professionalität und fordern, dass die Ärzte Patienten
nach dem jeweils aktuellen Stand der Medizin behandeln.
({9})
Da wir wissen, dass sich das medizinische Wissen ungefähr im Fünfjahresrhythmus verdoppelt, fordern wir eine
Fortbildungspflicht für Ärzte und Ärztinnen; denn davon
profitieren die Patienten und Patientinnen. Denjenigen
Ärzten, die sich dieser Forderung nicht stellen und sich
verweigern, kann sogar die Zulassung entzogen werden.
Fortbildung muss außerdem industrieunabhängig sein.
Es gilt neutrales und objektives Wissen zu vermitteln.
Die Fortbildung der Ärzte darf nicht im Rahmen von
Werbeveranstaltungen für Geräte oder Präparate stattfinden.
Durch weitere Strukturveränderungen im GMG werden, wie schon geschildert, Hindernisse im Bereich der
integrativen Versorgung beseitigt. Wir werden in dem
Gesetz eine Anschubfinanzierung für integrative Versorgungsformen verorten; das ist wichtig. In den Jahren
2004 bis 2006 hat jede Krankenkasse bis zu 1 Prozent
der von ihr zu entrichtenden Gesamtvergütung für die
ambulante ärztliche Vergütung sowie bis zu 1 Prozent
der Vergütung für stationäre Versorgung einzubehalten,
sodass diese Bereiche gestärkt werden können. In den
medizinischen Versorgungszentren werden Ärzte endlich zugunsten der Patienten und Patientinnen kooperieren und Medizin aus einer Hand anbieten können. Hier
werden Synergieeffekte genutzt, was Qualitäts- und Effizienzsteigerungen befördern wird.
Darüber hinaus gibt es, wie bereits erwähnt, die Teilöffnung der Krankenhäuser für hoch spezialisierte Leistungen. Wir erhöhen damit die Wahlfreiheit der Patienten und Patientinnen; denn sie können zukünftig wählen,
in welchen konkurrierenden Versorgungsformen sie sich
behandeln lassen wollen. Sie können mit den Füßen darüber abstimmen.
Des Weiteren wird der Arzneimittelvertrieb liberalisiert. Versandapotheken können den lokalen, den regionalen oder den überregionalen Versand organisieren.
Auch damit sorgen wir für Bewegung auf dem Arzneimittelmarkt. Allen, die hier schwarz malen, sage ich: Ihnen geht es nicht um die Arzneimittelsicherheit - diese
ist gewährleistet -, sondern nur ums Geschäft.
({10})
Neue Wege gehen wir auch beim Zahnersatz. Seine
Ausgliederung aus dem Leistungskatalog der GKV war
für uns sehr problematisch; das muss hier deutlich gesagt
werden. Die befundorientierten Festzuschüsse werden
den Patienten und Patientinnen in Zukunft auch dann gezahlt, wenn sie eine prothetische Versorgung wählen, die
über die Regelversorgung hinausgeht, die der Bundesausschuss für die jeweilige Zahnlücke festgelegt hat. Wir
werden darauf achten, dass die entstandenen Freiräume
nicht missbraucht werden. Wir werden ein Abzocken der
Patienten und Patientinnen durch Zahnärzte nicht dulden.
Last, but not least öffnet das GMG die Tore für mehr
Transparenz im Gesundheitswesen und für eine bessere
Mitbestimmung der Patienten.
Mein Fazit lautet: Es gibt Licht und Schatten in dem
vorliegenden Gesetzentwurf.
({11})
Aber insgesamt bringen wir etwas voran. Beide Seiten
haben Federn gelassen und Kröten geschluckt. Natürlich
hätten wir lieber unseren ursprünglichen Gesetzentwurf
umgesetzt, lieber das Zuzahlungsmodell der Ministerin
in der ersten Fassung gehabt und lieber die Möglichkeit
gestärkt, Einzelverträge abzuschließen. Auch die Positivliste halten wir nach wie vor für ein wirksames Instrument. Natürlich ist es uns nicht leicht gefallen, dem
Verhandlungseckpfeiler der CDU/CSU nachzugeben,
wonach der Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der
gesetzlichen Krankenversicherung ausgegliedert werden soll. Insgesamt spiegelt der vorliegende Gesetzentwurf aber die Schnittmenge an Gemeinsamkeiten wider,
die in der Gesundheitspolitik zwischen Koalition und
Union bestehen. Hier wird das geregelt, was zurzeit geregelt werden kann.
Es stehen aber weitere Reformen an. Ich bin der festen Überzeugung, dass in nächster Zeit auch über die
Bürgerversicherung als solidarischer Beitrag aller in dieser Gesellschaft geredet werden kann. Dann geht es noch
einmal um die zukünftige Finanzierbarkeit. Wir sind jedenfalls diejenigen, die Gesetze voranbringen, die die
sozialen Systeme stärken und zukunftsfest machen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Storm,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der
Einbringung dieses gemeinsamen Gesetzentwurfes zur
Gesundheitsreform beraten wir heute auch über den
Sozialetat. Dabei muss man feststellen: Die Lage der
Sozialversicherungen ist so dramatisch wie noch nie
zuvor in der Geschichte dieses Landes.
({0})
In allen drei großen Systemen - bei der Rente, im Gesundheitswesen und bei der Pflege - stehen wir nach
fünf Jahren Rot-Grün vor den gleichen Problemen: Die
Beitragssätze steigen, die Rücklagen schmelzen dahin.
Die Bundesregierung hat in den letzten beiden Jahren
massiv in die Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung gegriffen. Das Ergebnis ist, dass die Beitragssätze trotzdem völlig aus dem Ruder laufen. Ohne erneute Notoperationen wird der Rentenbeitrag im
nächsten Jahr auf 20,3 Prozent steigen. Das wäre ein historischer Rekordwert. Wir hatten diesen Wert schon einmal 1998; aber damals sind noch nicht 16 Milliarden
Euro aus dem zweiten Rentenbeitrag an der Tankstelle,
also den Einnahmen aus der Ökosteuer, in die Rentenkasse geflossen.
Wenn der Finanzminister, nachdem er fünf Jahre lang
immer mehr Steuergelder in die Rentenkasse gegeben
hat, nun - in einer Lage, in der die Beiträge aus dem Ruder laufen - ankündigt, dass die Bundesmittel für die
Rente gekürzt werden sollen, dann ist dies töricht. Das
ist das Gegenteil einer nachhaltigen Rentenpolitik.
({1})
Auch die Pflegeversicherung kommt aus den roten
Zahlen nicht mehr heraus. Es gibt noch keine endgültige
Einschätzung - wir sind erst in der zweiten Jahreshälfte -, aber es zeichnet sich ab, dass wir in diesem Jahr ein
Rekorddefizit von mindestens 700 Millionen Euro erreichen werden. Das bedeutet: Die Rücklage in der Pflegeversicherung, die Norbert Blüm hinterlassen hat,
schmilzt dahin wie Eis in der Sonne. Die Rürup-Kommission, die der Bundeskanzler eingesetzt hat, sagt: Spätestens im Jahre 2007 ist der freie Teil dieser Rücklage
aufgebraucht; dann müssen die Beitragssätze steigen.
Das bedeutet: Im nächsten Jahr brauchen wir eine grundlegende Strukturreform der Pflegeversicherung, damit
sie nicht gegen die Wand fährt.
({2})
Der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung lag beim Regierungswechsel im Jahre 1998 noch
bei 13,6 Prozent.
({3})
Heute liegt er bei 14,3 Prozent. Ohne diese Notoperation
würde er im kommenden Jahr mindestens die 15-Prozent-Marke erreichen, wenn nicht gar übersteigen.
({4})
Die Ursache für die katastrophale Finanzlage des gesamten Sozialversicherungssystems liegt aktuell weniger
auf der Ausgabenseite denn auf der Einnahmeseite. Dass
dies so ist, zeigt gerade die Notoperation von Rot-Grün
aus dem vergangenen Spätherbst. Das Beitragssatzsicherungsgesetz sollte dazu beitragen, dass die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Jahr konsolidiert
wird. In der Tat sind die Ausgaben im ersten Halbjahr
2003 nur um 1 Prozent gestiegen. Das Problem liegt darin, dass die Einnahmen wegen der dramatisch schlechten Arbeitsmarktentwicklung aufgrund einer verfehlten
rot-grünen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik mittlerweile rückläufig sind.
({5})
Ein Gesundheitssystem kann noch so leistungsfähig
sein: Bei einer so dramatischen Einnahmeentwicklung
kann es ohne Reformen nicht aufrechterhalten werden.
Dies ist der Grund, weswegen die Union bereit ist, in einer derart dramatischen Situation die Hand zu einer Reform zu reichen. Es muss zumindest darum gehen, im
Gesundheitswesen einen Beitrag dazu zu leisten, dass
die verhängnisvolle Spirale aus steigenden Sozialabgaben, wegbrechenden Arbeitsplätzen und erneut steigenden Lohnnebenkosten gestoppt wird.
Diesen Beitrag können wir mit diesem Gesetz leisten.
Es wird bereits im nächsten Jahr in der gesetzlichen
Krankenversicherung eine Konsolidierung in der Größenordnung von fast 10 Milliarden Euro ermöglichen.
Der Konsolidierungsbeitrag steigt bis zum Ende dieser
Wahlperiode auf etwa 20 Milliarden Euro. Das bedeutet:
Die Perspektive ist, dass der Beitragssatz im nächsten
Jahr unter die 14-Prozent-Marke und bis zum Ende dieser Wahlperiode auf 13 Prozent oder weniger sinken
kann.
({6})
Natürlich kann kein Mensch eine Garantie dafür übernehmen.
({7})
Aufgrund wirtschaftspolitischer Fehler kann die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr weiter dramatisch ansteigen.
Aber wenn die Annahmen zutreffen, die zugrunde gelegt
worden sind, dann werden die Beiträge in den nächsten
Jahren spürbar gemindert werden können. Das ist ein
entscheidender Fortschritt.
Dies bedeutet auch, dass wir einen zeitlichen Spielraum gewinnen, nämlich bis zum Beginn der nächsten
Wahlperiode, um dann die entscheidenden Fragen der
langfristigen Entwicklung des Gesundheitswesens klären zu können, so etwa die Frage, wie unser Gesundheitswesen die Herausforderungen der Verschiebung der
Alterspyramide und des demographischen Wandels bewältigen kann. Ohne weitere Reformen droht langfristig
ein Beitragssatzanstieg auf 20 Prozent oder mehr. Hierauf kann die jetzige Reform noch keine Antwort geben.
Bei ihr geht es darum, die aktuelle Finanzkrise zu bewältigen.
Es gibt aber eine Reihe von wichtigen Maßnahmen,
die jene weitere Reform überdauern werden. Ich will nur
zwei nennen. Eine wirkliche Innovation ist, dass zum
ersten Mal in der 120-jährigen Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung Steuermittel für die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen bereitgestellt
werden.
({8})
- Das wird im Gesetz nun wirklich klar geregelt, Kollege Thomae.
({9})
Der Finanzminister mag ein Problem haben, aber es wird
in der Endstufe eine Beitragsentlastung von mehr als
4 Milliarden Euro geben. Das entspricht einem halben
Beitragssatzpunkt.
Ein weiterer Punkt ist entscheidend. Es ist gelungen,
einen ganzen Leistungsbereich von den Arbeitskosten
abzukoppeln. Das ist der Bereich des Zahnersatzes. Es
geht darum, dass diejenigen, die die Leistung in der gesetzlichen Krankenversicherung wählen, einen einheitlichen Beitrag zahlen müssen, der vom Einkommen unabhängig ist und bei dem die Familienangehörigen
mitversichert bleiben. Der Beitrag wird etwa 6 Euro betragen. Die Versicherten bekommen beim Zahnersatz
weiterhin das bisherige Leistungsniveau. Sie können
sich aber auch privat absichern, wenn die versicherte
Leistung mindestens so hoch ist wie die in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Entscheidend ist, dass mit diesem Ansatz die Lohnnebenkosten gesenkt werden, ohne dass die Versicherten
Abstriche beim Leistungsniveau hinnehmen müssen.
({10})
Sie erhalten in Zukunft mehr Wahlmöglichkeiten, als das
bisher der Fall war, und sie erhalten vor allem Zugang zu
den modernsten Therapieformen, die es in diesem Bereich gibt.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme sofort zum Schluss. - Derjenige, der sich
gesundheitsbewusst verhält, wird auch in Zukunft belohnt. Prävention wird beim Zahnersatz auch in Zukunft
groß geschrieben.
Diese Reform ist zwar keine Jahrhundertreform, aber
sie ist deutlich besser als alles, was Rot-Grün in den vergangenen fünf Jahren zustande gebracht hat.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch beim Umbau des Sozialstaates wollen wir Verlässlichkeit und Stabilität der sozialen Sicherungssysteme gewährleisten und verhindern, dass diese, wie Frau
Kühn-Mengel ganz richtig sagte, zu bloßen Variablen
des wirtschaftlichen Handelns werden. Aber wir haben
auch im Blick, dass solide finanzierte soziale Sicherungssysteme Voraussetzung für ein erfolgreiches wirtschaftliches Handeln in einer Volkswirtschaft sind.
Zu Verlässlichkeit und Stabilität trägt auch der heute
vorliegende und hier zu behandelnde Entwurf zur Reform des Sozialhilferechts und seine Einordnung als
Zwölftes Buch in das Sozialgesetzbuch bei. Es stärkt
und unterstreicht die Bedeutung der Sozialhilfe als letztes Auffangnetz in wirtschaftlichen Notlagen und hebt
sich mit seinen Inhalten positiv von den unqualifizierten
Einlassungen zur Sozialhilfe, die uns in den letzten Tagen leider begegnet sind, ab.
({0})
Was legen wir vor? Im Zusammenhang mit der anstehenden Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe erhält die Sozialhilfe nun wieder die Aufgabe, die ihr auch ursprünglich zugedacht war: Sie stellt
das letzte Auffangnetz in individuellen Notlagen dar und
wird von der Bewältigung der Folgen der Massenarbeitslosigkeit - wofür sie nie konzipiert worden war - entlastet. Wer nur wegen Arbeitslosigkeit Sozialhilfe bezieht,
also erwerbsfähig ist, wird in Zukunft in Form des
Arbeitslosengeldes II Hilfe und Unterstützung erhalten.
Damit schaffen wir systematische Klarheit und entlasten
die Kommunen von ihren Ausgaben für die Hilfe zum
Lebensunterhalt. Sozialhilfe bekommen in Zukunft nur
noch diejenigen Menschen, die etwa aufgrund einer Behinderung ergänzende staatliche Hilfe benötigen oder
die vorübergehend voll erwerbsgemindert sind.
Auch wenn in Zukunft wesentlich weniger Menschen
direkt Sozialhilfe beziehen werden, gewinnt sie als Referenzsystem für rund 4 Millionen Empfänger des neuen
Arbeitslosengeldes II erheblich an Bedeutung. Mit der
Kombination von Grundsicherung, Arbeitslosengeld II
und der neu geordneten Sozialhilfe unterstreichen wir
die Bedeutung einer steuerfinanzierten und damit gemeinschaftlichen Absicherung von Lebensrisiken und
von bedürftigen Menschen. Die rot-grüne Mehrheit in
diesem Hause unterstreicht damit ihre tiefe Überzeugung, dass das Gebot der Sozialstaatlichkeit keine Kannleistung, die je nach Kassenlage variiert, ist, sondern
eine Verfassungsaufgabe ersten Ranges.
({1})
Wir erreichen mit der neuen Systematik Verlässlichkeit, Klarheit und auch Stabilität der sozialen Sicherungssysteme. Diese Klarheit lassen Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, leider vermissen. Herr
Stoiber etwa wärmt uralte Vorschläge auf und möchte den
Datenschutz für Sozialhilfebezieher beseitigen. Einmal
abgesehen von der inhaltlichen Unterstellung, die hier
zum wiederholten Male zum Vorschein kommt, indem
die alte Platte von der Hängematte abgespielt wird, frage
ich mich, was denn da überhaupt noch aufgehoben werden soll. Mittlerweile haben doch die Sozialhilfeträger
Durchgriff bis zu den Daten der Kfz-Zulassungsstellen.
Ich frage mich wirklich, welche zusätzlichen Reserven
Sie da noch sehen. Besonders interessant finde ich natürlich, dass der Vorschlag von einer Seite kommt, die etwa
die Einführung von Kontrollmitteilungen an die Finanzämter, um Steuerhinterziehungen zu vermeiden, immer
auf das Heftigste bekämpft hat.
({2})
Herr Koch möchte ja am liebsten alle Sozialhilfebezieher mit gemeinnützigen Aufgaben befasst sehen.
Nun halte ich ja den Aufbau eines öffentlich geförderten
Beschäftigungssektors - mit angemessener Entlohnung,
wie sich von selbst versteht - durchaus für ein ehrenwertes Ziel. Zu dem Verhältnis von Vollzeitarbeitsentgelten
und Sozialhilfesätzen will ich mich gar nicht äußern,
aber dann stünden doch die Länder wenigstens in der
Verantwortung, auch entsprechende Arbeitsangebote gemeinnütziger und anderer Art vorzuhalten bzw. zur Verfügung zu stellen. Im Moment kämpfen wir doch hauptsächlich mit dem Problem, dass Kommunen, aber auch
Länder ihre Programme der aktiven Arbeitsmarktpolitik
und damit die Hilfestellungen für diejenigen, die jetzt
Sozialhilfe beziehen, herunterfahren und kürzen. Das
passt nicht zusammen.
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken wir die Verlässlichkeit, wir fördern
aber auch die Selbstbestimmung
({3})
- doch, Herr Kolb -, denn der Regelsatz beinhaltet nach
dem neuen System auch die einmaligen Leistungen, die
in Form einer Pauschale zusammengefasst werden
({4})
und vorher häufig nur unter erheblichem bürokratischen
Aufwand gewährt wurden. Wir wissen, dass es absurde
Prozesse darüber gab, ob diese oder jene Einzelleistung
angemessen ist oder nicht. Das ist jetzt automatisch in den
Regelsatz mit einbezogen und aus unserer Sicht ein wirkungsvolles Instrument zur Stärkung der Eigenverantwortung. Auch die Möglichkeit, einen höheren eigenen
Frei- und Sparbetrag zu erhalten, sollte für Sozialhilfebezieher und Arbeitslosengeld-II-Bezieher geschaffen werden.
Man muss auch nach Möglichkeiten suchen, um zu
vermeiden, dass Leute aus Scham, Unwissenheit oder
schlichtweg aus Überforderung nicht die Ansprüche geltend machen, die ihnen zustehen. Nicht mehr und nicht
weniger wollen wir.
Auch Herr Stoiber sollte endlich einsehen, dass unser
Sozialgesetzbuch kein Leistungskatalog ist, aus dem
sich der Hilfeempfänger frei seine optimale Versorgung
zusammenstellen kann; so ist es mitnichten. Es ist leider
noch immer ein bürokratisierter Paragraphendschungel,
der bislang eher Sachbearbeiter und Verwaltungsjuristen
beschäftigt hat. Hier wollen wir Kapazitäten freimachen,
um auch für diejenigen, die in der Sozialhilfe verbleiben,
Unterstützung und Hilfe gewährleisten zu können.
({5})
Für sie stellen wir in diesem Haushalt 150 Millionen
Euro bereit, um ihnen die Möglichkeit zu geben, die
neue Leistung des Arbeitslosengeldes II in Anspruch zu
nehmen.
Lassen Sie mich noch einige Sätze zu einem neuen
Element sagen, das wir in das Sozialhilferecht einführen
wollen und das ebenfalls Selbstbestimmung und Eigenverantwortung stärken soll, und zwar dem persönlichen
Budget. Mit dem neuen Instrument des persönlichen
Budgets, das in Rheinland-Pfalz bereits in Modellversuchen erprobt worden ist, wollen wir Pflegebedürftigen
und Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit eröffnen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Damit
setzen wir einen wesentlichen Paradigmenwechsel in der
Sozialpolitik fort, denn wir machen Hilfeempfänger unabhängig und lassen sie ihren individuellen Bedarf, soweit es möglich ist, selbst gestalten. Sie können etwa
selbstbestimmt Assistenzleistungen auf dem freien
Markt einkaufen und damit die alltäglichen Einschränkungen überwinden.
Mit dieser Neuerung verbessern wir nicht nur die Lebensbedingungen dieser Menschen, sondern schaffen
auch die Grundlagen dafür, den Kostenanstieg in diesem
Bereich zu begrenzen. Denn in der Tat sind die Kosten
der Eingliederungshilfe mittlerweile höher als die Kosten der Hilfe zum Lebensunterhalt. Wir verbinden Verlässlichkeit und Selbstbestimmung, Effizienz und Zielgenauigkeit der Hilfe. Das sind die Leitlinien, nach
denen wir unsere Sozialpolitik vorantreiben.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich mit einem Dank beginnen.
({0})
Wir haben befürchtet, dass das Verfahren im Eiltempo
durchgezogen wird. Die beiden großen Fraktionen haben
jetzt aber doch unserem Petitum zugestimmt, eine Anhörung durchzuführen. Dafür herzlichen Dank! Ich
denke, es ist wichtig, dass das Parlament mehr einbezogen wird, als es ursprünglich vorgesehen war.
({1})
Ich will mich zunächst mit dem Vorwurf beschäftigen, dem wir uns unmittelbar nach Beendigung der Konsensgespräche ausgesetzt gesehen haben, nämlich dass
wir mehr Wettbewerb verhindert hätten. Für die FDP ist
die Förderung des Wettbewerbs nicht gleichbedeutend
mit einem einseitigen Machtzuwachs der Krankenkassen. Wir wollen die Entscheidungs- und Nachfragemacht
der Versicherten und Patienten stärken.
({2})
Wenn man sich die ursprüngliche Absicht ansieht,
Einzelverträge zwischen Kassen und Ärzten zuzulassen,
dann muss man sich fragen: Wie wollen Sie eigentlich
den Versicherten erklären, dass sie zwar an hausarztzentrierter Versorgung teilnehmen können, aber nur, wenn
der Hausarzt ihrer Wahl mit der Kasse auch einen Vertrag hat? Herr Seehofer, da ist die freie Arztwahl nicht
absolut und uneingeschränkt gewährleistet, wie Sie es
beschrieben haben, sondern doch eingeschränkt.
({3})
Für uns bedeutet Wettbewerb Angebotsvielfalt und
Wahlfreiheit für den Einzelnen auf der Grundlage fairer
Wettbewerbsbedingungen. Wenn Sie sich den Gesetzentwurf ansehen, dann stellen Sie aber fest, dass faire
Wettbewerbsbedingungen nicht an allen Stellen gewährleistet sind. Dieter Thomae hat die Versandhandelsproblematik angesprochen.
Wahlfreiheiten, die geschaffen worden sind, Kostenerstattung oder Selbstbehalts- oder Beitragsrückgewährangebote finden in dem Gesetzestext leider nur zögerlich und mit Einschränkungen Ausdruck.
Wettbewerb hat für uns auch etwas mit Leistungsgerechtigkeit zu tun. Wir halten es für falsch, dass der
Gesetzentwurf arztbezogene Regelleistungsvolumina
festlegt. Damit wird stark beschnitten, was in einem
Wettbewerb zwingend notwendig ist, nämlich Leistungsbereitschaft und Leistungsmöglichkeiten. Ärzte, die von
mehr Patienten aufgesucht werden, die mehr leisten wollen, sind in diesem System offenbar nicht mehr vorgesehen. Dann darf man sich nicht wundern, dass bereits
40 Prozent unserer Absolventen des Medizinstudiums
nicht mehr den Arztberuf ergreifen. Wie wir vor diesem
Hintergrund das Urteil des EuGH umsetzen wollen, ist
mir schleierhaft.
({4})
Mit fairem Wettbewerb hat auch die dreijährige pauschale Budgetkürzung um 1 Prozent, damit die Krankenkassen in die integrierte Versorgung investieren können, nichts zu tun. Dieter Thomae hat bereits auf die
Folgen dieser Zwangsfinanzierung hingewiesen.
Jetzt kommen wir zu dem wichtigsten Teil, der uns
am meisten Probleme bereitet hat, weshalb wir den Weg,
den Sie gemeinsam gegangen sind, nicht weiter mitgehen können: Bei der halbherzigen, ja fast widerwilligen
Ausgliederung des Zahnersatzes werden die Grundsätze des Wettbewerbs besonders mit Füßen getreten.
Statt konsequent als ersten Schritt dort auf Wettbewerb
und Privatisierung zu setzen, wo es einfach und überschaubar gewesen wäre, bleiben die gesetzlichen Krankenversicherungen bei dem Spiel mit der wettbewerbsund gesetzeswidrigen Möglichkeit der Quersubventionierung. Man kann eben zwischen zwei Systemen mit
völlig unterschiedlichen Preisbildungsmechanismen
nicht zu einem fairen Wettbewerb kommen.
({5})
Für uns stellt sich die Frage, ob der Zahnersatzkarren
wohl so in den Dreck gefahren werden soll, dass selbst
das zarte Pflänzchen der Ausgliederung nicht wachsen
kann, und der Weg hin zur Bürgerversicherung freigemacht werden soll. Wenn wir heute in die Presse
schauen und die Äußerung von Generalsekretär Scholz,
der die Bürgerversicherung als Zukunftsprojekt bezeichnet, bewerten, dann müssen wir schon sehr kritisch hinterfragen, ob das ein wettbewerblich orientiertes Zukunftsobjekt sein kann.
({6})
Ich möchte für die FDP nur noch erklären, dass wir
zutiefst davon überzeugt sind, dass kein Weg an einer
sofortigen Stärkung kapitalgedeckter Versicherungsformen vorbeiführt, wenn wir die Chance bewahren
wollen, die demographische Entwicklung erträglich abzufedern. Unserer Ansicht nach gewährleistet der Gesetzesvorschlag die Nachhaltigkeit nicht. Zur Generationengerechtigkeit haben wir überhaupt nichts finden
können.
Wir sind auch zutiefst davon überzeugt, dass kein
Weg an weiteren Ausgliederungen von Leistungen aus
der GKV vorbeiführt. Über das Krankengeld, wie vom
Kanzler noch am 14. März dieses Jahres selbst gefordert,
private Unfälle und die gesamte Zahnheilkunde werden
wir zu diskutieren haben, wenn wir eine wirklich nachhaltige Gesundheitsreform durchsetzen wollen. Wir wollen den Schmusekurs, die Schmusepolitik, die hier mit
viel Lächeln betrieben worden ist,
({7})
nicht fortsetzen. Wir können diesen Weg nicht weitergehen. Wir hoffen, dass Ihr Optimismus greift. Aber ich
fürchte, der Pessimismus und die Skepsis von Dieter
Thomae werden der Realität eher gerecht werden.
({8})
Ich danke auch für die gemeinsamen Gespräche. Es
war ein angenehmes Miteinander mit falschem Ergebnis.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Parr, ich bin mir sicher: Mit dem jetzt vorliegenden
Kompromiss zur Gesundheitsreform schaffen wir den
Einstieg in eine nachhaltige Strukturreform im Gesundheitswesen.
({0})
So sehe ich das auch in Bezug auf den vorliegenden
Entwurf zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch. Er erfüllt die Kriterien, die wir an unsere
Strukturreform stellen, nämlich Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und vor allem auch soziale Gerechtigkeit
und Generationengerechtigkeit.
Wir reden hier über den Kern des sozialstaatlichen
Auftrags gemäß Art. 20 unseres Grundgesetzes, über die
nachrangige, unterste Sicherung des Existenzminimums,
die nach Art. 1 unserer Verfassung auch denjenigen ein
menschenwürdiges Leben in der Mitte unserer Gesellschaft ermöglichen soll, die das aus eigener Kraft oder
mit den ihnen gebotenen Möglichkeiten nicht schaffen
können.
Die Modernisierung des Sozialhilferechts steht natürlich in einem engen Zusammenhang mit dem heute
ebenfalls einzubringenden Gesetzentwurf zur Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe
für erwerbsfähige hilfebedürftige Personen. Beide Gesetzentwürfe, der zu SGB II und der zu SGB XII, sind
inhaltlich-systematisch aufeinander abgestimmt und sollen zum 1. Juli 2004 in Kraft treten.
Das jahrzehntelange Abschieben von immer mehr arbeitslosen Menschen, von allein erziehenden oder überschuldeten Personen in die Sozialhilfe der Kommunen,
aber auch die grassierende Mentalität der Armutsverwaltung, die Transferzahlungen, die Doppelzuständigkeiten
der Kommunen und der Bundesanstalt für Arbeit für
denselben Personenkreis - das alles hat eine krasse Fehlentwicklung und eine Abkehr vom wichtigsten Ziel der
Sozialhilfe, nämlich der Hilfe zur Selbsthilfe, verursacht. Das hat nicht nur die Kommunen finanziell
überlastet. Das hat auch für die Betroffenen und das Sozialamtspersonal zu einem unwürdigen Klima des Misstrauens und zu einem bürokratischen Kleinkrieg geführt.
Das hat aber vor allem den Konsens der Gesellschaft
über die Solidarität mit den wirklich Bedürftigen nachhaltig gestört. Es hat bis zum heutigen Tag unsägliche
Missbrauchsdebatten verursacht, die in immer populistischerer und meist in schamloser Weise von den Medien
für machtpolitische Kampagnen nach dem Motto: „Teile
und herrsche“ genutzt werden.
Die Eigenverantwortung der Hilfesuchenden wird in
unserem Gesetzentwurf nach dem Grundsatz „Fördern und
fordern“ gestärkt. Die finanziellen Leistungen werden bedarfsgerechter und nachvollziehbarer bemessen. Die Verwaltungsvereinfachung wird konsequent fortgesetzt und
der Grundsatz „Ambulant vor stationär“ gestärkt.
Kollege Kurth hat schon etwas zur praktikablen Abgrenzung der Leistungsberechtigten in der Sozialhilfe
von den erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern gesagt,
für die die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt werden. Wir gehen davon aus, dass nach dem
heutigen Stand in Zukunft nicht mehr 2,7 Millionen,
sondern nur noch 1,2 Millionen Personen und ihre bedürftigen Angehörigen in Bedarfsgemeinschaften von
den Kommunen über die Sozialhilfe versorgt werden
müssen.
Die Sozialhilfe bleibt Referenzsystem für alle steuerfinanzierten und bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistungen, also auch für das Arbeitslosengeld II. Diese werden
auf der Basis der alle fünf Jahre erhobenen Verbrauchsstatistik des unteren Viertels der Einkommensgruppen
angepasst.
Wir werden auch für die Familien eine Vereinfachung einführen. Die vier Altersstufen bei minderjährigen Kindern werden auf zwei Regelsatzstufen reduziert.
Wir glauben, dass das gerechter und praktikabler ist.
Auch die Einspareffekte bei größeren Haushalten sollen
zukünftig berücksichtigt werden.
Die von den Trägern der Sozialhilfe seit Jahren geforderte, aber auch selbst eingeleitete Verwaltungsmodernisierung und -vereinfachung wird durch unsere Reform unterstützt. Zahlreiche Forderungen werden in die
Praxis umgesetzt. Die wesentlichen Stichworte hierzu
sind: Die Einbeziehung der weitgehend pauschalisierten
einmaligen Leistungen in den Regelsatz. Dadurch entfallen detaillierte Bedarfsprüfungen, Kontrollen, Widerspruchs- und Gerichtsverfahren. Die Fälle der Kostenerstattung zwischen Trägern der Sozialhilfe werden
deutlich reduziert. Die Pauschalisierung der Wohn- und
Heizungskosten durch die örtlichen Träger - nicht durch
den Bundesgesetzgeber - wird ermöglicht. Im Übrigen
werden bisher fehlende Regelungen zu den Lebenspartnerschaften ergänzt.
Diese Strukturreform schafft eine neue Sozialhilfe,
die nicht nur den Bedürftigen mehr Würde und einen
verlässlichen sozialen Schutz für die Zukunft gibt. Kurzfristig führen diese Verwaltungsvereinfachungen zu Einsparungen in Höhe von circa 60 bis 70 Millionen Euro.
Die Kommunen werden vom Bund durch die Reform der
Arbeitsförderung im SGB II von den Zahlungen für
circa 1 Million bisher sozialhilfeberechtigte Erwerbsfähige und ihre Angehörigen entlastet.
Uns ist bekannt - auch mir ist das bewusst -, dass
viele aus der Praxis, aus den Verbänden und vor allen
Dingen aus den Ländern die sofortige Zusammenfassung
der Grundsicherung, der Sozialhilfe und des Arbeitslosengeldes II wünschen. Ich sage Ihnen: Es sprechen
viele Gründe für die Leistung aus einer Hand. Ich sage
Ihnen aber auch: Voraussetzung dafür ist, dass wir uns in
diesem Hause, aber auch mit den staatlichen Ebenen und
mit den Verbänden zunächst über die Grundregeln und
Werte des aktivierenden Sozialstaates verständigen, in
dem Solidarität selbstverständlich keine Einbahnstraße
ist. Wir müssen aber auch einen Konsens darüber herstellen, dass die Würde des Menschen nicht von der Konjunktur und der öffentlichen Kassenlage abhängen darf.
({1})
Mit dieser weit gehenden Reform der Sozialhilfe, die
diesen Namen wirklich verdient, wird der Weg zu einer
Leistung aus einer Hand nicht versperrt. Im Gegenteil:
Die ersten wichtigen Schritte sind gegangen. Das wird
nicht nur die Lebens- und Teilhabechancen derjenigen
verbessern, die die öffentliche Hilfe zur Selbsthilfe benötigen. Das wird auch die Solidarität derjenigen stärken, die ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft bestreiten können und die diese notwendigen Hilfen über ihre
Steuern finanzieren müssen.
Deshalb fordere ich Sie auf: Unterstützen Sie unsere
Sozialreform in diesem Hause, aber auch im Bundesrat!
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste! Eine ganz große Koalition
von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90 hat sich zu einer
Einheitsfront zusammengeschlossen.
({0})
- Gut, dass Sie alle noch wach sind. - Der Kollege
Seehofer hat zwar geschworen, dass das die absolute
Ausnahme sein werde. Aber ich frage mich natürlich:
Warum braucht es diese Einheitsfront, um eine angeblich
so sinnvolle Reform durchzusetzen?
({1})
Offensichtlich sind die beteiligten Parteien selbst nicht
von ihrem Handeln überzeugt und jeder sucht den
Schutz beim anderen. SPD, CDU/CSU und Bündnis 90
fürchten den Zorn der Menschen, die von dieser angeblichen Reform betroffen sein werden. Die Menschen werden zu Recht zornig sein.
Sie haben den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegt. Schon der Titel ist Blasphemie.
({2})
Denn es geht Ihnen nicht um die Modernisierung des
Gesundheitssystems. Was wird hier modernisiert?
Nichts! Nennen wir doch lieber das Kind beim Namen:
Es ist ein Patientenabzockegesetz. Der Patient soll für
weniger Leistung mehr bezahlen.
({3})
Leider ist die Zeit viel zu kurz, um alle Zuzahlungsregelungen im Detail aufzuzählen.
({4})
Die Patienten können davon ausgehen, dass sie im Jahr
2004 im allergünstigsten Fall circa 130 Euro extra zuzahlen müssen. Im Jahre 2007 werden es im Durchschnitt 280 Euro an Extrazuzahlungen sein.
({5})
Das deutsche Gesundheitssystem verschlingt Milliarden. Einige verdienen sich eine goldene Nase; andere
zahlen drauf. OECD-Studien belegen, dass unser Gesundheitssystem zwar sehr teuer ist, dass aber die Menschen in Deutschland nicht gesünder sind als die Menschen in den Ländern, in denen weniger Geld in das
Gesundheitssystem fließt.
Was Sie uns vorgelegt haben, ist ein Pharmakonzernumsatzförderungsgesetz. Nicht umsonst haben Sie von
der Koalition sich die Positivliste abschwatzen lassen.
Die Pharmalobby und die Kassenärztliche Vereinigung
haben sich wieder einmal durchgesetzt. Der Gesundheitsmarkt wird weiter geöffnet und die Konzerne der
Pharmaindustrie können mit ordentlichen Umsatzsteigerungen rechnen.
({6})
Aber auch die Arbeitgeber können sich freuen. Denn
es ist gelungen, den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung festzuschreiben. Das Krankengeld und der
Zahnersatz sollen in Zukunft nicht mehr durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam finanziert werden.
Die Arbeitnehmer sollen die größte Last übertragen bekommen. In Zukunft zahlt der Arbeitnehmer 53 Prozent
und der Arbeitgeber nur noch 47 Prozent des Versicherungsbeitrages. Ich wage die Prognose, dass es nicht so
bleiben wird. Ein Kollege von den Grünen hat ja schon
verkündet, dass er den Faktor Arbeit weiter entlasten
möchte. Es wird laut über Kopfpauschalen nachgedacht.
Wenn von der Entlastung des Faktors Arbeit gesprochen wird, dann ist das immer nur ein anderer Ausdruck
für Lohnkürzungen. Die Kopfpauschale, die Herr Rürup
und Herr Kuhn von den Grünen ins Gespräch gebracht
haben, wäre der komplette Ausstieg der Arbeitgeber aus
der paritätischen Finanzierung.
Doch die paritätische Finanzierung hat einen tieferen
Sinn. Die Arbeitgeber haben eine Verantwortung für die
Gesundheit ihrer Beschäftigten. Nachtarbeit, Überstunden und Stress führen zu Krebs, Herzinfarkt und Depressionen, sagen uns die Arbeitsmediziner. Allein psychisch
bedingte Krankheiten verursachen jährlich 24 Milliarden
Euro an Kosten. Diese 24 Milliarden Euro - um nur
diese Zahl zu benutzen - würden ausreichen, um die Finanzierungslücke zu schließen, die Sie mit diesem Gesetz beseitigen wollen. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Warum der Ausstieg aus der Parität? Warum soll hier nicht das Verursacherprinzip gelten? Warum muss derjenige, der Menschen krank macht, nicht
dafür bezahlen?
({7})
Mit dem vorliegenden Gesetz greifen Sie nicht nur
die Gesundheit der Menschen - insbesondere die derjenigen, die arm sind - an, sondern auch ein Grundprinzip:
das solidarische Gesundheitssystem. Solidarität ist
- noch - ein konstituierendes Moment in dieser Gesellschaft. Wer dies infrage stellt, greift die Gesellschaft als
Ganzes an. Dagegen werden wir von der PDS Widerstand leisten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annette
Widmann-Mauz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Lötzsch, wie erfolgreich Sie und Ihre Partei
Politik, insbesondere Haushaltspolitik, betreiben, können die Menschen in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern sehen. Bevor Sie die Deutschen insgesamt belehren, wie man die Dinge besser macht, sollten Sie da
Verantwortung übernehmen, wo Sie sie tragen.
({0})
Wir beraten heute über den Bundeshaushalt und über
den parteiübergreifend gefundenen Kompromiss in der
Gesundheitspolitik. Beides gehört zusammen. Denn gerade dieser desolate Staatshaushalt und seine negativen
Wirkungen auf Arbeit und Beschäftigung sowie die offensichtliche Hilflosigkeit in der Gesundheitspolitik sind
es gewesen, die die Union dazu bewogen haben, in Verhandlungen mit der Bundesregierung einzutreten.
Aus eigener Kraft hätte diese Bundesregierung es niemals geschafft, ein Paket zu schnüren, das über einen
Zeitraum von vier Jahren den durchschnittlichen Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung von
zurzeit noch 14,3 auf 13 Prozent drücken kann. Ob dies
gelingt, hängt nicht nur von der Bereitschaft aller Beteiligten im Gesundheitswesen ab, die Instrumente und
Möglichkeiten anzunehmen und auch wirklich zu nutzen, die dieses Gesetz ihnen an die Hand gibt, sondern es
hängt vor allem auch von der weiteren Wirtschafts- und
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung ab. Wir
brauchen wieder ein nennenswertes Wirtschaftswachstum, damit die Spirale der Arbeitslosigkeit endlich gestoppt wird. Denn sonst werden die Beitragssatzsenkungen nur auf dem Papier stehen, aber niemals Realität
werden.
({1})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einmal
ein Wort zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung sagen; sie ist heute noch nicht erwähnt worden.
Wir von der Union erwarten, dass auch die Krankenversicherungsbeiträge der Landwirte sinken können. Das
haben wir in den Verhandlungen immer wieder angemahnt. Es darf doch nicht sein - es wäre aus unserer
Sicht auch überhaupt nicht gerecht -, dass die Landwirte
und ihre Angehörigen durch die höheren Zuzahlungen
und die Leistungseinschränkungen in gleichem Maße
betroffen wären wie alle anderen gesetzlich Krankenversicherten, aber im Gegensatz zu diesen nicht von den erwarteten Beitragssatzsenkungen profitieren könnten.
({2})
Wir fordern Frau Künast und Herrn Eichel auf: Nehmen Sie die Kürzung der Zuschüsse zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung zurück! Sie können doch den
ohnehin stark gebeutelten Bauern
({3})
keine zusätzlichen Beitragssatzsteigerungen von teilweise 40 Prozent und mehr zumuten. Meine Damen und
Herren von Rot-Grün, wir wollten in diesen Verhandlungen gemeinsam niedrigere Beiträge für alle schaffen.
Verzichten Sie auf diese Kürzung der Zuschüsse, sonst
fehlt diesem Konsens die Glaubwürdigkeit und somit
eine wirklich wichtige Grundlage.
({4})
Was uns heute vorliegt, ist ein Kompromiss der Vernunft. Wir haben eine Übereinkunft durch gegenseitige
Zugeständnisse getroffen. Das ist aus unserer Sicht ein
Pflichtprogramm, keine Kür. Wir haben nicht alles verhindern, aber wir haben vieles abmildern und Entscheidendes in die richtige Richtung durchsetzen können. Neben einem spürbaren Beitragssatzsenkungspotenzial
haben wir wesentliche Richtungswechsel bewirken und
auch einige zentrale Kritikpunkte ausräumen können.
Wir haben vor allen Dingen die Bevormundung, die Ihr
erstes Gesetz noch durchzogen hat, eliminiert. Wir haben die Verantwortlichkeiten der Anbieter und das Verantwortungsbewusstsein der Patienten durch mehr Freiheit, mehr Wettbewerb und Selbstbeteiligung gestärkt.
Wir sind uns bewusst, dass wir allen Beteiligten viel
zumuten. Aber wir haben das Zutrauen in die Fähigkeiten der Menschen. Wir sehen in den Patienten keine Bittsteller, sondern wirkliche Beteiligte im System. Deshalb
bekommen Patientinnen und Patienten sowie Selbsthilfegruppen deutlich mehr Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten im Bundesausschuss, wenn es um Fragen
ihrer medizinischen Versorgung geht.
Zudem eröffnen wir neue Gestaltungsmöglichkeiten
für den Versicherungsschutz: angefangen bei der Möglichkeit, zwischen der privaten und der gesetzlichen
Krankenversicherung bei der Absicherung des Zahnersatzes zu wählen, über die Wahl der Kostenerstattung bis
hin zur Auswahl von spezifischen Versorgungsangeboten, der integrierten Versorgung, der hausarztzentrierten
Versorgung und Bonusmodellen für gesundheitsbewusstes und präventionsorientiertes Verhalten. Hinzu kommen Beitragsrückgewähr und Selbstbehalte für freiwillig
Versicherte. Das bedeutet mehr Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten für Patienten und Versicherte
und mehr Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wir von der Union konnten der angestrebten Zentralisierung und Verstaatlichung des Gesundheitswesens ein
Ende setzen. Es wird kein staatliches Institut zur Steuerung der medizinischen Behandlung von über
70 Millionen Versicherten geben. Das heißt, die Therapiefreiheit in unserem Land bleibt erhalten. Es wird
auch keine bevormundende Listenmedizin geben, auch
wenn sie in noch so positive Worte gekleidet werden
sollte.
Die Freiberuflichkeit in unserem Gesundheitswesen
wird nicht zu Grabe getragen. Das konnten wir verhindern, die Glocken sollten es ja schon einläuten.
Es wird keine marktbeherrschenden Einkaufsmonopole der Kassen zulasten einer flächendeckenden, qualitativ hochwertigen Versorgung geben; denn es ist bei
weitem kein Wettbewerb, wenn der einzelne Arzt einem
marktbeherrschenden Einkaufsmonopol einer Krankenkasse gegenübersteht. Das wollten Sie von Rot-Grün. Es
wird aber nicht kommen.
({5})
Auch künftig wird es eine flächendeckende Qualitätsund Leistungssicherung durch Kollektivverträge geben.
Das Wettbewerbsmodell der Union wird dafür sorgen,
dass innerhalb der Kollektivverträge ein Wettbewerb der
Ärzte um die beste Qualifikation stattfindet und im Bereich der integrierten Versorgung ein Wettbewerb um die
Frage, ob die kollektiv- oder die einzelvertragliche Versorgung die bessere Alternative ist.
Wir haben es geschafft, den Qualitätswettbewerb im
System zu stärken, und zwar unter fairen Bedingungen
zwischen gleichberechtigten Marktteilnehmern; das sage
ich ganz bewusst. Wer immer wieder davon redet, wir
hätten zu wenig Wettbewerb, der weiß nicht, wovon er
spricht, oder will nur kaschieren, dass er ein Monopol
zugunsten eines anderen, nämlich eines Kassenmonopols, etablieren will.
({6})
An anderer Stelle beenden wir endlich einen unsäglichen Zustand, nämlich die Budgetierung. Budgetierung
bedeutet in unserem System verdeckte Rationierung. Die
Verunsicherung der Ärzte, nicht zu wissen, was sie am
Jahresende für ihre Arbeit bekommen, und die Verlagerung des Krankheitsrisikos der Versichertengemeinschaft auf die Ärzteschaft haben ein Ende. Fallende
Punktwerte gehören ab dem Jahr 2006/2007 der Vergangenheit an. Es gibt wieder Planungssicherheit. Nicht die
Ärzte müssen das Risiko der Morbidität tragen, sondern
der gesundheitliche Bedarf wird von der Gemeinschaft
der Kassen getragen. Dort gehört dieses Risiko auch hin.
({7})
Damit haben wir wieder mehr Verlässlichkeit und mehr
Motivation in diesem Bereich geschaffen. Gerade jüngere Ärztinnen und Ärzte müssen nicht mehr um ihre
wirtschaftliche Existenz bangen. Das ist wichtig, damit
wir auch in Zukunft eine flächendeckende ambulante
Versorgung gerade auch in den neuen Bundesländern sicherstellen können.
({8})
Beim Zahnersatz ist der Einstieg in die lohnunabhängige, beschäftigungsfördernde Versicherung eines
medizinischen Leistungsbereichs geschafft. Das ist ein
gesundheitspolitisches Novum von weitreichender Bedeutung insbesondere für die gesetzliche Krankenversicherung. Wer die Abhängigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung von Lohn und Gehalt problematisiert
- aus meiner Sicht zu Recht -, der erlebt jetzt zum ersten
Mal die Wirklichkeit der Abkopplung. Das ist ein echter
Beitrag, damit Arbeit in Deutschland endlich billiger
wird.
Den Versandhandel konnten wir zwar nicht ganz
verhindern, haben aber für Rahmenbedingungen gesorgt,
die einen fairen Wettbewerb zwischen Versand- und Offizinapotheke ermöglichen. Ich erwarte jetzt von der
Bundesregierung, dass sie mit dem heutigen Tag auch
die Notifizierung gegenüber der EU-Kommission einleitet.
Wir wissen, dass dieser Kompromiss den Versicherten und Patienten erhebliche Lasten auferlegt.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Dies gilt nach Beitragssatzsicherungsgesetzen, Zwangsrabatten und Nullrunden
im Übrigen auch spürbar für die Ärzte und Krankenhäuser, die Apotheker und die Pharmaindustrie.
Meine Damen, meine Herren, wir tragen den Kompromiss nicht aus Begeisterung über ein Jahrhundertreformwerk mit, sondern aus Verantwortung für die Versicherten und die Patienten in unserem Land.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hilde Mattheis.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Sie von der Opposition sind zum Beispiel noch nicht auf
das Thema Sozialhilfereform eingegangen. Es ist also
noch nicht alles gesagt.
({0})
Ich möchte nun den Blick auf diesen Bereich wenden,
denn es handelt sich um ein weiteres wichtiges Reformgesetz von SPD und Grünen.
„Armut bedeutet, dass über einen verfügt wird“. Dieser Satz stammt von dem Vorsitzenden des Stuttgarter
Vereins Tafelladen. Der Tafelladen verkauft an Bedürftige sehr billig Lebensmittel, die umsonst von Bäckereien, Großmärkten und Supermärkten kommen.
({1})
Solche Einrichtungen gibt es - das wissen Sie - in vielen
Städten. In ihnen wird nichts verschenkt. Die niedrigen
Preise decken meist gerade die Unkosten. Aber die Menschen, die dort einkaufen, können selbst wählen. Es wird
ihnen nichts zugeteilt.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf zieht sich genau dieser rote Faden. Bezieherinnen und Bezieher von
Sozialhilfe werden einbezogen statt bürokratisch bevormundet. Mit diesem Gesetz aktivieren wir die individuellen Ressourcen der Betroffenen und beziehen sie als
Partner in den Hilfeprozess ein.
({2})
Bislang standen die ausreichende Bemessung der
Hilfe und die effiziente Abwicklung der Transferleistungen im Mittelpunkt des Verwaltungshandelns. Mit diesem Gesetz werden - Herr Stöckel hat es bereits ausgeführt - die Kommunen entlastet. Die Zahlen gehen
deutlich zurück. Die Träger der Sozialhilfe können sich
auf eine Personengruppe konzentrieren, die ganz individuelle Fördermaßnahmen benötigt. Dass sich die Aktivierung außerhalb des Arbeitsmarktes für die Kommunen mittel- und langfristig rechnet, wurde uns unter
anderem von dem Leiter des Sozial- und Jugendamtes
der Stadt Freiburg bestätigt.
Darüber hinaus kann festgestellt werden: Sozialamtsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter sind hoch qualifiziert
und sehr erfahren, was die Beratung und Betreuung dieses Personenkreises mit sehr vielschichtigen Problemen
anbelangt. Die Sozialstrukturen und -netze zum Beispiel
für psychisch Kranke und für Personen mit anderen Auffälligkeiten sind über Jahre hinweg gewachsen und können umso intensiver genutzt werden. In diesem Geist ist
das neue Sozialhilfegesetz geschrieben, das wir heute in
erster Lesung zu beraten haben.
({3})
Ein weiterer wichtiger Baustein des Förderns und
Forderns ist die Neubemessung der Regelsätze. Dabei
bestand folgender Handlungsbedarf: Seit Jahren hat sich
die bisherige Abgrenzung laufender und einmaliger
Leistungen als nicht sachgerecht erwiesen. Für alles und
jedes musste bisher ein neuer Antrag gestellt werden.
Dies ist nicht nur ein ungeheurer Verwaltungsaufwand,
sondern bedeutet auch eine große Bevormundung für
diejenigen, die von Sozialhilfe abhängig sind. In den
neuen Regelsatz sind hingegen bis auf wenige Ausnahmen die einmaligen Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt einbezogen.
Außerdem wurde bislang nur unzureichend berücksichtigt, dass größere Haushalte günstiger wirtschaften
können als kleinere. Das Ungleichgewicht zwischen älteren und jüngeren Kindern, Alleinerziehenden und Familien musste ausgeglichen werden. Unsere Forderung
nach einem Mehrbedarfsfaktor für Alleinerziehende ist
in diesem Zusammenhang richtig und gerecht.
({4})
Fest steht: Durch die Pauschalierung der Regelsätze
und die andere Gewichtung der Struktur wird das Verfahren zur Bemessung der Regelsätze schlüssig und einfach.
Ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können ist ein berechtigtes Anliegen, das auch kranke, behinderte und pflegebedürftige Menschen haben. Dazu
dient die Einrichtung eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets, das es den Menschen erleichtert,
selbstständig Betreuungsleistungen zu organisieren und
zu bezahlen. In dieses Budget, das im SGB IX verankert
wird, fließen alle in Betracht kommenden Leistungen
ein. Das persönliche Budget wird aus der Hand eines
Leistungsträgers erbracht. Das ist überschaubar und
spart Verwaltungskosten. Das Gesamtbudget wird den
Betroffenen auf Antrag zur Verfügung gestellt. Wir werden es zunächst bis 2007 zu testen und wissenschaftlich
zu begleiten haben. So entsteht eine solide Datenbasis,
auf deren Grundlage wir dann weitere Entscheidungen
fällen können.
Fördern statt Gängeln, Aktivieren statt Wegschieben,
Fordern statt lediglich Anklagen - das sind die aus dem
Gesetzentwurf erkennbaren Grundlinien. Es ist gelungen, ein Maßnahmenpaket zu schnüren, durch das die
Menschen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind,
nicht im Stich gelassen werden. Im Gegenzug erwarten
wir zu Recht, dass sich alle im Rahmen ihrer Fähigkeiten
und Möglichkeiten bemühen, aus dieser Bedürftigkeit
auch wieder herauszukommen.
In diesen Tagen wird immer wieder einmal populistisch gegen die Empfängerinnen und Empfänger der Sozialhilfe gehetzt. Dabei geht es nie um sachliche Informationen und um Argumente. Nein, vielmehr sollen
Vorurteile bedient werden. Es soll der Eindruck entstehen, als ob alle Leistungsempfängerinnen und -empfänger ihre Leistungen zu Unrecht beziehen, um sich ein
schönes Leben unter Palmen zu machen. Unsere Bundesministerin Ulla Schmidt hat sofort und konsequent
gehandelt.
Wir verfolgen mit dieser Sozialhilfereform das Anliegen, Menschen Wege zu zeigen, wie sie mehr Eigenverantwortung tragen und den Weg aus der Sozialhilfe finden können.
Ich danke.
({5})
Das Wort hat jetzt die Ministerin für Soziales, Frauen,
Familie und Gesundheit des Landes Niedersachsen, Frau
Ursula von der Leyen.
({0})
Dr. Ursula von der Leyen, Ministerin ({1}):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Vor wenigen Tagen traf ich einen früheren gesundheitspolitischen Sprecher der Union, der in den 80er-Jahren so
manche Debatte hier im Hause miterlebt hat. Er sagte
mir: Damals hat sich niemand für Gesundheitspolitik interessiert. Das war ein Nischenthema.
Heute ist die Gesundheitspolitik eines der zentralen
Themen. Das Gesundheitswesen ist mit mehr als 4 Millionen Beschäftigten der dynamischste und zukunftsträchtigste Sektor in unserem Land. Dennoch sind wir in
einer Situation, in der der Gesundheitssektor eine Belastung für unser Land ist. Er ist für jene hohen Lohnnebenkosten mitverantwortlich, die den Faktor Arbeit belasten
und den Wirtschaftsmotor in diesem Lande abzuwürgen
drohen. Deshalb steht die Gesundheitspolitik heute zu
Recht im Zentrum des Interesses. Es geht darum, den sozialen Charakter unserer Marktwirtschaft zu wahren und
Deutschland gleichzeitig international wieder fit zu machen. Ich bin überzeugt: Diese Reform bringt uns diesen
beiden Zielen ein Stück näher.
Meine Damen und Herren, es konnte nicht nur ein
Konsens zwischen den Koalitionsfraktionen auf der
einen und der Union auf der anderen Seite erzielt werden, vielmehr wurde auch eine Übereinstimmung mit
den Bundesländern erzielt. Das möchte ich ausdrücklich
betonen. Vor allem ist es den Ländern in den Verhandlungen gelungen - deshalb sind wir natürlich auch
angetreten -, zentrale bürokratische Strukturen zugunsten von mehr föderaler Vielfalt und mehr Wettbewerb
aufzubrechen. Ich nenne das einen wichtigen Erfolg für
zwei wesentliche Grundprinzipien, auf denen unsere
deutsche Krankenversicherung beruht, nämlich für das
Prinzip der Selbstverwaltung und für das Prinzip der
Subsidiarität.
Die Subsidiarität fängt beim Patienten an. Patienten
haben einen Anspruch auf Beteiligung und Transparenz.
Nur dann ist ihnen auch mehr Eigenverantwortung zuzumuten.
({2})
Durch diese Reform wird die Transparenz hinsichtlich
der Angebote, der Leistungen, der Kosten und der Qualität ganz wesentlich erhöht. Die Stichpunkte sind vielfach
schon genannt worden: Patientenquittung, Gesundheitskarte, die Möglichkeit zur Kostenerstattung, Tarife mit
Beitragsrückgewähr oder Selbstbehalten und Bonuslösungen. Das macht es den Patienten möglich, auch selbst
Entscheidungen treffen zu können. Damit stärken wir
die einzige Instanz, die Angebot und Nachfrage im Gesundheitswesen unbürokratisch und wirkungsvoll ins
Gleichgewicht bringen kann, nämlich die Patienten.
Wir alle wissen doch auch aus Erfahrung, woran unser
Gesundheitssystem vor allem krankt - das es ist heute
schon mehrfach thematisiert worden -: Der Hausarzt untersucht gründlich und schickt den Patienten zum Facharzt. Dieser lotet erst einmal alle Möglichkeiten aus. Vom
Facharzt geht es ins Krankenhaus. Das Krankenhaus ordnet seine Palette von Untersuchungen an. Es gibt Doppeluntersuchungen und Informationsverluste. Das kostet
Zeit - kostbare Lebenszeit - und Geld. Wir haben
schlechte Erfahrungen mit Patienten gemacht, die zwiMinisterin Dr. Ursula von der Leyen ({3})
schen ambulantem und stationärem Budget, zwischen
Rehabilitation und Pflege hin- und hergeschoben wurden.
Deshalb haben wir in dieser Reform - das sollte man
betonen - mit der integrierten Versorgung einen wichtigen Schritt zu einer Behandlung im Verbund und damit
einer Behandlung für die Menschen und ihre Krankheit
als Ganzes getan. Wir öffnen in der integrierten Versorgung die Option, Einzelverträge abzuschließen. Das ermöglicht es uns, in diesem Segment gewissermaßen als
deutschlandweites Modell Erfahrungen mit mehr Wettbewerb zu sammeln, die wir auch brauchen - wir müssen in diesem System lernen -, ohne gleich das Kind mit
dem Bade auszuschütten und das gesamte System auf
Wettbewerb pur umzustellen. Auch da gibt es international negative Erfahrungen. Ich halte diesen Teil des Gesetzes für eine wichtige und wegweisende Innovation.
Aus Ländersicht ist mir zudem wichtig, dass die Planungshoheit der Länder in der Krankenhausversorgung unangetastet geblieben ist.
({4})
- Jawohl, das ist eine entscheidende Voraussetzung für
die flächendeckende Krankenhausversorgung. Wenn wir
die ländlichen Räume - ich bin Ministerin eines Landes
mit vielen ländlichen Räumen - am Leben erhalten wollen, dann brauchen wir dort vor allem Schulen und Krankenhäuser. Das muss weiterhin Landesaufgabe bleiben
und das ist auch gut so.
({5})
Diese Gesundheitsreform ist ein wichtiger Schritt. Sie
wird kurz- und mittelfristig die Stabilisierung der Finanzen bewirken. Aber sie ist kein Endpunkt. Gesundheitsreform ist ein kontinuierlicher Prozess in einer alternden
Gesellschaft. Langfristig werden auch aus Gründen der
Generationengerechtigkeit weitere Weichenstellungen
zur nachhaltigen Reform der gesetzlichen Krankenversicherung notwendig sein. Die Diskussion darüber hat
längst begonnen. Wir müssen in absehbarer Zeit zu Entscheidungen kommen. Ich hoffe sehr, dass diese Entscheidungen bei aller Unterschiedlichkeit der berechtigten Interessen von einer breiten Mehrheit getragen
werden können.
Die gemeinsame Gestaltung des für die ganze Gesellschaft so wichtigen Gesundheitssystems für einen langen
Zeitraum muss uns allen ein hohes Gut sein. Es lohnt die
Anstrengung; denn das sind wir den zukünftigen Patientinnen und Patienten schuldig.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael
Luther.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man wird es kaum glauben: Bei der ersten Lesung des Bundeshaushalts gibt es tatsächlich noch jemanden, der zum Bundeshaushalt redet. Das will ich
jetzt an dieser Stelle tun.
Schließlich ist dieser Haushalt nicht der unbedeutendste, sondern der mit dem größten Ausgabevolumen,
mit immerhin 81,9 Milliarden Euro, also 32,6 Prozent
am Gesamthaushalt. Leider ist es so, dass es dort einen
einzigen riesengroßen Haushaltsposten gibt, nämlich
den Bundeszuschuss zu den Rentenkassen: 76,3 Milliarden Euro. Das ist nicht neu. Es ist auch nicht neu, dass
dieser Bundeszuschuss in den letzten Jahren dramatisch
gewachsen ist. Neu ist allerdings, dass die Bundesregierung nun plant, hier einen Kurswechsel vorzunehmen.
Ich will erinnern: 1999 hat die Bundesregierung einen
Weg eingeleitet, den Bundeszuschuss dramatisch zu erhöhen, und zwar durch die Finanzierung mithilfe der
Ökosteuer. 1999 betrug der Bundeszuschuss 60,5 Milliarden Euro. In diesem Jahr sind es 77,3 Milliarden
Euro. Das Ziel der Bundesregierung war, damit die Beiträge zur Rentenversicherung zu senken. Die Frage ist:
Hat die Bundesregierung dieses Ziel erreicht? - Nein, sie
hat es nicht. Sie hat die Beiträge höchstens stabilisiert.
Sie betrugen 1999 19,5 Prozent, betragen in diesem Jahr
19,5 Prozent und sollen im nächsten Jahr 19,5 Prozent
betragen. Das Wahlziel, sie auf 18,9 Prozent zu senken,
ist auf jeden Fall nicht erreicht.
Womit wurde diese Scheinstabilität erkauft? Zusätzlich zu diesem enormen Anwachsen des Bundeszuschusses durch eine Aushöhlung der Schwankungsreserve.
Was ist die Schwankungsreserve? Die Schwankungsreserve ist die Tageskasse der Rentenkasse. Sie garantiert
die Stabilität der Rentenauszahlung. 1999 betrug sie
noch eine Monatsrate, 2002 wurde sie auf 0,8, 2003 auf
0,5 gesenkt und nächstes Jahr soll sie auf 0,3 einer Monatsrate gesenkt werden. Es ist ein erhebliches Finanzvolumen, das den Rentenkassen entzogen wird. Die
geplante Senkung der Schwankungsreserve für nächstes
Jahr soll immerhin einen Beitragsanstieg um 0,3 Prozentpunkte verhindern.
Was wird hier gemacht? Sie greifen in die Tageskasse
der Rentenkasse. Lassen Sie mich an einem Beispiel belegen, was das heißt. Wenn der Bäckersfrau die Tageseinnahmen samt Wechselkasse entwendet werden, ist
das Diebstahl nach § 242 des Strafgesetzbuches, der mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet wird. Sagen Sie mir, was der Unterschied zum
Griff in die Schwankungsreserve ist.
({0})
Der Bundesrechnungshof hat bereits im vergangenen
Jahr auf die Risiken hingewiesen, die mit einer Senkung
verbunden sind. Erfahrungsgemäß ist der Oktober immer der schwierigste, weil einnahmeschwächste Monat.
Und der kommt noch. Das stetige Abschmelzen der
Schwankungsreserve ist ein Tanz auf dem Vulkan. Ich
will an dieser Stelle als Haushälter sagen: Es entstehen
hiermit erhebliche Risiken für den Bundeshaushalt.
Aber es kommt noch schlimmer. Ich zitiere aus einer
Information des VdK:
Durch die Kürzung der Schwankungsreserve
könnte die Rentenkasse in einnahmeschwachen
Monaten mangels Rücklagen zahlungsunfähig werden. In diesem Fall müsste der Bund mit Steuermitteln einspringen. Um dies zu verhindern, plant die
Regierung laut „Spiegel“, Gelder aus dem Risikostrukturausgleich zwischen finanzstarken und finanzschwachen Krankenkassen künftig auch zu
nutzen, um Löcher bei der Rentenversicherung zu
stopfen.
Was heißt das? Die Schwankungsreserve dient auch
zum Handling des Risikostrukturausgleichs. Das heißt:
Die Kassen zahlen ein und schwache Kassen kriegen
Geld. Jetzt soll im Zweifelsfalle dieses Geld zurückgehalten werden, damit man die Renten finanzieren kann.
({1})
Das ist ein „Spiegel“-Bericht. Wir sollten das zumindest
in den Haushaltsberatungen thematisieren.
Eines ist sicher: Noch mehr kann man die Schwankungsreserve nicht senken. Spätestens wenn keine Senkung mehr möglich ist, steht die Bundesregierung vor
dem Offenbarungseid und muss sagen, wie die Renten
langfristig und ohne Tricks zu finanzieren sind.
Weiterhin wurde die Scheinstabilität durch den dramatischen Anstieg des Bundeszuschusses erkauft. Die
Zahlen hatte ich bereits genannt. Hier sehe ich allerdings
einen Kurswechsel der Bundesregierung, die erkennt,
dass ein maßloses Wachsen des Bundeszuschusses an
die Rentenkassen nicht zu finanzieren ist und eine strukturelle Rentenreform her muss. Spät kommt die Erkenntnis, aber sie kommt.
Deshalb sollen nun angesichts leerer Kassen jährlich
2 Milliarden Euro beim Bundeszuschuss eingespart werden. Das ist bereits im Bundeshaushalt 2004 etatisiert
und im Haushaltsbegleitgesetz festgestellt. Was fehlt, ist
die Umsetzung. Im Haushaltsbegleitgesetz steht lediglich:
Die zur Stabilisierung des Beitragssatzes notwendigen Maßnahmen werden später durch entsprechende Änderungen des Sozialgesetzbuches umgesetzt.
Ich frage Sie, Frau Schmidt: Wie wollen Sie im nächsten
Jahr 2 Milliarden Euro bei den Rentnern einsparen? Warum haben Sie heute dazu nichts gesagt?
({2})
Wir beraten heute den Bundeshaushalt. Der Einzelplan 15 des Bundeshaushaltsentwurfs ist Makulatur,
wenn das nicht in diesem Jahr beschlossen wird. Legen
Sie aus diesem Grunde die Zahlen und Fakten auf den
Tisch und ziehen Sie bis dahin den Bundeshaushalt zurück. Legen Sie ihn dann wieder vor, wenn Sie die Hausaufgaben gemacht haben. Denn erst dann ist dieser
Haushalt beratungsfähig.
({3})
Lassen Sie mich als Haushälter noch etwas zur Gesundheitsreform sagen. Im Bundeshaushalt 2004 erleben wir den Einstieg in die steuerfinanzierte Krankenversicherung: durch die Tabaksteuer.
({4})
Meine Kritik - besser gesagt: meine Mahnung - richtet
sich an alle Gesundheitspolitiker. Dieser steuerfinanzierte Weg wird schnell zum Holzweg, wenn im Versicherungssystem keine strukturellen Änderungen vorgenommen werden. Die Rente soll hierbei als mahnendes
Beispiel dienen.
({5})
- Ich habe mich als Haushälter ausdrücklich an alle gewandt.
({6})
Ich denke, im Rahmen des Konsenses, der heute immer
wieder erwähnt worden ist, ist auch mir als Haushälter
dieses mahnende Wort erlaubt.
({7})
Ein weiteres Thema, das mir Sorgen bereitet, ist das
Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz.
Die neuen Bundesländer sollen in diesem Zusammenhang 2004 1,84 Milliarden Euro zahlen, und zwar mit
stark steigender Tendenz. Das ist auf eine Rechtsprechung zurückzuführen, die zur Folge hat, dass eine ursprünglich vernünftige Kostenlösung für die neuen Bundesländer zu einer fiskalischen Falle wird. Ich denke,
wenn wir in den neuen Bundesländern den Aufbau Ost
organisieren wollen, dann ist es nicht in Ordnung, wenn
ihnen auf diese Art und Weise wieder viel Geld entzogen
wird. Es lohnt sich vielleicht, darüber zu reden, wie damit in Zukunft umzugehen und was in diesem Zusammenhang möglich ist.
({8})
Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkung
machen. Es wurde angemahnt, dass seitens der Union
nichts zum SGB XII gesagt worden ist. Im Rahmen des
Bundeshaushalts kam heute eine Vielzahl von wichtigen
Themen zur Sprache. Auch das SGB XII ist ein Thema,
zu dem man viel hätte sagen können, aber leider war dafür nicht genug Zeit.
Aber wer sich den Gesetzentwurf ansieht, wird feststellen, dass es eine Vielzahl von offenen Fragen gibt,
die noch geklärt werden müssen. Das muss zwar leider
dem Ausschuss vorbehalten werden, aber dort ergeben
sich noch genug Gelegenheiten.
Recht herzlichen Dank.
({9})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/1525, 15/1514 und 15/1526 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Frau Bundesministerin Renate Schmidt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Meine sehr geehrten Herren! Meine sehr
geehrten Damen!
Dem Zwang zum Sparen konnte sich ... auch der
Etat des Familienministeriums nicht entziehen. Ich
will hier kein Missverständnis aufkommen lassen.
Keine Mark, die den Familien zugute kommt, ist zu
viel. Wir werden uns sicher auch in der Zukunft
noch weitere Gedanken machen müssen, wie wir
den Familienlastenausgleich noch gerechter gestalten können. Mir sind deshalb die Entscheidungen,
die wir treffen mussten, mit Sicherheit nicht leicht
gefallen, aber ich denke, dass es uns im Ergebnis
nicht nur gelungen ist, unabwendbare Einsparungen
sozial verträglich zu gestalten, vielmehr wurde sogar die Familienförderung ein Stück gerechter.
({0})
Ich wundere mich darüber, auf welcher Seite geklatscht wird; denn dies ist ein Zitat der damaligen Familienministerin Hannelore Rönsch vom 8. September 1993,
({1})
als die damalige Bundesregierung insgesamt für das
volle Jahr des Wirksamwerdens 660 Millionen DM beim
Erziehungsgeld eingespart hat.
({2})
Ich stelle Ihnen die Zitate der damaligen Opposition,
die ähnlich ausfielen wie Ihre heutigen Reaktionen,
gerne zur Verfügung. Ich meine aber, dass diese immer
gleichen Rituale überflüssig sind. Wenn Mittel knapp
sind, wird unabhängig von der Parteifarbe - übrigens
auch bei Ländern und Kommunen - gespart. Dann
braucht man ein klares Konzept: Zielgenauigkeit der
Leistungen, Anreize zur Eigeninitiative, soziale Ausgewogenheit. Das sind die Leitlinien der Agenda 2010.
Genau diese Leitlinien habe ich umgesetzt. Ich halte es
nämlich für vertretbar, wenn eine Familie beim ersten
Kind bei einem jährlichen Bruttoeinkommen von
40 500 Euro des- oder derjenigen, der oder die keine Elternzeit in Anspruch nimmt - also von einem der
beiden -, für die ersten sechs Monate noch volles Erziehungsgeld in Anspruch nehmen kann. Bei der Geburt
des zweiten Kindes liegt der Grenzwert dann bei
45 000 Euro. Rund 95 Prozent aller Eltern, die es bisher
erlebt haben, werden in den ersten sechs Monaten weiterhin volles Erziehungsgeld bekommen.
Übrigens waren wir es, die die Einkommensgrenzen
für den Zeitraum ab dem 7. Monat erstmals nach
15 Jahren angehoben haben. Diese Einkommensgrenzen
bleiben selbstverständlich unangetastet, sodass genauso
viele Familien wie bisher ab dem 7. Monat volles Erziehungsgeld bekommen werden.
Ich halte es für vertretbar, und nicht nur das, sondern
ich halte es sogar für ein Gebot der Gerechtigkeit, dass
Arbeitslosengeld und andere Lohnersatzleistungen angerechnet werden; denn diese können bei einem gut verdienenden Angestellten deutlich höher ausfallen als das
Gehalt einer teilzeitbeschäftigten allein erziehenden Verkäuferin, die lieber erwerbstätig ist, als von Sozialhilfe
abhängig zu werden. Ich halte es auch für vertretbar, das
Erziehungsgeld von 307 Euro auf 300 Euro abzusenken.
Ich habe bisher keine Eltern getroffen, die davon gesprochen hätten, sie bekämen 307 Euro Erziehungsgeld.
Ich möchte aber ehrlicherweise zugeben, dass mich
das stufenweise Absenken des einkommensabhängigen
Erziehungsgeldes ab dem 7. Monat schmerzt, das notwendig wurde, um das Einsparziel zu erreichen. Diesem
Einsparziel stimme ich im Übrigen uneingeschränkt zu,
weil es richtig ist, Investitionen von den Einsparungen
auszunehmen, und weil es richtig ist, Ausgaben für Bildung und Forschung nicht zu kürzen; denn letztendlich
sind beides Investitionen zugunsten unserer Kinder.
({3})
Ich habe im Einzelplan 17 beim Erziehungsgeld nicht
nur, aber im Wesentlichen zulasten der gut verdienenden
Familien einsparen müssen. Ich habe aber im Gegenzug
erreicht, dass für diejenigen, die es besonders brauchen,
Zusätzliches getan wird. Der neu eingeführte Kinderzuschlag von bis zu 140 Euro für diejenigen Eltern, die
erwerbstätig sind, aber so wenig verdienen, dass es nicht
auch noch für den Unterhalt ihrer Kinder reicht, wird
150 000 Kinder aus dem Arbeitslosengeld II holen. Vom
zusätzlich erwirtschafteten Einkommen bleibt den Familien etwas übrig. Eigeninitiative lohnt sich also - das
Sicheinrichten in der Sozialhilfe nicht.
Vielleicht sollten Sie bei all Ihrer Kritik gerade hier
zu Ihrer eigenen Verantwortung stehen. 1998 lebten
1,1 Millionen Kinder in der Sozialhilfe. Die Verantwortung dafür trägt allein die heutige Opposition. In 16 Jahren Regierungsverantwortung haben Sie kein einziges
Mal irgendeine Initiative ergriffen, um Armut von Kindern zu bekämpfen.
({4})
- Ich weiß, dass Sie das schmerzt, genauso wie mich anderes schmerzt.
Das Fraunhofer-Institut hat nun eine Zahl von zusätzlich 220 000 Kindern im neuen Arbeitslosengeld II errechnet. Diese Kinder - auch das sollte uns klar sein haben aber zuvor nicht in Wohlstand gelebt, sondern von
Arbeitslosenhilfe. Diese war für Familien nicht selten
geringer als das, was sie an Anspruch in der Sozialhilfe
gehabt hätten.
Ich behaupte auch gar nicht - das wäre eine Übertreibung -, dass mit dem Kinderzuschlag, der für 2004 mit
125 Millionen Euro und für die Folgejahre mit 250 Millionen Euro im Einzelplan 17 enthalten ist, das Problem
Kinderarmut gelöst sei. Es ist aber ein erster wichtiger
Schritt. Diese Sicht wird von Fachleuten und Sozialverbänden ausdrücklich geteilt. Es ist im Übrigen ein
Schritt, dem weitere folgen müssen, sobald sich finanzielle Spielräume ergeben. Leistungen zielgenau denen
zugute kommen zu lassen, die sie wirklich benötigen:
Das ist die Maxime dieser Bundesregierung. Vor diesem
Hintergrund konnte ich dank der Unterstützung Hans
Eichels und vor allem auch des Bundeskanzlers eine auf
Dauer geltende steuerliche Regelung für tatsächlich Alleinerziehende erreichen.
({5})
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
hatte uns dazu gezwungen, den bisherigen Haushaltsfreibetrag für alle Alleinerziehenden abzuschmelzen.
Ein Ausdehnen dieses Freibetrags auf alle Familien wäre
zwar verfassungsrechtlich, nicht aber finanziell darstellbar gewesen; denn das hätte zweistellige Milliardenbeträge an Steuerausfällen beim Bund, aber auch bei
Ländern und Kommunen bedeutet. Ich kenne keinen einzigen Ministerpräsidenten eines unionsgeführten Landes, der eine solche Forderung gestellt hätte. Das bleibt
offenbar eine typische Oppositionsforderung und nicht
mehr.
({6})
Zwischen tatsächlich Alleinerziehenden und denen in
nicht ehelichen Lebensgemeinschaften Lebenden müssen
wir ebenfalls wegen dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden. Ich darf dazu den damaligen Richter und Berichterstatter des Bundesverfassungsgerichts, Professor Paul Kirchhof, vom 26. Januar 1999
zitieren. Er sagte damals:
Die Forderung, die Alleinerziehenden steuerlich zu
entlasten, besteht fort. Nur haben wir jetzt festgestellt, dass die steuerliche Entlastung der unverheiratet Zusammenlebenden ein Nachteil ist für die
verheirateten Eltern. Und deshalb wird man hier
Gleichheit herstellen müssen.
Wenn nun Frau Kollegin Stewens aus Bayern kritisiert, dass eine Prüfung, ob jemand tatsächlich allein erziehend ist, schwer sei, dann verweise ich auf das übrige
Europa und unsere eigenen gesetzlichen Sozialhilfe-,
Wohngeld-, Arbeitslosenhilfe- und Erziehungsgeldregelungen. Was dort geht, muss auch im Steuerrecht möglich sein.
Der neue Freibetrag
({7})
trägt der erschwerten Haushaltsführung von Alleinerziehenden Rechnung, die mangels Synergieeffekten im Zusammenleben mit anderen Erwachsenen zwangsläufig
höhere Ausgaben haben. Abstand haben wir von Änderungen des Unterhaltsvorschussgesetzes genommen.
Das Einführen von Einkommensgrenzen hätte nämlich
so gut wie nichts gebracht; denn diejenigen Alleinerziehenden, die Unterhaltsvorschuss beziehen, bewegen sich
am unteren Ende der Einkommensskala.
({8})
In Deutschland reduziert sich allzu häufig die familienpolitische Diskussion auf den materiellen Aspekt.
Hier liegen aber nicht unsere größten Defizite. Im europäischen Vergleich liegen wir bei den materiellen Leistungen im oberen Drittel, was nicht zuletzt ein Erfolg der
rot-grünen Bundesregierung ist.
({9})
Gemeinsam mit Luxemburg liegen wir zum Beispiel
beim Kindergeld an der Spitze. Bei Quantität und Qualität der Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sind wir aber europäisches Schlusslicht. Diese
falsche Prioritätensetzung, verbunden mit einer ideologisierten Debatte über den angeblichen Niedergang der Familien durch staatlich ergänzende Betreuung und angeblich verantwortungslose Rabenmütter,
({10})
hat zu folgenden Ergebnissen geführt: Wir haben eine
der niedrigsten Geburtenraten, eine niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen, schlechte PISA-Ergebnisse und
eine beschämend hohe Kinder- und Familienarmut im
europäischen Vergleich. Das müssen wir ändern.
Deshalb bin ich froh, dass trotz aller Sparzwänge das
4-Milliarden-Euro-Programm für Ganztagsschulen im
Haushalt von Edelgard Bulmahn genauso unangetastet
ist
({11})
wie der bis zu 1,5 Milliarden Euro jährlich umfassende
Ansatz für den Betreuungsausbau zugunsten der
Kleinsten.
({12})
Beides sind Maßnahmen des Bundes, für die er keine eigene Zuständigkeit hat.
({13})
Aber die Bundesregierung hat erkannt, dass der Modernisierungsbedarf unseres Landes in diesem Bereich genauso dringend ist und dass hier entsprechende Maßnahmen genauso überfällig sind wie im Bereich der
Gesundheits-, der Arbeitsmarkt- oder der Rentenpolitik.
Wir wollen, dass sich junge Menschen ihre Kinderwünsche erfüllen können. Wir wollen, dass damit eine
aktive Bevölkerungsentwicklung eingeleitet wird, die
uns vom viertletzten Platz in der EU und von einem der
schlechtesten Plätze weltweit wegbringt. Wir wissen,
dass wenig Kinder nicht erst in drei oder vier Jahrzehnten zu Problemen in den Sozialversicherungssystemen
führen werden, sondern schon heute, also ganz aktuell,
weniger Wachstum und damit weniger Wohlstand für
unser Land bedeuten. Deshalb werden wir die Rahmenbedingungen für Familien verbessern. Dies ist noch
wichtiger, als dauernd über die Höhe materieller Leistungen zu reden.
Im nächsten Jahr werde ich die notwendigen gesetzlichen Regelungen dazu in Absprache mit Ländern und
Kommunen vorlegen. Dabei wird es nicht nur um Quantitäten, sondern auch um Qualitäten gehen müssen; denn
es geht nicht nur um mehr Möglichkeiten zur Vereinbarkeit für die Eltern - hierbei ist auch die Wirtschaft in erheblichem Maße gefordert -, sondern vor allem auch um
eine verbesserte Bildung und Erziehung unserer Kinder.
Diese findet an erster Stelle selbstverständlich in der Familie statt; sie muss aber durch öffentliche Einrichtungen ergänzt werden.
({14})
Wir geben in Deutschland das meiste für die Oberstufen der Gymnasien und das wenigste für den frühen
Elementarbereich aus. Das ist einer der Gründe dafür,
warum bei uns wie in keinem anderen Land die Herkunft
so sehr über die Bildungschancen der Kinder entscheidet. Das eine Ziel heißt deshalb: mehr und bessere Kinderbetreuungseinrichtungen. Das zweite Ziel heißt: in
der „Allianz für die Familie“ mit den Wirtschaftsverbänden und dem DGB familienfreundliche Arbeitsbedingungen erreichen.
({15})
Das nützt Eltern und Kindern. Das rechnet sich volksund betriebswirtschaftlich und nützt deshalb auch den
Unternehmen.
Diese Erkenntnis ist in den Spitzen der deutschen
Wirtschaft und in den Gewerkschaften inzwischen Allgemeingut. Wir werden sie gemeinsam und beispielhaft
in lokalen Bündnissen für Familie mit der Unterstützung
eines dafür eingerichteten Büros in meinem Ministerium
vor Ort umsetzen.
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, für mich ist im Rahmen dieser Debatte wichtig,
dass nicht die Frauen durch das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bei der Eingliederung in
den Arbeitsmarkt benachteiligt werden. So haben künftig alle erwerbstätigen Personen einen Anspruch auf
Leistungen der Jobcenter, gleichgültig ob sie Leistungsbezieher bzw. Leistungsbezieherinnen sind oder nicht.
({16})
Erwerbsfähige Unterhaltsberechtigte haben zudem einen
vorrangigen Anspruch auf Vermittlung, auch auf Vermittlung eines Kinderbetreuungsplatzes. Die Bundesagentur für Arbeit soll sicherstellen, dass dies auch realisiert wird.
Auf mein Drängen hin wurde geregelt, dass Müttern
mit einem schulpflichtigen Kind keine Nachmittagstätigkeit zugemutet werden kann, wenn der Arbeitsmarkt
auch Vormittagsstellen hergibt.
({17})
Insbesondere allein erziehende Sozialhilfeempfängerinnen, deren Schlechterstellung wir vermieden haben,
profitieren davon, dass zukünftig für Bezieher und Bezieherinnen des Arbeitslosengeldes II Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt werden.
Dies alles sind Beispiele dafür, dass mein Ministerium bei allen Reformen die Auswirkungen auf Frauen
berücksichtigt, Nachteile verhindert und, wo immer
möglich, Verbesserungen erreicht hat.
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, auch auf der Seite des Zivildienstes kann ich Entspannung melden.
({18})
Gleichzeitig will ich mich bei den Wohlfahrtsorganisationen und den anderen Trägern des Zivildienstes für
ihre Geduld und Kooperationsbereitschaft im Hinblick
auf das Einberufungsjahr 2002/2003 bedanken.
({19})
Ich habe mein Versprechen gehalten: Die Kostenaufteilung zwischen Bund und Trägern liegt für 2004 wieder
bei 70 Prozent zu 30 Prozent. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege begrüßt die Planungssicherheit. Im Zivildienstjahr 2003/2004 werden
im Jahresdurchschnitt circa 95 000 Zivildienstleistende
einberufen.
Ein Beispiel für erfolgreiche Schwerpunktsetzung ist
unser Engagement für die soziale und berufliche Integration von Jugendlichen. Mit dem freiwilligen sozialen Trainingsjahr haben wir ein Angebot geschaffen, mit
dem es gelingt, diejenigen Jugendlichen zu integrieren,
für die es bisher keine Angebote gab.
Die bisherige Bilanz ist sehr vielversprechend. Die
Mittel wurden aufgestockt und in 2004 wird die erreichte
Höhe erhalten bleiben. Ich erwarte von diesem Konzept,
dass diejenigen Jugendlichen nachhaltig integriert werden, die wir bisher nicht erreicht haben oder die oft ohne
den erwünschten Erfolg von Maßnahme zu Maßnahme
geschickt wurden.
Keinerlei Kürzungen gibt es auch im Bereich der Seniorenpolitik. Schutz und Sicherheit für das hohe Alter
bleiben weiter ein Schwerpunkt der Arbeit. Daneben ist
die Konzentration auf eine Zukunftsfrage eingeleitet:
Welche Entscheidungen brauchen wir, um die Erfahrungen und Potenziale der Älteren für unsere Gesellschaft
nachhaltig zu nutzen? Ich wehre mich dagegen, dass Alter mit „hilfsbedürftig“, „krank“ und „ohne Nutzen für
die Gesellschaft“ gleichgesetzt wird.
({20})
Alte Menschen mit ihrer Lebenserfahrung werden in
unserer Gesellschaft genauso wie junge Menschen gebraucht, und zwar sowohl in der Wirtschaft als auch in
der gesamten Gesellschaft. Es wäre gut, die Diskussion
intensiver auf diesen Punkt zu konzentrieren, als sich mit
Nützlichkeitsaspekten in Bezug auf alte Menschen oder
mit Kosten, die Alte verursachen, zu beschäftigen. Das
würde dem gesamten Parlament wohl anstehen.
({21})
Ich freue mich auf die Diskussion in den Ausschüssen
mit Ihnen über den Einzelplan 17. Ich bin gespannt, ob
Sie, meine Herren und Damen von der Union, diesmal
finanzierbare Alternativen vorlegen werden, zum Beispiel zu Ihrem Familiengeld, das Sie ausweislich der
letzten Pressemeldungen angeblich immer noch wollen,
({22})
oder ob Sie Konzepte zur Anerkennung von zusätzlich
drei Rentenversicherungsjahren pro Kind mit einem Finanzbedarf von 12 Milliarden Euro vorlegen werden. Es
wird aber dabei bleiben, glaube ich, dass dies nur Äußerungen ohne Substanz für Wahlreden, Presseerklärungen
und Talkshows sind.
Sie werden im Rahmen der Debatten erkennen: Wir
unterstützen Familien als Leistungsträger der Gesellschaft in ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit durch
zielgenaue Förderung. Wir schaffen eine Infrastruktur,
die es jungen Menschen erlaubt, sich Kinderwünsche zu
erfüllen,
({23})
und unterstützen damit eine aktive Bevölkerungsentwicklung. Wir nehmen die Wirtschaft in die Verantwortung für die Familien und das ist überfällig.
({24})
Wir ermöglichen eine bessere Förderung unserer Kinder;
denn wir wissen: Auf den Anfang kommt es an. Das ist
der Weg zu mehr Familien- und Kinderfreundlichkeit in
Deutschland. Diesen Weg werden wir gehen und durchsetzen.
({25})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Ministerin, Ihre Rede, auch wenn sie noch
so forsch vorgetragen worden ist, kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Sie die Familien ins Abseits stellen.
({0})
Auch eine Zeitschrift wie der „Spiegel“ hat in diesem
Jahr, im Mai, geschrieben:
({1})
Niemand scheint sich mehr für Familienpolitik zu
interessieren, auch weil es Renate Schmidt versäumt hat, das Land für Familienpolitik zu interessieren.
({2})
Ihre Auftritte im Kabinett oder in der Fraktion beschränken sich auf Appelle, mehr für Familien und
Frauen zu tun. Dann nicken alle zustimmend und
wenden sich wieder anderen Dingen zu.
({3})
Die Familienpolitik wurde bei Ihnen aufs Abstellgleis
geschoben. Jetzt versuchen Sie, den bayerischen Landtagswahlkampf zu nutzen, um angebliche familienpolitische Erfolge zu vermarkten.
Die Lebenswirklichkeit von Familien sieht nach
fünf Jahren Rot-Grün aber anders aus. Sie hat sich dramatisch verschlechtert. 1998 waren 1 Million Kinder in
der Sozialhilfe - auch das war natürlich schon zu viel -;
heute sind es aber 1,1 Millionen Kinder, Tendenz steigend.
({4})
Wir haben in unserer Regierungszeit die Leistungen
für Familien verdreifacht.
({5})
Wir haben mit dem Erziehungsgeld und dem Erziehungsurlaub sowie mit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung bahnbrechende Neuerungen eingeführt.
({6})
Sie jedoch streichen und kürzen. Mit der geplanten kompletten Streichung der Eigenheimzulage treffen Sie in
erster Linie Familien. Mit der Kappung der Pendlerpauschale greifen Sie Familien nochmals in die Tasche. Mit
der Einführung der Ökosteuer haben Sie Familien weitaus stärker belastet als andere Bevölkerungsgruppen.
Bei der Beratung des Haushalts 2003, also im letzten
Jahr, haben Sie, Frau Schmidt, noch behauptet, dass in
keinem Ressort zulasten von Familien gespart wird.
Noch kürzlich haben Sie getönt, bei Familien würden
keine Kürzungen vorgenommen. Die Realität sieht anders aus. Ihr Haushalt wurde um 7 Prozent gekürzt. Das
sind 345 Millionen Euro. Knapp 70 Prozent davon entfallen allein auf die Kürzung des Erziehungsgeldes.
({7})
Bekanntlich sind die finanziellen Einschnitte nach der
Geburt eines Kindes besonders hoch; das Erwerbseinkommen der Eltern sinkt. Trotzdem sanieren Sie Ihren
Haushalt auf Kosten junger Eltern durch drastische Reduzierung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld. Das halten Sie noch für vertretbar? Das kann doch
nicht wahr sein!
({8})
Mit diesen Einsparungen treffen Sie vor allem die Eltern, die sich entscheiden, zumindest eine bestimmte
Zeit bei ihrem Kind zu Hause bleiben zu wollen. Dann
sagen Sie doch gleich, dass Sie das Erziehungsgeld ganz
streichen wollen. Das wäre wenigstens eine ehrliche
Aussage. Schönreden hilft nicht, Frau Ministerin.
Noch bei den Beratungen zum Haushalt 2003 haben
Sie gesagt - da zitiere ich Sie aus dem Bundestagsprotokoll -, es gebe keinerlei Einschränkungen beim Erziehungsgeld. So lautete Ihre Aussage. Die Realität sieht
heute ganz anders aus. Sie, Frau Ministerin, richten Ihre
Politik doch völlig daran aus, dass beide Eltern erwerbstätig sein müssen.
({9})
Das kann doch nicht richtig sein. Ich habe immer gedacht, dass auch Sie der Meinung wären, dass Eltern
Wahlfreiheit besitzen sollen, also selbst entscheiden,
wie sie Familie und Erwerbstätigkeit vereinbaren wollen. Sie aber verschlechtern zunehmend die Rahmenbedingungen und schränken damit diese Wahlfreiheit ein.
Einsparungen auf Kosten derjenigen, die Kinder erziehen, gehen zulasten der Zukunftsfähigkeit unseres Volkes.
Sie haben die Geburtenrate angeführt. Wir liegen
mit 1,34 Kindern unter 191 Staaten, die verglichen werden, an 180. Stelle.
({10})
Sie müssten doch eigentlich das Ja zum Kind erleichtern,
vielmehr bestrafen Sie aber die jungen Familien.
Schauen Sie nach Frankreich. Dort liegt die Geburtenrate bei 1,8.
({11})
In den skandinavischen Ländern liegt sie bei 1,7.
({12})
In Frankreich werden Familien nicht nur durch ein vielfältiges Betreuungsangebot unterstützt - das ist richtig,
das haben die -,
({13})
sondern der Erfolg des französischen Familienkonzeptes
basiert auch auf der finanziellen Förderung von Familien in den ersten Lebensjahren eines Kindes. In Norwegen zahlt der Staat beispielsweise für jedes Kind ungefähr 425 Euro im Monat. Dieser Satz liegt dreimal so
hoch wie die 154 Euro, die wir in Deutschland zahlen,
ganz abgesehen davon, dass Ihre Kindergelderhöhung
den Familien nichts gebracht hat, weil Sie an anderer
Stelle den Familien das Geld wieder aus der Tasche gezogen haben. Sie machen Politik nicht für Familien, sondern gegen sie.
({14})
Um von Ihrem völligen Versagen in der Familienpolitik abzulenken, haben Sie nach Ausgleichsmaßnahmen
gesucht. Schauen wir uns doch an, was bei den Alleinerziehenden passiert ist. Zunächst haben Sie den
300 000 Alleinerziehenden den Freibetrag von
2 900 Euro weggenommen. Jetzt wollen Sie wieder einen neuen Freibetrag von 1 300 Euro einführen. Wer
rechnen kann, stellt aber fest, dass das keinen Ausgleich,
sondern eine Verschlechterung um mehr als 50 Prozent
darstellt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Den lächerlichen Vorschlag, pro Kind 20 Euro zu zahlen, haben Sie schnell wieder fallen gelassen. - Bitte
sehr.
Vielen Dank, aber ich glaube, es erteilt immer noch
die Präsidentin das Wort, wenn ich mir diese Bemerkung
erlauben darf.
Frau Eichhorn, sollten Sie vielleicht bei den Beratungen in der letzten Legislaturperiode übersehen haben,
dass der Haushaltsfreibetrag für die Alleinerziehenden
nicht einfach gestrichen, sondern durch einen Freibetrag
für Betreuung, Erziehung und Ausbildung ersetzt worden ist? Ich kann Sie hier nur auffordern, diese Heuchelei zu lassen,
({0})
zu behaupten, der Freibetrag sei einfach gestrichen worden und nicht durch einen fast gleich hohen Freibetrag,
der pro Kind und nicht pro Haushalt gilt, ersetzt worden.
Das heißt, sobald Sie zwei Kinder in einer Familie haben, liegt die Höhe des neuen Freibetrages schon über
dem damaligen Haushaltsfreibetrag.
({1})
Ich kann Sie nur auffordern, richtig zu rechnen und in
Zukunft bei der Wahrheit zu bleiben.
({2})
Frau Kollegin, wenn das stimmen würde, was Sie gerade gesagt haben,
({0})
dann verstehe ich nicht, warum die Alleinerziehenden
und allen voran die Halbschwester von Herrn Schröder
auf die Barrikaden gegangen sind und sich dagegen gewehrt haben, dass der Freibetrag für Alleinerziehende
gestrichen wird. Ich denke, die haben Recht.
({1})
Jetzt unterscheidet das Ministerium - und versteht
dies als Beitrag zum Abbau von Bürokratie - zwischen
echten und falschen Alleinerziehenden.
({2})
Ich frage Sie: Wie wollen Sie denn feststellen, wer ein
echter und wer ein falscher Alleinerziehender ist?
({3})
Wollen Sie Detektive anstellen? Damit könnten Sie dann
vielleicht auch gleich die Arbeitslosigkeit etwas verringern, Frau Ministerin.
Nicht nur Alleinerziehende, sondern auch verheiratete
Eltern mit Kindern sind von Armut betroffen. Nun wollen Sie einen Kinderzuschlag für Geringverdiener in
Höhe von 140 Euro einführen und damit 150 000 Kinder
aus der Sozialhilfe holen. Es ist gut, dass Sie unsere Idee
des Familiengeldes,
({4})
die genau dieses Ziel verfolgt, aufgreifen. Kinder aus der
Sozialhilfe zu holen ist ja das gemeinsame Ziel. Deswegen werden wir Ihren Vorschlag konstruktiv begleiten.
Wir werden aber unser Gesamtkonzept dagegenstellen,
das mit der Einführung eines Familiengeldes - ich
wiederhole es bewusst - erstens eine echte Wahlfreiheit
hinsichtlich verschiedener Lebensentwürfe ermöglicht,
zweitens die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit durch einen bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten für alle Altersgruppen fördert
und drittens die Erziehungskompetenz von Müttern und
Vätern stärkt.
Meine Damen und Herren von den Grünen - ich sehe
im Moment allerdings nur Damen bei den Grünen -,
({5})
Ihre Sozialexpertin Thea Dückert kam vor kurzem in einem Artikel in der „Welt“ zu der wegweisenden Erkenntnis: „Heute stehen Mütter mit zwei und mehr Kindern bei der Rente sogar besser da als Frauen ohne
Kinder.“ Da frage ich Sie schon: Wo lebt denn diese
Frau? Das kann doch nicht ernst gemeint sein! Diese
Auffassung ist eine Diskriminierung von Eltern, die ihre
Kinder ganz oder zeitweise selbst erziehen wollen. Weil
wir uns für diese Eltern stark machen, wirft uns Frau
Dückert ein „antiquiertes Frauenbild“ vor. An anderer
Stelle hingegen beklagt sie die demographische Entwicklung.
Das Bundesverfassungsgericht ist anderer Meinung
als Frau Dückert. Es hat im April 2001 für verfassungswidrig erklärt, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen, mit einem
gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder
ohne Kinder belastet werden. Wir von der Union setzen
uns bei den jetzt anstehenden Reformen für eine angemessene Berücksichtigung der Erziehungsjahre ein. Das
sind wir den Müttern schuldig.
({6})
Seit einem Jahr rühmt sich die Bundesregierung eines
1,5-Milliarden-Euro-Programms zur Finanzierung der
Kinderbetreuung. Aber Sie sind die Antwort schuldig
geblieben, wie Sie das finanzieren wollen. Um von sich
abzulenken, verbreiten Sie Zahlen über angeblich
schlechte Kinderbetreuung in Bayern. Tatsache ist: Bei
der Betreuung der unter Dreijährigen und im Hortbereich steht Bayern schon längst an der Spitze aller westlichen Flächenländer in Deutschland.
({7})
Das Kinderbetreuungsangebot wurde und wird konsequent ausgebaut. Frau Schmidt, auch wenn Sie das im
Landtagswahlkampf immer wieder so darstellen, stimmen die Zahlen, die Sie bringen, einfach nicht.
Eines ist interessant: In der Haushaltsrede im letzten
Jahr haben Sie von 24 Ganztagsschulen in Bayern gesprochen. Da darf ich Sie korrigieren. Sie haben offensichtlich nur die Hauptschulen gezählt; denn bereits im
Schuljahr 2001/2002 gab es laut Statistik der Kultusministerkonferenz 314 offene und gebundene Ganztagsschulen
in Bayern. Im laufenden Schuljahr sind es sogar
570 Ganztagsschulen. Kümmern Sie sich also um richtige
Zahlen und bleiben Sie bei der Wahrheit, Frau Ministerin.
({8})
Im Übrigen sollten Sie sich einmal um die Kinderbetreuung in Berlin kümmern. Hier haben die Vertreter der
Wirtschaft und der Wissenschaft kürzlich die familienfeindliche Politik von Wowereit kritisiert.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Regierung
war mit dem Anspruch angetreten, die Gleichberechtigung der Frauen zu verwirklichen. Doch bereits zwei
Jahre später hat der Deutsche Frauenrat festgestellt, eine
Frauenpolitik finde bei Rot-Grün nicht statt. Haben Sie
heute von Frauenpolitik viel gehört? Frau Ministerin,
wir vermissen Frauenpolitik nach wie vor.
({9})
Bei der Einbringung des Haushalts 2003 beklagte die
SPD, dass Deutschland bei der Erwerbstätigkeit der
Frauen am unteren Ende der Skala in Europa sei. Sie
verschweigen jedoch, dass Bayern im Vergleich zu anderen Bundesländern mit 63 Prozent die höchste Erwerbsquote von Frauen in Deutschland aufweisen kann.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Anliegen junger Menschen haben Sie sträflich vernachlässigt. Wir haben über den Bundesrat einen ergänzenden
Gesetzentwurf eingebracht, um der wachsenden Gewaltbereitschaft insbesondere der jungen Menschen zu begegnen. Die Erfüllung unserer Forderungen nach Verbesserungen im Jugendschutzgesetz haben Sie aber
abgelehnt. Auch beim drängendsten Problem, der Jugendarbeitslosigkeit, hat die Bundesregierung versagt.
Eine falsche Arbeitsmarktpolitik hat die Interessen der
Jugend völlig außer Acht gelassen.
Frau Ministerin, Sie waren vor kurzem in meiner Heimatstadt Regensburg und haben die Koordinierungsstelle für die deutsch-tschechische Jugendarbeit besucht. Sie haben dort versprochen, dass die Mittel für
den Jugendaustausch erhöht werden. Ich bin froh darüber, dass Sie damit auf mein Schreiben vom April reagiert haben; denn Tandem, diese deutsch-tschechische
Koordinierungsstelle, leistet hervorragende Arbeit. Sie
wurde von Frau Nolte eingerichtet und konnte im Jahre
2002 über 250 Begegnungen mit etwa 7 500 Jugendlichen veranstalten bzw. organisieren. Deswegen ist es
gut, dass die Mittel hierfür erhöht worden sind.
Ich würde gerne noch über Seniorenpolitik sprechen.
Aber Seniorenpolitik, Frau Ministerin, hat in dieser Legislaturperiode nicht stattgefunden. Sie haben zwar ein
Altenhilfestrukturgesetz angekündigt, aber weiter haben
wir nichts gehört. Wir brauchen eine Politik, die sich an
den individuellen Bedürfnissen der älteren Generation
orientiert. Ich stimme Ihnen zu, dass wir dabei natürlich
auch die aktiven Älteren im Blick haben müssen. Dabei
ist es besonders wichtig, dass die älteren Arbeitnehmer
durch eine Verbesserung der Arbeitsmarktpolitik, durch
Qualifizierung und Weiterbildung wieder eine Chance
bekommen.
({10})
Aber auch die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ist wichtig. Es ist unverantwortlich, auf die
Kenntnisse und Fähigkeiten älterer Menschen zu verzichten.
({11})
Bei der Suche nach Lösungen sind alle gesellschaftlichen Gruppen gefordert. Jung und Alt müssen bei den
anstehenden Reformen zusammenarbeiten. Wir müssen gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft
meistern. Frau Ministerin, Ihr Haushalt ist nicht zukunftsfähig. Er wird den großen Aufgaben, die sich
uns stellen, nicht gerecht. Ich bin gespannt darauf, was
Ihnen in den Haushaltsberatungen noch einfällt, um
wenigstens noch eine kleine Anleihe zur Zukunftsfähigkeit zu erreichen.
({12})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Eichhorn, als Tochter einer Mathematikerin muss
ich mit Zahlen anfangen, und zwar mit der Korrektur
von Zahlen.
Die Zahl von 1,1 Millionen Kindern in der Sozialhilfe ist das Ergebnis nicht dieser Bundesregierung, sondern Ihrer Bundesregierung. Das war nämlich das Ergebnis im Kinder- und Jugendhilfebericht 1998, das Sie vor
der Wahl nicht veröffentlichen wollten, weil Ihnen die
Zahl zu unangenehm war.
({0})
Zweitens. Die Zahl von 341 Ganztagsschulen in
Bayern stimmt nicht. Die reale Zahl ist 30, und das seit
2003 durch den Einsatz der Bundesregierung. Ich kann
es Ihnen nachweisen. Vor mir liegt ein Artikel der
„Augsburger Zeitung“ vom 6. September 2003, in dem
genau das steht,
({1})
nämlich dass eine Neu-Ulmer Schule eine von 30 Schulen in Bayern und eine von vier in Schwaben ist. Es sind
also nicht 300, sondern 30.
({2})
- Ich möchte erst diese Punkte abhandeln. Danach können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen.
Drittens. Die Reform der Freibeträge für Alleinerziehende war nicht der Wunsch dieser Bundesregierung.
Sie wurde deswegen notwendig, weil Sie nicht in der
Lage waren, ein Gesetz verfassungskonform zu formulieren.
({3})
Erst danach kam es zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wodurch wir gezwungen waren, diese
Änderung auf den Weg zu bringen. Das ist die Wahrheit.
({4})
Meine Kollegin Kressl hatte Recht. Was Sie gesagt haben, ist nicht richtig.
Jetzt dürfen Sie gerne eine Zwischenfrage stellen.
Frau Deligöz, ich kann jetzt nicht überprüfen, was genau in der Zeitung gestanden hat. Es muss aber richtigerweise heißen, dass es eine von 30 neuen Ganztagsschulen ist,
({0})
die im Rahmen eines 313-Millionen-Euro-Programms,
das Bayern zur Förderung und Betreuung von Schülern am Nachmittag aufgelegt hat, zusätzlich eingerichtet werden. Zu diesem Programm gehört auch die Einrichtung von zusätzlichen Ganztagsschulen.
Wenn Sie diese Zahl nicht glauben, dann bitte ich Sie,
sich bei der Kultusministerkonferenz zu erkundigen. Ich
denke, die Zahlen der Kultusministerkonferenz sind
nicht anzuzweifeln; denn diese Konferenz ist nicht ausschließlich mit Vertretern aus CDU und CSU besetzt.
Dort sind vielmehr alle Parteien vertreten.
Ich darf Sie noch dahin gehend aufklären, dass es verschiedene Formen von Ganztagsschulen gibt. Die KMK
unterscheidet drei verschiedene Formen: Es gibt Ganztagsschulen in gebundener Form, die von morgens bis
abends durchgehend Unterricht machen. Daneben gibt
es Ganztagsschulen in offener Form, wobei die Betreuung und Förderung der Schüler am Nachmittag im Vordergrund steht. Alle Schulen dieser Formen zählt die
KMK zu den Ganztagsschulen. Demnach gibt es in Bayern in diesem Schuljahr 570 Ganztagsschulen, die den
Schülerinnen und Schülern am Nachmittag unterstützend zur Seite stehen.
({1})
Liebe Kollegin Eichhorn, Sie kommen wie ich aus
Bayern. Ich komme aber zu dem Schluss, dass es unter
diesen 570 Schulen nur einige Ganztagsschulen gibt. Die
„Augsburger Allgemeine“ nennt die Zahl 30. Sie wollen
sicherlich nicht die Angaben dieser Zeitung anzweifeln.
({0})
- Ich möchte Ihre Frage erst zu Ende beantworten. Danach können Sie eine weitere Zwischenfrage stellen.
Ich zitiere die „Augsburger Allgemeine“:
Die Emil-Schmid-Schule ist eine von 30 Schulen in
Bayern und vier in Schwaben, die Ganztagsklassen
anbieten.
({1})
Es geht also um Ganztagsschulen. Sie beziehen sich aber
auf ein Programm der Bayerischen Staatsregierung, das
nicht Ganztagsschulen umfasst, sondern eine Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag, die vorwiegend von
Hausfrauen, Rentnern und Rentnerinnen, Schülern und
Schülerinnen durchgeführt wird.
Ein Modellversuch läuft in Regensburg. Sie können
sich das gerne einmal anschauen. Dort findet die Betreuung, durchgeführt von nicht qualifiziertem Personal, in
einem heruntergekommenen Haus statt. Diese Betreuung
wird aber als Ganztagsangebot deklariert. Die Qualität
dieses Angebots ist aber jenseits der Qualität, die von
Ganztagsschulen erbracht wird.
({2})
Wir verstehen unter einer Ganztagsschule etwas anderes, nämlich eine qualitativ hochwertige Betreuung, die
nicht einfach nebenher läuft und bei der nicht geringfügig Beschäftigte ein paar Stunden am Nachmittag das
Anfertigen der Hausaufgaben betreuen.
({3})
Es ist also nicht richtig, was Sie sagen. Es handelt
sich vielmehr um 30 Schulen; das ist die richtige Zahl.
Bei allen anderen Schulen handelt es sich um Nachmittagsangebote, wie zum Beispiel der Arbeitskreis „Ausländische Kinder“ und Ähnliches.
({4})
- Ich mag die „Augsburger Allgemeine“. Das ist meine
Heimatzeitung. Sie sollten sie ab und zu einmal lesen.
Das würde Ihnen guttun.
Ich will Ihnen nun aber erklären, was das Ergebnis Ihrer Politik war. Laut Shell-Studie sagen 16-, 17- und 18Jährige auf die Frage, was junge Menschen in diesem
Land wollen: Wir hätten gerne einen Beruf und auch ein
Kind. - Wenn man sie zehn Jahre später noch einmal interviewt und fragt: „Was ist aus euren Lebensträumen
geworden?“, sagen sie: Entweder wir haben ein Kind
und sind zu Hause oder wir haben einen Job und dann
können wir leider keine Kinder bekommen, weil die für
Kinder notwendigen Rahmenbedingungen nicht vorhanden sind. 41 Prozent der Akademikerinnen in diesem
Land bekommen keine Kinder - nicht deswegen, weil
sie sie nicht wollen, sondern deswegen, weil sie nicht
wissen, wie sie Kinder mit ihrem Job vereinbaren sollen.
Frauen in meinem Alter, Frauen um die 30, sagen: Ich
hätte gerne ein Kind; aber ich kann keines bekommen,
weil ich dann umsonst studiert bzw. umsonst meine
Lehre gemacht hätte.
Deshalb setzt die Bundesregierung darauf, Rahmenbedingungen, die Sie nicht geschaffen haben, einzurichten. Unter „Rahmenbedingungen“ verstehen wir nicht,
Anreize zu schaffen, um zu Hause zu bleiben. Mit den
notwendigen Rahmenbedingungen setzen wir Anreize
zur Erwerbstätigkeit. Genau das ist auch die Formel,
mit der Armut bekämpft werden kann.
({5})
Ja, wir sparen auch; das ist in der Tat richtig. Wir sparen beim Erziehungsgeld, wobei man festhalten muss:
95 Prozent der betroffenen Haushalte bleiben davon unberührt; lediglich 5 Prozent, die Gutverdienenden, erhalten weniger Geld. Wir sparen auch, um zu gestalten, was
Sie in all den Jahren aufgrund Ihrer ideologischen Debatten vermieden, verpasst und nicht zugelassen haben.
({6})
Dazu gehören die Ganztagsbetreuung, die Betreuung im
Kindergarten und die Betreuung von Kindern zwischen
null und drei Jahren, Qualitätsinitiativen und das 4-Milliarden-Programm für die Einrichtung von Ganztagsschulen.
Ich möchte noch einmal die „Augsburger Allgemeine“ von heute zitieren. Dort steht nämlich:
Die Ganztagesklassen
- die von der Bundesregierung finanziert werden ({7})
an der Emil-Schmid-Schule sind … ein Hit: Mittlerweile ist die Nachfrage so groß,
- also die nach Ganztagesklassen dass es schon eine Warteliste gibt …
Derzeit gibt es dort drei Ganztagesklassen. Weiter wird
darauf hingewiesen, dass die Zeugnisse derjenigen
Schülerinnen und Schüler, die eine Ganztagsklasse besuchen, deutliche Notenverbesserungen aufweisen.
Das ist das Ergebnis unserer Politik. Wir investieren
in die Kinder; wir investieren in die Bildung und in die
Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Wir schaffen Rahmenbedingungen, von denen
Sie nur träumen können.
({8})
Nun möchte ich darauf eingehen, was die bayerische
Antwort auf diese Rahmenbedingungen ist.
({9})
Bayern hat ein Kindergartengesetz eingebracht mit dem
Ziel, 9 000 Stellen im Bereich der Kindergärten und der
Kinderkrippen einzusparen und 3 800 Gruppen zu
schließen.
({10})
Das ist das, was wir wollen: Kernzeiten in die Kinderbetreuung aufnehmen. Genau dazu sagt Ihnen jeder Pädagoge: Das muss sein; Kinder brauchen feste Punkte in
Bezug auf Mittagessen, Mittagsschlaf, Aufstehen und
Spielen. - Genau das wollen Sie abschaffen.
({11})
Ihre Antwort auf die Investition in Kinder und auf die
Investition in die richtigen Rahmenbedingungen ist: Sie
kürzen, wo es nur geht, nämlich dort, wo es um die Lebenswirklichkeit der jungen Frauen, der jungen Mütter
und der jungen Männer in diesem Land geht.
({12})
Wir investieren, um die Armut zu beseitigen. Wir haben ein Modell, das Anreize zur Erwerbstätigkeit setzt.
Mit einem Zuschlag von 140 Euro pro Kind investieren
wir in ein Grundsicherungsmodell für Familien, um sie
aus der Armut herauszuholen und um Anreize zu setzen.
Wir machen ein Weiteres: Wir unterstützen die echten
Alleinerziehenden. Ich verstehe überhaupt nicht, warum es so verpönt sein soll - Sie haben das gerade dargestellt -, das zu tun. Wenn eine Mutter bzw. ein Vater es
auf sich nimmt, ein Kind allein zu erziehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, kann sie oder er nicht
Unterstützung genug von diesem Staat bekommen.
Sie haben gesagt, die Familienministerin sei nicht
durchsetzungsfähig. Ich habe Ihnen nur einen Teil dessen aufgezählt, was alles in dieser Wahlperiode angepackt wurde. Ich bezeichne sie erstens sehr wohl als
durchsetzungsfähig. Zweitens möchte ich mich ausdrücklich bei ihr dafür bedanken, dass wir als Fachabgeordnete eine so gute Unterstützung von ihr bekommen.
Vielen Dank!
({13})
Denn im Gegensatz zu Ihnen ist die Familienministerin
in der Realität verwurzelt, in der Wirklichkeit der Mütter
und Väter. Sie ist dort, wo Kinder aufwachsen. Sie ist
dort, wo Kinder erzogen werden. Sie investiert mit uns
in die Gesellschaft.
Rot-Grün setzt Rahmenbedingungen - auch in
schwierigen Zeiten. Es gehört sich, dass auch Sie von
der Opposition uns darin unterstützen und uns nicht davon abhalten, unsere Politik fortzusetzen.
({14})
Ich fände es schön, wenn Sie es endlich einmal schaffen
würden, gerade in diesem Bereich Ihre Ideologien zu
verlassen und in der Lebenswirklichkeit der Mütter und
Väter anzukommen.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Fricke.
Frau Präsidentin, mit der Bitte um ebenso rücksichtsvolle Berücksichtigung meiner kurzen Redezeit!
({0})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss schon sagen, ich komme mir hier ein bisschen vor,
als wären wir im Maximilianeum. Es geht ständig um
Bayern und die Frage, was irgendwo steht. Warum
wohl? Das muss ich mich dann wirklich fragen. Das gilt
auch für das, was Frau Deligöz gemacht hat: diese Detailfragen und dieses Sich-daran-Festhalten. Wir unterhalten uns hier über einen Haushaltsplan. Das Komische
ist: Wenn man versucht, den Landtag da hineinzuziehen,
dann ist man wohl an der Kernpolitik, um die es eigentlich geht - Frauen, Familie, Jugend, Senioren -, nicht
wirklich interessiert. Dann liegt es am Redner, das zu
stoppen.
({1})
Wir haben einen Sparhaushalt. Frau Ministerin, ich
gebe Ihnen Recht: Es ist einer, und zwar so, wie ein Einzelhaushalt sein muss. Jetzt geht es nicht um die Frage,
dass gespart werden muss, sondern darum, wie gespart
werden muss. Da müssen wir Wege finden.
({2})
- Jetzt kommt die Frage, wo die FDP spart. Es wird so
sein wie in der letzten Legislaturperiode, dass wir einzelne Vorschläge zum Sparen machen. Das Komische
wird dann sein, dass Sie die ablehnen.
({3})
- Dass sie die nicht kennen, liegt daran, dass Sie nicht
im Haushaltsausschuss sind; aber das macht ja nichts.
Wir haben eigentlich großes Glück - auf der anderen
Seite beklagen wir es wieder -, dass dieser Haushalt
überhaupt noch am Leben ist und einigermaßen funktionsfähig ist. Das liegt an der sinkenden Geburtenrate.
Hätten wir wirklich die Geburtenraten, die wir für unsere
Sozialsysteme bräuchten, dann möchte ich nicht wissen,
wie hoch die Ausgaben beim Erziehungsgeld, beim Unterhaltsvorschussgeld und in anderen Bereichen wären.
Das müssen wir einfach so sehen. Das ist etwas zynisch
- das gebe ich sehr gern zu -, aber so ist die Lage im
Moment.
Zum Erziehungsgeld selbst sage ich ganz kurz: Ich
werde hier nicht in Bausch und Bogen behaupten: Nein,
auf gar keinen Fall, das können wir nicht machen. Ich
sage Ihnen ganz ehrlich: Meine Frau und ich haben für
die ersten beiden meiner drei Kinder Erziehungsgeld bekommen. Ich habe mich darüber gefreut. Es hat das familiäre Leben in den ersten sechs Monaten erleichtert.
Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Es war zum Teil ein
Luxus, den ich für meine Familie gern in Anspruch genommen habe; denn er hat auch dafür gesorgt, dass
meine Frau und ich Zeit für die Familie hatten.
Wenn es uns allen schlechter geht, dann müssen wir
aber auch gucken, wo wir an dieser Stelle einsparen können. Wo hier die richtigen Grenzen sind, möchte ich vorsichtigerweise nicht sagen. Das wissen wir noch nicht
genau. Das Ministerium hat seine Vorstellungen bekannt
gemacht. Wir werden wahrscheinlich auch sagen, wo
wir die Grenzen sehen. Aber wir müssen noch schauen.
Mit einem generellen Nein - das sage ich auch in Richtung CDU/CSU - bin ich nicht einverstanden. - Zu der
Frage, was den anderen Bereich gerade der letzten
18 Monate betrifft, wird die Kollegin Lenke sicherlich
nachher noch ein paar Worte finden.
Die globale Minderausgabe, die beim Bundesamt für
den Zivildienst vorliegt, ist - auch da wollen wir realistisch sein -, auch noch ein Riesenbrocken. Zum Zivildienst selbst: Frau Ministerin, Sie haben hier sehr nett
formuliert, dass mit den Wohlfahrtsverbänden nun alles
in Ordnung ist. Aber jetzt wollen wir doch einmal ganz
ehrlich sein: Der Grund dafür, dass wir diese Zahl überhaupt halten können, obwohl wir wieder auf die
70 Prozent gehen, weil die alte Regelung wieder in Kraft
tritt, liegt doch schlichtweg darin, dass wir weniger
Zivildienstleistende haben.
({4})
Dann erinnere ich mich an die leider etwas verquaste Diskussion, die wir darüber hatten, dass weniger Zivildienstleistende weniger Hilfe für die Kranken,
Alten und Schwachen bedeuten. Dafür sind Zivildienstleistende nicht da. Ich finde es aber bemerkenswert,
dass diese Diskussion hier bisher so nicht aufgekommen ist. Letztlich - das wissen Sie auch aus Gesprächen, die wir geführt haben - finde ich diese komische
Vorstellung von Gerechtigkeit, nämlich dass die Zahlen
der Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden möglichst gleich sein sollen, nicht so ganz angenehm. Ich
gebe aber andererseits aus Sicht der FDP gern zu, dass
ich froh darüber bin, dass dadurch ein weiterer Druck
auf die Frage von Wehrgerechtigkeit und Zivildienstgerechtigkeit kommt.
({5})
Es wird nachher so sein, dass junge Leute sagen:
Beim Zivildienst werden nur 60 Prozent der Bewerber
gezogen, bei der Bundeswehr 70 Prozent, dann gehe ich
lieber in den Zivildienst; vielleicht habe ich Glück und
wenn ich dann vier, fünf oder sechs Jahre später beim
Bewerbungsgespräch bin, habe ich den Vorteil, dass ich
ein Jahr jünger bin und der andere seine Wehrpflicht
oder seinen Zivildienst absolviert hat. Das kann nicht
sein.
Ich bin gespannt, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, wie Sie dieses Problem auf Ihrem Parteitag lösen werden. Ich kann es mir vorstellen. Denn leider ist es
so, dass, obwohl wir dieses Ministerium seit fast 50 Jahren haben, es aufgrund dieses so dünnen Haushaltsplanes - wir tun hier so, als wäre das ein ganz großer Haushaltsplan und als ginge es um sehr viele Dinge - nicht
für wichtig genommen wird. Es wird wichtig geredet
und angeblich für wichtig gehalten, aber es wird nicht
für wichtig genommen, weil der Haushalt wenig Bedeutung hat. Die meisten finanziellen Mittel - das wissen
Sie ganz genau - laufen über Steuern und Finanzen und
an ganz anderer Stelle, nur nicht in dem Ministerium.
Außerdem muss es darum gehen, dass sich die Ministerin gegen einen Kanzler durchsetzen kann, der manchmal auch unschöne Worte - in dem Falle ein G-Wort für diese Art der Politik benutzt hat.
Eine letzte Bemerkung. Ich habe gedacht, dass wir in
der Bundesrepublik Deutschland bei der Frage der
Eigenverantwortung in die richtige Richtung gehen.
({6})
Der Finanzminister hat heute Morgen gesagt, eine Vollkaskoversicherung - das sei einmal von der FDP gekommen - könnten wir uns nicht mehr leisten. Das stimmt.
Ich finde es aber interessant, nun zu sehen, was es für
Sie bedeutet, wenn mehr Verantwortung übernommen
werden muss. Ich habe immer gedacht, das fänden alle
gut, bis ich erfahren habe, welche Stellung die Grünen
auf ihrer Tagung in Miesbach zu der Frage bezogen haben, wer für wen wie lange unterhaltspflichtig ist. Wenn
wir damit anfangen würden, dass Kinder zukünftig für
ihre Eltern nach einer bestimmten Zeit nicht mehr unterhaltspflichtig sind oder umgekehrt - die Frage nach
möglicher staatlicher Leistung ist in diesem Falle egal -,
dann entbinden wir sie von der gegenseitigen Verantwortung, die es in den Familien gibt.
({7})
Diese wollen wir aber doch gerade fördern und stärken,
deswegen brauchen wir doch die Familien.
({8})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Sie sind
der Meinung, dass das richtig ist. Ich bin gespannt, wie
die Ministerin es begründen wird, warum es falsch ist.
Ich hoffe jedenfalls, dass sie das tun wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Eichhorn! Vieles von dem,
was Sie heute hier vorgetragen haben, ist dem bayerischen Wahlkampf geschuldet. Sei es drum.
In einem Punkt möchte ich aber sehr deutlich werden.
In den fünf Jahren, in denen wir gemeinsam Verantwortung tragen, haben wir im Bereich der materiellen Leistungen für Familien mit Kindern deutlich mehr getan
als Sie in den 16 Jahren zuvor.
({0})
Das ist vielerlei Dingen geschuldet und ich nehme es
hin. Es ist aber nicht hinnehmbar, dass Sie in den
16 Jahren, in denen Sie in der Verantwortung waren, versäumt haben, sich anzuschauen, was in anderen Ländern
gemacht wurde. Dort ist die Infrastruktur für Familien
mit Kindern deutlich verbessert worden und damit die
Möglichkeit, Familie und Beruf miteinander zu verbinden. Hier liegen Ihre größten Versäumnisse. Wir müssen
mit riesengroßen Anstrengungen aufarbeiten, was Sie in
16 Jahren versäumt haben.
({1})
- Ich möchte im Zusammenhang vortragen, komme
gleich aber gerne auf Sie zurück.
Wirksame Politik hängt unter anderem vom zielgerichteten Einsatz vorhandener Mittel ab. Das gilt insbesondere in Zeiten knapper Kassen. Die Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte macht es notwendig,
auch die Fördermöglichkeiten in zentralen Politikfeldern
zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu justieren. Das
Ziel darf dabei nicht aus den Augen verloren werden,
insbesondere diejenigen zu unterstützen, die wirklich auf
staatliche Hilfe angewiesen sind. Sparen ist aber kein
Selbstzweck. Was macht es für einen Sinn, diejenigen,
die man heute besonders fördert, in Zukunft die Schulden dafür zahlen zu lassen?
({2})
Unsere Prämisse lautet also: konsolidieren und zielgerichtet fördern.
Wir gehen diesen Weg. Wir wissen, was die Menschen bewegt. Wir setzen um, was Verlässlichkeit und
Entfaltungsmöglichkeiten schafft. Für das Jahr 2004
spiegelt das der Einzelplan 17, der Haushalt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
im Besonderen wider. Themen, an denen sich das zeigen
lässt, sind zum Beispiel der Zivildienst, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches
Engagement und unsere Aktivitäten für benachteiligte
Jugendliche.
({3})
Trotz der schwierigen gesamtwirtschaftlichen Lage
müssen die Träger des Zivildienstes im kommenden Jahr
anstatt 50 Prozent nur noch 30 Prozent der Kosten für
die Zivildienstleistenden tragen. Die befristete Änderung
bei der Kostenverteilung für das laufende Jahr hat ermöglicht, dass die Zahl der Zivildienstleistenden im Jahresdurchschnitt nicht dramatisch sinken musste. Die
Wohlfahrtsverbände hatten so die Möglichkeit, sich auf
die vorgesehenen Veränderungen einzustellen. Im Jahr
2002 wurde der Zivildienst auf zehn Monate verkürzt.
Darüber hinaus werden jährliche Obergrenzen für die
Einberufungszahlen festgelegt. Im Zivildienstjahr 2003/
2004 werden es im Jahresdurchschnitt circa 95 000
Dienstleistende sein. Damit gehen wir einen weiteren
Schritt in Richtung Wehrgerechtigkeit.
({4})
Gleichzeitig sind unsere konkreten Vorgaben die Voraussetzung für Planungssicherheit in den Verbänden und für
die Zivildienstleistenden. Strukturelle Veränderungen
wird es aber nicht geben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle mit einer Legende
aufräumen, die im Laufe dieser Debatte mit Sicherheit
zu stricken versucht werden wird. Die Absenkung des
Etatansatzes für den Zivildienst beruht im Wesentlichen
auf zwei Gründen. Der eine Grund ist, wie Sie alle wissen - zumindest trifft das auf die Mitglieder des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu -,
ein Computerfehler, der in diesem Jahr behoben werden
musste, wofür 30 Millionen Euro veranschlagt wurden.
Der zweite Grund ist - die Diskussion stammt noch aus
dem letzten Jahr -, dass wir generell um 20 Millionen
Euro senken müssen. Nichts anderes ist der Grund für
den veränderten Ansatz im Zivildienst. Ich bitte Sie, an
dieser Stelle keine Legenden zu bilden.
({5})
Wir werden den Zivildienst weiterentwickeln. Dazu
wurde die Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ beim Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend eingerichtet. Hier werden Perspektiven für die Freiwilligendienste und den Zivildienst erarbeitet.
Damit einher geht die Förderung von Maßnahmen
und Organisationen des Ehrenamtes und der Selbsthilfe.
Für das Jahr 2004 steigt auch hier der Ansatz. Hinzu
kommen noch die Mittel für die Freiwilligendienste im
sozialen und im ökologischen Jahr. Wir unterstützen die
Fähigkeit zur Selbstorganisation und stärken damit die
Zivilgesellschaft nachhaltig. Unsere Maßnahmen reichen von der Unterstützung und der Förderung von Projekten bis zu der Frage, wie der Staat seine eigenen
Strukturen engagementfreundlicher gestalten kann.
Meine Damen und Herren, wir haben mit dem notwendigen Umbau des Sozialstaates begonnen. Gleichzeitig müssen und werden wir benachteiligten Jugendlichen weiterhin helfen. Das Sonderprogramm „JUMP
plus“ soll 100 000 Jugendlichen den Einstieg in Beschäftigung und Qualifizierung ermöglichen.
({6})
Bis zum Dezember 2004 wird das Programm den Übergang vom jetzigen zum neuen Leistungssystem - Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe - ebnen. Daneben führt das Familienministerium weitere
Programme in Zusammenarbeit mit Arbeitsämtern und
Kommunen durch, die die soziale und berufliche Integration Jugendlicher zum Ziel haben.
Bei der Fortführung der Kinder- und Jugendplanförderung auf hohem Niveau geht es um den Erhalt einer
verlässlichen Förderung für die Träger und Organisationen, aber auch darum, mit innovativen Modellprojekten
zu einer Weiterentwicklung der Hilfe für junge Menschen beizutragen.
({7})
In der mittelfristigen Finanzplanung für 2004 waren für
den Kinder- und Jugendplan des Bundes insgesamt
101,19 Millionen Euro vorgesehen. Im Regierungsentwurf sind 102,19 Millionen Euro veranschlagt, also
1 Millionen Euro mehr.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Thema
Ausbildung sagen. Ohne staatliche Hilfe wäre das Ausbildungssystem kaum noch aufrechtzuerhalten. Mittlerweile erbringt 40 Prozent der Ausbildungsleistung die
öffentliche Hand. Nur noch ein Drittel der Unternehmen
in Deutschland bildet aus, aber 100 Prozent der Unternehmen sind auf gut ausgebildete Mitarbeiter angewiesen.
Es kann nicht sein, dass der Staat bei der Ausbildung
junger Menschen die Wirtschaft ersetzen muss. Ausbildung muss eine grundlegende Aufgabe und Verantwortung der Wirtschaft bleiben.
({8})
Deshalb sollten Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, endlich die Notwendigkeit einsehen, dass
verbindliche Übereinkommen für die Ausbildung in der
privaten Wirtschaft zu treffen sind.
Wir haben angekündigt, dass wir handeln werden,
wenn die Ergebnisse zu Beginn des Ausbildungsjahres
nicht zufriedenstellend sind.
({9})
Die Mittel, die staatlicherseits für Ausbildung zur Verfügung gestellt werden müssen, weil die Wirtschaft so wenig ausbildet, könnten wir jetzt an anderer Stelle wirklich gut gebrauchen.
Trotz Sparnotwendigkeiten können wir unsere politischen Schwerpunkte vernünftig setzen. Wir schaffen mit
der Ausarbeitung dieses Haushaltes eine gute Grundlage
für die politischen Entscheidungen in diesem und im
nächsten Jahr.
Wenn Sie unsere Vorschläge nicht teilen, ist das Ihr
gutes Recht. Es ist dann aber auch Ihre Pflicht, andere
Vorschläge zu machen und den Menschen im Lande zu
sagen, was Sie wollen. Sie sind am Zuge.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Ministerin! Ich habe die Vorstellungen
der Familienministerin zur Familienpolitik mit sehr viel
Interesse gehört. Leider passen ihre Vorstellungen weit
überwiegend weder zu den Gesetzentwürfen, die uns
vorliegen, noch zum Einzelplan 17, den wir zur Haushaltsberatung vorgelegt bekommen haben. Die meisten
dieser Vorstellungen stehen weder im Gesetz noch im
Haushalt.
Beispiel Erziehungsgeld. Der Haushaltsentwurf sieht
eine Kürzung von 245 Millionen Euro vor. Mittelfristig
sind es sogar 400 Millionen Euro, das ist eine Kürzung
um 12 Prozent. Die Einkommensgrenzen werden gesenkt. Frau Ministerin hat eben wieder behauptet, dass
davon nur die gut verdienenden Familien betroffen
seien. Ich hoffe, sie weiß selber, dass das nicht stimmt.
Denn mit der gleichzeitigen Absenkung der Ausgabenpauschale von 27 auf 24 Prozent schließt sie gerade die
Familien aus, die den berühmten Euro mehr verdienen,
damit aus allen Förderprogrammen fliegen und de facto
sogar weniger haben als die tatsächlich sozial Schwachen.
Völlig verschwiegen hat sie auch, dass von der Entscheidung über die Entfernungspauschale auch die Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld betroffen sind.
Die Kilometerpauschale für die Fahrt zur Arbeit konnte
bei der Einkommensberechnung in Bezug auf das Erziehungsgeld bisher nämlich abgezogen werden. Das ist
eine weitere erhebliche Kürzung der Einkommensgrenzen um fast 1 500 Euro. Frau Ministerin, es stimmt eben
nicht, dass die Empfänger niedriger Einkommen nicht
betroffen sind.
({0})
Sie haben die Ausgaben- und die Entfernungspauschale
unterschlagen. Das sind fast 5 000 Euro für die Betroffenen.
Geradezu zynisch finde ich die Begründung zur Kürzung des Erziehungsgeldes. Ich bin froh, dass Sie das
eben nicht wiederholt haben. Im Gesetzentwurf steht,
dass die Kürzung von 307 Euro auf 300 Euro bzw. von
460 Euro auf 450 Euro eine Glättung im Sinne der Konsolidierung sei.
({1})
Als Sie das Kindergeld vor wenigen Jahren um
10 Mark erhöht haben, war Ihnen kein Plakat zu groß,
um diese Errungenschaft zu verkaufen. Jetzt gibt es auch
bei den niedrigen Einkommensgruppen massive Einschnitte und Sie reden von Glättung.
({2})
Ich glaube, die Familien werden das nicht verstehen.
({3})
Meine letzte Bemerkung zum Erziehungsgeld: Ein
großer Teil derjenigen, die durch die von Ihnen angestrebten Änderungen aus dem Bezug des Erziehungsgeldes herausfallen, werden demnächst als arbeitslos, aber
nicht vermittelbar verkauft bzw. geführt. Ich weiß nicht,
ob wir uns die Gleichstellung nicht sparen können, wenn
wir den Eltern, die diese Leistungen auf sich nehmen,
diesen Stempel aufdrücken.
Das nächste Beispiel ist der Haushaltsfreibetrag. Sie
wurden im vergangenen halben Jahr nicht müde, öffentlich zu verkünden, dass die Alleinerziehenden als Ausgleich für durch den Wegfall des Haushaltsfreibetrages
490 Millionen Euro erhalten sollen. Sie haben ausgeführt, dass zum 1. Januar 2004 ein Steuerfreibetrag von
1 300 Euro eingeführt werden soll. Ich gebe zu, dass ich
Ihre Meinung, dass man das auf allein wohnende Eltern
beschränken sollte, teile. Das Problem ist nur, dass Sie
trotzdem 190 Millionen bei den Alleinerziehenden einsparen und dass die 300 Millionen Euro, die Sie hier verkündet haben, nirgendwo im Haushalt auftauchen. Daneben ist auch im Rahmen der Änderungen des
Einkommensteuergesetzes in Art. 8 des Haushaltsbegleitgesetzes kein Haushaltsfreibetrag enthalten.
({4})
Nirgendwo im Etat ist das Geld dafür bereitgestellt.
({5})
Wenn Sie beides nicht während der Haushaltsberatungen
nachholen, können Sie Ihr Versprechen auf keinen Fall
einhalten.
Das nächste Beispiel ist der Unterhaltsvorschuss. Es
ist völlig abstrus: Im Etat sehen Sie eine Kürzung von
50 Millionen Euro vor. Gott sei Dank haben Sie eben
wieder bestätigt, dass Sie im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Eichel keine Gesetzesänderungen vorsehen. Offensichtlich konnten Sie sich bei den Haushaltsansätzen aber
nicht durchsetzen; denn der Gesetzentwurf sieht beim
Unterhaltsvorschuss Kürzungen in Höhe von 40 Millionen Euro vor. In den Erläuterungen steht - ich zitiere -,
dass „im parlamentarischen Verfahren angestrebt wird,
die im Haushaltsentwurf 2004 bereits vollzogene Absenkung“ um 40 Millionen Euro rückgängig zu machen.
Was sind das für Beratungsgrundlagen, wenn die Regierung die Politik auffordert, bei den Bereinigungssitzungen mal eben 40 Millionen Euro zu finden. Sie
wissen genau, dass wir das bei diesem Etat nicht leisten
können. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Die Haushaltsaufstellung ist Aufgabe der Regierung.
Mein nächstes Beispiel ist der Kinderzuschlag. Hier
kann man Sie für Ihre Öffentlichkeitsarbeit eigentlich
nur loben. Alle Zeitungen titelten: Familienministerin
Schmidt führt Kinderzuschlag für bedürftige Familien
von 140 Euro ein. Ich war positiv überrascht. Leider
wich diese Überraschung eher einer Verwunderung darüber, mit welchem Beifall man eine solche Augenwischerei betreiben kann. Auch dem, was Sie eben gesagt haben, kann ich nicht entnehmen, dass Sie wissen, dass bei
den Familien so gut wie kein Euro von den 140 Euro ankommt. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf, mit dem der
Kinderzuschlag eingeführt werden soll:
Die Einführung des Kinderzuschlags führt dazu,
dass geringere Leistungen in der Grundsicherung
für Arbeitssuchende erforderlich sind.
({6})
Nur etwa ein Drittel der hier ausgewiesenen Kosten... sind echte Mehrkosten, die anderen zwei Drittel werden durch entsprechend geringere Ausgaben
bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende kompensiert.
({7})
Es gibt für die Familien also nur wenig bis kein Geld zusätzlich; das wird eingespart.
({8})
Der Name ist natürlich freundlicher: Kinderzuschlag
hört sich besser an als Sozialhilfe.
({9})
Übrigens: Auch diese erforderlichen Mittel sind im Etat
nicht eingestellt; sie stehen nicht im Haushalt.
({10})
Das nächste Beispiel ist der Ausbau der Kinderbetreuung. Leider gibt es auch hierzu kein belastbares
Material bezüglich der Mehrkosten. Als Frau Eichhorn
eben gesprochen hat, haben Sie auf den Haushalt verwiesen. Die Zahlen kenne ich sehr gut. Dort wird vorgerechnet, dass aufgrund der Einsparungen durch Hartz bei
den Kommunen 1,5 Milliarden Euro übrig bleiben sollen, die für den Ausbau der Ganztagsbetreuung verwendet werden können.
({11})
Der Städtetag hat Sie aber mittlerweile darauf hingewiesen - Herr Eichel hat das bestätigt -, dass in diesen
1,5 Milliarden Euro 1 Milliarde Euro Drittmittel aus der
EU und dem Bund eingerechnet sind, die den Kommunen gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Auch diese
Zahl ist nicht belastbar und kann im Haushalt nicht nachvollzogen werden.
({12})
Es bleiben weitere recht traurige Tatsachen. Der Familienetat muss neben dem Verbraucherschutz mit 8,38 Prozent die höchsten Kürzungen hinnehmen. Dieser Trend
setzt sich aus den Vorjahren fort. Seit 2001 sind die Ausgaben im Etat 17 von 5,5 Milliarden Euro auf 4,7 Milliarden Euro gesunken, eine Kürzung von fast 14 Prozent.
Beim Kinder- und Jugendplan schlagen Sie uns eine Kürzung von 8,5 Prozent vor. Warum eigentlich nur bei den
Jugendlichen und nicht in anderen Bereichen? Ich nenne
als Beispiel den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit oder
der öffentlichen Begleitung neuer Programme. Hier ist
nicht gekürzt worden, aber vielleicht könnten wir uns die
wirklich doofe Plakataktion mit den kleinen Kindern, die
im Moment läuft, sparen.
({13})
Der einzige Bereich, in dem zusätzliche Mittel bereit
stehen, ist Ihr eigenes Ministerium. Ich sage ganz ehrlich: Ich bin kein Freund der pauschalen Kürzung bei
den Personalkosten. Auch in diesem Jahr sind wieder
1,5 Prozent pauschal einzusparen. Ich halte das für keine
sinnvolle Lösung. Wir sollten beim Personaletat in den
Haushaltsberatungen genau prüfen, ob sie überhaupt
durchsetzbar ist. Ich denke, wir sollten nicht prozentual,
sondern anhand konkreter Vorgaben kürzen. Deshalb
werden wir uns den Stellenplan besonders genau ansehen.
Aber es wird auch deutlich, dass in dem Bereich gerade für das letzte Jahr erhebliche Mehrkosten angefallen sind. Dazu sage ich: Einen von Ihnen mitgetragenen
Haushalt muss man einhalten. Auch die freien Träger
können nicht einfach über 2 Millionen Euro mehr für
Personalkosten bei Ihnen einfordern. Von daher müssen
wir das, was wir den freien Trägern abverlangen, auch
im eigenen Haus einhalten.
({14})
Die Mittel für den Zivildienst werden weiter zusammengestrichen, obwohl noch 5 Millionen Euro zusätzliche globale Minderausgabe im Etat vorgesehen sind und
zeitgleich die Mittel für freiwillige Jahre um 1 Million
Euro gekürzt werden. Ich erinnere mich noch sehr gut an
Ihre Vorstellung im letzten Jahr, als Sie erklärt haben:
Ein Ziel könnte sein, den Zivildienst durch freiwillige
Jahre zu ersetzen. - Diese Auffassung kann man vertreten. Aber wenn zeitgleich in beiden Bereichen gekürzt
wird, wird beides nicht erreicht werden. Die jungen
Leute wissen nicht, wohin mit ihrem Engagement, zum
Beispiel in freiwilligen Jahren.
Es werden zulasten bekannter und anerkannter Programme immer wieder neue Programme aufgelegt. Die
Nachhaltigkeit - das Lieblingswort des Bundeskanzlers wird gerade bei der Jugendpolitik völlig missachtet. So
läuft zum Beispiel das Programm Sondermaßnahmen in
den neuen Bundesländern aus. Ersetzt wird es durch das
Programm „Jugend bleibt“, das - ich zitiere - „eine
intensivere Identifizierung der Jugendlichen mit ihren
Heimatregionen ermöglichen“ soll. Ich habe Ihnen
schon im letzten Jahr gesagt: Den Thüringer Jugendlichen fehlt es nicht an Identifizierung mit ihrer Heimat,
sondern ihnen fehlt es an Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Dabei hilft ihnen dieses 2-Millionen-Euro-Programm nicht.
({15})
Ich finde es ausgesprochen schade, dass das Versprechen, das im letzten Jahr in den Haushaltsberatungen
gemacht wurde, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien werde entsprechend dem erhöhten Aufgabenzuwachs auch einen Personalaufwuchs bekommen, nicht eingehalten wurde. Es ist gesagt worden, die zusätzlichen Aufgaben, die wir alle gemeinsam beschlossen haben, wären dadurch zu bewältigen,
dass Personal eingestellt wird. Ich habe schon damals
angekündigt, dass ich eine Gebührenerhebung für die
Prüfung von jugendgefährdenden Medien und Filmen
sehr wohl mittragen werde. Aus diesen Einnahmen
könnte sich das Personal gegebenenfalls selbst finanzieren. Der Gesetzentwurf ist im Haushaltsbegleitgesetz
enthalten. Die Einnahmeposition habe ich nirgendwo
gefunden und die daraus zu bezahlenden Personalstellen leider auch nicht.
Sehr geehrte Frau Ministerin Schmidt, Ihr Einzelplan
beinhaltet Unklarheiten in Höhe von 690 Millionen
Euro: Gesetzentwürfe, die nicht vorliegen, Gesetzentwürfe, die im Haushalt nicht eingestellt sind und Gesetzentwürfe, die noch nicht verabschiedet sind.
({16})
Das sind 15 Prozent Ihres Etats. Dies macht eine
Beratung annähernd unmöglich. Ich hoffe sehr, dass
die aufgeworfenen Fragen und die Gesetzentwürfe bis
zum Berichterstattergespräch vorliegen, damit wir
gemeinsam sehen können, wie wir Familienpolitik betreiben. Sie können ganz sicher sein, dass Sie bei den
Vorstellungen, die wir für vernünftig halten, unsere
Unterstützung erhalten werden und wir gegen den
Finanzminister vielleicht das eine oder andere durchsetzen können.
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Um es vorweg zu sagen: Haushaltskonsolidierung
macht bei einem gesellschaftspolitisch so relevanten Ministerium, das zudem nur einen Etat von 3 Milliarden
Euro hat, überhaupt keinen Spaß. Aber wir sind nicht in
den Bundestag gewählt worden, um Spaß zu haben, sondern um die Probleme für die jetzige und die nächste Generation zu lösen.
({0})
Zum Sparen gibt es überhaupt keine Alternative, will
man nicht auf Kosten der nächsten Generation leben.
Bis 2002 ist es uns gelungen, die Neuverschuldung
konsequent zurückzufahren, was angesichts der übernommenen Schulden notwendig war. Dass die Situation
mit der vorgezogenen Steuerreform jetzt eine andere ist,
gebe ich gern zu.
Auf den ersten Blick erbringt das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit einer Reduzierung von 7 Prozent einen der höchsten Einsparhaushalte. Schaut man allerdings genauer hin, so stellt man
fest, dass es lediglich 4 Prozent sind. Frau Tillmann, ich
werde Ihnen das gleich erläutern. Im Wesentlichen werden die Kürzungen durch Änderungen beim Bundeserziehungsgeldgesetz und dem Zivildienst erreicht. Bevor
Sie sich pflichtgemäß lautstark aufregen, gebe ich unumwunden zu:
({1})
Die Zustimmung zur Änderung des Erziehungsgeldgesetzes war für uns Bündnisgrüne und für die SPD eine
schwere Entscheidung.
({2})
Vielleicht gelingt es im parlamentarischen Verfahren,
noch die eine oder andere Veränderung zu ermöglichen.
Aber natürlich müssen Sie die neuen Leistungen für Familien gegenrechnen. Ich nenne den Kinderzuschlag von
monatlich bis zu 140 Euro, die Steuerentlastung für Alleinerziehende in Höhe von 1 300 Euro im Jahr und den
Ausbau von Betreuungsangeboten für Kinder unter drei
Jahren.
({3})
- Das werde ich gleich sagen. - Mit diesen Maßnahmen
bewahren wir 150 000 Kinder vor der Sozialhilfe, unterstützen Alleinerziehende finanziell und sorgen mit der
Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen nicht nur
für eine Frühförderung von Kindern, sondern ermöglichen überhaupt erst einmal die Erwerbstätigkeit von Eltern,
({4})
und das mit 200 Millionen Euro zusätzlich.
Dieses Geld wird - das ist eine Vereinbarung - im
Rahmen des parlamentarischen Verfahrens zwischen der
ersten und dritten Lesung des Haushalts eingestellt. Sie
können sicher sein, dass es dann enthalten ist, sonst würden wir es hier nicht verkünden.
Das ist eine Familienpolitik, die den Menschen tatsächlich eine Wahlfreiheit bietet. Frau Eichhorn, Sie
hatten von Wahlfreiheit gesprochen. Bisher hatten die
Frauen sie nicht. Sie mussten sich entscheiden, ob sie
eine Familie gründen, zuhause bleiben oder in den Beruf
gehen wollten. Sie kennen das Resultat: Jede dritte Frau
ist heute kinderlos. Das ist das Ergebnis.
({5})
- Überhaupt nicht.
({6})
Hier muss die Politik Rahmenbedingungen schaffen,
die beides ermöglichen, nämlich Erwerbstätigkeit und
Kinder. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen haben wir
heute einen großen Beitrag dazu geleistet.
Es wäre allerdings viel zu kurz gesprungen, glaubte
man, dass die Gleichstellung von Frauen in der Erwerbsarbeit erledigt wäre, wenn die Kinderfrage gelöst
ist. Ich glaube, es war August Bebel, der sagte: Wenn die
Kinderfrage gelöst ist, ist auch die Frauenfrage gelöst.
({7})
Aber dem ist nicht so. Der Anteil von 40 Prozent kinderlosen Akademikerinnen spricht dagegen; obwohl sie
keine Kinder haben, erhält nur jede zehnte von ihnen
eine Professur oder eine Führungsposition in der Wirtschaft. Von der tatsächlichen Gleichstellung sind wir
Lichtjahre entfernt.
Und was die Frauen so kränkt: Trotz besserer Schulabschlüsse und Ausbildung verdienen sie im Durchschnitt fast 30 Prozent weniger als Männer. Gesetzliche
Regelungen wären hier sicher notwendig gewesen. Die
stattdessen erfolgte Vereinbarung mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft hat außer verlorener Zeit nun
wirklich überhaupt nichts gebracht. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat herausgefunden,
dass in 4,1 Prozent der Privatunternehmen tatsächlich
betriebliche oder tarifliche Maßnahmen der Gleichstellung erfolgt sind.
Diese Zahlen verdeutlichen, dass es sich hier nicht nur
um ein Demokratieproblem handelt, sondern dass dies
auch nachhaltig Innovationen behindert. Denn mit den
Frauen sind die Innovationen zu haben. Wenn wir die gut
ausgebildeten Frauen außen vor lassen, werden sie uns
nicht gelingen. Was macht es für einen Sinn, in die Ausbildung von Frauen zu investieren, aber ihre Potenziale
nicht zu nutzen? Ich frage Sie ganz ernsthaft: Welche Gesellschaft kann sich das überhaupt auf Dauer leisten?
({8})
Deshalb brauchen wir nicht nur Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung - die sind auch nötig -, sondern die
verpflichtende Gleichstellung in den Betrieben und die
Kopplung der Vergabe öffentlicher Aufträge an Maßnahmen zur Gleichstellung. Das ist das Lieblingsthema
meiner Kollegin Ina Lenke. Ein erster Schritt dazu ist die
zügige Umsetzung der EU-Richtlinien zur Antidiskriminierung.
({9})
- Im April 2004. Das verspreche ich Ihnen. - Diese moderne Gleichstellungspolitik wird durch die Einrichtung
eines Gender-Kompetenzzentrums unterstützt.
Ich komme nun zu den Senioren. Die gestiegene Lebenserwartung bietet die Chance, die Potenziale der älteren Generation auch im Interesse der Gesellschaft zu
erhalten und zu fördern. Trotzdem gibt es bekanntlich in
jedem zweiten Betrieb keine Beschäftigten über
50 Jahre. Ich meine, dies stellt eine massive Diskriminierung älterer Beschäftigter dar.
Denjenigen, die auf Hilfe und Pflege angewiesen sind,
müssen wir ein selbstbestimmtes und würdiges Leben im
Alter garantieren. Wir werden - dazu gibt es bereits Vorarbeiten - die Altenhilfestrukturen besser vernetzen und
den Bedürfnissen der Menschen anpassen. Eine EnqueteKommission „Menschen in Heimen“ wäre meiner Meinung nach ein entscheidender Beitrag dazu. Die Grünen
präferieren dieses Vorhaben und wir werden sehen, wie
wir es gemeinsam mit Ihnen umsetzen können.
Meine Damen und Herren, auch wenn beim Zivildienst die Ansätze reduziert sind, gibt es keine substanziellen Kürzungen. Der Kollege Schaaf hat eben darauf
hingewiesen. Weil weniger Wehrpflichtige benötigt werden, reduziert sich auch die Zahl der Zivildienstleistenden.
({10})
Sie haben bereits darauf hingewiesen. Die alte Finanzierungsregelung 70 : 30 wurde, wie von der Ministerin
versprochen, wiederhergestellt, sodass - das halte ich für
wichtig - die Träger jetzt Planungssicherheit haben.
({11})
Die Verbände haben sich dafür bedankt, dass Wort gehalten wurde.
Lassen Sie mich noch einen Satz zu den jungen Menschen sagen, die jetzt die Schulen verlassen. Ich halte es
für einen Skandal, dass immer noch mehr als 100 000
Ausbildungsplätze fehlen.
({12})
Wenn die Wirtschaft ihrer Verantwortung nicht nachkommt, sollten wir konsequent sein und eine Ausbildungsplatzumlage beschließen.
({13})
Ich komme zum Schluss. Reformen sind notwendig.
Wir stellen die Weichen und übernehmen die Verantwortung für das Leben mit Kindern, für bessere Chancen
von Jugendlichen, für eine gerechte Teilhabe von Frauen
und für ein Alter in Würde.
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schaaf, Sie haben keine Zwischenfragen zum Zivildienst
zugelassen und Sie wissen auch, warum.
({0})
Denn obwohl nur noch jeder zweite junge Mann zum
Zwangsdienst - zum Zivildienst oder zur Wehrpflicht einberufen wird, sprechen Sie immer noch von Einberufungsgerechtigkeit. Sie ist aber extrem ungerecht und
das dürfen wir nicht zulassen. An dieser Stelle muss die
Opposition immer wieder den Finger auf die Wunde legen.
({1})
Wie Sie wissen, will die FDP die Wehrpflicht und somit auch den Zivildienst abschaffen. Wir haben in der
vergangenen Legislaturperiode auch schon eine Konzeption erstellt, Herr Schaaf.
({2})
Wenn das auch Ihre Fraktion und die Fraktion der Grünen getan hätten, dann wären wir schon weiter und
bräuchten keine Unterausschüsse und Ähnliches.
Der Ministerin will ich zum Thema Zivildienst eines
sagen: Frau Ministerin, Sie sollten ehrlich sein. Wenn
Sie die Anzahl der Zivildienstleistenden in den Einrichtungen kürzen, dann fehlen sie dort. Wenn Sie ihnen
dann statt 50 Prozent bis zu 70 Prozent der Kosten für
die Zivildienstleistenden in Aussicht stellen, dann können sie sich sozusagen ein Ei darauf pellen.
({3})
- Nein, die sehen das nicht anders. Wenn Sie mit ihnen
reden, dann merken Sie, dass sie das genauso sehen wie
ich.
({4})
- Sie haben völlig Recht, Herr Fricke. Die hängen doch
am Tropf; was sollen sie denn sagen?
Ich komme jetzt zum Haushalt. Der Gesamthaushalt
von Rot-Grün ist von der schlechten Wirtschaftslage und
der hohen Arbeitslosigkeit gekennzeichnet.
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dümpe-Krüger zu?
Nein, die lasse ich jetzt nicht zu.
Meine Damen und Herren, zu Beginn der rot-grünen
Belagerung des Volkes durch die Bundesregierung
({0})
verkündeten Sie sehr selbstbewusst: Wir fangen mit der
Frauen- und Familienpolitik jetzt erst richtig an. 1998
begann also der Aufbruch in die neue Zeit. Was ist im
Haushalt 2004 davon zu spüren? - Die ziel- und orientierungslose Familienpolitik der Bundesregierung wird an
drei Beispielen deutlich. Beim Bundeserziehungsgeldgesetz haben Sie 2001 großmäulig die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld erhöht. Jetzt sollen die
Einkommensgrenzen mit Ihrem Haushaltsbegleitgesetz
drastisch abgesenkt werden. Für die ersten sechs Monate
nach Geburt des Kindes wollen Sie die Einkommensgrenzen der Eltern von bisher 51 000 Euro auf
30 000 Euro senken. Die monatlichen Zahlungen an die
Eltern - das hat auch eine andere Kollegin gesagt - werden bei Ihnen von 460 auf 450 Euro geglättet. Das ist
kein Glätten. Seien Sie bitte ehrlich und sagen Sie „kürzen“.
Zweitens: der Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende. Bei der Unterstützung der Alleinerziehenden ist
der Bundesregierung wirklich peu à peu die Puste ausgegangen.
({1})
- Natürlich! Sie haben das in den letzten Jahren, Frau
Griese, auch begründen müssen, damit Sie noch hinter
Ihrer Regierung stehen.
Wir suchen jetzt die echten Alleinerziehenden. Wir
werden im Ausschuss einmal schauen: Was sind echte
Alleinerziehende, was sind unechte Alleinerziehende?
Sie werden dann die Prüfungen bestätigen. Ich sage Ihnen: Schlüssellochprüfungen, wo eine echte Alleinerziehende und wo eine unechte Alleinerziehende ist, lassen
wir als Liberale nicht zu.
({2})
- Frau Griese, die Erklärung Ihres Finanzstaatssekretärs,
Herrn Halsch, dass es verfassungsrechtliche Probleme
geben könnte, teile ich.
Sie sind augenscheinlich bisher nicht in der Lage, einfache und für die Bürger und Bürgerinnen verständliche
Regelungen einzuführen.
Drittens. Jetzt komme ich zur steuerlichen Absetzbarkeit von Haushaltshilfen. Neid und Missgunst haben Sie mit dem fiesen Ausdruck „Dienstmädchenprivileg“ geschürt. Die FDP will aber, dass Frauen, die Beruf
und Familie miteinander vereinbaren wollen, personelle
Hilfe im Haushalt haben. Wir, Frau Böhmer, wollen
doch keine Schwarzarbeit.
({3})
Von daher wollen wir da etwas ändern. Sie haben 2002
die steuerliche Absetzbarkeit von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in Privathaushalten gestrichen. Die Verwirrung ist groß.
({4})
Sie schenken doch der Bevölkerung keinen reinen Wein
ein, wo Sie sparen müssen. Ermöglichen Sie den Menschen, ihre familiäre Zukunft auf langfristig verlässlichen politischen Rahmenbedingungen zu planen!
Zur versprochenen Kinderbetreuung, Frau Ministerin, hätte ich gerne noch ein Wort von Ihnen gehört. Sie
haben gesagt: 1,5 Milliarden Euro ab 2004. Jetzt lese ich
in Ihrer Pressemitteilung vom 19. August: Aus dem Jahr
2004 wird das Jahr 2005. In den sechs Jahren, die Sie in
der Regierung sind, haben Sie also nur Luftschlösser produziert. Wenn Sie erst im Jahre 2005 anfangen, dann frage
ich mich, was aus Ihren Versprechungen geworden ist.
Ich will zum Schluss sagen: Wir von der FDP haben
gute, wir haben bessere Konzepte: gleiche Freibeträge
für Kinder, volle steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten, Abschaffung der Steuerklasse V,
({5})
Vielfalt der Kinderbetreuung durch bessere ganzheitliche Konzepte mit Tagesmüttern und gleiche Chancen für
Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
({6})
Dazu haben wir detaillierte Konzepte in den Bundestag
eingebracht, mit frauenpolitischen Schwerpunkten.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Danke, Frau Präsidentin. Ich komme jetzt zum
Schlusssatz.
Meine Damen und Herren, solange eine verfehlte
Wirtschafts- und Steuerpolitik unser Land lähmt und das
Jobwunder ausfällt, wird es auch für Frauen schwierig
sein, sich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Denken
Sie daran: In der Wirtschafts- und in der Steuerpolitik
haben Sie bisher noch nichts erreicht. Da sehen Sie ganz
alt aus.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Was haben wir uns alles in dieser Debatte anhören
müssen! Frau Eichhorn, vor allen Dingen mussten wir
uns heute einen Verweis auf die Familienpolitik aus Ihrer
Zeit anhören, die vom Bundesverfassungsgericht die
Note „ungenügend“ bekommen hat.
({0})
Ich habe die Debatte mit Spannung verfolgt und eigentlich erwartet, dass ich heute auch von Ihnen einmal
Konzepte bekomme und nicht immer ein großes, fett geschriebenes Nein.
({1})
Nein zum Erziehungsgeld, Nein zur Eigenheimzulage,
Nein zur Kilometerpauschale - Nein war das bestimmende Element Ihrer Reden.
({2})
Ich glaube, das ist nicht das, was wir brauchen. Was wir
brauchen, sind schlüssige familienpolitische Konzepte.
Frau Eichhorn, ich habe wirklich nicht erwartet, dass
Sie heute das Familiengeld noch einmal ins Spiel bringen. Deshalb bin ich darauf gar nicht vorbereitet. Aber
auch das wird wahrscheinlich dem Wahlkampf in
Bayern geschuldet sein; denn wenn man sich das Wahlprogramm der CSU in Bayern anschaut, dann stellt man
fest, dass es im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf überhaupt kein familienpolitisches Konzept enthält. Dort ist nur von einem Familiengeld die
Rede. Aber wie Sie das finanzieren wollen, steht nirgendwo. 31 Milliarden Euro würde es kosten, wenn das
Familiengeld, wie Sie es fordern, umgesetzt würde. Das
wäre unseriös, aber auch ungerecht; denn Sie würden
das Geld nach dem Gießkannenprinzip an alle Familien
verteilen, egal wie viel Einkommen sie haben. Das wäre
in höchstem Maße ungerecht.
({3})
Last, but not least: Ein Familiengeld ist unmodern. Das
sagt Ihnen sogar der sozialpolitische Berater von Roland
Koch, Herr Professor Jürgen Borchert. Er hat eindeutig
klar gemacht, dass das Familiengeld ein Irrweg ist.
({4})
Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie darauf hinweisen,
dass die Rahmenbedingungen schwierig sind. Das ist
keine Frage. Wir können das nicht leugnen. Aber deshalb dürfen wir nicht wie Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, die Augen vor der Realität
verschließen. Wir sind diejenigen, die handeln müssen,
um den Tanker Deutschland wieder flott zu machen.
({5})
Das tun wir in der Tat - hören Sie genau zu - mit unserer
Agenda 2010. Mit ihr reformieren wir heute unsere SoChristel Humme
zialsysteme, damit der Sozialstaat morgen weiter reibungslos funktionieren kann. Wir machen heute eine
Haushaltskonsolidierung und sparen Mittel ein, damit
wir auch in Zukunft über den notwendigen Handlungsspielraum verfügen. Wir machen heute eine Steuerreform
und verzichten auf Steuereinnahmen, damit die Konjunktur wieder anspringt und gleichzeitig neue Arbeitsplätze
geschaffen werden. Das alles tun wir im Interesse der Familien. Wir stellen die Familien nicht ins Abseits, wie
Sie, Frau Eichhorn, behaupten. Im Gegenteil: Die Familien stehen nach wie vor im Mittelpunkt unserer Politik.
({6})
Die Erneuerungskur, die ich gerade beschrieben habe,
ist aber nicht - das ist klar - zum Nulltarif zu haben.
Manche Einsparungen und Entscheidungen - darauf
wurde schon hingewiesen - sind sicherlich auch für uns
schmerzhaft. Ich möchte aber in Erinnerung rufen, dass
wir bisher eine Familienpolitik gemacht haben, die die
Familien in höchstem Maße unterstützt hat.
({7})
Schauen Sie sich einmal an, was wir bisher geleistet haben! Keine andere Bundesregierung hat das bisher geschafft: mehr Kindergeld, mehr Freibeträge und mehr
BAföG auch für Alleinerziehende. Daher ist der Haushaltsfreibetrag - das wurde vorhin schon deutlich gemacht - nicht vollkommen weggefallen. Wir haben die
Familien finanziell in höchstem Maße unterstützt, wie es
vorher keine andere Regierung getan hat.
({8})
Wir setzen unsere Politik fort. Die Bundesregierung
- auch das ist neu - stellt Geld zur Verfügung bzw. verzichtet auf Geld für den Ausbau der Betreuung von unter
Dreijährigen und der Ganztagsschulen.
Frau Lenke, Sie behaupten, dass Kinder nicht gefördert würden. Schauen Sie sich doch einmal genau an, was
das Vorziehen der letzten Stufe unserer Steuerreform
bringt. Wenn man als Beispiel eine Familie nimmt, die
über ein jährliches Einkommen von rund 40 000 Euro
brutto verfügt - das ist die Grenze, ab der es künftig vielleicht kein Erziehungsgeld mehr geben wird; davon werden 5 Prozent der Familien betroffen sein -, dann stellt
man fest, dass diese Familie ab 2004 ganze 3 000 Euro
mehr im Portemonnaie haben wird als noch zu Zeiten Ihrer CDU/CSU-FDP-Regierung. Ich denke, das ist ein
ganz wichtiger Erfolg für alle Familien mit Kindern und
für Alleinerziehende. Man darf nicht vergessen, dass das
nicht nur für 2004, sondern auch für alle Folgejahre gilt.
({9})
Richtig ist, dass wir zum ersten Mal viel für die Familien
ausgeben. Richtig ist aber auch, dass die knappen Finanzmittel uns jetzt zwingen, unsere Maßnahmen mehr
denn je auf Zielgenauigkeit und Effizienz zu überprüfen.
Diese Hausaufgabe haben wir gemacht.
Wir wollen - das ist das Ziel des Haushalts 2004 - unsere Familienpolitik noch wirksamer machen. Unsere
Familienpolitik wird wirksamer durch die Konzentration
der Förderung auf diejenigen Familien, die auf unsere
Hilfe dringend angewiesen sind.
Frau Eichhorn, es ist eine Lüge, dass wir, was den Bezug von Erziehungsgeld angeht, drastische Einkommensgrenzen setzen.
({10})
Ich habe es gerade gesagt: Ganze 5 Prozent werden davon betroffen sein. Wir werden aber gleichzeitig - auch
das wurde schon gesagt - die Familien im unteren Einkommensbereich fördern. Wir werden damit - das ist
sehr wichtig - ihre Selbsthilfekräfte stärken, wir werden
Arbeitsanreize schaffen und wir helfen den Alleinerziehenden mit einem Steuerfreibetrag.
({11})
Ich denke, das ist gerechte Familienpolitik.
({12})
Ich danke der Ministerin, dass es ihr gelungen ist, genau
in diesem Bereich zusätzliche Mittel in den Haushalt
einzustellen.
Wir machen die Familienpolitik auch durch Investitionen in die Zukunft wirksamer. Deshalb bauen wir das
Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren aus
und schaffen mehr Ganztagsschulen.
({13})
- Wann schaffen wir die Rahmenbedingungen? Lassen
Sie mich an dieser Stelle einmal feststellen: Ich freue
mich darüber, dass der Ausbau der Ganztagsschulen in
vollem Gange ist. Ich nenne als Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen, aus dem ich komme: Ute Schäfer, die
zuständige Ministerin, hat unser mit 4 Milliarden Euro
ausgestattetes Programm als Initialzündung genutzt.
Nordrhein-Westfalen hat eigenes Geld in die Hand genommen, den Bundeszuschuss obendrauf gepackt und
schafft jetzt Hunderte neuer Ganztagsschulen.
({14})
Ich muss natürlich auch noch ein paar Wermutstropfen verteilen: Meine sehr verehrten Damen und Herren
von der Union
({15})
- ich würde jetzt nicht so lachen -, acht von den neun
unionsgeführten Ländern beteiligen sich bisher leider
nicht an diesem Programm und haben noch kein Geld
abgerufen.
({16})
Diejenigen Länder, die Geld abgerufen haben, stehen
unter sozialdemokratischer Verantwortung. Ich denke,
das verdeutlicht, dass Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen eine Familienpolitik machen, die gewährleistet, dass Eltern diejenigen Rahmenbedingungen vorfinden, die sie brauchen, um so leben zu können, wie sie
es wünschen, und nicht so, Frau Eichhorn, wie andere es
ihnen vorschreiben wollen.
({17})
Das Folgende kann man nicht oft genug sagen, damit
es endlich einmal in alle Köpfe geht: Es geht tatsächlich
um die Entscheidungsfreiheit; denn 80 Prozent der jungen Menschen - Frauen und Männer - wollen beides,
Erwerbsarbeit und Familie. Ich empfehle Ihnen: Lesen
Sie die jüngste Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung von Ende August! Dort steht, dass teilzeitbeschäftigte Mütter mit ihrem Leben sehr zufrieden sind,
viel zufriedener als Mütter, die wegen der Kinder auf Erwerbsarbeit verzichten. Das bestätigt die Richtigkeit unseres Weges in der Familienpolitik.
({18})
- Das ist nicht pauschal.
Sind Familie und Beruf vereinbar, stimmt nicht nur
die Lebenszufriedenheit der Mütter, sondern stimmen
auch die Bildungschancen der Kinder. Das lehrt uns
PISA; denn in allen europäischen Ländern, wo in Ganztagsschulen und in die elementare Bildung von Kindern
schon von klein an investiert wird, überzeugt der Bildungserfolg.
Die Herkunft darf auch bei uns nicht länger über die
Bildungschancen von Kindern entscheiden. Ich füge
hinzu: Über die Bildungschancen darf auch nicht entscheiden, in welchem Bundesland ein Kind geboren
wird.
({19})
Unsere Politik schafft Chancengleichheit. Die frühe
Förderung der Kinder und Ganztagsschulen schaffen den
Rahmen dafür, jedes Kind entsprechend seinen Fähigkeiten zu fördern. Für die Kinder bedeutet das bessere
Lebenschancen, für die Frauen bedeutet das bessere Erwerbschancen und für die deutsche Wirtschaft bedeutet
das besser ausgebildete Fachkräfte.
Die ökonomischen Vorteile liegen auf der Hand:
Stimmt die Kinderbetreuung, werden mehr Frauen erwerbstätig. Frau Lenke, eine höhere Frauenerwerbsquote
führt zu einem stärkeren Ausbau des Dienstleistungssektors und damit zu mehr Arbeitsplätzen. Neue Arbeitsplätze bedeuten Abbau der Arbeitslosigkeit und eine
bessere Bewältigung des demographischen Wandels.
Auch hier zeigt sich: Unser Ansatz ist der richtige!
Ein Drittel der 1965 geborenen Frauen wird kinderlos
bleiben. Die meisten davon verzichten freiwillig auf
Kinder, weil sie ihrem Beruf Priorität einräumen. Aber:
Kinder und Karriere, beides lässt sich für Frauen in
Deutschland nur schwer realisieren. Das ist die traurige
Bilanz einer rückwärts gewandten Politik der Vergangenheit. Das muss nicht so sein. Andere Länder wie
Großbritannien oder Schweden machen uns das erfolgreich vor. Überall dort, wo die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf möglich ist, sind mehr Frauen erwerbstätig
und kriegen zudem mehr Kinder.
Der Haushalt 2004 legt den Grundstein für Zukunftsinvestitionen. Mit dem Ausbau von Kinderbetreuung
und Ganztagsschulen beseitigen wir den wesentlichen
Hemmschuh für die Gleichstellung von Männern und
Frauen. Wir sorgen für bessere Bildung und mehr
Bildungsgerechtigkeit für Kinder. Wir sorgen für mehr
qualifiziertes Personal für die Unternehmen. Unsere Familienpolitik ist ein Mittel, den Tanker Deutschland wieder in Schwung zu bringen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, unterstützen Sie uns dabei! Legen Sie uns keine unnötigen
Hemmnisse in den Weg, sondern ziehen Sie mit uns an
einem Strang! Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erwarten Lösungen: von uns - wir haben sie -,
({20})
aber auch von Ihnen.
Vielen Dank.
({21})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, über weite Strecken Ihrer Rede zur Einbringung Ihres Einzelplans war ich etwas erstaunt, weil die Worte,
die Sie gefunden haben, dem geähnelt haben, in weiten
Teilen zumindest, was Ihr Kabinettskollege Hans Eichel
heute Morgen geboten hat. Wie der Kollege Kampeter
vorhin zutreffend bemerkte, sind Sie zwar präsidial eingestiegen, was auch an die Worte erinnerte, die Sie kurz
nach der Bundestagswahl im Ausschuss gefunden haben, aber Sie haben dann große Teile Ihrer Redezeit
darauf verwandt, den Versuch zu unternehmen, es so
darzustellen, als habe die Familienpolitik 1998 erst begonnen.
({0})
Nun gehöre ich nicht zu denjenigen, die sagen, die
Regierung aus Union und FDP hätte 1998 paradiesische
Zustände hinterlassen. Wir haben vieles geschafft, manches aber auch nicht. Diesen Schuh - ich bin da selbstkritisch - ziehe ich mir durchaus an. Aber komplett ausThomas Dörflinger
zublenden, dass beim Regierungsantritt von Helmut
Kohl im Herbst 1982 das Kindergeld bei 50 DM
({1})
und beim Amtsabtritt der Regierung von Helmut Kohl
1998 bei 220 DM lag,
({2})
dass in dieser Zeit Kinderfreibeträge im Steuerrecht erst
wieder eingeführt werden mussten,
({3})
dass Kindererziehungszeiten in der Rente zunächst einmal ins Recht Eingang finden mussten, dass auch der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erst verankert werden musste - ich könnte noch vieles andere nennen -,
({4})
finde ich nicht in Ordnung und das lasse ich Ihnen so
auch nicht durchgehen.
({5})
Nun ist es ja nicht so, Frau Humme, dass 1998 die Familienpolitik begonnen hätte. Wenn es so wäre, wie Sie
es dargestellt haben,
({6})
dann müsste die Fanpost zur Familienpolitik dieser Bundesregierung täglich waschkörbeweise entweder im
Ministerium oder aber im Kanzleramt eingehen
({7})
und hätten Sie kein Problem damit, im Unterschied zu
anderen in diesem Haus, Ihr Projekt 18 in wenigen Tagen zumindest in einem Bundesland erfolgreich umzusetzen.
({8})
Ich will ein paar Beispiele dafür nennen, was mir an
diesem Haushalt aufgefallen ist. Zunächst einmal fällt
auf, dass das einzige Kapitel, das einen deutlichen Aufwuchs erfährt, das Bundesministerium selbst ist. Das
wird begründet mit Fehlplanungen zum Personalhaushalt, die offensichtlich im Jahr 2002 passiert sind. Ich
stelle zunächst einmal fest, dass dies der buchhalterische
und haushälterische Beleg des eigenen Versagens und
der schlampigen Arbeit im Bundeshaushalt 2003 ist. Das
ist nun einmal Fakt. Ich bin gespannt, ob ich in den Ausschussberatungen erfahre, ob denn beispielsweise die
Personalkosten, die 2002 zu wenig etatisiert worden
sind, zumindest für 2004 fortfolgende ausreichend eingeplant werden; sonst haben wir in den Beratungen zum
Etat 2005 - für den Fall, dass Sie die noch erleben ({9})
das gleiche Problem wie heute.
In diesem Zusammenhang werden wir - das kündige
ich jetzt schon an, damit Sie Zeit haben, sich darauf vorzubereiten - die eine oder andere Frage zum Personalhaushalt, die wir schon bei den Etatberatungen des Jahres 2002 gestellt haben, nochmals stellen. Es interessiert
ja nicht nur uns als Bundestagsfraktion von CDU/CSU,
sondern vielleicht auch den einen oder anderen in der
Öffentlichkeit, wieso Beamte, die auf einer B-2-Planstelle sitzen, aufgrund einer besonderen Vereinbarung
nach B 5 bezahlt werden. Eine Erklärung dafür hätte ich
gerne. Ich bin gespannt, was Sie im Ausschuss dazu
sagen.
({10})
Ich will ein zweites Thema ansprechen, das auch Gegenstand der heutigen Debatte war, nämlich die Sprachförderung von jugendlichen Migranten, soweit das in
den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend fällt. Ich erinnere
mich noch sehr genau an wiederholte Erklärungen Ihrer
Vorgängerin im Amte, Christine Bergmann, die auf die
Vorhaltungen seitens der Unionsfraktion, wo denn ein
Gesamtsprachkonzept für diesen Bereich, abgestimmt
zwischen den verschiedenen Ressorts, bleibe, sagte, das
werde in Bälde vorgelegt. Nun wissen wir alle, dass das
Zuwanderungsgesetz aus den bekannten Gründen nicht
in Kraft getreten ist.
({11})
Ich frage mich, warum Sie eigentlich nicht die Zeit nutzen, in der das Zuwanderungsgesetz noch beraten wird,
um das von uns und von vielen Betroffenen eingeforderte Gesamtkonzept für eine Sprachförderung von Migrantinnen und Migranten vorzulegen. Wo bleibt das
Konzept?
({12})
Stattdessen schreiben Sie die Kürzungen der Jahre 2001
und 2002 fort. Auch das ist eine Form von Kontinuität in
der Politik.
Der dritte Punkt ist haushälterisch bestimmt nicht bedeutend; denn es geht um 260 000 Euro. In der
13. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hat
eine Enquete-Kommission getagt, die den Namen „So
genannte Sekten und Psychogruppen“ trug, geleitet
von meiner früheren Fraktionskollegin Ortrun Schätzle.
Einer der Aufträge, den die Kommission seinerzeit in
ihrem Abschlussbericht formulierte, bestand darin, dass
man auf diesem Gebiet forschen und sich das in dieser
Frage federführende Bundesministerium engagieren
sollte. Beim Blick in den Haushalt stellte ich fest, dass
die 260 000 Euro, die 2003 noch im Haushalt enthalten
waren, im Etatentwurf für 2004 gestrichen wurden.
Eine Enquete-Kommission ist nicht irgendein Debattierklub, der irgendetwas auf einem Blatt aufschreibt, sondern ein Organ des Deutschen Bundestages, dessen Beschlüsse nicht so einfach beiseite gewischt werden
können. Ich wünschte mir, Sie würden dem Auftrag,
den die Kommission seinerzeit in der 13. Legislatur4950
periode formuliert hat, auch im Etatentwurf für 2004
Rechnung tragen.
({13})
Vierter Punkt. Ich war heute Nachmittag mit einer
Gruppe von Kommunalpolitikern aus meinem Wahlkreis
zusammen und habe an die Adresse der Damen und Herren des Gemeinderates die Frage gerichtet: Was würden
Sie sagen, wenn Ihr Bürgermeister Ihnen einen Haushalt
vorlegt, in dem bei der Gewerbesteuer sowie der Grundsteuer A und B Beträge stehen, die wesentlich höher liegen als die im Haushalt des Vorjahres und für die die
rechtliche Grundlage aber eigentlich erst noch geschaffen
werden muss? Die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker sagten: Dann würden wir ihm helfen - der
Bürgermeister war dabei. Im Einzelplan 17 sind eine
Fülle von Haushaltsansätzen enthalten, die ausgehend
von Gesetzesvorhaben ermittelt wurden, die dem Deutschen Bundestag entweder erst seit gestern vorliegen
oder erst in den kommenden Wochen vorgelegt werden.
Das ist alles andere als eine seriöse Haushaltspolitik,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({14})
Ich nenne beispielsweise die, wenn ich mich richtig
erinnere, von Ihnen auch angesprochene Neuerung beim
Unterhaltsvorschussgesetz. 250 Millionen Euro sind
2003 etatisiert worden, 200 Millionen Euro sind für
2004 vorgesehen. Das ist nicht Gegenstand des Haushaltsbegleitgesetzes. Deshalb frage ich: Wann kommt
die gesetzgeberische Vorlage, die Sie ermächtigt, diesen
Betrag hier im Haushalt zu veranschlagen? Ein zweites
Beispiel: Die Neuerungen im Zusammenhang mit dem
Bundeserziehungsgeld, die im Haushaltsbegleitgesetz
stehen, hängen bekanntermaßen von der Zustimmung
des Bundesrates ab. Nach den Erfahrungen, die Sie mit
dem so genannten Steuervergünstigungsabbaugesetz gemacht haben, ist es alles andere als seriös, vielmehr grob
fahrlässig, einen Betrag, der sich erst aus einem Gesetzesvorhaben ergibt, eins zu eins in den Bundeshaushalt
zu übertragen. Im Zusammenhang mit dem so genannten
Steuervergünstigungsabbaugesetz mussten wir ja erfahren, dass von dem, was das BMF wollte, nach den Beratungen im Bundestag und im Bundesrat so gut wie nichts
übrig geblieben ist.
({15})
Sich auf eine konkrete Buchung in dieser Hinsicht einzustellen ist bestenfalls abenteuerlich.
({16})
Ich will ein Wort zum Zivildienst sagen, weil dieses
Thema auch Gegenstand einer Korrespondenz zwischen
Ihrem Hause, Ihnen persönlich und mir war. Ich fand es
schon sehr erstaunlich - um das einmal ganz vorsichtig
zu formulieren -, dass bei der konstituierenden Sitzung
der parlamentarischen Begleitkommission zu der von
Ihnen eingesetzten Kommission zur Zukunft des Zivildienstes - ich habe die Einrichtung dieser Kommission
seinerzeit begrüßt ({17})
- zu Recht, zugestanden, Herr Kollege Schaaf - auf die
Frage der Kollegin Tillmann und meine Frage, was denn
mit Blick auf 2004 an Haushaltsauswirkungen in diesem
Bereich zu erwarten sei, keine Antwort kam, wir dann
aber zwei Tage später, als wir den Haushaltsentwurf mit
der Post bekamen, klüger waren bezüglich dessen, was
uns Staatssekretär Ruhenstroth-Bauer zwei Tage zuvor
nicht sagen konnte oder wollte.
Es war dann mehr als interessant, wenige Tage später,
am 16. Juli dieses Jahres, in einer Berichterstattung in der
Tageszeitung „Die Welt“ zu lesen, dass Sie, Frau Ministerin, planten, den Zivildienst im Jahre 2004 zu verkürzen. Nun war von diesen Plänen - bislang jedenfalls nicht mehr die Rede. Ich stelle die Frage, ob das Thema
gegebenenfalls wieder in der Versenkung verschwunden
ist; das mag ja sein. Interessant wäre allerdings für die
Mitglieder dieser Kommission, auch wenn sie sich nur
als eine parlamentarische Begleitkommission der eigentlichen Kommission versteht, wenigstens über die Rahmenbedingungen des Umstands, über den dort diskutiert
werden soll, informiert zu werden, und zwar nicht durch
die Tagespresse, sondern durch die Stelle, die diese Kommission erstens einberufen und zweitens eingeladen hat,
nämlich das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Das sind Sie den Damen und Herren,
die Mitglieder dieses Hohen Hauses sind, schuldig.
({18})
Letzter Punkt, meine Damen und Herren. Ich möchte
gerne wissen, ob dieser Etat im Einzelplan 17 tatsächlich
eine ausreichende und verlässliche Grundlage für eine
Haushaltsberatung des Deutschen Bundestages ist. Ich
lasse die Frage ganz bewusst offen und stelle sie an uns
alle.
({19})
Es ist keine Arbeitsgrundlage für ein deutsches Parlament, wenn derart viele Luftbuchungen Gegenstand eines Haushalts sind, dass man sich schier an den Kopf
greifen und sich fragen muss, wer da schlussendlich gerechnet hat. In den Ausschussberatungen haben Sie Gelegenheit, aus dieser bisher sehr löchrigen Grundlage
eine beratungsfähige Haushaltsvorlage zu machen. Ich
würde mich freuen, wenn Sie dies tun.
Herzlichen Dank.
({20})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Das Wort hat Bundesminister
Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!
({0})
Herr Minister, einen Augenblick bitte noch. Ich bitte
die Kolleginnen und Kollegen, die dieser Debatte nicht
beiwohnen wollen, den Saal zu verlassen.
({0})
Bitte schön, Herr Minister.
Die Zahlen des Einzelplanes 06 im Haushalt 2004,
den wir heute beraten, sind Ausweis einer soliden, verlässlichen und erfolgreichen Innenpolitik der Bundesregierung.
({0})
Sie können insbesondere bei den Sicherheitsinstitutionen
eine kontinuierlich gute finanzielle Ausstattung verzeichnen, zum Teil sogar mit einem deutlichen Zuwachs.
({1})
Das ist in Zeiten knapper Haushaltsmittel bekanntlich
keine Selbstverständlichkeit, sondern ein klarer Beweis
für das entschiedene Engagement der Bundesregierung
für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland.
Selbstverständlich muss sich auch das Innenressort
solidarisch an der Konsolidierung der Staatsfinanzen beteiligen. Daher haben wir in einigen Bereichen Einschränkungen vornehmen müssen. Wir haben uns aber
auch dadurch finanzielle Spielräume verschafft, dass wir
die Verwaltungsstrukturen gestrafft und modernisiert haben.
Wenn Sie sich die Haushaltspositionen im Einzelnen
anschauen, dann stellen Sie fest, dass der Einzelplan 06
insgesamt 4,093 Milliarden Euro umfasst. Das ist gegenüber dem Ansatz im Finanzplan 2004 eine Erhöhung um
168 Millionen Euro oder rund 4,3 Prozent.
Unser besonderes Augenmerk galt selbstverständlich
der Gewährleistung der inneren Sicherheit. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist eine Schwerpunktaufgabe meines Ressorts.
({2})
Ich glaube, angesichts der Bedrohungslage ist das
auch eine pure Selbstverständlichkeit. Aber wir dürfen
angesichts der Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus nicht darüber hinweggehen, dass es den
Menschen auch Sorgen bereitet, wenn ihnen im Alltag
Kriminalität begegnet. Deshalb müssen wir uns besonders auch der Alltagskriminalität zuwenden.
Wir haben für eine wichtige Institution des Bundes,
den Bundesgrenzschutz, gegenüber dem bisherigen Ansatz im Finanzplan 2004 eine Erhöhung um rund
102 Millionen Euro erreicht. Der Gesamtansatz für 2004
beträgt nunmehr rund 2 Milliarden Euro. Das entspricht
einer Steigerung von rund 5,4 Prozent. Darin enthalten
sind die Ausgaben für die Erhöhung der Personalstärke
von rund 30 150 auf 31 600 Polizeivollzugsbeamte, insbesondere für den wichtigen Bereich Sicherheit im Luftverkehr.
Ich will in dem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass es uns gelungen ist, das Hebungsprogramm zur
Verbesserung der Personal- und Planstellenstruktur im
Polizeivollzugsdienst des Bundesgrenzschutzes fortzusetzen. Ich will offen bekennen: Das war in den Chefgesprächen mit dem Herrn Finanzminister nicht immer
eine einfache Übung. Umso froher bin ich darüber, dass
es uns gelungen ist, dieses Hebungsprogramm fortzusetzen. Das ist eine gute Nachricht für die Kolleginnen und
Kollegen beim Bundesgrenzschutz. Für 2004 bedeutet
dies rund 2 860 zusätzliche Beförderungsmöglichkeiten
sowie rund 700 Beförderungsmöglichkeiten aus der regulären Personalfluktuation.
({3})
Aufgrund des guten finanziellen Rahmens haben wir
auch die technische Ausstattung des Bundesgrenzschutzes verbessern können, indem wir die Hubschrauberflotte modernisiert und hochseetüchtige Patrouillenboote
beschafft haben.
Wir haben beim Bundeskriminalamt für eine sehr
gute finanzielle Ausstattung sorgen können. Ich will darauf hinweisen: Im internationalen Vergleich ist die Arbeit des Bundeskriminalamtes hoch anerkannt. Es gehört
zu den besten Einrichtungen der Polizei auf der ganzen
Welt. Deshalb, glaube ich, bedarf es auch einer soliden
finanziellen Ausstattung.
Ich will das Bundeskriminalamt bei dieser Gelegenheit dazu beglückwünschen, dass das neue Auskunftsund Fahndungssystem, Inpol-neu, jetzt seinen Wirkbetrieb aufnehmen konnte. Ich habe in der Presse vieles gelesen, was mit der Realität und den Qualitätsmerkmalen
dieses Systems nichts zu tun hat. Ich wiederhole: Mein
Glückwunsch geht an das Bundeskriminalamt für diese
hervorragende technische Einrichtung,
({4})
die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass sie ausbaufähig ist. Das ist kein abgeschlossenes, sondern ein
entwicklungsfähiges System, das auch weiterentwickelt
werden wird.
Lassen Sie mich von dieser Stelle aus allen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten - das gilt selbstverständlich nicht nur für die Polizei des Bundes, sondern auch
für die Polizei der Länder - für die von ihnen geleistete
Arbeit sehr herzlich danken.
({5})
Wir können froh darüber sein, eine so zuverlässige und
rechtsstaatlich denkende Polizei zu haben, die eine hoch
professionelle und engagierte Arbeit leistet. Sie gewährleistet nicht nur die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Vaterland, sondern auch außerhalb unserer Landesgrenzen.
Es gibt eine große Zahl von Bundeskriminalbeamten
und Bundesgrenzschutzbeamten als Verbindungsbeamte
in vielen Ländern. Es gibt in anderen Staaten Einsätze
von Polizeibeamten des Bundes und der Länder, die ich
in mein Lob einbeziehe. Besonders hervorheben möchte
ich die hervorragende Arbeit der Polizeibeamtinnen und
-beamten in Afghanistan, einem sehr gefährlichen Gebiet.
({6})
Ihre Arbeit findet international allerhöchste Anerkennung. Sie dient zwar in erster Linie der Sicherheit Afghanistans, aber indirekt auch der Sicherheit unseres
Landes.
Bei dem Entführungsfall in Algerien, der sich später
nach Mali verlagert hat und der in den letzten Monaten
viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden hat,
ist ebenfalls die Arbeit vieler Sicherheitsbeamten zu
würdigen. Ich glaube, es ist nicht zuletzt - ich sage sogar: zuallererst - diesen Beamtinnen und Beamten zu
verdanken, dass dieses Entführungsdrama glücklich beendet werden konnte. Deshalb schulden wir auch diesen
Beamtinnen und Beamten großen Dank.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle eine Bemerkung machen.
Wer sich mutwillig einer Gefahr aussetzt und dann
glaubt, wir würden in jedem Fall das Leben unserer Polizeibeamtinnen und -beamten aufs Spiel setzen, der irrt
sich gewaltig.
({8}) - Dr. Peter Ramsauer ({9}): Da haben Sie Recht! Die sollten auch
zahlen!)
Ich kann einige sehr provokante Bemerkungen, die ich
gelesen habe, nicht akzeptieren. Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass niemandem ein
Leid geschehen oder ein Haar gekrümmt worden ist, der
die Leistungen von Touristikunternehmen, die in Algerien tätig sind, in Anspruch genommen hat. Nur die Personen, die glaubten, sich auf eigene Faust in dieses Gebiet begeben zu müssen, sind in Schwierigkeiten
geraten.
({10})
Diese Bemerkung möchte ich als klaren Hinweis für die
Zukunft verstanden wissen.
({11})
Gegenüber vielen anderen Ländern in Europa und in
der Welt haben wir den Vorzug, dass wir ein Bundesamt
für Sicherheit in der Informationstechnik eingerichtet
haben, das meine besondere Aufmerksamkeit findet. Wir
haben den Etat dieses Bundesamtes um rund
52 Millionen Euro erhöhen können. Wir leben in einer
Zeit, in der die moderne Informations- und Kommunikationstechnik auch im Alltag für die Sicherheit unserer
Bürgerinnen und Bürger eine immer größere Rolle spielt
und von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Viele
Länder beneiden uns um diese Institution, die eine gute
Arbeit leistet, worüber ich sehr froh bin.
Zu dem großen Bereich der inneren Sicherheit gehört
der Katastrophenschutz - früher wurde er Zivilschutz
genannt -, den wir nicht vernachlässigen dürfen. Wir
alle wissen, dass wir aufgrund der veränderten Situation
zu einer anderen Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern kommen müssen. Dankenswerterweise haben
Bund und Länder eine Rahmenkonzeption entwickelt,
durch die die Institutionen neu organisiert werden und
durch die die Zusammenarbeit auf eine neue Basis gestellt wird. Auch in diesem Bereich müssen wir selbstverständlich dafür sorgen, dass eine entsprechende Ausstattung vorhanden ist.
Dazu gehört ein Thema, über das wir in diesem Hohen Hause des Öfteren diskutiert haben und wo ich erfreulicherweise von allen Seiten unterstützt wurde: Ich
meine den Aufbau eines modernen digitalen Sprechund Datenfunknetzes. Ich bin froh darüber, dass sich
der Bundeskanzler in meinem Beisein mit den Ministerpräsidenten der Länder geeinigt hat. Diese Einigung
werden wir jetzt umsetzen. Das ist eine schwierige organisatorische Aufgabe.
Ich sage an dieser Stelle: Wenn einer meint, er wolle
sich diesem Vorhaben noch nicht anschließen, dann werden wir mit denjenigen Ländern vorangehen, die dazu
bereit sind. Ich glaube, das ist die richtige Entscheidung.
({12})
- Wir haben eine entsprechende Arbeitsgruppe eingesetzt, die alle organisatorischen Vorbereitungen für die
Ausschreibung trifft. Sie werden sehen, dass wir entgegen einigen Unkenrufen - ich hoffe, Sie beteiligen sich
nicht daran - zumindest in den Regionen, in denen 2006
die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wird, über diesen modernen Polizeifunk verfügen werden.
({13})
- Ich bin ein Optimist und nicht ein Pessimist; das wissen Sie doch von mir.
({14})
- Auch die haushaltsmäßige Absicherung wird stattfinden, Herr Kollege.
Heute beschränken sich Innenpolitik und die Fragen,
die uns dabei beschäftigen, wahrlich nicht auf unsere
nationalen Grenzen. Innenpolitik ist vielmehr im interBundesminister Otto Schily
nationalen Raum, insbesondere im europäischen Raum,
angesiedelt. Auch dort sind wir gut aufgestellt. Wir sind
der Motor der europäischen Innenpolitik; das können wir
mit großem Selbstbewusstsein sagen. Das wird in den
europäischen Mitgliedstaaten anerkannt. Wir haben gerade zur Verbesserung der inneren Sicherheit entsprechende Vorschläge gemacht. Wir sind an vielen Initiativen nicht nur im Rahmen der Europäischen Union,
sondern auch im Rahmen der Zusammenarbeit der G-8Staaten beteiligt.
Meine Damen und Herren, mein Schicksal ist es, dass
ich in den 14 Minuten, die mir zur Verfügung stehen,
alle Bereiche meines Ressorts abdecken soll. Das ist mir
wie immer nicht möglich. Ich sehe auf die Uhr: Es bleiben mir gerade noch 37 Sekunden, um meine Rede abzuschließen.
Deshalb mache ich an dieser Stelle eine Schlussbemerkung, die auf ein Datum zielt, das zwei Jahre zurückliegt. Ich kann mich noch gut erinnern: Am
11. September vor zwei Jahren war ich bei der Vorbereitung meiner Haushaltsrede. Dann erreichte mich die
Nachricht von dieser Katastrophe. Wenn wir an diesen
Tag zurückdenken, erschauern wir alle über diese
schrecklichen Verbrechen.
Wir müssen leider sagen, dass diese Bedrohung ungeachtet großer Erfolge, die wir im Kampf gegen den internationalen Terrorismus erzielt haben, wahrlich
nicht aus der Welt ist. Diese Bedrohung ist nach wie vor
ernst zu nehmen. Aber wir sollten darüber nicht vergessen, dass wir in diesem Kampf auch Erfolge erzielt haben. Dies ist nicht zuletzt auf die Entschlossenheit dieses
Hohen Hauses - dafür bedanke ich mich - zurückzuführen, gesetzliche Grundlagen für unsere Sicherheitsinstitutionen im Kampf gegen diesen Terrorismus zu schaffen.
Dass das nicht umsonst war, entnehme ich einem
Satz, den ich vor einigen Wochen in einer Agenturmeldung gelesen habe:
Ich bin sicher, dass die Sicherheitsgesetze eins und
zwei und die massive Alarmierung der Sicherheitsbehörden nach dem 11. September uns bisher vor
weiteren Anschlägen bewahrt haben.
Das ist ein Satz von Günther Beckstein, dem bayerischen Innenminister. Ich stimme ihm zu.
Das darf aber nicht heißen, dass wir nicht nachschauen - darüber werden wir in den Ausschüssen und
hier in diesem Hause zu reden haben -, ob an der einen
oder anderen Stelle gesetzlicher Ergänzungsbedarf besteht
({15})
und ob es nicht an der einen oder anderen Stelle im administrativen Bereich Veränderungen bedarf. Wir haben
zwar viel erreicht und haben die Zusammenarbeit der Sicherheitsinstitutionen erheblich optimieren können.
Aber sicherlich gibt es noch an der einen oder anderen
Stelle etwas zu tun. An Arbeit fehlt es nicht.
Vor allen Dingen darf es uns nicht an Wachsamkeit
fehlen. Es darf uns auch an einer Erkenntnis nicht fehlen,
nämlich dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht allein durch die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte zu gewinnen ist, sondern nicht
zuletzt durch die geistig-politische Auseinandersetzung.
Deshalb lassen Sie mich mit dem Hinweis schließen,
dass im Rahmen der italienischen Präsidentschaft mein
Kollege und Freund Giuseppe Pisanu dankenswerterweise in diesem Jahr in Rom eine Konferenz der Innenminister unter Beteiligung von Führern aus den großen
abrahamitischen Weltreligionen veranstalten wird. Das
halte ich für ein hervorragendes Vorhaben. Er wird einen
Rabbi aus Deutschland - auch das ist eine gute Idee -,
einen Imam aus Frankreich und einen kirchlichen Würdenträger des Christentums aus Italien einladen. Auch
der Papst wird vermutlich an dieser Konferenz teilnehmen. Das ist eine Gelegenheit, dieser geistig-politischen
Auseinandersetzung eine neue Tiefe zu verleihen. Ich
hoffe, Sie beteiligen sich daran an der Stelle, an der es
Ihnen möglich ist.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Thomas Strobl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir führen diese Debatte heute, am
9. September 2003, zwei Jahre nach den schrecklichen
Anschlägen von New York und Washington. Übermorgen ist der zweite Jahrestag des 11. September 2001. Wir
müssen feststellen, dass unser Land und wir als Deutsche keinesfalls außer Gefahr sind. Wir dürfen in unserer
Wachsamkeit nicht nachlassen. Wir stimmen mit Ihnen
überein, Herr Bundesinnenminister: Vor internationalem
Terrorismus und insbesondere vor gewaltbereitem Islamismus muss nach wie vor gewarnt werden.
In den Düsseldorfer Terroristenprozessen haben Angeklagte ausgesagt, dass es al-Qaida-Terrorzellen unter
anderem in Düsseldorf, Köln, Essen und Krefeld gebe
und dass in der Vergangenheit ein Sprengstoffanschlag
auf die Düsseldorfer Altstadt geplant worden sei. Diese
Nachricht wurde zwar publiziert, aber sie hat lange nicht
die öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, die sie eigentlich verdient hätte. Leider kann es keinen ernsthaften
Zweifel daran geben, dass Deutschland für gewaltbereite Islamisten und für den internationalen Terrorismus
nicht nur Ruhe- und Rückzugsraum war oder ist, was
schon schlimm genug wäre. Wir dürfen uns nicht der
trügerischen Illusion hingeben, wir könnten nicht von
heute auf morgen vom Ruhe- und Rückzugsraum zum
Aktionsraum und zum Ziel terroristischer Angriffe werden.
Der stereotype Hinweis auf eine erhöhte abstrakte
Gefährdungslage reicht zur Gefahrenabwehr nicht aus.
Thomas Strobl ({0})
Selbstverständlich ist es richtig, dass man eine Gefahrenlage nicht unnötig dramatisieren und hierdurch die
Bevölkerung nicht unnötig in Angst und Schrecken versetzen sollte. Richtig ist aber auch, dass die Menschen
einen Anspruch darauf haben, über drohende Gefahren
rechtzeitig, vollständig und wahrhaftig unterrichtet zu
werden.
({1})
Nicht nur das: Die Bevölkerung verlangt von den politisch Verantwortlichen zu Recht, dass sie all jene Maßnahmen ergreifen, die in einem demokratischen Rechtsstaat ergriffen werden können - und nach unserer
Auffassung auch ergriffen werden müssen -, um das
Land so gut wie eben möglich vor terroristischen Angriffen und Verbrechen aller Art zu schützen. Dieser Verpflichtung wird Rot-Grün bis zur Stunde nur unzureichend gerecht.
({2})
Dabei verkennen wir nicht, dass die Bundesregierung
nach dem 11. September 2001 zwei Gesetzespakete zur
Bekämpfung terroristischer Bedrohungen vorgelegt hat,
die - im Übrigen mit den Stimmen der Union ({3})
vom Deutschen Bundestag beschlossen worden sind.
Richtig ist aber auch, dass die Koalition bis zur Stunde
nicht das beschlossen hat, was eigentlich zur Abwehr
terroristischer Gefahren hätte beschlossen werden können und müssen, sondern nur das, worauf man sich mit
Mühe und Not bei Rot-Grün hat einigen können. Das ist
erkennbar zu wenig.
({4})
Es genügt im Übrigen nicht, die Bedrohung durch den
internationalen Terrorismus in regelmäßigen Abständen
wortreich zu beklagen. Was alleine zählt, sind Taten.
Herr Bundesinnenminister, ich habe am vergangenen
Sonntag mit Interesse Ihr Interview im „Tagesspiegel“
gelesen.
({5})
Was Sie zur Biometrie und zur Rasterfahndung ausgeführt haben, findet meine volle Zustimmung. Zwischen
dem, was Sie sagen, und den Taten der Koalition und der
Bundesregierung gibt es allerdings einen himmelweiten
Unterschied. Wenn ich Ihre Aussagen zur Biometrie
nehme und in den Einzelplan 06 schaue, den wir heute
beraten, muss ich beim Thema Bundesgrenzschutz unter
dem Titel 0625 auf Seite 139 lesen:
Gegenüber dem Vorjahr entfallene Titel: Kosten für
eine biometrisch unterstützte Grenzkontrolle.
Das ist in diesem Punkt zu wenig. Sie haben soeben das
Thema Digitalfunk angesprochen. Auch hier ist festzustellen, dass im Haushalt dafür keine Mittel eingestellt
sind. Dies können wir so nicht akzeptieren.
({6})
Wir können Ihnen, Herr Bundesinnenminister, im Übrigen nicht zustimmen, wenn Sie sagen, ein Beitrag zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus sei der
EU-Beitritt der Türkei. Dies ist ein Argument, bei dem
ich Ihnen ehrlich gesagt nicht folgen kann. Zur Bekämpfung des Terrorismus brauchen wir ein weiteres
Antiterrorpaket und eine Änderung des Grundgesetzes,
um auf sicherer verfassungsrechtlicher Grundlage die
Bundeswehr im Inland zur Abwehr schwerwiegender
Gefahren dann einsetzen zu können, wenn nur sie, nicht
aber unsere Polizeikräfte die Fähigkeiten dazu hat. Das
angekündigte Luftpolizeigesetz alleine reicht dafür nicht
aus.
({7})
Ruhig bis zur Untätigkeit ist es in den Reihen der Koalition aber nicht nur beim Thema Terrorbekämpfung
geworden, sondern auch beim Thema Zuwanderung
und Integration.
({8})
Vorbei sind die Zeiten, in denen der Innenminister mit
einem geradezu kuriosen Argument für das rot-grüne
Zuwanderungsgesetz geworben hat.
({9})
Zur Erinnerung: Nach zunächst erfolgreichem Verfassungsbruch durch den damaligen Bundesratspräsidenten
Wowereit war das rot-grüne Zuwanderungsgesetz zumindest schon teilweise in Kraft getreten. Endgültig
sollte dies am 1. Januar dieses Jahres geschehen. Nachdem im ersten Halbjahr 2002 die Asylbewerberzahlen
gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres zurückgegangen waren, wusste der Bundesinnenminister mit
der ihm eigenen Brillanz hierfür sofort den wahren
Grund. Originalzitat des Bundesinnenministers Otto
Schily:
Offensichtlich haben die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes und die intensive Diskussion
auch nach außen hin deutlich gemacht, dass missbräuchliche Asylaufenthalte in Deutschland künftig
erheblich rascher beendet werden können. Nach
der Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes ist mit
einem weiteren signifikanten Rückgang der Zahl
der Asylanträge zu rechnen. Wer - wie die Union das Zuwanderungsgesetz aus wahltaktischem
Kalkül ablehnt, verhindert eine wirkungsvolle
Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung in
Deutschland.
({10})
Thomas Strobl ({11})
Im Juli vergangenen Jahres haben Sie, Herr Bundesinnenminister, noch einen draufgesetzt - ich zitiere -:
Die weiter rückläufigen Zahlen sind die Vorauswirkungen des Zuwanderungsgesetzes.
({12})
Mit In-Kraft-Treten des Gesetzes wird sich dieser
Trend noch verstärken.
Am 18. Dezember vergangenen Jahres hat das Bundesverfassungsgericht das Zuwanderungsgesetz für
verfassungswidrig und nichtig erklärt.
({13})
Wäre auch nur ein einziger Satz des Innenministers richtig gewesen, hätten die Asylbewerberzahlen nach seiner
Logik sprunghaft ansteigen müssen. Tatsächlich ist jedoch genau das Gegenteil eingetreten. Sie sind nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes noch
weiter zurückgegangen. In den offiziellen Verlautbarungen seines Ministeriums hieß es in der Folgezeit diesbezüglich nur noch kurz und trocken: Asylbewerberzahl
weiter rückläufig; Asylbewerberzahlen auch im April
rückläufig; Asylbewerberzahlen auf geringstem Stand
seit 1987; Asylzugang unverändert auf niedrigem Niveau usw. usw.
({14})
Einen Hinweis auf das Zuwanderungsgesetz konnte man
in Ihren Pressemitteilungen, Herr Bundesminister
Schily, in der Folgezeit erstaunlicherweise nicht mehr
finden. Gäbe es wirklich gute und überzeugende Argumente für das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, hätte der
Bundesinnenminister sicherlich darauf verzichtet, ein so
kurioses Argument wie die Vorauswirkung des Zuwanderungsgesetzes auf Asylbewerberzugangszahlen zu
strapazieren.
({15})
Der Vorgang zeigt, dass es selbst für den Bundesinnenminister schwer ist, Argumente für das rot-grüne Zuwanderungsgesetz zu finden.
Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, sondern
leider - das ist wahr - einen unübersehbaren Mangel an
Integration.
({16})
Deshalb ist nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration das Gesetz der Stunde.
({17})
Wir wollen die ohnehin große Zuwanderung nach
Deutschland steuern und begrenzen und in puncto Integration weit mehr tun, als Rot-Grün bislang zu tun bereit
ist.
({18})
In Kürze werden wir im Vermittlungsausschuss die
Verhandlungen über das Gesetz beginnen. Unsere Änderungsvorschläge liegen auf dem Tisch. Wir als Union
werden sachlich und konstruktiv verhandeln. Es ist nun
an der Koalition, auf Argumente wie das eben zitierte
von Herrn Bundesminister Schily zu verzichten und vor
allen Dingen die entscheidende Frage zu beantworten,
ob man nicht nur zu redaktionellen und kosmetischen,
sondern auch zu substanziellen Änderungen des Gesetzes bereit ist.
Einem Gesetz, das Zuwanderung nach Deutschland
weiter ausweiten würde, einem Gesetz, das bei der Integration weit hinter dem zurückbleibt, was dringend getan werden müsste, werden wir nicht zustimmen.
({19})
Wir werden einem Gesetz, das unserem Land schadet
und nicht nützt,
({20})
nicht zustimmen. Einem Gesetz, welches letztlich Ausländerfreundlichkeit nicht fördert, sondern ausländerfeindlichen Parolen Zulauf verschafft, können und werden wir nicht zustimmen, heute nicht und morgen auch
nicht.
({21})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({22})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Ereignis der vergangenen Jahre hatte so tief greifende Auswirkungen auf die Innenpolitik wie der 11. September.
Die schrecklichen Anschläge des 11. September haben
vor zwei Jahren - der Herr Innenminister hat daran erinnert - hier zu einer Unterbrechung der Beratungen über
den Haushalt des Innenministeriums, geführt. Ich denke,
dass die rot-grüne Koalition gerade im gesetzgeberischen Bereich alles Notwendige getan hat, um eine
schnelle und geschlossene Antwort auf diese neue Herausforderung zu finden.
In der Diskussion um den 11. September vermisse ich
die Einbeziehung der vielen Fachtagungen und Beiträge
von Fachleuten, die es in den vergangenen zwei Jahren
dazu gegeben hat. Ich habe viele Dinge nachgelesen.
({0})
In all diesen Diskussionen ist mir deutlich geworden,
dass nach dem 11. September von einem erweiterten
Sicherheitsbegriff ausgegangen wird. Ich merke, dass
die insbesondere von der CDU/CSU vertretene traditionelle Meinung, Innenpolitik bedeute, nationale Gesetze
immer weiter zu verschärfen, nichts, aber auch gar nichts
mit dem erweiterten Sicherheitsbegriff zu tun hat, der
auf den Fachtagungen von Sicherheitsexperten aus den
verschiedensten Richtungen vertreten wird.
Ihre Innenpolitik orientiert sich an Grundsätzen, die
in Friedenszeiten gut waren. Wir haben aber nicht nur
die Anschläge des 11. September gehabt. Wir erleben
auch zunehmend regionale Konflikte und leider auch zunehmende Kriege. Es ist einfach so, dass die innere
Sicherheit Deutschlands heute auch zum Beispiel in Afghanistan verteidigt wird.
Zu einem erweiterten Sicherheitsbegriff gehört - das
hat der Innenminister hier auch noch einmal sehr deutlich gemacht - heute auch der Dialog zwischen den Religionen und ein Ausgleich zwischen Arm und Reich.
Diese Erkenntnis fehlt in Ihrem Denken und in Ihren
Überlegungen. Die alte, ausgrenzende Debatte zum Zuwanderungsgesetz, die Sie, Herr Strobl, gerade wieder
eröffnet haben, gehört dagegen gerade nicht dazu.
({1})
Deutschland ist ein Einwanderungsland; das ist
Realität. Der Islam ist die drittgrößte Religion in Europa.
Ich denke, ein EU-Beitritt der Türkei würde einen wichtigen Weg eröffnen und einen Beitrag dazu zu leisten,
dass der Islam und die Kultur der westlichen Rechtsstaaten, die wir hier im guten alten Europa haben, miteinander vereinbar werden.
({2})
Ich bitte Sie, das bei dieser Auseinandersetzung um das
Zuwanderungsgesetz zu bedenken.
Sie haben hier in Ihrer Rede deutlich gemacht, dass
Sie in weiteren Verhandlungen eine Verschlechterung
des jetzt bestehenden Ausländergesetzes erreichen wollen. Das macht für uns keinen Sinn. Das Ausländergesetz ist veraltet. Wir brauchen in Deutschland ein modernes Zuwanderungsgesetz. Wir sagen deutlich: Wie alle
gesellschaftlichen Gruppen - von der großen Mehrheit
der Kirchen, Gewerkschaften und insbesondere auch der
Wirtschaft wird dies so vertreten - wollen auch wir eine
Verbesserung des Status quo.
({3})
Herr Strobl, ich möchte noch auf zwei andere interessante Bereiche zu sprechen kommen, die Sie angesprochen haben, nämlich auf den Digitalfunk und die Biometrie. Ich bin nicht ganz glücklich damit, wie in diesem
Haushalt die Bund-Länder-Finanzierung gelöst wurde.
Ich denke, dass wir uns einmal Gedanken darüber machen müssen, ob es so weitergehen kann, dass der Bund
die Hauptlasten für die Auslandseinsätze der Polizei
übernimmt und die Bereitschaftspolizeien der Länder
weiterhin mit hohen Summen unterstützt werden. Es
kann nicht sein, dass die Bundesländer die Inhalte bestimmen - Sie wollen bestimmen, mit welcher Technik
der Digitalfunk eingeführt werden soll - und der Bund,
bitte schön, bezahlen soll.
({4})
Das funktioniert so nicht. Ich bin sehr für eine andere
Lösung.
({5})
- Das will ich Ihnen sagen. Gerade in Bayern gab es eine
Auseinandersetzung darüber. Dort heißt es: Wir schützen
unsere Grenzen in einem vergrößerten Europa selbst
- das sollen die Gebirgsjäger tun - und deshalb müssen
wir Wert darauf legen, dass wir beim Digitalfunk denselben Standard haben wie Österreich. - Welches System
der BGS oder die anderen Länder einführen, ist Bayern
schnurzegal. Sie müssen einmal etwas mehr ins Detail
gehen!
Ich möchte auch etwas zur Biometrie sagen und darauf hinweisen, vor welcher Auseinandersetzung wir hier
stehen. Wir haben als Grüne längst beschlossen, dass ein
biometrisches Merkmal in den Pass aufgenommen werden kann. Das ist schon lange kein Streitpunkt mehr.
Priorität hat für mich die Frage der Finanzierung. Wir haben in Deutschland ungefähr 7 000 Einwohnermeldeämter; meiner Meinung nach sind das erheblich zu viele. Ich
möchte von Ihnen wissen, warum in diesen Zeiten der
knappen Kassen - dies gilt ja nicht nur für den Bund, sondern auch für die Länder - dieses Thema für Sie Priorität
hat. Unser deutscher Pass ist absolut fälschungssicher.
Die USA haben gerade beschlossen, dass der EU-Pass
den Sicherheitsbedürfnissen der USA entspricht. Warum
sollten wir heute 7 000 Einwohnermeldeämter und die
Polizei, die ja entsprechende Lesegeräte bräuchte, mit einer nicht ausgereiften Technik ausstatten?
Ich möchte erst einmal wissen, an welches Merkmal
gedacht wird.
({6})
Wir Grüne wollen eine Sicherheitstechnik, die nicht zu
einem Ausbau der Überwachung führt. Wir stimmen für
die Einführung eines biometrischen Merkmals, wenn es
Sinn macht, wenn die Finanzierung möglich und es notwendig ist. Zuvor habe ich aber noch eine Reihe von
Fragen.
({7})
Meine Redezeit ist leider gleich zu Ende. Herr Strobl,
ich habe mich darauf eingelassen, auf Ihre Rede zu antworten.
Ich möchte zum Schluss ein Wort zu den Beamtinnen
und Beamten, insbesondere zu den Polizeibeamten und
Soldaten sagen. Es ist uns schwer gefallen, die Novelle
zum Sonderzuwendungsgesetz mit ihren Kürzungen
auf den Weg zu bringen. Ich möchte hier auch im Namen
meiner Fraktion deutlich machen: Wir möchten über diesen Bereich, über eine soziale Staffelung und die Sicherung von Leistungsprämien, im Innenausschuss ein offenes Gespräch führen. Wir strecken gegenüber den
Gewerkschaften und dem Deutschen Beamtenbund zu
einem konstruktiven Dialog die Hand aus.
Es wäre gut, wenn wir im Innenausschuss zu all den
Fragen der Reform des öffentlichen Dienstrechtes in
großer Einigkeit sehr schnell eine Anhörung vereinbarten, um über fundierte Vorschläge beraten zu können.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich danke
Ihnen.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Stokar ist immerhin lernfähig; denn ich darf
daran erinnern, dass die Anhörung, die die FDP zu der
geplanten Reform im Beamtenrecht und den einschneidenden Kürzungen bei der Beamtenbesoldung beantragt
hatte, von Ihnen vor wenigen Wochen noch abgelehnt
worden ist. Wenn Sie nun plötzlich doch dazu bereit
sind, dann kann ich das nur begrüßen.
({0})
In einer Haushaltsdebatte wie der heutigen ist zu
Recht von mehreren Rednern der Opposition immer wieder der Rücktritt dieser Bundesregierung oder einzelner
Minister gefordert worden. Vielleicht wird es Sie daher
überraschen, dass ich sage: Wenn diese Bundesregierung
schon nach wie vor im Amt ist, bin ich froh, dass ein
Wechsel im Amt des Bundesinnenministers in der Sommerpause nicht in der Weise vollzogen worden ist, wie
dies in manchen Teilen der Presse angekündigt worden
war.
({1})
Beizeiten wurde kolportiert, dass man den SPD-Generalsekretär in dieses Amt wegloben wolle, weil man mit
ihm und seiner Amtsführung als Generalsekretär nicht
mehr einverstanden sei.
({2})
Das hätte dieses Bundesinnenministerium nicht verdient. Dazu ist es zu wichtig und die Aufgabe zu verantwortungsvoll. Dafür braucht man schon einen Minister
von politischer Statur. Das heißt nicht, Herr Minister
Schily, dass wir mit allem, was sich in der Innenpolitik
abspielt, zufrieden sein könnten.
({3})
In der kurzen Zeit kann ich nur einige wenige Kritikpunkte ansprechen: Es zeugt schon von einem merkwürdigen Verständnis von der Bedeutung des Amtes des
Bundesdatenschutzbeauftragten - dies hat aber weniger der Innenminister als vielmehr sein grüner Koalitionspartner zu verantworten;
({4})
denn dieser hat das Vorschlagsrecht für die Neubesetzung -, dass die grüne Fraktion nicht in der Lage gewesen ist,
({5})
termingerecht einen Vorschlag für die Nachfolge einzureichen. Sie wissen, dass die Amtszeit von Dr. Jacob abgelaufen ist und dass wir aufgrund Ihres Zögerns erst
jetzt in der Lage sind, über seinen Nachfolger zu beraten
und zu entscheiden. Dabei wird - dafür sehe ich deutliche Anzeichen - der Datenschutz, so wie er von
Dr. Jacob verdienstvollerweise vertreten worden ist, in
seinem Stellenwert erhalten und vielleicht sogar gesteigert werden müssen.
({6})
Im Zuge der innenpolitischen Debatte der letzten
zwei Jahre haben - nach dem 11. September war das völlig verständlich - in der alten Abwägung zwischen staatlichen Eingriffsbefugnissen und der Achtung der Privatsphäre die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten deutlich an
Gewicht gewonnen. Daher ist es nicht falsch, wenn nun
allmählich eine Gegenbewegung einsetzt, und zwar unabsichtlich von denjenigen gefördert - ich meine, es waren nicht die Innenminister, sondern die Justizminister
der Länder -, die den absurden Vorschlag in die Öffentlichkeit gebracht haben, dass man künftig Schornsteinfeger - oder wie wir sagen: Kaminkehrer - und Hausmeister dazu verpflichtet, Wohnungen zu verwanzen. Ich
bringe das als ein Beispiel dafür, dass seither in der Bevölkerung die Sensibilität für den Schutz der Privatheit
wieder gestiegen ist; denn dieser Vorschlag ist vielen zu
weit gegangen. Deswegen wird diese Diskussion um das
alte Spannungsverhältnis neu zu führen sein.
({7})
Übrigens sieht man auch an anderen Beispielen in der
Praxis, dass manches, was man auf den Weg gebracht
hat, vielleicht doch nicht so wirkungsvoll ist oder zu
weit geht. Ich habe mir von der Justizministerin
Werwigk-Hertneck sagen lassen, dass in BadenWürttemberg Videokameras zur Überwachung öffentlicher Plätze wieder abgebaut werden, weil sie nicht den
gewünschten Erfolg erbracht haben und sich die Kriminalität auf andere Plätze verlagert.
({8})
Zu weit gegangen sind Sie, eine sehr große Koalition
von SPD, Grünen und Union, bei der Neugestaltung des
Waffengesetzes. Das ist so bürokratisch geblieben wie es
immer war, aber es enthält auch Neuerungen, die rechtsstaatlich bedenklich sind. Bei dem Begriff der Unzuverlässigkeit, der für den Jagdschein von Bedeutung ist,
werden neuerdings Straftaten herangezogen, die keinerlei Bezug zum Waffenführen haben.
({9})
Die Regelung ist so ausgestaltet worden, dass Straftaten
herangezogen werden, die mehr als zehn Jahre zurückliegen. Das halte ich wirklich für rechtsstaatlich bedenklich.
({10})
Die FDP vertritt in der Innenpolitik immer die Auffassung, dass wir weniger neue Gesetze brauchen als
vielmehr eine optimale Ausstattung der Sicherheitsbehörden. Deswegen ist die Einführung des Digitalfunks
sehr wohl ein Thema, egal ob man in diesem Haushaltsentwurf schon dafür Mittel benötigt oder nicht. Auf keinen Fall darf Wirklichkeit werden, was heute in der
„Welt“ dargestellt worden ist, nämlich dass man mit der
Einführung des Digitalfunks bis zum Jahr 2010 warten
müsste. Ich will der Fairness halber aber auch sagen:
Dies ist ein kompliziertes Thema, das nicht in der alleinigen Verantwortung des Bundesinnenministers liegt,
sondern auch der Mitarbeit der Länder bedarf.
Zwei Anmerkungen noch am Schluss in Kürze. Frau
Stokar von Neuforn hat am Ende das Beamtenrecht angesprochen. Ich will nur eines sagen: All die vollmundigen Versprechen, Öffnungsklauseln im Tarifbereich würden auch benutzt werden, um Verbesserungen in der
Besoldung einzuführen, haben sich nicht bestätigt.
({11})
Es handelt sich vielmehr um eine reine Sparmaßnahme,
was wir schon immer vorhergesagt haben.
Ein letzter Punkt - das ist in dieser Debatte noch nicht
erwähnt worden -: Ich bin wegen des Art. 28 Abs. 2 des
Grundgesetzes der Meinung, dass auch wir als Innenpolitiker Verantwortung für die Selbstverwaltung der Kommunen und damit für die Finanzausstattung der Kommunen tragen. Sie gehen leider den völlig falschen Weg,
wenn Sie die Freiberufler in die Gewerbesteuer einbeziehen
({12})
und somit entweder deren Steuerlast erhöhen wollen
oder dort, wo diese verrechnet wird, mehr Bürokratie
einführen, was wir auch nicht brauchen können.
({13})
Ergreifen Sie doch die Chance, sich auf das Modell der
FDP einzulassen und durch einen höheren Mehrwertsteueranteil und ein eigenes Hebesatzrecht auf die
Einkommen- und Körperschaftsteuer eine verlässliche
Finanzausstattung der Kommunen herbeizuführen.
({14})
Das wäre ein Modell für eine vernünftige Innenpolitik,
in der die FDP die ihr gemäße Rolle mit Erfolg ausüben
würde, nämlich zwischen Ihren fehlerhaften Ansichten
zu vermitteln, die leider sowohl die SPD als auch die
CDU haben. Dasselbe gilt für das, was Herr Strobl zum
Zuwanderungsgesetz gesagt hat. Auch dazu liegt ein
Kompromissvorschlag der FDP vor. Wir laden Sie ein,
darauf zuzugehen.
({15})
Denn Sie sehen: In der Innenpolitik ist viel zu tun. Wir
beteiligen uns an der Debatte wie immer konstruktiv und
zielführend.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Max Stadler, als ehemaliger
Kommunalpolitiker, aber auch als immer noch zugelassener Rechtsanwalt und damit Freiberufler stimme ich
ausdrücklich zu, dass wir den Kommunen durch eine
Revitalisierung der Gewerbesteuer Finanzkraft zurückgeben wollen, aber bitte schön nicht mit einem Schonpark und einem Artenschutz für Freiberufler. Auch die
gehören dazu, aber auch die Kapitalgesellschaften sollen
sich beteiligen.
({0})
Ich darf mich etwas flapsig äußern, weil ich selber dieser
Berufsgruppe angehöre.
Ansonsten hat bei den Vorrednern die Anerkennung
der Politik bzw. die Zustimmung zur Politik des Bundesinnenministers und auch zu diesem Haushalt überwogen.
({1})
Deswegen wird es Sie nicht wundern, dass sich auch
die rot-grüne Koalition mit diesem Haushaltsplanentwurf wie auch mit dem Minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zufrieden erklärt
({2})
und ihnen ausdrücklich für all die Mühe dankt, die in
diesem Entwurf zum Ausdruck gekommen ist.
Lieber Herr Zeitlmann und lieber Herr Strobl, Sie haben geglaubt, zwei Punkte haushaltstechnisch kritisieren
zu können. Dazu möchte ich Ihnen eine Erwiderung zuteil werden lassen; denn vielleicht sind Sie wenigstens
bereit, die Faktenlage zur Kenntnis zu nehmen.
Sie haben bemängelt, dass es keine Haushaltsansätze
im Bereich des Digitalfunks gebe. In der Tat weist
Seite 14 des Einzelplans einen Leertitel aus. Die Frage
ist aber, warum das so ist. Der Einzelplan enthält diesen
Leertitel, weil der maßgebende Beschluss der Ministerpräsidenten erst nach der Drucklegung erfolgte und dieser Titel erst jetzt mit Leben erfüllt werden kann.
Schließlich kann man in diesem Bereich nicht im Wege
des vorauseilenden Gehorsams tätig werden.
({3})
Auch was die Biometrie angeht, liegen Sie ein bisschen schief. Wir haben für den Einsatz der Biometrie am
Flughafen Frankfurt im Haushaltsjahr 2003 2 Millionen
Euro und 2004 500 000 Euro veranschlagt.
Im Zusammenhang mit dem Haushalt des BSI darf
ich Ihnen kurz vortragen, für welche Studienmaßnahmen
Mittel vorgesehen sind: BioFace IV und V, BioISOStandardisierungsaktivitäten und smartcardbasierte biometrische Zutrittskontrolle, abgekürzt BioKON.
({4})
Soweit hier aber darüber diskutiert wird, dass noch
sehr viel Entwicklungsarbeit vor uns liege und dass alles
so unklar sei, möchte ich darauf hinweisen - das möchte
ich meiner Kollegin Stokar sagen -: Beim Besuch des
Innenausschusses bei der Bundesdruckerei durften wir
doch miterleben, wie technisch zuverlässig die Gesichtsfelderkennung schon ist. Wenn der gute Eindruck sicher
auch damit zusammenhing, dass es bei einer sympathischen Person, nämlich unserer Ausschussvorsitzenden,
vorgeführt wurde, so denke ich doch, dass wir gar nicht
mehr so viel Pionierarbeit leisten müssen.
({5})
- Ich bin dafür. Das halte ich für die am wenigsten einschneidende Maßnahme.
({6})
Ich schäme mich meines Gesichtes nicht und kann anderen nur empfehlen, das gleiche gemäßigte Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Wenn man erkannt wird,
ist es doch vergleichsweise egal, ob es durch einen
Freund oder eine Videokamera geschieht oder ob ein
Polizeibeamter feststellt, dass eine Person mit dem Gesicht auf ihrem Ausweis übereinstimmt. Mit einem haben Sie nämlich Recht, Frau Stokar: Wir haben bei der
Bundesdruckerei auch erfahren, dass unsere Personaldokumente absolut fälschungssicher sind. Problematisch
ist gegebenenfalls eher die Identität der Person, auf die
das Dokument ausgestellt ist.
({7})
Die 4,093 Milliarden Euro, die im Einzelplan 06 veranschlagt sind, machen zwar lediglich 1,63 Prozent des
Gesamthaushaltes aus, aber wir von der rot-grünen Koalition sind letztlich der Überzeugung, dass der so gestaltete Haushalt maßvoll ist und den Reformnotwendigkeiten unserer Gesellschaft im Kompetenzbereich des
Innern durch manche Straffungen und organisatorische
Änderungen gerecht wird. Er vernachlässigt nicht die innere Sicherheit - das haben Sie auch anerkannt - vor allem aber gefährdet er auch nicht die Freiheitsrechte des
Bürgers.
Ich denke, es ist bemerkenswert, dass bei einer Steigerung von saldierten 168 Millionen Euro - nämlich
4,3 Prozent für den gesamten Einzelplan - der Personalbestand im Geschäftsbereich des BMI seit 1998 um insgesamt 17,2 Prozent reduziert werden konnte. Allein im
Ministerium selbst wurden rund 2,4 Prozent des Personalkörpers abgebaut. Das allein ist an sich noch kein hoher Wert. Wenn es - auch im Interesse der Beschäftigten - um soziale Gerechtigkeit geht, bedeutet dies, dass
die breiten Schultern mehr tragen sollen und müssen als
die schwachen und dass wir allen gesellschaftlichen
Gruppen nur das zumuten können, wozu wir auch selbst
bereit sind.
Es heißt aber - etwa im Bereich des BGS oder beim
BSI - auch, dass wir an neuen oder erweiterten Aufgaben orientiert sehr wohl Personaleinsparungen oder Vereinfachungen vornehmen und entsprechende Zuwächse
dort zu verzeichnen sind, wo sie nötig sind. Das ist meines Erachtens in der Tat Ausdruck eines verantwortungsvollen Sparens.
Noch nicht ausreichend erwähnt wurde an dieser
Stelle, dass im Rahmen der Umsetzung des Beschlusses
der Bundesregierung vom 9. Juli 2003 unter Federführung des BMI eine Reihe von Maßnahmen zum Bürokratieabbau auf folgenden Handlungsfeldern auf den
Weg gebracht worden ist: Arbeitsmarkt und Selbstständigkeit, Wirtschaft und Mittelstand, Forschung und
Technologie, Zivilgesellschaft und Ehrenamt, Dienstleistungen und Bürgerservice. Das BMI selbst ist mit
acht Projekten an der Initiative beteiligt, die allesamt
bürgerorientiert sind und die gute Fortschritte machen,
indem sie die amtliche Statistik vereinfachen, das Bundesreisekostengesetz novellieren, die Reform des Tarifrechts im öffentlichen Dienst oder beispielsweise auch
eine Vereinfachung des Melde- und des Passwesens vorantreiben.
({8})
Zur inneren Sicherheit wurde angesichts eines historischen Datums einiges gesagt. Ich bitte meinen Kollegen und Freund Gerold Reichenbach um Verständnis,
wenn ich deswegen die Bereiche THW, Katastrophenund Zivilschutz bei der Gelegenheit ausklammere und in
den verbleibenden drei Minuten Redezeit abrupt zu einem anderen Feld komme.
Jetzt zitiere ich nicht wie Otto Schily Herrn
Beckstein, sondern jetzt zitiere ich Otto Schily selbst. Er
hat einmal gesagt:
Wer unsere Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit.
Er hat damit gemeint, dass wir uns Gedanken darüber
machen müssen, in welcher Vielfalt im musischen Bereich, bei der Sportförderung oder bei Maßnahmen zur
politischen Bildung, schließlich aber auch bei Maßnahmen der Integrationsleistung und damit bei Sprachkursen Leistungen im Sinne der Gewährleistung des inneren
Friedens erbracht werden können.
({9})
Jetzt ruft Herr Burgbacher mir zu und gibt mir das
nächste Stichwort: Viel zu wenig! - Ich verkneife mir an
der Stelle allzu ausführliche Bemerkungen zu den bemerkenswerten Höhenflügen, Herr Kollege Strobl, zu
denen Sie eben angesetzt haben. Ich habe den Eindruck
gehabt, Sie haben sich da ein bisschen verheddert. Das
klang so, als hätte der Bundesinnenminister sagen müssen: „Um Gottes willen, jetzt kommen mehr Asylbewerber, weil das Zuwanderungsgesetz nicht kommt“. Vielleicht haben Sie aber auch umgekehrt allen Ernstes die
Auffassung vertreten - ich habe gedacht, das sei ein
Hörfehler -, das Zuwanderungsgesetz und das neue Ausländerrecht seien ausländerfeindlich. Das war, mit Verlaub gesagt, krauses Zeug und nicht sehr logisch.
({10})
Das diente dazu, Redezeit zu füllen. Ich bin fest davon
überzeugt, dass selbst Sie das besser können.
Wir wollen zurückkommen zum Haushalt. Im Bereich des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, BAFl, ist das Plansoll von
128 Millionen Euro im Jahre 2002 auf 298 Millionen
Euro im Jahre 2003 erhöht und im vorliegenden Haushaltsentwurf nur noch ganz geringfügig reduziert worden. Mit In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes
wird das BAFl zu einem umfassenden Kompetenzzentrum für Migration und Integration ausgebaut. Zur Umsetzung ist vorgesehen, dem dann so genannten BAMF,
also dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, für
die Durchführung von Sprachfördermaßnahmen insgesamt 171,5 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
Mit dem Förderkonzept wird die Integration der Ausländer und Spätaussiedler, für die der Bund die alleinige
Verantwortung trägt, aufeinander abgestimmt. Künftig
wird es daher möglich sein, für beide Zuwanderungsgruppen die gleichen Kurse anzubieten und eine gemeinsame Beschulung durchzuführen. Mittel zur Integration
von Ausländern stehen auch dem BMI seit dem Jahr
2000 zur Verfügung, nämlich zunächst 511 000 Euro,
dann aufwachsend bis zu 1 Million Euro im Jahre 2004.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darüber hinaus widmen wir uns, widmet sich das BAMF und widmet sich auch der Haushalt Projekten wie etwa der Beratungshilfe für Ausländerrecht und Staatsbürgerschaft,
der Integration muslimischer Frauen und Jugendlicher,
der Stärkung von Selbsthilfepotenzialen von Migranten,
der Förderung des Zusammenlebens im Wohnumfeld,
der Stärkung des ehrenamtlichen Engagements, dem interkulturellen Konfliktmanagement und der Öffentlichkeitsarbeit. Das alles mag ja noch zu wenig sein. Die
SPD-Fraktion hätte es gerne, wenn wir ein Jahrzehnt der
Integration, auch der nachholenden Integration, haushaltsmäßig so unterlegen könnten, dass wir bei der Behebung von Defiziten wesentlich vorankommen. Im Übrigen erkennen Sie diese Defizite heute an, aber gerade
Sie haben die Defizite in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit - sträflicherweise, wie ich finde - selbst verursacht.
({11})
- Diese Platte mögen Sie nicht hören, aber es ist ja wahr.
Lassen Sie sich nun doch einmal loben, wenn ich
sage: Wenigstens die Selbsterkenntnis hinsichtlich des
Problems ist da. Sie können jetzt aber nicht sagen: „Haltet den Dieb“; denn wir können unter schwierigen Haushaltsbedingungen weniger Geld zur Verfügung stellen,
als wir eigentlich wollen. Das können Sie jedenfalls
nicht als Mittel und als Argument nehmen, um das Zuwanderungsgesetz auszubremsen. Deswegen bin ich guter Hoffnung, dass wir uns im Vermittlungsverfahren auf
einen vernünftigen Kompromiss werden einigen können - vielleicht und gerade auch mithilfe der FDP; solche Angebote nehmen wir gerne an.
Insgesamt richte ich noch einmal einen Dank an den
Minister und an alle Mitarbeiter. Sie haben die volle Unterstützung seitens der Koalitionsfraktionen für diesen
Haushalt.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute über den Einzelplan 06, zu dem auch der
wichtige Bereich des Sports gehört. Herr Minister
Schily, dass Sie keine Zeit gefunden haben, etwas zu diesem Bereich zu sagen, möchte ich Ihnen angesichts Ihrer
knappen Redezeit nicht vorwerfen.
({0})
Ich werfe Ihnen auch nicht vor, dass Sie kein Herz für
den Sport hätten. Im Gegenteil: Ich attestiere Ihnen sogar, dass Sie eines haben. Aber, Herr Minister, der Sport
braucht nicht nur Ihr Herz, sondern auch Ihren Daumen
und Ihren Zeigefinger; denn darum geht es bei den Haushaltsberatungen.
In diesem Zusammenhang lohnt sich vielleicht auch
ein Blick über den Tellerrand hinaus. Bei der vorangegangenen Debatte über den Einzelplan 17 ist darauf hingewiesen worden, wie wichtig der Koalition die Ganztagsbetreuung ist und dass trotz der katastrophalen
Haushaltslage - man muss fast von organisiertem Staatsbankrott reden - zusätzliches, frisches Geld für solche
ideologischen Lieblingsprojekte zur Verfügung steht.
Deshalb bitte ich Sie, Herr Minister, dass Sie nicht nur in
Sonntagsreden darauf hinweisen, wie wichtig der Sport
für unsere Gesellschaft ist, wie groß seine Erziehungsleistungen, die in den Vereinen stattfinden, bei den Jugendlichen sind und wie sehr sein Beitrag zur Integration
zu würdigen ist, sondern dass Sie auch den Sportetat entsprechend ausstatten.
({1})
Wer sich über den Zustand des deutschen Sports kundig machen wollte, der hat in den vergangenen Tagen
reichlich Gelegenheit dazu gehabt: die LeichtathletikWM in Paris, das Fußballspiel gegen Island und die Ausfälle unseres Nationaltrainers. Gerade jetzt sind unsere
Basketballer bei der EM in Schweden ausgeschieden.
Bei der Universiade in Daegu waren wir froh, dass
Deutschland überhaupt im Medaillenspiegel erschienen
ist. Man kann diese Beispielkette beliebig fortsetzen.
Die Menschen fragen, wo eigentlich die Ursachen dafür liegen. Liegt es an mangelndem Fortune oder an der
Bundesregierung? Spaß beiseite, es liegt nicht nur an der
Bundesregierung. Aber es gibt - hören Sie gut zu, Herr
Wiefelspütz - folgende drei Parallelen zwischen der Situation im Sport und den Etatberatungen bzw. der Situation im Bundeshaushalt: Viel zu lange hat man von der
Substanz gelebt und sich in Sicherheit gewiegt, ein
Stück weit das Erbe vervespert. Viel zu lange hat man
sich vor einer realistischen Bestandsaufnahme gedrückt.
Und viel zu lange hat man es versäumt, umzusteuern, damit auch künftig Erfolge gesichert sind; denn Erfolge
fallen weder im Sport noch in der Finanz- und Haushaltspolitik vom Himmel.
({2})
In Ihrem Schwerpunktpapier zum Sporthaushalt ist zu
lesen:
Auch die Sportförderung leistet ihren Beitrag zur
Konsolidierung des Bundeshaushalts.
Die Sportler dürfen sich also freuen. Auch wenn keine
sportlichen Leistungen mehr möglich sind, leisten sie
doch etwas für den Bundeshaushalt. Die doppelte Ironie
wird besonders deutlich, wenn man fragt, was eigentlich
konsolidiert wird; denn die Verschuldung wächst Jahr
für Jahr. Sie nimmt 2003 zu und steigt 2004 ins Unermessliche. Wenn gespart wird, dann tut man es an der
falschen Stelle, zum Beispiel beim Sport; denn dieser ist
bereits bis auf den letzten Blutstropfen ausgequetscht.
({3})
- Die werden auch nicht von Herrn Schily bezahlt.
Die Sportförderung soll im Jahr 2004 gerade noch
110 Millionen Euro betragen. Das sind 23 Millionen weniger als 2003 und 90 Millionen weniger als 2002. Nun
weisen Sie zu Recht darauf hin, dass hier die Mittel für
die Förderung der Stadien in Berlin und Leipzig enthalten sind. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie diese Mittel im vergangenen Jahr in den Etat eingestellt und sie
nicht als Sondertitel geführt haben, um Ihre Kürzungen
zu kaschieren und um den Vereinen weiszumachen, wie
großzügig die Bundesregierung den Sport fördert. Jetzt,
wo diese Förderung ausläuft, können Sie also nicht behaupten, dass das damit nichts zu tun habe. Hier fehlen
Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit an allen Ecken
und Enden. Auch im Vergleich zu 1998, als Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben, ist ein Minus von de facto 4 Millionen Euro festzustellen. Rechnet
man die Ausgaben für die Bewerbung Leipzigs für die
Austragung der Olympischen Spiele 2012 und die Ausgaben für die Fußball-WM 2006 heraus, dann zeigt sich,
dass dem Sport gegenüber 1998 sogar 11,7 Millionen
Euro weniger zur Verfügung stehen. Das hat also mit den
Stadien nichts zu tun.
({4})
- Unser Vorschlag ist, bei den Investitionen nicht weiter
zu kürzen. In diesen Bereich fließen pro Jahr im Durchschnitt mehr als 10 Millionen Euro weniger als 1998. Insgesamt stehen für Sportinvestitionen also über 40 Millionen Euro weniger zur Verfügung. Dafür haben Sie gesorgt.
Wir schlagen vor, dass das Geld, das durch den Sport
eingenommen wird, in den Sport zurückfließt.
({5})
Es gibt zum Beispiel zur Fußball-WM 2006 Sportmünzen, die verkauft werden. Durch den Verkauf dieser
Sportmünzen erzielt die Bundesregierung einen Bruttoerlös von 185,9 Millionen Euro. Zieht man davon die
Kosten von 95,5 Millionen Euro ab, verbleibt ein Nettoerlös von 90,4 Millionen Euro. Diese Münzen werden
von Sportfans in der Annahme gekauft, dass das Geld,
das sie dafür ausgeben, dem Sport zur Verfügung steht.
Was passiert damit in Wirklichkeit? 30 Millionen Euro
werden für das Organisationskomitee der Fußball-WM
ausgegeben; das ist sozusagen Kulturprogramm. Und
der Rest von über 60 Millionen Euro? Der Finanzminister kann natürlich auf die rechtlichen Zusammenhänge
verweisen und sagen: Das verschwindet in meinen Etatlöchern. Ich meine, aus Sicht des Sports wäre es angemessen, dass das Geld, das durch diesen Verkauf eingenommen wird, dem Sport zur Verfügung gestellt wird.
Wenn das geschähe, könnten Sie nicht nur die zentralen
Maßnahmen des Sports und vor allem den Sportstättenbau wieder besser ausstatten, sondern auch den „Goldenen Plan Ost“ wieder aufleben lassen.
Im Wahlkampf haben Sie für den „Goldenen Plan
Ost“ 50 Millionen Euro versprochen. Es wurden dann
zunächst 15 Millionen Euro. Dann wurden die Mittel auf
10 Millionen Euro gekürzt und jetzt soll dieser Plan ganz
gestrichen werden. Für die neuen Bundesländer ist das
ein ganz fatales Signal. Es ist höchste Zeit, das zu ändern. Wir fordern Sie auf, wenigstens wieder 15 Millionen Euro einzustellen.
({6})
Herr Barthle, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich schließe mit meinem Appell sowohl an Herrn
Schily als auch an die gesamte Bundesregierung an: Zeigen Sie nicht nur ab und zu bei großen Veranstaltungen
ein Herz für den Sport, sondern geben Sie den Adern des
Sports das Blut, das gebraucht wird, um künftig wieder
Erfolge erzielen zu können.
Danke.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Geschäftsbereich hat der
Kollege Wolfgang Zeitlmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hat hier - wie kann es anders sein? - einen zeitlichen Bogen zum 11. September
vor zwei Jahren geschlagen. Natürlich haben wir uns alle
an das Grauen und an das Gefühl des Schreckens von damals erinnert. Es ist sicherlich richtig, zu fragen: Haben
wir in den vergangenen zwei Jahren wirklich alles getan? Ist die Bedrohungslage in der Tat so, dass man sich
zurücklehnen und vielleicht glauben machen kann, wir
hätten alles zur Abwendung jeglicher Gefährdungen getan?
Wenn ich mir den letzten Verfassungsschutzbericht
anschaue, dann stelle ich fest, dass wir in Anbetracht der
dort geschilderten Gefährdungen durch Extremisten
nicht von Entwarnung sprechen können. Ich bin der
Letzte, der hier irgendeine Verunsicherung kundtun will,
indem er behauptet, es gebe irgendeine konkrete Gefährdung. Ich frage mich aber manchmal: Muss in einem
Land immer erst irgendetwas passieren, bevor man zu
handeln beginnt? Wenn wir wüssten, dass wir in absehbarer Zeit ein schreckliches Ereignis zu bewältigen hätten,
würden wir dann nicht rückblickend feststellen, dass wir
eigentlich noch dieses und jenes hätten vorlegen müssen?
({0})
- Ich komme gleich darauf zu sprechen.
Ich habe einer Tickermeldung der letzten Tage entnommen, dass der Vorsitzende der GdP, Freiberg - kein
Mann der Union -, die Auffassung vertritt, man müsse
im Bereich der Videobeweise vorankommen und man
brauche ein drittes Sicherheitsgesetz.
({1})
Herr Schily, Sie selbst haben in einem Interview mit
der „FAZ“ gesagt - heute haben Sie es bestätigt -, dass
es bei biometrischen Merkmalen hier und da Ergänzungsbedarf gibt. Ich halte das für richtig. Ich frage mich
nun: Muss es zwei Jahre dauern, bis wir zu Stuhle kommen? Auch jetzt ist noch gar nicht klar, ob ein entsprechender Gesetzentwurf mehrheitsfähig ist. Zwei Jahre
lang ist im Grunde nichts passiert, außer dass geprüft
wurde. Muss das immer so lange dauern?
({2})
Angesichts dessen, wie sich bei uns - zugegeben:
durch die Rechtsprechung - Extremisten tummeln können, hätte ich erwartet, Herr Minister, dass Sie das
Thema nicht wie der Weihnachtsmann nur so ein bisschen streifen,
({3})
sondern dass Sie die Kernprobleme etwas eingehender
behandeln. Zu den Kernproblemen zählt, wie wir mit
Extremisten umgehen. Da nenne ich zum Beispiel den
Fall Kaplan.
({4})
Ich glaube nicht, dass wir im bilateralen Verhältnis
zur Türkei die dortigen Verhältnisse quasi deutschem
Richterrecht entsprechend verändern können. Das Problem, dass die Maßstäbe, die deutsche Richter anlegen,
weltweit - ({5})
- Das können Sie nehmen, wie Sie wollen. Wenn aus
deutscher Sicht beurteilt wird, ob irgendwo auf der Welt
vergleichbare Maßstäbe wie bei uns gelten, dann wird
das im Zweifel immer zu unseren Lasten gehen. Das
heißt: Leute wie Kaplan werden immer hier bleiben können. Da frage ich mich, Herr Minister: Hätten Sie hier
dazu nicht einiges ausführen müssen?
Für völlig unwürdig halte ich - da nehme ich Sie ein
bisschen aus - die Debatte in den vergangenen Monaten
über das geplante Zentrum gegen Vertreibungen. Für
mich ist zutiefst unverständlich, dass in unserem Land,
dessen Volk ein solches Schicksal
({6})
ertragen hat - bei uns leben 15 Millionen Menschen, die
vertrieben wurden; der Leidensdruck ist nach diesen vielen Jahrzehnten vielleicht nicht mehr in dem ursprünglichen Maße vorhanden; meine Generation hat da im
Grunde kein eigenes Erleben mehr -, überhaupt darüber
diskutiert wird,
({7})
ob man so etwas machen kann, ob man das international
abstimmen muss. Das ist doch überhaupt keine Frage! In
einer freien Gesellschaft wird ein solches Zentrum gegen
Vertreibungen natürlich gemäß der historischen Wahrheit aufgebaut werden müssen. Kein Mensch diskutiert
etwas anderes. Die Ursachen für das Kriegsgeschehen
müssen klargestellt werden. Man kann nicht einseitig irgendwelche Aufrechnungen betreiben. Aber dass man
sich abhängig macht
({8})
und ausländische Meinungen dazu hört, ob es ein solches Zentrum in Berlin geben kann, halte ich für unmöglich. So etwas wird in der Bevölkerung in Anbetracht
unserer Vergangenheitsdebatten nicht verstanden.
({9})
Herr Schily, eine letzte Bitte, weil wir uns dem
3. Oktober nähern. Ich beobachte seit vielen Jahren die
Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag. Wir sollten uns
intern oder parteiübergreifend einmal darüber unterhalten, ob das bisherige Prozedere, dieser Wanderzirkus,
dass am 3. Oktober jeweils ein anderes Bundesland Ort
der Feierlichkeiten ist, beibehalten werden sollte. Zu
überlegen wäre doch, nach Ablauf der 16 Jahre, wenn jedes Land einmal dran war - das ist ja noch einige Jahre
hin -, in einem neuen Zyklus eine zentrale Feierlichkeit
durchzuführen, sodass wir von diesem Wanderzirkus abkommen.
({10})
Das ist als Vorschlag gedacht. Wir sollten die Dinge vielleicht ein bisschen sinniger gestalten. Wir haben in der
Vergangenheit einmal überprüft, wer sich von uns Bundespolitikern denn dieser Last des Wanderns unterzogen
hat. Die Präsenz war nicht sehr gut. Das sollte Ansatzpunkt zum Nachdenken sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Otto Schily das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Ich kann ja verstehen, dass Sie von mir eigentlich erwarten, dass ich in 14 Minuten alle diese Fragen wie „Goldener Plan Ost“, „Sportfinanzierung“ oder „Zentrum gegen Vertreibungen“ abhandele.
Ich will nur eine Bemerkung des Kollegen Zeitlmann
aufgreifen. Auch ich bin durchaus der Meinung, dass es
geboten ist, über die Entscheidung im Fall Kaplan im
Deutschen Bundestag zu sprechen. Ich teile die Auffassung derer, die sagen, es ist unerträglich, dass dieser
Mensch einstweilen in unserem Lande bleiben muss.
({0})
Ein Mann, der wegen Anstiftung zum Mord zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist - auch diese
Strafe kann man mit einem Fragezeichen versehen, denn
diese Anstiftung hat zu einem Mord geführt -, hat in unserem Lande nichts zu suchen. Deshalb bedauere ich die
Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Köln, von der
ein Innenministerkollege, den Sie kennen, Herr
Zeitlmann, gesagt hat, sie sei eine skandalöse Entscheidung. Ich mache mir zwar diesen Wortgebrauch nicht zu
eigen, weil ich natürlich auch vor einer richterlichen
Fehlentscheidung den nötigen Respekt habe, aber auch
ich halte die Entscheidung für falsch. Sie beruht nämlich
auf der Unterstellung, dass Kaplan, wenn er in die Türkei zurückbefördert würde, dort keinen fairen Prozess
erhielte, weil man durch Folter erzwungene Aussagen
verwerten würde.
Die Türkei hat unter Hinweis auf die in der Türkei
geltende Rechtslage erklärt, dass durch Folter erzwungene Aussagen in einem Strafprozess dort nicht verwendet werden dürfen. Übrigens steht das auch im Zusammenhang mit dem Besuch des Ministerpräsidenten
Erdogan in Deutschland, der sich vorgenommen hat
- man mag die neue Regierung ja sehen, wie man will;
auch die weltpolitischen Zusammenhänge kann man sehen, wie man will -, rechtsstaatliche Standards in der
Türkei durchzusetzen. Da er selber in Haft gesessen hat,
bringt er vielleicht auch Erfahrungen mit, die ihn bei seinem Engagement in dieser Richtung besonders motivieren. Auch deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die
Entscheidung dieser Richter korrigiert wird.
({1})
Unabhängig davon, dass der Bundeskanzler und Ministerpräsident Erdogan bereits noch einmal miteinander
gesprochen haben, werde ich mit meinem türkischen Innenministerkollegen Aksu Gespräche aufnehmen - hoffentlich kommt das Treffen in wenigen Tagen
zustande -, um noch einmal eine zusätzliche Erklärung
in dieser Richtung herbeizuführen. Ich hoffe, dass dann
alle politischen Kräfte in dieser Frage zusammenstehen,
({2})
damit wir diesen Fall so abschließen können, wie es ihm
gebührt.
Ich verbinde das mit einem Hinweis: Ich bin nicht der
Meinung, dass wir alle gesetzlichen Möglichkeiten, die
nach dem geltenden Ausländerrecht heute bestehen, ausschöpfen, um Personen, die eine Gefahr für die innere
Sicherheit Deutschlands darstellen, die Tür zu weisen.
An der einen oder anderen Stelle sollte man da vielleicht
auch einmal schauen, ob im Landesvollzug immer all
das geschieht, was geboten ist.
Danke schön.
({3})
Herr Kollege Zeitlmann, wollen Sie erwidern? Nein. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft.
Bevor ich der Bundesministerin Renate Künast das
Wort erteile, sollten wir noch einen Augenblick warten,
damit der Austausch der Abgeordneten stattfinden
kann. - Frau Künast, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Die bisherigen Debatten zum Haushalt
2004 haben ja gezeigt, dass es zur nachhaltigen Konsolidierung der Staatsfinanzen keine Alternative gibt. Das
war ja wohl das Thema des Tages. Dabei geht es insbesondere um Generationengerechtigkeit, dass wir also
nicht sorglos auf Kosten künftiger Generationen leben
dürfen, und um Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen.
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit bedeuten in der Finanzpolitik - vor finanzpolitischen Erwägungen kann sich auch dieser Haushalt nicht
schützen - zweierlei, nämlich dass man einerseits Ausgaben kontrolliert - das heißt, man muss auch manche
lieb gewonnenen Subventionen abbauen, vor allem
wenn sie der Umwelt schaden oder nicht zu rechtfertigen
sind - und andererseits Zukunftsinvestitionen in Strukturen tätigt, die auch den nachfolgenden Generationen, den
jungen Landwirten Möglichkeiten eröffnen.
Deshalb war klar, dass auch das BMVEL seinen Beitrag zum Subventionsabbau leisten muss. Das trifft
hauptsächlich jenen Bereich, in den bislang viele Mittel
geflossen sind: den Agrarbereich. Insbesondere müssen
wir uns fragen, ob - und wenn ja, warum - hier Leistungen gewährt werden, die über das hinausgehen, was andere gesellschaftliche Gruppen vom Staat erhalten, ob
also keine Gleichbehandlung stattfindet. Insgesamt
schließt der Regierungsentwurf des Einzelplans mit
5,2 Milliarden Euro ab, das sind 430 Millionen Euro weniger als im Etat 2003. Damit kann und muss man sagen,
dass dieser Einzelplan einen ganz erheblichen Beitrag
zur Haushaltskonsolidierung leistet.
Bei diesen Summen kommen wir an der Agrarsozialpolitik nicht vorbei, für die in diesem Haushalt aber noch
immer über 70 Prozent der Mittel des Einzelplans 10
veranschlagt werden.
({0})
- Schön, dass auch Sie vom Bayernfest zurückgekommen sind.
({1})
- Und in entsprechender Stimmung sind!
Wir erbringen die Einsparungen auch bei der Krankenversicherung der Landwirte. Ziel ist es, die landwirtschaftliche Krankenversicherung der gesetzlichen
Krankenversicherung anzupassen.
({2})
-„Gnädige Frau“ dürfen Sie schon sagen; ich finde es
wunderbar, wenn wir hier mittelenglische Umgangsformen pflegen - was bei dem letzten Redebeitrag zum vorherigen Thema nicht der Fall war. Ich finde es gut, wenn
man hart in der Sache und immer fein im Benimm ist.
({3})
Dann streitet es sich auch besser.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht an der
Stelle vor, dass der Bundeszuschuss zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung künftig auf der Grundlage
von 85 Prozent statt von bisher 100 Prozent der Leistungsaufwendungen der Altenteiler berechnet werden
soll. Darüber reden wir in vielen Gesprächen mit den
Betroffenen, den Verbänden und den Ländern. Dabei
sind auch die Ergebnisse der im Konsens zwischen der
Koalition und der CDU/CSU beschlossenen Gesundheitsreform zu berücksichtigen, die auch für den Bund
höhere Einsparungen bringen.
Ich möchte diesen Bereich besonders ansprechen,
weil ich glaube, dass er im Moment ein Kernthema ist zu Recht.
Wir haben erste Gespräche dazu geführt, die mich zuversichtlich stimmen, dass wir eine vertretbare Lösung
finden können, die nicht so aussieht wie das, was Sie annehmen, indem Sie schlicht und einfach die Einsparsumme umlegen und behaupten, es käme in einigen Bereichen zu Beitragserhöhungen von bis zu 40 Prozent.
Genau das wollen wir vermeiden.
({4})
Ich wollte Ihnen aber nicht mit dem Haushaltsentwurf
eine schnell gestrickte Lösung vorlegen, weil eine Vielzahl von Gesprächen, auch mit den Krankenkassenträgern, erst nach Einbringung des Haushalts geführt werden können.
Es geht in diesem Haushalt zudem um den Abbau
von Steuervergünstigungen. Das bezieht sich zum einen auf die Begrenzung der Umsatzsteuerpauschalierung
auf nicht buchführende Betriebe und die Senkung des
Durchschnittssatzes der Pauschalierung von 9 auf
7 Prozent. Zum anderen bezieht es sich auf die Verringerung der Steuervergünstigung beim Agrardiesel um insgesamt 157 Millionen Euro. Dazu führen wir eine betriebliche Obergrenze ein. Auch das war keine einfache
Entscheidung. Aber die Obergrenze von 10 000 Litern
pro Betrieb bedeutet, dass kleinere Betriebe an dieser
Stelle nicht belastet werden.
Wenn man Gelder einsparen muss, kommt man nicht
umhin, sich zu überlegen, wie man eine ausgewogene
Belastung oder Entlastung schaffen kann und wer an
welcher Stelle eher einen Ausgleich benötigt als andere.
({5})
Meine Damen und Herren, das ist nur die eine Seite,
der schwierige Teil der Finanzpolitik. Viel schöner ist
der andere Teil, nämlich das Tätigen von Zukunftsinvestitionen. Wir haben in diesem Zusammenhang in diesem Jahr einiges erreicht.
({6})
Die Ergebnisse von Luxemburg sind von der Landwirtschaft durchaus positiv aufgenommen worden.
({7})
Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Sie haben selbst gesehen, dass der Bauerntag in diesem Jahr in Freiburg in weiten Teilen anders abgelaufen
ist als das, was man normalerweise gewohnt ist. Es war
ein nachdenklicher Bauerntag, der sich auch mit der
Frage beschäftigt hat: Wie kann man die finanziellen
Planungen und Festlegungen bis 2013 und die Luxemburger Beschlüsse mit der Entkoppelung und der obligatorischen Modulation umsetzen?
Wir haben einen finanziellen Rahmen geschaffen. Mit
der Stärkung der zweiten Säule haben wir im Übrigen
auch Perspektiven für die ländliche Entwicklung geschaffen. Das ist in Ost und West gleichermaßen wichtig. Es gibt dort eine inhaltliche Neuausrichtung, zum
Beispiel ein Mehr an Möglichkeiten, Qualitätsprogramme zu unterstützen. Es geht um Dinge, die die
Landwirte heute schon tun. Aber für diese Bemühungen,
dass sie in einem hohen Qualitätssegment produzieren
und damit auch bei der internationalen Konkurrenz ihren
Teil auf dem Markt finden, kann man sie in Zukunft
auch finanziell ausstatten.
Wir haben auch die Möglichkeit - darüber wird mit
den Bundesländern aktiv geredet -, die Betriebsprämie,
die einige Nachteile hat, in Flächenprämien umzuwandeln. Ich bin recht sicher, dass wir noch vor Weihnachten
mit den Bundesländern gemeinsam ein System vereinbaren, damit die Landwirte klar sehen, wo es langgeht. Es
geht also darum, keine lange Debatte im Bundesrat zu
führen, sondern schon vorher eine Einigung zwischen
Bund und Ländern darüber herzustellen, wie wir aus diesem System eine gute regionale Flächenprämie machen,
die im Übrigen - ich gehe davon aus, dass das alle hier
wollen - auch dazu führt, dass Ungerechtigkeiten bei der
Verteilung der Gelder innerhalb der Landwirtschaft aufgehoben werden. Ich denke zum Beispiel an eine Stärkung der Grünlandstandorte, was Sie wollen müssten.
({8})
- Jetzt rufen Sie dazwischen: „Nicht wollen müssten,
sondern was notwendig ist!“. Dann frage ich mich aber,
warum mich Ihre Fraktion noch vor zwei Jahren so vehement bekämpft hat.
({9})
- Genau, wunderbar. Ich weiß es. Deshalb wird Bayern
- wie andere Länder auch - sicherlich eine große Unterstützung dabei leisten, die Grünlandprämie bundesweit
einzuführen.
Wir haben in diesem Haushalt Prioritäten für Zukunftsinvestitionen geschaffen; denn wir überlegen
uns: Wie kann man Qualität verstärken? Wie kann man
die gemeinsame Verarbeitung und Vermarktung, auch
auf dem Erzeugergenossenschaftssektor, unterstützen?
Wie kann man zusätzliche Standbeine aufbauen?
Das heißt erstens: Es ist nicht nur im Haushalt des
BMVEL, sondern auch im Haushalt des Bundesministeriums für Umweltschutz eine breite Palette an Fördermaßnahmen für die erneuerbaren Energien enthalten,
die, wenn man diese zusammen sieht, auch im Biomassebereich viele Möglichkeiten und Chancen bietet, die
viele Landwirte längst nutzen. Des Weiteren haben wir
günstige Fördermöglichkeiten für Biogasanlagen im
Agrarinvestitionsförderprogramm der Gemeinschaftsaufgabe. Das ist ein Standbein, das man nutzen kann und
das zukünftig gute Chancen hat.
Zweitens: der ökologische Landbau. Dieses Programm wird in Zukunft mit einigen Veränderungen in
den Bereichen fortgeführt, in denen besonderer Förderbedarf besteht.
Drittens: der Verbraucherschutz. Kernstück bleibt
der vorsorgende Verbraucherschutz. Das heißt, wir wollen die Risikobewertung und das effektive Risikomanagement, mit dem wir, glaube ich, gut gefahren sind,
fortführen. Ich hoffe auch in diesem Jahr auf Ihre Unterstützung beim Ausbau der beiden Einrichtungen, dem
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und dem Bundesinstitut für Risikobewertung,
weil wir da noch Personal- und Sachmittel brauchen.
Der Verbraucherpolitik messen wir - ich glaube, das
ist einhellige Auffassung in diesem Haus - eine große
Bedeutung zu. Deshalb bleiben in diesem Haushalt die
Mittel für die Verbraucherzentrale Bundesverband bei
8,8 Millionen Euro, der Zuschuss an die Stiftung Warentest bei 6,5 Millionen Euro. Ich glaube, in diesen Tagen
kann man sagen, dass ein Gleichbleiben der Beträge fast
schon eine Steigerung ist.
Der vierte Punkt, der mir in diesem Haushalt - auch
inhaltlich - wichtig ist, ist das Thema „gesunde Ernährung“. Auch das ist eine Investition in die Zukunft.
({10})
Wir alle wissen, dass das Thema „massives Übergewicht“ nicht mehr allein ein Problem der USA ist, woher
wir es aus Film, Fernsehen oder eigener Anschauung
kennen, sondern wir haben das Problem hier auch. Die
Zahl der chronischen Erkrankungen bei Jugendlichen
nimmt zu: Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes Typ 2.
Das alles sind Dinge, die wir bitte schön nicht später im
Rahmen der Krankenkassendebatte hinsichtlich der Kosten für eine langjährige Chronikbehandlung diskutieren
wollen. Deshalb fördern wir mit unseren Mitteln zur
Verbraucheraufklärung in Höhe von 12,5 Millionen Euro
im nächsten Jahr speziell Maßnahmen der Ernährungsaufklärung bei den Verbraucherzentralen. Voraussetzung
dafür ist eine Kofinanzierung durch die Bundesländer.
Ich sehe mit Sorge, dass diverse Bundesländer glauben,
dies sei eine gute Sparmöglichkeit.
Ich glaube, dass Verbraucheraufklärung und das Vermitteln von Informationen über Ernährung bis hin zu Vertragsgestaltungen im Alltag ganz wichtige Punkte sind.
Wir alle wissen, dass es immer mehr Insolvenzen von
Privatpersonen gibt. An der Stelle sollten wir diese Privatpersonen unterstützen und aufklären.
({11})
Angesichts der Vorgaben, die wir beachten müssen,
und angesichts der Finanzprobleme, die wir haben,
glaube ich, dass wir einen ganz guten und auf die Zukunft ausgerichteten Haushalt vorgelegt haben.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst ein paar grundsätzliche Anmerkungen zum Haushalt machen. Wie
heute in der Finanzdebatte schon angesprochen, beraten
wir einen Haushalt, der auf ziemlich tönernen Füßen
steht, um nicht zu sagen: Er ist auf Sand gebaut.
({0})
- Er ist wirklich auf Sand gebaut. Herr Schöler, Sie
selbst müssten es am besten wissen. - Obwohl der Haushalt auf Sand gebaut ist und sozusagen das Erdgeschoss
schon einsturzgefährdet ist, beraten wir über die Inneneinrichtung der Obergeschosse. So verlaufen im Moment
die Haushaltsberatungen.
Die Unionsfraktion und insbesondere die Haushälter
glauben, dass dieser Haushalt nicht beratungsreif ist. Wir
können Änderungsanträge, die kleinere oder größere Beträge beinhalten, rauf und runter stellen. Am Schluss
werden sich aber aufgrund von Steuerschätzungen oder
anderen Gegebenheiten wesentliche Veränderungen ergeben. Dann können wir mit den Beratungen von vorne
beginnen. Dieser Haushalt ist also das Papier nicht wert,
auf dem er gedruckt ist. Das muss man wirklich sagen.
({1})
Frau Ministerin, Sie haben den Einzelplan 10, der die
größte Kürzung aller Einzelpläne in Höhe von
7,4 Prozent aufweist, zu verantworten. Diese Kürzung
betrifft nicht, wie man vielleicht meinen könnte, eines
Ihrer Prestigeobjekte. Nein, es geht bei den Landwirten
direkt an die Substanz, nämlich - Sie haben es selbst
angesprochen - im Bereich der landwirtschaftlichen
Krankenversicherung.
Sie haben die Situation - um es etwas freundlich zu
sagen - schöngeredet. Sie haben auch die Zahlen schöngerechnet. Sie rechnen nämlich mit Beitragssatzsteigerungen von durchschnittlich 32 Prozent. In RheinlandPfalz kann die Steigerung aber sogar 48 Prozent betragen, wie es in Ihrer Unterlage steht. Die Sozialversicherungsträger haben uns glaubhaft versichert, dass Sie Ihre
Zahlen schöngerechnet haben; denn Sie kalkulieren
nicht ein, dass diejenigen, die momentan freiwillig versichert sind, sehr schnell diese Versicherung verlassen
werden. Die Belastung aufgrund der Erhöhung wird
dann also auf weniger aktive Landwirte verteilt. Beitragssatzsteigerungen von durchschnittlich 45 Prozent
- in der Spitze können es 68 Prozent sein - sind zu erwarten.
({2})
- Das ist in der Tat leider wahr.
({3})
Auf der anderen Seite sollen die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung gesenkt werden. Bei den
Bäuerinnen und Bauern steigen sie aber durch die geplante Kürzung der Zuschüsse auf bis zu 22 Prozent. Außerdem haben die Landwirte noch die Zuzahlungen zu
verkraften. Mir soll mal einer erklären, wie das funktionieren soll. Es ist unglaublich. So machen Sie das System kaputt. Wenn das Ihre Absicht ist, dann sagen Sie es
heute offen, damit man sich darauf einstellen kann.
({4})
Ihr Handeln ist auch deshalb so unverständlich, weil
es sich um einen der wenigen Bereiche handelt, der EUund WTO-verträglich ist. Die Zuschüsse zur Krankenversicherung sind Bestandteil der so genannten Green
Box, eine der wenigen Maßnahmen, die den Bäuerinnen
und Bauern direkt helfen, die Benachteiligungen, die es
aufgrund der hohen Standards in der Bundesrepublik
Deutschland gibt, auszugleichen. Sie begründen die Kürzung damit - Herr Staatssekretär Diller hat dies in einem
Schreiben ausgeführt -, dass die Zuschüsse eine Subvention seien.
({5})
Herr Staatssekretär, in Ihrem eigenen Subventionsbericht ist die landwirtschaftliche Krankenversicherung
nicht explizit aufgeführt. Ich kann es Ihnen zeigen.
({6})
- Ja, da schauen wir mal auf der nächsten Sitzung nach.
Interessant ist auch, dass in diesem Bericht andere
Versicherungsträger, wie zum Beispiel die Knappschaft,
nicht aufgeführt werden.
({7})
Darüber steht nichts im Subventionsbericht. Es geht eigentlich immer nur um die landwirtschaftliche Krankenversicherung. Sie haben in diesem Bereich der Sozialversicherung in den letzten Jahren, in denen Sie die
Verantwortung tragen, Kürzungen in Höhe von
755 Millionen Euro vorgenommen. Angesichts dieser
Kürzung für einen einzigen Berufsstand drängt sich einem schon der Verdacht auf, dass es ein Rachefeldzug
gegenüber einem Berufsstand ist, der Ihre Partei offensichtlich nicht wählt.
({8})
Sie setzen sehr auf die bäuerliche Landwirtschaft, der
auch ich sehr nahe stehe. Mich stört, dass Sie mit diesen
Maßnahmen insbesondere die bäuerliche Landwirtschaft, die sehr personalintensiv ist, treffen. Durch Ihre
Maßnahmen werden hauptsächlich mitarbeitende Familienmitglieder getroffen.
Ich nenne ein anderes Beispiel. In den Erläuterungen
zum Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes steht - ich
zitiere -:
Entscheidende wirtschaftliche Wachstumsimpulse
werden mit dem Vorziehen der dritten Stufe der
Einkommensteuerreform von 2005 auf 2004 verbunden sein … Die Finanzierung der entstehenden
Zinsbelastung wird durch eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes sichergestellt. Hier soll die
Durchschnittssatzbesteuerung für buchführende
Landwirte wegfallen. Gleichzeitig wird die Vorsteuerpauschale von 9 auf 7 Prozent bei Land- und
Forstwirten abgesenkt.
Es kommen noch mehrere Tatbestände hinzu. Es ist aber
bezeichnend, dass die ersten zwei Tatbestände allein die
Landwirtschaft treffen.
Diese Maßnahme trifft wiederum in erster Linie die
kleinen und mittleren Betriebe. Die Pauschalierung war
eine Verwaltungsvereinfachung, die für beide Seiten, sowohl für die staatliche Seite als auch für die Landwirtschaft, Vorteile hatte. Die Einzigen, die von dieser Änderung wahrscheinlich profitieren werden, sind die
Steuerberater. Aufgrund der Absenkung werden die
Steuererklärungen vermehrt von Steuerberatern erstellt
werden. Ob der Staat durch diese Maßnahme mehr Geld
in die Kasse bekommt, wage ich zu bezweifeln. Die
Steuerberater aber haben vielleicht mehr Geld in der Tasche.
({9})
Diese Maßnahmen sind nur ein Teil einer ganzen
Reihe von Ihnen vorgeschlagener Maßnahmen, die zulasten der Landwirtschaft gehen. Die Regelungen zum
Agrardiesel - Sie haben ihn selbst schon angesprochen stellen auch eine Wettbewerbsverzerrung gegenüber anderen EU-Ländern dar. Sie haben - natürlich - die Ökosteuer verschwiegen, die mit 460 Millionen Euro ebenfalls insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe
trifft, weil sie unterhalb der Sockelbeträge liegen und außerdem keinen Ausgleich über die Lohnersatzleistungen
bekommen können. Das geht zulasten der Landwirtschaft.
Zu den landwirtschaftlichen Sozialversicherungssystemen insgesamt möchte ich eines sagen: Sie sind
- wie es in anderen Bereichen auch der Fall war - eingeführt worden, um den demographischen Wandel, den
Strukturwandel in der Landwirtschaft zu begleiten. Wären alle Nachkommen, die Kinder und Enkelkinder von
in der Landwirtschaft Tätigen, innerhalb des Systems
geblieben, hätten die landwirtschaftlichen Sozialsicherungssysteme wahrscheinlich überhaupt keine Probleme.
Es sind aber viele - natürlich - aus der Landwirtschaft
abgewandert. Sie finanzieren nunmehr die gesetzlichen
Krankenversicherungssysteme mit und belasten sozusagen dadurch auf der anderen Seite die landwirtschaftlichen Krankenversicherungen.
Zum Vergleich: Bei den landwirtschaftlichen Sozialversicherungssystemen reden Sie von Subventionen; bei
der gesetzlichen Rentenversicherung sprechen Sie hingegen von einem Zuschuss. Können Sie mir sagen, wo
hier eigentlich der Unterschied ist?
({10})
Es werden über 70 Milliarden Euro in die Rentenversicherungssysteme transferiert. Ich frage mich, warum bei
der Landwirtschaft andere Maßstäbe angelegt werden.
Ein weiteres Lieblingskind von Ihnen - ich sage das
in Anführungsstrichen - ist die Gemeinschaftsaufgabe
„Agrarstruktur und Küstenschutz“. Auch hierbei haben Sie erneut Kürzungen vorgenommen. Insgesamt belaufen sich die Kürzungen während Ihrer Amtszeit auf
230 Millionen Euro. Dadurch entgehen uns Kofinanzierungsmittel vonseiten der Länder. Wir wissen natürlich,
dass nicht alle Länder die vollen Summen abrufen können; auf alle Fälle gehen aber Mittel verloren. Auch Sie
wissen, dass Mittel, die vonseiten der EU bereitgestellt
werden, ebenfalls verloren gehen. Baden-Württemberg
und Bayern haben für ihre Umweltprogramme die
bereitstehenden Mittel der EU abgerufen, die ansonsten
ebenfalls verloren gegangen wären.
({11})
Ihre Streichungen beziehen sich auf die Titel, die direkt an die betroffenen Bäuerinnen und Bauern gehen.
Ihre Prestigeobjekte halten Sie hingegen aufrecht. Das
Programm „Zuschüsse zur Förderung des ökologischen Landbaus“, das Sie selbst angesprochen haben,
möchte ich herausstellen: Sie haben den Eindruck erweckt, es handele sich um eine Hilfe zur Umstellung.
Wenn ich mir in der Auflistung die einzelnen Titel ansehe, stelle ich fest, wofür die 20 Millionen vorgesehen
sind, nämlich für reine Informationskampagnen: Informationsveranstaltungen, Ökolandbau auf Messen, Ökoverarbeitung auf Messen, Inno- und Informationspreis,
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Informationskampagne und so weiter und so fort. Ich könnte Ihnen das alles
vorlesen.
({12})
Im Grunde sind die 20 Millionen Euro rein für Öffentlichkeitsveranstaltungen vorgesehen. Im Öffentlichkeitstitel sind aber lediglich 1,35 Millionen Euro vorgesehen.
Das ist eine Irreführung der Bevölkerung. Sie legen ein
riesiges Programm auf, das nichts anderes als Öffentlichkeitsarbeit ist.
({13})
- Unerhört!
Sehr geehrte Frau Ministerin, abschließend sei mir ein
Hinweis gestattet. Sie waren in der vergangenen Woche
in meinem Wahlkreis, im Landkreis Miesbach. Die örtlichen Grünen haben sich gerühmt, dass der Ökoanteil
an der bäuerlichen Landwirtschaft dort bei über 20 Prozent liegt. Das stimmt. Das ist aber mit Sicherheit nicht
der Erfolg Ihres Ökolandbauprogramms und nicht der
Erfolg der örtlichen Grünen. Das ist gute Strukturpolitik
bei uns in Bayern gewesen. Das muss ich Ihnen ehrlich
gesagt einmal ins Stammbuch schreiben.
({14})
Nicht zuletzt haben Sie den Ökolandbauern mit Ihrem
Ökosiegel mit Sicherheit keinen Gefallen getan. Letztes
Wochenende haben nicht wenige Landwirte ihre Milch
verschenkt oder verschüttet, weil sie von der Molkerei
keine Preise mehr bekommen, die kostendeckend sind.
Durch die Einführung Ihres Ökosiegels haben Sie einen
Preisverfall auf dem Ökomarkt herbeigeführt, der sozusagen sagenumwoben ist.
({15})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Aigner.
Ich könnte noch vieles dazu sagen; es gibt noch viele
Titel, die mir am Herzen liegen. Eines kann ich Ihnen
auf alle Fälle sagen: Sie haben ein schönes Programm
aufgelegt, das „Aktionsprogramm bäuerliche Landwirtschaft“, mit 0 Euro. Sie können sich solche Programme
wahrscheinlich in Zukunft sparen, wenn Sie den Bäuerinnen und Bauern weiterhin den Boden unter den Füßen
wegziehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland hatte einmal einen Kanzler, der einem Teil
der Bevölkerung blühende Landschaften versprochen
hat, dem anderen Teil warf er vor, in einer Freizeit- und
Spaßgesellschaft zu leben. Seine Nachfolgerin als Parteivorsitzende wird derzeit nicht müde, zusammen mit
Ihnen von der Opposition den Standort Deutschland
schlecht zu reden. Sie hat nun vorgeschlagen: Alle sollen
gefälligst mehr arbeiten.
({0})
- Genau dazu komme ich jetzt.
Dies soll Deutschland dann vor dem Ruin retten. Das
ist im Übrigen neben der Abschaffung des Flächentarifvertrages der einzige konkrete Vorschlag der CDU zur
Überwindung der Wachstumsschwäche der Wirtschaft.
Sonst hören wir vonseiten der Opposition nichts anderes
als einen vielstimmigen Chor völlig gegensätzlicher Vorschläge. Diese Vorschläge haben nur eines gemeinsam
- die Debatte heute hat das eindeutig nachgewiesen -:
({1})
Sie zeigen die völlige Handlungsunfähigkeit der Opposition, wenn die Zeiten schwieriger werden, wenn es
nichts mehr zu verteilen gibt.
({2})
Gäbe es eine Technische Anleitung „Heiße Luft“,
müsste die CDU/CSU-Fraktion insgesamt stillgelegt
werden.
({3})
Die Konjunkturschwäche in Deutschland dauert an,
selbst wenn erste Anzeichen für eine Belebung der
Volkswirtschaft wahrzunehmen sind. Verbunden mit der
hohen Arbeitslosigkeit gibt es erhebliche Einnahmeaber auch Ausgabeprobleme. Deshalb dürfen wir das
Pflänzchen Konjunktur nicht kaputtsparen, müssen aber
gleichzeitig die notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen durchführen. Es wird mit uns keinen Marsch in den
Verschuldungsstaat geben, wie das die CDU/CSU-geführte Bundesregierung 16 Jahre praktiziert hat.
({4})
Vor uns liegt ein Haushaltsentwurf, der sich diesen
Herausforderungen stellt und nicht den Eindruck erweckt, alles könne so bleiben wie bisher. Zur Konsolidierung müssen alle Bereiche beitragen. Keiner kann
hiervon ausgenommen werden. Mit diesem Haushalt
bringen wir Strukturreformen auf den Weg und betreiben
Wachstumskonsolidierung.
({5})
- Ja, das wäre doch gar nicht so schlecht. Das wäre doch
einmal was. Ich meinte jedoch Haushaltskonsolidierung.
({6})
Der Bundeshaushalt 2004 sieht dabei auch für den
Einzelplan des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft erhebliche Kürzungen vor. Diese schmerzlichen Einschnitte sind genauso notwendig wie angesichts der skizzierten
Rahmenbedingungen unvermeidbar. Neben diesen Einsparungen muss dieser Bereich auch seinen Beitrag zur
Finanzierung des Vorziehens der dritten Stufe der Steuerreform leisten.
Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger in diesem
Land - dazu gehören natürlich auch die Landwirte deutlich entlasten und damit das zarte Pflänzchen Konjunktur düngen.
({7})
- Wir sind ja im Landwirtschaftsbereich. - Dies bedeutet
aber auch, dass eingefahrene Wege verlassen werden
müssen. Subventionen, deren Kürzung von der Opposition gebetsmühlenartig gefordert werden, müssen dann
eben auch gekürzt werden. Hier muss sich die Opposition einmal eindeutig erklären. Denn oft genug machen
wir die Erfahrung: Wenn es konkret wird, sind immer
andere Subventionsbereiche gemeint. Das haben wir bei
ganz vielen Bereichen deutlich gesehen und jetzt eben
auch. Welche Subventionen nach Ihrer Meinung gekürzt
werden sollen, das sagen Sie uns nicht.
({8})
- Ich spreche zum Thema. Das ist das Thema, bei dem
die CDU/CSU in eine Denkstarre verfallen ist und keinerlei konkrete Vorschläge machen kann.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung verfolgt - das wird mit diesem Haushalt deutlich weiterhin konsequent das Ziel einer Neuausrichtung
der nationalen Agrarpolitik hin zu einer wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Landwirtschaft, in deren Zentrum der Mensch, seine Gesundheit und die Natur in
Deutschland stehen. Ob BSE, Schweine- oder Hühnerpest, all diese Auswüchse einer fehlgeleiteten Landwirtschaftspolitik sind nicht vergessen. Eine ökologisch verträgliche, aber gleichwohl wirtschaftlich erfolgreiche
Landwirtschaft ist möglich und kann erreicht werden.
Wir arbeiten weiter an der Neuausrichtung der Agrarpolitik. Das wird auch mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf deutlich. Bei allen notwendigen Kürzungen werden wir die Ausweitung des ökologischen Landbaus
weiter vorantreiben, den Tierschutz verbessern sowie die
Nutzung nachwachsender Rohstoffe fördern. Wir fördern
weiterhin die Entwicklung ländlicher Räume. Die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“
bleibt, Frau Aigner, auf einem hohem Niveau.
Wer die Landwirtschaft zukunftsfähig machen will,
muss auf Reformen setzen.
({10})
Angesichts der EU-Osterweiterung, angesichts der immer kritischer werdenden Diskussion in Deutschland
über Subventionen, angesichts unserer Interessen bei
den WTO-Verhandlungen war ein Paradigmenwechsel
in der Landwirtschaft notwendig. Er ist in Luxemburg
erreicht worden. Frau Bundesministerin Künast hat dort
für Deutschland klug und erfolgreich agiert.
({11})
Auf der Basis dieser Beschlüsse werden wir die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft sichern. Es gilt, die
Chancen zu nutzen und sie zum Wohle der Landwirtschaft umzusetzen.
Was macht die Opposition? Sie von der CDU/CSU
spielen Ihr traditionelles Doppelspiel und hoffen, dass es
niemandem auffällt.
({12})
Ihr Wirtschaftsflügel setzt sich für umfassende Handelsliberalisierungen und den Abbau bestehender Agrarsubventionen ein. Der Agrarflügel der CDU/CSU versucht,
Attac beim Blockieren von Veränderungen noch zu überholen. Das ist die Situation.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition:
Diese Art der Arbeitsteilung werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({14})
Die Vorschläge der Bundesregierung für den Haushalt
2004 liegen auf dem Tisch. Wir werden diese Vorschläge
in den weiteren Beratungen sorgfältig prüfen. Wir wissen, dass das Einsparvolumen erreicht werden muss. Es
macht doch wenig Sinn, den Agrardiesel dauerhaft zu
subventionieren, wenn die Landwirtschaft mit dem Biodiesel über eine eigene Energiequelle verfügt.
({15})
Eine solche Dauersubvention ist gesellschaftlich nicht zu
vermitteln. Wir wollen im Rahmen der parlamentarischen Beratungen auch die Chance für strukturelle Reformen nutzen. Unzumutbare Belastungen wird es mit
uns nicht geben. Ihre Kritik werden wir erst dann ernst
nehmen können, wenn Sie wirklich alternative Einsparvorschläge vorlegen. Das haben Sie bisher nicht gemacht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, immer wieder
gewinnt man den Eindruck, viele betrachten den Verbraucherschutz als eine Dreingabe, als eine Art Sahnehäubchen für einige wenige. Viele meinen, der Verbraucherschutz störe nur eine erfolgreiche Wirtschaft. Dies
ist ein grundlegender Irrtum. Verbraucherschutz zieht
sich durch nahezu alle Lebensbereiche unserer Bürgerinnen und Bürger und durch die unterschiedlichsten Politikfelder und ist eine wichtige Aufgabe. Dabei wollen
wir vom reinen Verbraucherschutz zu einer aktiven und
gestaltenden Verbraucherpolitik kommen. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen in allen Bereichen gut
informiert sein. Es muss ihnen die Möglichkeit gegeben
werden, sich für qualitativ hochwertige und nachhaltige
Produkte und Dienstleistungen zu entscheiden. Dies gilt
nicht zuletzt im Hinblick auf das Zusammenwachsen der
Europäischen Union und durch die Globalisierung.
Transparenz und Information sind die schärfsten Waffen wirksamer Verbraucherpolitik. Deshalb fließen weiterhin die notwendigen Mittel an die wichtigen Verbraucherinstitutionen wie die Stiftung Warentest und die
Verbraucherzentralen, die in diesem Sinne tätig sind.
Hier finden keinerlei Kürzungen statt. Auch für weitergehende Maßnahmen zur Aufklärung der Verbraucherinnen und Verbraucher stellen wir erhebliche Mittel zur
Verfügung. Dies wird auch in Zukunft so bleiben. Dies
macht deutlich: Diese Bundesregierung macht Ernst mit
dem Verbraucherschutz.
Das haben wir auch in vielen anderen Bereichen deutlich gemacht, etwa bei der Änderung des Telekommunikationsgesetzes. Dort wurde dem Missbrauch der 0190Nummern ein Riegel vorgeschoben.
({16})
Aber auch in vielen anderen Bereichen, etwa im Bereich
der Finanzdienstleistungen, wird der Verbraucherschutz
eine entscheidende Rolle spielen. In einem Zehnpunkteprogramm der Bundesregierung zur Stärkung von
Unternehmensintegrität und zum Anlegerschutz geht es
gerade auch um die Verbraucherthemen Haftung, Vergütung, Transparenz, Qualität und Unabhängigkeit.
Wir nehmen die Verbraucherinnen und Verbraucher
ernst. Uns geht es darum, dass Verbraucherinnen und
Verbraucher als gut informierte Partner auf Augenhöhe
den Anbietern von Produkten und Dienstleistungen gegenübertreten können. Wir sind zutiefst überzeugt: Eine
Stärkung der Verbraucherinteressen führt zu einer Steigerung der Produktqualität. Dies treibt die Modernisierung der Wirtschaft voran und erhöht damit ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine aktive Verbraucherpolitik, wie sie unsere Fraktion in ihrer verbraucherpolitischen Strategie formuliert und in der vergangenen Woche mit über 300 Experten und Interessierten hier
in Berlin diskutiert hat, ist ein wichtiger Bestandteil unserer Reformpolitik und gleichzeitig Motor einer modernen Wirtschaftspolitik für unser Land. Darauf können
wir stolz sein.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Zöllmer, ich habe den Eindruck, Ihnen hat ein anderer Einzelplan vorgelegen als mir. Ich finde viele Beispiele, die Sie genannt haben, in meinem Exemplar nicht
wieder.
Frau Ministerin, es kann bei diesem Haushalt nicht
nur um eine Konsolidierung der Finanzen gehen. Das
reicht nicht aus. Wir brauchen eine Stärkung der Wirtschaftskraft. Wir brauchen ein stärkeres Wirtschaftswachstum, um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dafür
finde ich keine Signale im Einzelplan 10.
An der Haushaltspolitik der Regierung lässt sich ablesen, wohin die Reise gehen soll. Der Einzelplan 10 weist
ein Minus von 7,4 Prozent auf. Das ist kritisiert worden.
Konkret heißt das: Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft sowie die rot-grüne Wortschöpfung „Verbraucherschutz“ sind für diese Bundesregierung - egal was sie erklärt - Marginalien von nur noch untergeordnetem Wert.
Sie, Frau Ministerin, spüren das. Weshalb sonst haben
Sie zum Beispiel das Übergewicht von Kindern zu einem Thema gemacht? Ich stimme Ihnen durchaus zu: Es
ist ein ganz wichtiges Thema. Aber es ist durchaus nicht
ein klassisches Thema der Landwirtschaft.
({0})
- Es ist nicht populär, sondern wichtig. Ich möchte die
Ministerin in diesem Punkt durchaus unterstützen. Aber
es ist natürlich kein immanentes Thema der Landwirtschaft.
In Deutschland hat die Landwirtschaft eine sehr viel
größere Bedeutung, als dieser Haushalt widerspiegelt.
Maßnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe
schwächen, werden sehr viel mehr Menschen in
Deutschland zu spüren bekommen als nur die Landwirte.
Wer die Landwirtschaft zerstört, nimmt dem ländlichen
Raum seine Lebenskraft, nimmt Menschen in ländlichen
Regionen ihre Heimat, zerstört eine in Jahrhunderten gewachsene Kulturlandschaft. Die Heckenstruktur in
Schleswig-Holstein gründet sich auf die Mitte des
18. Jahrhunderts.
Die Hälfte der Menschen in Deutschland lebt in ländlichen und halbstädtischen Regionen. Jeder Bildband
von Deutschland zeigt ganz selbstverständlich Kulturlandschaften als Beispiele für die Schönheit unseres
Landes: Rapsfelder am Nord-Ostsee-Kanal, Weinberge
an der Mosel, die Kirschblüte im Alten Land, Almwiesen am Alpenrand. Die Liste ließe sich verlängern.
Selbst die Bundeshauptstadt Berlin brüstet sich mit ihren
acht landwirtschaftlichen Betrieben.
Doch von der Schönheit des Landes können Landwirte nicht leben. In dem Agrarbericht der Bundesregierung wird ausgewiesen, dass das Einkommen je Arbeitskraft in den landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetrieben
zurzeit 17 Prozent unter dem gewerblichen Vergleichslohn liegt. Das heißt, Landwirte sind nicht auf Rosen gebettet. Im Schnitt arbeiten sie mehr als andere und verdienen weniger. Landwirte sind damit nicht die
klassischen Subventionsempfänger, als die Sie sie hier
dargestellt haben, Herr Zöllmer.
({1})
Die Stimmung in der Landwirtschaft ist vielerorts von
Resignation gekennzeichnet.
Jede Skandalmeldung, egal wie berechtigt sie ist,
wird pauschal allen Betrieben angelastet, auch wenn sie
nichts damit zu tun haben. Das erzeugt ein Gefühl der
Ohnmacht. Die BSE-Krise hat 2 Milliarden Euro gekostet. Sie steckt den Landwirten noch immer in den Knochen. Sie hatte ihren Ausgangspunkt in Großbritannien.
Die Ausbreitung der Krankheit wurde durch ein eklatantes Versagen der EU-Veterinäre verursacht.
({2})
Herr Zöllmer, Sie haben hier eine falsche Darstellung
der Dinge abgegeben.
Die rot-grüne Agrarpolitik hat einen entscheidenden
Anteil an der schlechten Stimmung in der Landwirtschaft. Darauf geben Sie mit diesem Haushalt keine angemessene Antwort. Es sind verschiedene Kürzungen
vorgesehen, die so nicht stehen bleiben dürfen.
Zunächst nenne ich die Kürzung des Zuschusses zur
landwirtschaftlichen Krankenkasse. Der landwirtschaftliche Strukturwandel ist seit der Gründung der
Krankenkasse im Jahre 1972 die Begründung für den
Zuschuss. Der Strukturwandel hat sich beschleunigt. Die
Kürzung des Zuschusses bedeutet eine Erhöhung des
Beitragssatzes um im Schnitt 40 Prozent. Diese Maßnahme ist unsozial, sie belastet die Betriebe, die um ihre
Existenz kämpfen.
Daneben nenne ich die Kürzungen bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“. Ich finde es zynisch, dass die
Regierung darauf hofft, dass die Länder zu wenige Finanzmittel haben, um den erforderlichen Eigenanteil zu
erbringen.
Als Drittes weise ich auf die Erhöhung des Steuersatzes für den Agrardiesel hin. Der Vergleich mit Frankreich zeigt: Die Wettbewerbsfähigkeit unserer landwirtschaftlichen Betriebe wird geschwächt. In Frankreich
beträgt der Steuersatz 5,5 Prozent pro Liter, in Deutschland sind es 26 Prozent; das ist knapp fünfmal mehr.
Daneben ist noch auf die Umsatzsteuerpauschalierung hinzuweisen, die bereits erwähnt worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, in der Koalitionsvereinbarung heißt es, das
Leitbild der Regierung sei eine wettbewerbsfähige und
nachhaltige Landwirtschaft. Weder der Agrarhaushalt
noch das Handeln der Regierung spiegeln das wider. Die
Regierung fühlt sich dem eigenen Koalitionsvertrag
nicht verpflichtet und die Koalition fordert es nicht ein.
Wo sind denn die Vorschläge von Rot-Grün zur Stärkung
der unternehmerischen Landwirtschaft? Wo sind die
Vorschläge für wettbewerbsneutrale Einsparungsmaßnahmen? Auch wir von der FDP meinen, dass es im
Agrarhaushalt Einsparungen geben muss.
({3})
Ein Kürzungsvorschlag genügt diesem Kriterium,
Herr Kollege Zöllmer: Die Rückführung der Mittel in
den Bundesprogrammen „Tiergerechte Haltungsverfahren“ und „Ökolandbau“ ist richtig. Der äußerst zögerliche Mittelabfluss zeigt, dass Rot-Grün mit seinen Vorstellungen von der so genannten Agrarwende gescheitert
ist. Weder für gute Worte noch für Geld sind die Betriebe
zu diesen Maßnahmen bereit; denn sie rechnen sich
nicht.
({4})
Schon jetzt sind die Beihilfen des Staates an die
Landwirtschaft in Deutschland niedriger als in anderen
EU-Mitgliedstaaten. Nach Angaben der Europäischen
Kommission gewährt Deutschland Beihilfen in Höhe
von 0,08 Prozent des Sozialproduktes, die Niederlande
dagegen 0,26 Prozent. Die Botschaft dieses Haushalts an
die Landwirte heißt doch: Zieht euch warm an. - Die
Haushaltspolitik für 2004 entspricht damit der bisherigen Leitlinie rot-grüner Politik: Schwächung der Landwirte, wo immer es geht.
({5})
Herr Kollege Ostendorff, die Grünen schielen dabei
nach dem Beifall der Umweltverbände, die alle wiederholt sagen, dass eine Maßnahme nur dann in Ordnung
ist, wenn die Landwirtschaft jammert. Herr Kollege
Zöllmer, die Landwirte zahlen den Preis für die Unfähigkeit der SPD, mit dem grünen Partner tragfähige Kompromisse auszuhandeln.
Ich komme nun zu einigen eklatanten Beispielen für
nationale Alleingänge und ein Politikversagen der SPD:
Zunächst nenne ich die Hennenhaltungsverordnung.
Der Tierschutzbeauftragte der SPD machte auf die verheerenden Folgen dieser Verordnung aufmerksam.
({6})
Die Schweinehaltungsverordnung ist ein weiteres
Beispiel für die gleiche Problematik. Daneben nenne ich
das Tierarzneimittelgesetz. Die gemeinsame Initiative
der vier Fraktionen, das Gesetz in sieben Punkten zu ändern und es praxistauglich zu machen, ging ins Leere;
die SPD setzte sich nicht durch. Schließlich sind die Novelle des Baugesetzbuches und die Modulation zu nennen. Es gibt weitere Beispiele.
Herr Zöllmer, Sie kritisieren bei der CDU/CSU, dass
sie einmal Hü und einmal Hott sagt und nach zwei Seiten argumentiert. Das machen Sie doch ganz genauso.
({7})
Sie sind die Opposition in der Regierung. Die SPD folgt
damit dem Beispiel der Grünen, die zum Beispiel in
Schleswig-Holstein den Ausbau der Infrastruktur im Koalitionsvertrag unterschreiben, gleichzeitig dagegen aber
einen Protest organisieren. Den Grünen bringt das Wählerstimmen, der SPD ein Umfragetief. Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber sollten Sie einmal ein wenig
nachdenken.
({8})
Im Agrarbericht von Schleswig-Holstein führt der zuständige grüne Minister aus, dass 20 Prozent der Arbeitsplätze im nördlichsten Bundesland direkt oder indirekt
von der Landwirtschaft abhängen. Das dürfte in anderen
Bundesländern ähnlich sein. Das macht deutlich: Die
Ausgleichszahlungen der EU werden von den Landwirten nicht genutzt, um in der Toskana Urlaub zu machen,
sondern sie werden investiert. Die Aufträge stärken die
mittelständischen Betriebe im ländlichen Raum.
Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sind kapitalintensiv. Im Vorfeld von Basel II bekommen Landwirte die
Zurückhaltung der Banken bei der Vergabe von Krediten
zu spüren. Die rot-grünen Wettbewerbsverzerrungen,
insbesondere für Veredelungsbetriebe, führen dazu, dass
jeder Landwirt einmal mehr überlegt, ob er angesichts
des in Deutschland bestehenden Politikrisikos weitere
Investitionen wagt. Das ist kein Plan für den Abbau der
Arbeitslosigkeit. Dies führt vielmehr zur Verlagerung
von Arbeitsplätzen ins Ausland.
Damit sind wir unmittelbar beim Thema Verbraucherschutz. Es ist Ziel der Landwirtschaft und muss es
bleiben, gesundheitlich einwandfreie Produkte bei geringer Belastung der Umwelt herzustellen, und Ziel der Ernährungswirtschaft, sie zu hochwertigen Endprodukten
zu verarbeiten. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
stellt der heimischen Obst- und Gemüseproduktion ein
glänzendes Zeugnis aus. Für Importware gilt das nicht
im selben Umfang. Im „Focus“ der letzten Woche wurde
über unerlaubt hohe Mengen an Pflanzenschutzmitteln
bei Importware berichtet. Pflanzenschutzmittel, die bei
uns verboten sind, gelangen über den Import von Obst
auf den Teller der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Das kann doch so nicht gewollt sein.
Damit wird deutlich, dass die Politik der Bundesregierung, der deutschen Wirtschaft in Alleingängen besonders
hohe Standards aufzuerlegen, nicht automatisch zu mehr
Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher
führt. Im Gegenteil: Es wird ein besonders hoher Kontrollaufwand notwendig, der im Übrigen, wie wir alle wissen,
von den Bundesländern nicht geleistet werden kann.
({9})
- Auch der Ökolandbau - das wissen Sie selbst - ist dafür
keine Alternative; denn für ihn werden Produktionsbedingungen vorgeschrieben, aber die Endprodukte werden
nicht geprüft. Dies garantiert zum Beispiel das Gütesiegel in Schleswig-Holstein - ein wundervolles Beispiel.
Über Kontrolle allein kann die Sicherheit von Lebensmitteln nicht gewährleistet werden; denn Kontrollen
sind immer nur punktuell. Die rot-grüne Misstrauenskultur schafft nicht Sicherheit, sondern vermehrt die Unsicherheit.
Der Aktionismus in einigen Bereichen verschleiert,
dass es durchaus Felder gibt, bei denen Handlungsbedarf besteht, die ich zwar sehe, die aber nicht öffentlich
diskutiert werden. Thema Verbraucherschutz: Es gibt in
jedem Jahr Todesfälle durch Salmonelleninfektionen.
Auch der vermehrte Medikamenteneinsatz bei der Bodenhaltung von Geflügel ist ein wichtiges Thema.
Thema Ökolandbau: Im Ökolandbau werden noch
immer historische Pflanzenschutzmittel wie Kupferhydroxid angewandt, die den Boden schädigen. Auch das
ist keine nachhaltige Produktion. Es fehlen Fortschritte
bei der Nachhaltigkeit der Lebensmittelproduktion. Betriebsmitteleinsatz und Umweltbeeinträchtigung müssen
in Bezug zur Erntemenge gesetzt werden. Eine Überprüfung der Maßnahmen in der BSE-Bekämpfung auf ihre
Sinnhaftigkeit ist dringend überfällig. Wir brauchen Anreize für eine Landwirtschaft, die sich von EU-Forderungen unabhängig macht.
Vor diesem Hintergrund braucht die Regierung nicht
auf andere Aktionsfelder auszuweichen, die ohne wesentliche Probleme sind. Der Wald braucht bessere Holzpreise, aber keine Novellierung des Waldgesetzes mit dem
unvermeidlichen Mehr an bürokratischen Regelungen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ministerin
Künast hat mit ihrer unqualifizierten Aussage vom Ende
des Waldsterbens keine Basis für Vertrauen geschaffen.
Aus meinen Ausführungen folgt: Die FDP lehnt den
vorgelegten Einzelplan 10 ab.
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wenn Sie sich den Einzelplan 10 anschauen,
dann werden Sie feststellen, dass wir bei der Verbraucherpolitik - das ist keine rot-grüne Wortschöpfung,
Frau Kollegin Happach-Kasan - einen klaren Schwerpunkt gesetzt haben. Alle Ausgaben werden auf demselben hohen Niveau fortgeschrieben. Davon ausgenommen ist lediglich die Biosiegelkampagne, die wie
geplant ausläuft. Angesichts der Rahmenbedingungen ist
dieses Bekenntnis zum Verbraucherschutz ein klarer Erfolg.
({0})
Ziel unserer Politik ist es, den Verbraucherinnen und
Verbrauchern eine eigenverantwortliche Konsumentscheidung zu ermöglichen. In vielen Bereichen ist dies
relativ problemlos möglich. Der technologische Fortschritt sorgt aber genauso wie die wichtiger werdende
Eigenverantwortung in der Daseinsvorsorge für komplexe Produkte, deren Qualität oft nicht wirklich eingeschätzt werden kann. Kaum jemand versteht einen Vertrag über eine Lebensversicherung wirklich, obwohl das
für die meisten Menschen der wichtigste Vertragsabschluss überhaupt ist. Informationspflichten sind hier
eine Maßnahme, die andere ist eine unabhängige Information. Das kostet Geld und das haben wir in diesen
Haushalt eingestellt.
({1})
Letzte Woche veranstaltete die SPD-Bundestagsfraktion einen Kongress zur Verbraucherpolitik. Im Rahmen
dieses Kongresses hat der Präsident des Ifo-Instituts,
Professor Dr. Hans-Werner Sinn, auf die Notwendigkeit
einer aktiven Verbraucherpolitik hingewiesen. Auf
zahlreichen Märkten gibt es ein Informationsungleichgewicht, das dazu führt, dass sich gute Qualitäten nicht auf
den Märkten durchsetzen können. Die notwendigen
Preise können derzeit nicht erzielt werden. Um gegenzusteuern, bedarf es - so die Aussage von Hans-Werner
Sinn - unabhängiger Informationen.
Er hat dabei explizit die Stiftung Warentest und Qualitätslabels genannt. Bei uns hat er damit offene Türen
eingerannt. Die Stiftung Warentest und der vzbv werden
auf dem Niveau von 2003 gefördert. Die Aufklärung der
Verbraucher wird nach dem Auslaufen der BiosiegelKampagne auf dem Niveau von 2002 fortgesetzt. Das
heißt, dass wir die Finanzierung der Verbraucherarbeit
verstetigt haben. Im Gegensatz zu den Ländern, die vielfach die Mittel für die Verbraucherzentralen streichen,
sind wir damit ein verlässlicher Partner der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({2})
Das ist notwendig. Aber auch die Länder sollten dafür
sorgen, dass die Verbraucherzentralen funktionsfähig
bleiben.
Die Stiftung Warentest gibt mit ihren Produkttests
nicht nur den Verbrauchern eine Entscheidungshilfe an
die Hand, sondern sie trägt auch dazu bei, dass sich die
Produktqualität insgesamt verbessert. Auch wenn nicht
alle die Zeitschrift „Test“ lesen - diese unabhängige Verbraucherberatung sorgt dafür, dass sich bessere Qualitäten am Markt durchsetzen können. Wir brauchen diese
Beratung nicht nur bei den klassischen Produkten. Gerade bei Dienstleistungen besteht Beratungsbedarf. Auch
mit der Beratung zur Energieeinsparung, deren Förderung wir auf hohem Niveau unverändert fortsetzen, setzen wir Impulse für moderne und nachhaltige Produkte.
({3})
Verbraucherpolitik kann damit ein Motor für die Erzeugung qualitativ hochwertiger Produkte sein. Wenn
die Verbraucherinnen und Verbraucher die Qualität von
Produkten nicht wirklich einschätzen können, dann
bleibt der Preis als alleiniges Entscheidungskriterium.
Das heißt, bessere Produkte werden sich nicht durchsetzen, weil sie mehr kosten. Erst wenn die bessere Qualität
für die Verbraucherinnen und Verbraucher sichtbar wird,
wird sie auch zu einem Entscheidungskriterium. Die Energieverbrauchskennzeichnung bei Hausgeräten ist ein erfolgreiches Beispiel. Daraus müssen wir lernen, eine
verständliche und auch eine vergleichbare Kennzeichnung herzustellen. Das ist möglich.
Hier sind vor allem die Unternehmen gefordert. Sie
geben viel Geld für die Werbung aus, die kaum Informationen über Produktqualitäten enthält. Solange wir
uns aber laut Werbung zwischen einem Auto entscheiden müssen, das steile Berge hinauffahren kann, und einem, das enge Kurven fahren kann, solange brauchen
wir diese notwendigen Informationen von anderen. Bei
den Autos übernehmen die Medien diese Information,
wie zum Beispiel die Berichterstattung über die Internationale Automobilausstellung zeigt. In vielen anderen
Bereichen muss die Verbraucherpolitik diese Informationen bereitstellen.
Finanzierung von Beratung und Vertretung ist nur ein
Teil der Verbraucherpolitik. Eingebettet muss dies in
eine Politik sein, die die Interessen der Verbraucherinnen
und Verbraucher ausreichend berücksichtigt. Wir brauchen in vielen Bereichen Transparenz. In der Landwirtschaft diskutieren wir ständig über Kennzeichnung und
Labels, in der Gesundheitspolitik haben wir gerade mit
der Gesundheitsreform Regelungen vorliegen, die den
Patienten besser über die Versorgung informieren. Darüber hinaus brauchen wir einen rechtlichen Rahmen,
der es den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, ihre Rechte durchzusetzen. Auch hier haben wir
Fortschritte erzielt. Verwiesen sei auf die Schuldrechtsmodernisierung oder auf die laufende Überprüfung der
Fahrgastrechte. Auch in diesem Bereich sind wir ein
verlässlicher Partner der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wir haben auf unserem verbraucherpolitischen Kongress von den Verbraucherverbänden viel Zuspruch für
unsere Politik bekommen. Es wurde aber vor allem eines
deutlich: Die Diskussion um die Verbraucherpolitik hat
zwar an Bedeutung gewonnen, Verbraucherinteressen
sind aber weiterhin schwer organisierbar. Auch deshalb
ist die Förderung der Vertretung der Verbraucherinnen
und Verbraucher wichtig. Wir brauchen ein starkes Verbraucherministerium in Verbindung mit einem schlagkräftigen vzbv, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher eine hörbare Stimme bekommen.
Mit dem Haushalt 2004 führen wir fort, was wir in
den letzten Jahren aufgebaut haben: eine verlässliche
Finanzierung der Verbraucherpolitik auf einem hohen
Niveau. Gleichzeitig setzen wir verschiedene Initiativen
um. Der Aktionsplan der Bundesregierung oder das Strategiepapier der SPD-Bundestagsfraktion sind neue Impulse innerhalb der Verbraucherpolitik.
({4})
Die Verbraucherpolitik hat damit an Bedeutung gewonnen. Dem tragen wir im Haushalt 2004, aber auch in unserer täglichen Politik Rechnung.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Deß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte zum Haushalt bietet die Gelegenheit, zwei Jahre
nach der so genannten Agrarwende Bilanz
({0})
zu ziehen und über die Haushaltsansätze zu diskutieren.
Ilse Aigner hat die Haushaltsansätze angesprochen. Ich
möchte mich deshalb auf die Bilanz aus der agrarpolitischen Entwicklung in unserem Land konzentrieren.
Laut Agrarbericht 2003, den wir vor der Sommerpause diskutiert haben, hatten die deutschen Landwirte
im vergangenen Wirtschaftsjahr ein Einkommensminus
von 7 Prozent. Für das heutige Wirtschaftsjahr ist ein
Einkommensrückgang von bis zu 20 Prozent angekündigt worden.
({1})
Statt weitere Kürzungen, Belastungen und Einschnitte
im Agrarhaushalt anzukündigen, müsste die Bundesministerin an das Rednerpult treten und einen agrarpolitischen Offenbarungseid leisten.
({2})
Die angedachten Belastungen werden das Höfesterben in
Deutschland weiter beschleunigen, Frau Ministerin.
1998, dem letzten Jahr unserer Regierungszeit, betrug
der Strukturwandel 1,7 Prozent. Derzeit ist er fast dreimal so hoch. Wenn die angekündigten Maßnahmen umgesetzt werden, werden noch wesentlich höhere Werte
erreicht.
({3})
Bei der Einkommensminderung von 20 Prozent, die
im Agrarbericht aufgeführt war, sind aber - dafür können Sie allerdings nichts, Frau Ministerin - die Folgen
der Dürre, die sich auf die deutsche Landwirtschaft, zumindest in den betroffenen Gebieten, massiv auswirken
wird, noch nicht berücksichtigt.
Das Verhalten der Bundesregierung - auch was die
Behandlung der Landwirte in den Dürreregionen anbelangt - können die Landwirte nur mit Verbitterung zur
Kenntnis nehmen. Ich habe der Presse entnommen, dass
der französische Landwirtschaftsminister durch die betroffenen Regionen gereist und sich in Gesprächen mit
Landwirten und ihren Familien vor Ort ein Bild gemacht
hat, nach Paris zurückgekehrt ist und dann angekündigt
hat, dass die französischen Bauern in den Dürreregionen
mit einem nationalen Hilfsprogramm in Höhe von
500 Millionen Euro rechnen können.
Sie, Frau Ministerin, sollten einmal angeben, wie
viele Dürreregionen Sie schon besucht haben. Sie besuchen lieber Bioeisveranstaltungen mit Informationen
und Spaß, wie es in der Einladung geheißen hat. Aber
den Bauern in Deutschland ist längst der Spaß vergangen, wenn sie den Namen Künast hören.
({4})
Auch den Verbrauchern wird der Spaß noch vergehen,
wenn ein immer größerer Teil der Agrarproduktion von
Deutschland ins Ausland verlagert wird. Dafür gibt es
ein konkretes Beispiel. An der bayerisch-tschechischen
Grenze ist auf tschechischer Seite eine große Hühnerfabrik gebaut worden. Dort werden über 63 Millionen
Eier produziert. Diese 63 Millionen Eier werden vor allem auf dem bayerischen und dem übrigen deutschen
Markt landen und werden unsere Hühnerhalter - vor allem unsere bäuerlichen Hühnerhalter - in große Bedrängnis bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wäre
jetzt notwendig, dass die Ministerin, statt dass sie über
Klimawandel schwadroniert, Programme auflegt, so
dass auch in Deutschland den Bauern in den betroffenen
Dürreregionen geholfen werden kann. Ich finde, dass es
unverantwortlich ist, in dieser schwierigen Zeit den Bauern in Deutschland weitere 400 Millionen Euro wegzunehmen. Frau Ministerin, was Sie hier tun, sind Tritte
gegen jemanden, der bereits am Boden liegt. Das finde
ich nicht in Ordnung, gerade was die Kürzungen im
Agrarsozialbereich anbelangt.
({5})
Ilse Aigner hat die Zahlen schon angesprochen; ich
möchte sie wiederholen. 218 Millionen Euro KürzunAlbert Deß
gen in der landwirtschaftlichen Krankenkasse bedeuten
massive Beitragssteigerungen. Die Landwirtschaft
- deshalb ärgert mich das so - zahlt laut RheinischWestfälischem Wirtschaftsinstitut netto bereits über eine
halbe Milliarde Euro Ökosteuer, damit im übrigen Sozialbereich das Geld vorhanden ist. Der Landwirtschaft
wird hier Geld weggenommen, ohne dass in den Agrarsozialbereich etwas zurückfließt. Hier wird jetzt zusätzlich Geld weggenommen.
Der Kollege Rudi Kraus sitzt hier. Er war Staatssekretär bei Norbert Blüm und wir haben damals die Agrarsozialreform beschlossen. Diese Agrarsozialreform
1995 ist mit der damaligen Opposition, der SPD, abgestimmt worden. Der Kollege Ottmar Schreiner war in allen Verhandlungen dabei. Die SPD hat damals im Bundestag und im Bundesrat zugestimmt. Kaum war die
SPD, war Rot-Grün in der Regierungsverantwortung,
sind massive Kürzungen beim Altersgeld vorgenommen
worden, was zum 1. Januar 1999 zu Beitragssteigerungen von bis zu 110 Prozent geführt hat. Jetzt werden die
Kürzungen im Agrarsozialbereich in der Krankenkasse
vorgenommen. Nehmen Sie diese Kürzungsvorschläge
zurück! Ich stelle hier schon ernsthaft die Frage an RotGrün, ob Sie Ihr soziales Gewissen an der Garderobe des
Deutschen Bundestages abgegeben haben. Diese Kürzungen können den Bauern nicht zugemutet werden.
({6})
Ich weiß, dass sich auch viele Kolleginnen und Kollegen
in der SPD über das, was hier vorgeschlagen wird, ärgern. Wir werden dies so nicht hinnehmen.
Wir haben jetzt wochenlang die Debatte mitverfolgt,
dass im übrigen Krankenkassenbereich der Beitragssatz
von etwas über 14 auf 12,5 Prozent abgesenkt werden
soll. In der Landwirtschaft würde diese Kürzung dazu
führen, dass der Beitrag von 14 auf 20 Prozent des Einkommens ansteigen würde. So kann man mit der Landwirtschaft nicht umgehen! Wir werden dies entsprechend anprangern und werden auch versuchen, dort, wo
uns Einflussmöglichkeiten gegeben sind, diese unsoziale
Kürzung zu verhindern.
({7})
Herr Kollege, ganz offenkundig sind Sie mit einer
Zwischenfrage einverstanden! - Bitte schön.
Auch wenn es schon spät ist, muss ich noch eine
Frage stellen. Herr Deß, heute Morgen haben die Kollegen aus Ihrer Fraktion der Koalition vorgeworfen, der
Haushalt sei nicht ausreichend konsolidiert und da
müsste es noch viel mehr Anstrengungen geben.
({0})
Ich höre jetzt von Ihnen den Vergleich mit den Franzosen, die 500 Millionen Euro für den Dürreausgleich bereitstellen. Ich höre Ihre Ausführungen zur Krankenversicherung.
({1})
- Ja, natürlich, ich musste aber sagen, was ich fragen
will. - Insofern möchte ich Sie fragen, wie Sie die Konsolidierungsforderungen Ihrer haushaltspolitischen Kollegen mit Ihren ständigen eigenen Forderungen nach immer mehr Geld, in diesem Fall für den Agrarbereich,
miteinander vereinbaren wollen?
({2})
Frau Kollegin, wenn die ganzen Ökospielereien aus
dem Haushalt herausgenommen werden, kommt schon
eine ganz beträchtliche Summe zusammen.
({0})
Das, was von Frau Künast im Haushalt eingeplant ist,
dient auch nicht den Ökobauern. Im Gegenteil, die Ökobauern sind heute schlechter gestellt, als dies vor zwei
Jahren der Fall war. Dieses Geld ist auch in den Sand gesetzt; denn wir können aus der Presse überall entnehmen, dass der Absatz von Ökoprodukten europaweit
rückläufig ist. Die größte schwedisch-dänische Molkerei
hat beispielsweise erst vor kurzem alle Verträge mit den
Biobauern in Schweden und Dänemark gekündigt, weil
der Absatz nicht mehr gegeben war. Ich finde es deshalb
unverantwortlich, dass bei uns so viel Geld herausgeschmissen wird, ohne dass es den Ökobauern wirklich
zugute kommt.
({1})
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, es ist mit Sicherheit
auch möglich, darüber nachzudenken, ob es tatsächlich
eine Gleichbehandlung von ähnlichen Sozialsystemen
gibt. Deshalb müsste ich an Sie eigentlich die Frage zurückstellen: Ist im Haushalt eine Kürzung der Mittel für
die Knappschaft in gleicher Größenordnung eingeplant,
wie es bei der Landwirtschaft der Fall ist?
Herr Kollege, glücklicherweise sieht die Geschäftsordnung Rückfragen des Redners an das Plenum nicht
vor.
({0})
Dafür eröffnet sich aber nun die Möglichkeit, eine
weitere Zusatzfrage - diesmal aus den Reihen der eigenen Fraktion - zu beantworten.
Bitte, Herr Kollege Straubinger.
Herr Kollege Deß, sind auch Sie der Meinung, dass
alle Programme für Aufklärung und Ökolandwirtschaft,
die im Einzelplan 10 aufgeführt sind, nur Subventionsprogramme für Werbeagenturen darstellen?
Ich kann Ihre Frage in aller Kürze mit Ja beantworten,
lieber Kollege Max Straubinger. Der Bundesrechnungshof sollte einmal genau prüfen, wohin die für diese Programme eingestellten Gelder fließen. Er hat ja Frau
Künast bereits wegen ihrer Personalpolitik kritisiert.
Vielleicht wird er auch hier Kritik an der Bundesministerin üben.
Angesichts meiner kurzen Redezeit möchte ich noch
auf einen anderen Punkt hinweisen, nämlich auf das
Agrardieselgesetz. Frau Kollegin, ich bin damit einverstanden, dass die deutschen Landwirte einen bestimmten
Steuersatz beim Agrardiesel zahlen müssen. Er ist übrigens der höchste in ganz Europa. Ich verlange zwar
nicht, ihn zu senken. Aber ich fordere Frau Künast auf,
sich dafür einzusetzen, dass Agrardiesel europaweit
gleich besteuert wird. Damit könnten wir leben.
({0})
Ich habe noch nie gehört, dass Frau Künast hier besondere Aktivitäten in Brüssel entwickelt hat. Tatsache ist,
dass die deutschen Bauern beim Agrardiesel 135 Prozent
mehr zahlen als ihre französischen Kollegen. Das ist
knallharte Wettbewerbsverzerrung. Damit kann die deutsche Landwirtschaft nicht leben.
Des Weiteren schlage ich vor, dass die Bundesregierung Verordnungen und Gesetze zurücknimmt, die sie
im nationalen Alleingang erlassen hat.
({1})
Den deutschen Bauern werden doch nur Knüppel zwischen die Beine geschmissen. Ich kann kurz einige aufzählen: Die Bundesregierung sollte sofort das nationale
Modulationsgesetz von Januar dieses Jahres zurücknehmen; denn der bürokratische Aufwand, den dieses Gesetz verursacht, kostet mehr Geld, als aufgrund dieses
Gesetzes verteilt wird. Die Bundesregierung sollte
außerdem die Legehennenhaltungsverordnung zurücknehmen.
({2})
Hier werden Tierschutz und Verbraucherschutz nur vorgegaukelt. Es gibt in Berlin ein Gauklerfest, auf dem
kann die Ministerin auftreten. Sie sitzt hier doch am falschen Platz.
({3})
Jetzt besteht die große Gefahr, dass die Schweineverhaltungsverordnung
({4})
- Entschuldigung, ich meine natürlich die Schweinehaltungsverordnung - wieder nicht eins zu eins umgesetzt
wird. Sie brauchen gar nicht zu lachen, nur weil ich
Schweineverhaltungsverordnung gesagt habe. Schließlich hat die grüne Ministerin in Nordrhein-Westfalen
schon vorgeschrieben, wie viele Minuten man täglich einem Schwein widmen muss, damit man merkt, wie sich
die Schweine im Stall verhalten.
({5})
Weiteren Belastungen der deutschen Landwirtschaft
muss Einhalt geboten werden. Durch das UVP-Gesetz
wird beispielsweise das Errichten von Stahlbauten unverhältnismäßig erschwert. Die geplante Baurechtsnovellierung wird in Zukunft Investitionen in der Tierhaltung verhindern.
Die Rücknahme all dieser Maßnahmen, die den deutschen Bauern massive Nachteile bringen - das dürfen
wir nicht zulassen -, würde überhaupt kein Geld kosten.
Wenn Knüppelwerfen eine olympische Disziplin wäre,
dann wären Sie, Frau Ministerin, Goldmedaillenanwärterin. Das sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit.
({6})
Wir leiden unter einer dilettantischen und ideologisch
verbrämten Agrarpolitik. Der größte Wunsch unserer
Bauern ist, dass die rot-grüne agrarpolitische Geisterfahrt schnellstens gestoppt wird. Rot-Grün, insbesondere
Frau Künast und der Kanzler, sorgen sonst bis 2006 dafür, dass die deutschen Bauern mit Karacho gegen die
Wand gefahren werden.
Frau Ministerin, irgendwo müssen Sie besondere Fähigkeiten haben: Es ist schon ein besonderes Kunststück,
dass man bei dieser Trockenheit den agrarpolitischen
Karren so in den Dreck fährt, wie Sie das fertig bringen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach so viel Schimpfe von der Opposition
wollen wir zur Sachlichkeit zurückkehren.
({0})
In den nächsten Wochen wird an vielen Orten im
Land das Erntedankfest gefeiert. Eine gute Ernte kann
man - das weiß jeder von uns - nicht fordern; man kann
sie aber auch nicht garantieren oder genehmigen. Natur,
Dürre und Flut sind etwas, womit Bäuerinnen und Bauern schon immer gelebt haben. Das gehört zu unserem
Beruf, auch wenn es in diese Zeit, in der wir an Sicherheit gewöhnt sind, nicht so recht passen will.
Ich glaube, es ist gut und richtig, dass die Gesellschaft
den Landwirten, die durch die Dürre in ihrer Existenz
gefährdet sind, Hilfe gewährt. Dementsprechend handelt
unsere Ministerin und das findet unsere volle Unterstützung.
({1})
Wenn diese Woche in Cancún bei der WTO über den
Abbau der weltweiten Handelshemmnisse verhandelt
wird, dann werden es insbesondere die Agrarsubventionen sein, die wiederum im Zentrum der Kritik stehen.
Dieser Kritik haben wir uns zu stellen. Wenn wir für unsere Landwirtschaft weiterhin etwas tun wollen, dann
müssen wir es schon so einrichten, dass es auch vor der
WTO Bestand hat. Auch deshalb ist das Ergebnis, das
Ministerin Künast im Juni in Luxemburg erzielt hat
- nämlich die Hilfen produktionsunabhängig und möglichst als Flächenprämien zu gewähren -, so wichtig.
({2})
Wenn wir denjenigen aus der Opposition, die diese Reform verhindern wollten, gefolgt wären, hätten wir am
Ende jeden Handlungsspielraum verloren.
Warum steht denn die Landwirtschaft - sie wird in einem Atemzug mit der Steinkohle genannt, die quasi das
Synonym für negative Subventionierung ist ({3})
immer wieder so heftig in der Kritik, wenn es um Subventionen geht? Die Agrarlobby und die Agrarpolitik
haben in den vergangenen Jahrzehnten ein System geschaffen, das für niemanden mehr zu durchschauen ist.
Sie haben sich nicht die geringste Mühe gemacht, das
System der Öffentlichkeit plausibel zu erklären. Der
Grund dafür, dass denjenigen immer wieder zugestimmt
wird, die den Agrarhaushalt als Steinbruch nutzen wollen, ist, dass man es nicht besser weiß.
Die Zeiten haben sich aber geändert. Bloßes Beharren
auf alten Besitzständen reicht nicht mehr aus. Angesichts der Haushaltslage muss den Mitbürgern jede Hilfe
neu erklärt und gerechtfertigt werden. Das ist gut so;
denn in Wahrheit brauchen wir Landwirte uns nicht zu
verstecken:
Zum einen sind die Subventionen für die Landwirtschaft bereits in den vergangenen Jahren überproportional gesunken. Die neuesten Zahlen des Subventionsberichts belegen: Die Subventionen in Deutschland sind
von 2000 bis 2002 in einem Umfang von
800 Millionen Euro abgebaut worden. Die Landwirtschaft hat die Hälfte davon getragen.
Zum anderen gibt es sehr gute Gründe dafür, dass
Landwirte einen Teil ihres Einkommens direkt von der
Gesellschaft erhalten; denn die Landwirtschaft, zumindest eine bestimmte Art von Landwirtschaft, erbringt
Leistungen für die Gesellschaft, die sonst nicht entgolten
würden. Ich spreche von der Pflege unserer Kulturlandschaft, von Beiträgen zum Umweltschutz und von
der Schaffung von Erholungsraum. Auch deshalb ist der
Paradigmenwechsel, der in Luxemburg eingeleitet
wurde, so wichtig. Es ist der Weg zu mehr Transparenz
und zum Abbau von Benachteiligungen - zum Beispiel
in Bezug auf Grünland - in der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik.
Die Opposition erklärt an dieser Stelle, was sie immer
meint erklären zu müssen, dass nämlich die Bundesregierung Unsummen für den ökologischen Landbau aus
dem Fenster herauswerfe
({4})
und den anderen Bauern das Geld wegnehme.
Was wir von Rot-Grün tun, ist eine Förderung der
umweltfreundlichen Landwirtschaft - sie ist von der
Gesellschaft gewollt - durch Beratung, Forschung und
Entwicklung. Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist die Zukunft für unsere Bäuerinnen und Bauern. Sie von der CDU/CSU glauben immer noch. Sie täten der Landwirtschaft etwas Gutes, wenn Sie blind dem
Deutschen Bauernverband das Wort reden.
Auf der anderen Seite müssen sich natürlich auch die
Verbraucherinnen und Verbraucher sowie insbesondere
der Handel fragen lassen, welche Landwirtschaft sie
wollen. Zu Dauertiefstpreisen kann kein Betrieb die gesellschaftlichen Leistungen erbringen, die uns laut der
Umfragen so viel wert sind. Rund 40 Prozent der landwirtschaftlichen Wertschöpfung sind im Bereich der
Milcherzeugung angesiedelt. Milch ist das wesentliche
Standbein der bäuerlichen Landwirtschaft; doch gerade
die Milchbetriebe trifft es derzeit besonders hart: Aldi,
Lidl und Co. lassen sich von ihrem unerbittlichen Milchpreiskampf nicht abbringen. Im Gegenteil: Sie zwingen
uns Bauern immer mehr in die Knie. Dass selbst wir
Biomilchbauern am letzten Wochenende gestreikt haben
und unsere Milch für zwei Tage nicht an die Molkerei
abgegeben haben, ist ein deutliches Warnsignal an den
Handel, aber auch an Verbraucherinnen und Verbraucher. Für 31 Cent pro Liter können wir keine Biomilch
erzeugen. Ebenso wenig deckt ein Milcherzeugerpreis
von 25 Cent pro Kilogramm Milch die Kosten und den
Arbeitslohn auf konventionellen Betrieben.
Wir haben in Deutschland und in der EU allerdings
vor Jahrzehnten den Fehler gemacht, dass wir als Voraussetzung für maßvolle Lohnabschlüsse die Nahrungsmittelpreise niedrig gehalten haben. In der Folge
mussten die sinkenden und nicht kostendeckenden
Preise, die die Bauern erhielten, durch staatliche Beihilfen aufgestockt werden. Aus heutiger Sicht war dies ein
Kardinalfehler. Als Bauer sage ich: Ich würde lieber alleine vom Preis für meine Produkte am Markt leben.
({5})
Aber das war eine Entscheidung auf politischer Ebene und
schmerzte auch so lange nicht, wie der Staatshaushalt
genügend abwarf. Das ist heute anders. Aus dieser Situation wieder herauszukommen tut weh.
Verschärft wird die Herausforderung noch dadurch,
dass die Landwirtschaft seit Jahrzehnten einen rasanten
Strukturwandel durchlebt. Das merken wir besonders
bei den Sozialversicherungen, wo auf einen aktiven
Landwirt mittlerweile ein Altenteiler, sprich: landwirtschaftlicher Rentner, kommt. Zusammen mit den mitversicherten Familienangehörigen sind das drei Leistungsempfänger pro aktivem Landwirt. Demgegenüber sind
die Zahlen der allgemeinen Renten- und Krankenversicherung noch glänzend. Dies macht die besondere Problemlage der Landwirtschaft und die enorme Herausforderung, vor der wir stehen, deutlich.
Aber anstatt sich dieser Aufgabe zu stellen und konstruktiv mitzuarbeiten, wollen Sie von der CDU/CSU
einfach jede Reform verhindern und fordern stattdessen
in alter Manier vollmundig mehr Geld für die Landwirtschaft. Wo leben Sie denn eigentlich?
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat mit ihrem Haushaltsentwurf 2004 und dem Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes einen Vorschlag gemacht, wie der Sparzwang umgesetzt werden kann. Ich
kann Ihnen versichern, dass das Verbraucherschutzministerium und die Fraktionen der Regierungskoalition intensiv alle Möglichkeiten diskutieren und alles daransetzen
werden, um den Beitrag, den auch die Landwirtschaft zur
Konsolidierung des Bundeshaushalts leisten muss, für
die Gesamtheit der bäuerlichen Betriebe so sozial ausgewogen wie möglich zu gestalten. Dies wird nicht leicht,
aber wir werden es schaffen.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Peter Jahr, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erste Vorbemerkung. Der Haushalt ist die in
Zahlen gegossene Politik einer Regierung. Das trifft
selbstverständlich auch auf den Haushaltsentwurf des
Bundes 2004 zu. Dieser Entwurf - das sei hier nur am
Rande bemerkt - würde sich vorzüglich als Anlage zur
Begründung eines Insolvenzantrags eignen. Der Bundeshaushalt dokumentiert keinen Willen zu einer aktiven
Politik. Deutschland ist nahezu insolvent. Der Verfasser
hat es leider noch nicht gemerkt.
({0})
Zweite Vorbemerkung. Agrarpolitik und Politik für
den ländlichen Raum gehören nicht zum Schwerpunkt
dieser Bundesregierung. Während sich das Volumen des
Gesamthaushalts um 1,5 Prozent erhöht, soll der Agrarhaushalt laut Entwurf um 7,5 Prozent reduziert werden.
Dies hält die Bundesregierung für angemessen und zumutbar. Im Haushalt sollen 418 Millionen Euro gespart
werden, davon allein bei der landwirtschaftlichen Krankenkasse - das ist schon mehrfach erwähnt worden 243 Millionen Euro. Im Rahmen des Haushaltbegleitgesetzes soll die Steuerrückerstattung bei Agrardiesel um
157 Millionen Euro gesenkt werden. Durch die Defacto-Abschaffung der Umsatzsteuerpauschalierung will
der Finanzminister noch weitere 320 Millionen aus der
Landwirtschaft abziehen.
Ich erwähne diese drei Zahlen nur deshalb, weil diese
drei Komponenten - Krankenkasse, Mineralölsteuerrückerstattung bei Agrardiesel, Abschaffung der Umsatzsteuerpauschalierung - im Gesamtumfang von
720 Millionen Euro direkt einkommenswirksam werden.
Einkommenseinbußen von 720 Millionen Euro mutet
die Bundesregierung einem Berufsstand zu, der mit
20 000 Euro Jahreseinkommen de facto bereits im Niedriglohnsektor angekommen ist. Das muten Sie, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung, einem Berufsstand zu, der in diesem Jahr aufgrund von Witterungsunbilden mehr als 15 Prozent Einkommenseinbußen zu beklagen hat.
Die Einkommenssituation der deutschen Landwirtschaft ist miserabel. Was tut die Bundesregierung? Anstatt Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirtschaft abzubauen, wird wieder einmal der Agrardiesel
höher besteuert. Zum Vergleich - auch das ist schon gesagt worden -: Der dänische Landwirt zahlt 3,24 Cent
Steuern pro Liter, der französische 5,5 Cent und der holländische 6,0 Cent; der deutsche Landwirt dagegen muss
26,56 Cent pro Liter Diesel berappen.
Im Übrigen war mir bisher nicht klar, wie Sie, Frau
Ministerin, zu einer Obergrenze von 10 000 Litern kommen. Sie haben das heute erklärt, indem Sie sagten, man
müsse den Großen etwas wegnehmen, um den Kleinen
etwas zu geben. Wenn man Ihre Logik auf die Luftfahrt
übertragen würde, bedeutete das, dass man die großen
Flugzeuge vom Himmel holen müsste und nur die kleinen weiterfliegen dürften. Irgendwie ist das alles nicht
nachzuvollziehen.
({1})
- Ja, bei uns in Sachsen dürfen die großen Flugzeuge
weiterfliegen. Da können Sie ganz beruhigt sein.
Anstatt endlich eine Mehrgefahrenversicherung in
Deutschland zu etablieren und diese, wie in fast allen anderen europäischen Ländern, auch staatlich zu unterstützen, nehmen Sie, Frau Künast, unseren Landwirten im
nationalen Alleingang noch einmal 2 Prozent der Direktzahlungen weg. Schon aus diesen Gründen wird meine
Fraktion den vorliegenden Entwurf ablehnen. Außerdem
sehen wir erheblichen Nachbesserungsbedarf.
Unser Standpunkt und unsere Forderungen sind einfach nachvollziehbar: Uns geht es schlicht und ergreiDr. Peter Jahr
fend darum, Wettbewerbsnachteile für die deutsche
Landwirtschaft innerhalb der Europäischen Union abzubauen.
({2})
Das heißt im konkreten Fall: keine Kürzung beim
Agrardiesel, keine Kürzung der Zuschüsse zur landwirtschaftlichen Krankenkasse, keine Abschaffung der Umsatzsteuerpauschale und Einführung einer Mehrgefahrenversicherung.
({3})
Die entsprechenden Änderungsanträge wird meine Fraktion vorlegen. Wir gehen dabei von Folgendem aus:
Wenn es um die Konsolidierung des Haushaltes durch
Kürzungen geht, dann sollten diese Kürzungen auch gerecht und nachvollziehbar sein. Ich kann ganz einfach
nicht verstehen, dass die Landwirte überproportional zur
Konsolidierung beitragen sollen. Das ist ungerecht und
unserem Berufsstand nicht zu vermitteln.
({4})
Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der SPD
und von den Grünen, bitten, diesen Anträgen unserer
Fraktion, die gut für die deutsche Landwirtschaft sind,
zuzustimmen. Dazu haben Sie im Ausschuss die Chance.
Zum Schluss noch ein Wort an die Bundeslandwirtschaftsministerin. Zu meiner Studienzeit in Leipzig gab
es einen Professor Else, der gelegentlich zu uns Studenten, wenn er mit unserer Leistung unzufrieden war, gesagt hat: „Auch Sie, meine Damen und Herren, werden
die deutsche Landwirtschaft nicht kaputtkriegen. Das
haben vor Ihnen schon ganz andere versucht.“
({5})
Wenn ich an Sie denke, liebe Frau Künast, muss ich Ihnen gestehen, dass ein Großteil meiner politischen Motivation diesem Zitat entspringt, weil es haargenau auf die
derzeit von Ihnen betriebene Agrarpolitik zutrifft.
Danke schön.
({6})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gemäß der alten Weisheit: „Wer schnell hilft, hilft
doppelt“ würde ich gerne auf einige Punkte aus der Rede
von Deß eingehen. Wenn Sie zuhören, Herr Deß, erhalten Sie vielleicht eine Antwort auf Ihre Frage nach Kompensationsleistungen für Dürreschäden. Ich kann sie Ihnen beantworten: Die Mittel, die von Länderseite
angefordert worden sind, werden auch in diesem Jahr
vom Bund gegenfinanziert. An dieser Stelle hat Frau
Künast also schnell alles Nowendige in Gang gesetzt.
Wenn die Bauern diese Mittel noch in diesem Jahr abrufen wollen, haben sie alle Hände voll zu tun. - Schönen
Dank, Frau Künast!
({0})
- Ich hätte jetzt auch von Ihnen, Herr Deß, ein wenig
Beifall erwartet.
Dass dieses Jahr nicht einfach zu bewältigen sein
wird, habe ich schon im Frühjahr in meiner Haushaltsrede gesagt. Die Gründe dafür sind ganz schnell genannt: Das liegt zum einen an der wirtschaftlichen Lage
Deutschlands, an der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik in Europa und an den WTO-Verhandlungen. Die
gemeinsame Agrarpolitik Europas und die jetzige WTOVerhandlungsrunde sind für die hiesigen Bauern sowie
für die europäische und die weltweite Agrarwirtschaft
zukunftsweisend. Man kann sagen: Dieses Jahr stand
und steht voll im Zeichen der internationalen Veränderungen.
Meine Damen und Herren, was die europäische
Agrarpolitik angeht, so hat die Gemeinschaft Ende Juni
dieses Jahres den Rahmen bis 2013 gesteckt. Schwerpunkte sind die weitgehende Entkoppelung von den Direktzahlungen - das wissen wir -, die Stärkung der Förderung der ländlichen Räume, die Einführung der
obligatorischen Modulation und die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutzund Lebensmittelstandards. Damit wird die künftige
Agrarpolitik immer mehr gesellschaftspolitischen Zielen
Rechnung tragen. Außerdem ist sie ein weiterer und sehr
wichtiger Schritt, um die Landwirtschaft zu unterstützen
und auch ihr Bild in der Gesellschaft weiter positiv zu
verändern.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
weiß, dass sich viele von Ihnen gerne als Sprachrohr des
Deutschen Bauernverbandes benutzen lassen und dass
Sie ihm gern dienen. Der Bauernverband bemängelt,
dass die vorgesehenen GAP-Regelungen unzureichend
seien und dass es zu Einkommensverlusten kommen
werde.
({1})
Sie benutzen auch die kommenden WTO-Verhandlungen schon jetzt dazu, den Untergang der europäischen
Landwirtschaft zu beschreien. Solche Bilder werden leider immer und immer wieder gern von CDU/CSU-Politikern und Funktionären benutzt, die entweder keinen
Blick für gesellschaftspolitische Veränderungen haben
oder ihre vermeintliche Klientel mit schäbigen Parolen
bedienen wollen, ganz nach dem Motto: Landwirtschaft
wie vor 50 Jahren, das ist das, was wir wollen.
({2})
Aber das ist anmaßend und erfolgt wider besseres Wissen. Seien Sie doch ehrlich und sagen Sie den Bauern,
was Sie wissen, nämlich dass für die grüne Branche
Waltraud Wolff ({3})
genauso wie für alle anderen Wirtschaftsbereiche gilt:
Wer nicht innovativ ist und hohe Standards einhält, der
wird sich auf dem Markt nicht behaupten können.
({4})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik den Standard festgesetzt haben, den wir brauchen, um international bestehen zu können. Wir wissen, dass die WTO gerade im
Bereich der Amber- und der Blue-Box Subventionsabbau verlangt. Das heißt, die beschlossenen Subventionsumschichtungen sind wichtig. Wir müssen weg
von Marktstützungen und wir müssen Prämienzahlungen
verringern. Wir müssen Einkommenszahlungen entkoppeln und weiter Umweltprogramme unterstützen. Das ist
notwendig, um die Landwirtschaft zu erhalten.
({5})
Positiver Nebeneffekt ist, dass die Landwirtschaft auch
noch umweltgerechter wird.
({6})
Meine Damen und Herren, die EU-Agrarreform kam
genau zum richtigen Zeitpunkt, um jetzt optimal vorbereitet in die WTO-Verhandlungen gehen zu können.
Auch der Opposition dürfte bekannt sein, dass ein internationales Ziel der vierten Welthandelsrunde ist, den
Handel weiter zu liberalisieren. Ich bin mir sicher, dass
kein Politiker einer Oppositionspartei die WTO-Verhandlungen tatsächlich wegen der Landwirtschaft scheitern lassen will. Aus diesem Grund finde ich es ganz persönlich umso trauriger, dass gerade Ihre Fraktion in der
letzten Zeit nicht ein einziges Mal zu konstruktiver Zusammenarbeit in der Lage war.
({7})
Meine Damen und Herren, für die Gegenfinanzierung
der EU-Programme steht auch in Zukunft die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ mit 770 Millionen Euro zur Verfügung.
Auch im Einzelplan 10 werden wir Kürzungen vornehmen müssen. Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, dass Sie von der schwierigen Weltwirtschaftslage nichts wissen wollen. Sie gehen auch
nicht mit einem einzigen Wort auf die besonders schwierige Lage Deutschlands ein. Kein anderes europäisches
Land musste wie wir zur Überwindung der deutsch-deutschen Teilung billionenschwere Kosten schultern. Dass
Sie den Schuldenberg ausblenden, den Sie uns aus Ihrer
Regierungszeit hinterlassen haben,
({8})
ändert nichts, aber auch überhaupt nichts an der Tatsache, dass er unserer Volkswirtschaft enorm geschadet hat
und noch immer schadet.
({9})
- Herr Deß, Sie könnten jetzt ruhig einmal zuhören.
Sie greifen den Bundesfinanzminister zum einen an,
weil er Ihrer Ansicht nach zu wenig spart. Andererseits
kritisieren Sie, wenn er spart, dass er spart. Ich finde das
kurios. Das ist ganz nach der Manier: Wir wissen nicht,
was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft.
({10})
Die Einsparsumme, die wir in unserem Haushaltsplan
aufbringen müssen, beläuft sich im nächsten Jahr auf
circa 418 Millionen Euro. Ich bin der Auffassung, dass
diese Einsparungen möglichst sozial gerecht verteilt werden sollten. Der Kabinettsentwurf sieht im Bereich der
landwirtschaftlichen Krankenversicherung Kürzungen von circa 218 Millionen Euro vor. Seit Jahren reden
wir über den Erhalt eines eigenständigen landwirtschaftlichen Sozialversicherungssystems. Aus Einspargründen
haben wir schon in der letzten Legislaturperiode die Neuorganisation der Träger vorgenommen. Ich sage hier aber
ganz deutlich, dass Einsparungen in Höhe von 218 Millionen Euro bei der Krankenversicherung schlichtweg
unmöglich sind. Da stimme ich der Opposition zu. Aus
Parlamentariersicht muss ich das ganz kritisch betrachten.
({11})
Ich will Ihnen sagen, warum. Durch die Gesundheitsreform entlasten wir die Beitragszahler der gesetzlichen
Krankenkassen. Deshalb ist es natürlich im Gegenzug
nicht zu vermitteln, wenn die Versicherten in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung durchschnittliche
Beitragssteigerungen von circa 30 Prozent hinnehmen
müssen. Durch die Besonderheiten im landwirtschaftlichen Bereich würde es sogar zu Steigerungen von bis zu
50 Prozent kommen.
({12})
Ich meine, dieser Einsparvorschlag des Kabinetts muss
geändert werden. Dazu haben wir das Parlament.
Frau Ministerin, ich habe Ihren Ausführungen sehr
aufmerksam zugehört. Ich bin sehr froh, dass Sie sich
schon mit den Trägern ins Benehmen gesetzt haben. Ich
denke, wenn wir die Träger ins Boot holen, dann werden
wir es gemeinsam schaffen, hier zu einer guten Lösung
zu kommen.
({13})
Ich bitte Sie von der Opposition, mich nicht falsch zu
verstehen: Ich will nicht an der Einsparsumme rütteln.
Es geht mir einzig und allein darum, wo wir sparen. Da
gibt es vonseiten der SPD keine Tabus und keine Denkverbote. Wir werden hart zu arbeiten haben, um sozial
gerechte Lösungen hinzubekommen. Aber wir wollen
bei der Krankenversicherung die einseitige Belastung
der Landwirte in den alten Bundesländern vermeiden.
Waltraud Wolff ({14})
Genauso wichtig ist es dann aber auch, eine einseitige
Belastung der Betriebe im Osten der Republik zu verhindern. Deshalb kann beim Agrardiesel nur eine lineare
Kürzung und nicht die Einführung einer Subventionsobergrenze von 10 000 Litern pro Betrieb die Lösung
sein.
Wir reden über den Haushalt des Ministeriums für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Das
heißt, dass ökologisch und verbraucherschutzpolitisch
relevante Bereiche weiterhin inhaltliche Schwerpunkte
bilden. Beispielsweise setzen wir uns auch in Zukunft
für die Mineralölsteuerbefreiung in Bezug auf Biodiesel
ein.
Der Haushalt, sehr geehrte Frau Ministerin, ist unter
den Einsparvorgaben sehr schwierig aufzustellen. Deshalb möchte ich Ihnen herzlich Danke sagen für die in
Ihrem Hause geleistete Arbeit. Ich bin sicher, wir werden gemeinsam eine gute Lösung finden.
Zum Schluss wünsche ich Ihnen persönlich, dass Sie
ab morgen bei den WTO-Verhandlungen in Cancun
ebenso große Erfolge für Deutschland erzielen können,
wie Sie das bei der EU-Agrarreform getan haben.
Herzlichen Dank.
({15})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ulla
Heinen, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Frau Teuchner, die Verbraucherpolitik, die Sie vorhin
hier skizziert haben, ist wirklich fern jeder Realität und
meines Erachtens ein reines Traumgebilde. Schön wär’s,
könnte man dazu auch sagen. Sie haben beispielsweise
die 0190er-Nummern erwähnt und dargestellt, was für
einen tollen Erfolg Sie mit Ihrer Politik auf diesem Gebiet erreicht haben.
Dazu muss ich eines sagen: Wenn wir nicht gewesen
wären, wenn die von uns regierten Bundesländer nicht
gewesen wären, wenn meine Kollegin Martina
Krogmann im Wirtschaftsausschuss nicht gewesen wäre,
dann wäre aus dem 0190er-Gesetz niemals ein wirkliches Schutzgesetz für die Verbraucherinnen und Verbraucher geworden, sondern reines Larifari.
({0})
Ihre Verbraucherpolitik ist bestenfalls eine reine Ankündigungspolitik. Mittlerweile finden wir diese reine Ankündigungspolitik auch im Bundeshaushalt wieder. Das
möchte ich Ihnen gerne einmal anhand von ein paar Beispielen erläutern.
Es gibt die Projektliste zum Thema Verbraucheraufklärung, die schon von mehreren Rednern erwähnt
wurde. Für Aufklärungsmaßnahmen zum so genannten
nachhaltigen Konsum werden 3,75 Millionen Euro veranschlagt. Dabei geht es inhaltlich um einen nachhaltigen Warenkorb - was immer dies auch ist - und um eine
Informationskampagne für fairen Handel. Aber deutlich
weniger Geld - deshalb, Frau Teuchner, verstehe ich Sie
nicht - wird für Maßnahmen zur Verbraucheraufklärung
außerhalb des Ernährungsbereichs ausgegeben, nämlich
gerade einmal 2,9 Millionen Euro. Noch einmal zum
Vergleich: 3,75 Millionen Euro allein für die Information über nachhaltigen Konsum und 2,9 Millionen Euro
zur Verbraucherinformation außerhalb des Ernährungsbereichs.
Bei dieser Verbraucherinformation geht es um Themen wie die Liberalisierung des Strom- und Gasmarktes,
die Verbesserung der Verbraucherinformation für Postund Bahnkunden oder um allgemeine Themen wie Verbraucherrechte neue neue Medien, Verbraucherrechte
bei Finanzdienstleistungen - auch das ist schon einmal
erwähnt worden - oder um die Unterstützung eines Informationssystems zur Produktsicherheit. Ich frage
mich, warum diese Schlagworte im Haushalt aufgeführt
werden, ohne dass tatsächlich Geld dahinter steckt und
ohne dass die Bereitstellung der entsprechenden Informationen finanziert wird.
({1})
Frau Ministerin, Sie haben uns angekündigt, Verbraucherpolitik als Querschnittsaufgabe zu sehen. Nennen
Sie das eine Querschnittsaufgabe? Ist das die Wahrnehmung der Verbraucherinteressen in allen Bereichen? Ist
der nachhaltige Konsum für Sie wichtiger als Initiativen
zum elektronischen Geschäftsverkehr oder zum Internet? Wir erleben doch zurzeit, welche Dimensionen der
Handel im Internet mittlerweile angenommen hat und
welche Probleme damit verbunden sind.
Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen: die
Fachbeiräte. Dass der Verbraucherschutz in Ihrem Ministerium eine wichtige Rolle einnehmen soll, haben
Sie uns bei den vergangenen Haushaltsberatungen mitgeteilt. Schon damals haben Sie auf den wissenschaftlichen Beirat „Verbraucher- und Ernährungspolitik“ verwiesen, der neu eingerichtet wurde. So weit, so gut.
Dieses Vorhaben findet ganz klar unsere Unterstützung. Umso verwunderter war ich, nun zu lesen, dass
der Mittelbedarf bei den Mitgliedern von Fachbeiräten
erhöht worden ist, und zwar wegen der Intensivierung
der Arbeiten des Agrarbeirats, aber auch des Verbraucherbeirats.
Ich habe mir das Heft angeschaut, in dem aufgeführt
worden ist, wie viel Geld für welche Maßnahmen ausgegeben worden ist und welche Arbeiten Sie intensivieren
wollen. Dabei habe ich unter dem Punkt „Fachbeiräte“
entdeckt, dass Sie die Formulierungen aus dem Haushaltsentwurf 2003 wortgleich übernommen haben, aber
eine Anhebung der Beiträge für 2004 verlangen. Das
verstehe ich nicht. Ich wäre dankbar, wenn Sie uns
zumindest in den Ausschussberatungen dafür eine Erklärung geben würden.
({2})
Ein weiteres Thema, bei dem Sie sich ebenfalls keinen
großen Ruhm erworben haben, ist die Neuorganisation
der Behörden in Ihrem Aufgabenbereich. Es geht insbesondere um das Bundesamt für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit bzw. um das Bundesinstitut für
Risikobewertung. In diesem Bereich ist ein zusätzlicher
Bürokratieaufwand entstanden. So sind etwa Zuständigkeiten der Biologischen Bundesanstalt für Land- und
Forstwirtschaft auf das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit übertragen worden.
({3})
Aber es wird nicht eine Behörde durch die andere ersetzt. Die Biologische Bundesanstalt bleibt weiterhin am
Genehmigungsverfahren beteiligt. Das heißt, es ist eine
zusätzliche Genehmigungsstufe eingeführt worden. Das
hat nun wirklich nichts damit zu tun, dass man die Zahl
der Behörden verringern und Bürokratiehemmnisse beseitigen will, um es für die Unternehmen in Deutschland
einfacher zu machen.
({4})
Damit haben Sie mehr und nicht weniger Bürokratie in
Deutschland geschaffen.
({5})
Wie ist Ihr Anliegen, ein Bundesinstitut für Produktsicherheit zu gründen, mit Ihren Vorstellungen vereinbar,
die Zahl der Bundesbehörden insgesamt zu verringern?
Die Bundesregierung schreibt in ihrem aktuellen Bericht
von August 2003, dass das Institut nach wie vor geplant
sei. Aber daran schließt sich folgende Anmerkung an:
Die fachlichen und strukturellen Überlegungen zur
Errichtung des Instituts sind noch nicht abgeschlossen.
Da bleibt noch Hoffnung, dass dieses Institut nicht
kommt.
Wir haben schon bei der Neuorganisation der Behörden darauf hingewiesen, dass sowohl das Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit als auch
das Bundesinstitut für Risikobewertung personell durchaus in der Lage sind, nicht nur im Bereich der Lebensmittelsicherheit zu arbeiten. Sie haben die Strukturen,
auch in anderen Bereichen tätig zu werden. Ich meine,
wir brauchen hierfür kein zusätzliches Bundesinstitut.
({6})
Allen Rednerinnen und Rednern hier im Haus ist die
Unabhängigkeit der Stiftung Warentest - Frau
Teuchner hat das schon erwähnt - ein wichtiges Anliegen. Wir stimmen der Koalition durchaus zu. Auch wir
sagen: Es ist gut, dass die Zuwendungen in Höhe von
6,5 Millionen Euro für die Arbeit der Stiftung Warentest
erhalten geblieben sind. Nichtsdestotrotz wünschen wir
uns, dass wir uns in den nächsten Monaten Gedanken
darüber machen, wie wir die Stiftung Warentest in eine
tatsächlich vom Staat unabhängige Stiftung überführen
können. Ich glaube, es ist allmählich an der Zeit, die
Stiftung von den Zuschüssen des Staates unabhängig zu
machen.
({7})
In Ihrer Rede haben Sie die Arbeit der Verbraucherzentralen angesprochen. In der Tat stehen viele Verbraucherzentralen in den Bundesländern leider vor der
Schließung, weil sie kaum noch Mittel zur Verfügung
haben. Das hat etwas damit zu tun, dass die Länder, aber
auch viele Kommunen aufgrund Ihrer Finanzpolitik
schlicht und ergreifend nicht mehr in der Lage sind, Verbraucherzentralen angemessen mitzufinanzieren.
({8})
Die Verbraucherzentralen in den Bundesländern werden vom Bund unterstützt, aber nur im Ernährungsbereich. Eine Kollegin von der FDP, Frau Kopp, hat eine
entsprechende Frage an den zuständigen Staatssekretär
gestellt, der das in seiner Antwort bestätigt hat. Letztendlich bedeutet das, dass die Bundesregierung nur bereit ist, die Ernährungsberatung zu finanzieren - sie ist
gut und wichtig und sie wird zunehmend wichtiger -,
nicht aber andere Beratungen, die bei der Arbeit der Verbraucherzentralen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
({9})
Keine Spur von Projekten zur Beratung bei der Altersvorsorge! Frau Teuchner, Sie haben vorhin die Lebensversicherungen erwähnt. Die Bundesregierung
könnte doch genauso gut Projekte zu den Themen Mietfragen oder Produkt- und Energieberatung fördern und
nicht nur Projekte im Ernährungsbereich. Verbraucherpolitik ist nicht nur Ernährungspolitik, sondern betrifft
schlicht und ergreifend alle Bereiche.
({10})
Die Haushaltslage insgesamt ist prekär. Sie bietet keinen Anlass und keinen Spielraum für politisch-ideologisch motivierte Eskapaden. Vielmehr ist solide Arbeit
gefragt. Wir wünschen uns, dass Sie in den nächsten
Monaten an diesem Haushalt arbeiten und dann einen
vernünftigen Plan vorlegen.
Danke schön.
({11})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 10. September
2003, 9 Uhr, ein.
Dann beginnen wir mit der Beratung des Etats des
Kanzleramtes. Wer auf den Plätzen sitzen bleibt, die er
gerade eingenommen hat, ist morgen früh nah am Ort
des Geschehens. All denen, die von dieser Option keinen
Gebrauch machen wollen, wünsche ich noch einen schönen Abend und eine gute Nacht.
Die Sitzung ist geschlossen.