Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/3/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten Jürgen W. Möllemann hat der Abgeordnete Michael Kauch am 14. Juni 2003 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich. ({0}) Für die noch zu besetzende Position eines stellvertretenden Mitglieds im Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen schlägt die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen den Kollegen Rainder Steenblock vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Steenblock als Stellvertreter im Programmbeirat bestimmt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Zusatzpunktliste aufgeführt: 1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler: Deutschland bewegt sich - mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchssteuergesetze - Drucksache 15/1313 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({3}), Dr. Reinhard Loske, Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Reisen ohne Handicap - Für ein barrierefreies Reisen und Naturerleben in unserem Land - Drucksache 15/1306 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner ({6}), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung der Armut und der Hungerkrise im südlichen Afrika - Drucksache 15/1307 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({8}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck ({9}), Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Welternährungssituation und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung - Drucksache 15/1316 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({10}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({11}), Volker Beck ({12}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Naturschutz geht alle an - Akzeptanz und Integration des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stärken - Drucksache 15/1318 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13}) Sportausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter: Redetext Präsident Wolfgang Thierse Forschungsförderung der Europäischen Union unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten - Drucksache 15/1310 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({15}) und weiterer Abgeordneter: Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Stammzellforschung - Drucksache 15/1346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({16}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({17}) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 50 zu Petitionen - Drucksache 15/1335 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 51 zu Petitionen - Drucksache 15/1336 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 52 zu Petitionen - Drucksache 15/1337 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 53 zu Petitionen - Drucksache 15/1338 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 54 zu Petitionen - Drucksache 15/1339 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico - Drucksache 15/1323 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mehr Wohlstand für alle durch mutige Marktöffnung - Drucksache 15/133 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({23}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Jäger, Ulrike Mehl, Michael Müller ({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske, Volker Beck ({25}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Flüssen mehr Raum geben Ökologische Hochwasservorsorge durch integriertes Flussgebietsmanagement - Drucksache 15/1319 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Hochwasserschutz Solidarität erhalten, Eigenverantwortung stärken - Drucksache 15/1334 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 7 und 19 in Verbindung mit der Aussprache zur Regierungserklärung aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 8 - Berliner Stadtschloss - und 9 - Sexualstrafrecht -, 10 - Einsetzung einer Enquete-Kommission - und 11 - WTO/ GATS-Verhandlungen - sowie 12 - Änderung des BGB - und 13 - Stadtumbau Ost - sollen jeweils getauscht werden. Der Tagesordnungspunkt 4 - Gemeindefinanzreform - wird am Freitag um 9 Uhr beraten. Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 49. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht ({28}) - Drucksache 15/932 überwiesen: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({29}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Präsident Wolfgang Thierse Ich rufe den Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungs- punkte 7 a und 7 b sowie 19 a und 19 b auf: ZP 1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanz- ler Deutschland bewegt sich - mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung 7 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit - Drucksache 15/1309 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({30}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur vereinfachten Nachversteuerung als Brücke in die Steuerehrlichkeit - Drucksache 15/470 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({31}) Rechtsausschuss 19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, Heinz Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Steuern: Niedriger - Einfacher - Gerechter - Drucksache 15/1231 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({32}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Steuersenkung vorziehen - Drucksache 15/1221 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({33}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({34})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg eine Bemerkung zu einem anderen Thema: Der italienische Ministerpräsident hat es für richtig gehalten, einen deutschen Kollegen des Europäischen Parlamentes mit einem Nazivergleich zu belegen. Ich denke, ich stelle hier für das ganze Hohe Haus fest: Diese Äußerung ist in Inhalt und Form eine Entgleisung und völlig inakzeptabel. ({0}) - Herr Glos, ich hoffe, das gilt auch für Sie. Mehr will ich dazu nicht sagen. ({1}) Ich habe die Erwartung, dass sich der italienische Ministerpräsident für diesen inakzeptablen Vergleich in aller Form entschuldigt. ({2}) Bezogen auf unser Thema gibt es Zeiten, in denen hart gestritten werden muss, und Zeiten, in denen Zusammenarbeit angesagt ist. Es gibt Grundsatzfragen, über die wir uns intensiv und, wo nötig, auch hartnäckig auseinander setzen müssen. Heute geht es aber um etwas anderes. Heute geht es darum, sorgsam die Bedingungen zu definieren und verantwortungsbewusst den Rahmen dafür abzustecken, dass unser Land wieder Tritt fasst und sich abermals als eine leistungsfähige, aber eben auch solidarische Gesellschaft erweist. Diese Herausforderung werden wir nur bewältigen, wenn wir unsere Kräfte gemeinsam auf dieses Ziel richten, wenn wir einmal vergessen, was uns ansonsten trennt, und wenn wir bereit sind - das sage ich auch an die Mitglieder des Bundesrates -, die Verantwortung wahrzunehmen, die die Menschen in Deutschland von uns erwarten. ({3}) Mir ist klar, dass auch das nicht ohne Streit abgehen wird, ohne Auseinandersetzungen in der Sache. Das ist auch richtig so. Aber im Vordergrund muss gerade jetzt das gemeinsame Bemühen um konstruktive Lösungen stehen. Mein Eindruck ist, dass wir etwa bei der Gesundheitsreform auf einem guten Weg sind, und ich bedanke mich bei der Opposition ausdrücklich für die Bereitschaft zur Mitarbeit. ({4}) Die Fragen, die wir heute und in den kommenden Tagen und Wochen diskutieren, beschäftigen nicht nur die Menschen in Deutschland; sie beschäftigen auch und gerade Europa. Das hat Gründe. Unsere Volkswirtschaft, die deutsche Volkswirtschaft, ist ungeachtet all dessen, was wir zu verbessern haben, die stärkste Europas. Etwa 30 Prozent der Wertschöpfung in Gesamteuropa werden von der deutschen Volkswirtschaft und damit von den Menschen in Deutschland erwirtschaftet. Dies bedeutet, dass wir gewiss für das verantwortlich sind, was in unserem Land geschieht, dass wir aber darüber hinaus auch eine besondere Verantwortung für die europäische Entwicklung tragen. Dieser Verantwortung wollen wir uns stellen; denn ohne ein starkes Deutschland ist Europa schwächer, als es sein müsste. ({5}) Ich füge hinzu: Es gilt auch, dass Deutschland ohne einen europäischen Binnenmarkt und ohne die europäische Integration weit weniger Chancen hätte, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Das gilt ökonomisch, das gilt aber auch politisch. Es gilt übrigens auch für unser Sozialmodell der Teilhabe und der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb stellen wir uns unserer Verantwortung für Deutschland und Europa im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse, weil das eine ohne das andere nicht mehr geht. Vor diesem Hintergrund stimmen wir unsere strukturellen und konjunkturellen Maßnahmen aufeinander ab und übernehmen auf der Basis des europäischen Paktes für Stabilität und Wachstum die Verantwortung für genau dies: Stabilität und Wachstum. Deshalb haben wir in einem für Deutschland bisher beispiellosen Kraftakt Entscheidungen getroffen, die für mehr Dynamik, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung sorgen. Deshalb sind wir in der Lage, die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die mittelständischen Unternehmer ab Anfang nächsten Jahres dramatisch von Steuern zu entlasten. ({6}) Ab dem 1. Januar nächsten Jahres werden die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt 10 Prozent weniger Steuern zahlen müssen. Wir senken den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Ich will daran erinnern, dass vor fünf Jahren der Eingangssteuersatz noch bei 26 Prozent lag. ({7}) Was das insbesondere für die Bezieher der unteren Einkommen bedeutet, kann man sich nicht häufig genug klar machen. ({8}) 10 Prozent weniger Steuern sind 10 Prozent mehr, die den Menschen zur Verfügung stehen, um ihr Leben entsprechend ihren eigenen Wünschen zu gestalten. ({9}) Das ist es, worum es nach unserer Auffassung geht, wenn von Konsum und im Zusammenhang damit von der Förderung der Binnennachfrage gesprochen wird, dass nämlich Menschen mehr von dem, was sie erarbeitet haben, für die Qualität ihres eigenen Lebens und für ihre Kinder ausgeben können, ohne dass die Grundlagen des gemeinsamen Staates infrage gestellt werden. Ich habe dem Deutschen Bundestag am 14. März die Agenda 2010, unser Programm zur strukturellen Erneuerung und zur Modernisierung des Sozialstaates, vorgestellt. Genau das ist das Fundament, auf dem die Politik für Wachstum und Beschäftigung gründet. Ich will das mit einigen zentralen Punkten in Erinnerung rufen. Einerseits gehen wir damit die lange vernachlässigten strukturellen Ursachen unserer Wachstumsschwäche energisch an und andererseits bauen wir unseren Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme so um, dass sie uns und auch künftigen Generationen eine gute Zukunft ermöglichen. Bis 2010 können wir durch die strukturellen Reformen der Agenda 45 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einsparen. Wir haben die Strukturreform nicht vorrangig und schon gar nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Kosten ausgerichtet. Wir betreiben das Sparen eben nicht als Selbstzweck. Im Vordergrund stand und steht für uns immer die Orientierung, die Ausgaben für das Bestehende auf das Notwendige zu begrenzen, schlicht deshalb, um Mittel für die Gestaltung der Zukunft zur Verfügung zu haben und diese zu mobilisieren. ({10}) Dabei ist klar geworden, dass wir in Deutschland wirklich ein neues Denken brauchen, und zwar eine Veränderung auch und gerade in der Mentalität, weg von der Besitzstandswahrung und hin zur Gestaltung von Zukunftschancen. Dieses Umdenken hat in den dreieinhalb Monaten seit unserer Initiative zur Agenda 2010 eingesetzt. Ich glaube, es ist spürbar geworden, dass es sich gerade in den vergangenen Tagen und Wochen verstärkt hat. Auch im Ausland wird mittlerweile positiv wahrgenommen: Deutschland ist bereit, sich zu verändern; Deutschland bewegt sich. ({11}) Mit der Agenda 2010 und den Reformen zugunsten des Arbeitsmarktes und des Mittelstandes haben wir den Weg zur strukturellen Modernisierung Deutschlands, zur Innovation und zur Weiterentwicklung von Teilhabe und Gerechtigkeit vorgezeichnet. Im Gesundheitswesen beispielsweise brauchen wir mehr Marktwirtschaft, mehr Wettbewerb und mehr Transparenz. Dabei werden wir nicht auf die hervorragende Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland verzichten. Auf dem Arbeitsmarkt haben wir durch die bereits umgesetzten so genannten Hartz-Reformen im Niedriglohnsektor und bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen so hohe Beschäftigungschancen erreicht wie nie zuvor. Durch die Einrichtung von Personal-SerBundeskanzler Gerhard Schröder vice-Agenturen und die vertraglichen Regelungen zur Zeit- und Leiharbeit verschaffen wir nicht nur deutlich mehr Arbeitswilligen Zugang zum Arbeitsmarkt - und zwar zum ersten Arbeitsmarkt -, sondern haben wir auch den gesamten Bereich der Leiharbeit aus dem geholt, was man die „Schmuddelecke“ nennt, ({12}) in der sich die entsprechenden Angebote und die Nachfrage früher großenteils bewegt haben. Die Förderung der Selbstständigkeit durch die so genannten Ich-AGs und damit verwandte Maßnahmen sind ein Angebot, das schon jetzt sehr stark angenommen wird. Ich bin sicher: Schon im nächsten Jahr werden wir in Deutschland einen Arbeitsmarkt geschaffen haben, der weit offener und anpassungsfähiger ist, als es jahrzehntelang der Fall war. ({13}) Das liegt im Interesse derer, die Arbeit und Dienstleistungen nachfragen, aber vor allem im Interesse derer, die heute noch arbeitslos sind. Meine Damen und Herren, natürlich gilt unser Augenmerk ganz besonders dem Mittelstand, der weit mehr als die Hälfte der Bruttowertschöpfung in Deutschland erwirtschaftet und mit rund 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitaus die meisten Menschen beschäftigt. Die Maßnahmen sind Ihnen bekannt. Ich fasse sie als Stichworte noch einmal zusammen: Novellierung der Handwerksordnung, ({14}) Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, Förderung von Existenzgründern, Abbau von Bürokratie und Stärkung der Eigenkapitalbasis. ({15}) Dazu kommt, wohlgemerkt, die Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten und Abgaben. Das heißt, wir geben dem Mittelstand die Möglichkeiten an die Hand, sein Engagement und seine Innovationskraft - also das, was unser Land so stark gemacht hat - aufs Neue vollständig zur Geltung zu bringen. Deshalb ist es so wesentlich, was wir am vergangenen Wochenende in Neuhardenberg beschlossen haben: Mittelständische Unternehmen müssen ab dem nächsten Jahr fast 10 Milliarden Euro weniger Steuern zahlen. Damit geben wir in einer wirtschaftlich schwierigen Situation ein klares Signal an die Wirtschaft: Weniger Steuern für mehr Investitionen und mehr Investitionen für mehr Beschäftigung! ({16}) Das alles zusammen - strukturelle Reformen bei Rente und Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt und in der mittelständischen Wirtschaft - ergibt die Botschaft und den Inhalt dessen, was die Agenda 2010 ausmacht. Im Kern geht es bei allen Maßnahmen um ein und dasselbe: dass wir den Schritt zu mehr Verantwortung, mehr Initiative und mehr Gemeinwohl hinbekommen. ({17}) Wir müssen zu größeren Zukunftschancen statt sturem Beharren auf den Besitzständen, zu einer neuen Balance zwischen ökonomischer Notwendigkeit, sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlichem Aufbruch kommen. Wir haben uns in diesem Jahr große Chancen zur politischen Gestaltung erkämpft. „Erkämpfen“ ist schon das richtige Wort; denn der Prozess, Zustimmung für die Agenda 2010 und die Strukturreformen zu gewinnen, war nicht leicht und - wie könnte es anders sein - für manche auch schmerzhaft. Aber wir können heute sagen: Dieser Prozess ist gelungen. Der Umschwung im Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Veränderungen mitzutragen. ({18}) Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die letzten Passagen meiner Rede angesichts der Unruhe auf der Besuchertribüne vollständig mitbekommen haben. Trotzdem will ich sie nicht wiederholen. ({19}) Wie gesagt, der Umschwung im Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Veränderungen mitzutragen. Hier beziehe ich die Gewerkschaften ausdrücklich ein, ohne die Deutschland - ich betone das gerade jetzt durchaus bewusst - nie so leistungsstark geworden wäre, wie es ist. ({20}) In ihren eigenen Reihen haben die Gewerkschaften einen Klärungsprozess durchlaufen, der ganz gewiss zeigt: Auch die Gewerkschaftsmitglieder wollen Akteure des Wandels, nicht seine Opfer und erst recht nicht seine Bremser sein. Den Weg, die gesellschaftlichen Mehrheiten für die Agenda 2010 zu gewinnen, ist die Regierungskoalition so konsequent gegangen, wie das die Bürgerinnen und Bürger von denen erwarten, die Verantwortung tragen: klar in der Auseinandersetzung, aber geschlossen in den Entscheidungen und vor allen Dingen entschlossen, die richtigen Koordinaten für unser Land und seine Zukunft zu setzen. Zu den strukturellen Reformen, über die ich geredet habe, musste der Bundeshaushalt 2004 passen. Der Bundesfinanzminister hat deshalb einen Haushalt vorgelegt, der den wirtschaftlichen und den politischen Anforderungen - entsprechend den geschilderten Koordinaten Rechnung trägt. ({21}) Dieser Haushalt folgt der Linie der Konsolidierung. Er macht Ernst mit einem nachhaltigen Einstieg in den Subventionsabbau und er gibt damit Raum für zukünftiges Wachstum. Nun weiß auch ich: Subventionsabbau ist ein Ziel, das in der Regel alle gut finden, außer es betrifft sie selber. ({22}) Viele Subventionen - seien es Finanzhilfen oder seien es steuerliche Subventionen -, an die wir uns aus rechtlichen Gründen langzeitig gebunden haben, könnten auch dann nicht sofort reduziert werden, wenn wir das aus Gründen gesamtwirtschaftlicher Vernunft tun wollten. Aber gerade weil wir durch die Agenda 2010 im Prozess der Strukturreformen vorankommen und weil wir mit dem Bundeshaushalt 2004 einen nachhaltigen Subventionsabbau betreiben, haben wir uns den Freiraum erarbeitet, durch vorgezogene Steuerentlastungen dieses wichtige Signal für Wachstum und damit für Beschäftigung zu geben. ({23}) Mir kommt es insbesondere darauf an, diesen Zusammenhang darzustellen. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Ohne die Festlegungen in der Agenda 2010, ohne den dazu passenden Haushalt, der eine vernünftige Balance zwischen Konsolidierung und dem Setzen von Wachstumsimpulsen enthält, ohne beides wäre es nicht verantwortbar gewesen, die Steuerreformstufe 2005 vorzuziehen. Nur alle drei zusammen ergeben jenen Dreiklang, der uns nach vorne bringen kann und wird, jenen Dreiklang, der für mehr Wachstum und damit für mehr Beschäftigung in Deutschland sorgen wird. ({24}) Natürlich haben wir uns die Antwort auf die Frage, wie man in der jetzigen Situation handeln kann und handeln muss, nicht leicht gemacht. Tatsache ist, dass wir - neben der Einleitung der Strukturreformen - in einer Situation sind, in der die Konjunkturforscher - mit Recht - auf ermutigende Zeichen verweisen. Die Geschäftsklimaindizes haben sich positiv entwickelt. Die Binnennachfrage bewegt sich etwas nach vorne, insbesondere die Konsumnachfrage. Daneben gibt es - wer weiß das nicht? - natürlich auch Zeichen, die Sorgen machen müssen, zum Beispiel die veränderten Euro-Dollar-Relationen, die dem Export mehr Schwierigkeiten machen, als wir uns wünschen würden; aber gerade deshalb kommt es jetzt darauf an - dieser Zusammenhang ist mir wichtig -, die ermutigenden Zeichen zu verstärken, damit diese und nicht die anderen Tendenzen dominieren. ({25}) Darum konnten wir es verantworten, die ohnehin beschlossene dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen. Von all denjenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - jene Teile der Finanzierung des Vorziehens, die den Subventionsabbau betreffen, kritisieren und nicht mitmachen wollen - es gibt entsprechende Erklärungen, jedenfalls gab es sie -, muss und von denen wird verlangt werden, dass sie Gegenvorschläge machen. Nur Nein sagen geht nicht mehr; die Zeit der Neinsager ist zu Ende. ({26}) Wir sind bereit - ich habe das angekündigt und dazu stehen wir -, mit jedem, der Verantwortung trägt - ich denke an die Opposition oder an die Mehrheit im Bundesrat -, über die Vorschläge, die wir gemacht haben, ihre Durchsetzung, ihre innere Gestaltung und auch ihre Veränderung zu reden. ({27}) Wenn sich erweist, dass die Vorschläge anderer zum Subventionsabbau sinnvoller sind, dann sind wir bereit, diese Vorschläge aufzugreifen. ({28}) Ich will dabei nur eines deutlich machen: Es geht mir darum, dazu beizutragen, dass in unserem Land die aktiv Beschäftigten, die das Einkommen für sich selbst und für ihre Familien durch Arbeit in den Dienstleistungszentren, in den Fabriken beziehen, der Maßstab für den Abbau von Subventionen sind. In den letzten Jahren wurden in Betrieben freiwillige Leistungen - das ist teilweise nachvollziehbar - abgebaut. Weil das so ist, darf unser Augenmerk nicht allein darauf gerichtet sein, die Transfereinkommen möglichst ungeschmälert zu erhalten. Dies wäre gegenüber denjenigen, die die Leistungsträger bei der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung sind, nicht gerecht. ({29}) Ich möchte abschließend auf das zurückkommen, worauf ich eingangs hingewiesen habe: Vor uns liegen gewiss schwierige Monate, in denen eine große Kraftanstrengung notwendig sein wird, um wirksam werden zu lassen, was für Deutschland notwendig ist. Wir suchen die konstruktive Zusammenarbeit mit der Mehrheit im Bundesrat; denn die Menschen in Deutschland wissen, dass wir diese Zusammenarbeit jetzt brauchen. Sie erwarten sie von uns, weil es um unser Land geht. Die Bundesregierung ist zu dieser Gemeinschaftsleistung bereit. Sie begrüßt sehr, dass die Gespräche über die Gesundheitsreform offenbar gut vorankommen. Als vertrauensbildende Maßnahme haben wir deshalb den Termin für die abschließende Lesung unseres Gesetzentwurfs im Bundestag storniert. Wir denken allerdings, dass die Erwartung, dass es zu weiterer konstruktiver Zusammenarbeit kommt, gerechtfertigt ist. ({30}) Was die Rentenversicherung angeht, so will ich zunächst noch einmal darauf hinweisen, dass die RentneBundeskanzler Gerhard Schröder rinnen und Rentner am 1. Juli - das war vorgestern - turnusgemäß erhöhte Rentenzahlungen bekommen haben. ({31}) Ich will noch einmal an Folgendes erinnern: Wir haben mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode die Säule der Kapitaldeckung neben die der Umlagefinanzierung gestellt. Damit haben wir in Deutschland bereits in großen Teilen das umgesetzt, was Partner- und Nachbarländer noch vor sich haben. Aber wir haben damals noch zu sehr auf die konjunkturelle Entwicklung vertraut. Deswegen und wegen der dramatischen Veränderungen in der Demographie werden wir in dieser Frage strukturell noch einmal nacharbeiten müssen. Das Ziel bleibt: Die Rentner müssen einen guten Lebensstandard haben. Die arbeitenden Generationen dürfen nur mit einem Beitrag belastet werden, den sie auch tragen können. Deshalb wollen wir erreichen, dass der Beitragssatz in diesem Jahr bei 19,5 Prozent bleibt. Wir wollen und müssen den weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten begrenzen. ({32}) In der zweiten Hälfte dieses wichtigen Reformjahres 2003 werden wir uns darauf konzentrieren, wie die Menschen in Deutschland für gute Arbeit gutes Geld verdienen können. Wir machen die Strukturreform nur aus einem einzigen übergeordneten Grund: ({33}) damit Deutschland auch in Zukunft ein guter Sozialstaat und eine moderne Volkswirtschaft bleiben kann. Beides gehört untrennbar zusammen. ({34}) Wir werden deshalb ein hohes Tempo einschlagen, wenn es um Innovation und Familienpolitik, um bessere Bildung und Betreuung, um bessere Möglichkeiten für Forschung und Entwicklung geht. Wir wollen nicht nur ein kurzfristiges Signal des Aufbruchs. Wir sagen den Menschen in Deutschland nicht nur: Konsumiert und gebt euer Geld aus! Wir sagen ihnen vielmehr: Es lohnt sich, in diesem Land zu arbeiten und zu leben, zu investieren und zu konsumieren. Wir sagen ihnen: Lasst euch nicht irremachen von denen, die schon wieder warnen oder den Impuls zerreden, den wir mit den Steuersenkungen gerade geben wollen! ({35}) Ich habe am 14. März über die Neunmalklugen in der öffentlichen Diskussion gesprochen, über diejenigen, denen immer alles entweder zu weit oder nicht weit genug geht. Wir können heute sagen, denke ich, dass wir mittlerweile einen gewaltigen Schritt vorangekommen sind. ({36}) Heute haben wir einen großen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit und über die Richtigkeit der Agenda 2010. Wir haben aus der Bevölkerung eine große Zustimmung zur vorgezogenen Steuersenkung: von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von all denen, die in diesem Land etwas unternehmen wollen. Was wir tun, haben wir vernünftig durchgerechnet. ({37}) Wir wissen deswegen, dass Deutschland das schultern kann und dass Deutschland das schaffen wird. ({38}) Ich denke, meine Damen und Herren, es ist deutlich geworden: Die Menschen in unserem Land wollen Bewegung. ({39}) Sie haben verstanden, dass das notwendig ist. Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer von Ihnen sich mit welchen Tönen auch immer verweigert, der sollte aufpassen, dass er sich nicht darin irrt, ob die Menschen in Deutschland jene Form der Zusammenarbeit, die ich Ihnen noch einmal anbiete, nicht doch wollen. ({40}) Ich glaube nicht, dass Sie sonderlich viel davon haben werden, wenn Sie dieses Angebot ausschlagen. ({41}) In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({42})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Deutschland bewegt sich“ - so der Titel Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler. Für mich und viele andere stellt sich allerdings, nach der Regierungserklärung noch mehr als vorher, die Frage: Wohin? ({0}) Was ist die Richtung dieser Bewegung? Ich zitiere: Wir werden - wie geplant - die nächsten Stufen der Steuerreform … am 1. Januar 2004 und … am 1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen. … Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar gegenüber denjenigen sagen, die als Patentrezept Steuersenkungen, bis der Staat draufzuzahlen hat, anbieten. Das hat nicht irgendwann irgendwer gesagt, sondern das haben Sie, Herr Bundeskanzler, uns zur Einleitung der neuen Etappe Ihrer Politik bei der Vorstellung der Agenda 2010 am 14. März dieses Jahres erklärt. Das waren Ihre Worte. ({1}) Herr Bundeskanzler, damals hatten wir 4,5 Millionen Arbeitslose, damals hatten wir Nullwachstum. An dieser Situation hat sich nichts verändert. ({2}) Heute aber behaupten Sie, den Freiraum dafür zu haben, Steuersenkungen vorschlagen zu können. Ihr Bundesfinanzminister erklärt, eine Neuverschuldung im Bundeshaushalt für das nächste Jahr, den er gestern vorgestellt hat, von über 7 Milliarden Euro über der verfassungsrechtlichen Grenze sei ganz normal. Jetzt frage ich Sie einfach: Was ist die Richtung Ihrer Politik? ({3}) Man muss ja wenigstens wissen, wie die Richtung im jeweiligen Quartal aussieht. ({4}) Ich sage Ihnen, das Problem Ihrer Politik besteht darin, dass Sie nur ein Entweder-oder kennen. Aus diesem Entweder-oder entsteht für die Menschen in diesem Lande genau das nicht, was wir so dringend brauchen, nämlich Verlässlichkeit der Politik und Vertrauen in die Veränderungen, die notwendig sind. ({5}) Deshalb kann die Gleichung eben nicht lauten: Entweder Steuerentlastung, aber dafür unsolide Finanzen oder solide Finanzen, aber dafür Steuerbelastung, sondern die Gleichung - dafür steht die Union in diesem Lande ({6}) muss lauten: Solide Finanzen ja, Steuerentlastungen ja, Strukturreformen ja. Das brauchen wir. Dreimal ja und kein Entweder-oder, so lautet unsere Alternative. ({7}) Deshalb heißt es: Wir brauchen Reformen aus einem Guss. ({8}) Reformen muss man richtig machen. Natürlich ist es so - niemand von uns bezweifelt das -, dass die Menschen in diesem Land Entlastungen brauchen, steuerliche Entlastungen, auf die sie sich verlassen können und die haltbar und tragfähig sind. Deshalb drängt die Zeit. ({9}) Aber, meine Damen und Herren, die Menschen in diesem Land haben genug Enttäuschungen erlebt. Deshalb haben Edmund Stoiber und ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, geschrieben ({10}) - bleiben Sie ganz ruhig -, dass die Zeit drängt und dass wir natürlich, genau wie Sie, wollen, dass für die Menschen Entlastungen, solide Finanzen und keine zusätzlichen Belastungen geschaffen werden. Aber aus Ihrer Antwort schließe ich, dass dabei ein Missverständnis entstanden ist. Wir haben nicht darum gebeten, außerhalb der normalen Ordnung mit Ihnen Gespräche zu führen, sondern wir haben darauf gepocht, dass Sie das tun, was Ihre Arbeit ist, dass Sie nämlich das, was Sie wollen, ganz konkret untermauern ({11}) und dass Sie Vorschläge machen, wie diese Dinge umgesetzt werden sollen. ({12}) Wir haben dazu bei uns in der Fraktion eine ganz klare Beschlusslage. ({13}) Diese heißt: Wir wollen ein Vorziehen der Steuerreform 2005. ({14}) - Ihr Bundeskanzler hat Ihnen eigentlich gerade ins Stammbuch geschrieben, wie die Stimmung im Land ist und wie man sich angesichts dessen zu verhalten und über vernünftige Lösungen zu reden hat. ({15}) Wenn Sie glauben, Sie könnten hier rumgackern, dann sind Sie fehl an diesem Platz; das sage ich Ihnen ganz klar. ({16}) Wohl niemand von Ihnen wird doch infrage stellen, dass man für ein Vorziehen der Steuerreform eine seriöse Finanzierung braucht, dass man aufpassen muss, dass nicht das, was in die rechte Tasche gegeben worden ist, aus der linken wieder herausgenommen wird, ({17}) dass man schauen muss, was an strukturellen Reformen wirklich erreicht worden ist. Deshalb sage ich Ihnen: Uns geht es - die Grundsätze sind klar - jetzt um die konkrete Umsetzung. Herr Bundeskanzler, von Sprüchen allein erneuert sich dieses Land nicht. ({18}) In Neuhardenberg haben Sie dem Publikum verkündet, Sie wollten das Vorziehen der Steuerreform durch einen Mix aus Kreditfinanzierung, marktgerechtem Erlös von Privatisierungen und Subventionsabbau erreichen. Gestern hat Ihr Finanzminister einen Haushalt vorgelegt, ({19}) in dem die gesamte Finanzierung der Steuerreform mit, wie er so nett sagte, einem technischen Detail versehen wurde, nämlich einer Neuverschuldung von 7 Milliarden Euro. ({20}) Das eine war am Sonntag, das andere am Mittwoch. Ich frage Sie: Was gilt? Wir haben heute früh alle aufmerksam verfolgt, wie Herr Poß im Deutschlandfunk gesagt hat, ({21}) es werde die Zeit kommen, zu der Sie konkrete Vorschläge vorlegen. Herr Bundeskanzler, Sie haben Edmund Stoiber und mir geantwortet: Wir werden dem Deutschen Bundestag Vorschläge vorlegen und - das haben Sie übrigens gleich als freudsche Fehlleistung hinzugefügt - dafür eine Mehrheit bekommen; das haben wir gar nicht infrage gestellt. Wenn Sie diese Vorschläge vorlegen - das ist mein Angebot -, dann werden wir unverzüglich mit Ihnen in Beratungen eintreten, ({22}) egal ob es in der Sommerpause, vorher oder nachher, im Juli oder im August ist - wann immer Sie wollen -, aber Sie müssen diese Vorschläge vorlegen, Herr Bundeskanzler. ({23}) Ich sage Ihnen dies in aller Deutlichkeit: Wir verlangen diese klare Vorlage und es wird über das Vorziehen der Steuerreform keine Detaildebatte geben, bevor Sie nicht gesagt haben, wie Sie es finanzieren wollen. ({24}) Dies ist die Arbeitsteilung, die man in einem Land erwarten kann, in dem die einen die Regierung stellen und die anderen in der Opposition sitzen. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, glauben, dass Sie diese Arbeitsteilung aufheben müssen, weil Sie nicht in der Lage sind, selber Vorschläge zu machen, dann bleibt nur eines: Dann müssen Sie den Platz, auf dem Sie sitzen, verlassen, und zwar umgehend. ({25}) Herr Bundeskanzler, der Stabilitätspakt kam in Ihrer Rede nur ansatzweise vor. Der für die Finanzen zuständige EU-Kommissar Pedro Solbes hat Ihnen am 1. Juli dieses Jahres ins Stammbuch geschrieben: „Ein Defizit über 3 Prozent im Jahre 2004“ - das wäre im dritten Jahr in Folge - „würde inkompatibel mit den Haushaltsregeln der Europäischen Union sein.“ Sie sagen hier, dass dieser Haushalt der Linie der Konsolidierung folgt. ({26}) Als Tüpfelchen auf dem i sagen Sie: Was wir tun, haben wir gut durchgerechnet. ({27}) Man kann zwar vieles versuchen, aber man darf die Menschen im Lande nicht verhöhnen. Es ist doch offensichtlich - Herr Eichel, Sie wissen es besser als alle anderen, weil es Ihre Beamten Ihnen sagen -, ({28}) dass dieser Haushalt auf Sand gebaut ist, weil er ein außergewöhnliches Produkt von Luftbuchungen sowie von getürkten und geschönten Zahlen ist, die vorne und hinten nicht stimmen. ({29}) Bei diesem Haushalt setzen Sie - auch das ist einzigartig in Deutschland - die Zustimmung zu Gesetzesvorhaben voraus, die Ihnen im Bundesrat vor zwei Monaten verweigert wurde. ({30}) Noch bevor Sie von Steuersenkungen gesprochen haben, wurden die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück zum Subventionsabbau berücksichtigt, damit dieser Haushalt überhaupt verfassungskonform ist. ({31}) Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, uns immer einzureden, wir brauchten noch mehr Subventionsabbau, ({32}) zusätzlich zu dem, der schon im Haushalt eingerechnet worden ist. Dann sagen Sie doch bitte einmal, an welcher Stelle. Halten Sie die Menschen in diesem Lande nicht für dumm und unterstellen Sie ihnen nicht, dass sie nicht unterscheiden können zwischen dem Subventionsabbau, der schon im Haushalt eingerechnet worden ist, und dem Subventionsabbau, der für ein Vorziehen der Steuerreform zusätzlich notwendig ist! So dumm sind die Menschen in diesem Lande nicht. Deshalb werden sie sich das nicht gefallen lassen. ({33}) Es kommen noch weitere Unsicherheiten hinzu. Sie wollen zwar den Mittelstand entlasten und diejenigen fördern, die den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Aber schauen Sie sich einmal an, welche Unsicherheiten sozusagen noch im Hintergrund lauern: ein SPD-Parteitagsbeschluss, ein Parteitagsbeschluss von den Grünen, die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und eine Ausbildungsabgabe. All das soll im November beraten werden. Glauben Sie wirklich, dass sich ein Klima für Investitionen und von Aufbruch in diesem Lande einstellt, wenn die Menschen mit diesen Unsicherheiten leben müssen? ({34}) Ich glaube es nicht. Wir verstehen, dass die Menschen in diesem Lande nicht investieren, sondern dass sie Klarheit und Wahrheit über das, was notwendig ist, wollen. ({35}) Deutschland bewegt sich - aber sehr vieles nur auf der Stelle. Es gibt seit dem 14. März nicht ein einziges Gesetzgebungsvorhaben, ({36}) das schon im Gesetzblatt steht. Manches ist zwar wenigstens auf den Weg gebracht worden, aber das Allermeiste ruht noch. ({37}) - Es liegt nicht daran, dass wir uns verweigern. ({38}) - Die Ausblendung der Wirklichkeit war noch nie ein guter Ratgeber. Wir haben hier Woche für Woche gewartet. ({39}) Aber Sie kamen nicht zu Potte, weil Sie Ihre Sonderparteitage - die SPD hat am 1. Juni und die Grünen haben erst am 14. Juni getagt - abwarten mussten. Wir könnten in diesem Lande schon viel weiter sein. Das ist doch die Wahrheit. ({40}) Es bestreitet doch überhaupt kein Mensch, dass in der Agenda 2010 Schritte in die richtige Richtung enthalten sind. ({41}) Ich will an dieser Stelle noch einmal Kommissar Solbes zitieren. Er hat gesagt, es sei nur ein erster Schritt und es würden noch weitaus profundere und wichtigere Reformen notwendig sein. ({42}) Herr Bundeskanzler, Sie sprechen von einem beispiellosen Kraftakt, den Sie bewältigt haben. Dieser mag nach innen stattgefunden haben. Aber das Land hat von diesem Kraftakt noch nichts gemerkt. Die Situation ist die gleiche wie im März. ({43}) Ich muss sagen, dass wir viele unerledigte Aufgaben haben: die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Gemeindefinanzreform. Das Jahr ist bald zu Ende. ({44}) Sie haben über die Rentner gesprochen. Sollen wir Sie eigentlich dafür loben, dass die Rentner die gesetzlich zugesagte Rentenerhöhung am 1. Juli pünktlich bekommen? Wohin sind wir eigentlich gekommen? Die Rentner wissen nicht, was im nächsten Jahr Sache sein wird. Sie wissen nicht, ob sie eine Erhöhung ihrer Renten bekommen werden oder ob die Schwankungsreserve auf Null gestellt werden wird. Sie sind voll und ganz in der Hand eines Finanzministers, der seinen Haushalt nicht mehr im Griff hat. Das ist die Wahrheit für die Menschen in diesem Lande. ({45}) Es war immer ein gemeinsames Gut dieses ganzen Hauses, dass Menschen, die auf eine Lebensleistung im Arbeitsleben zurückblicken, nicht von der Kassenlage des Bundeshaushalts abhängig sind. Wir werden dafür Sorge tragen, dass Rentnerinnen und Rentner wieder auf eine verlässliche Rentenformel bauen können und nicht mehr länger Spielball Ihrer politischen Interessen sein werden. ({46}) Meine Damen und Herren, Solbes sagte, wir benötigten mutige Reformen für den Arbeitsmarkt. Nach langem Zögern und Warten hat Herr Clement etwas vorgelegt. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Von Mut kann an dieser Stelle keine Rede sein. ({47}) Wir haben einen alternativen Gesetzentwurf in die Beratungen zur Reform des Arbeitsmarktes eingebracht, der seinen Namen verdient. Ich nenne nur einige Punkte aus diesem Gesetzentwurf. Herr Clement, Sie gehen an den Kündigungsschutz - das wissen Sie selbst - mehr kosmetisch heran, als dass es wirklich hilft. Was bedeutet es eigentlich, wenn in einem Betrieb mit fünf Beschäftigten der sechste bis hundertste Beschäftigte nicht mehr gezählt wird, wenn er einen befristeten Arbeitsvertrag hat? Das fördert doch nur das Abschließen befristeter Arbeitsverträge, bringt aber den Menschen, die einen Job annehmen, keine Verlässlichkeit. Deshalb haben wir hierzu viel bessere Vorschläge gemacht. Übernehmen Sie sie; dann ist dieses Land besser dran. ({48}) Meine Damen und Herren, zum Kernstück unserer Arbeitsmarktreform: Sie werden nicht daran vorbeikommen, sich dem Thema betriebliche Bündnisse für Arbeit zu widmen. In den vergangenen Wochen haben wir einen Streik der IG Metall erlebt, der an den Menschen dieses Landes, vor allen Dingen an den Beschäftigten in den neuen Bundesländern, vollkommen vorbeigegangen ist. Zum Schluss haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den Füßen abgestimmt, weil sie keine rechtliche Grundlage dafür hatten, für sich betriebliche Regelungen zu finden, wie wir sie in unserem Gesetzentwurf vorschlagen. Wenn Sie es mit dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirklich ernst meinen und sie letzten Endes nicht unter den Druck von ganz anderen Kräfteverhältnissen kommen sollen, dann sollten Sie aus dem Verhalten der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lernen und endlich das Thema betriebliche Bündnisse für Arbeit auf die Tagesordnung setzen, damit vernünftige Lohnvereinbarungen möglich werden. So könnten die Beteiligten auch die Flexibilität aufbringen, die man in Zeiten der Globalisierung braucht, damit die Arbeitsplätze nicht in andere Länder, etwa nach Mittelund Osteuropa, abwandern. Das ist die Wahrheit. ({49}) Ich kann Ihnen nur eines anbieten: Machen Sie das, was Sie im Niedriglohnbereich gemacht hatten. Gehen Sie in den Vermittlungsausschuss und übernehmen Sie unseren Gesetzentwurf. ({50}) Dann wird Deutschland einen wirklichen Schritt nach vorn machen. Sie loben inzwischen ja selbst, was im Niedriglohnbereich geschehen ist. Meine Damen und Herren, wir haben die Kooperation im Bereich des Gesundheitssystems mit der Absicht angenommen, redliche, ehrliche, faire Verhandlungen zu führen. Unser gemeinsames Ziel ist die Begrenzung des Beitrags auf 13 Prozent. Wir werden darauf achten, dass das Ergebnis dieser Verhandlungen nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern eine tragfähige Grundlage sein wird, die den Menschen in diesem Lande ein Stück Sicherheit gibt. ({51}) Aber Tatsache ist auch, dass Sie in vielen Bereichen weit weg davon sind, die notwendigen strukturellen Reformen anzupacken. Ihnen ist bis heute überhaupt nicht das gelungen, was dieses Land eigentlich braucht: eine Diskussion über die Ziele dessen, was Sie tun. Womit sollen und wollen die Menschen in diesem Land in den nächsten zehn Jahren ihr Geld verdienen? Welche Arbeitsplätze braucht Deutschland und was tun wir dafür, damit sie erhalten werden? Schauen Sie einmal in Ihren Haushalt: Die Ausgaben für die Verkehrsinfrastruktur sind trotz Mautgebühren geringer als im vergangenen Jahr, ({52}) es gibt Unsicherheit in der Forschungslandschaft aufgrund des Wegfalls der Mittel aus den UMTS-Lizenzen. Schauen Sie sich einmal die Debatte über die Verpackungsverordnung an. Es dürfte überhaupt nur ein Kabinettsmitglied geben, das dieses Thema mit Freude erfüllt. Deutschland diskutiert Stunden und Aberstunden und verliert wegen hirnrissiger Vorschläge des Bundesumweltministers zur Verpackungsverordnung Arbeitsplätze. ({53}) Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass es das zentrale Problem Deutschlands ist, ob nunmehr auch kleine Glasfläschchen mit Apfelsaft bepfandet werden sollen? Haben Sie schon einmal überlegt, dass man bestimmte Sorten von Colaflaschen überhaupt nicht mehr bekommt, weil man sie nur noch dort abgeben kann, wo man sie gekauft hat, und keine Flaschen mehr bei Coca-Cola ankommen? Der Schwachsinn kennt an dieser Stelle keine Grenzen! Machen Sie endlich etwas Vernünftiges daraus! ({54}) Herr Bundeskanzler, es reicht nicht, wenn Sie auf irgendeiner Versammlung sagen, dass Ihnen das Regime, nach dem die CO2-Lizenzen in Deutschland berechnet werden sollen, suspekt erscheint. Sie müssen auf europäischer Ebene darauf achten, dass solche Regelungen handhabbar sind. Sie müssen auf europäischer Ebene dafür eintreten, dass keine Chemikalienrichtlinie geschaffen wird, die in Deutschland die gesamte chemische Industrie zu Boden reißt. ({55}) Sie müssen darauf achten, dass der gesamte pharmazeutische Bereich nicht durch eine Positivliste kaputtgemacht wird. Wenn Sie die Arbeitsplätze der Zukunft haben wollen, dann geht das über die Strukturreformen, die Sie bisher benannt haben, weit hinaus ({56}) und erfordert Forschungsfreundlichkeit sowie Technologiefreundlichkeit - und die vermisse ich bei denjenigen, die in der Mitte dieses Saales sitzen, ganz besonders. ({57}) Deshalb sage ich Ihnen: Deutschland muss wieder nach vorne kommen. ({58}) Das ist unser aller Anliegen. ({59}) Sie haben in den letzten viereinhalb Jahren nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen. ({60}) - Herr Poß, ich habe das heute früh schon einmal gehört und möchte deshalb darauf eingehen: Wer hat wen mies gemacht und wer hat die Realitäten beim Namen genannt? ({61}) Wenn wir im vorigen Jahr gesagt hätten: „Es wird in diesem Jahr im Bundeshaushalt eine Nettoneuverschuldung von 40 Milliarden Euro geben“, dann hätten Sie uns geziehen, dass wir Deutschland schlechtreden. Inzwischen ist dies die Realität. Es hat doch keinen Sinn, dass wir den Kopf in den Sand stecken und uns nicht mit den realen Fakten auseinander setzen. Der Bundeskanzler hat hier wieder ein kleines Gemälde von Hoffnung und Freude gezeichnet. Aber schauen Sie sich doch einmal die Lage der Gemeinden bzw. der Kommunen an! Schauen Sie sich einmal an, wie hoch zurzeit die Investitionen in Deutschland sind! ({62}) Schulen können nicht mehr renoviert werden, Bibliotheken erhöhen die Gebühren und Schwimmbäder schließen. ({63}) Verschließen Sie doch nicht die Augen davor, ({64}) dass Sie eine Politik betrieben haben, die in diesem Lande kein Wachstum ermöglicht, sondern es zurückgedrängt hat und dass Deutschland deshalb in der derzeitigen Lage ist. ({65}) Wir glauben an die Kraft der Menschen in diesem Lande. Wir glauben daran, dass Deutschland seinen Anteil an der Globalisierung und seine Chancen nutzen kann. Wir glauben daran, dass wir bestimmte Dinge punktuell gemeinsam machen können. Aber, Herr Bundeskanzler, es bleibt auch die Zeit des Streites über den besten Weg dafür, dass, wenn man dieses Land verlässt und sich im Ausland über Deutschland unterhält, wieder gesagt wird: Dieses Land ist wirklich in Bewegung. Wenn Sie heute nach Brüssel, nach Washington oder nach Peking fahren, dann fragen die Menschen: Warum schafft ihr es nicht, den Transrapid zu bauen? Warum schafft ihr es nicht, Wachstum zu generieren? Warum seid ihr die Letzten in Europa? Deshalb sage ich Ihnen: Ohne Streit werden Sie nicht voranzubringen sein. Wir sind die Kraft, die Sie in Bewegung setzt. ({66}) Dabei wollen wir Ihnen weiterhelfen. Herzlichen Dank. ({67})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion. ({0})

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel, die Antwort auf Ihre Eingangsfrage ist ganz einfach: Wohin geht die politische Reise in Deutschland? Nach vorne! ({0}) Die Wahrheit ist einfach - Ihre Kurzsichtigkeit ist keine Entschuldigung dafür, dass Sie hier so tun, als ob das nicht zu erkennen wäre -: In den rund 100 Tagen seit dem 14. März, seit der Agenda 2010 ({1}) ist in Deutschland vieles in Bewegung gekommen. ({2}) Sie könnten das erkennen, wenn Sie wollten. Sie wollen es nicht erkennen. Deshalb haben Sie heute eine Selbstfindungsrede gehalten. Sie haben eine Fraktionsrede gehalten. Wenn der eigene Laden so durcheinander ist wie bei Ihnen, dann muss man seine eigene Truppe ansprechen. Das haben Sie getan. Aber Sie haben nichts zu der Frage gesagt, wie es in unserem Land weitergeht. ({3}) Wir haben mit der Agenda 2010, in diesen 100 Tagen beginnend und verstärkt, den Paradigmenwechsel der Politik in Deutschland eingeleitet. Das war schwer. Das bleibt schwer. Da gibt es viele Widerstände. Wir haben uns an vielen Stellen durchgesetzt. Die Einsicht und die Zustimmung zu diesem Projekt wachsen. Wir haben vor allen Dingen mit der gefährlichen Selbstzufriedenheit Schluss gemacht, die in den 90erJahren in Deutschland gang und gäbe war. Jahr für Jahr haben wir und haben auch Sie auf eine starke Konjunktur gehofft, die die Strukturfragen des Landes irgendwie löst oder überdeckt. Wir haben darauf gehofft, dass ein hohes Wachstum in Deutschland uns davor bewahrt, Strukturen verändern zu müssen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Wer dieser Erkenntnis ausweicht, der kann den Ansprüchen der Politik für die Zukunft nicht gerecht werden. Wir haben daraus die Konsequenzen gezogen. ({4}) Die Agenda 2010 ist längst ein Bündel konkreter Maßnahmen geworden. Sie ist auch im europäischen Ausland und in der Welt zum Synonym für die Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in Deutschland geworden. ({5}) - Sie mögen das leicht nehmen. Aber es ist so. Herr Niebel, wenn man sich mit den Politikern in anderen europäischen Ländern - dazu hatten wir am letzten Wochenende Gelegenheit -, aber auch darüber hinaus unterhält, dann merkt man: Die Welt, Europa zumal, schaut darauf, was wir in Deutschland mit der Agenda 2010 machen, ob wir den Mut und die Kraft haben, sie umzusetzen und aus ihr in vielerlei Hinsicht praktische Politik zu machen. Ziel ist, Innovationen zu stärken, den Kommunen zusätzliche Investitionskraft zu geben, den Arbeitsmarkt zu modernisieren, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsgerecht zu machen - immer mit der Zielsetzung, Wohlstand zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen. ({6}) Nun sind die Umfrageergebnisse für uns, die Sozialdemokraten, in den letzten Wochen und Monaten nicht gut. Das sehen wir. Auch damit muss man sich auseinander setzen; das tun auch Sie. Aber wir machen keine Politik entlang der Zahlen des „Politbarometers“ und werden das auch in Zukunft nicht tun. Vielmehr orientieren wir uns an den Interessen dieses Landes. Das wird sich zum guten Schluss auszahlen. ({7}) Wer in dieser Gesellschaft Vertrauen gewinnen will, der muss aufhören, nach der Melodie zu singen, die viele von uns - auch Sie, auch wir - sich in den vergangenen Jahren angewöhnt haben: Mal schauen, was die Menschen meinen. - Nein, wir müssen hören, was sie wollen und was ihre Sorgen sind, aber dann die politischen Konsequenzen daraus ziehen und die Menschen auf diesem Weg mitnehmen. Das werden wir auch in Zukunft tun. Wir werden nicht auf das „Politbarometer“ schauen. Wir werden mit unserem praktischen Handeln das Vertrauen der Menschen gewinnen. Das wollen wir und das erreichen wir auch. ({8}) Wir haben uns in den letzten Tagen natürlich die Frage gestellt: Wo ist die Opposition? Frau Merkel, ich habe gelernt: Sie sitzen im Wartehäuschen. Das haben Sie uns eben mitgeteilt. ({9}) Sie hatten über lange Zeit Gelegenheit, sich im Windschatten unseres Regierungshandelns einen weißen Fuß zu machen. ({10}) - Herr Schauerte auch. Das ist so weit in Ordnung. Aber nun kommt der Punkt, an dem auch Sie eine Meinung haben müssen. Ich weiß nicht, was bei Ihnen eigentlich passiert ist. Der Bundeskanzler hat die Gesetze am 14. März angekündigt und wir haben sie vorbereitet. ({11}) Nun stellen wir fest: keine Ideen, keine Richtung, keine Zuversicht, keine Meinung bei der Opposition. ({12}) Ihr Problem ist, Frau Merkel, dass Sie zu viel daran denken, wer wann bei Ihnen Kanzlerkandidat oder -kandidatin für 2006 werden könnte, und dass Sie zu wenig an die Interessen dieses Landes denken. ({13}) Vergessen Sie das mit der Kanzlerkandidatenfrage, Frau Merkel. Bis dahin wird hinter den Anden noch so mancher Pakt geschlossen werden. ({14}) Als es in den vergangenen Tagen nun darauf ankam, gab es bei der Union kein Konzept zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz und kein Konzept zur Handwerksordnung. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie können doch zur Sache gar nichts sagen! Sie haben lediglich pauschal alles abgelehnt, was wir auf den Tisch gelegt haben. Da werden Sie sich noch korrigieren müssen. ({15}) Bei Ihnen war kein Konzept zu erkennen. Das wurde nun auch am Wochenende deutlich, als es um das Vorziehen der Steuerreform ging. Solange Sie es selbst gefordert haben, fanden Sie es gut; jetzt, wo es konkret wird, ({16}) wissen Sie nicht mehr, ob Sie dafür oder dagegen sein sollen. Wenn man sich anguckt, was dazu in den letzten Wochen und Monaten von Ihnen gesagt wurde, dann wird das deutlich. Friedrich Merz am 21. Juni: „Wir sind nicht bereit, Harakiri zu machen.“ CDU-Vorstand am 21. Juni 2003: „Die CDU Deutschlands will, dass die Bürger weniger Steuern zahlen. Sie erwartet, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der die dritte Steuerreformstufe vorzieht.“ Das Ganze ist dann in unnachahmlicher Weise von Herrn Stoiber am 30. Juni auf den Punkt gebracht worden. ({17}) Edmund Stoiber: „Die Union sagt ja nicht Nein, sondern die Union sagt: Ja, aber.“ ({18}) Das ist die Situation, in der Sie sich bewegen. Das kann man gar nicht toppen, das ist kabarettreif. Aber Sie werden sich entscheiden müssen, wenn Sie dabei sein wollen, meine Damen und Herren. ({19}) Es könnte sein, dass bei einigen von Ihnen nicht die Interessen Deutschlands im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen, sondern dass sie sich in ihrem Oppositionsdenken verlieren. Das geht nicht, Frau Merkel. Wir brauchen die Opposition im Bundesrat in diesem Herbst, wobei ich weiß, dass es besonders für Sie, Frau Merkel, schwer ist, wenn mitten im warmen Sommer in der CDU/CSU der März ausbricht. Dadurch entsteht bei Ihnen ein ziemliches Chaos, das haben wir schon festgestellt. ({20}) Aber, meine Damen und Herren, die eigentliche Anstrengung beginnt erst; wir wissen das. Wir werden im zweiten Halbjahr 2003 eine Reihe wichtiger Entscheidungen zu treffen haben, sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat. Im zweiten Halbjahr liegt die härtere Strecke des Jahres vor uns. Aber es wird sich in diesem Jahr, in 2003, im Wesentlichen entscheiden, ob Deutschland den Weg nach vorn findet - wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, sozialpolitisch. ({21}) - Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. - Ich finde es gut, dass wir begonnen haben, im Bereich des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes zu verhandeln. Sie, Frau Merkel, haben eben angesprochen, dass ein Beitragssatz von 13 Prozent erreicht werden soll. Ich sage: Ja, daran werden wir mitarbeiten; das ist auch unser Ziel. Aber eines muss klar sein: Es kann nicht nur darum gehen, das Geld, das für das Gesundheitswesen gebraucht wird, anders zu finanzieren, sondern die Struktur des Gesundheitswesens muss so verändert werden, dass die Produktivität im Gesundheitswesen steigt und im Gesundheitswesen auch gespart werden kann. Das ist Bedingung für das, was wir miteinander erreichen wollen. ({22}) Deshalb kann nicht die einfache Formel gelten: Was die Arbeitgeber nicht mehr zahlen, damit die Lohnnebenkosten sinken, das müssen jetzt die Arbeitnehmer allein bezahlen, sondern wir werden einen vernünftigen Mix erreichen müssen. Ich glaube, dass wir es das schaffen. Zum Thema Kommunen. Frau Merkel, es ist richtig, dass die Investitionskraft der Kommunen gestärkt werden muss. Das wissen wir schon lange. Sie aber haben vor einigen Wochen nicht verhindert - vielleicht konnten Sie es auch nicht -, dass im Bundesrat das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgehalten wurde. Dadurch wären den Städten und Gemeinden bis zum Jahr 2006 6 Milliarden Euro zugekommen. Das haben Sie verhindert. ({23}) Es ist nicht ehrlich, dass sich die Bürgermeister und Oberbürgermeister der CDU darüber beschweren, sie hätten kein Geld, während Sie im Bundesrat verhindern, dass sie Geld bekommen. Das ist nicht in Ordnung. ({24}) Wir werden eine Gemeindefinanzreform auf den Weg bringen und die Gewerbesteuer aktivieren. Wir werden die freien Berufe einbeziehen. Wir werden dafür sorgen, dass die Kommunen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angemessen entlastet werden. Denn wir wissen: Es ist besonders für die Handwerksbetriebe, für die kleinen und mittleren Unternehmen wichtig, ({25}) dass die Arbeit, die es vor Ort in den Städten und Gemeinden gibt, auch getan werden kann. Es gibt auch weiterhin eine hohe Investitionsquote im Haushalt des Bundes. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die Investitionsquote sei im Jahr 2004 niedriger als in diesem Jahr. Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass im Haushalt des nächsten Jahres keine Mittel für Flutopferhilfe enthalten sind. Das war nämlich der Grund für die Höhe in diesem Jahr. Auch im nächsten Jahr liegt die Investitionsquote bei etwa 25 Milliarden Euro. Ein Großteil davon fließt in Maßnahmen in Ostdeutschland. Das ist gut so und soll auch so bleiben, weil dort noch vieles aufzuarbeiten ist. Wir bleiben bei einer hohen Investitionsquote des Bundes, auch zugunsten des Ostens Deutschlands. ({26}) Mit dem Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit ist gesichert, dass die ABM- und die SAM-Maßnahmen, so wie am 14. März vom Bundeskanzler zugesagt, in Ostdeutschland im erforderlichen Umfang zur Verfügung stehen. Wir wissen, dass es diese Maßnahmen nicht mehr flächendeckend wie bisher in Deutschland geben muss. Dort, wo sie nötig sind, werden die notwendigen Mittel aber zur Verfügung stehen. Wir haben die Änderung der Handwerksordnung auf den Weg gebracht. Dazu gibt es Kritik, auch aus Ihren Reihen. Was mich nur wundert, ist, dass nach dem Motto diskutiert wird: Alles oder nichts. Dabei wissen wir doch ganz genau, dass mit Blick auf die Handwerksordnung etwas verändert werden muss, alleine um sie europafest zu machen. Denn es besteht in Deutschland die absurde Situation, dass Gesellen aus anderen Ländern Europas zu uns kommen und Betriebe aufmachen können, ohne dass sie den Meisterbrief dafür brauchen. Das bringt die Freizügigkeit in Europa mit sich. Umgekehrt gehen deutsche Gesellen aus Nordrhein-Westfalen in die Niederlande und gründen dort Unternehmen, um in Deutschland am Arbeitsmarkt tätig zu sein. Es besteht also die Notwendigkeit, die Handwerksordnung zu verändern und sie europakompatibel zu machen. Dem dürfen wir nicht aus dem Weg gehen. Deshalb lautet meine herzliche Bitte an Sie, auch in diesem Punkt aus der Totalopposition herauszukommen. Wir wollen im Interesse des Handwerks, im Interesse der Gesellen, im Interesse des Arbeitsmarktes in Deutschland und im Interesse der Bekämpfung der Schwarzarbeit die Handwerksordnung modernisieren. Wir wollen sie öffnen und so dafür sorgen, dass es in diesem Bereich mehr Impulse geben kann. ({27}) Wir werden in diesem Herbst Entscheidungen im Bereich Ausbildung zu treffen haben. Wir wissen, dass wir mit unseren Ankündigungen den einen oder anderen in der Wirtschaft verschrecken. Das wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen den Unternehmen nicht drohen, es werde, wenn nicht eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung gestellt werde, etwas passieren. Allerdings ist Folgendes unverzichtbar - dazu stehen wir -: Wir müssen in Deutschland erreichen, dass die jungen Menschen, die aus der Schule kommen, die Chance haben, eine Ausbildung oder eine Arbeit zu bekommen oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen auf ihr Berufsleben vorbereitet zu werden. Wenn nicht ausreichend viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen - es wird sich am 30. September zeigen, ob das Angebot ausreicht oder nicht -, dann müssen wir als Politiker daraus Konsequenzen ziehen und dafür sorgen, dass die jungen Menschen eine Chance bekommen. Da sind wir in der Pflicht. Das werden wir auch erreichen. ({28}) Wir werden auch Entscheidungen im Bereich Innovationen zu treffen haben. Hierzu haben wir in der letzten Legislaturperiode viel getan und viel von dem aufgearbeitet, was Sie in den 90er-Jahren haben liegen lassen. Wir werden auch im nächsten Jahr 3 Prozent mehr für Großforschungseinrichtungen geben. Hier gibt es auch Erfolge. Durch die Halbleiterförderung zum Beispiel haben inzwischen allein in Dresden etwa 11 000 Menschen in diesem Bereich Beschäftigung gefunden, bei etwa 16 000 Menschen in der Bundesrepublik insgesamt. Wenn man die Rechnung über Kosten und Nutzen aufmacht, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass etwa 2 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln hineinfließen, dass aber etwa 6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2010 erwirtschaftet werden. Wir haben erreicht, dass die Zahl der Menschen, die in Unternehmen beschäftigt sind, welche sich schwerpunktmäßig mit Biotechnologie befassen, seit 1999 um 66 Prozent gestiegen ist; das sind 15 000 Arbeitsplätze. ({29}) Auch um die Intention, über Innovation, über neues Wissen, über neue Fähigkeiten den Wohlstand langfristig zu sichern, wird es in diesem Herbst in Deutschland gehen. Ich kann nur hoffen, dass Sie dabei sein werden. ({30}) Wir werden in diesem Herbst bei allen Themen, über die wir zu diskutieren haben, auch über die Finanzpolitik, über die Stabilität und über das Wachstum, die damit verbunden sind, sprechen. Wir werden dabei des Weiteren über unser gemeinsames Anliegen, uns durch Subventionsabbau Finanzierungsspielräume für öffentliche Aufgaben zu verschaffen, sprechen. Dabei werden wir Sie zunächst einmal an unser Anliegen erinnern, die Gewinnmindestbesteuerung möglich zu machen. Das haben Sie im Bundesrat abgelehnt. Wenn ich mir manche Gesichter hier anschaue, dann habe ich den Eindruck, es tut Ihnen ein bisschen Leid, dass Sie dort so damit umgegangen sind. ({31}) Das Ziel, dass die großen Unternehmen Körperschaftsteuer mindestens für die Hälfte dessen zahlen, was sie als Gewinn haben, ist nämlich ein legitimes Ziel. Wir werden das erneut auf die Tagesordnung bringen. Sie werden sich dann entscheiden müssen, was Sie tun wollen. Außerdem werden wir einen Vorschlag zur Veränderung der Eigenheimzulage machen. Damit soll erreicht werden, dass mehr in den Bestand investiert und mehr Rücksicht auf die veränderte Lage am Wohnungsmarkt und bei der Bevölkerungsentwicklung genommen wird. Die Bevölkerungszahl wird in fünf bis zehn Jahren schrumpfen. Die Zahl der Wohnungen in Deutschland ist ausreichend, aber die Wohnungen sind nicht immer am richtigen Platz. Deshalb ist es richtig, jetzt verstärkt darauf zu setzen, dass in den Bestand in den Stadt- und Ortskernen investiert wird. Diesen Weg werden wir Schritt für Schritt gehen. Das bedeutet, dass wir bis zum Jahre 2010 etwa 4,4 Milliarden Euro für Investitionen in den Bestand einsetzen, dies allerdings unter Aufgabe dessen, was bisher an Eigenheimzulage gewährt worden ist. Diese Tendenz ist richtig; gar keine Frage. ({32}) Meine Damen und Herren, wir werden ferner über die Entfernungspauschale sprechen. Dabei wird es um die Modalitäten gehen. Die Frage ist hier, ob Sie sich an der Stelle bewegen. Wir wissen, dass wir in dieser Frage aufeinander zugehen müssen. Es gibt Argumente dafür, hiermit sozialpolitisch und regionalpolitisch vernünftig umzugehen. Mehr möchte ich dazu heute nicht sagen. Den Hinweis darauf, dass wir mehrere Vorschläge dafür gemacht haben, welcher Weg beschritten werden kann, wollte ich hier allerdings noch kurz geben. Nun sind Sie dran und müssen auch einmal deutlich machen, was Sie sich eigentlich vorstellen, wenn Sie, Herr Merz, sagen, dass es dafür einen Gegenfinanzierungsvorschlag geben müsse. Was, bitte schön, meinen Sie damit? In diesem Herbst gibt es ein weiteres ganz wichtiges Thema, das auch der Kanzler angesprochen hat - die Renten, die Alterssicherung -, das auch mit dem Haushalt 2004 in Verbindung steht. Wir haben entschieden, dass im Haushalt festgelegt werden soll - so steht es jetzt auch dort -, dass der Rentenversicherungsbeitrag im Jahre 2004 nicht über 19,5 Prozent steigen soll und dass der Bundeszuschuss für die Alterssicherung, für die Rente um 2 Milliarden Euro reduziert wird. Das hat finanzielle Konsequenzen in einer Größenordnung von etwa 5 oder 6 Milliarden Euro insgesamt. Darüber und wahrscheinlich zeitgleich auch über die Pflegeversicherung wird zu sprechen sein, wenn im Oktober, so denke ich, im Deutschen Bundestag die Rentengesetzgebung auf der Tagesordnung steht. Ich weiß, dass dieses Thema nicht populär ist. Ich möchte das bei dieser Gelegenheit aber schon ankündigen, damit sich alle darauf einstellen können, vielleicht dieses Mal auch Sie. Nutzen Sie also die drei Monate und bilden Sie sich eine eigene Meinung zu diesen Themen, damit Sie dann, wenn wir die Gesetze auf den Tisch legen, handlungsfähig sind. ({33}) Im Wesentlichen wird es hierbei um den Nachhaltigkeitsfaktor bzw. um die Frage gehen, wie beim Anstieg der Renten eine gewisse Analogie zu dem erreicht werden kann, was die Aktiven erhalten. Das ist nämlich das Geheimnis des Nachhaltigkeitsfaktors. Bisher ist das in Deutschland nicht bzw. nicht in hinreichendem Maße gegeben. Deshalb besteht hier Regelungsbedarf. Es muss in Gesetzen neu fixiert werden, wohin die Reise gehen soll. Meine Damen und Herren, was wir in den letzten Jahren und insbesondere in der allerletzten Zeit gelernt haben, ({34}) ist, dass nichts von dem, was errungen worden ist, was erstritten worden ist, sicher ist auf immer, auch nicht der Wohlstand. Das haben wir alle in Deutschland lange geglaubt; Herr Glos, Sie und ich auch. Das ist eine Generationenfrage. ({35}) - Doch, das haben Sie. - Wir hatten fünfzig gute Jahre und haben geglaubt, das sei selbstverständlich. Nun merken wir plötzlich, dass das nicht so ist und dass wir den Menschen sagen müssen: Ihr müsst vorsorgen und an morgen und übermorgen denken. Das nimmt natürlich Impulse aus der Wirtschaft und aus dem Handeln der Menschen heraus. Die Menschen in Deutschland müssen verstehen, dass es anstrengend wird, sie müssen hier und dort Abstriche machen. Dieses Land ist aber stark genug, um wieder nach vorne zu kommen. Wir haben alle Potenziale, um Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Das werden wir mit Gerhard Schröder, dieser Bundesregierung und dieser Koalition tun. Vielen Dank. ({36})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort. ({0}) Bitte schön, Kollege Westerwelle. Jetzt ist die nötige Ruhe wieder eingekehrt.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben am Wochenende auf Ihrer Klausurtagung beschlossen, dass Sie die Schritte zur Steuersenkung vorziehen, also den Weg der Steuersenkungen gehen wollen. Für die liberale Opposition in diesem Hause will ich erklären: Wenn Sie den Weg von Steuersenkungen wirklich gehen wollen und wenn Ihren Worten auch Taten folgen, dann werden Sie die Unterstützung der Freien Demokraten in diesem Hause dafür haben. ({0}) Ich sage das deshalb, weil wir Liberale uns natürlich an das erinnern, was wir selber in Wahlkämpfen immer wieder gesagt haben. ({1}) Im Bundestagswahlkampf und in jedem anderen Wahlkampf sowie bei jeder wirtschaftspolitischen Debatte in diesem Hause haben wir gesagt: Herr Bundeskanzler, gehen Sie den Weg der Steuersenkungspolitik! Eine Steuersenkungspolitik ist das beste Beschäftigungsprogramm. Herr Bundeskanzler, erhöhen Sie sich aber bitte nicht, indem Sie das als eine geniale Erkenntnis an diesem Wochenende für sich vereinnahmen. Seit Jahren werden Sie in Richtung Steuersenkungen getrieben. Jahrelang waren Sie nicht bereit dazu. Hätten Sie den Weg der Steuersenkungspolitik früher beschritten, dann hätten heute Hunderttausende von Menschen mehr eine Arbeit. ({2}) Das wollen wir an dieser Stelle auch klar machen. Sie sagen hier, die Opposition habe dieses und jenes nicht mitgemacht. So weit sind wir noch gar nicht; denn von Ihnen liegt überhaupt nichts vor. ({3}) So sehr ich den Ansatz der Mitwirkung auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Union teilweise nicht teile, so sehr ist aber die Kritik an dem, was Sie heute Morgen hier geboten haben, berechtigt. Wir kommen hierher und denken, dass es nach dieser Klausurtagung eine Regierungserklärung gibt, in der uns der Bundeskanzler sagen wird, wo die Privatisierung, der Subventions- und der Bürokratieabbau erfolgen werden und wie viel Schulden er machen will. Nichts davon haben Sie hier gebracht - Lyrik, Paraphrasen und Märchenstunde. ({4}) Das ist für eine Regierungserklärung in einer solch verheerenden Situation für unser Land zu wenig. ({5}) Sie sagen, Sie berufen sich auf das, was Sie in Ihrer Regierungserklärung am 14. März hier gesagt haben. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, weil ich die Ehre hatte, Ihnen für unsere Fraktion auf diese Regierungserklärung zur so genannten Agenda 2010 zu antworten. Wir haben Ihnen mit Anträgen nicht nur einmal, sondern dutzendfach deutlich gemacht: Ziehen Sie diese Steuersenkungsschritte vor. Damals haben Sie uns - das haben Sie heute sogar zitiert - zu den Neunmalklugen der öffentlichen Diskussion gestempelt. - Herzlich willkommen im Klub der Neunmalklugen, Herr Bundeskanzler. ({6}) In Wahrheit ist es doch so, dass Sie den Weg der Steuersenkungspolitik nicht aus innerer ordnungspolitischer Überzeugung gehen wollen, sondern weil Sie, getrieben durch Meinungsumfragen, erkennen, dass Ihr bisheriger Regierungsweg ein Crashkurs für unser Land war und dass die Menschen dies bemerkt haben. Aber Sie müssen jetzt konkret werden. Ich sage noch einmal: Wenn Sie konkret werden und den Weg der marktwirtschaftlichen Erneuerung gehen wollen, dann werden wir mit unserem gewachsenen Gewicht in den Ländern dafür sorgen, dass es keine Blockadepolitik gegen die Interessen unseres Landes gibt. Aber Sie müssen auch konkret werden. Sagen Sie der Opposition bitte nicht, sie würde nur darauf warten, dass Sie etwas vorlegen. Von den Freien Demokraten gibt es zu jedem Reformprojekt in diesem Lande konkrete Gesetzesinitiativen. Lesen Sie sie! Vielleicht kommen Sie dann zu besseren Erkenntnissen. ({7}) Ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen: Wir in der Opposition ({8}) werden uns heute anders verhalten, als Sie sich damals in der Opposition verhalten haben; denn wir kennen unsere staatspolitische Verantwortung für Deutschland. Wir werden nicht so wie Sie 1997 die Petersberger Beschlüsse, die vermutlich beste Steuersenkungsreform, die in diesem Hause jemals beschlossen worden ist, im Bundesrat blockieren. Die Verantwortung dafür tragen Herr Lafontaine, Sie, Herr Bundeskanzler, und Herr Eichel als Ministerpräsident. Sie haben damals diese Blockadepolitik zum Schaden für unser Land durchgeführt. Wir haben das damals kritisiert. Wir werden es heute nicht so machen. ({9}) Dieses Land wäre weiter, wenn Sie nicht jedes Mal nur auf Meinungsumfragen, bevorstehende Wahlen und Wahlergebnisse reagieren würden. Sie sprechen hier von einem beispiellosen Kraftakt. ({10}) Ich muss wirklich fragen: Was war das bisher? Bisher bestand der beispiellose Kraftakt des Bundeskanzlers darin, dass er als SPD-Vorsitzender einen Parteitag der SPD hinter sich gebracht hat. ({11}) Wenn schon das ein Kraftakt sein soll - dass dies schwierig ist, weiß jeder Parteivorsitzende -, dann muss die deutsche Einheit dagegen ein Spaziergang gewesen sein. ({12}) Gleiches gilt für Ludwig Erhard mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft. Der Kraftakt liegt nicht hinter Ihnen, sondern vor Ihnen und vor dem ganzen Haus. Zu dieser notwendigen Erkenntnis müssen Sie in der deutschen Politik endlich gelangen. ({13}) Anlässlich Ihres gestrigen Besuchs im sächsischen Pirna, Herr Bundeskanzler, erinnere ich an die Debatte im August 2002 vor der Bundestagswahl, in der wir über die Finanzierung der Hochwasserhilfen gesprochen haben. Als Sie seinerzeit beschlossen haben, die weiteren Schritte der Steuersenkungen zu verschieben, um die Hilfen für die Flutkatastrophe finanzieren zu können, haben wir Ihnen gesagt: Für Deutschland wäre es besser, die Katastrophe des Hochwassers nicht mit der Katastrophe von mehr Steuern und damit mehr Arbeitslosigkeit bekämpfen zu wollen. Wir haben Ihnen geraten: Gehen Sie den Weg der Steuersenkungen. - Ich habe einmal nachgelesen, was damals für Zwischenrufe gemacht wurden. Der Kollege Tauss hat gerufen: Freibier für alle. Dieser Zwischenruf kam aus den Reihen der SPD. Der Kollege Tauss nimmt anstandshalber wenigstens an dieser Debatte nicht teil. Er müsste rote Ohren bekommen, wenn er seine Zwischenrufe von damals hören würde. ({14}) Frau Scheel, was haben Sie noch vor wenigen Tagen alles erzählt? Ich habe die Zeitungsausschnitte noch einmal nachgelesen, die mir Herr Kollege Solms vorgelegt hat, der das zusammen mit unseren anderen Freunden, die in diesem Bereich arbeiten, noch viel detaillierter verfolgt. Frau Scheel, Sie haben den Freien Demokraten gesagt, Steuersenkungspolitik im Interesse eines Aufschwungs zu verfolgen, sei Voodoo-Ökonomie. Offensichtlich sind auch Sie diesem Zauber endlich erlegen. Gott sei Dank, kann ich dazu nur sagen. ({15}) - Frau Scheel, schweigen Sie. ({16}) Lesen Sie in aller Ruhe nach, was Sie gesagt haben. Ich glaube, fast jede Ihrer Reden sollten Sie genüsslich aufessen. ({17}) Es ist ein Treppenwitz, was von Ihnen dazu gekommen ist. ({18}) Für diese Debatte sollten Sie, Frau Scheel, aus Gründen des Stils Buße tun und sagen: Jawohl, ihr Liberalen, ihr seid Klasse. Dazu haben Sie wirklich Grund. Ich möchte Ihnen jetzt gern einmal sagen, welche konkreten Finanzierungsvorstellungen wir zu diesem Punkt vorgelegt haben. Auch diese Debatte ist aberwitzig. Sie sagen, es gebe keine Vorschläge der Opposition. Jeder Bürger, der uns jetzt zuschaut, kann in dieser Stunde im Internet nachlesen, dass wir Freie Demokraten Ihnen auf Euro und Cent vorgerechnet haben, wie die Steuersenkungspolitik zu finanzieren ist. Gehen wir ins Detail und fangen wir mit der Privatisierungsstrategie an, die Sie, Herr Bundeskanzler, zu Recht nach Ihrer Klausurtagung vor der imposanten Kulisse des Schlosses vorgetragen haben. Das macht Ihnen übrigens keiner nach. ({19}) Das muss man professionell anerkennen. Sie machen eine Show, die wirklich unvergleichlich ist. Dagegen ist der Auftritt von George Bush auf dem Flugzeugträger rein gar nichts. Es ist wirklich beeindruckend, wie Sie das machen. ({20}) Ich möchte Ihnen jetzt einmal vorlesen, was in Wahrheit das Sparbuch dieser Republik ist. Reden wir einmal über die Privatisierungsstrategie. Im Beteiligungsbericht der Bundesregierung stehen mittlerweile 426 Beteiligungen nur des Bundes. Das beginnt im alphabetischen Verzeichnis mit der „Abwicklungsgesellschaft Kabelsysteme GmbH & Co. KG“ in HagenErkrath und hört mit der Nummer 426 mit der „ZugBus Schleswig-Holstein GmbH“ in Kiel auf. Wir stellen fest, dass wir Reisebüros besitzen und erhebliche Anteile an Personalberatungsbüros haben. ({21}) - Wir, das Volk. Sie haben ein spannendes Staatsverständnis. - Frau Scheel, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben: Wir Politiker sind nicht die Eigentümer von Steuergeldern, sondern die Treuhänder. Entsprechend müssen wir uns verhalten. ({22}) Bringen Sie endlich dieses Buch auf den Markt. Wenn Sie es selber nicht können, dann beauftragen Sie eine Unternehmensberatung, die Ihnen zeigt, wie man so etwas macht. Das ist kein Tafelsilber, das wir verscherbeln wollen, sondern das ist in Wahrheit Senkblei um den Hals der Steuerzahler. Das gehört endlich privatisiert. Dann können wir jede Steuersenkungsreform lässig finanzieren. ({23}) Der Bundesfinanzminister ruft „Quatsch“ dazwischen. Herr Bundesfinanzminister, ich sage Ihnen voraus: Genau das werden Sie machen. Dass dieser Finanzminister immer zur besseren Erkenntnis getrieben werden muss, ist meines Erachtens auch ein Problem in diesem Lande. ({24}) Sie, Herr Finanzminister, sind ein Buchhalter, aber von einer dynamischen Wirtschaftspolitik verstehen Sie gar nichts. Gehen wir weiter zur Subventionspolitik. Auch dazu gibt es einen konkreten Vorschlag von den Freien Demokraten in diesem Hause. Wir sagen Ihnen: Nach der Privatisierung kürzen Sie die Subventionen. Wir sagen Ihnen nicht nur gezielt, welche Subventionen gekürzt werden können, wir haben Ihnen auch vorgerechnet, wie die Subventionen durch einen linearen Abbau in Höhe von 20 Prozent zurückgeführt werden können. Das ist ohnehin ordnungspolitisch dringend geboten. Es ist nämlich verdammt unfair, dass die Großen Subventionen bekommen und dann mit Dumpingangeboten die Kleinen kaputtmachen. ({25}) Aber was machen Sie? Holzmann. Das ist typisch Bundeskanzler Schröder. ({26}) Deswegen fordern wir eine Subventionskürzung von 20 Prozent, sie ist in diesem Land notwendig. ({27}) Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass diese Opposition konstruktive Vorschläge vorgelegt hat. Wenn Sie diese jetzt nach und nach aufnehmen, soll uns das herzlich willkommen sein, denn es geht um unser Land und darum, dass Arbeitsplätze entstehen. Es geht um Wirtschaftswachstum und es wäre besser, wir würden mehr machen als das, was von Ihnen jetzt zaghaft begonnen wurde. Das ist das zweite große Thema. Wir glauben vielleicht, dass wir durch diese wenigen marktwirtschaftlichen Ansätze, die jetzt von der Regierung vorgeschlagen werden, in der Lage wären, die Kurve in Deutschland zu kriegen. Das ist falsch. Das Reformkonzept, das Sie bisher vorgelegt haben, ist - wenn alles gut geht - bestenfalls dazu geeignet, einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Einen Rückgang der Arbeitslosigkeit werden Sie damit aber nicht bewirken; denn in Wahrheit bleiben Sie wieder in sämtlichen Fragen auf halber Strecke - manchmal bereits auf den ersten 10 Prozent der Strecke - stehen. Ob in der Privatisierungspolitik, beim Subventionsabbau oder beim Bürokratieabbau - wo bleiben denn die Gesetzentwürfe, die Sie mit der Agenda 2010 im März angekündigt haben? Wo bleibt die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, die wir immer wieder gefordert haben? Setzen Sie sie um! Wir machen gerne mit. Es reicht nicht aus, eine lyrische Regierungserklärung vorzulesen. Als Bundeskanzler müssen Sie Taten vorweisen und konkret dazu Stellung nehmen, was Sie vorhaben. Dass Sie - nachdem am Wochenende die Streiks in Ostdeutschland Gott sei Dank zusammengebrochen sind - in Ihrer heutigen Regierungserklärung das Thema „Tarifrecht und Arbeitsmarkt“ im Grunde genommen wieder völlig aussparen, ist ein weiteres großes Problem. Mit der Steuersenkungspolitik werden mit Sicherheit ein paar Fortschritte in diesem Land erzielt. Wenn aber die notwendigen Strukturreformen ausbleiben, scheitert das Vorhaben schon, bevor die Umsetzung richtig beginnen konnte. ({28}) Ich möchte an dieser Stelle betonen: Es ist ein Verdienst der Ostdeutschen, dass sie den Gewerkschaftsfunktionären endlich gezeigt haben, dass eine solche Politik nicht gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land betrieben werden kann. Es ist ein Verdienst der Ostdeutschen, dass dieses Tarifkartell endlich durchbrochen wurde. Gehen wir endlich noch weiter! Wenn sich 75 Prozent der Belegschaft eines Unternehmens mit der Unternehmensführung auf ein bestimmtes Vorgehen verständigen wollen, dann soll das auch gelten dürfen, ohne dass es ein Funktionär verhindern kann. ({29}) Wenn Sie das nicht schaffen, dann wird über das, was Sie bisher vorgelegt haben, hinaus nichts erreicht werden. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Unterschied zwischen dem, was Sie bisher vorgelegt haben, und unserer Politik ist der Unterschied zwischen einer buchhalterischen und einer dynamischen Wirtschaftspolitik. ({30}) Sie wollen schon jetzt und mit hohem Tempo die Neuverschuldung erhöhen. Wir hingegen weisen Sie darauf hin, dass eine Steuersenkungspolitik in diesem Lande nicht nur im Interesse neuer Arbeitsplätze nötig ist, sondern dass sie auch ohne zusätzliche Neuverschuldung finanzierbar ist. Wir haben im Zusammenhang mit dem Subventionsabbau und der Privatisierungspolitik vorgerechnet, wie das funktioniert. Hüten Sie sich davor, zu schnell das süße Gift der Schulden zu nehmen, nur weil Sie damit auf den geringsten Widerstand in Ihren eigenen Reihen stoßen! ({31}) Schlagen Sie den vernünftigen Weg der Strukturreformen ein! Deutschland hat das verdient. Wir kennen unsere staatspolitische Verantwortung. ({32}) Wir werden Sie auf Ihrem Weg begleiten, wenn es denn ein Weg der Vernunft ist. Den Worten zur Steuersenkung müssen aber endlich Taten folgen. Die Menschen wollen nicht mehr, dass Sie nur reden, Herr Bundeskanzler. Sie wollen sehen, dass Sie handeln. Sie hatten genug Zeit. Hauptsache, Sie kehren endlich um! Besser für dieses Land wäre allerdings, Sie würden abtreten. Neuwahlen wären das beste Beschäftigungsprogramm für Deutschland! ({33})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Tagen und Wochen hat diese rot-grüne Regierung etwas auf den Weg gebracht, das sich sehen lassen kann. ({0}) Wir sind auch aus grüner Sicht mit den Vereinbarungen, die in Neuhardenberg getroffen worden sind, hochzufrieden. Herr Westerwelle, auf die Frage, welches der bessere Weg ist, gibt es nur eine Antwort: lieber mit dem Kanzler in Neuhardenberg als mit Ihnen im Container! ({1}) Wir machen jetzt unter schwierigen Rahmenbedingungen Ernst mit den notwendigen Strukturreformen. Wir bringen auch Bewegung in den Arbeitsmarkt. Wir haben bereits damit angefangen und werden im Herbst fortfahren. Darüber hinaus unternehmen wir besondere Anstrengungen, damit junge Menschen unter 25, aber auch ältere Langzeitarbeitslose eine Chance haben, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. ({2}) Herr Westerwelle, ein Mitglied Ihrer Fraktion hat zu den besonderen Anstrengungen, älteren Arbeitslosen wieder eine Chance zu geben, gesagt, man solle kein Geld für hoffnungslose Fälle ausgeben. Das unterscheidet uns in der Politik. ({3}) Wenn Sie das unter Dynamik verstehen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit alleine dastehen. Das ist Ausdruck Ihrer Ellbogenmentalität und hat mit Dynamik nichts zu tun. Das ist nur zynisch. ({4}) - Ich kann Ihnen das aus dem Pressespiegel heraussuchen. Das ist überhaupt kein Problem. ({5}) Ich sage Ihnen noch etwas: Sie haben hier mit Häme über die Streiks in Ostdeutschland gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass das, was dort geschehen ist, den kritischen Diskussionsprozess, der in den Gewerkschaften längst begonnen hat, weiter befördern wird. Aber die Häme, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben, teilen wir nicht; denn wir wissen, wohin wir kommen würden - das wollen Sie ja -, wenn es keine starken Gewerkschaften in Deutschland mehr gäbe. ({6}) Das Gesetzespaket für die Gesundheitsreform liegt vor. Die Reformen der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung werden wir im Herbst dieses Jahres beschließen. Auch die Gemeindefinanzreform werden wir im Herbst anpacken, egal ob sich die Kommission, die dafür eingesetzt wurde, einigen wird oder nicht. ({7}) Damit sind wir auf dem Weg, die zentralen Aufgaben zu lösen. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland finanzierbar halten und sie damit zukunftsfest machen. Wir sorgen so dafür, dass sich die Menschen in Zukunft auf die solidarischen Systeme, auf die sie tatsächlich angewiesen sind, verlassen können. Deshalb unternehmen wir die erwähnten Anstrengungen. Die Koalition hat sich inzwischen nicht nur darauf verständigt, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland gesenkt werden müssen, sondern ist auch dabei, die Strukturreformen umzusetzen, die tatsächlich zu einer Senkung der Lohnnebenkosten führen werden. ({8}) Das wird entscheidend dafür sein, dass der Faktor Arbeit in Deutschland nicht mit Abgaben überbelastet wird und dass Arbeitslose wieder eine bessere Chance in Deutschland haben, in Beschäftigung zu kommen. Gleichzeitig schlagen wir mit dem Haushaltsentwurf 2004 noch radikalere und noch konsequentere Schritte zum Subventionsabbau vor. Wir sind besonders dankbar, dass der Bundesfinanzminister in seinem jetzigen Haushaltsentwurf noch radikaler an die ökologisch falschen bzw. fragwürdigen Subventionen herangegangen ist als in der Vergangenheit. ({9}) Gerade mit dem geplanten Subventionsabbau werden wir Bewegung in die verfestigten Strukturen in Deutschland bringen. Warum machen wir das? Wir machen das, weil solche Strukturen den Weg für Neues und Wichtiges blockieren, nämlich für Investitionen in Bildung und Forschung, in Innovationsfähigkeit, in die ökologische Modernisierung und auch in eine moderne KinderpoliKrista Sager tik. Dafür brauchen wir Luft und diese verschaffen wir uns jetzt. ({10}) Wir wissen, dass die Strukturreformen, die wir jetzt in den sozialen Sicherungssystemen, aber auch beim Subventionsabbau durchführen, nicht sofort, sondern erst mittel- und langfristig wirken. Die Wirkung wird aber dauerhaft und nachhaltig sein. Das ist der Grund, warum diese Reformen Priorität für uns haben, warum sie auf Platz eins der Agenda 2010 stehen. Das ist der Grund, warum wir sagen: Strukturreformen zuerst! Wir wissen auch, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern etwas abverlangen müssen. Aber ich glaube, dass viele Menschen in diesem Land begriffen haben, warum wir das alles tun. Wir machen diese Reformen, um das Land in den Bereichen nach vorne zu bringen, die wirklich wichtig sind, nämlich in den Zukunftsbereichen. Wir haben uns darauf verständigt - darüber sind wir besonders froh -, dass wir im Herbst dieses Jahres noch einmal Änderungen im Bereich der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung vornehmen werden, um diese sozialen Sicherungssysteme tragfähig zu gestalten, und dass wir ebenfalls im kommenden Herbst die Grundlagen legen werden, um im nächsten Jahr den Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 19,5 Prozentpunkten zu stabilisieren. Wir sind auch darüber froh, dass wir über das Gesundheitspaket jetzt ernsthaft verhandeln. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir gemeinsam etwas zustande bringen, wenn die Opposition es ehrlich meint. Eines sage ich ganz klar: Es wird mit uns keine Einigung geben, die nur den Patientinnen und Patienten etwas abverlangt. ({11}) Gerade weil der Gesundheitsbereich im Hinblick auf Arbeitsplätze und Innovationen immer wichtiger wird, gerade weil wir wollen, dass das medizinisch Notwendige auch in Zukunft gewährleistet ist, müssen wir dort für mehr Effizienz, mehr Transparenz und mehr Wettbewerb sorgen. Deswegen wird es mit uns keine Einigung geben, die nur auf Finanzen ausgerichtet ist und weder eine Strukturreform noch ein Aufbrechen der Machtkartelle vorsieht. Ich bekomme immer mehr Signale - auch das sage ich ganz deutlich - von unserem Koalitionspartner, aber auch von anderen, dass es im Herbst zu einer ernsthaften Diskussion über die Bürgerversicherung kommen wird. Ich kann die Opposition nur dazu einladen, sich an dieser Diskussion konstruktiv zu beteiligen. Herr Seehofer hat wirklich Recht: Die Schaffung einer Bürgerversicherung ist eine Zukunftsaufgabe, die wir angehen müssen. ({12}) Im Herbst werden wir uns auf die Umsetzung der Agenda 2010 und darüber hinaus auf die Frage konzentrieren, wie eine alternde Gesellschaft ihre Innovationsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung nicht nur erhalten, sondern auch weiterentwickeln kann. Deutschland und Europa brauchen die besten Köpfe und die besten Ideen, um sich nachhaltig weiterzuentwickeln. Meine Damen und Herren von der Opposition, dazu gehört ein modernes Zuwanderungsrecht. Auch was diesen Bereich angeht, müssen Sie von der Bremse gehen. ({13}) Ein zukunftsfähiges Deutschland kann sich keine Opposition leisten, die bei der Schaffung eines modernen Zuwanderungsrechts auf der Bremse steht oder im Wartesaal sitzt. Die Opposition hat langsam begriffen - das ist interessant -, dass es offensichtlich nicht besonders günstig ist, sich dem Vorhaben der Regierung, Steuern zu senken, zu verweigern. Aus unserer Sicht ist es angesichts der Durchführung von Strukturreformen und des Abbaus von Subventionen akzeptabel, jetzt einen Impuls zu setzen, der sich auf die Konjunktur in diesem Lande positiv auswirken soll. Wer sagt, wir sollten Steuersenkungen möglichst nicht durch zusätzliche hohe Schulden finanzieren, der hat die Grünen sofort auf seiner Seite. ({14}) Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass der kreditfinanzierte Teil der Steuerreform - auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit - möglichst gering ist. ({15}) Zumindest ein Teil der CDU hat es möglicherweise gerade noch geschafft, mit quietschenden Reifen die Kurve zu kriegen. Die „Alpen-Connection“ von Frau Merkel funktioniert offensichtlich etwas besser als ihre „Anden-Connection“. Einige kritische Kommentare dazu kann ich Ihnen aber nicht ersparen. In Ihren eigenen Reihen haben sie offensichtlich erhebliche Probleme. Dabei denke ich nicht nur an Herrn Koch, den hessischen „Doktor No“, sondern vor allen Dingen an Mitglieder Ihrer Fraktion. Die Diskussion in Ihrer Fraktion hat offensichtlich sehr viel damit zu tun, dass Sie sich über die Kanzlerkandidatur bis heute nicht verständigt haben. ({16}) Frau Merkel hat in ihrem Brief an den Bundeskanzler eine verlässliche Politik eingefordert. Ich frage mich in der Tat, wo Ihre Verlässlichkeit in der Steuerpolitik bleibt. ({17}) Da ist von Verlässlichkeit keine Spur; da herrscht das blanke Chaos. Das stellen nicht nur wir fest. ({18}) Als wir eine Steuerreform längst beschlossen hatten, durch die die Steuersätze in Deutschland ein Rekordtief erreichen - sie werden um circa 10 Prozentpunkte gesenkt -, haben Sie gesagt: Das reicht alles nicht; die Steuersätze müssen noch viel weiter sinken. Was ist jetzt? Jetzt machen Sie total die Rolle rückwärts. Was ist denn mit der Gegenfinanzierung? Herr Merz hat uns damals erzählt: So eine Steuersenkung finanziert sich praktisch aus sich selbst heraus. ({19}) Was ist jetzt? Jetzt sagt er: große Verschuldungsproblematik, alles nur Teufelszeug. - Herr Merz weiß offensichtlich nicht, wovon er redet. ({20}) Was erzählt uns eigentlich Frau Merkel? Frau Merkel sagt in der „Bild“-Zeitung: Subventionsabbau zur Gegenfinanzierung muss sein. In der gleichen Ausgabe der „Bild“-Zeitung sagt sie: Subventionsabbau ja, aber niemandem in diesem Land irgendetwas wegnehmen. Herr Stoiber sagt wiederum: Doch, natürlich, allen etwas wegnehmen, nämlich gleichmäßig 10 Prozent. - Frau Merkel sagt in der „Bild“-Zeitung: Aber auf keinen Fall mit Schulden. - Was sagt der Konfusionsrat, Herr Stoiber? Er sagt: Doch, 30 Prozent davon mit Schulden. Frau Merkel sagt: Herr Steinbrück und Herr Koch sollen doch jetzt einmal Gegenfinanzierungsvorschläge machen. ({21}) Das sagt sie in der „Bild“-Zeitung. Hier sagt sie wiederum: Die Regierung soll Vorschläge machen. - Wenn die Regierung Vorschläge macht, dann sagen Sie aber immer nur Nein und stehen auf der Bremse. ({22}) Kein Mensch in diesem Land begreift, wohin Sie eigentlich wollen. Es ist auch nicht so, dass Sie nur ein Kommunikationsdesaster haben. Sie haben vor allem auch ein Konzeptdesaster, ({23}) weil Sie kein Konzept vorlegen können, aus dem hervorgeht, wohin es eigentlich gehen soll. ({24}) Tatsache ist doch, dass die Regierung den Karren in diesem Land zieht. Sie zieht aber nicht nur den Karren in diesem Land, sondern sie muss auch noch die Opposition mitschleppen - das ist doch das Problem! -, ({25}) und zwar eine Opposition, die sich mit ihrem ganzen „Nein“, „Jein“, „Ja, aber“ auch noch gegen das Mitschleppen wehrt. Um über Ihre schlechten Haltungsnoten bei dieser unglücklichen Übung hinwegzutäuschen, sagen Sie auch noch: Schneller, schneller, schneller, schneller! - Aber es kann doch nicht schneller gehen, wenn Sie ständig auf der Bremse stehen! ({26}) Die Regierung hat im letzten Jahr genügend Vorschläge dazu gemacht, wie man Subventionen in diesem Land abbauen kann, wie man gerade auch an Subventionen herangehen kann, die inzwischen überholt sind und Investitionen in Neues blockieren. ({27}) Was ist von Ihnen gekommen? Von Ihnen ist nichts weiter gekommen als taktische Spielchen. Sie dürfen nicht denken, dass die Menschen in diesem Land das nicht langsam durchschauen. Sie sagen: Die Regierung soll einmal einen Vorschlag machen. Dann macht die Regierung einen Vorschlag. ({28}) Sie sagen: Nein, gerade der gefällt uns nicht. Dann macht die Regierung einen neuen Vorschlag. Sie sagen: Jetzt hat die Regierung schon wieder einen gemeinen Vorschlag gemacht. - Das ist doch Ihr Spiel! Mit diesen Tricksereien werden wir in diesem Land nicht weiterkommen. ({29}) Herr Müntefering hat völlig zu Recht gesagt, dass Sie diese taktischen Spielereien ausschließlich auf Kosten der Länder und Gemeinden betreiben. Sie wissen ganz genau, dass über die Hälfte der Subventionen, die im Subventionsbericht aufgeführt sind, in Form von Steuervergünstigungen gewährt werden. Wenn Sie jedes Mal, wenn eine Steuervergünstigung abgebaut wird, behaupten, das sei jetzt aber eine ganz gemeine Steuererhöhung, dann meinen Sie es überhaupt nicht ehrlich damit, Subventionen in diesem Land abbauen zu wollen. ({30}) Sie wissen doch: Wenn Subventionen in Form von Steuervergünstigungen und nicht in Form von Finanzhilfen abgebaut werden, dann dient das ganz besonders den Ländern und Gemeinden. Sie haben mit Ihrer verfluchten Taktik - Sie haben im Bundesrat vernünftige Maßnahmen blockiert - dazu beigetragen, dass die Haushalte der Länder und Gemeinden so sind, wie sie sind. ({31}) Jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Was sich jetzt zeigt - die Wartesaalpolitik von Frau Merkel hat es deutlich gemacht -, ist, dass Sie mit Ihrer Taktik gründlich gescheitert sind. Sie haben das ganze halbe Jahr im Bundesrat mit der Blockierung der Finanzpolitik ausschließlich darauf gesetzt, dass Sie die Regierung möglicherweise destabilisieren können. Das Gegenteil haben Sie erreicht: Nie ist diese rot-grüne Koalition so stabil gewesen wie zurzeit. ({32}) Nie ist diese rot-grüne Koalition so handlungsfähig gewesen wie zurzeit. Nicht handlungsfähig ist die CDU/ CSU. In der CDU/CSU herrscht völliges Durcheinander. Sie stehen nicht nur vor einem Kommunikations- und Konzeptdesaster, sondern auch vor einem Strategiedesaster, weil Ihre Strategie auf ganzer Länge gescheitert ist. ({33}) Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen in diesem Lande begreifen, dass wir in einer schwierigen Situation sind, ({34}) die aber auch eine Chance bietet, um schmerzhafte, aber notwendige Veränderungen in diesem Land voranzubringen. Immer mehr Menschen verstehen, dass auch eine Chance darin besteht, wenn man sich auf den Weg macht, um eine neue Balance zwischen Selbstbestimmung, Solidarität und Gemeinwohl zu finden. Ein schweizer Historiker hat einmal gesagt: Nur in der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben. Die Regierung handelt danach; die Menschen verstehen es inzwischen. Ich hoffe, dass langsam auch Bewegung in die Opposition kommt, und zwar nicht nur in den eigenen Reihen, sondern nach vorne zum Nutzen dieses Landes. ({35})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben ganz am Anfang Ihrer Rede gesagt, ein Vertreter meiner Fraktion habe erklärt, dass er der Meinung sei, dass sich bei älteren Arbeitslosen Mühe nicht mehr lohne. Ich möchte Sie bitten, jetzt hier vor diesem Hohen Hause zu sagen, wo das gewesen ist und von wem dieses Zitat stammt, da ich dem als Parteivorsitzender, wie Sie verstehen werden, natürlich nachgehen möchte. ({0})

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Westerwelle, ich habe diesen Kommentar zu der Verabschiedung des Programms für Langzeitarbeitslose gestern einer Tickermeldung entnommen. Ich werde diese Tickermeldung aus meinen Unterlagen heraussuchen und sie Ihnen dann übergeben. Es wird sich ja feststellen lassen, ob diese Tickermeldung stimmt. ({0}) - Entschuldigen Sie, ich werde sie Ihnen geben. ({1}) Sie wurde gestern veröffentlicht, darin wurde ein Mitglied Ihrer Fraktion zitiert. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, dass die Reden in der Debatte, die wir heute führen, bis auf die Rede von Frau Merkel, insbesondere die vorausgegangene Rede, erklären, warum es in diesem Land so wenig Vertrauen gibt. Wenn diejenigen, die uns regieren sollen, so konfus handeln und weder ein noch aus wissen und sich vor allen Dingen in dem, was sie tun und sagen, sprunghaft verhalten, dann müssen wir uns überhaupt nicht wundern, wenn sich die Konsumenten und die Investoren in diesem Land zurückhalten. ({0}) Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Rede mit Pathos, soweit nicht Lustlosigkeit überwogen hat, vorgetragen. Sie haben sich ein Stück weit dafür entschuldigt, dass fünf Jahre nichts geschehen ist, ({1}) und erklärt, warum Sie sich jetzt möglicherweise bewegen wollen. Wir wissen, dass sich bisher vor allen Dingen der Fuhrpark zwischen Neuhardenberg und Berlin hin und her bewegt hat. Das waren die einzig wirklich erkennbaren Bewegungen, die es in der ganzen Szene gegeben hat. ({2}) Ansonsten herrscht in Deutschland leider immer noch Stillstand. Diese rot-grüne Bundesregierung ist die Ursache dafür. Sie, Herr Bundeskanzler, erinnern mich an einen Schiffbrüchigen, der, wenn er irgendwo Treibholz sieht, sofort ruft: Land in Sicht! ({3}) Die Situation ist leider ein bisschen ernster. Wir befinden uns nämlich in einer Vertrauensfalle und es fehlt die Aufbruchstimmung. Ich frage mich, woher die Aufbruchstimmung eigentlich kommen soll. Wir haben seit drei Jahren Stagnation. Das DIW sagt, wir hätten es in diesem Jahr mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun. Kein anderes Land in Europa ist in diesem schlimmen Zustand. Die Arbeitslosigkeit liegt um 350 000 über dem Vorjahreswert. Selbst die Nürnberger Bundesanstalt, an deren Spitze Sie für ein hohes Jahresgehalt einen Chefpropagandisten gesetzt haben, spricht inzwischen für den Winter von 5 Millionen Arbeitslosen. Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland hat Angst um seinen Arbeitsplatz. Im letzten Jahr hatten wir 38 000 Insolvenzen und Betriebsaufgaben. Auch in diesem Bereich wird es in diesem Jahr einen neuen Rekord geben. Statt den Mittelstand zu ermutigen, wird das Handwerk durch die Ankündigungen in diesem Gesetzentwurf weiter verunsichert, und das in einer konjunkturell schwierigen Lage. Die Bauern, die ebenfalls zum Herzen unserer mittelständischen Wirtschaft gehören, sind in den Zangengriff genommen worden, vorgetragen aus der EU und nachgesetzt durch Frau Künast. Der Rest wird dann von Eichel besorgt. ({4}) - Herr Schmidt, dass Sie für die Bauern und für das Handwerk überhaupt nichts übrig haben, ist bekannt. Interessieren Sie sich wenigstens für die Lage der Bauarbeiter! ({5}) In der Bauwirtschaft haben wir einen Rückgang um 15 Prozent. Die öffentlichen Haushalte laufen aus dem Ruder, insbesondere die Kommunalhaushalte. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der SPD noch ein bisschen Beziehung zur Basis in ihren Wahlkreisen, wo sie um die Stimmen buhlen, hätten, dann wüssten sie, was in den Städten und Gemeinden los ist und wie gering die Investitionsfähigkeit noch ist. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns allen wäre es sehr recht, wenn das, was Sie angekündigt haben, viel bringen würde. Wir wollen auch gerne dazu beitragen; denn wir haben kein Interesse daran, dass dieses Land untergeht. Im Gegenteil, wir wollen hier leben und wir wollen, dass unsere Kinder hier leben und dass auch unsere Enkel noch eine Zukunft haben. Zu dem Thema komme ich noch. Ich will ein Beispiel nennen, woran sich zeigt, dass die Menschen kein Vertrauen haben. Es gibt Zeitungen, allen voran die Boulevardpresse, ({7}) in denen Tabellen abgedruckt werden, an denen man ablesen kann, wie viel jeder mehr in der Tasche hat, wenn die Steuerreform 2005 vorgezogen wird. Wie viel das tatsächlich ist, werden wir ganz am Schluss feststellen. Aber in diesem Zusammenhang werden die Menschen schon gefragt: Was machen Sie mit dem Geld, falls es tatsächlich bei Ihnen in der Tasche ankommt? Darauf antworten 52 Prozent, sie wollten sparen oder Schulden tilgen. In den Konsum fließt diesen Umfragen zufolge nicht allzu viel. Das zeigt, dass die Menschen kein Vertrauen haben. Aber Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen seit drei Jahren, uns einzureden, es gehe wieder aufwärts. Dabei verweisen Sie immer wieder auf die zweite Jahreshälfte und das letzte Quartal. Es fragt sich nur, Herr Bundeskanzler: In welchem Jahr geht es aufwärts? ({8}) - 2010 und folgende, aber nur, weil wir dann schon lange wieder regieren. ({9}) Die preiswerteste Maßnahme - ich kann mir sogar vorstellen, dass man das Geld dafür über Bürgerinitiativen sammelt - wäre eine Neuwahl in diesem Land. Das würde sich auszahlen; denn das wäre stabilisierend und vertrauensbildend. Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der Wachstumsprognose von 0,75 Prozent für 2003 hält Herr Eichel noch immer fest. ({10}) - Er ist schon gegangen. ({11}) Er schämt sich. Er dürfte nicht Hans Eichel heißen, sondern müsste inzwischen Ali Eichel genannt werden; man kennt ja die Prognosen, die in Bagdad von einem gewissen Ali - genannt Lügen-Ali - abgegeben worden sind. ({12}) Wenn schon die politisch Verantwortlichen bei uns im Land das kleine Einmaleins nicht beherrschen, wie sollen es dann die Schüler bei der PISA-Studie können? Wir sprechen über Zahlen und Fakten. Da lässt sich vieles nicht schön- und weichreden. Die Unterstellung einer Wachstumsprognose von 2 Prozent für den Haushalt 2004 ist reiner Zweckoptimismus. Nun wissen wir, Optimismus ist wichtig; er ist in der Wirtschaft ein wichtiger Faktor. Aber es muss auch ein bisschen Realismus zugrunde gelegt werden. Diese Annahme ist unrealistisch. Deswegen kann ich gut verstehen, dass der Bundesfinanzminister inzwischen anderen Hausaufgaben nachgeht. Ich finde, dass Prognosen immer schwierig sind, da sie die Zukunft betreffen. Aber ich glaube, manches lässt sich besser vorhersagen, als es diese Bundesregierung getan hat. Wir wissen natürlich auch, dass die Steuerpolitik sehr viel dazu beitragen kann, in einem Land Wachstum zu schaffen. Deswegen treten wir für niedrigere Steuern und niedrigere Abgaben ein. Das ist ein permanenter Kampf, der immer wieder neu geführt werden muss. Es kann nämlich nicht angehen, dass jemandem etwas aus der linken Tasche genommen wird und dass ihm etwas - möglicherweise weniger - in die rechte Tasche gesteckt wird. Wir dürfen natürlich nicht nur die Steuern betrachten. International gesehen ist unsere Steuerbelastung nicht so hoch. Aber wir haben die höchste Steuer- und Abgabenlast. ({13}) Das muss man natürlich berücksichtigen. Diese hohe Belastung durch Abgaben und Steuern - Herr Poß, Sie beschäftigen sich schon lange damit - hat maßgeblich zu diesem Wirtschaftseinbruch beigetragen und dazu geführt, dass wir jetzt in dieser Falle stecken. ({14}) Jetzt wollen Sie die dritte Stufe der Steuerreform vorziehen, obwohl die zweite Stufe noch nicht in Kraft getreten ist. Ich sage immer: Wenn man den dritten Schritt nach dem ersten macht, dann besteht die Gefahr, dass man stolpert. ({15}) - Stolpert. Putzen Sie sich die Ohren! Frau Sager, die jetzt nicht mehr anwesend ist, wollte wissen, wie wir zu dieser Steuerreform stehen. Einer der Fehler dieser Steuerreform, die nicht unsere Steuerreform war, ist, dass sie nicht aus einem Guss ist, sondern in drei Stufen erfolgen soll. Die erste Stufe wurde, wie jedermann weiß, sofort durch die Einführung der Ökosteuer und durch die Erhöhung der Tabaksteuer und Versicherungsteuer konterkariert. ({16}) Jetzt gibt es eine weitere Erhöhung der Tabaksteuer. Früher stand auf den Zigarettenpackungen: „Rauchen gefährdet die Gesundheit“. Jetzt muss darauf gedruckt werden: „Rauchen fördert die Gesundheit“, weil das Geld angeblich in den Gesundheitsbereich fließen soll. Wir sollten vor allen Dingen niedrige Steuersätze bei einer breiten Bemessungsgrundlage in den Vordergrund stellen. ({17}) Die Steuerreform, die Sie auf den Weg gebracht haben, erfüllt diesen Anspruch nicht. Wir reden über das Vorziehen einer Stufe der Steuerreform, die wir besser konzipiert hatten und die wir besser gemacht hätten. Aber letztendlich wird ein Vorziehen der dritten Stufe an uns nicht scheitern. Darüber werde ich noch sprechen. Ich will noch Folgendes sagen. Die dritte Stufe, die für 2005 vorgesehen war, würde auch dann in Kraft treten, wenn der Bundestag jetzt in Urlaub gehen würde und seine Mitglieder überhaupt nicht mehr zurückkommen würden. Dann aber säße Eichel vollends in der Falle, weil die Stufe 2005 so, wie sie konzipiert worden ist, direkt in Kraft treten würde. Nun wird der Versuch gemacht, das, was beim Steuerzahler in der Tasche bleibt und was ihm versprochen worden ist, zu schmälern. Wenn ich es richtig weiß, reden Sie von der Abschaffung der Entfernungspauschale. ({18}) - Die Einschränkung der Entfernungspauschale steht im Haushaltsentwurf. ({19}) Es wird selbstverständlich auch über den Abbau der Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen geredet. Auch dieser Vorschlag geistert immer wieder herum. Sie wollen auch noch andere Subventionen abbauen, um das Vorziehen der dritten Stufe gegenzufinanzieren. ({20}) Nun wissen Sie, dass die Maßnahmen zur so genannten Gegenfinanzierung, von denen Sie dankenswerterweise wieder gesprochen haben, dauerhaft bestehen bleiben. Aber man hat im Rahmen der dritten Stufe 2005 eine Senkung versprochen, ohne dass das Geld auf der anderen Seite genommen wird. Es ist also so: Durch das Vorziehen der Steuerreform um ein Jahr wird dem Steuerzahler etwas in die rechte Tasche gesteckt, aber aus der linken Tasche wird ihm das Geld dauerhaft genommen. ({21}) Das übersehen die Menschen bei dieser Diskussion. ({22}) Ihre Kalkulierbarkeit und Stetigkeit, Herr Bundeskanzler, - Frau Merkel hat vorhin vorgelesen, was Sie noch am 14. März gesagt haben - erinnert an einen kugelgelagerten Wetterhahn, der sich nach dem Wind dreht. Andreas Hoffmann hat in der „Süddeutschen Zeitung“ über Ihre Vorschläge geschrieben: „Vorhang auf für Harry Potter... “. ({23}) Herr Bundeskanzler, Sie haben Chuzpe und eine gewisse Unverschämtheit. Sie hat Ihnen oft geholfen. Ob diese Chuzpe Ihnen diesmal hilft, ist sehr fraglich. Sie besteht darin, dass Sie das Versprechen einer Steuersenkung oder des Vorziehens einer Steuersenkung, die populär ist, damit verbinden, dass Sie sagen: Liebe Opposition, wenn du keine neuen Schulden bis zum Gehtnichtmehr haben willst, dann sage doch, wie das Ganze zu bezahlen ist. - Diese Arbeitsteilung machen wir nicht mit; das bringe ich hier ganz klar zum Ausdruck. ({24}) - Herr Poß, Sie sind Steuerpolitiker, lassen sich aber zum Beispiel auch vom Sachverständigenrat beraten, dessen Vorsitzender ein SPD-Mitglied ist. Er mahnt allerdings zur Vorsicht, was die Verschuldung anbelangt. Die Regierung glaubte, es werde eine Euphorie an den Finanzmärkten geben, wenn sie das Vorziehen der Steuersenkung verkündet. Eine solche Euphorie ist aber ausgeblieben. Die Wirklichkeit ist die Reaktion der Märkte und ein Stück weit auch die Reaktion der Menschen auf solche Maßnahmen. Die Menschen misstrauen der SPD, weil sie wissen, dass die Versuche aller SPDBundesregierungen Ende der 70er-Jahre gescheitert sind, die Konjunktur durch Deficitspending, wie es damals so schön hieß, anzukurbeln. Heute müssen wir und unsere Kinder immer noch die Zinsen dafür zahlen. Diese Politik, alles auf die nächste Generation zu verlagern, die übrigens immer kleiner wird, halte ich für eine falsche Politik. ({25}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, niemand, der etwas von der Sache versteht, bestreitet, dass es den so genannten Laffer-Effekt, gibt. Ronald Reagan arbeitete mit diesem Effekt; aber Reagan, den die SPD nicht gemocht hat, war auch ansonsten kalkulierbar. Für die Leute ist immer wichtig, wer welches Instrument in die Hand nimmt. Es gibt Leute, denen man es aus der Erfahrung heraus nicht zutraut. Sie, Herr Bundeskanzler, haben noch wenig dazu getan, Vertrauen zu gewinnen. Was nun diesen Laffer-Effekt, den Effekt des Vorziehens positiver Wirkungen angeht, sagen die Ökonomen, man könne 30 Prozent einkalkulieren, wenn ansonsten alles stimmt. Wir können erst dann darüber verhandeln, Herr Bundeskanzler, wenn Sie Fakten auf den Tisch gelegt und Vorschläge gemacht haben. Dies geht selbstverständlich in einem parlamentarischen Verfahren viel besser. Ich halte nichts von Kungelrunden, in denen etwas mit heißer Nadel genäht wird; dies geht bei so komplizierten Vorhaben wie Steuergesetzen ohnehin nicht. Ansonsten soll es an uns nicht scheitern. Vielleicht mache ich mich nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen beliebt, wenn ich sage: Für uns ist die Sommerpause kein Tabu, wenn es darum geht, unserem Land wirklich zu helfen. Nur müssen die Voraussetzungen dafür von Ihnen geschaffen werden. Erst dann kann man miteinander reden. ({26}) Ich spreche ein anderes, hochgelobtes Prinzip von Rot-Grün an, das Prinzip der Nachhaltigkeit. Tatsächlich findet sich das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit immer nur in Sonntagsreden. Eine hemmungslose Lastenverschiebung auf kommende Generationen ist aber moralisch nicht vertretbar. Deswegen muss die Bundesregierung selbstverständlich Antwort darauf geben, wie es mit der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik aussieht. ({27}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorhin wurde der italienische Ministerpräsident zitiert, dem offensichtlich in einem anderen Parlament eine Entgleisung unterlaufen ist. Er hat sich dafür in dem anderen Parlament auch entschuldigt. ({28}) - Im Gegensatz zu Frau Sager habe ich Pressemeldungen hier, die besagen, dass er sich entschuldigt hat. ({29}) Vergleiche wie der, den Herr Berlusconi gebraucht hat, sind unzulässig; aber wir sind hier in Deutschland. ({30}) - Im deutschen Parlament. Hier in diesem Parlament ist der Stabilitätspakt seinerzeit einstimmig abgesegnet worden. Der Euro-Stabilitätspakt war für uns eine Bedingung, diese neue Währung einzuführen, weil wir wollten, dass die Menschen Vertrauen in die neue Währung haben können. ({31}) Nicht zuletzt unsere italienischen Freunde - die Franzosen sowieso -, die den Stabilitätspakt immer als Fessel einer expansiven Finanzpolitik gesehen haben, warten doch nur darauf, dass wir Deutsche diesen Stabilitätspakt sprengen. Diesen Gefallen dürfen wir niemandem tun; denn dies wäre nur ein kurzfristiger Gefallen für bestimmte Länder, in denen die Schuldenmentalität stärker verbreitet war. Bei uns war sie nicht verbreitet. Sie ist erst in den allerletzten Jahren gewachsen. ({32}) - Ja, das ist leider der Fall. Ich kann, wenn Sie es hören wollen, Zahlen nennen: In den letzten zwei Jahren der Regierung Helmut Kohl konnte Theo Waigel - darüber brauchen Sie überhaupt nicht zu lachen; auch damals war eine schwierige Wirtschaftslage, Sie haben damals vier Jahre lang Steuerreformen blockiert - im Hinblick auf die Defizitgrenze jeweils 2,2 bis 2,5 Prozent vorweisen. ({33}) Jetzt überschreiten wir, wie vorhin richtig gesagt worden ist, das dritte Mal das Maastricht-Ziel von 3 Prozent. In diesem Jahr wird sogar mit mehr als 4 Prozent bzw. mit bis zu 5 Prozent gerechnet. Von diesem Jahr spricht ja schon keiner mehr, wie man gnädigerweise auch nicht mehr über die Haushaltszahlen, über die Neuverschuldung im Bundeshaushalt von 40 Milliarden Euro - nicht D-Mark -, spricht. So etwas hat es noch nie gegeben. Darüber spricht man nach dem Motto „Über Schulden spricht man nicht; Schulden hat man“ - dies ist natürlich eine starke Abwandlung eines alten Sprichworts - nicht mehr. ({34}) Ich stelle noch einmal fest: Wenn die großen Volkswirtschaften des Euroraums, Deutschland und Frankreich, den Stabilitätspakt vorsätzlich infrage stellen, dann berührt das zutiefst das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und auf Dauer auch das Vertrauen der Finanzmärkte in diese Währung. Wir wollen nicht, dass es heißt: Europa einig Euroland, einig Inflationsland! ({35}) Wer dies tut, legt die Axt an die Wurzeln Europas. ({36}) Europa kann ohne eine stabile Währung nicht bestehen; das wissen wir alle. Wie schnell Europa in anderen Fragen auseinander fällt, ist erst in diesem Jahr wieder demonstriert worden; das brauche ich vor diesem fachkundigen Publikum nicht zu wiederholen. Herr Bundeskanzler, wir müssen dafür sorgen, dass uns insgesamt ein Kraftakt gelingt, der natürlich in allererster Linie von der Bundesregierung gestemmt werden muss. Eine Opposition ist klassischerweise dazu da, die Regierung zu kontrollieren und eigene Vorschläge auf den Tisch zu legen. Das haben wir vor der Wahl getan. Das ist leider nicht voll goutiert worden. ({37}) - Ich spreche von 6 037 Menschen in Deutschland, die bewirkt haben, dass die SPD noch einmal stärker geworden ist als die Union. ({38}) Mehr waren es nicht. ({39}) Frau Präsidentin, Sie würden vielleicht trotzdem dort oben auf Ihrem Platz sitzen, aber nicht Präsident Thierse. ({40}) Aber es ist ja nicht so wichtig, wer sich auf welchem Sessel tummelt. ({41}) - Das hat überhaupt nichts mit einem schlechten Verlierer zu tun. ({42}) Schlimm ist vielmehr die Tatsache, dass bei der Wahl für Deutschland viel verspielt worden ist. Herr Bundeskanzler, ich fasse zusammen: Uns muss man zu Steuersenkungen weder treiben noch jagen. Aber das Ganze muss natürlich seriös sein. ({43}) Es dürfen nicht zu viele Lasten nach vorne verschoben werden. Es darf nicht zu tief in gewachsene Strukturen eingegriffen werden. Änderungen bei der Entfernungspauschale sind so eine Geschichte. Dass sich unser Land sehr gleichmäßig entwickelt hat, liegt auch an solchen Dingen wie der Entfernungspauschale. Wenn man dies plötzlich beendet, gibt es möglicherweise andere Siedlungsstrukturen. ({44}) Man kann sich nicht einfach mit einem Hauruck über die Dinge hinwegsetzen. Aber das Verfahren muss über das Bundeskabinett und die Koalitionsfraktionen erfolgen. Die Parteien, die diese Regierung tragen, müssen dahinter stehen. Sie hatten ja bei den ersten kleinen Schritten Mühe, Ihre eigene Partei hinter sich zu versammeln. Ich habe Sie bewundert, ({45}) wie Sie bei den Genossinnen und Genossen angetreten sind, sie beschworen haben und am Schluss wieder mit dem Feindbild „Dann kommen die bösen Konservativen und machen alles kaputt“ gearbeitet haben. Also noch einmal: Bringen Sie Ihre Vorhaben durch Ihre Partei, aber dieses Mal rascher! In der Verfassung steht nämlich nicht, dass Parteitage darüber beschließen müssen. ({46}) Wir haben vielmehr ein ordnungsgemäßes parlamentarisches Verfahren, das so aussieht: Das Bundeskabinett beschließt. Der Bundestag überweist den Entwurf an die Ausschüsse. Wir können, wie gesagt, über Fristverkürzungen reden. Dann beraten wir miteinander in den Gremien. An uns wird der Aufschwung in diesem Land nicht scheitern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({47})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil, SPDFraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Glos, man möchte fast fragen: Was ist eigentlich mit dieser Opposition los? Beim Vorziehen der Steuerreform sagen Merkel und Stoiber „Hü!“; Koch und Merz sagen „Hott!“, Austermann und Milbradt sagen: Steuern mit der Bundesregierung zusammen senken. Merz sagt: Mit mir auf gar keinen Fall. Ich frage: Was gilt jetzt eigentlich? Herr Glos, auch nach Ihrer Rede wissen wir das noch nicht. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie hatten nun wirklich lange genug Zeit, sich auf das Wochenende in Neuhardenberg vorzubereiten. Die Presse hat ja schon vorher darüber spekuliert, dass das Vorziehen der Steuerreform möglich ist. Aber Sie haben es nicht geschafft. Vielmehr gackern Sie durcheinander wie ein wild gewordener Hühnerhaufen. Das ist nicht gut für Deutschland. ({0}) Herr Glos, ich will mich nicht dabei aufhalten, Ihr Chaos weiter zu beschreiben. Nur so viel: Wir wünschen und wir hoffen, dass sich die Kräfte der Vernunft in Ihren Reihen gegen die Blockadestrategen - oder soll ich sagen: „Gegen den Andenpakt“? - durchsetzen. Ihr Gebot der Stunde muss heißen, Verantwortung für Deutschland zu übernehmen, statt eine Strategie von Sonthofen zu fahren, die schon in den 70er-Jahren das Land und Sie nicht weitergebracht hat. In diesem Sinne wünsche ich CDU und CSU an dieser Stelle ganz einfach gute Besserung. Mein Appell geht besonders an die jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der Unionsfraktion; vielleicht sind ja noch ein paar da. Ich sage den Jüngeren in allen Fraktionen des Hauses: Wir müssen heute für Reformen kämpfen, damit auch künftige Generationen in Sicherheit und Wohlstand leben können. Deshalb meine Bitte, mein Appell an diejenigen, die 1998 oder 2002 das erste Mal ins Parlament gekommen sind: Lassen Sie sich nicht für billige Blockademanöver missbrauchen, sondern helfen Sie mit, Deutschland wirklich voranzubringen! ({1}) Worum es in der Sache geht, hat der Bundeskanzler heute Morgen klargemacht. Um die konjunkturellen und die strukturellen Probleme unseres Landes zu lösen, brauchen wir eine Doppelstrategie. Dazu gehören zum einen die Strukturreformen am Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, bei der Alterssicherung und zur Stärkung der Leistungsfähigkeit unserer Kommunen. Das ist alles Bestandteil der Agenda 2010. Wir haben das auf den Weg gebracht und werden das in diesem Jahr ins Gesetzblatt bringen. Zum anderen wollen wir - das ist seit Neuhardenberg deutlich -, um die private Nachfrage und die Investitionen in Deutschland anzuregen, die geplanten Stufen der Steuerreform vorziehen. Wir senken ab dem 1. Januar des kommenden Jahres die Einkommensteuer für alle um rund 10 Prozent. Davon profitieren besonders die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Durch diese Stärkung der Kaufkraft kann und wird es gelingen, die Binnennachfrage anzukurbeln. Auch bei den Investitionen bringt diese Reform neue Impulse. Besonders Personengesellschaften - meine Damen und Herren, Sie haben im Wahlkampf auf jeder Veranstaltung das Hohelied auf die kleinen und mittleren Unternehmen gesungen - werden von dieser Tarifsenkung profitieren. Wir setzen also auf einen Mix aus Erneuerung unserer Strukturen auf der einen Seite und Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur auf der anderen Seite. Ziel dieser umfassenden Erneuerung ist es, weitaus mehr private und auch öffentliche Investitionen auszulösen, um mehr Dynamik, mehr wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu kommt - das wäre nicht möglich, wenn wir die Strukturen nicht verändern würden - eine Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten. Eine zu hohe Belastung des Faktors Arbeit durch Beiträge zu den Sozialversicherungen wirkt gerade im Dienstleistungssektor, wo menschliche Arbeit meist nicht durch Maschinen ersetzt werden kann, faktisch wie eine Strafsteuer auf Beschäftigung. Mit der Senkung der Lohnnebenkosten durch die Reform unserer sozialen Sicherung und mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt werden wir dafür sorgen, dass die Schwelle, oberhalb derer Wirtschaftswachstum in Deutschland zu mehr Beschäftigung führt, tatsächlich sinken kann. Keine Frage, Deutschland - das führt ja gerade die FDP so gern im Mund - braucht mehr Flexibilität. Die deutsche Definition von Freiheit kann und darf nicht heißen: Freiheit bedeutet bei uns in Deutschland Regelungslücke. Ich sage aber an die Adresse der Union und auch an die Adresse der FDP: Sie fordern mehr Flexibilität immer nur von denen im Blaumann. Wenn es um Wettbewerb und Flexibilität bei denen im weißen Kittel oder mit weißem Kragen geht, kehrt bei Ihnen auffälliges Schweigen ein, Herr Westerwelle, auch heute. ({2}) CDU und CSU machen sich zurzeit vielerorts - im Paul-Löbe-Haus war das vernehmlich zu hören - zu Lobbyisten der Besitzstandswahrer. Wer wie CDU/CSU und FDP Deregulierung nur bei Arbeitnehmern und Angestellten, nicht aber in Bezug auf Ärzte, Apotheker, Selbstständige und Handwerker fordert, wer wie Sie versucht, die Modernisierung der Handwerksordnung und mehr Wettbewerb im Bereich der Arzneimittel zu verhindern, der hat nicht begriffen, dass es wirklich darauf ankommt, alle zu bewegen, um Deutschland zu erneuern. ({3}) Das müsste man Ihnen einmal deutlich ins Stammbuch schreiben - ich hoffe, Sie hören mir noch zu - und insofern werden wir Ihnen das auch noch einmal schriftlich geben. Wir werden diese Reformen angehen, meine Damen und Herren. Da, wo sie nicht zustimmungspflichtig sind, machen wir sie allein, und bei den anderen Punkten werden wir Sie haarklein stellen. Wir wollen wissen, ob es - ich sage es einmal ganz deutlich - blödes Geschwätz ist, wenn Sie von Flexibilität sprechen, oder ob Sie Flexibilität in jedem Bereich und nicht nur von einer Seite der Gesellschaft fordern. ({4}) Es waren vor allen Dingen vier Standortvorteile, die unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder dieser Erde gemacht haben, das ein hohes Maß an sozialem Ausgleich organisieren konnte. An diese vier Standortvorteile können und wollen wir mit unseren Reformen wieder anknüpfen. Unser erster Standortvorteil war und ist immer noch die hohe Qualifikation der Menschen in unserem Land. Keine Frage, es sind in allen Bereichen Bildungsreformen notwendig, wenn wir wieder an die Spitze kommen oder an der Spitze bleiben wollen. Ein Land, das kein Gold im Boden hat, so hieß es einmal in einem interessanten Kommentar, muss das Gold in den Köpfen der Menschen heben. Vor allem aber müssen wir auch in diesem Jahr jedem Schulabgänger und jeder Schulabgängerin die Chance auf einen Ausbildungsplatz bieten. ({5}) Wir werden das Unsere dafür tun und unsere Mittel nutzen. Wir sagen aber auch der Wirtschaft sehr deutlich: Bildet aus! Es ist in eurem eigenen Interesse. ({6}) Wer glaubt, sich heute Ausbildungskosten sparen zu können, und von der Politik morgen die Einreise ausländischer Fachkräfte fordert, hat sich geschnitten, um es ganz klar zu sagen. Wir werden die Wirtschaft dort in die Verantwortung nehmen. ({7}) Unsere jungen Leute haben eine Ausbildungschance verdient, hier und heute. Das ist ganz wichtig, um den Standortvorteil Qualifikation für Deutschland zu erhalten. Der zweite Standortvorteil war und ist immer noch innovative Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Es hat „Made in Germany“ immer ausgezeichnet, dass hier kluge Menschen Produkte und Verfahren entwickelt haben, die hier auch zu Produktion und zu Arbeitsplätzen geführt haben. Hier sind wir an manchen Stellen noch in der Weltspitze und ich möchte die Opposition bitten, das nicht kaputt zu reden. Ich erinnere an den Maschinenbau, an den Anlagenbau und an die Biotechnologie. An anderen Stellen, beispielsweise im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, müssen wir aufholen, da sind wir im Hintertreffen. Ich bitte Sie ganz herzlich, miteinander - wir haben gestern zumindest im Ausschuss darüber sehr einvernehmlich diskutiert - die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, beispielsweise bei der Reform des Telekommunikationsgesetzes, die in diesem Jahr ansteht, um in diesem Bereich Impulse für mehr Investitionen und mehr technologischen Fortschritt in Deutschland zu geben. Der dritte Standortvorteil war und ist nach wie vor die hervorragende Infrastruktur in Deutschland. Unsere Straßen sind im Vergleich zu denen in anderen Ländern immer noch in einem hervorragenden Zustand. Damit das auch in Zukunft so bleiben kann, brauchen wir neue Wege in der Finanzierung auch öffentlicher Infrastruktur. Dazu gehören neue Betreibermodelle, auch Public Private Partnership kann und muss in Deutschland weiter entwickelt werden. Es geht ganz einfach darum, auch privates Kapital für öffentliche Aufgaben mobilisieren zu können. Es gibt aber einen Bereich, meine Damen und Herren, in dem wir in der öffentlichen Infrastruktur nach wie vor weit im Hintertreffen sind, das ist die Kinderbetreuung. Ein Blick nach Skandinavien zeigt sehr deutlich: Eine bessere Kinderbetreuung schafft bessere Bildungsmöglichkeiten. ({8}) Eine bessere Kinderbetreuung führt zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine bessere Kinderbetreuung sorgt dafür, dass mehr Frauen die Chance haben, ihr Können im Arbeitsleben einzubringen. Eine bessere Kinderbetreuung und damit eine höhere Frauenerwerbstätigkeit gehen in diesen Ländern auch mit einer höheren Geburtenrate einher, sind also gut für die demographische Entwicklung. Auch das sollten vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren von der CSU, zur Kenntnis nehmen, wenn Sie versuchen, aus ideologischen Gründen gegen bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten und gegen Ganztagsschulen zu polemisieren. ({9}) - Dann frage ich Sie: Welches Land in Deutschland hat denn die schlechtesten Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die wenigsten Ganztagsschulen? Das ist der Freistaat Bayern. ({10}) Um es auf den Punkt zu bringen: Unsere Volkswirtschaft kann sich schlechte Kinderbetreuungsangebote einfach nicht länger leisten. Ich komme zu einem weiteren Standortfaktor, zum sozialen Frieden in unserem Lande. Darüber möchte ich sprechen, nicht nur weil er seit langem stabile demokratische Verhältnisse in Deutschland bewirkt sondern auch, weil er für die Wirtschaft wichtig ist. Der soziale Frieden als wirtschaftlicher Standortfaktor wird oft unterschätzt. Schaut man sich das Ergebnis eines internationalen Vergleiches an, so haben wir relativ wenige Streiks - trotz der Berichterstattung der letzten Wochen und Monate - und so gut wie keine sozialen Verwerfungen oder Unruhen in Deutschland gehabt. Man kann sogar sagen: In Deutschland wird mehr Zeit durch Grußworte oder durch Reden von Herrn Westerwelle verschwendet als durch Streiktage. ({11}) Insofern ist es auch aus wirtschaftlichen Überlegungen von Interesse, den sozialen Frieden zu erhalten. Das müssen wir unter dramatisch veränderten Rahmenbedingungen tun. Die wirtschaftliche Globalisierung, die demographische Entwicklung und der technische Fortschritt machen es dringend erforderlich, unseren Sozialstaat umzubauen, damit soziale Sicherheit auch in Zukunft möglich ist. Auf diesen Weg haben wir uns gemacht, nicht erst seit gestern oder seit Beginn dieser Legislaturperiode, sondern auch schon in der vergangenen Legislaturperiode. Wir sagen sehr deutlich: Unser Sozialstaat der Zukunft konzentriert die Hilfen auf diejenigen, die unverschuldet in Not geraten sind; er setzt darauf, zu fördern und zu fordern; er verbindet gleiche Rechte für den Einzelnen mit gleichen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und sorgt für einen fairen Ausgleich der Lasten und Chancen zwischen den Generationen. Für diesen Sozialstaat lohnt sich so manche Mühe und so mancher Ärger, die wir schon jetzt haben, aber auch noch vor uns haben. Vor allem lohnt sich diese Mühe aber für unser Land. Ich bitte das gesamte Parlament, auch die Opposition, um Unterstützung. Die Menschen erwarten von uns zu Recht kein kleinkariertes politisches Gezänk, sondern Lösungen. Sie erwarten von Opposition und Regierung, vom Bund, aber auch von den Bundesländern, dass die Politik ihrer Verantwortung gerecht wird. Meine herzliche Bitte an CDU/CSU lautet: Wir haben in vielen Bereichen zu streiten. Aber denken Sie bei den Diskussionen, die anstehen, in erster Linie an Deutschland und nicht so sehr an die bayerische Landtagswahl. Erfüllen Sie Ihre Pflicht als Opposition, die Ihnen die Verfassung durchaus zuweist. Es muss Ihr Schaden nicht sein, meine Damen und Herren von der Opposition, wenn die Menschen in Deutschland zur Abwechslung auch einmal stolz auf die Opposition sein können. ({12}) - Zum Thema Realitätsverlust möchte ich gerne etwas sagen. Ich habe mir eben die Rede von Herrn Glos angehört. Frau Merkel hat in ihrer Rede gesagt, Subventionen müssten abgebaut werden; so habe ich sie vorhin verstanden. Herr Glos sagt, wir sollten ja keinen Subventionsabbau vornehmen, dieser würde Effekte wieder zunichte machen. ({13}) Was denn nun? - Sie haben verhindert, dass die Kommunen in diesem Jahr 6 Milliarden Euro zur Verfügung haben, um ihre Investitionskraft zu stärken. ({14}) Herr Hinsken, der dort sitzt, versucht, das Handwerk gegen diese Bundesregierung aufzuhetzen, weil wir die notwendigen Schritte unternehmen, um die Handwerksordnung in Deutschland zu modernisieren. Sie sind eine Opposition der Verweigerer. Zurzeit werden Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht. Deshalb lautet meine Bitte an Sie: Kommen Sie auf den Boden der Realität zurück. Es soll Ihr Schaden nicht sein. Wir alle arbeiten für Deutschland, auch Sie. Ich wünsche Ihnen - wie gesagt - gute Besserung. Einige bei Ihnen haben das begriffen, andere noch nicht. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Wo liegt eigentlich Neuhardenberg, das ehemalige Marxwalde, und wie kommt man dahin? Diese praktischen Fragen werden sich einige Abgeordnete sicherlich gestellt haben. Der Kanzler brauchte nicht auf die Autokarte zu schauen oder den Fahrplan der Deutschen Bahn zu studieren, sondern er kam und verschwand dann wieder mit dem Hubschrauber. Das ist das eigentliche Problem. Als Erich Honecker durch die Lande fuhr, wurden die Häuserreihen, an denen er mit seinem Auto vorbeikam, notdürftig angestrichen und die Menschen, die er auf den Marktplätzen traf, waren vertrauenswürdige Statisten. ({0}) Der Kanzler sieht die Welt aus der Vogelperspektive, aus einem Hubschrauber. Er erklärt, Deutschland bewege sich. Dabei kann er allerdings gar nicht sehen, was sich mehrere Tausend Meter unter ihm tut. Er fliegt über das Land und liest Umfrageergebnisse. Dabei hat er nur noch eine Zahl im Kopf, nämlich die Zahl, die den prozentualen Abstand zwischen der CDU und der SPD beschreibt. Nun haben Sie mit dem Versprechen einer steuerlichen Entlastung von circa 15 Milliarden Euro für 2004 in den Umfragen einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Wir als PDS haben am Wochenende nicht eine Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro versprochen, sondern einen Bundesparteitag abgehalten. Lothar Bisky wurde zum Parteivorsitzenden gewählt und hat die Opposition zur Agenda 2010 präzisiert - die PDS hat auch einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Letzteres scheint mir aus ökonomischer Sicht die geeignetere Strategie zu sein. ({1}) Der Bundeskanzler ist offensichtlich bereit, für einen Prozentpunkt mehr in den Umfragen die Wahlprogramme der CDU komplett zu übernehmen, um so Frau Merkel und Herrn Stoiber unter Druck zu setzen. Die politische Debatte hat mit der Realität nichts mehr zu tun. Sie ist quasi zu einer Hasenjagd konvertiert. Es stellt sich nur noch die Frage, wer gerade Hase und wer Jäger ist, die CDU oder die SPD. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will die Steuerreform vorziehen. Schauen wir uns doch einmal die Ergebnisse der letzten großen, unsozialen Steuerreformen der Bundesregierung an: Erstens. Sie haben gigantische Steuerentlastungen für große Aktiengesellschaften durchgesetzt. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer fielen zum Beispiel von 24 Milliarden Euro auf unter null. Sie mussten Steuerguthaben in gigantischen Größenordnungen an Konzerne auszahlen. Die gewünschten Investitionen und die erwartete konjunkturelle Belebung blieben jedoch aus. Zweitens. Die Steuerreform führte dazu, dass die Einnahmen der Städte und Gemeinden und auch die der Länder dramatisch abstürzten. Sie sind kaum noch in der Lage, ihre gesetzlichen Pflichtaufgaben zu erfüllen. Allein meine Heimatstadt Berlin wird aufgrund der vorgezogenen Steuerreform weitere 460 Millionen Euro jährlich im Stadtsäckel vermissen. Was hat die Bundesregierung aus ihrer ersten Steuerreform gelernt? - Augenscheinlich nichts; denn die Losung lautet: Weiter so! Die von Ihnen geplante Steuerreform bedeutet bei einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro eine Steuerersparnis von 267 Euro. Das sind im Monat gut 22,25 Euro Ersparnis. ({2}) - Das ist besser als nichts, das ist richtig. Aber bei einem Jahreseinkommen von 1 Million Euro kommt man schon auf 67 000 Euro Steuerersparnis im Jahr. Das soll Gerechtigkeit sein? Interessant ist, dass die „FAZ“, aber auch die „Bild“Zeitung die Steuerersparnisse in ihren Tabellen nur bis zu einem Jahresgehalt von 100 000 Euro berechnet haben. Einkommensmillionäre gibt es in diesen Blättern gar nicht. Klar ist, dass von 22,25 Euro nicht viel übrig bleiben wird, wenn sich die große Koalition von SPD und CDU auf einen Subventionsabbau einigt. Ich glaube, zum Beispiel Herr Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, mit einem Jahresgehalt von 6,9 Millionen Euro wird auf die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale und die Steuerbefreiung von Nacht- und Sonntagsarbeit nicht angewiesen sein. Ihn wird der Subventionsabbau nicht treffen. Meine Damen und Herren, die nächste Stufe der Steuerreform wird genauso wenig den Massenkonsum ankurbeln wie die bisherigen Steuerreformen der Bundesregierung. Was Sie den Leuten an Steuern zurückgeben, holen Sie sich beim Subventionsabbau wieder zurück. Eine Linie ist nicht erkennbar. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass der Kanzler mit einem ernsten Hubschraubersyndrom zu kämpfen hat. Wir nannten das zu DDR-Zeiten das Wandlitz-Syndrom. Ich empfehle Ihnen, einfach mal wieder mit der Straßenbahn zu fahren oder die Deutsche Bahn zu nutzen. Dann werden Sie Deutschland mit anderen Augen sehen. Übrigens: Mit der Bahn kommt man mit dem DB Regio, Linie 7 - Berlin-Eberswalde-Frankfurt/Oder - nach Neuhardenberg. Der Bahnhof liegt circa zehn Kilometer von Neuhardenberg entfernt. Die tägliche Verbindung gibt es allerdings nur im Zweistundentakt. Wer von den Ministern ist eigentlich mit der Bahn gekommen? Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir gehen bald in die Sommerpause, aber wir werden uns in einem Herbst wieder treffen, der mit Sicherheit sehr schwierig wird. Wir werden eine hohe Arbeitslosigkeit haben, die bis an die Fünfmillionengrenze heranreichen kann, und wir befinden uns - das wissen wir; darüber haben wir gestern auch im Haushaltsausschuss gesprochen - im dritten Jahr hintereinander in einer Stagnation. Das ist in erster Linie für die betroffenen Arbeitslosen ein großes Problem; das wird aber auch ein großes Problem bei der Aufstellung des Haushaltes 2004 sein. Deswegen reicht es nicht, nur darüber zu jammern und zu klagen, dass wir in einer schwierigen Situation sind und - ich kann mir vorstellen, dass mein Kollege Austermann von der CDU/CSU das hier möglicherweise strapazieren wird so unglaublich schlechte Haushaltszahlen haben. Im Haushalt 2004 wollen wir 14 Milliarden Euro einsparen - das sehen wir in unserem Entwurf vor -, mehr als die Hälfte davon im Übrigen auf der Ausgabeseite. Wenn wir gleichzeitig auch auf der Einnahmeseite konsolidieren, ({0}) dann sollten Sie das - dafür möchte ich werben - nicht nur als Luftbuchungen bezeichnen. Im Zweifel sollten Sie uns noch überholen. Dann schauen wir, ob Ihre Vorschläge besser sind. ({1}) Es geht jedenfalls nicht, von Luftbuchungen zu sprechen und sich auf der anderen Seite darüber zu beschweren, dass zum Beispiel die Rentner belastet werden sollen. Sie müssen dann schon den Mut haben, Alternativen gegenüberzustellen. Wir haben sehr ehrgeizige Einsparvorschläge vorgelegt und bereits - das muss ich einmal ganz deutlich sagen, weil Sie uns immer vorwerfen, es sei noch nichts genannt; das wissen Sie aber auch - einen massiven Subventionsabbau konkretisiert. ({2}) - Die Steinkohlesubventionen werden weiter abgebaut. Ich weiß, dass Sie uns dabei unterstützen werden. Das finde ich im Übrigen gar nicht schlecht. ({3}) Ich will Ihnen sagen: Sie können nicht nur Vorwürfe machen. Ich möchte dafür werben, dass Sie auch Alternativen vorlegen. Es wäre gut, wenn Sie das täten; denn dann könnten wir darüber streiten. Es reicht nicht, nur zurückzublicken und zu klagen, dass Sie dies und das früher falsch gefunden haben. Es reicht auch nicht, zu sagen, früher hätten wir versprochen, die Situation werde besser. Wir alle dürfen nämlich den Blick für die Realität nicht verlieren. Die Realität ist heute schwierig. Wir haben eine immens hohe Arbeitslosigkeit und befinden uns in der Stagnation; damit gilt es umzugehen. Das gilt auch für die Opposition, die das zur Grundlage ihrer Argumentation machen muss. Das erwarte ich von Ihnen und auch von meinen Kollegen im Haushaltsausschuss. ({4}) In der Kürze der mir noch verbliebenen Zeit möchte ich noch über das Vorziehen der Steuerreform reden. Ihre Fraktionschefin sagte, sie hätten „gesessen und gewartet“. Das wäre für uns ja noch bequem gewesen. Nein, es ist viel schlimmer: Ihre Reaktion darauf, Ihr ungeordnetes Vorgehen beim Vorziehen der Steuerreform, zeigt, dass Sie nicht zu einer ehrlichen Debatte bereit sind. Ich will Ihnen ehrlich sagen: Das geht in diesem Land und auch für Sie auf Dauer nicht gut. Die Bevölkerung empfindet das Vorziehen der Steuerreform zu Recht als Entlastung. Sie sagt aber mehrheitlich - das Gleiche gilt auch für uns -, dass wir uns das Vorziehen auf Pump eigentlich nicht leisten können. ({5}) Deshalb brauchen wir Ihre Kooperation, weil die Mehrheitsverhältnisse so sind, wie sie sind. Herr Glos, Sie haben auch von der Nachhaltigkeit gesprochen. Ich bitte Sie, die Verantwortung, die Sie im Bundesrat tragen und die Sie sich erkämpft haben, auch wahrzunehmen. ({6}) Es kann nicht sein, dass die Eigenprofilierungssucht eines Herrn Koch ein solches Durcheinander bewirkt, sodass Sie sich hinterher nicht mehr bewegen können. Eigenprofilierung darf jetzt nicht sein. ({7}) Dazu sind die Probleme in unserem Land zu groß. Auch Sie tragen Verantwortung in unserem Land. Ob Sie wollen oder nicht: Die Lage ist nun einmal so. ({8}) Ich will zum Abschluss Folgendes sagen: Niemand von uns bestreitet, dass die Hauptprobleme nicht unbedingt nur mit den Steuern zu tun haben. Vielmehr müssen jetzt Strukturreformen Priorität haben. Sie wissen, dass wir mit der Agenda 2010 nicht nur Ankündigungen gemacht haben, sondern auch die entsprechenden Gesetzentwürfe bereits vorgelegt haben: Die Beratungen zur Gesundheitsreform laufen. Über die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt haben wir schon strittig diskutiert. Im Herbst werden wir noch über eine ganz entscheidende Frage debattieren, nämlich die Reform der Alterssicherung. Ich fordere Sie auf, mutiger zu sein und dabei auch den Konflikt mit Lobbyisten nicht zu scheuen. Der Weg zur Lösung ist nun einmal steinig. Die Bevölkerung weiß, dass Reformen schmerzhaft sein können. Das müssen Sie anerkennen. Wir werden Vorschläge machen. Aber bei einem Teil der Vorschläge werden wir Ihre Zustimmung brauchen. Wir sind bereit, gewisse Kompromisse zu machen. Aber Neinsager können wir uns in diesem Land nicht leisten. Deswegen fordere ich, dass Sie sich nicht nur darauf beschränken, unsere Vorschläge abzulehnen. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die Diskussion verfolgt, der hat sich sicherlich darüber gewundert, dass in einer Debatte im Anschluss an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers weder dieser noch ein Minister aus seinem Kabinett hier anwesend ist. ({0}) Es sind zwar eine ganze Reihe von Stellvertretern hier, aber der Kanzler selber eben nicht. Dabei wäre es gut, man könnte sich mit ihm über das unterhalten, was sich in der vergangenen Zeit getan hat und weshalb wir heute diese Debatte nach der Regierungserklärung führen müssen. Heute Nachmittag wird der Bundeskanzler im Untersuchungsausschuss, dem Lügenausschuss, aussagen müssen. Der Lügenausschuss soll aufklären, wie mit den Menschen in diesem Land vor der Bundestagswahl umgegangen worden ist. ({1}) Ich sage: Die Lügen von 2002 sind offensichtlich die Grundlage für den Haushalt von heute, den Herr Eichel vorgelegt hat. Wenn man sich den Haushalt anschaut, stellt man fest, dass er ein einziges Lügengebäude ist. ({2}) Ich will das konkret deutlich machen: In unserem Land findet kein Wirtschaftswachstum statt. Der „Handelsblatt“-Indikator weist heute Stagnation aus. Der Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsausschuss, als wir ihn gefragt haben, warum er auf unsere Vorschläge zu Steuersenkungen nicht eher eingegangen ist, geantwortet, er habe das dritte Jahr der Stagnation abwarten wollen. Das heißt, der Regierung war bewusst, dass sie spätestens nach zwei Jahren Stagnation hätte handeln müssen, aber sie hat trotzdem nichts gemacht und die notwendigen Maßnahmen nicht umgesetzt. Im dritten Jahr der Stagnation ist die Regierung dazu endlich bereit. Ein Teil der Redner der Koalition hat uns heute vorgehalten, es gebe hie und da unterschiedliche Stimmen in unseren Reihen. Wenn ich mir die Eckdaten unseres Landes anschaue, dann muss ich sagen: Viele Menschen in diesem Lande - das gilt selbst für mich, der ich von Herrn Poß und anderen vor der Bundestagswahl immer als Kassandra gescholten worden bin, weil ich die Situation realistisch beschrieben habe - haben sich nicht vorstellen können, wie desaströs die Lage zurzeit in Deutschland ist. Deshalb muss man heute klar benennen, wer an dieser Entwicklung schuld ist. ({3}) Bei allen wesentlichen Kennziffern der wirtschaftlichen Entwicklung wie Wachstum, Beschäftigung und Kaufkraft ist Deutschland nach vier Jahren Reformstau unter Schröder im Vergleich zu anderen führenden Nationen zurückgefallen. In diesen vier Jahren wurde den Bürgern etwas vorgegaukelt. Wenn man heute der Realität ins Auge sehen will, dann ist es dringend geboten, auf der Grundlage des Haushalts 2003 eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dies hätte zur Folge, dass ein Nachtragshaushalt auf den Tisch gelegt werden müsste, aus dem hervorgeht, wo wir zurzeit stehen. Jetzt muss mit dem Sparen wirklich angefangen werden. Sparen heißt zunächst einmal, dass die Regierung ihren eigenen Konsum zurückfährt. ({4}) Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht eine neue Kommission, ein Gutachterausschuss oder ein Beratergremium eingesetzt wird oder neue Subventionen initiiert werden. Fast täglich werden neue, für den Haushalt kostenträchtige Maßnahmen eingeleitet. Sie aber weigern sich, eine Haushaltssperre zu verhängen, ein Haushaltssicherungsgesetz zu machen und einen Nachtragshaushalt vorzulegen. Wir fordern Sie auf, zur Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit zurückzukehren. ({5}) Innerhalb einer Woche gibt es inzwischen den zweiten Haushaltsentwurf. Am Mittwoch vor einer Woche hat Eichel einen ersten Haushaltsentwurf vorgelegt, der mit einer Verschuldung endete, die scheinbar gerade noch innerhalb der Verfassungsgrenze lag. Er hat gestern einen zweiten Haushaltsentwurf vorgelegt, der diese Verfassungsgrenze überschreitet. Man kann den Bürgern gar nicht genug demonstrieren, dass das Parlament gezwungen ist, die Verfassung, die von diesem Parlament geschaffen worden ist, einzuhalten. Wenn eine Regelung in der Verfassung existiert, die verbietet, dass wir mehr neue Schulden machen, als wir Mittel für Investitionen, also für die Zukunft, einsetzen, dann kann man doch nicht leichtfertig sagen: Das interessiert uns überhaupt nicht, ({6}) wir überschreiten die Verschuldungsgrenze um 6 oder 7 Milliarden Euro oder umgerechnet 14 Milliarden DM, es wird sich im Laufe der Zeit schon richten. Nun haben Sie gesagt, wir sollten uns an der einen oder anderen Maßnahme beteiligen, die Sie vorschlagen wollen. Ich unterstreiche noch einmal, was unsere Fraktionsvorsitzende gesagt hat: Alles, was Sie jetzt genannt haben, ist bereits im ersten Haushaltsentwurf, den Sie eine Woche zuvor vorgestellt haben, enthalten gewesen, von der Entfernungspauschale über die Eigenheimzulage bis - das ist besonders interessant - hin zu dem, was Koch und Steinbrück erst noch ermitteln sollen. ({7}) Da ist im Haushalt eine Einsparung eingestellt, ohne dass die Einigung über diese Position bisher herbeigeführt worden ist. Das kann man nicht anders als Luftbuchungen, Luftlöcher und Hoffnungswerte bezeichnen. Trotz dieser Regelung ist es dem Bundesfinanzminister nicht gelungen, einen Haushalt vorzulegen, der die Verfassungsgrenze einhält. ({8}) - Die Frage stellt sich überhaupt nicht. ({9}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode 1 078 Anträge vorgelegt. Wir haben in dieser Wahlperiode 256 Anträge vorgelegt. Darunter war eine Fülle von Vorschlägen, an welcher Stelle gestrichen werden soll. ({10}) Auch im Monat Juni haben wir einen Antrag vorgelegt, der unsere grundsätzliche Position unterstreicht, nämlich: Die Steuertarife müssen herunter, die Ausnahmen müssen weg. Das ist die grundsätzliche Position der Union. Was Sie jetzt vorschlagen, ist die zweitbeste Lösung. Wir sind auch für die zweitbeste Lösung, wenn mehr nicht zu machen ist, aber es macht keinen Sinn, eine Steuersenkung vorzunehmen, bei der von vornherein sicher ist, dass, nur um den Haushalt auszugleichen, den Menschen das Geld, das sie durch den denkbaren wirtschaftlichen Wachstumsimpuls erhalten, wieder aus der Tasche gezogen wird. Ich kann Ihnen sagen, was bisher Bestandteil des Haushalts ist. Sie sollten überlegen, woher Sie die weiteren 7 Milliarden Euro nehmen wollen. Sie haben bisher zur Rente keine klare Aussage gemacht. Der Bundesfinanzminister ist von Neuhardenberg mit dem Auftrag zurückgekommen, er möge sich mit der Ministerin Schmidt einigen. ({11}) - Nein, das hat er nicht. - Wir wissen bisher nicht, ob er die Schwankungsreserve auflösen will. Wie will er die Schwankungsreserve auflösen, wenn diese im Wesentlichen aus Immobilien besteht? Soll der Beitrag gesenkt werden? Nach dem Finanzplan des Bundes für die nächsten vier Jahre ist davon auszugehen, dass die Rentner in Deutschland in den nächsten vier Jahren Einkommenseinbußen haben werden, ohne dass Sie bisher eine Entscheidung getroffen haben. Einkommenseinbußen wird es auch bei den Landwirten geben. Michael Glos hat auf die Zangenbewegung - EU, Frau Künast, Bundeshaushalt - hingewiesen. Einschränkungen bei der Alters- und Krankenversicherung: Die Beiträge für die Krankenversicherung werden um 30 bis 40 Prozent steigen. Wir wollten eigentlich eine Politik machen, mit der die Beiträge und die Abgabenlast gesenkt werden. Versorgungsempfänger: Halbierung der jährlichen Sonderzuwendungen; aktive Beamten, Richter und Soldaten: Kürzung des Weihnachtsgeldes, Streichung des Urlaubsgeldes, Einschränkungen bei der Beihilfe; Arbeitslose: Einschränkungen der Leistungen; Familien: Einschränkung des Kreises der Berechtigten für den Bezug von Erziehungsgeld; Alleinerziehende: Einschränkung des Kreises der Berechtigten für den Bezug von Unterhaltsvorschuss. Was Sie hier tun, finde ich besonders unanständig, weil das die Schwächsten der Gesellschaft, die Familien und die unvollständigen Familien betrifft. Zivildienstleistende sind betroffen und Häuslebauer. Die Eigenheimzulage und die Wohnungsbauprämie fallen weg. Alle Arbeitnehmer erfahren eine Einschränkung der Entfernungspauschale. Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben die Einschränkung der Entfernungspauschale bereits in dem ersten Haushaltsentwurf verarbeitet. ({12}) Wie werden Sie reagieren, wenn später die Arbeitnehmer nicht auf die Pauschale setzen, sondern die Kosten extra abrechnen? Unternehmen: Einschränkung der zeitanteiligen AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter im Jahr der Anschaffung. Sie haben ein Konvolut von Maßnahmen vorgelegt, in dem - um die Balance des Haushalts einigermaßen zu wahren - so viele Kürzungen zulasten der Menschen in unserem Land vorgesehen sind, dass kaum Grund zu der Annahme besteht, das Vorziehen der Steuerreform könne einen Wachstumsimpuls auslösen. ({13}) - Unsere Vorschläge liegen bereits vor. Ich darf sie Herrn Heil noch einmal nennen: erstens Haushaltssicherungsgesetz, zweitens Haushaltssperre, drittens Nachtragshaushalt ({14}) und viertens ein verfassungsmäßiger Haushalt für das nächste Jahr. ({15}) Dazu gehört meines Erachtens - das kann nicht oft genug festgestellt werden -, dass wir endlich anfangen zu sparen. Das fängt bei der Regierung an. Es gibt keinen Tag, an dem sie nicht irgendein Vorhaben ankündigt, mit dem sie den Bürgern hier und da neue Geschenke zustecken möchte. ({16}) - Der Kollege Kauder hat völlig Recht. Wenn es ein wesentliches Problem in diesem Land gibt, dann ist das die Tatsache, dass die Menschen kein Vertrauen in das Handeln der Regierung haben. ({17}) Wenn kein Vertrauen vorhanden ist, fehlt es an Konsum und an Investitionen. Viele Unternehmer in meinem Wahlkreis, aber auch darüber hinaus, teilen mir mit, sie müssten zugunsten der weiteren Entwicklung ihres Betriebes zwar eigentlich Investitionen vornehmen und sie könnten dies auch, aber solange diese Politik fortgeführt werde, würden sie nicht investieren. ({18}) Das Gleiche gilt für die Konsumenten. Obwohl sie zum Konsum in der Lage wären, legen sie lieber das Geld auf das Sparbuch, weil sie davon ausgehen müssen, dass, wenn die Regierung weiter so vor sich hin wurstelt, das Wirtschaftswachstum auch im nächsten Jahr nicht sicher ist und dass sich das vorgesehene Wachstum als Trugbild erweist. ({19}) - Herr Poß, der Unternehmer entscheidet sich dann für Investitionen, wenn es der Regierung gelingt, den Eindruck zu vermitteln, dass sie eine berechenbare Politik gestaltet. Schröder aber blinkt links und fährt nach rechts. Dass er nach rechts fährt, kann einem manchmal gefallen, aber am nächsten Tag blinkt er dann rechts und fährt nach links. Solange bei der Regierung kein klarer Kurs erkennbar ist, wird sie kein Vertrauen erzielen. ({20}) Deswegen müssen jetzt die richtigen Vorschläge auf den Tisch kommen. Dann wird die Union ihre Alternative vorlegen. Erst dann kommt Deutschland voran. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Es ist immer das Gleiche: Man nimmt eine Gesetzessammlung zur Hand, um eine Rechtsregel nachzuschlagen, und steht vor der Frage, wo man suchen soll.“ Dieser Satz aus dem Vorwort zum Einkommensteuergesetz trifft natürlich auch und besonders für das Steuerrecht zu. Die Transparenz der Steuergesetze ist für die Umsetzung unserer modernen Steuerpolitik, die die Grundlage der Klausurtagung des Bundeskabinetts in Neuhardenberg und der Agenda 2010 darstellt, eine wichtige Voraussetzung. Modernisierung und Vereinfachung sind Ziele unserer Steuerpolitik und Voraussetzung für Steuergerechtigkeit. Doch neben Vereinfachung und Transparenz gibt es noch andere Ansprüche, die eine nachhaltige Steuerpolitik erfüllen muss. Sie muss Grundlage für die notwendige Finanzausstattung zur Erfüllung der staatlichen Aufgaben sein, wirtschaftliche Impulse setzen, auf konjunkturelle Veränderungen reagieren können und dem Grundsatz auf eine gerechte Lastenverteilung gerecht werden. Besondere Beachtung bei der Umsetzung dieser Aufgaben hat das Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung vom 23. Oktober 2000 gefunden, das den Einstieg in die große Steuerreform darstellte und mit der Umsetzung der letzten beiden Stufen nunmehr abgeschlossen werden soll. Was das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform im Einzelnen bedeutet, möchte ich noch einmal kurz ins Gedächtnis rufen. Der Eingangssteuersatz sinkt auf 15 Prozent, der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Der Grundfreibetrag steigt auf 7 664 Euro. Gleichzeitig haben wir das Kindergeld auf 154 Euro angehoben. Gegenüber 1998 bedeutet das für eine allein erziehende Mutter mit einem Kind und einem Einkommen in Höhe von 20 000 Euro eine Reduzierung der Belastung von 804 auf 182 Euro. Das sind mehr als 77 Prozent. Bei einem verheirateten Alleinverdiener mit einem Kind und einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 35 000 Euro bedeutet das eine Reduzierung von 3 429 auf 1 074 Euro, also um fast 69 Prozent. Aber auch alle anderen Steuerpflichtigen werden entlastet, und zwar im Durchschnitt um 10 Prozent. Davon profitieren aber nicht nur Familien. Auch Einzelfirmen und Personengesellschaften werden dadurch deutlich mehr Geld in der Kasse haben. ({0}) Das schafft zusätzliche Impulse für Konsum und Investitionen. Beides brauchen wir, um unserer Wirtschaft Dynamik für Wachstum und Beschäftigung zu verleihen. Ich schlage ein steuerpolitisches Sofortprogramm zum Ankurbeln der Wirtschaft vor: Vorziehen der zweiten und dritten Steuerentlastungsstufe … So ist es - von Edmund Stoiber - am 29. September 2001 in der „Welt am Sonntag“ zu lesen. Am 29. Juni 2003 war dagegen bei Reuters zu lesen: Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat das Nein der Union zu dem vom Bundeskabinett beschlossenen Vorziehen der Steuerreform bekräftigt. Doch am vergangenen Sonntag kam - hoffentlich - die endgültig letzte Wendung - und zwar diesmal zum Guten - in einem Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({1}) - Ja, er hat ihn beantwortet. Lesen Sie keine „Bild“-Zeitung, Herr Hinsken? ({2}) Einhergehen muss mit den geplanten Steuersenkungen für alle Steuerpflichtigen selbstverständlich ein umfassendes Programm zum Abbau von Steuersubventionen. Subventionsabbau darf nicht nur ein Wahlkampfversprechen sein. „Die Wahlversprechen von heute, sind die Steuern von morgen.“ Diesen Satz möchte ich heute ganz besonders meinen bayerischen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben. Ein einfaches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zu fordern ist eine Sache, die konkrete Umsetzung eine ganz andere. Wenn man pauschal Forderungen nach einem einfachen Steuersystem erhebt, erntet man auf breiter Front Zustimmung. Sobald es aber konkret wird, sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. ({3}) Das gilt auch beim Thema Subventionsabbau. Jeder befürwortet grundsätzlich einen Abbau von Finanzhilfen oder Steuervergünstigungen, und zwar völlig zu Recht; denn sie entlasten Einzelne und belasten alle. Doch jedes Stopfen von Steuerschlupflöchern, das Eindämmen von Umgehungsmöglichkeiten und der Abbau von Vergünstigungen wirken natürlich umgekehrt: für Einzelne belastend, aber für alle anderen entlastend. ({4}) Wer also allgemein nach Subventionsabbau ruft, dann aber in jedem konkreten Fall mit der Parole „Hilfe, hier droht eine Steuererhöhung!“ die Umsetzung verhindert, erweist der Sache einen Bärendienst. Gerade die Diskussion über den Abbau von Steuervergünstigungen im Frühjahr dieses Jahres hat gezeigt, dass Lobbyarbeit bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Leider hat sich wieder einmal erwiesen, dass Sie noch nicht einmal Ihren eigenen Sonntagsreden glauben. Doch das Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ wird hier genauso wenig funktionieren wie überall. Es gab in den letzten Tagen Hunderte von Schlagzeilen oder widersprüchlichen Aussagen aus den Reihen der CDU/CSU, die ich versucht bin zu zitieren. Aber ich habe mir just das Zitat herausgesucht, das sich auch unser Fraktionsvorsitzender herausgepickt hat - ich denke, man kann es ruhig noch einmal vortragen, weil es die Situation der CDU/CSU so schön beschreibt -: Die Union sagt ja nicht Nein, sondern die Union sagt: Ja, aber … Dieses entschiedene Sowohl-als-auch ist ein Zitat von Edmund Stoiber im „heute journal“ vom 30. Juni dieses Jahres. Aber so kann es nicht gehen. Die Aufgaben in der Steuerpolitik sind viel zu ernst, als dass Sie hier Ihre taktischen Spielchen spielen können. ({5}) Die Menschen im Lande erwarten Entscheidungen. Diese Entscheidungen können zum großen Teil nur in Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesrat getroffen werden. Hier sind Sie in der Pflicht. Wir wollen diese Zusammenarbeit. Die Länder haben ein ureigenes Interesse an Ergebnissen; denn sie haben die Verantwortung für ihren Haushalt und für die Kommunen. Wir brauchen einen Abbau von Subventionen und Ausnahmen, nicht nur im Interesse der Staatsfinanzen; er ist ein wirkungsvoller Beitrag zur Steuervereinfachung und zur Steuergerechtigkeit. Die Bekämpfung von Steuerbetrug ist eine große Herausforderung für die nächste Zeit. Ich glaube, es ist niemand hier in diesem Hohen Haus anwesend, der mir - bei allen Differenzen, die wir vielleicht haben - nicht zustimmt. Allein im Bereich der Umsatzsteuer werden Bund, Ländern und Kommunen jährlich 14 Milliarden Euro vorenthalten. Der Grund dafür sind betrügerische Machenschaften, die zulasten aller Menschen und aller Unternehmen in diesem Land gehen. Wir müssen diese Vergehen mit aller Konsequenz ahnden und verfolgen. ({6}) Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Steuerhinterziehung eben kein Kavaliersdelikt ist. Sie stellt eine Flucht Einzelner aus der Verantwortung für das Gemeinwesen dar, die zulasten des Gemeinwesens geht. Würde uns die hinterzogene Umsatzsteuer zur Verfügung stehen, hätte Hans Eichel sicherlich eine Sorgenfalte weniger. Das gilt sicher auch für manche Kämmerer in den Städten, die den Ergebnissen der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen mit Spannung entgegensehen. Die Kommission erarbeitet derzeit konkrete Vorschläge zur Lösung der drängenden Probleme des kommunalen Finanzsystems. Die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftsteuer soll zentraler Punkt einer umfassenden Gemeindefinanzreform sein. Es muss sich für die Gemeinden lohnen, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und Belästigungen, die Industriegebiete mit sich bringen, in Kauf zu nehmen. Durch den Wegfall des lokalen Hebesatzrechtes als Quelle der eigenen Wirtschaftskraft einer Gemeinde würde dieser Anreiz gänzlich entfallen. Die freien Berufe sollen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und zur Verstetigung in diese kommunale Wirtschaftssteuer einbezogen werden. Sobald die Ergebnisse der Kommission vorliegen, werden wir einen entsprechenden Entwurf ins Gesetzgebungsverfahren einbringen. Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel zum 1. Januar 2004 erreichen werden. ({7}) Auch hierbei lade ich Sie zur Zusammenarbeit ein! Kommen Sie mit auf den Weg, die kommunale Selbstverwaltung auch bezüglich der finanziellen Seite zu erhalten; denn rasche Hilfe tut hier Not. Das Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Steuervergünstigungsabbaugesetz kommt zu den Problemen, die die Kommunen bereits haben, erschwerend hinzu. Bevor der Vermittlungsausschuss eingeschaltet worden war, konnten die Kommunen aufgrund dieses Gesetzes mit Mehreinnahmen in Höhe von 6,7 Milliarden Euro rechnen; geblieben sind 600 Millionen Euro. Die Mehrheit im Bundesrat hat die Verbesserung der Einnahmesituation durch ein schlichtes Nein zunichte gemacht. Ich denke, wir müssen in diesem Zusammenhang deutlich machen, wer die Verantwortung trägt, wenn Schwimmbäder geschlossen oder Gebühren erhöht werden. Die Reduzierung der Subvention bei der Wohnbauförderung, der größten Subvention schlechthin, ist dem Nein des Bundesrates ebenso zum Opfer gefallen wie die Besteuerung von privaten Veräußerungsgewinnen beim Verkauf von Aktien. Zur kurzfristigen Stärkung der kommunalen Einnahmen haben wir Zinsverbilligungsprogramme für kommunale Investitionen aufgelegt. Außerdem werden die Kommunen durch den Bund von Beiträgen zum Flutopfersolidaritätsfonds vollständig freigestellt. Das bringt unmittelbar 800 Millionen Euro in die Gemeindekassen. Für meine Heimatstadt Hürth, eine Stadt mit 55 000 Einwohnern, macht dies den stattlichen Betrag von immerhin 640 000 Euro aus. Das freut unseren roten Bürgermeister und es freut ebenso unseren schwarzen Kämmerer. Wir alle wissen, dass Geld im Ausland liegt, das - offiziell ausgewandert oder geflohen - in Deutschland weder versteuert wird noch den Unternehmen zur Verfügung steht. Diesem Kapital wollen wir eine Brücke zurück nach Deutschland und zurück in die Steuerehrlichkeit bauen. Es ist vorgesehen, dass eine einfache, vollständige Erklärung über bisher nicht versteuerte Einnahmen und die Zahlung eines Pauschalbetrages von 25 Prozent bzw. 35 Prozent eine strafbefreiende Wirkung hat. Gleichzeitig müssen wir aber auch - das sage ich in aller Deutlichkeit - Kontrollen einführen. Die Lösung, die jetzt gefunden wurde, nämlich die unbürokratische Kontrolle durch das Bundesamt für Finanzen über die Kontenevidenzzentrale, ist sehr wirkungsvoll. Dieser Lösung kann sich hier im Haus niemand entziehen, denn eines muss klar sein: Wir können nicht heute Straffreiheit gewähren und hinnehmen, dass morgen das gleiche Spiel von vorn losgeht. ({8}) Die EU-Richtlinie wird uns dabei helfen. Unsere Philosophie ist eindeutig: Statt neue Steuertatbestände zu schaffen, sollen vorhandene Steuerquellen ausgeschöpft werden. Niedrigere Steuern für alle statt wenige Ausnahmen für Einzelne! Das erhöht die Steuergerechtigkeit und die Akzeptanz. Dazu brauchen wir Ihren Beitrag. Bei Johann Michael Möller in der „Welt“ vom 30. Juni 2003 heißt es so schön: Zweifel hat auch die Opposition. Doch die muss sich nicht nur nach den Alternativen fragen lassen, sondern der Öffentlichkeit auch erklären, warum plötzlich falsch sein soll, was sie selbst immer mit vollen Backen für richtig befunden hat. ({9}) Machen Sie mit Ihrem Ja zur Steuervereinfachung und zum Subventionsabbau Ernst! Wir sind bereit, diesen mutigen Schritt zu gehen. Seien Sie es auch! ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir können eines festhalten: Die Union ist die seriöse Steuersenkungspartei Deutschlands. ({0}) Wir sind jederzeit bereit, seriöse Steuersenkungen mitzutragen. Alle Vorschläge, die wir zur Steuersenkung gemacht haben, haben wir mit seriösen Finanzierungsvorschlägen verbunden. Wenn der Herr Bundeskanzler jetzt sagt, er wolle die Steuern senken, dann ist er aufgefordert, seriöse Finanzierungsvorschläge dafür vorzutragen. ({1}) Der Vorschlag, den uns der Bundeskanzler vorlegt, besteht aus zwei Teilen. Erstens soll die Neuverschuldung um über 7 Milliarden Euro angehoben werden - die Steuersenkung wird also voll schuldenfinanziert und zweitens - das hat er heute im Laufe des Tages vorgeschlagen - soll die Tabaksteuer, also eine Verbrauchsteuer, erhöht werden. Ich habe mir noch einmal seine Rede vom 14. März dieses Jahres angeschaut. In der großen Agenda-Rede hat er hier am Pult gesagt: Meine Damen und Herren, wer Steuersenkungen fordert und diese über neue Schulden oder Verbrauchsteuererhöhungen finanzieren will, handelt verantwortungslos. - Herr Bundeskanzler, mit dem Vorschlag, den Sie jetzt gemacht haben, handeln Sie verantwortungslos. ({2}) Deshalb sind Sie aufgefordert, ein seriöses Finanzierungskonzept vorzulegen. Es kann nicht die Aufgabe der Opposition sein, Ihre Hausaufgaben zu erledigen und zu sagen, wie finanziert werden soll, sondern der Herr Bundeskanzler mit seiner Regierung und seinem Finanzminister hat diese Aufgabe zu leisten. Wir fordern dies ein. ({3}) - Ich sage Ihnen zu, Herr Binding: Wenn Sie ein seriöses Finanzierungskonzept auf den Tisch legen, werden wir es konstruktiv diskutieren. Wir verengen hier das Thema „Steuersenkungen in Deutschland“ allerdings allein auf die Frage, ob eine Steuerreform, die schon längst im Gesetzblatt steht, 2005 oder 2004 stattfinden soll. Das ist, glaube ich, eine zu starke Verengung des Themas. Wird denn die steuerrechtliche Lage in Deutschland für den Bürger einfacher, wenn wir den Reformschritt um ein Jahr vorziehen? Nein, die Steuerformulare bleiben gleich kompliziert! Wird das Steuerrecht transparenter, wenn wir ihn vorziehen? - Nein, kein Mensch, der eine Steuererklärung in diesem Land unterschreibt, ist in der Lage, zu verstehen, was er da eigentlich tut! Bei einer Grenzbelastung bei den Abgaben von 67 Prozent wird nach wie vor die Schattenwirtschaft gefördert. Deshalb sagen wir: Es kann nicht allein um das Vorziehen gehen, sondern wir brauchen ein Konzept für eine durchgreifende Steuerreform: einfach, transparent, mit niedrigen Steuersätzen und einer breiten Bemessungsgrundlage. Dazu wird die Union Vorschläge unterbreiten. ({4}) Wenn wir über Gegenfinanzierung sprechen, geht es natürlich auch um Vertrauen. Ich will Ihnen klar und deutlich sagen, was Sie in den vergangenen Monaten in der Diskussion zum Steuervergünstigungsabbaugesetz getan haben. ({5}) Sie haben massiv Vertrauen verspielt, Herr Poß, Vertrauen, das jetzt fehlt, weshalb die Menschen „angstsparen“ und die Unternehmen in diesem Land nicht investieren. Deshalb geht Ihre Rechnung auch nicht auf, neues Vertrauen schaffen zu können, indem Sie die Reformstufe um ein Jahr vorziehen. Wir brauchen eine verlässliche Politik. Die Damen und Herren, die auf der Regierungsbank sitzen, haben leider jegliches Vertrauen verspielt und werden es mit solchen Vorschlägen auch nicht zurückgewinnen. ({6}) Auf der Tagesordnung dieser Debatte steht heute auch noch das Thema „Brücke in die Steuerehrlichkeit“. Wir wollen Menschen animieren, Kapitalerträge, die sie in ihrer Steuererklärung nicht angegeben haben, in die Legalität zurückzuführen. Wir werden das demnächst hier im Bundestag beraten. Im gleichen Atemzug kündigen Sie eine Vermögensteuerdebatte im Herbst an. Wie kann denn jemand Vertrauen in Deutschland bilden, wenn er einerseits zu Steuerehrlichkeit auffordert und Brücken für die nachträgliche Legalisierung bauen will, andererseits aber mit einer Vermögensteuerdebatte droht? ({7}) Sie kündigen eine Debatte über die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer an. Wer von Ihnen glaubt denn, dass man dadurch Vertrauen gewinnt? Auch hinsichtlich der Besteuerung von Kapitalerträgen lassen Sie die Menschen vollkommen im Unklaren. Kein Mensch weiß, was auf uns zukommt. ({8}) Wie soll denn in diesem Land Vertrauen entstehen, wenn hier so gearbeitet wird? Sie müssen Ihre Vorhaben zusammenführen, Sie brauchen ein einheitliches Konzept. Dies ist nicht vorhanden. Schnelle Sprüche des Bundeskanzlers, die dasselbe am 14. März als verantwortungslos und heute als eine richtige politische Maßnahme bezeichnen, schaffen kein Vertrauen in Deutschland. ({9}) Gestatten Sie mir noch ein paar Worte zum Bundesfinanzminister. Er hat in dem Jahr, als er sein Amt angetreten hat, angekündigt, im Jahr 2004 würden wir einen ausgeglichenen Bundeshaushalt haben. ({10}) - Sie haben es dann modifiziert und von 2006 gesprochen, aber ursprünglich war von 2004 die Rede. ({11}) Dass wir im nächsten Jahr keinen ausgeglichenen Bundeshaushalt haben, ist unser Hauptproblem. Weil Sie das nicht erreichen, müssen wir jetzt überhaupt darüber diskutieren, wie eine Steuersenkung finanziert werden kann. Wenn Ihr Finanzminister das eingehalten hätte, was er damals versprochen hatte, müssten wir die Debatte, die hier heute stattfindet, nicht führen. Die Aussage des Bundesfinanzministers damals lautete, die Schulden von heute sind die Steuern von morgen, Frau Frechen. Im nächsten Jahr marschiert er unter Einbeziehung aller Risiken im Bundeshaushalt auf 50 Milliarden Euro an neuen Schulden in einem einzigen Jahr zu. Ich glaube, das können wir den kommenden Generationen nicht vermitteln. Schauen wir uns die Verfassungslage an: Im Jahr 2002 haben Sie hier am Pult geleugnet, dass der Haushalt verfassungswidrig sein könnte, also die Schulden höher als die Investitionen seien. Diese Frage wird im Laufe des Tages noch im Wahrheitsfindungsausschuss beraten werden. Sie haben es nun aufgegeben, für das Jahr 2003 einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzulegen, denn es gibt kein Haushaltssicherungsgesetz, es gibt keinen Nachtragshaushalt, es gibt keinerlei Initiativen, den Verfassungsrahmen wieder einzuhalten. Für 2004 - das wäre das dritte Jahr in Folge - planen Sie ebenso den Bruch der Verfassung, indem Sie wieder mehr Schulden aufnehmen, als Sie investieren. Sie können auch nicht auf der einen Seite Ihren Finanzdaten für 2004 ein Wachstum von 2 Prozent zugrunde legen und auf der anderen Seite gleichzeitig die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen lassen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Meister, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was ist denn jetzt die Wahrheit? Werden wir ein Wachstum von 2 Prozent haben oder wird das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört sein? Ich fordere von Ihnen Konzepte, die durchdacht sind, die wahr sind und auf die man vertrauen kann. Dann können wir auch gerne seriös diese Fragen miteinander diskutieren. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat heute in seiner Regierungserklärung den Faden seiner Rede vom 14. März dieses Jahres wieder aufgenommen, als er in Bezug auf die Entwicklung in Deutschland sagte, dass er den Sozialstaat erneuern, die Wirtschaft beleben und neue Chancen für Bildung und Forschung schaffen wolle. Am Ende dieser langen Debatte möchte ich darauf zurückkommen, womit Frau Merkel Ihre Rede in dieser Debatte eingeleitet hat, nämlich mit der Frage: Was soll die Richtung sein? Unser Fraktionsvorsitzender hat daraufhin gesagt: Die Richtung ist die nach vorne. Ich möchte das insoweit ergänzen, als es auch darum gehen muss, mehr Chancen in Deutschland zu schaffen: Chancen für die Wirtschaft, Chancen für die Gesellschaft, aber auch individuelle Chancen und Chancen für neue Formen der Zusammenarbeit. In diesem Rahmen möchte ich die möglichen Chancen in drei bis vier Bereichen aufzeigen. Ich komme zum ersten Bereich. Man hat ja manchmal den Eindruck, dass das Parlament lieber untereinander diskutiert und über jede Frage die Debatte zu jeder Zeit gerne aufnimmt, statt einmal Rückschau zu halten, zu schauen, was sich eigentlich seit der Zeit, als der Bundeskanzler im März die Agenda 2010 im Parlament vorgestellt hat, positiv verändert hat. Es gibt Beispiele dafür, wo Menschen neue Chancen eröffnet wurden und an denen aufgezeigt werden kann, wie neue Formen der Zusammenarbeit mehr Chancen eröffnen. Der Bundeskanzler hat im März davon gesprochen, dass ein 4-Milliarden-Euro-Programm zur Einrichtung von mehr Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten in Deutschland aufgelegt werden soll. Er hat es im März angesprochen, mittlerweile ist es Wirklichkeit. Das ist Dynamik in der Gesellschaft, die nicht nur beschworen, sondern die praktisch wirksam wird, wenn Bund, Länder und Gemeinden an einem Strang ziehen. Diese gemeinsame Dynamik, von uns eingeleitet, aber von den Ländern aufgenommen, hat zu dem erfolgreich verwirklichten Versprechen geführt, mehr Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten und damit mehr Chancen für Kinder, Jugendliche und Familien zu schaffen. ({0}) Da wir wissen, dass wir auf die Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsorganen, zwischen Regierung und Opposition, zwischen Bund und Ländern angewiesen sind, schauen wir auch, wie sich Positionen entwickeln. Uns hat es gefreut, dass sich zwischen März und heute auch die CDU/CSU über Frau Dr. Böhmer mit einem Konzept für mehr Ganztagsschulen, für mehr Ganztagsbetreuung neu positioniert hat. Gut so! Gut ist im Übrigen auch, dass sich die Kultusministerkonferenz auf Bildungsstandards im mittleren Schulbereich geeinigt hat. Wir wünschen uns, dass dieser dynamische gute Schritt, der zwischen SPD- und CDU-Ländern für mehr Chancen, für mehr Qualifikation, auch für mehr Wettbewerbsfähigkeit entwickelt worden ist, in Zusammenarbeit mit dem Bund vervollkommnet werden kann. Weshalb ist uns das so wichtig? Ich schiebe eine Bemerkung ein, die vielleicht weniger mit Haushaltszahlen als mit Grundverständnis zu tun hat. Mehr Chancen heißt auch mehr Durchlässigkeit. Es muss uns eine neue Warnung sein, dass auch die erweiterte PISA-Studie gezeigt hat, dass Deutschland nicht nur nicht so gut ist, wie wir gerne sein möchten, sondern auch einen Spitzenplatz im internationalen Bildungsvergleich hat, den es nicht haben will, nämlich bei der Anbindung von Bildungswegen an Einkommen und Status der Familie. Deutschland ist in seinen Bildungschancen nicht durchlässig. Weshalb ist uns Durchlässigkeit so wichtig? Durchlässigkeit in Bezug auf Bildungschancen ist der individuelle Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik insofern, als man nicht an den Status gebunden ist, sondern sich mit eigenem Vermögen, aber auch mit eigenem Wollen weiterentwickeln kann. Das ist gesellschaftliche Dynamik. An dieser Stelle haben wir zu starke konservative Strukturen. Wir haben nicht genug Durchlässigkeit. Bei uns hat die begabte Tochter eines Arbeiters zu selten die Gelegenheit Rechtsanwältin zu werden. Bei uns wird der fleißige, aber nicht so begabte Sohn des Bankdirektors nicht ehrbarer Handwerker, sondern vielleicht schlechter Rechtsanwalt oder nicht auskömmlicher Betriebswirt. Hier brauchen wir Durchlässigkeit; denn hier gibt es Reserven, die etwas an aggressiver wirtschaftlicher Betätigung, an neuen Ideen, an Wertschöpfung in die Gesellschaft hineintragen, die allen zugute kommen. ({1}) Das Werben um Durchlässigkeit ist, wenn wir Dynamik in unsere Gesellschaft bringen wollen, ein Kredo, ein gemeinsames Anliegen, wie es in der Agenda 2010 vorgezeichnet ist. Wenn ich positiv anspreche, dass das im Zusammenwirken von Bund und Ländern, von Opposition und Regierung gelingt, dann will ich den Hochschulbereich dabei nicht ausnehmen. Auch im Hochschulbereich haben wir seit mehreren Jahren einen positiven Prozess: einen Anstieg der Studierendenquote auf fast 40 Prozent und eine stärkere Einbeziehung von sozial nicht so starken Kindern und Jugendlichen aus entsprechenden Familien in den Hochschulbesuch mit einer deutlichen Anhebung der Gefördertenquote. Mehr ausländische Studenten kommen zu uns und mehr deutsche Studenten können ins Ausland gehen. Wir haben auch mehr Studenten im technischen Bereich. Das ist eine Gemeinschaftsleistung, an der wir weiterarbeiten können. Ich möchte meinen Blick auch darauf richten, dass wir uns heute in Bezug auf Steuersenkungen so lange vor allem auf der fiskalischen Ebene auseinander gesetzt haben, statt den Bürgerinnen und Bürgern, die auch diese Debatte verfolgen, deutlich zu machen, was wir uns davon erwarten. Natürlich kann man etwas erwarten; denn die vorgezogene Steuersenkung schafft zusätzliche Chancen, zum Beispiel für die wirtschaftlichen Unternehmen. 10 Milliarden Euro Steuerentlastung bedeuten Chancen. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, uns alle bewegende Probleme in der Gesellschaft so zu debattieren, dass die Chance, die mit der Steuersenkung verbunden ist, zu einer Lösung dieser Probleme beiträgt. Wir finden es gut, wenn die Industrie- und Handelskammern auf breiter Ebene in den Betrieben für Lehrstellen werben. Sogar der Bundeskanzler, die Minister, auch auf Landesebene, und wir alle als Abgeordnete werben dafür. Aber man könnte doch das Argument bringen: Mittelständische und kleine Unternehmen, überlegt euch, ob ihr die Einstellung eines zusätzlichen Auszubildenden vorziehen könnt, weil auch die steuerliche Entlastung vorgezogen wird. ({2}) Das ist kein kleines, sondern ein großes Segment; denn die kleinen und mittleren Unternehmen sowie die Personengesellschaften erfahren jetzt eine deutliche Entlastung. Dieser Bereich trägt im Wesentlichen zur Wertschöpfung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und vor allen Dingen auch zur Schaffung von vielen Ausbildungsplätzen bei. ({3}) Ich möchte noch einmal an die Diskussion über die Handwerksordnung anknüpfen. Herr Hinsken, wir haben da noch eine kleine Auseinandersetzung offen. Wir haben doch nicht - und das mit Ihnen zusammen - das Meister-BAföG verbessert, um auf der anderen Seite den Meisterbrief abschaffen zu wollen. Man kann doch nicht glauben, dass eine Regierung die diesbezügliche Förderung auf 90 Millionen Euro erhöht und gleichzeitig den Meisterbrief entwerten will. ({4}) - Das ist auch nicht so. - Wir haben jetzt die Chance, dem Handwerk und den kleinen und mittleren Unternehmen etwas Luft zu verschaffen, damit sie langfristig qualifizieren können. Mit der langfristigen Qualifizierung bereiten diese Unternehmen den Boden, um auch in Zukunft gute Dienstleistungen und gute Produkte anbieten zu können. Dieses neue Denken „Fordern und Fördern“ im sozialpolitischen Bereich muss auch im steuerpolitischen Bereich Einzug halten; der Bundeskanzler hat heute darüber gesprochen. Damit schafft man die Chance auf Entlastung und gibt den Unternehmen die Möglichkeit, ihre Selbstverpflichtung einlösen zu können. Die Belastung wird geringer. Damit haben die Unternehmen bessere Möglichkeiten, mehr Lehrlinge einzustellen und mehr Weiterbildung anzubieten. Die Unternehmen haben ferner die Möglichkeit, im Bereich Forschung und Entwicklung mehr zu tun, was für die Zukunft sehr wichtig ist. Wir können nämlich feststellen: In den Unternehmen, gerade in den kleinen und mittleren Unternehmen, die in der Forschung sehr aktiv sind, gibt es deutliche Zuwächse an Arbeitsplätzen, während dort, wo keine Forschungsaktivitäten vorhanden sind, ein besonders starker Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen ist. Mittelständische Unternehmen müssen sich überlegen, wo sie etwas Neues schaffen können und wie sie das Wissen aus dem Umfeld von Fachhochschulen und Universitäten im Rahmen von Transferprogrammen nutzen können. Darin liegt eine Chance. Die Steuerentlastung drückt sich nicht nur in Prozentzahlen aus. Sie hängt auch mit soliden Staatsfinanzen zusammen. Es kommt aber entscheidend darauf an, ob wir wichtige Bereiche der Wirtschaft modernisieren können. Wissenschaftler müssen sich mehr auf wirtschaftlichem Gebiet betätigen und die Wirtschaft muss mehr an die Wissenschaft angebunden werden; die Wirtschaft muss sich sozusagen an die Wissenschaft wenden. Diese Bereitschaft ist im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, der unsere Volkswirtschaft im Wesentlichen trägt, zu gering ausgebildet. Wir schaffen jetzt die Rahmenbedingungen, dass sich dieser Prozess verstärken kann. ({5}) Eine weitere Bemerkung. Es darf nicht untergehen, was sich in dem Zeitraum vom März dieses Jahres bis heute verfestigt hat und in welchen Bereichen es Verlässlichkeit gibt. Der Bundeskanzler hat im März angekündigt, dass die Mittel für die großen deutschen Forschungsorganisationen um 3 Prozent steigen werden. Dieses wird auch geschehen. Damit, Herr Kollege Austermann, haben wir Verlässlichkeit an einer Stelle geschaffen, die nicht nur wegen ihres Finanzumfangs, sondern auch wegen der Breite der Forschung wichtig ist: die Grundlagenforschung der Max-Planck-Institute, die anwendungsbezogene Forschung der Fraunhofer-Gesellschaft und die auf nationale Ziele ausgerichtete Forschung der Helmholtz-Institute. Für die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben Bund und Länder eine Verpflichtung. Die Zusage des Bundeskanzlers, die Bundesmittel um 3 Prozent zu erhöhen, ist auch gleichzeitig eine Verpflichtung für die Länder, sich kooperativ zu verhalten. Wir verstärken auch die Nachwuchsförderung. In diesem Bereich werden schon jetzt 50 Prozent mehr Mittel eingesetzt. Wir arbeiten auch in dem Bereich der Internationalisierung. Eine Delegation von Forschungspolitikern, die gerade in Amerika war, hat dort vielfach gehört, dass die Max-Planck-Institute und die Deutsche Forschungsgemeinschaft wirkungsvolle Wissenschaftsinstitutionen sind. Wegen der Juniorprofessur ist es attraktiv, aus anderen Ländern nach Deutschland zu kommen und sich hier wissenschaftlich zu betätigen. Wir wollen gerade in der Forschungspolitik die Gemeinsamkeit betonen. Ich glaube, diese verstärkten Aktivitäten, die schon in der März-Rede des Bundeskanzlers und die auch heute von ihm und unserem Fraktionsvorsitzenden angesproDr. Ernst Dieter Rossmann chen worden sind, sind hinsichtlich der Investitionen und der Dynamik im Bereich dieser Zukunftsfelder wichtig. Schlussbemerkung: Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung unter das Motto „Sozialstaat erneuern“ gestellt: Wir wollen über die Erneuerung des Sozialstaats mehr Chancen für Bildung, Forschung und Innovation in Bezug auf den Einzelnen, aber auch die Gesellschaft insgesamt schaffen. Unser Fraktionsvorsitzender drückte es so aus, dass es jeder auch für sich persönlich versteht: Das Saatgut muss trocken gehalten und eingebracht werden. Es muss auch Zeit finden, sich zu entwickeln. Mit der Zusage, dass wir den steuerlichen Rahmen dafür schaffen werden, dass sich das Saatgut bei den einzelnen Menschen und in den einzelnen Unternehmen entwickeln kann, machen wir einen guten Schritt nach vorn. Diese Saat wird für uns alle gut aufgehen. Deshalb sollten wir nicht den parteipolitischen Streit, sondern das gemeinsame Bemühen, zu Lösungen zu kommen, in den Vordergrund stellen. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1309, 15/470, 15/1231 und 15/1221 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union - Drucksachen 15/1100, 15/1200 ({0}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) - Drucksache 15/1300 - Berichterstattung: Abgeordnete Günter Gloser Rainder Steenblock b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1301 Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Walter Schöler Antje Hermenau Zu dem Gesetzentwurf liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Meine Damen und Herren, zu Beginn dieses Tagesordnungspunktes darf ich auf der Tribüne zwei Gäste begrüßen, die anlässlich unserer heutigen Abstimmung über das Gesetz zum Beitritt der zehn bisherigen Kandidatenländer zur Europäischen Union in den Deutschen Bundestag gekommen sind. Es ist mir eine Freude, meinen Kollegen, den Marschall des Sejm der Republik Polen, Herrn Marek Borowski, begrüßen zu können, dessen Land am 8. Juni 2003 dem Beitritt zur Europäischen Union zugestimmt hat. Herzlich willkommen! ({3}) Ebenso herzlich begrüße ich Herrn Günter Verheugen, Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig für Fragen der EU-Erweiterung. ({4}) Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn Länder wird ein weiterer wesentlicher Schritt zur Realisierung der Vereinigung Europas sein. Ich bin zuversichtlich, dass sich auch die erweiterte Europäische Union der gemeinsamen Verantwortung für die Schaffung und die Sicherung des Friedens in der Welt bewusst ist und in diesem Sinne wirken wird. Nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Erfahrungen in Deutschland bin ich davon überzeugt, dass mit dem Vollzug der Erweiterung am 1. Mai 2004 eine Aufgabe erst richtig beginnt, die uns über die nächsten zehn oder 20 Jahre begleiten wird: die wirkliche Gestaltung der Einheit Europas. Eine europäische Verfassung wird dabei ebenso unverzichtbar sein wie die enge Zusammenarbeit der Parlamente. Ich danke Ihnen, Herr Borowski, und Ihnen, Herr Verheugen, dass Sie es ermöglicht haben, an dieser für Deutschland sehr wichtigen Plenardebatte teilzunehmen. ({5}) Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Präsident hat es schon gesagt: Mit der Ratifizierung der EU-Beitrittsverträge von zehn europäischen Ländern durch den Deutschen Bundestag - in einigen Jahren werden auch Rumänien und Bulgarien zur EU gehören - vollzieht sich ein wichtiger Schritt zur europäischen Wiedervereinigung. Machen wir uns die Größe dieses Ereignisses bewusst: Wer hätte 1989 ernsthaft daran geglaubt, dass die EU nur 15 Jahre später ihre Türen für zehn überwiegend ost- und mitteleuropäische Staaten öffnen würde? Wohl nur wenige. An dieser Stelle gratuliere ich zunächst den Beitrittsstaaten, deren Vertreter heute auf der Tribüne bei uns zu Gast sind, zu der großartigen Leistung, die sie auf dem Weg in die EU erbracht haben. ({0}) Die hohe Zustimmung, die der EU-Beitritt in den Beitrittsreferenden zahlreicher zukünftiger Mitgliedstaaten erfährt, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist Ausdruck dafür, dass die EU-Mitgliedschaft für die Menschen trotz aller Härten auf dem Weg dorthin vor allem Grund zu großer Hoffnung ist. Umgekehrt fehlt aber in einem Teil unserer Gesellschaft leider noch das Bewusstsein, dass es sich bei den Beitrittsstaaten nicht um ferne, exotische Länder handelt, sondern dass diese Staaten unsere kulturellen, religiösen und politischen Traditionen teilen. Unsere Kulturen waren über Jahrhunderte in immer neuer Weise miteinander verschränkt und haben sich gegenseitig befruchtet. Wir brauchen nur nach Krakau, Riga, Prag oder Budapest zu reisen, um dies zu verstehen. In Prag wurde 1348 die erste Universität in Zentraleuropa gegründet. Der Pole Chopin verzaubert vom 19. Jahrhundert bis heute die Musikliebhaber in Europa und in der ganzen Welt. ({1}) Die Städte der baltischen Staaten blühten dank der Hanse auf. Viele Länder, die nun der EU beitreten, haben durch die Habsburger Monarchie ein gemeinsames Erbe. Aber die Nationalismen des 19. und des 20. Jahrhunderts trennten unsere Bevölkerungen. Die Germanisierungsversuche gegenüber den Polen im späten 19. Jahrhundert sind hier ein böses Beispiel. Die Unterdrückung und die Ermordung unserer Nachbarvölker im Osten durch Nazi-Deutschland sind der schreckliche Höhepunkt von Nationalismus und Rassenwahn. Aber auch die Niederringung des Nationalsozialismus brachte keineswegs die Befreiung aller europäischen Völker von Diktatur und Unterdrückung. Über einen Teil Europas senkte sich der Eiserne Vorhang. Nur selten und nur wenigen Menschen gelang es in dieser Zeit, trotz Mauer und Stacheldraht zueinander zu kommen und die Verbindung aufrechtzuerhalten. Meine Damen und Herren, die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Übriges getan. Der Westen konnte sich in Freiheit und Demokratie entwickeln - auch Westdeutschland. Dass Frankreich den Deutschen die Hand zur Versöhnung gereicht hat, hat entscheidend dazu beigetragen. Der europäische Weg wurde durch die europäische Integration geprägt. Diese Zusammenarbeit brachte den Menschen in den beteiligten Staaten Stabilität, Wohlstand, Freiheit und Frieden. Auch die Zielsetzung, zu einer politischen Zusammenarbeit zu kommen, wurde nicht aus dem Auge verloren. Doch die Wunde des geteilten Europa blieb: Während die eine Hälfte des Kontinents immer mehr zusammenwuchs und sich die Menschen daran gewöhnten, frei reisen und handeln zu können, erduldete man noch immer langwierige Kontrollschikanen, wenn man - was selten genug vorkam - vom goldenen Westen in den grauen Osten fuhr. Wir wussten nicht viel über unsere östlichen Nachbarn. Aber interessierten wir uns wirklich für sie? Hatten wir es uns nicht längst in unserem satten Wohlstand bequem gemacht und horchten wir nicht nur gelegentlich auf, wenn sich irgendwo im Osten freiheitsliebende und verzweifelte Menschen gegen die aus Moskau ferngesteuerte Willkürherrschaft auflehnten? Ja, die Menschen dort haben sich nie mit der Unfreiheit und ihrer Abspaltung von den gemeinsamen kulturellen Wurzeln abgefunden. Ich selbst erfuhr das, als ich 1971 in der Folge der neuen Ostpolitik Willy Brandts zum ersten Mal nach Polen und wenige Jahre später als junge Lehrerin nach Prag kam. Seit dieser Zeit habe ich Freunde in Polen. Unsere Kinder sind im gleichen Alter. Den einen - im Westen - standen viele Möglichkeiten offen. Die anderen - im Osten - wuchsen in der Sehnsucht auf, die Weite und die Freiheit zu gewinnen. 1989 endlich waren die Bürgerrechtsbewegungen am Ziel: Die kommunistischen Regime waren am Ende. Ungarn ließ Hunderte von DDR-Bürgern ausreisen, die sich in die deutsche Botschaft in Budapest geflüchtet hatten. Auch in Polen erfuhren die Flüchtlinge aus der DDR sehr viel Hilfe. Dafür haben wir zu danken. ({2}) Schließlich wurden die Mauern eingerissen. Nun gibt uns die Vergrößerung der EU endlich wieder die Chance, näher zusammenzurücken und vom vielfältigen Reichtum in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft erneut zu profitieren. Mit dem Beitritt der zehn neuen Länder wird es auch einen Zuwachs an Sicherheit für alle an der EU beteiligten Länder geben. Jetzt haben wir die Chance, gemeinsam unseren Wohlstand zu sichern und unsere Lebensverhältnisse auf hohem Niveau zu stabilisieren. Denn die Vergrößerung des Binnenmarktes wird einen Wachstumsimpuls auslösen. Auch politisch wird die EU von dem Beitritt der neuen Länder profitieren. Denn die bevorstehende Vergrößerung um zehn Mitgliedsländer hat den Reformdruck in der EU stark erhöht. Schon in den vergangenen Jahren war es immer schwieriger geworden, eine Gemeinschaft von zuletzt 15 Staaten mit Instrumenten und Methoden zu managen, die ursprünglich für sechs Gründungsmitglieder geschaffen worden waren. Dass die Bürgerinnen und Bürger sich immer mehr fragten, wer denn was in Brüssel entscheidet, weist auf die fehlende Transparenz des Institutionengefüges hin und wirft gleichzeitig die Frage nach der demokratischen Legitimation auf. So brachte die Entscheidung in Nizza, bis 2004 zehn weitere Länder in die EU aufzunehmen, gleichzeitig den Beschluss, in einer Regierungskonferenz eine grundlegende Reform zu verabschieden. Die deutschen Sozialdemokraten haben einen gewichtigen Anteil daran, dass diese Reform durch einen Konvent vorbereitet wurde, in dem europäische und nationale Abgeordnete eine bedeutende Rolle spielten. Vor wenigen Tagen hat der Europäische Rat in Thessaloniki den Verfassungsentwurf als Grundlage für seine Entscheidung in der Regierungskonferenz entgegengenommen. Meine Damen und Herren, auch wenn nicht alle Wünsche an eine europäische Verfassung erfüllt werden konnten, so ist es doch ein großer Erfolg, dass die Rechte des Parlaments gestärkt sind, dass mit einem europäischen Außenminister die Voraussetzung dafür geschaffen wurde, dass die EU ihre Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik weiterentwickeln kann, und dass die Grundrechtecharta in die Verfassung integriert ist. ({3}) An dieser Arbeit haben die Vertreter der zukünftigen Beitrittsländer gleichberechtigt mitgewirkt. Sie werden diese Rolle auch in der Regierungskonferenz haben. Für mich ist dies ein Beleg dafür, dass wir gemeinsam den Weg in eine politische Union gehen können. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach dem glücklichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen im Dezember in Kopenhagen mussten wir allerdings erschrocken erkennen, dass sich die Europäer in der Frage gespalten zeigten, wie mit der Irakkrise umzugehen sei. Gemeinsam mit Großbritannien und Spanien unterstützten insbesondere unsere zukünftigen EU-Mitglieder die Position der Vereinigten Staaten, im Irak militärisch zu intervenieren. Diese Situation warf die Frage auf, ob die GASP in der EU schon zu Ende war, bevor sie überhaupt richtig in die Wege geleitet worden war. Es wurde diskutiert, ob die politische Union mit den Neumitgliedern in weite Ferne rückte, ob sich die Union demnach auf einen gemeinsamen Markt reduzieren würde. Ich bin ganz anderer Meinung. Gerade die divergierenden Positionen in der Irakfrage haben mit aller Dringlichkeit deutlich gemacht, dass wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Die zarten Keime dieser Zusammenarbeit, wie sie sich in Mazedonien zeigten, müssen unbedingt weiterentwickelt werden. Diese Notwendigkeit wird in allen alten und neuen Mitgliedstaaten gesehen. ({4}) Aber diese gemeinsame Politik entsteht nicht automatisch, sondern muss - und kann - erarbeitet werden. Der Wille dazu ist vorhanden. Differenzen heute festzustellen heißt nicht, eine Krise zu konstatieren, sondern bedeutet zu allererst, die Normalität der europäischen Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen. Dabei gibt es nicht die Trennung zwischen „altem“ und „neuem“ Europa - um an dieser Stelle die Zuschreibung von Donald Rumsfeld zu zitieren. Der Konventsprozess hat nämlich deutlich gemacht, das es keine Fronten zwischen Alt- und Neumitgliedern gibt, wie auch nicht zwischen großen und kleinen Staaten. Nein, wir alle stehen gemeinsam vor großen Herausforderungen. Die erweiterte Europäische Union wird entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ihr politisches Gewicht stärken müssen. Diese EU wird in der Lage sein, für ihre Bürgerinnen und Bürger mehr soziale Gerechtigkeit, mehr innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Diese EU wird als attraktives Gesellschaftsmodell auf andere Regionen ausstrahlen. Ich bin deshalb ganz sicher, dass die große Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen in diesem Bundestag, über alle Parteigrenzen hinweg, mit uns für die Ratifizierung des Beitrittsvertrages stimmen wird. ({5}) Europa kommt heute seiner Wiedervereinigung ein großes Stück näher - ein schöner Grund zum Feiern. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz zur Ratifizierung des Beitrittsvertrags zu. Wie wir in unserem Entschließungsantrag formulieren, eröffnet sich mit der Osterweiterung der Europäischen Union nach den bitteren Erfahrungen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historische Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in ganz Europa nachhaltig zu stärken. Die Einigung Europas ist das wertvollste Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist klar: Die neuen Mitglieder in der Europäischen Union werden nicht erst jetzt Europäer, sie sind es immer gewesen. ({0}) Europa erweitert sich nicht, sondern Europa überwindet seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch nicht zu Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder Belgrad sind schließlich Europa. Weil in der Literatur, im Bundesrat und in den Fraktionen dieses Hauses unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten werden, ob das Ratifizierungsgesetz eine Verfassungsänderung darstellt oder nicht, schlagen wir mit einem Änderungsantrag vor, zur Sicherheit die formalen Voraussetzungen der Art. 23 und 79 des Grundgesetzes zu wahren. Die Europäische Union als Rechts- und Wertegemeinschaft bietet auch die Chance, Wunden der Vergangenheit zu heilen. Das Fortbestehen von Dekreten, die als Rechtfertigung für Tötungen, Vertreibungen und Entrechtungen gedient haben, verträgt sich damit nicht. ({1}) Wir begrüßen die jüngsten Erklärungen der tschechischen Regierung vom 19. und 29. Juni und wir fordern die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag auf, entsprechend der Aufforderung des Europäischen Parlaments schon aus dem Jahre 1999 mit der Tschechischen Republik über die Aufhebung dieser Dekrete zu verhandeln. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, welch großartige Entwicklung die europäische Einigung gerade angesichts der Lasten der Vergangenheit nimmt, habe ich persönlich am vergangenen Samstag wieder einmal empfunden. Beim Appell anlässlich der Beförderung der Offiziersanwärter der 10. Heeresdivision war auch ein Ehrenzug der deutsch-französischen Brigade angetreten. Deshalb wurde am Ende dieses Appells nicht nur die deutsche, sondern auch die französische Nationalhymne gespielt. Man muss sich das vorstellen: die Marseillaise im Rastatter Schloss anlässlich der Beförderung deutscher Soldaten zu Offizieren. Wer etwas von der deutsch-französischen Geschichte oder auch vom Schicksal unserer badischen Grenzlandschaft weiß, der kann in einem solchen Augenblick nicht unberührt bleiben. Ein einiges Europa ist die beste Chance für uns, nicht nur die Wunden der Vergangenheit zu heilen, sondern auch unseren Interessen und unserer Verantwortung in dieser komplizierten Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Aber damit Europa diese Aufgabe erfüllen kann, muss es die erste Bewährungsprobe bestehen und seine Teilung überwinden. Auch deshalb liegt die Erweiterung der Europäischen Union nicht nur im Interesse der künftigen Mitglieder, sondern genauso in unserer aller Interesse und vor allem im Interesse Deutschlands, das schließlich in der Mitte Europas gelegen ist. ({2}) Das gilt auch für die Wirtschaft. Angesichts ganz unterschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse und Strukturen wird es in diesem Bereich natürlich Übergangsschwierigkeiten geben; das sollten wir auch heute nicht verschweigen. Aber ich bin mir ganz sicher: Auf mittlere Sicht bedeutet ein größerer einheitlicher Wirtschaftsraum mit mehr Dynamik Wachstumschancen für alle. Die Erweiterung der Europäischen Union ist eben kein Nullsummenspiel, in dem die einen verlieren müssen, was die anderen gewinnen sollen, sondern alle werden Vorteile haben. Das gilt übrigens ganz besonders für die Gebiete in der Nachbarschaft der neuen Mitgliedstaaten, also für die Grenzregionen. Ich habe eben von der deutsch-französischen Grenzregion gesprochen. Das gilt genauso für die Grenzregion der im Osten gelegenen Bundesländer. Ich füge hinzu: Diese Regionen sollten in der Zukunft, nach dem Beitritt unserer Nachbarn, vor allem die Chance grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit verstärkt nutzen. Wir alle profitieren aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch; denn wir sind schließlich von den Entwicklungen in allen Teilen der Welt betroffen, viel stärker als früher, positiv und negativ. Das nennt man üblicherweise Globalisierung. Ich bin mir ganz sicher, dass wir als Europäer gemeinsam mehr erreichen und bewirken können. In dem Maße, in dem die europäische Einigung gelingt, ist sie übrigens auch ein Modell, eine Vision der Hoffnung für andere Teile der Welt. Jahrhundertelange Streitigkeiten, Kriege und Spaltungen hinter sich zu lassen - das muss man sich vorstellen -, kulturelle und nationale Identitäten und Verschiedenartigkeiten zu wahren und zugleich zu gemeinsamem Handeln fähig zu sein, Einheit und Vielfalt richtig auszutarieren - je besser uns das in Europa gelingen wird, umso mehr kann das auch für andere Regionen in unserer krisengeschüttelten Welt ein Modell sein. ({3}) Viele in dieser Welt schauen deshalb voller Interesse und voller Hoffnung auf diesen europäischen Einigungsprozess. Wenn wir die globale Rolle, die globalen Interessen und die globale Verantwortung Europas richtig bedenken, dann wird auch klar - auch das muss am heutigen Tag gesagt werden -, dass europäische Einigung und atlantische Partnerschaft keine Alternativen darstellen, sondern zusammengehören und wie zwei Seiten derselben Medaille untrennbar sind. ({4}) Nach dem Ersten Weltkrieg - daran muss man angesichts der Debatte der zurückliegenden Monate erinnern - sind Ansätze zur europäischen Einigung auch deshalb gescheitert, weil sich Amerika zu schnell aus Europa zurückgezogen hatte. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Einigung so glücklich gelungen ist und wir heute an diesem Punkt stehen, hat ganz wesentlich mit amerikanischem Engagement in Europa zu tun. ({5}) Wer Europa gegen Amerika einen wollte, der wird Europa am Ende nur spalten. Das war in den letzten Monaten zu besichtigen. ({6}) Ich will das heute nicht vertiefen. Aber unabhängig von der Frage, wer in der Irak-Debatte welchen Fehler gemacht hat - Fehler sind nicht nur auf einer Seite gemacht worden -, musste uns doch alle erschrecken, welch schwere Spaltung quasi über Nacht in Europa wieder eingetreten ist und wie sehr unsere östlichen Nachbarn und künftigen Mitglieder der Europäischen Union, vor allem die Polen, betroffen waren, weil sie plötzlich die Sorge haben mussten, sie würden vor eine Wahl zwischen Europäischer Union und atlantischer Sicherheit gestellt werden. Frau Kollegin Schwall-Düren und ich waren mit dem polnischen Außenminister zusammen und mussten ihm sagen, sein Land brauche sich als künftiges Mitglied der Europäischen Union nicht dafür zu entschuldigen, dass es mit Amerika freundschaftliche Beziehungen unterhält. So weit haben wir es gebracht, meine Damen und Herren. Wir sollten schnell daraus lernen. ({7}) Ich finde es gut, dass jetzt auch Intellektuelle - wer immer Intellektueller sei; das definieren die ja selbst und üblicherweise gehört man dann, wenn man anderer Meinung ist als sie, nicht dazu - eine Debatte über die politische Verantwortung Europas angestoßen haben. Es geht aber nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieser Diskussion diejenigen außen vor halten zu wollen, die in einer konkreten Frage anderer Meinung sind. Karl Lamers und ich haben - darauf lege ich schon Wert - in der politischen Debatte wohl eine Art Copyright für den Begriff Kerneuropa. Deswegen sage ich im Sinne authentischer Interpretation: Kerneuropa war für uns eben gerade nicht ein Element der Spaltung, ({8}) - nein, sondern es war und muss bleiben ein Element dynamischer Führung für ganz Europa. Genau das, Herr Fischer, haben Sie falsch gemacht. ({9}) - Ich weiß doch, was wir damals geschrieben haben. ({10}) - Auch das stimmt nicht. ({11}) Da fragen Sie mal den italienischen Staatspräsidenten, der damals Schatzminister war. Der hat genau das gesagt. Wir haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass die Italiener bei den Gründungsmitgliedern der Europäischen Währungsunion gewesen sind, weil sie die notwendigen Reformen in ihrem Lande zustande gebracht haben, an denen diese Bundesregierung scheitert, wie wir bei der Diskussion heute Vormittag feststellen konnten. Auch das ist die Wahrheit. ({12}) - Ich weiß doch, was ich damals geschrieben habe. Sie haben es damals nicht gelesen und jetzt wollen Sie es verfälschen und es in falscher Form in Anspruch nehmen. ({13}) Lassen Sie mich noch etwas sagen, wenn ich schon bei dieser Intellektuellendebatte bin. Fast noch spannender zu sein scheint mir, dass ein Mann wie Jürgen Habermas, der so oft für Verfassungspatriotismus plädiert hat, jetzt ein Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit für Europa voraussetzt. ({14}) - Weil das etwas anderes ist als Verfassungspatriotismus. - Darauf will er eine europäische Identität gründen. In seinem zusammen mit Jacques Derrida veröffentlichten Aufruf fragt er - ich zitiere ihn -: Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften? Das ist die Grundlage für nationale wie für europäische Zugehörigkeit und Identität, und das ist eben sehr viel mehr als Verfassungspatriotismus. ({15}) Geteilte Erinnerungen und Gefühle stiften ein solches Verständnis von Zugehörigkeit und Identität. Ich meine, dass der Austausch zwischen Osten und Westen in Europa in seiner langen Geschichte ganz wesentlich dazugehört. Unser Kollege Arnold Vaatz schreibt in der Vorbemerkung zu einer von ihm noch nicht veröffentlichten, aber hoffentlich irgendwann zu veröffentlichenden „Geschichte Mitteldeutschlands“ über die politische Dynamik der Geschichte, die aus dem Spannungsfeld zwischen Osten und Westen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder entstanden ist. ({16}) Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Das müssen wir jetzt fruchtbar gestalten. Dann wird das für uns alle in Europa von Nutzen sein. ({17}) - Verehrter Herr Weisskirchen, damit drehen Sie auf Debatten zurück, die wir vor mehr als zehn Jahren geführt haben. Wollen Sie den Begriff Mitteldeutschland wirklich aus der deutschen Sprache streichen? Ich glaube, Sie haben nicht alle Tassen im Schrank. Das tut mir wirklich Leid. ({18}) Dass wir über die deutsche Einigung im Jahre 2003 anlässlich des anstehenden Beitritts von Polen und anderer Länder zur Europäischen Union noch streiten müssen, ist wirklich steinerweichend. Wir sind uns doch darüber im Klaren, dass wir im Zuge der europäischen Einigung über Grenzen nicht mehr streiten, sondern dass wir Grenzen durch die europäische Einigung überwinden. Deswegen ist es doch ein Freudentag, wenn zehn unserer Nachbarn im Osten der Europäischen Union beitreten wollen. ({19}) Deswegen müssen wir aber unsere Sprache und unsere Begriffe doch nicht ändern. Ich würde gerne noch einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen. Der Beitritt der künftigen EU-Mitglieder muss auch unsere Nachbarschaft im Osten stärker in unser Blickfeld rücken. Auch hier muss sich Europa bewähren und auch hier liegen für alle Europäer große Chancen. Ich will einige Worte zu Russland sagen. Russland ist zum Teil Europa und es ist zugleich auch eine Weltmacht. Übrigens belegt auch die Beziehung zu Russland wieder, dass die europäische Einigung und die atlantische Partnerschaft zusammengehören; die Polen wissen das. Ich glaube, die deutsch-russische Zusammenarbeit ist mit Amerika für Polen sehr viel weniger mit Sorgen verbunden denn als Alternative zur atlantischen Partnerschaft. Für Europa allein ist Russland zu groß. Deshalb bietet die euro-atlantische Gemeinschaft auch für Russland die bessere Perspektive für eine dauerhafte Zusammenarbeit. ({20}) Im Übrigen zeigt jeder Blick auf die aktuelle Agenda der Weltpolitik, wie sehr wir auf einen gestaltenden Beitrag Europas, auf eine enge atlantische Partnerschaft und auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Russland angewiesen sind. Die guten Ansätze, die sich in den letzten Wochen etwa im Quartett für den Fahrplan zum Frieden im Nahen Osten oder auch bei den Treffen in Petersburg und Evian gezeigt haben, müssen genutzt und weiterentwickelt werden. Auch deshalb ist der Beitritt der zehn neuen Mitglieder zur Europäischen Union nicht nur ein historisches Ereignis, indem nach bitterer Vergangenheit ein neues und hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen wird. Dieser Beitritt muss für uns auch Anstoß sein, uns über unsere Verantwortung und Chancen in dieser Zeit so aufregender Veränderungen in der Welt klar zu werden. Auch in diesem Sinne wird der Beitrag unserer neuen Mitglieder in der Europäischen Union dringend gebraucht. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend über die Erweiterung der Europäischen Union. Die Vorrednerin und der Vorredner haben zu Recht darauf hingewiesen: Bei dieser Erweiterungsrunde um zehn neue Mitgliedstaaten handelt es sich nicht nur um die größte Erweiterung; allein aufgrund dessen würde sie das Prädikat „historisch“ schon verdienen. Zugleich gehören überwiegend Nachbarstaaten dazu, die bisher jenseits des Eisernen Vorhanges zu leben hatten. Das heißt, neben der größten Erweiterung ist es zugleich ein Überschreiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs, weswegen man, wie es Kollege Schäuble getan hat, durchaus sagen kann, dass es der entscheidende Schritt zur Wiedervereinigung Europas ist. Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass das Haus insgesamt Zustimmung signalisiert hat. Lassen Sie es mich so sagen: Die neuen Mitgliedstaaten sind uns als gleichberechtigte Mitglieder der erweiterten Union recht herzlich willkommen. ({0}) Die Gleichheit der Mitgliedstaaten ist eines der ganz entscheidenden Prinzipien. Dass dieses Prinzip der Gleichheit gilt, haben wir bereits im Konvent gezeigt. Obwohl die neuen Mitgliedsländer noch nicht formal beigetreten waren, arbeiteten wir dort als Gleichberechtigte zusammen. Das hat auch der Europäische Rat in Thessaloniki gezeigt, wo die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister der 25 bereits gemeinsam gearbeitet haben. ({1}) - Bitte? ({2}) - Ich gebe zu, es war ein Fehler, dass ich „Bitte“ gesagt habe. ({3}) Wenn ich über die größte Erweiterungsrunde rede, dann versteht der Abgeordnete Müller, München, CSU, nur Türkei. Dies ist eine spezifische Form der Übersetzung von Ihnen. Wenn ich aber schon dabei bin - ({4}) - Auf Geheiß Ihres Landesgruppenvorsitzenden nehme ich es sofort zurück. ({5}) Wir werden Ihrem Antrag auf eine Zweidrittelmehrheit nicht zustimmen. ({6}) Es ist doch völlig klar, was damit intendiert ist. Obwohl es gar nicht notwendig ist, wollen Sie damit die Möglichkeit erhalten, bei kommenden Erweiterungsrunden der Union mit einer Minderheit Beschlüsse zu blockieren. Deswegen lehnen wir diesen Antrag als gute und überzeugte Europäer ab. ({7}) Der Kollege Schäuble wollte eine intellektuelle Debatte führen. Das finde ich gut und richtig; ich werde gleich darauf eingehen. Aber Herr Schäuble ist mit einigen knappen Bemerkungen sehr schnell über den zweiten Entschließungsantrag hinweggegangen. Ich verstehe auch, warum. Dort wird nämlich erneut auf das deutschtschechische Verhältnis eingegangen. Ich kann Ihnen nur sagen: Für uns gilt die unter Bundeskanzler Helmut Kohl und unter Beteiligung vieler Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition und auch der Frau Vizepräsidentin mühselig erarbeitete Deutsch-Tschechische Erklärung. Das Verhältnis ist schon schwierig genug. Auf der einen Seite bestreitet niemand die Verantwortung unseres Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das gehört konstitutiv zur Identität des demokratischen Deutschlands. Aber auf der anderen Seite muss auch das erlittene Unrecht und das Leiden derer, die vertrieben wurden und ebenfalls ein großes Opfer zu bringen hatten, betont werden. Auf dieser gemeinsamen Grundlage und gründend auf der historischen Verantwortung unseres Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus wurde damals die Deutsch-Tschechische Erklärung formuliert, die wir nach wie vor für die Basis der Entwicklung unserer Beziehungen halten. ({8}) In diesem Zusammenhang begrüßen wir die jüngste Rede von Ministerpräsident Spidla, die sehr mutig und couragiert war. ({9}) Ich möchte auch die sehr positiven Reaktionen von Sprechern der sudetendeutschen Landsmannschaft hervorheben. ({10}) - Richtig. Aber Ihr Antrag ist eher rückwärts gewandt. ({11}) Nichts wäre uns lieber, als dass die Nachkommen der Sudetendeutschen - inzwischen handelt es sich überwiegend um die zweite und dritte Generation; dies gilt auch für alle anderen Heimatvertriebenen - und die Verantwortlichen in der Tschechischen Republik wie auch die Gesellschaften miteinander in einen Dialog kommen. Dieser Dialog soll nicht mehr durch Konfrontation, sondern durch ein Aufeinander-Zugehen und AufeinanderZudenken geprägt sein. Deswegen wird alles, was uns in eine ultimative Verhandlungssituation in Bezug auf die Aufhebung der Benes-Dekrete bringen soll, das Gegenteil von dem bewirken, was gegenwärtig gemacht wird. Das werden wir nicht mitmachen. Wir wollen diesen offenen Prozess des AufeinanderZugehens fördern. Ich wünsche mir, dass sich der Geist, den Ministerpräsident Spidla in seiner jüngsten Rede gezeigt hat, in einem Antrag niederschlägt. Dann würde ich Zustimmung empfehlen. Aber diesen kann ich in Ihrem Antrag nicht finden. Darin kommt vielmehr sehr stark der bayerische Landtagswahlkampf zum Vorschein. Deshalb werden wir dem Antrag nicht zustimmen. ({12}) Jenseits dessen ist es wichtig, dass wir über die Zukunft des erweiterten Europas diskutieren. Ich stimme Kollege Schäuble ausdrücklich zu: Es ist faszinierend, zu sehen, was dieses Europa, das angeblich bewegungsunfähig ist, seit der Zeitenwende von 1989 geleistet hat. Die europäische Einigungsidee ist schon lange vorher geboren worden und ist damit wesentlich älter. Sie ist eine Antwort auf das Europa der Schlachtfelder des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie bedeutet eine Überwindung der Konfrontation der europäischen Nationalstaaten im Staatensystem, indem die Interessen, beginnend mit den ökonomischen Zielen, zusammengefügt wurden. Dahinter stand aber auch die Überwindung der politischen Teilung, der Grenzen. Aus der Sicht der 50erJahre sollten eines späteren und ferneren Tages Teile der Souveränität, soweit es notwendig war, ohne dass die europäischen Nationen deswegen ihr Gesicht, ihre Identität, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Eigenheiten verlieren, zusammengefügt werden. Dieses Europa wird nie ein kontinentaler homogener Staat werden. Dies steht nicht nur im Widerspruch zur Geschichte der europäischen Staaten, sondern - das ist viel älter - zur Geschichte der europäischen Völker. Die Deutschen, die Franzosen und die Polen gab es schon lange, bevor es Nationalstaaten in diesem Sinne gab. Diese sind in der Geschichte eine kurzzeitige Erscheinung. Die Europäische Union, diese Einigungsidee, ist die Antwort auf das Europa der nationalen und nationalistischen Konfrontationen. Das ist das Eigentliche. Wir mussten in den 90er-Jahren beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens die Schattenseite der europäischen Vielfalt erkennen. Ich meine - das habe ich Jürgen Habermas in einem privaten Gespräch gesagt -, dass wir weiter sind als bei der damaligen Debatte über Kerneuropa. Diese Vorstellung ist im Übrigen nicht richtig. Ich kann mich an die Debatte erinnern. Die Idee von Kerneuropa ist im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht und der Einführung des Euro aufgekommen. Sie stand im Zusammenhang mit der Angst, vor allem mit der CSU ein Problem zu bekommen, wenn auch Italien der Eurozone beitritt. Schon damals habe ich euch als Oppositionspolitiker entgegengehalten, dass diese Debatte weder dem deutschen noch dem bayerischen Interesse dient. Wer sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Norditalien und Bayern anschaut, der wird das wissen. Es geht vor allen Dingen nicht, dass wir ein Land, das zum Kern der europäischen Integration gehört, beim Euro außen vor lassen. Das war der entscheidende Punkt. Das war das Spaltungselement. Ich kritisiere das nicht unter dem Gesichtspunkt, dass an der Kerneuropadebatte nicht viel Konstruktives gewesen wäre. Aber sich heute als der große europäische „Integrator“ hinzustellen, das unter den Tisch fallen zu lassen und die Bundesregierung wegen der Entwicklung im Zusammenhang mit dem Irak zu kritisieren zeugt davon, dass man die Geschichte nicht so wahrnimmt, wie sie tatsächlich gewesen ist. ({13}) Ich bin der Meinung, dass eine „Lokomotive“, die nur aus wenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht, nur die zweitbeste Lösung ist. Schauen Sie doch die Realität an. Es war manchmal sinnvoll, Regelungen nur für einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorzusehen. Das Schengener Abkommen war eine wichtige Initiative. Heute ist dieses Abkommen für die meisten Mitgliedstaaten Vertragsbestandteil. Das heißt, der innere Freiraum von Recht und Justiz wird mehr und mehr Realität. Dabei ist es wichtig, dass die Europäische Grundrechte-Charta jetzt in die Verfassung kommt. Wenn europäische Institutionen im Zusammenhang mit der Kriminalitätsbekämpfung Eingriffe in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger vornehmen, dann gebietet es einer der Grundsätze der Demokratie, dass auch die Grundrechte, das heißt der Schutz der Bürgerinnen und Bürger gegenüber quasistaatlichem Handeln, gesichert werden. Genau das wird mit der Aufnahme der Grundrechte-Charta in die Verfassung gewährleistet. ({14}) Darüber hinaus ist diese Verfassung die Konsequenz der Erweiterung. Was wurde uns alles in Sonntagsreden entgegengehalten, wenn wir gesagt haben, dass wir die Erweiterung für historisch unausweichlich halten, dass diese Erweiterung dann allerdings einer Neugestaltung der europäischen Institutionen bedarf, um die erweiterte Union handlungsfähiger zu machen, weil sie zugleich größer und per definitionem mit 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern und 25 und mehr Mitgliedstaaten unübersichtlicher und noch weniger verstehbar wird! Die Europäische Union muss für die Menschen transparenter werden. Das Subsidiaritätsprinzip - das war vor allem Ihr Petitum - wird in der Verfassung verankert und die Wächterrolle der nationalen Parlamente wird festgeschrieben. Sie muss nur noch genutzt werden. Es ist aber auch klar, dass wir die Europäische Union demokratischer machen müssen. Ich erinnere an den gestrigen Vorfall im Europäischen Parlament. Ich hoffe, dass das in einem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und Ministerpräsident Berlusconi unmissverständlich richtig gestellt wird und die Angelegenheit mit einer Entschuldigung abgeschlossen wird. Der gestrige Tag macht auch die Bedeutung Europas und des Europäischen Parlaments klarer. Wir werden bei den Wahlen erleben, dass das erweiterte Europa eine größere Bedeutung bekommt. Für mich war es eine Erfahrung, als ich mit dem polnischen Staatspräsidenten und meinem Kollegen, dem polnischen Außenminister, in der Nähe von Oppeln im Kampf für das Referendum zum ersten Mal in Polen aufgetreten bin. Das war sozusagen ein Wahlkampf, um für das Ja zu Europa zu werben. Das zeigt, wie sich Europa politisiert und demokratisiert und wie Grenzen überschritten werden. Wir haben die Erfahrung innerdeutsch gemacht und machen sie jetzt auf gesamteuropäischer Ebene mit Ländern, die bis vor kurzem durch Mauer und Stacheldraht von uns getrennt waren, heute aber mit uns verbunden sind. Das ist wahrhaft eine historische Entwicklung. ({15}) Der Prozess wird Geduld und ein Aufeinander-Zugehen erfordern. Die alten Mitgliedstaaten haben über Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes Europa „gelernt“ und die Bevölkerungen sind langsam in die Europäische Union hineingewachsen. Wir haben im deutsch-deutschen Einigungsprozess erlebt, dass vieles, was sich im Westen über Jahrzehnte hinweg langsam entwickelt hat, von den Menschen in Ostdeutschland quasi über Nacht übernommen werden musste. Dasselbe gilt im europäischen Einigungsprozess für die Menschen in den Beitrittsländern. Dabei bedarf es Verständnisses und Sensibilität füreinander und auch - wie wir Deutsche im deutsch-deutschen Einigungsprozess gelernt haben - Geduld. Aber letztendlich ist es ein großer Erfolg. Dieses Europa wird auch in der Außenpolitik seinen eigenen Weg finden müssen. Es nützt nichts, wenn wir jedes Mal dasselbe wiederholen. Ohne die USA hätte es keinen europäischen Einigungsprozess gegeben. Gerade wir Deutsche wissen: Wenn die USA in einem sich vereinigenden Europa gewisse Befürchtungen, Ängste und meinetwegen auch Vorurteile ausbalancieren, dann liegt das auch in unserem Interesse. Aber gleichzeitig müssen wir erkennen, dass der europäische Pfeiler der transatlantischen Brücke ohne ein stärkeres Europa langsam mürbe werden würde. Das heißt, nicht „weniger Amerika“, sondern „mehr Europa“ ist die Aufgabe, die wir gemeinsam zu lösen haben. ({16}) - Nach Ihrer Methode wird das nicht funktionieren, Herr Pflüger. Im transatlantischen Bündnis müssen Sie auch kritikfähig bleiben, wenn Sie anderer Meinung sind. Das ist der entscheidende Punkt. ({17}) Sie sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes kein Maßstab für mich, Herr Kollege Pflüger. ({18}) Denn was Sie unter einer kritischen Meinung verstehen, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel. ({19}) - Hören Sie doch auf! Es ist doch so: Von einer bestimmten Stelle erfolgt eine Ansage und dann gibt Friedbert Pflüger Laut. Sie wissen so gut wie ich, dass das die Realität ist. ({20}) Ihre Position wird von der überwiegenden Mehrheit Ihrer Kollegen nicht geteilt; sie sehen es vielmehr genauso kritisch wie ich. ({21}) Es gab zwischen uns einen Dissens beim Thema Irak. Ich betone ausdrücklich: Das war nicht nur eine Frage der Spaltung - die wir alle bedauert haben -, sondern es war eine Herausforderung für uns alle, wie wir uns auf die neuen Gefahren einstellen sollen. Ich meine, dass es für die beiden Positionen eine große Chance bedeutet, wenn sie aufeinander zugehen. Aufeinander zugehen heißt aber nicht, dass sozusagen die eine Seite die Segel streicht und gegenüber der anderen Seite klein beigibt. Was wir in der Europäischen Union mit dem neuen strategischen Papier erreicht haben, zeigt die Richtung, die wir einschlagen müssen. Angesichts der Herausforderungen und Probleme, vor denen wir gerade im erweiterten Nahen Osten stehen, halte ich das für dringend geboten. Voraussetzung dafür ist aber ein Europa, das handlungsfähig und sich einig ist. Das wird unter Demokraten nie ohne Streit zustande kommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie, dass der Kollege Schäuble eine Frage stellt?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, könnten Sie nach Ihren Ausführungen über die Bereitschaft zur Kritik - die wohl auch die Bereitschaft, Kritik zu ertragen, einschließt; aber darauf wollte ich nicht hinaus - noch zu der Art der Reaktion der deutschen und der französischen Regierung auf die polnische Kritik in einer bestimmten Frage Stellung nehmen? ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Kollege Schäuble, bei der Beantwortung dieser Frage würde ich gerne differenzieren. Das wissen Sie auch. ({0}) - Ich will es Ihnen gerne erläutern. - Ich habe damals ausgeführt, dass ich von einer bestimmten Sprache oder auch Art des Umgangs mit Partnern - wen auch immer das betreffen mag - nichts halte. Ich bin vielmehr der Meinung, dass wir aufeinander zugehen und auch das notwendige Verständnis für kritische Positionen - auch wenn es in der Familie einmal etwas konfrontativer zugeht, was in Familien gerade in Sachfragen immer möglich ist - aufbringen müssen und dass dies immer auf Augenhöhe und von Gleich zu Gleich zu geschehen hat. Das war und ist die Haltung der Bundesregierung und das wird auch so bleiben. ({1}) Ich habe hinzugefügt, dass dies von unseren Erfahrungen im deutschen Vereinigungsprozess geprägt ist. Seien wir doch dankbar dafür, ({2}) dass wir einen gemeinsamen Erfahrungsvorlauf haben, den wir auf europäischer Ebene einbringen können. Deswegen möchte ich noch einmal allen, aber besonders unseren polnischen und tschechischen Nachbarn zurufen: Seien Sie uns herzlich willkommen! Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Pflüger, mir ist eine Kurzintervention des Abgeordneten Hintze angekündigt worden.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nicht gesehen, dass sich auch der Kollege Hintze zu einer Kurzintervention gemeldet hat. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gut, dann erteile ich Ihnen als Erstem das Wort zu einer Kurzintervention. Bitte, Herr Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister Fischer hat sich eben zu der Art und Weise geäußert, wie wir mit unseren Freunden in Amerika umgehen. Ich möchte sehr deutlich sagen, dass ich unterschiedliche Meinungen innerhalb der Allianz für das Normalste auf der Welt halte. Wir alle sind der Ansicht, dass es in einem Bündnis freier Länder richtig und notwendig ist, auch Meinungsunterschiede auszutragen. Tun Sie doch nicht so, Herr Bundesminister, als ob dies der Streitpunkt in den letzten sechs Monaten gewesen wäre! Das ist er nie gewesen. Der Streitpunkt ist vielmehr die Art und Weise gewesen, wie die Bundesregierung ihre Position vorgetragen hat, wie Amerika beschimpft worden ist - bis hin zu Vergleichen von Bush mit Cäsar und Hitler - und wie den Amerikanern Abenteurertum unterstellt worden ist. Diese Art und Weise sowie die Tatsache, dass es über Monate hinweg keinen Kontakt zwischen der Bundesregierung und der Führung in Washington gegeben hat, haben wir kritisiert. Herr Bundesminister, Sie haben davon gesprochen, dass Sie mehr Europa haben wollen. Es ist richtig, dass wir mehr Europa brauchen. Aber das Problem ist, dass Europa in den letzten sechs Monaten schwächer und uneiniger geworden ist und dass es gespalten gewesen ist. Diese Politik, die Sie zu verantworten haben, führt in die Irre. Meinungsunterschiede sind in Ordnung. Aber sie müssen auf vernünftige Art und Weise ausgetragen werden. Vor allen Dingen sollte man miteinander und nicht übereinander und auch nicht auf den Marktplätzen reden. Darum ist es uns in den letzten Wochen gegangen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter Hintze, möchten Sie noch eine Kurzintervention machen? - Das ist der Fall. Herr Minister, Sie können dann auf die beiden Kurzinterventionen erwidern. Bitte, Herr Hintze.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Bundesaußenminister hat eben so viel unerfreulichen Diskussionsstoff geliefert, dass man darauf eingehen muss. ({0}) - Doch, das ist wichtig. - Ich finde es bedauerlich, dass die Regierung versucht, ihren Frust über die Probleme im deutsch-amerikanischen Verhältnis am außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion abzureagieren. So können Sie Ihre Fehler nicht wieder gutmachen. ({1}) Der Grund meiner Kurzintervention ist aber ein anderer. Der Bundesaußenminister hat der Opposition mit mächtiger Stimme vorgeworfen, sie wolle anlässlich des Beitritts der zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie dem Mittelmeerraum ein Präjudiz für weitere Beitritte schaffen, und das nur, weil wir in unserem Änderungsantrag auf die verfassungsmäßigen Grundlagen dieser Entscheidung hinweisen. Herr Bundesaußenminister, es geht darum, in einer wichtigen Schicksalsfrage Europas ein Präjudiz zulasten der Rechte des Deutschen Bundestages zu verhindern. ({2}) Deswegen treten wir aufgrund unserer verfassungsmäßigen Überzeugung dafür ein, dass Art. 23 in Verbindung mit Art. 79 des Grundgesetzes die rechtliche Grundlage für Erweiterungen der EU ist. Als überzeugte Europäer - das möchte ich aus politischer Sicht hinzufügen - treten wir dafür ein, die Europäische Union stets so zu erweitern, dass jede Erweiterungsrunde ein politischer und kultureller Gewinn für Europa ist. Die jetzige Erweiterung ist ein solcher Gewinn. Wir werden ihr zustimmen. Das haben wir im Europaausschuss bereits einstimmig getan. Aber wir wollen uns bei jeder neuen Erweiterungsrunde das kritische Urteil darüber vorbehalten, ob das, was Sie uns vorschlagen, Europa tatsächlich gut tut. Das lassen wir uns von niemandem nehmen. Das ist übrigens - damit gehe ich auf eine andere Bemerkung ein - kein Sonderanliegen der CSU, sondern die gemeinsame Überzeugung von CDU und CSU. ({3}) Als Letztes möchte ich darauf hinweisen, dass Sie sich zu meiner positiven Überraschung über die inakzeptable Aussage, die der italienische Ministerpräsident im Europäischen Parlament gestern getätigt hat, maßvoll geäußert haben. Allerdings habe ich heute Morgen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass der Bundeskanzler von diesem Pult aus mit großer Geste eine öffentliche Rüge erteilte. ({4}) - Moment, fangen Sie nicht an zu schreien!

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Hintze, Sie dürfen jetzt keinen Debattenbeitrag mit mehreren Punkten leisten. Die Redezeit von drei Minuten ist abgelaufen.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Ich hätte mir gewünscht, dass der Herr Bundeskanzler von diesem Pult aus eine öffentliche Rüge ausgesprochen hätte, nachdem seine eigene Justizministerin in ähnlicher Weise entgleist war. Danke schön. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Hintze hat sich in diesem Debattenbeitrag ein weiteres Mal als großer Realist - um nicht zu sagen: als großer Realo - gezeigt. ({0}) Herr Hintze, Sie gehen nämlich davon aus, dass Sie weitere Beitrittsrunden - sie werden in den Jahren bis 2010 und danach stattfinden - von der Oppositionsbank aus begleiten. ({1}) Da pflichte ich Ihnen ausdrücklich bei. Kollege Hintze, ich pflichte Ihnen allerdings nicht bei, was die juristischen Begründungen angeht. Die Pflicht der Opposition ist sowohl heute als auch in Zukunft - ({2}) - Das hat mit Arroganz überhaupt nichts zu tun. Ich greife lediglich das auf, was Kollege Hintze gerade gesagt hat. Wenn er meint, dass wir die Erweiterungsrunde im Jahr 2007 noch in dieser Rollenverteilung begleiten, dann stimme ich ihm zu. Ich werde versuchen, alles dazu beizutragen, dass diese Rollenverteilung aufrechterhalten bleibt. Ich würde Ihr Recht, zu bewerten, ob Sie zustimmen können oder nicht, niemals negieren. Im Gegenteil: Das ist nicht nur Ihr Recht, sondern auch Ihre Pflicht. Dass Sie allerdings schon jetzt sozusagen in Umkehrung der Verfassungsrealitäten andere Spielregeln wollen, um am Ende über eine Blockademinderheit zu verfügen, das wird nicht funktionieren können, Kollege Hintze. ({3}) Im Übrigen möchte ich mich nicht am Kollegen Pflüger abreagieren. Meine Meinung ist seit meinem Erlebnis auf der letzten Münchener Sicherheitskonferenz unverändert. Die Höflichkeit gebietet es, das hier so darzustellen, wie es in Wirklichkeit ist. ({4}) - Das hat mich überhaupt nicht getroffen. Mich haben amerikanische Kollegen, aber auch bedeutende Repräsentanten der NATO gefragt, ob das bei uns so üblich sei. Darauf habe ich geantwortet: Leider ja. Mich abzureagieren, habe ich gar nicht nötig. Ich möchte auf Ihren letzten Punkt, Kollege Pflüger, zu sprechen kommen. Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundeskanzlers, dass die Äußerungen von Ministerpräsident Berlusconi inakzeptabel sind und über eine Entschuldigung aus der Welt geschafft werden müssen. Übrigens hat Herr Fini, der stellvertretende Ministerpräsident Italiens, das genauso gesehen. Er hat gesagt, er halte das im Interesse der deutsch-italienischen Beziehungen für eine Selbstverständlichkeit. Jeder von uns hat sich schon einmal vergaloppiert, meinetwegen auch böse. Wenn Sie hier schon Vergleiche ziehen: Ich kann mich an den Gorbatschow-Vergleich erinnern, der völlig daneben war. Später haben sich die beiden Herren zum Nutzen aller sehr gut verstanden. Dieser Vergleich war genauso daneben. In einer Biografie wurde er, wenn ich mich richtig entsinne, im Nachhinein als Fehler qualifiziert. Niemand, der sich für einen Fehler entschuldigt, bricht sich einen Zacken aus der Krone. Wo Menschen sind, da passieren Fehler, manchmal auch schlimme. Das kann man mit einem offenen Wort geraderücken, indem man sich entschuldigt. Das hat der Bundeskanzler gesagt. Dem stimme ich voll zu. Das hat mit Anprangern oder Ähnlichem überhaupt nichts zu tun. ({5}) Auch etwas anderes, was Kollege Pflüger behauptet hat, lasse ich so einfach nicht stehen. Erstens. Dass es zwischen den Führungen monatelang keinen Kontakt gegeben hat, ist - das wissen Sie auch schlechterdings Unfug. Ich stand in permanentem Kontakt mit meinem Kollegen. Sie können natürlich sagen: Der Außenminister, der Secretary of State, der Innenminister und andere gehören nicht zur Führung. Das mag Ihre Perspektive sein. Ich teile sie nicht. Zweitens. Wir hatten einen Streit darüber, ob militärische Mittel angemessen sind. So etwas kommt zwischen Demokratien vor. Das wissen Sie so gut wie ich. Dieser Streit wurde ausgetragen. Ich bin froh, dass wir ihn hinter uns haben. Schließlich, Kollege Pflüger, lassen Sie mich zu Ihrer Behauptung, die Bundesregierung führe uns in die Irre, Folgendes sagen: Darüber, wer hier wen in die Irre führt, müssen und werden Sie gegenwärtig in der CDU diskutieren. Darüber sind wir nicht traurig. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit bei Ihnen, meine Herren aus Polen, die Sie heute hier in dieser ganz wichtigen Debatte zuhören, keine Irritationen entstehen, möchte ich eines ganz deutlich machen: Die FDP-Fraktion ist die Fraktion im Deutschen Bundestag, die nie einen Zweifel daran gelassen hat, dass sie diesen Beitrittsprozess, und zwar beginnend mit dem ersten Beitritt zur Europäischen Union, immer wollte und immer zielstrebig verfolgt hat. Was für viele sehr lange eine Vision war, wird heute Realität - dank liberaler Außenminister. Die FDP hat auch nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Vertrag über den Beitritt in diesem Haus wie ein ganz normaler Ratifizierungsvertrag mit einfacher Mehrheit ratifiziert wird. Wir sind in Kontinuität mit der Regierungspolitik der früheren CDU/CSU-FDP-Koalition. ({0}) 1994, als es um den Beitritt dreier Länder ging, haben wir genau dieselbe Position wie heute vertreten. In diesem Punkt gehören wir eindeutig zur Minderheit in diesem Haus; denn da hat es jetzt bei CDU/CSU und SPD die Rochaden gegeben. Anscheinend spielt auch bei der Bewertung juristischer Fragen eine nicht unwesentliche Rolle, in welcher Verantwortung man in diesem Hause ist. Wir haben an unserer Position nie Zweifel aufkommen lassen und haben diese Position klar, eindeutig, nachvollziehbar und so vertreten, dass keine Irritationen entstehen. ({1}) Wir von der FDP-Fraktion begrüßen herzlich die Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsstaaten, nicht nur die aus Polen, sondern die aus allen zehn Ländern, die am 1. Mai 2004 zur Europäischen Union gehören werden. Natürlich gilt das uneingeschränkt auch für die Tschechische Republik. Wir sind froh darüber, dass die Tschechische Republik zur Europäischen Union gehören wird - gerade mit Blick auf die deutsche Vergangenheit und das Unrecht, das vielen Menschen, Deutschen und Tschechen, widerfahren ist. Gerade deshalb ist es ein entscheidender historischer Schritt. ({2}) Das Bekenntnis der tschechischen Bevölkerung zum EU-Beitritt, die Erklärung des tschechischen Parlaments und des tschechischen Ministerpräsidenten Spidla sind eindeutig ein Schritt hin zu einem neuen Kapitel auch in den Beziehungen der beiden Staaten Bundesrepublik Deutschland und Tschechische Republik. Ich bin davon überzeugt, dass gerade in der Unionsmitgliedschaft von Deutschland und Tschechien eine hervorragende Grundlage dafür liegt, auch immer noch offene und zu debattierende Fragen in gegenseitigem Einvernehmen zu lösen. Aber belasten wir diese gemeinsame Zukunft bitte nicht mit Versprechungen und Entschließungen! ({3}) Jetzt steht die Europäische Union vor der Herausforderung, die Erweiterung auch tatsächlich zu vollziehen, die Chancen zu nutzen und die Risiken, die natürlich ebenfalls vorhanden sind, zu minimieren. Wirtschaftliche Kooperation, besonders in grenzüberschreitenden Regionen, Ausbildungs- und Bildungsoffensiven sowie grenzüberschreitende Verkehrsmaßnahmen haben natürlich hohe Priorität. Aber gerade der italienischen Ratspräsidentschaft kommt in dieser für die Europäische Union, für ihre Integration und für ihren Weiterentwicklungsprozess wichtigen Zeit eine ganz herausragende Bedeutung zu. Gerade jetzt, in dieser Stunde, muss das Vertrauen der neuen Mitgliedstaaten gewonnen werden und muss gegenseitiges Verständnis gestärkt werden, um auf dieser Grundlage Interessengegensätze zu überwinden. Deshalb ist besorgniserregend, dass das Debüt des italienischen Ministerpräsidenten als Ratspräsident im Europäischen Parlament gestern völlig missglückt ist. Gerade jetzt, in dieser Phase, braucht die Europäische Union einen Ratspräsidenten, der überzeugt und den europäischen Verfassungsprozess weiter voranbringt, der integriert und nicht mit seinen Ausfällen im Europäischen Parlament Misstrauen sät. Alles andere birgt die Gefahr in sich, dass die Ratspräsidentschaft mit diesen Belastungen nicht zu dem Erfolg kommt, den wir von diesem Prozess erwarten. ({4}) Das Allermindeste ist doch, dass sich der italienische Ministerpräsident dafür entschuldigt, damit diese Auseinandersetzung nicht die Beratungen in den kommenden Monaten und insbesondere die Regierungskonferenz, die im Herbst beginnt, überlagert. Wir Liberale begrüßen ausdrücklich, dass es jetzt einen ersten Entwurf einer europäischen Verfassung gibt. Er stellt in vielen Bereichen die Weichen richtig und gibt Antworten darauf, wie mit den Herausforderungen im Rahmen der Erweiterung umzugehen ist. Für uns sind beide Prozesse - Erweiterung und Vergrößerung sowie Vertiefung der Europäischen Union - unabdingbar miteinander verbunden. Wir erwarten aber auch, dass auf den noch verbleibenden Konventssitzungen über entscheidende Punkte und noch mögliche Verbesserungen verhandelt wird. In den letzten Beratungsrunden zum dritten Teil geht es nicht nur um technische Fragen, sondern auch darum, in der Ausgestaltung wichtiger Kompetenzfragen klare Regelungen und nicht solche, die nachher zulasten der Mitgliedstaaten ausgelegt werden können, zu treffen. Deshalb wollen wir, dass die Kompetenzen etwa bezüglich der Daseinsvorsorge nicht verlagert werden, dass die Binnenmarktkompetenz eingeschränkt wird sowie in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik über qualifizierte Mehrheiten der Europäischen Union bessere Handlungsmöglichkeiten gegeben werden. Dieser Versuch muss jetzt in den Beratungen, aber möglicherweise auch noch, ohne dass das ganze Paket aufgeschnürt wird, in den Beratungen der Regierungskonferenz unternommen werden. Dass wir in der Europäischen Union eine offene Debatte über die Konzeption ihrer Außenpolitik brauchen, ist ja unstreitig. Das hat ja auch die Diskussion heute Morgen zum Ausdruck gebracht. Wir als FDP wollen ein selbstbewusstes und starkes Europa, das sich nicht allein aus einer schlichten Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten von Amerika bzw. einer schlichten Unterwerfung unter amerikanische Vorstellungen definiert, sondern das seine eigene Außen- und Sicherheitspolitik in Partnerschaft zu unseren amerikanischen Freunden definiert und dadurch Vertrauen aufbaut. Hierfür müssen Mechanismen geschaffen und Verfahrensabläufe festgelegt werden, ({5}) damit nach strittigen Diskussionen über wichtige Einzelfragen ein gemeinsames Handeln der Europäischen Union möglich wird, und zwar ohne dass es durch Irritationen, die nach wie vor nach der emotionalen Auseinandersetzung der letzten Monate um den Irakkrieg bestehen, überlagert wird. Wir also haben klare Vorstellungen von einem starken handlungsfähigen Europa. Die vielen Kulturen und Traditionen sind eine Bereicherung für uns. Wir Liberale sind froh, dass wir wirklich für uns in Anspruch nehmen dürfen, entscheidende Weichenstellungen für die heute anstehenden Entscheidungen mit vorgenommen zu haben. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Prag vor über 20 Jahren, die Charta 77 gerade wenige Jahre alt. Anglicka 8, nahe am Wenzelsplatz - Milan Horacek, der auf der Tribüne sitzt, kennt es -: Anna Sabatova und Petr Uhl wohnen hier, streng bewacht; sie leise und eindringlich, er blickt mich verschmitzt aus den Augenwinkeln an und zitiert Konrad György: Wir leben im unglücklichen Teil Europas, uns geht es um die Freiheit, uns geht es darum, dass wir als Europäer die gleichen Rechte wie ihr als Europäer habt. Auch unser Teil Europas will glücklich werden. - Das haben sie damals zu mir gesagt. ({0}) Um die Freiheit geht es. Prag liegt westlich von Wien. Istvan Szent-Ivanyi aus Budapest zeigt mir im gleichen Jahr, wie die Dissidenz miteinander ringt, um Solidarität und wieder um Freiheit debattiert. Er sagt: Das ist unser Wollen, unser Ziel - Freiheit, so wie bei euch im Westen Europas. Heute ist er liberaler Vorsitzender des Europaausschusses. Er hat gezeigt, was Solidarität in Zeiten der Diktatur heißt. Oder Marju Lauristin, die große estnische Sozialdemokratin. Wer einmal in Tallin war, war vielleicht auch vor dem Parlament und hat auf die wunderbare Altstadt und das weite baltische Meer geblickt. Marju Lauristin hat, die Büste ihres Vaters zeigend, gesagt - das war Mitte der 80er-Jahre -: Er hat Estland in die Diktatur gebracht, ich, Marju Lauristin, will das, was mein Vater getan hat, rückgängig machen; ich will, dass Estland Mitglied der Familie der europäischen Demokratien wird. Ich war erstaunt, überrascht, erfreut. Oder Emmanuelis Zingeris, ehemals Mitglied des Parlaments in Vilnius, heute als Mitglied der jüdischen Gemeinde in Vilnius dafür sorgend, dass das Jerusalem des Ostens niemals verloren geht, die Geschichte des europäischen Judentums, das in Europa eine Klammer bedeutet hat um den Westen, den Osten und die Mitte Europas und das Deutschland damals zerstört hat. Er sagt: Seitdem ist das Wort „Holocaust“ in den Namen meines Landes eingebrannt auf alle Zeit. Oder Jan Józef Lipski aus Polen. Er lebt nicht mehr. Wie würde er sich freuen, wenn er diesen Tag, den 1. Mai 2004, erleben könnte, er, der den demokratischen Sozialismus damals als PPS-Vorsitzender - so nannte man das - im Exil am Leben gehalten hat, nach Polen zurückgebracht hat, sich der Solidarnosc und zuvor der Menschenrechtsbewegung angeschlossen hat. Was für Menschen, was für Männer und Frauen! Sie gehören jetzt zu uns. ({1}) Häufig wird gesagt, die Europäische Union erweitere sich nach Osten. Nein. Jiri Grusa hat es richtig erkannt und beschreibt als Lyriker und Diplomat sensibel und analytisch genau, worauf die meisten hoffen und worüber der Deutsche Bundestag heute entscheiden wird: Der Westen verlängert sich. Alle hinzukommenden Mitglieder wollen Teil des Westens sein. Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität - in der EU haben sie ihren Platz, fest und unverrückbar. Jetzt gilt es, das, was sich die Länder mit der Sehnsucht nach Freiheit erkämpft haben, was sie sich erstritten haben, in der Europäischen Union zu sichern. Wir und alle anderen Mitglieder der Europäischen Union sind dazu bereit, euch den Platz zu geben, gemeinsam mit uns die Zukunft der Europäischen Union zu gestalten! ({2}) Das bleibt, wenn auch manchmal der eine oder andere Punkt ärgerlich ist, wenn auch mit der Brüsseler Technokratie gerungen werden muss - Günter, du verzeihst, dass ich das so sage -: Die Europäische Union ist der Rahmen, in dem diese Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ihren festen Platz gewinnen. Das ist ein ungeheurer qualitativer Sprung in der Geschichte Europas. Das, was jahrhundertelang unsere eigene Geschichte geprägt hat, der unendliche schreckliche Strom der Gewalt, der durch die Zeiten gegangen ist, ist gestoppt. Kollege Pflüger, an diesem Punkt kann es doch keine Frage sein, dass die USA zu Beginn der Wächter gewesen ist, der uns diese Freiheit gesichert hat. Das wissen wir doch. Nur mit den USA kann es gelingen, die Freiheit in der ganzen Welt zu sichern und mitzuhelfen, dass alle Menschen, die es wollen, eine Chance auf Freiheit bekommen. In diesem Punkt gibt es keine Meinungsverschiedenheiten mit den USA. Es wäre merkwürdig, wenn gerade die Sozialdemokratie, die in den 20er-Jahren die einzige Partei in Deutschland gewesen ist, die die innere Verbindung zwischen den USA und Europa aufrechterhalten hat, diese Gemeinsamkeit aufkündigen würde. Wir haben 1925 die Forderung nach Schaffung der Vereinigten Staaten von Gert Weisskirchen ({3}) Europa in unser Programm geschrieben. Wenn in Europa das, was die Sozialdemokratie 1925, also ein paar Jahre vor der Hitler-Diktatur, gefordert hat, durchgesetzt worden wäre, dann hätten wir diesem Kontinent und der ganzen Menschheit viel Leid und Schrecken ersparen können. ({4}) Herr Kollege Schäuble, ich nehme gerne das auf, wovon Sie gesprochen haben: Worin besteht das innere Band, das uns verbindet? Wir Deutsche bringen in die Europäische Union die Erfahrung ein, dass man in die Barbarei und in die Diktatur abstürzen kann. Die Länder, die jetzt dazukommen, bringen die Erfahrung mit, dass diejenigen, die die Freiheit wollen, die Diktatur überwinden können. Diese beiden Grundgedanken werden die Klammer sein, die die Europäer in Ost und West miteinander verbindet. Die Sehnsucht nach Freiheit sowie der Kampf gegen die Diktatur und die Unterdrückung sind das innere Band, das die Europäer im Osten und im Westen miteinander verbindet. Das ist der Schatz der historischen Erfahrung und die gemeinsame Grundlage für das neue Europa. ({5}) Es gibt noch eine zweite gemeinsame Erfahrung; ich bitte alle, sich diesen qualitativen Sprung vor Augen zu führen. In Art. 1 unserer Verfassung steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist die Grundlage für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Unionsbürgerschaft. Ja, die Zeit der klassischen nationalstaatlichen Souveränität, die an das Territorium und die, wie Carl Schmitt es gesagt hat, an den Nomos der Erde gebunden war, ist glücklicherweise vorbei. Aber wir müssen eine neue Souveränität erarbeiten. Jürgen Habermas hat Recht: Diese neue Souveränität ist die des postnationalen Denkens, wodurch die alten Krankheiten des Kontinents, nämlich der Nationalismus, überwunden werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Schluss. Paul Valéry hat einmal gefragt, was aus diesem Europa einmal werden wird; es sei doch eigentlich ein kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents. Nein, dieses Europa ist, was es wird. Die Menschen wollen, dass dieses Europa ein Entwurf für die Zukunft und ein Laboratorium der Moderne wird. Damit können wir ein neues universales Zusammenleben entwickeln, das etwas anderes ist als Globalisierung. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Uhl. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem 1. Mai 2004 werden zehn neue Mitgliedstaaten aus Osteuropa sowie Malta und Zypern der Europäischen Union beitreten. Die CDU/CSU begrüßt die Erweiterung der Europäischen Union. ({0}) Der Osten Europas hat über vier Jahrzehnte lang unter der Sowjetherrschaft gelitten. Jetzt muss endlich politisch stabilisiert werden, was zu uns, nach Europa, heimgeholt wird. Nach einem von Krieg und Spaltung geprägten Jahrhundert können die Völker Europas in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zusammenleben. Die Osterweiterung - hier hat Ministerpräsident Teufel mit seiner Formulierung Recht - ist deshalb vor allem eine Stärkung der europäischen Friedensordnung. Sie ist auch eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Notwendigkeit, zu der es überhaupt keine vernünftige Alternative geben kann. Mit dieser Erweiterung sind aber - das wissen auch Europaeuphoriker - viele Herausforderungen und vor allem viele Verteilungskämpfe verbunden. Bei der Osterweiterung handelt es sich um die größte Erweiterung in der Geschichte der EU; sie hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die deutschen Hoheitsrechte. Deshalb fordern wir, die CDU/CSU-Fraktion, dass der Beitrittsvertrag gemäß Art. 79 Grundgesetz im Bundestag und im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit ratifiziert wird. ({1}) Bereits durch die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Vertrag von Nizza hat Deutschland Hoheitsrechte auf die EU übertragen. Diese Mehrheitsentscheidungen werden jetzt im Beitrittsvertrag rechtsverbindlich festgeschrieben und in einigen Teilen sogar noch geändert. Schon um mögliche Verfahrensfehler bei diesem historischen Schritt der Osterweiterung, den wir alle wollen, zu vermeiden, gilt: Was bei der Nizza-Abstimmung einer Zweidrittelmehrheit bedurfte, muss auch jetzt mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Dies ist der Inhalt unseres Änderungsantrags. ({2}) Eine unserer größten Herausforderungen liegt im Zusammenwachsen Europas, in der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität. Wie schwierig das Zusammenwachsen von lange Getrenntem ist, wissen wir Deutsche aus eigener Erfahrung am allerbesten. Nahe liegt deswegen die besorgte Frage: Wie soll sich ein Europa, das sich schon mit 15 Mitgliedern oft nicht einigen konnte, mit 25 Mitgliedern verständigen können? Vor allem beim Treffen von Nizza wurde das Wiedererstarken nationaler Interessen offenkundig. ({3}) Herr Weisskirchen, mit fortschreitendem Alter müssten Sie auch als glühender Anhänger von Habermas Folgendes erkennen: Die Menschen identifizieren sich zuallererst mit ihrer Heimat und ihrer Nation. Auch wenn es Ihnen Leid tun sollte, so wird es bleiben. ({4}) Deshalb werden die Nationen und die Regionen auch in Zukunft stets die zentralen Elemente einer europäischen Identität bleiben. ({5}) Wir Deutsche wollten das lange Zeit nicht wahrhaben; Sie wollen es noch heute nicht wahrhaben. Wir sahen die europäische Integration als bequemen Ausweg aus unserer deutschen Identitätskrise. Die Bundesrepublik wurde von manchen - Sie haben es kurioserweise heute wiederholt - als „postnationales“ Gebilde empfunden. So sagte es Habermas wörtlich; so hat es Herr Weisskirchen heute wiederholt. ({6}) Psychologen würden dies als eine Ersatzhandlung bezeichnen. Aber es war auch Besserwisserei im Spiel: Die Ursache hierfür liegt im 19. Jahrhundert, als wir Deutsche - Deutschland als verspätete Nation - die Letzten waren, die zum Nationalstaat fanden. Nun wollten wir endlich einmal die Ersten sein, die in Europa ankommen. Diese deutsche Besserwisserei ist hier incidenter im Spiel. Jetzt wundern sich manche Deutsche, warum die europäischen Nachbarn an diesem deutschen Wesen nicht genesen wollten und uns nicht folgen wollen. ({7}) Spätestens jetzt, nach der Wiedervereinigung, muss der Bezug zur eigenen Vergangenheit geklärt werden. Gerade für uns Deutsche heißt dies: Die Reduzierung der eigenen Geschichte auf die NS-Zeit reicht für eine gesunde nationale Identität nicht aus. Eine solche Identität braucht auch positive Erinnerungen. Bei allem kollektiven Schuldbewusstsein muss es auch ein natürliches nationales Selbstbewusstsein der Deutschen geben. ({8}) Nur durch einen ehrlichen Umgang mit der deutschen Geschichte kann eine europäische Identität entstehen. Das gilt nicht nur für uns. Das gilt auch für die Beitrittskandidaten. Wir Deutsche bemühen uns seit langem um Versöhnung und um materiellen Ausgleich für das von deutscher Seite verursachte Leid. Seit der Wende versuchen wir mit viel Engagement die offene sudetendeutsche Frage zu lösen. Wir hätten in den Beitrittsverhandlungen gute Chancen dafür gehabt. Aber es war Bundeskanzler Schröder, der bereits 1999 gegenüber dem tschechischen Ministerpräsidenten gesagt hat - ich zitiere ({9}) „dass wir Deutsche uns nicht mehr mit der Vergangenheit belasten wollen und wir deshalb diese Fragen als abgeschlossen betrachten“. Originalton Schröder! ({10}) Heute erzählt uns Außenminister Fischer, dass diese Frage ein - wörtlich - „offener Prozess des Aufeinanderzugehens“ sei. ({11}) Was gilt jetzt? Ist dies eine von Schröder abgeschlossene Frage oder ein offener Prozess? ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Meckel?

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte jetzt zum Schluss kommen. ({0}) Mit dieser Aussage hat Bundeskanzler Schröder in Wahrheit die Interessen unserer Vertriebenen verraten. ({1}) - Herr Fischer, warum brüllen Sie denn so dazwischen? ({2}) Ich habe Ihnen doch gerade einen Widerspruch aufgezeigt. Sie sagen, es sei ein offener Prozess, und Schröder sagt, es sei ein abgeschlossener Prozess. ({3}) Wer hat denn hier das Sagen, Sie oder Schröder? ({4}) Eine Diskussion über die Struktur und die Grenzen Europas ist jetzt dringender erforderlich denn je. Wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Von einem handlungsfähigen Staatenbund, von einem Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts, von einer Wirtschaftsund Währungsunion wurde gesprochen. Sind das noch unsere Ziele? Das ist die Frage. ({5}) Ein Mehr an Erweiterung bedeutet zwangsläufig ein Weniger an Vertiefung. Wenn wir weitere 80 Millionen Menschen muslimischen Glaubens aufnehmen - Herr Fischer, Sie wollen das ja -, ({6}) wenn wir die EU, so wie Sie es wollen, vom Atlantik bis hinüber nach Georgien, Armenien, den Iran und den Irak überdehnen, ({7}) werden wir kein europäisches Wir-Gefühl erzeugen. ({8}) Wir können die Türkei nicht aufnehmen. Sie, Herr Fischer, sagen, die Aufnahme der Türkei sei ein wesentlicher Baustein im Kampf gegen den Terrorismus. Da gebe ich Ihnen sogar Recht. Aber wenn Sie sagen, die Europäisierung der Türkei könne sich nur durch eine Vollmitgliedschaft in der EU entwickeln, so ist das einfältig und fantasielos, Herr Fischer. ({9}) Mit dieser Position vertreten Sie mehr türkische als deutsche Interessen. Das ist der Punkt. Wo wollen wir Europa enden lassen? Unlängst hat Berlusconi vorgeschlagen, Russland in die EU aufzunehmen. Die Ukraine klopft seit langem an. Bald findet sich ein Fürsprecher für die Maghreb-Staaten. ({10}) Die EU ist eine Wirtschaftsgemeinschaft und auch eine Wertegemeinschaft, aber deswegen noch lange kein Samariterbund. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Trotz dieser nötigen und eher skeptischen Gedanken zur Europäischen Union sollten wir heute, am Tag der Zustimmung zur Osterweiterung, die wir alle begrüßen, die neuen Beitrittsländer, vertreten in diesem Saal durch Polen, herzlich willkommen heißen. ({0}) Deswegen sagen wir: Es muss und wird jetzt zusammenwachsen, was in Europa zusammengehört. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass das, was Sie soeben dargestellt haben, sehr stark dem widerspricht, was wir heute im Zusammenhang mit dem Beitritt von zehn neuen Staaten in gemeinsamem Geist erklären sollten? ({0}) Ihre Wortwahl - Sie reden von einer offenen sudetendeutschen Frage - ist in dem Kontext, dass wir in Deutschland in früheren Zeiten von einer offenen deutschen Frage geredet haben, wirklich ein Skandal. ({1}) Zum anderen möchte ich Ihnen sehr deutlich sagen, dass ich für richtig halte, was der Bundesaußenminister dargestellt hat: Der Umgang mit der Vergangenheit ist ein offener Prozess, dem wir uns gemeinsam stellen. Gerade das, was der tschechische Ministerpräsident vor wenigen Tagen sehr klar und sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat, ist ein großer und mutiger Schritt in diesem Prozess. Er sagte, dass er die moralische Verantwortung anerkennt und auf diesem Wege voranschreiten will. Dies ist gerade auch für die tschechische Gesellschaft wichtig und bringt sie weiter. ({2}) Davon klar unterschieden - übrigens schon in der von Helmut Kohl mitgetragenen Deutsch-Tschechischen Erklärung aus dem Jahre 1997 - ist die Rechtsfrage. Rechtsfragen sind hier nicht mehr offen. Sie müssen abgeschlossen sein. Auch dies hat der tschechische Ministerpräsident in aller Klarheit gesagt: Aus den damaligen Dekreten folgen heute keine neuen Rechtsakte mehr. Ich denke, dies ist eine klare Aussage. Übrigens hat der tschechische Präsident schon im März gesagt, dass er die Vertreibungen aus heutiger Sicht für inakzeptabel und für Unrecht hält. Ihr Parteikollege Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlamentes, hat dies für die vom Europäischen Parlament erwartete Erklärung gehalten. Ich möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, diesen Prozess anzuerkennen und klar zwischen moralischer Verantwortung und Rechtsakten zu unterscheiden? ({3})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Meckel, da Sie den Europaparlamentarier Brok zitieren, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es eine Aufforderung des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1999 gibt, fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 - also die Benes-Dekrete - aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen aus der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen. Das ist die Position des Europäischen Parlaments. ({0}) Hier wird nun moralisch argumentiert. Es wird gesagt, dass hier Unrecht geschehen ist. Da fragen wir uns und vor allem die Vertriebenen sich doch zu Recht, warum aus diesem moralischen Unwerturteil nicht auch die rechtlichen Konsequenzen gezogen werden können. Dazu ist das Parlament der Tschechei bisher nicht bereit. Dies allein fordern wir ein. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS im Bundestag hat die EU-Osterweiterung immer grundsätzlich befürwortet - im Unterschied zur Osterweiterung der NATO, die wir für falsch hielten und weiterhin halten. ({0}) Das Ob der EU-Osterweiterung war daher nicht unsere Frage, wohl aber das Wie: Wie soll der Beitritt neuer EU-Länder vollzogen werden? Wie und wohin soll sich die Union insgesamt entwickeln? Die PDS hat immer dafür geworben, dass die EU eine demokratische Sozialunion mit einer friedensbewahrenden Außen- und Sicherheitspolitik wird. In diesem Sinne hat auch die PDS-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann für die Europäische Linke im Konvent agiert. Der Konvent hat den Entwurf einer EU-Verfassung vorgelegt. Das ist gebührend gefeiert worden. Wichtiger ist meines Erachtens etwas ganz anderes. Deshalb begrüße ich, dass nach der PDS nun auch die FDP-Fraktion Volksabstimmungen über die künftige EU-Verfassung fordert. ({1}) Nur so können Bürgerinnen und Bürger die erweiterte EU erschließen und in ihr von Anfang an mitbestimmen. Wer eine erweiterte EU will, der muss auch für diese werben, nicht nur bei fernen Fototerminen, sondern daheim im Alltag. De facto geschieht allerdings im Moment das Gegenteil. Nehmen wir nur den Metallerstreik der letzten Wochen. Es ging um die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost an die im Westen. Die Botschaft an die Streikenden war: Wenn ihr aufmuckt, dann wandern die Arbeitsplätze weiter gen Ost. So wird die osterweiterte EU als Drohung aufgebaut und nicht als Chance, auch für die ostdeutschen Länder. ({2}) Zu den Ängsten gehört auch die Frage, ob und wie strukturschwache Gebiete in den neuen Bundesländern durch die EU künftig noch gefördert werden; denn allein dadurch, dass die erweiterte EU noch größere Problemregionen kennt, werden die Sorgen zwischen Thüringen und Rügen nicht kleiner. Die Arbeitsminister in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, Harald Wolf und Helmut Holter, haben deshalb ein Innovationsprogramm für die neuen Bundesländer vorgestellt. Es ist ein Diskussionsangebot der PDS, wie die neuen Bundesländer wirtschaftlich gestärkt und sozial stabilisiert werden können, auch und gerade vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Die Reaktion der Bundesregierung darauf: bislang Null. Ich sage: arrogant Null. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun komme ich noch zu dem seit gestern Abend vorliegenden Antrag der CDU/CSU. Er trägt die Überschrift „Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen“. Mit ihm sollen die Sicherheit der Bürger gewahrt und der Schutz vor Kriminalität erhöht werden. So weit, so gut; denn wer in diesem Hause will das nicht? Dann aber kommt das ganze Arsenal der sattsam bekannten bayrischen Instrumente. CDU und CSU wollen den Bundesgrenzschutz hochrüsten und seine Befugnisse ausweiten. Sie verdächtigen noch mehr Menschen ohne Anlass, sie schüren das Misstrauen gegen alle, die nicht deutsch aussehen, sie fordern Sondereinsatzrechte auf Flughäfen und Bahnhöfen und sie wollen noch mehr überwachen, im Inland und EU-weit. Sie streben eine europäische Sicherheitsordnung an, die nach allen bisherigen Regelungen weder demokratisch legitimiert noch parlamentarisch kontrollierbar ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass Sie namens der EU-Osterweiterung Grenzregimes und Zustände fordern, die Sie zu Ostblockzeiten zu Recht scharf kritisiert haben? Die PDS im Bundestag lehnt das jedenfalls, auch aus Erfahrung klug geworden, ab. ({4}) Mein Schlusssatz: Die EU-Osterweiterung naht mit Riesenschritten. Sie darf für die Bürgerinnen und Bürger nicht hereinbrechen oder über sie kommen, sie muss willkommen sein. Dafür gilt es aber, erheblich mehr und anderes zu tun, als bisher, auch durch dieses Parlament, getan wurde. Zugleich darf die EU-Osterweiterung nicht für Interessen missbraucht werden, die einer friedliebenden demokratischen und sozialen EU entgegenwirken. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben noch zwei kürzere Redebeiträge und eine Erklärung zur Abstimmung. Ich bitte Sie, den Lärmpegel ein bisschen zu senken, damit man die Redner verstehen kann. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss aufpassen, wenn man Wörter wie „historisch“ bemüht, aber ich glaube, wir erleben jetzt im Bundestag schon eine besondere Stunde. Endlich - ich glaube, ich kann das für alle hier im Hause betonen - sind wir so weit, dass wir mit frohem Herzen der Erweiterung der Europäischen Union zustimmen können. Ich glaube, das ist wirklich ein historischer Moment. ({0}) Es ist natürlich immer schwierig, einem solchen historischen Moment gerecht zu werden. Ich glaube, der Kollege Gert Weisskirchen hat mit seiner Rede gezeigt, wie man das machen kann. Gert, dir ein herzliches Dankeschön dafür. Das war die Rede eines überzeugten Europäers, aus dem Herzen heraus. Ich finde, solche Reden braucht das Parlament viel öfter. ({1}) Was wir in einer solchen historischen Debatte nicht brauchen, sind rückwärts gewandte Reden. Ich möchte keine parteipolitische Schärfe in die Diskussion hineinbringen, aber dass der Kollege Schäuble in einer solchen historischen Stunde in seiner Rede das Hauptaugenmerk darauf richtet, uns allen zu erklären, was er damals mit Kerneuropa gemeint hat, und dass er der Meinung ist, zum zigstenmal aufwärmen zu müssen, was wir mit den Amerikanern angestellt haben, ist für Sie vielleicht befriedigend, es ist aber nicht das, was wir brauchen: Wir müssen in Europa nach vorne sehen. Sie haben mich mit Ihrer Rede - das sage ich sehr deutlich - enttäuscht. ({2}) Angesichts der Rede des Kollegen Uhl, der über eine gesunde nationale Identität und von einer offenen sudetendeutschen Frage gesprochen hat, muss ich Ihnen sagen: Was wir von der Union bisher in dieser Debatte gehört haben, ist dem Anlass nun wirklich nicht angemessen, den wir hier feiern, nämlich die Erweiterung Europas und die Rückkehr von Staaten nach Europa, die durch den Eisernen Vorhang gegen ihren Willen von Europa getrennt waren. Lassen Sie uns gemeinsam nach vorne sehen. ({3}) An dieser Stelle möchte ich allen Ländern, die nun beitreten, ein ausdrückliches Dankeschön sagen, insbesondere aber den Ländern, die aus dem ehemaligen Ostblock kommen. Sie haben uns in den letzten 13 Jahren vorgemacht, was es heißt, wirkliche Reformen zu bestehen, was es heißt, schmerzliche Einschnitte zu machen, die auch die Bevölkerung treffen, um für Europa fit zu sein. Sie haben die wirkliche Leistung vollbracht. Ihnen schulden wir Dank, dass sie zu uns kommen. ({4}) Lassen Sie mich stellvertretend für die vielen Menschen, die darum gekämpft haben, den Einigungsprozess zu einem guten Ende zu bringen, eine Person herausstellen; bitte sehen Sie mir das nach. Wir haben mit Günter Verheugen einen Kommissar nach Brüssel geschickt, der in wirklich hervorragender Manier diese EU-Erweiterung vorangebracht hat und der mit seiner ihm eigenen Art alles getan hat, um geräuschlos und am Ende mit einem guten Kompromiss die Erweiterung schnell voranzubringen. Das erfüllt mich mit Stolz. Lieber Herr Kommissar Verheugen, ich glaube, ich kann Ihnen auch im Namen des ganzen Bundestages ein herzliches Dankeschön für das sagen, was Sie für Europa getan haben. ({5}) Lassen Sie uns also nach vorne schauen. Lassen Sie uns erkennen, welche große Chance diese erweiterte Europäische Union bietet. Lassen Sie uns überlegen, ob wir nicht auch bei uns etwas ändern müssen. Ein Beitritt bedeutet nicht einfach nur einen Beitritt zu einem bestehenden Gebilde - ich glaube, das hätten wir aus der deutschen Wiedervereinigung lernen müssen -, sondern bedeutet, dass Europa eine neue Qualität bekommt, dass auch wir uns ändern müssen, dass auch wir bereit sein müssen, von unseren neuen Mitbürgern in der Europäischen Union ernsthaft zu lernen und nicht als Schulmeister des alten Westens aufzutreten. Ich glaube, wir können eine Menge von den Beitrittsstaaten lernen. ({6}) Durch die Erweiterung haben wir die große Chance, dafür zu sorgen, dass Europa ein starkes Europa wird. Wenn wir von einem starken Europa sprechen, dann ist diese Formulierung nicht gegen die USA gerichtet, wie man es uns vonseiten der Union immer wieder einreden will. Nein, wer starke transatlantische Beziehungen will, braucht ein starkes und großes Europa. Auch für die transatlantische Partnerschaft ist die EU-Erweiterung ein wichtiger Meilenstein. Es liegt an uns, das sinnvoll zu nutzen. ({7}) Wenn ich davon gesprochen habe, dass wir uns ändern müssen, dann heißt das auch, zu überdenken, wie wir gemeinsam mit den neuen Partnern neue Impulse und neue Schwerpunkte in der neuen Europäischen Union setzen können. Ich bin sehr froh darüber, dass der französische Staatspräsident, der polnische Präsident und der Bundeskanzler in Breslau im Rahmen des Weimarer Dreiecks deutlich gemacht haben, dass Deutschland und Frankreich im neuen Europa die anderen nicht vergessen wollen. Wir wollen gemeinsam mit unseren Partnern Europa gestalten. Deshalb ist die Initiative „Weimarer Dreieck“ eine wichtige und weitsichtige Initiative, die entstanden ist, weil sich Hans-Dietrich Genscher dafür eingesetzt hat. Wir sollten dieses Weimarer Dreieck nutzen, um Europa weiterzubringen. ({8}) Im neuen Europa liegt die Bundesrepublik Deutschland in der Mitte. Sie liegt in der Mitte eines Europas, das die Teilung des Kontinents durch den Kalten Krieg endlich beendet hat. Ich glaube, daraus erwächst die Verantwortung, zusammen mit unseren neuen europäischen Partnern die Zukunft zu gestalten. In diesem Sinne wünsche ich dem neuen Europa: Glück auf! ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Michael Stübgen. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Ratifizierung der Gesetze zum Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern zur Europäischen Union haben wir den Höhepunkt eines 13 Jahre währenden europäischen Prozesses erreicht. Er begann 1990 mit dem Abschluss von Assoziierungsabkommen mit einigen mittel- und osteuropäischen Ländern. 1993 wurden die so genannten Kopenhagener Kriterien, das heißt die Voraussetzungen für den Beitritt weiterer Länder zur Europäischen Union, definiert. Der Europäische Rat von Luxemburg hat 1997 beschlossen, dass mit sechs Kandidatenländern Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. 1999 hat der Europäische Rat in Helsinki beschlossen, mit den sechs weiteren Kandidatenländern Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Im Jahre 2002 wurden die Beitrittsverhandlungen mit zehn Kandidatenländern abgeschlossen. Im nächsten Jahr, 2004, wird es Wahlen zum Europäischen Parlament in 25 europäischen Ländern geben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die Europäische Union in der Lage war, diesen langen Prozess, in dem in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union Regierungen gewechselt haben, erfolgreich abzuschließen, ist ein Reifezeugnis für die Europäische Union. ({0}) Ich sage das insbesondere deshalb, weil sich die Europäische Union in diesem Jahr bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bedauerlicherweise als noch nicht reif genug gezeigt hat. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig zu erwähnen, dass der Abschluss dieses Prozesses auch ein Beispiel für die Solidarität innerhalb der Europäischen Union ist; denn nicht nur Länder wie Deutschland, das aufgrund seiner langen Grenze nach Mittelund Osteuropa geradezu ein existenzielles Interesse an einem Beitrittsprozess hat, haben dieses Projekt unterstützt, sondern auch westeuropäische Länder wie Irland, Frankreich, Spanien und Portugal haben dies getan und unterstützen den Prozess weiterhin. Dies sind Länder, die in ihren Grenzgebieten zum großen Teil ganz andere Probleme haben. In diesem Zusammenhang müssen die enormen Leistungen, die die Kandidatenländer in den letzten Jahren vollbracht haben, ganz besonders erwähnt werden. ({1}) Die Beitrittsländer mussten die schwierigen so genannten Kopenhagener Kriterien erfüllen, den äußerst komplexen und komplizierten Acquis communautaire übernehmen und implementieren und zum Teil drastische Reformen in der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik und der Verwaltung durchführen. Es gab in diesen Ländern Irrungen und Wirrungen. Es gab dort Wahlergebnisse mit erdrutschartigen Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse. Trotzdem haben diese Länder, haben deren Regierungen, deren Politiker, an dem Beitrittsprozess festgehalten. Die Referenden in verschiedenen mittelund osteuropäischen Ländern zum Beitritt zeigen auch deutlich, dass dies keine Politik ausschließlich von Politikern, sondern der Bürger dieser Länder ist. ({2}) Zum vorläufigen Abschluss dieses Beitrittsprozesses möchte ich auf den Europäischen Rat von Thessaloniki am vergangenen Wochenende hinweisen. Mir persönlich - ich glaube, auch der großen Mehrheit dieses Hauses wäre es lieber gewesen, wenn es möglich gewesen wäre, die Beitrittsurkunden von Bulgarien und Rumänien schon heute zu ratifizieren. Aber ich glaube, der Europäische Rat am vergangenen Wochenende hat sehr deutlich gemacht, dass wir alles dafür tun müssen und alles dafür tun werden, dass die Verhandlungen mit den beiden Ländern im Jahre 2004 abgeschlossen werden können und dass diese beiden Länder spätestens im Jahre 2007 Vollmitglieder der Europäischen Union sein werden. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch auf ein Thema zu sprechen kommen, das in dieser Debatte gelegentlich schon eine Rolle gespielt hat. Es geht um die gesetzliche Grundlage, auf der wir dieses Gesetz jetzt verabschieden wollen. Es gibt Dinge, die sich mit unterschiedlichem Vorzeichen wiederholen. 1994, als der Deutsche Bundestag die Beitrittsverträge mit drei EFTA-Staaten ratifiziert hat, hat die SPD als Opposition verlangt, dass diese Ratifizierung mit einer verfassungsändernden Mehrheit erfolgen muss. Die Koalition von CDU/CSU und FDP hat für die einfache Mehrheit votiert. ({4}) Heute schlägt die rot-grüne Bundesregierung vor, dieses Gesetz mit einer einfachen Mehrheit zu verabschieden. Die CDU/CSU ist für eine Abstimmung nach Art. 23 Grundgesetz. Ich selber befinde mich in einer etwas skurrilen Situation, weil ich vor neun Jahren im Bundestag die Position der CDU/CSU vertreten habe, die heute die Position der SPD ist. ({5}) Deshalb will ich Ihnen kurz erläutern, warum ich unserem Antrag zustimme und dies vor neun Jahren wahrscheinlich auch hätte tun sollen. ({6}) - Hören Sie mir zu, dann werden Sie merken, dass ich Recht habe. Erstens. Wir können hier und heute nicht zweifelsfrei feststellen, welche Rechtsgrundlage bei der Verabschiedung dieses Gesetzes zu berücksichtigen ist. Deshalb ist es richtig, den absolut sicheren Weg über Art. 23 des Grundgesetzes zu gehen, auch wenn er möglicherweise nicht zwingend notwendig ist. Zweitens. Da sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat überhaupt keine Gefahr besteht, dass die notwendige Zweidrittelmehrheit für dieses Gesetz nicht zustande kommen wird - das Ergebnis wird noch weit höher ausfallen -, sollten wir es auch auf dieser Grundlage verabschieden. Drittens - das ist für mich der wichtigste Punkt -: Ich denke, dass wir als Deutscher Bundestag mit der Ratifizierung dieses Gesetzes nach Art. 23 Grundgesetz das klare, deutliche, stabile und positive Signal zu unseren europäischen Partnern senden würden, dass wir als Deutscher Bundestag es uns leisten können, solche Gesetze mit verfassungsändernder Mehrheit zu verabschieden, und dass das deutsche Parlament unabhängig von allen innenpolitischen Auseinandersetzungen keinen Zweifel an seiner europäischen Ausrichtung lässt; das galt für gestern, das gilt für heute und das gilt für morgen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt keinen Grund, unserem Antrag nicht zuzustimmen, es gibt aber viele Gründe, unserem Antrag zuzustimmen. Darum bitte ich Sie. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Zur Abstimmung zum Entschließungsantrag der CDU/CSU liegt eine schriftliche Erklärung des Abge- ordneten Singhammer1) vor. Zur namentlichen Abstim- mung liegen schriftliche Erklärungen von den Abgeord- neten Fromme2) und Jüttner3) vor. Frau Kollegin Steinbach möchte eine mündliche Erklärung zur namentlichen Abstimmung abgeben.

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag beschließt heute in einem Gesamtpaket über die Erweiterung der Europäischen Union. Der Beitritt zur Europäischen Union ist für jedes der zehn Länder an Kriterien geknüpft, die zuvor erfüllt sein müssen. Zu diesen Voraussetzungen gehört auch die Beachtung der Menschenrechte. Ich stelle fest, dass nicht alle Beitrittsländer die Menschenrechtsnormen erfüllt haben. Nach wie vor gibt es in vier Ländern Vertreibungs- und Entrechtungsgesetze, deren Auswirkungen bis zum heutigen Tage - es gibt aktuelle Urteile - zu spüren sind. Diese Gesetze widersprechen den Menschenrechten, dem Völkerrecht und den Kriterien von Kopenhagen. Die Europäische Kommission hat in ihren Beitrittsberichten bewusst darüber hinweggesehen. Die Bundesregierung hat dem leider nicht entgegengewirkt, sondern diese Haltung sogar noch gestützt. Das ist fahrlässig. Wer Menschenrechte nicht nur als wohlfeile Vokabel in Sonntagsreden verwendet und ihnen im konkreten Einzelfall dann, wenn es möglich ist, nicht zum Durchbruch verhilft, vergeht sich an den Menschenrechten. ({0}) - Herr Außenminister, halten Sie an sich. - Wohin das führt, haben wir insbesondere am Beispiel der Tschechischen Republik seit Monaten in Ohr und Augen. Ein Mann wie Benes, der die Verantwortung für Mord, Zwangsarbeit und Vertreibung von Millionen Menschen zu verantworten hatte, wird wenige Tage vor dieser Abstimmung zur europäischen Erweiterung, im Jahre 2003, sozusagen zum Volkshelden erklärt. Das ist mir unerträglich. ({1}) Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Es schadet ihr in der Substanz, wenn menschenrechtsfeindliche Gesetze als Morgengabe eingebracht werden und nicht einmal der gute Wille zur Heilung der Wunden erkennbar ist. Das Versagen in dieser Frage liegt zum überwiegenden Teil - das sage ich ausdrücklich - nicht bei den Beitritts- ländern, sondern bei der Europäischen Kommission. Sie 1) Anlage 4 2) Anlage 5 3) Anlage 6 hat die Menschenrechte nicht mit dem nötigen Nachdruck durchgesetzt und dadurch den Eindruck vermittelt, dass alles in bester Ordnung sei. ({2}) Wir brauchen ein versöhntes Europa, in dem die vielen Völker friedvoll miteinander leben können; ({3}) denn unsere europäischen Völker leben bewusst und unbewusst auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament. ({4}) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für unsere Völker sehr eng miteinander verwoben. Europa endet - das wissen wir alle - nicht an Oder, Neiße oder im Bayerischen Wald. Günter Grass und der polnische Journalist Adam Michnik haben in großer Einheit festgestellt, dass historische Versöhnung nicht stattfinden kann, wenn düstere Kapitel der Vergangenheit tabuisiert werden. Aber genau das ist im Beitrittsverfahren geschehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie müssen Ihr Abstimmungsverhalten begründen, keine Rede halten. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, das ist meine Begründung. ({0}) Da wir heute mit nur einem einzigen Votum über alle Beitrittskandidaten, auch über die nicht davon betroffenen Länder beschließen, werde ich der Vorlage mit diesem eben angebrachten Vorbehalt zustimmen. ({1}) Ich danke gleichzeitig der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass sie die Defizite in einem Entschließungsantrag benannt hat. ({2}) Ich schließe die Hoffnung an, dass trotz der Defizite in allen betroffenen Ländern ein wirklicher Heilungsprozess einsetzen möge. Die Menschen unserer Nachbarländer sind mir herzlich willkommen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es liegen noch zwei schriftliche Erklärungen zur Ab- stimmung von den Abgeordneten Götzer1) und Rupprecht2) vor, die wir auch zu Protokoll nehmen. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tsche- chischen Republik, der Republiken Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 15/1300, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Ände- rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU- Fraktion auf Drucksache 15/1358? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung. Es wurde verlangt, über den Gesetzentwurf namentlich abzustimmen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge- sehenen Plätze einzunehmen. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich jetzt die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen und teile mit, dass sich die Abgeordneten Matthias Sehling und Beatrix Philipp3) der Erklärung der Abgeordneten Steinbach angeschlossen haben und dass es persönliche Erklärungen zur Abstimmung von den Abgeordneten Fischer ({0}), Wellenreuther und Bellmann4) gibt. Sie wurden nach der Abstimmung über den Entschließungsantrag der CDU/CSU abgegeben. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das wichtige Ergebnis der namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechi- schen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union bekannt. Abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 575. 1) Anlage 9 2) Anlage 10 3) Anlage 7 4) Anlage 8 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 580; davon ja: 575 nein: 1 enthalten: 4 Ja SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({0}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Karl Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Hans Eichel Marga Elser Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Günter Gloser Uwe Göllner Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({9}) Anke Hartnagel Nina Hauer Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Walter Hoffmann ({11}) Iris Hoffmann ({12}) Frank Hofmann ({13}) Eike Hovermann Klaas Hübner Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h.c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler ({14}) Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({15}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Christoph Matschie Hilde Mattheis Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({16}) Christian Müller ({17}) Gesine Multhaupt Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({18}) Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Florian Pronold Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe René Röspel Karin Roth ({19}) Michael Roth ({20}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({21}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({22}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Horst Schmidbauer ({23}) Ulla Schmidt ({24}) Silvia Schmidt ({25}) Dagmar Schmidt ({26}) Wilhelm Schmidt ({27}) Heinz Schmitt ({28}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gisela Schröter Brigitte Schulte ({29}) Reinhard Schultz ({30}) Swen Schulz ({31}) Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Dr. Peter Struck Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({32}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Reinhard Weis ({33}) Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({34}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({35}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({36}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben ({37}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer Dr. Christoph Zöpel Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({38}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({39}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({40}) Cajus Caesar Manfred Carstens ({41}) ({42}) Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({43}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({44}) Dirk Fischer ({45}) Axel E. Fischer ({46}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({47}) Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Ralf Göbel Tanja Gönner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({48}) Volker Kauder Gerlinde Kaupa Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({49}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({50}) Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({51}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({52}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({53}) Stephan Mayer ({54}) Conny Mayer ({55}) Dr. Martin Mayer ({56}) Wolfgang Meckelburg Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({57}) Doris Meyer ({58}) Maria Michalk Hans Michelbach Klaus Minkel Stefan Müller ({59}) Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Bernd Neumann ({60}) Michaela Noll Claudia Nolte Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Melanie Oßwald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({61}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({62}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({63}) Hartmut Schauerte Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({64}) Andreas Schmidt ({65}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Christian von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({66}) Magdalene Strothmann Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({67}) Gerald Weiß ({68}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Willi Zylajew BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({69}) Volker Beck ({70}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({71}) Katrin Göring-Eckardt Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Thilo Hoppe Fritz Kuhn Undine Kurth ({72}) Markus Kurth Dr. Reinhard Loske Anna Lührmann Jerzy Montag Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Kerstin Müller ({73}) Winfried Nachtwei Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({74}) Christine Scheel Rezzo Schlauch Werner Schulz ({75}) Petra Selg Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Marianne Tritz Hubert Ulrich Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({76}) FDP Daniel Bahr ({77}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Jörg van Essen Ulrike Flach Horst Friedrich ({78}) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({79}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan Christoph Hartmann ({80}) Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({81}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Andreas Pinkwart Marita Sehn Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Claudia Winterstein Fraktionslose Abgeordnete Petra Pau Nein CDU/CSU Wolfgang Zöller Enthalten CDU/CSU Martin Hohmann Dr. Peter Jahr Dr. Egon Jüttner ({82}) Es gab eine Neinstimme und vier Enthaltungen. Der Ge- setzentwurf ist damit angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 15/1300 empfiehlt der Ausschuss für die Angele- genheiten der Europäischen Union, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen, der FDP und der Stimme einer fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen von CDU/CSU ange- nommen worden. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1359. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: 25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Zulassungs- und Prüfungsverfahrens des Wirtschaftsprüfungsexamens ({83}) - Drucksache 15/1241 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({84}) Finanzausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes - Drucksache 15/776 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({85}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Joachim Günther ({86}), Horst Friedrich ({87}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SEDUnrecht ({88}) - Drucksache 15/1235 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({89}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 2a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze - Drucksache 15/1313 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({90}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Undine Kurth ({91}), Dr. Reinhard Loske, Volker Beck ({92}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Reisen ohne Handicap - Für ein barrierefreies Reisen und Naturerleben in unserem Land - Drucksache 15/1306 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({93}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner ({94}), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({95}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung der Armut und der Hungerkrise im südlichen Afrika - Drucksache 15/1307 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({96}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck ({97}), Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der Welternährungssituation und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung - Drucksache 15/1316 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({98}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({99}), Volker Beck ({100}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Naturschutz geht alle an - Akzeptanz und Integration des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stärken - Drucksache 15/1318 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({101}) Sportausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter Forschungsförderung der Europäischen Union unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten - Drucksache 15/1310 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({102}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({103}) und weiterer Abgeordneter Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Stammzellforschung - Drucksache 15/1346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({104}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1235 soll zusätzlich an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 o sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 26 a: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes und eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes - Drucksache 15/1205 ({105}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({106}) - Drucksache 15/1340 Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig Dorothee Mantel Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1340, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zollverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 15/1060 ({107}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({108}) - Drucksache 15/1342 Berichterstattung: Abgeordnete Simone Violka Elke Wülfing Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1342, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich bin mir über das Abstimmungsverhalten nicht ganz im Klaren. Stimmen Sie zu? ({109}) - Wir sind in der zweiten Lesung. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1342, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. ({110}) - Auch Sie stimmen zu. - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen eine Stimme aus der CDU/CSU angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Ich stelle fest, dass der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist. Tagesordnungspunkt 26 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die grenzüberschreitende Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten ({111}) - Drucksache 15/1062 ({112}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({113}) - Drucksache 15/1283 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Ingo Wellenreuther Jerzy Montag Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, Drucksache 15/1283, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 f: Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 27. Juni 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indien über die Auslieferung - Drucksache 15/1073 ({114}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({115}) - Drucksache 15/1285 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Wolfgang Zeitlmann Jerzy Montag Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1285, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({116}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 72/166/EWG, 845/5/EWG und 90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie 2000/26/EG über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung KOM ({117}) 244 endg.; Ratsdok. 9864/02 - Drucksachen 15/103 Nr. 2.34, 15/985 Berichterstattung: Abgeordnete Axel Schäfer ({118}) Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({119}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Clearing und Abrechnung in der Europäischen Union. Die wichtigsten politischen Fragen und künftigen Herausforderungen“ ({120}) ({121}) - Drucksachen 15/611 Nr. 1.7, 15/1169 Berichterstattung: Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Georg Fahrenschon Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 i: Beratung der Beschlussempfehung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({122}) zu der Verordnung der Bundesregierung Dreizehnte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({123}) - Drucksachen 15/1074, 15/1154 Nr. 1, 15/1281 Berichterstattung: Abgeordnete Astrid Klug Marie-Luise Dött Winfried Hermann Birgit Homburger Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/1074 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 j: Beratung der Beschlussempfehung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({124}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Umsetzung EG-rechtlicher Vorschriften, zur Novellierung der Zweiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({125}) und zur Aufhebung der Dreiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes ({126}) - Drucksachen 15/1178, 15/1272 Nr. 2.2, 15/1351 Berichterstattung: Abgeordnete Astrid Klug Marie-Luise Dött Winfried Hermann Birgit Homburger Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/1178 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen worden. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 26 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({127}) Sammelübersicht 45 zu Petitionen - Drucksache 15/1242 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 45 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({128}) Sammelübersicht 46 zu Petitionen - Drucksache 15/1243 4648 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 46 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({129}) Sammelübersicht 47 zu Petitionen - Drucksache 15/1244 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 47 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({130}) Sammelübersicht 48 zu Petitionen - Drucksache 15/1245 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 48 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({131}) Sammelübersicht 49 zu Petitionen - Drucksache 15/1246 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 49 ist wieder einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 3 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({132}) Sammelübersicht 50 zu Petitionen - Drucksache 15/1335 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 50 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 3 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({133}) Sammelübersicht 51 zu Petitionen - Drucksache 15/1336 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 51 ist einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 3 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({134}) Sammelübersicht 52 zu Petitionen - Drucksache 15/1337 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 52 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 3 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({135}) Sammelübersicht 53 zu Petitionen - Drucksache 15/1338 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 53 findet aufseiten der Koalitionsfraktionen Zustimmung und stößt aufseiten der Oppositionsfraktionen CDU/CSU und FDP auf Ablehnung. Zusatzpunkt 3 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({136}) Sammelübersicht 54 zu Petitionen - Drucksache 15/1339 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 54 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Die Punkte sollen gleich anschließend aufgerufen werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft - Drucksachen 15/38, 15/837, 15/1066, 15/1353 Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Beides ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/1353. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Förderung von Kleinunternehmern, zur Eindämmung der Schattenwirtschaft und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung - Drucksachen 15/537, 15/900, 15/1042, 15/1197, 15/1354 Berichterstattung: Abgeordneter Jörg-Otto Spiller Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Das Gleiche gilt auch für die folgende Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/1354? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er-/0900erMehrwertdiensterufnummern - Drucksachen 15/907, 15/1068, 15/1126, 15/1198, 15/1355 Berichterstattung: Abgeordneter Ludwig Stiegler Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. - Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/1355? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. ({137}) - Ich muss mich eben erkundigen. Einen Moment bitte. ({138}) Kommen Sie bitte zum Präsidium! ({139}) - Wir müssen in der Tat noch Abstimmungen durchführen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwicklung der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben ({140}) - Drucksache 15/1181 ({141}) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({142}) - Drucksache 15/1352 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Klaas Hübner Antje Hermenau Jürgen Koppelin Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1352, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. ({143}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? ({144}) Es bestehen Unklarheiten über die Mehrheit, ({145}) demzufolge müssten wir leider einen Hammelsprung durchführen. ({146}) Niemand, auch keiner der Geschäftsführer der Opposition, ist der Meinung, dass dieses ein sinnvoller Anlass für einen Hammelsprung ist. ({147}) Ich werde deshalb jetzt die Abstimmung wiederholen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf? - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. ({148}) Wer stimmt dagegen? ({149}) Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland und weiterer berufsrechtlicher Vorschriften für Rechts- und Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer - Drucksache 15/1072 ({150}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({151}) - Drucksache 15/1284 - Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Strässer Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/1284, den Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - In schöner Einstimmigkeit beenden wir damit die Abstim- mungen. Tagesordnungspunkt 26 e findet einstimmig Zustimmung. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 f auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2003 der Bundesregierung - Drucksache 15/405 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({152}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Birgit Homburger, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Modulation von Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes - Drucksache 15/754 ({153}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des GAK-Gesetzes - Drucksache 15/948 ({154}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({155}) - Drucksache 15/1158 Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Wolff ({156}) Bernhard Schulte-Drüggelte Hans-Michael Goldmann c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({157}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff ({158}), Matthias Weisheit, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Volker Beck ({159}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN EU-Agrarreform mutig angehen und ausgewogen gestalten - zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({160}), Gerda Hasselfeldt, Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik die Landwirtschaft und die ländlichen Räume in der EU stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel HappachKasan, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Marktwirtschaftliches Modell einer flächengebundenen Kulturlandschaftsprämie verwirklichen - Drucksachen 15/462, 15/422, 15/435, 15/1025 Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Wolff ({161}) Friedrich Ostendorff d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({162}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias Weisheit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Friedrich Ostendorff, weiterer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen - zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({163}), Albert Deß, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern - Drucksache 15/550, 15/534, 15/1133 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhold Hemker Peter H. Carstensen ({164}) Hans-Michael Goldmann e) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Agrarpolitische Herausforderungen der WTO und EU-Osterweiterung mit der Kulturlandschaftsprämie meistern - Drucksache 15/1232 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({165}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Impfen statt Töten - Grundlage für den Einsatz von Markerimpfstoffen schaffen - Drucksache 15/1004 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({166}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Zum Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht 2003 liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Frau Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Fachleute wissen, dass ich angesichts des drohenden Hammelsprungs hier auf heißen Kohlen saß, weil ich das Flugzeug bekommen muss, um zum Bauerntag zu kommen, wo ich nicht gänzlich absent sein möchte. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis. Ich habe aber hier eine schöne Aufgabe, nämlich von dem Erfolg in Luxemburg zu berichten. ({0}) - Ich weiß, dass es da wieder Kritik gibt. Jetzt übernehmen Sie aber nicht gleich mit Zwischenrufen den O-Ton des Deutschen Bauernverbandes. Ein Kommissar hat Ihnen doch in dieser Woche in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass Sie sich nicht vor dessen Karren spannen lassen sollen. Überlegen Sie selber! ({1}) Ich will Ihnen dazu einiges sagen. Beim Thema Reformen in Deutschland ist ein interessantes Phänomen zu beobachten: Alle fordern ständig Bewegung, aber wenn es mit den Reformen ernst wird, sagen alle: Wir hätten aber lieber Stillstand. ({2}) Komischerweise ist das in allen Bereichen so - wir kennen das - und komischerweise trifft sich an exakt dieser Stelle die CDU/CSU mit dem Bauernverband. Deshalb hat es mich auch nicht gewundert, als ich hörte, dass Herr Fischler bei der Rüttgers-Veranstaltung in Nordrhein-Westfalen vor einigen Tagen gesagt hat, der Deutsche Bauernverband habe eine Tendenz zu Worst-CaseSzenarien. Jeder tut, was er kann, meine Damen und Herren. Ich meine, dass wir gut beraten sind, eine solche Politik an dieser Stelle nicht zu machen, um nicht die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft zu verspielen - übrigens des Berufsstandes, den Sie angeblich immer verteidigen wollen. Ich glaube, dass man, wenn man will, dass sich der Standort Deutschland weiterentwickelt, anfangen muss, das Richtige zu tun und positiv zu strukturieren. Aber dazu hat der Bundeskanzler heute früh das Notwendige gesagt. Warum brauchen wir eine Agrarreform? Ich will Ihnen ein paar Punkte aufzählen: erstens weil es um die Zukunft der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland geht, die man schlicht und einfach mit Passivität nicht regeln wird; zweitens weil die Verbraucherinnen und Verbraucher Erwartungen an die Landwirtschaft haben, die nicht mit den Erwartungen von vor 50 Jahren identisch sind - sie sind heute klar auf Nachhaltigkeit ausgerichtet -; drittens weil alle Subventionen aus Steuergeldern, die wir zahlen, gesellschaftliche Akzeptanz brauchen - das heißt, dass auch im Agrarbereich alles auf dem Prüfstand steht und neu begründet und legitimiert werden muss -; viertens weil wir wissen, dass ab 2004 die „EU 25“ Realität ist und deshalb die Finanzmittel knapper sind; fünftens weil im September die WTO-Verhandlungen in Cancun anstehen. Ich sage Ihnen ehrlich: Bevor ich alle Wirtschaftsund Finanzminister in den Regelungen des Agrarbereichs herumrühren lasse, strukturieren wir den Bereich lieber selber so, dass wir, auch in Abgrenzung zu den USA, die passiv sind, erhobenen Hauptes nach Cancun gehen können. Genau das haben wir erreicht. ({3}) Man kann nicht über die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft in Europa reden, ohne das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ebenso kann man nicht, auch nicht mit einem christlichen Anspruch, darüber reden, dass die Entwicklungsländer eine Chance haben sollen, ohne sich an Reformen im Agrarbereich zu machen. Was haben wir erreicht? In Luxemburg haben wir den notwendigen Paradigmenwechsel erreicht. Man kann ihn an einigen wenigen Kernpunkten gut darstellen: Erstens. Die Direktzahlungen werden von der Produktion abgekoppelt. Das gibt den Bauern mehr Entscheidungsfreiheit. ({4}) Das ist wichtig; denn nun können sie auf einer bestimmten Basis von Zahlungen, die sie erhalten, sagen: Jetzt überlege ich mir, was am Markt funktioniert und was ich anbauen will. Zweitens. Die Direktzahlungen werden in Zukunft an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvorschriften gebunden. Das ist ein richtiger Schritt, den die Verbraucher und Steuerzahler erwarten, weil es ihr Geld ist, das ausgegeben wird. Drittens. Ab 2005 gibt es die obligatorische Modulation. Ich habe Ihnen vor zweieinhalb Jahren vorhergesagt, dass sie kommen wird. Jetzt ist sie da. Sie stärkt die nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume und ist sozusagen WTO-sicher. Dieses Geld geben wir im Interesse der Steuerzahler aus. Über diesen Punkt werden wir im Zusammenhang mit dem Subventionsabbau nicht diskutieren müssen. ({5}) Wir haben mit der Entkopplung den alten Mechanismus „Je mehr man produziert, desto mehr Steuergelder bekommt man“ durchbrochen. Mit der Modulation haben wir eine ganze Reihe von Möglichkeiten für den ländlichen Raum geschaffen. Die Bauern müssen zwar entsprechende Anträge stellen. Aber das ist der Wille der Steuerzahler. Die Regel ist, dass EU-weit 80 Prozent der Modulationsmittel in dem Mitgliedstaat verbleiben, in dem sie anfallen. Wir haben für Deutschland die Sonderregelung, dass in Deutschland als einzigem Mitgliedstaat 90 Prozent der Modulationsmittel verbleiben. Die 10 Prozent extra können wir ganz gezielt in Roggenanbauregionen investieren, um dort Umstiegsmöglichkeiten und Alternativen zu finanzieren. ({6}) Das heißt, wir können 185 Millionen Euro investieren; das ist mehr, als wir es mit geringen Ausgleichszahlungen im zweistelligen Bereich gekonnt hätten. ({7}) Wir tun Wesentliches für den Natur- und Tierschutz sowie für die Pflege der Kulturlandschaft. Auf unsere Initiative hin hat die Kommission bei der Förderung des ländlichen Raumes einige neue Punkte aufgenommen: der Fördergrundsatz „Tierschutz“, das eigene Kapitel „Lebensmittelqualität“ - wir in Deutschland wissen, dass wir das brauchen - und ein Kapitel zur Förderung höherer Standards im Tier- und Umweltschutz sowie - das ist für mittelständische und Familienbetriebe nicht unwichtig - die Unterstützung lokaler Partnerschaften zur Förderung von integrierten Entwicklungsstrategien. ({8}) Wir alle wissen nämlich, dass man den einzelnen Familienbetrieb nicht sich selbst überlassen darf, sondern dass es Sinn macht, auf regionaler Ebene gemeinsame Strategien zu entwickeln. Wir alle wissen auch, dass das Hauptproblem im Bereich der Milchwirtschaft liegt; denn für die meisten Bauern in Deutschland ist die Milch die Haupteinkommensquelle. Die Milchbauern tun sehr viel für den Erhalt der Kulturlandschaft. Nirgendwo in der Landwirtschaft wird so viel gearbeitet wie in der Milchwirtschaft. ({9}) Deswegen haben wir in Luxemburg hart gekämpft. Herr Deß, auch Sie wissen, wie der Vorschlag des Kommissars aussah. Das Ergebnis der längeren Beratung an der Stelle war: Erstens. Die Quotenregelung wird bis 2015 verlängert. Sie alle wissen, dass noch im Januar/Februar die Mehrheit des Agrarrates gegen diese Verlängerung war. Herr Deß, wenn Sie merken, dass im Juni etwas herauskommt, wovon Sie im Januar nicht zu träumen wagten, könnten Sie ruhig ein freundliches Gesicht machen. ({10}) Zweitens. Die von der Kommission vorgeschlagene Milchquotenerhöhung ab 2007/08, die den Druck auf den Markt noch mehr erhöht hätte, ist erst einmal vom Tisch. Drittens. Wir haben durchgesetzt - Sie haben sich noch nicht einmal getraut, das zu fordern -, dass die bereits in der Agenda 2000 beschlossenen Regelungen zur Milchquotenerhöhung erst einmal verschoben werden. Die Senkung der Interventionspreise fällt deutlich geringer aus, als von Fischler vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, nun tun Sie nicht so, als seien wir das letzte kleine gallische Dorf. Reden Sie nicht immer von Marktwirtschaft, wenn Sie das Gegenteil haben wollen. ({11}) Tun Sie nicht so, als ob Deutschland seine Exportinteressen wahren könnte, wenn beispielsweise der Butterpreis - es gibt 70 000 Tonnen eingelagerte Butter, die der Steuerzahler vom Markt kauft - gestützt wird. Jeder, der nur einen Hauch Ahnung von internationaler Politik hat, weiß doch, dass man diese künstliche Konstruktion - auf der einen Seite Überproduktion und auf der anderen Seite Preisstützung - nicht halten kann. Es kann daher nur langfristig darum gehen, einen Ausgleich zu schaffen und dem einen oder anderen die Möglichkeit zu geben, zu überlegen, was er mit seiner Produktion macht. Deshalb bin ich froh, dass bei der Senkung der Interventionspreise nur 4 Prozent und nicht 10 Prozent, wie Fischler vorgeschlagen hatte, herausgekommen sind und dass wir einen Preisausgleich von 80 Prozent erreicht haben; bei der Agenda 2000 waren es seinerzeit nur 50 Prozent. Ich glaube, dass sich dies sehen lässt. ({12}) Zum Schluss weise ich noch auf einen wichtigen Punkt hin: Wir haben es alle miteinander in der Hand, die Probleme im Milchbereich durch eine Grünlandprämie auszugleichen. Ich fordere Sie dazu auf, an dieser Stelle offen zu diskutieren. ({13}) Eine Grünlandprämie hilft den Landwirten tatsächlich, weil sie in diesen Kulturlandschaften gesellschaftliche Arbeit leisten. ({14}) Der Weg dahin ist mit den Luxemburger Beschlüssen bereitet. Bund und Länder müssen dies gemeinsam umsetzen. Aber hier müssen Sie natürlich den Mut haben, an den Stellen, an denen einige Landwirte sehr viel bekommen, etwas wegzunehmen, damit die Grünlandstandorte von den zu verteilenden Mitteln etwas abbekommen. In Zeiten der Agenda 2010 und von Sparhaushalten in Bund und Ländern wissen alle, dass es nicht mehr Geld gibt und dass wir Gerechtigkeit herstellen müssen. Wer über die Situation der Milchbauern klagt, meine Damen und Herren, muss das Instrument der Grünlandprämie anwenden und dafür sorgen, dass diejenigen, die sehr viel bekommen, ein Stück zugunsten der Milchbauern abgeben. Ich werde Sie daran messen, ob Sie den Mut haben, diese Prämie einzuführen. ({15}) Meine Damen und Herren, wir haben mit den Beschlüssen von Luxemburg viele flexible Regelungen geschaffen, die es uns ermöglichen, mit Blick auf die deutsche Situation zielgenau etwas aufzubauen, was am Ende so effektiv und rational ist, dass es bei den Ländern nicht mehr Verwaltungsarbeit auslöst. ({16}) Ich kann Sie nur auffordern, hier nicht nachzukarten, sondern die Beschlüsse, die es nun einmal gibt, umzusetzen. Hier hoffe ich auf Ihre konstruktive Arbeit. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir bitte eine Vorbemerkung: Peter Harry Carstensen, an dessen Stelle ich hier stehe und der im Moment leider nicht im Saal ist, musste gestern zu einem Check-up ins Krankenhaus. Als er heute wiederkam, sagte er, er habe einen hundertprozentigen Freispruch erhalten. Wir alle sind froh, dass er gesund ist. ({0}) Meine Damen und Herren, bei der Vorbereitung dieser Rede habe ich lange darüber nachgedacht, wie ich sie anlege. Soll ich hier die schonungslose Wahrheit über die derzeitige Agrarpolitik der Bundesregierung vortragen und die Ergebnisse der Brüsseler Agrarbeschlüsse nüchtern erläutern, um damit noch mehr Pessimismus zu verbreiten, als in der Landwirtschaft ohnehin schon vorhanden ist, oder soll ich den Optimismus, den ich persönlich schon immer bevorzuge, in den Vordergrund stellen? Frau Künast, lassen Sie mich Ihnen vorweg eines sagen: Sie bekämpfen den Bauernverband als einen persönlichen Feind. Der Bauernverband besteht aus gewählten Vertretern; er vertritt die Interessen der in Not befindlichen bäuerlichen Familien. ({1}) Diese Interessenvertretung sollten Sie achten und schätzen, nicht aber bekämpfen. ({2}) Meine Damen und Herren, würde hier Pessimismus verbreitet, führte dies zu einem weiteren Investitionsstau in der Agrarwirtschaft, verunsicherte das die Menschen, die in der Ernährungswirtschaft einen Arbeitsplatz haben, und verleidete das den jungen Menschen auf den Bauernhöfen die Lust, die Betriebe ihrer Eltern fortzuführen. Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der Opposition, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Tut man dies, kann daraus durchaus eine Entscheidungsgrundlage erwachsen, die zu einer Erneuerung führt. Die Agrarreform der EU ist ein perspektivloser, bürokratischer Murks, dessen Verfallsdatum in wenigen Jahren schon abgelaufen sein wird. Dieses Datum könnte mit einem Regierungswechsel in Deutschland zusammentreffen, sofern dieser nicht noch vorher eintritt. Damit ist in der Ferne die Morgenröte der Hoffnung sichtbar, dass die Agrar- und Verbraucherpolitik in Europa und Deutschland wieder vorangebracht werden kann. ({3}) Meine Damen und Herren, bis es aber so weit ist, gehen wir durch ein Tal drastischer und dramatischer Einkommensverluste. Wir werden den Verlust Tausender Arbeitsplätze in den vor- und nachgelagerten Bereichen der Agrarwirtschaft zu beklagen haben. Wir werden den Rückgang der Marktanteile von hochwertigen heimischen Lebensmitteln zugunsten von unter ganz anderen Qualitäts- und Tierschutzbedingungen erzeugten, importierten Lebensmitteln bejammern. ({4}) Darüber hinaus werden wir von einem gewaltigen und noch mehr verschärften bürokratischen Gestrüpp gefesselte landwirtschaftliche Unternehmer bedauern müssen. Dafür tragen Sie, Frau Künast, mit Ihrer linksideologischen Politik die volle Verantwortung. ({5}) Ihr Bundeskanzler, der Ihnen diese gesellschaftliche und ideologische Spielwiese überlassen hat, trägt sie ebenfalls. Bevor ich nun die EU-Beschlüsse näher erläutere, möchte ich kurz die dramatische Situation der deutschen Landwirtschaft beleuchten. Laut Agrarbericht der Bundesregierung, den wir heute mit beraten, sank der Gewinn pro landwirtschaftliches Unternehmen im Wirtschaftsjahr 2001/2002 um 6,6 Prozent. Die Schätzung der Bundesregierung für das jetzt abgelaufene Wirtschaftsjahr 2002/2003 ist schon bei einem Minus von 15 Prozent angelangt. Der Gewinn wird aber leider noch mehr sinken. ({6}) - Der Künast-Effekt wirkt derzeit und in Zukunft sogar noch verstärkt. Vor diesem Hintergrund einer frustrierenden Einkommenssituation unserer bäuerlichen Familien müssen wir die gestern im Kabinett beschlossenen Sonderlasten für die deutschen Bauern scharf verurteilen. Die Einnahmen aus der Mineralölsteuer für Agrardiesel sollen um 157 Millionen Euro erhöht werden. Sie wissen, dass unsere Kollegen in Frankreich je Liter Diesel nur 5,5 Cent Steuern und die Dänen sogar nur 3,2 Cent zahlen. Wir zahlen schon heute 25,6 Cent Steuern auf die Prozessenergie von Sondermaschinen, die auf dem Acker eingesetzt werden. Dies ist keine Benutzung von öffentlichen Verkehrswegen, womit diese Steuer einmal gerechtfertigt wurde. Das wird jetzt noch einmal verschärft und das bekämpfen wir entschieden. ({7}) Ein Zweites ist gestern beschlossen worden: die Zuschüsse für die landwirtschaftlichen Krankenversicherungen um 20 Prozent, um 243 Millionen Euro, zu kürzen. ({8}) Wissen Sie eigentlich, was Sie da getan haben? Diese Zuschüsse hatten einmal den Sinn, den hohen Anteil an älteren Menschen, die in landwirtschaftlichen Versicherungen versichert sind, abzufedern. Wenn dies so umgesetzt wird, dann werden wir in einigen regionalen Krankenversicherungen - speziell in Rheinland-Pfalz Beitragserhöhungen von bis zu 51 Prozent haben. Das bedeutet das Aus für diese Versicherungsform, eine Versicherungsform, die die Möglichkeit geschaffen hat, auf Besonderheiten in der Landwirtschaft einzugehen. Ich sage Ihnen ganz offen: Das ist eine unanständige Politik. ({9}) Ich frage ganz besonders die sozialdemokratischen Kollegen, ob sie das noch mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Das sind Sonderlasten, die keine andere gesellschaftliche Gruppe zu tragen hat, und Sie packen immer noch drauf. Diese Meldungen erreichen die Bauernfamilien vor dem Hintergrund, dass die Einkommen in den letzten Jahren, wie schon geschildert, zurückgegangen sind, sie im laufenden Wirtschaftsjahr ebenfalls rückläufig sind und die Ernteaussichten in diesem Jahr - allerdings witterungsbedingt - nicht die besten sind. Gesteigert wird diese Stimmungslage der Bauern auch nicht durch Ihr Frohlocken, Frau Künast, über die EU-Agrarreform, die weitere Einkommensrückgänge in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zur Folge haben wird. Verständlich, dass sich auf den Höfen Resignation und Verzweiflung ausbreiten! Damit komme ich zur Agrarreform, die Sie letzte Woche mit beschlossen haben. Anstatt die ursprünglich bis zum Ende des Jahres 2006 laufende Agenda 2000 fortzuführen und sie als Verhandlungsgrundlage der EU heranzuziehen, haben Sie sich in Brüssel über den Tisch ziehen lassen. Es ist ein Tor, wer glaubt, dass solche Erklärungen des Verzichts auf Marktanteile und letztlich auf Arbeitsplätze bei den WTO-Verhandlungen honoriert würden. Im Gegenteil: Es wird sicher draufgesattelt. So werden wir schon kurze Zeit nach der WTO-Runde eine neue Agrarreform beschließen müssen. Wie sollen die Menschen planen, wenn sie sich bei der Agenda 2000 schon vor Ablauf der Hälfte der Zeit auf neue Daten einstellen müssen? So behaupte ich, dass auch die neue Agrarreform wenig Planungssicherheit bieten wird. Frau Künast, eines muss man Ihnen lassen - das gilt auch für den hoffentlich im nächsten Jahr ausscheidenden Agrarkommissar Fischler -: Sie haben es geschafft, die Reform so kompliziert zu machen, dass es kaum möglich ist, einem Bürger, der nicht mit Spezialwissen ausgestattet ist, diese plausibel zu erläutern. ({10}) - Ich werde Ihnen gleich erklären, welche Position wir haben. Die genannten Ziele sind noch zu akzeptieren: mehr Tierschutz, mehr Landschaftspflege, von mir aus auch mehr ökologisch ausgerichteter Landbau. Das alles ist durchaus anerkennenswert. Aber die Realität ist genau das Gegenteil. Ich frage Sie: Glaubt jemand, dass die Absenkung des Milchpreises um circa 25 Prozent auf Weltmarktniveau - das sind etwa 20 Cent pro Liter - die Milchqualität steigert oder einen mit höheren Kosten verbundenen Tierschutz ermöglicht? Glaubt jemand, dass Milcherzeuger statt eines kostendeckenden Milchpreises lieber einen Teilausgleich für Preisrückgänge vom Steuerzahler haben wollen? Glaubt jemand, dass eine nicht mehr an die Nahrungsmittelproduktion gekoppelte Flächenprämie mehr Landschaftspflege bedeutet? Glaubt jemand, dass ein nicht mehr durchschaubares Prämiensystem mit teilentkoppelter, regional unterschiedlicher, an 18 EU-Auflagen gebundener, eventuell von einer Zwangsberatung abhängiger und einer Modulation - also einer Umverteilung - unterworfener Ausgleichszahlung dem Steuerzahler oder den Landwirten noch vermittelbar ist? Glaubt jemand, dass das Verkaufen oder das Verpachten von Prämienrechten und die damit verbundene Schaffung eines neuen Berufsbildes - Hängemattenlandwirt - auch nur von einem Bürger verstanden werden? Glaubt jemand, dass ein Flickenteppich von mit unterschiedlichen Prämienrechten versehenen Flächen, das Ganze womöglich noch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, administrativ noch zu „handeln“ ist? Glaubt jemand, dass die drastischen Erzeugerpreissenkungen in Form von niedrigen Brot-, Milch- oder Fleischpreisen je einen Verbraucher erreichen? Glaubt jemand, dass Sie, Frau Künast, die von Brüssel erlaubte Umverteilung von 10 Prozent der Direktzahlungen - immerhin über 500 Millionen Euro - für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft einsetzen werden? ({11}) Alle diese Fragen werden wir leider mit Nein beantworten müssen. ({12}) Damit ist diese Reform im Ergebnis geschildert. Sie haben sich in Brüssel über den Tisch ziehen lassen. ({13}) Dies geschah, weil Sie ohne Vision dorthin gegangen sind und keine eigenen Vorstellungen in die Verhandlungen eingebracht haben. ({14}) Das war die Grundlage. Sie haben vorher keine Entwürfe gefertigt und mussten sich so mit dem zufrieden geben, was Ihnen angeboten wurde. Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben Ihnen klare Positionen entgegengestellt. In unserem Husumer Papier haben wir die richtigen Weichenstellungen für eine langfristige Reform skizziert. ({15}) Sie können sie gern übernehmen. Damit würden Sie bei den Bauern auf Verständnis stoßen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin. Wir wollen, dass auch bei den WTO-Verhandlungen die flächendeckende, multifunktionale Landwirtschaft in Europa durchgesetzt wird. Wir wollen, dass die Bäuerinnen und Bauern, die in Verantwortung vor den Verbrauchern, den Tieren und der Natur als unabhängige Unternehmer handeln, von ihrer Arbeit leben können. Damit komme ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück. Tun wir alles, damit die Laufzeit dieser Agrarreform möglichst kurz ist und diese Regierung möglichst schnell ihr Ende findet. Dann haben wir wieder Platz für Hoffnung in den Köpfen der Menschen geschaffen. Ich bedanke mich. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herrn Blesers Rede kann ich kurz wie folgt Waltraud Wolff ({0}) zusammenfassen: Subventionsabbau ja, aber nicht bei uns! Ich möchte meiner Rede ein ganz herzliches Dankeschön an Sie, Frau Bundesministerin Künast, voranstellen. ({1}) Denn bei den Agrarverhandlungen haben Sie nicht zuletzt durch Ihr ausgezeichnetes Verhandlungsgeschick einen für Deutschland wirklich guten Kompromiss erzielt. ({2}) Keiner der Fachpolitiker, selbst die CDU-Kollegen nicht, hätte ein solches Ergebnis erwartet. Sie waren am Anfang sogar sprachlos. ({3}) Die sehr unterschiedlich strukturierte Landwirtschaft in Deutschland ist wirklich nicht leicht zu vertreten und gerade deshalb ist das Ergebnis im Sinne dieser Vielfalt ein großer Erfolg. Ich beglückwünsche Sie dazu. ({4}) Ich möchte gern auf Peter Bleser eingehen, der gesagt hat: Frau Künast allein trägt die Verantwortung. - Ich denke, der deutsche Bundeskanzler, Frau Künast und auch der französische Staatschef sowie der französische Landwirtschaftsminister tragen hier Verantwortung, nämlich die Verantwortung für eine gemeinsame europäische Zukunft. Das ist ein sehr wichtiger Punkt; ich denke dabei auch an die heutige Debatte über die EUOsterweiterung. ({5}) Deutschland und Frankreich haben hier gezeigt, wie europäische Zukunft gemeinsam gestaltet werden kann. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU hat bewiesen, dass sie reformfähig ist, obwohl ich während der drei Verhandlungswochen wirklich oft an eine Papstwahl erinnert wurde und mich immerzu gefragt habe: Wann endlich steigt der weiße Rauch auf? ({7}) Nun endlich ist es vollbracht. Die neue Ausrichtung ist gekennzeichnet durch die starke Entkopplung - wir haben das eben schon von der Bundesministerin gehört -, durch die Stärkung der ländlichen Räume und durch die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvorschriften. Für die WTO-Verhandlungen im September sind wir auf diese Art und Weise sehr gut aufgestellt. Die EU befindet sich in der Offensive. Das ist eine ungeheure Stärkung unserer gemeinsamen Position, gerade auch gegenüber den USA. Denn der Abbau von direkten Preisstützungssystemen war neben der Exporterstattung und neben dem Abbau der Zölle ein wesentlicher Forderungspunkt der letzten WTO-Ministerratstagung im Jahre 2001. Andere Länder sind noch lange nicht so weit, wie wir in der EU jetzt sind. ({8}) Über den finanziellen Rahmen hinaus wurde nun die Marschrichtung für zehn Jahre festgelegt. Peter Harry Carstensen, dass du so krank gewesen bist, tut mir Leid. Aber ich würde sagen: Halte dich jetzt einfach mal zurück. ({9}) Der Deutsche Bauernverband kritisiert die EU-Agrarreform als Flickschusterei. Ich finde diese Kritik schon sehr erstaunlich, ({10}) denn allen Mitgliedstaaten - das wissen wir, das haben wir auch vorhin noch einmal von der Ministerin gehört ist ein gewisser Teil an Selbstbestimmung geblieben. Ein Beispiel dafür ist die Möglichkeit der freien Entscheidung für eine Betriebsprämie ({11}) oder für eine Angleichung von Ackerbau- und Grünlandprämien. Das ist doch im Sinne der Landwirtschaft. Wir müssen endlich lernen, europäisch zu denken. ({12}) Interessen fallen aufgrund unterschiedlicher regionaler Gegebenheiten - ich erinnere nur an das Klima - nun einmal unterschiedlich aus. Wir können das auch positiv gestalten, wenn wir nur wollen; denn alle Länder haben die Möglichkeit, die für sie günstigsten Lösungen zu finden. Genau aus diesem Grund finde ich die harsche Kritik des DBV einfach nicht berechtigt, ({13}) auch vor dem Hintergrund, dass Deutschland aufgrund der wegfallenden Roggenintervention als einziges Land 90 Prozent der modulierten Mittel behalten darf, während die anderen Länder nur 80 Prozent der Mittel zur Auszahlung für die ländlichen Räume erhalten. ({14}) An dieser Stelle möchte ich auch auf die Bundesratsinitiative, auf den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des GAK-Gesetzes, eingehen. Wir wollen möglichst rasch die EU-weite Modulation erlangen, aber wir unterstützen nicht die auch mit diesem Entwurf gestützte Gangart der CDU/CSU und der FDP, die besagt, dass nichts verändert werden soll. Das ist nicht die richtige Lösung und wir haben dafür auch in Brüssel die rote Karte bekommen. ({15}) Die Aufhebung der nationalen Modulation ist falsch und wir lehnen diesen Gesetzentwurf deshalb strikt ab. Im Gegensatz dazu wird die nationale Modulation in der europäischen aufgehen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, Sie schreiben in Ihrem Entschließungsantrag - der Kollege Peter Bleser hat das vorhin auch noch einmal benannt -, ({16}) die anhaltende mangelnde Investitionstätigkeit sei besorgniserregend. Erstens sagt der Agrarbericht 2003 etwas anderes aus. Wenn Sie ihn gelesen haben, werden Sie festgestellt haben, dass die Höhe der Nettoinvestitionen im Vergleich zum Vorjahr um circa 1,4 Prozent gestiegen ist. ({17}) Zweitens haben viele Betriebe die Halbzeitbewertung der EU abgewartet; denn diese Regelungen sind für die Entwicklung logischerweise entscheidend. Die Landwirtschaft wird in Zukunft nur noch dann Akzeptanz in der Bevölkerung erhalten, wenn sie vermehrt umweltund tiergerechte Verfahren einsetzt. ({18}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaftsministerinnen und Landwirtschaftsminister der Bundesländer sind nun an der Reihe, hier aktiv mitzuarbeiten. Frau Künast hat für die nächste Woche eingeladen. Ich kann mir vorstellen, dass es möglich ist, gemeinsam an zukunftsorientierten Maßnahmen zu arbeiten, über Ländergrenzen und - wie ich mir wünsche - über Parteigrenzen hinweg, für unsere Bauern und für unsere ländlichen Räume. Auch wenn es die Opposition in diesem Hause nicht wahrhaben will: Die Neuausrichtung der EU-Agrarpolitik bestätigt den Kurs der Bundesregierung. Sie müssen akzeptieren, dass die Weichenstellung, die wir nach dem Auftreten von BSE vorgenommen haben, richtig war. ({19}) In der Rede von Peter Bleser wurde deutlich, dass Sie die Neuausrichtung der Agrarpolitik anscheinend emotional noch zu bewältigen haben. Kommen Sie damit endlich zum Ende und versuchen Sie, aus der Opposition heraus mitzugestalten! Denn es gilt der alte Spruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Danke schön. ({20})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Sie gilt Frau Künast, die schon auf dem Weg nach Freiburg ist, was ich sehr bedauere. Ich hätte mir gewünscht, dass sie uns im Plenum zuhört. ({0}) Sie hat nämlich behauptet, dass wir immer Bewegung fordern würden, dass wir aber, wenn es ernst wird, lieber Stillstand hätten. Es hätte ihr gut getan, einem FDP-Redner zuzuhören; denn dann hätte sie gemerkt, dass das genau nicht unsere Position ist. Im Gegenteil, lieber Kollege Bleser: Ich meine, dass auf europäischer Ebene im Hinblick auf unternehmerische Marktwirtschaft und unternehmerische Landwirtschaft von Frau Künast eine große Chance verspielt worden ist und dass wir in Zukunft bitter darunter leiden werden. Wir Liberale wollen eine Agrarpolitik, die all das zum Ziel hat, was sich eigentlich jeder wünscht: gute Qualität, artgerechte Haltungsformen und natürlich höchsten Verbraucherschutz. Vor allen Dingen aber wollen wir uns sichtbar vor die Bauern stellen, die gerade in der jetzigen Zeit, in der es um Subventionskürzungen und Haushaltskürzungen geht, zum Teil äußerst ungerechtfertigten Angriffen ausgesetzt sind. ({1}) Es ist fachlich nicht begründet und es macht wirklich keinen Spaß, wenn zum Beispiel Sabine Christiansen eine Abenddiskussion damit eröffnet, gerade bei den Subventionen für die Bauern könne besonders viel gekürzt werden, und meint, man könne das auf nationaler Ebene machen. Wer sich damit nie beschäftigt hat, der weiß nicht, dass wir seit langem auf dem Weg zu einer europäischen Agrarpolitik sind. Für mich bleibt eine europäische Agrarpolitik die Voraussetzung für eine globale Agrarpolitik. Eine solche globale Agrarpolitik brauchen wir, wenn wir bei den WTO-Verhandlungen bestehen wollen. ({2}) Den deutschen Bauern geht es nicht gut, wie der Ernährungsbericht belegt. Aber die deutschen Bauern verfügen wie der Landwirtschaftsbereich insgesamt über ein hohes Maß an Wissen und Können, sodass es mir um die Zukunft nicht bange sein müsste, wenn man ihnen nicht dauernd Knüppel zwischen die Beine werfen würde ({3}) und wenn man endlich der Idee folgen würde, die wir Liberale seit langem vertreten, nämlich weg von der Produktsubvention hin zur Zuwendung in die Fläche zu kommen. Die von uns vorgeschlagene Kulturlandschaftsprämie ist die kluge Antwort auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Sie hat einen riesengroßen Vorteil: Sie ist unbürokratisch und bewirkt - bei erheblicher Einsparung im System -, dass das Einkommen des Bauern über die gut bewirtschaftete Fläche um das Doppelte erhöht wird. Das wäre der Weg gewesen, den wir hätten gehen sollen. Die FDP zieht seit Jahren unter Günther Bredehorn, unter Uli Heinrich und den anderen Mitstreitern eine glasklare agrarpolitische Linie. Wir brauchen mehr Marktorientierung und - ich sage das hier noch einmal wir brauchen die entschiedene, unbürokratische, volle Entkopplung. ({4}) - Nein, nein, Peter Harry; ich will dich ja gesundheitlich schonen. Auf euer Programm komme ich gleich noch zu sprechen. Jetzt möchte ich erst einmal etwas zu den Sozialdemokraten und den Grünen sagen. Sie betreiben meiner Meinung nach an vielen Stellen eine ideologische Politik gegen die Bauern. ({5}) Sie diskriminieren die Bauern. Sie setzen europäische Vorgaben nicht im Verhältnis von 1 : 1 in nationales Recht um - das machen Sie übrigens nicht nur in der Agrarwirtschaft, sondern im gesamten grünen Bereich und vermindern so die enormen Chancen des grünen Bereichs im Hinblick auf volkswirtschaftliches Wohlergehen, Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze und Investitionen. ({6}) Sie sollten das schlicht und ergreifend lassen. Das macht überhaupt keinen Sinn. Das bringt uns gegenüber den Nachbarn im Westen wie den Gartenbaubetrieben in den Niederlanden ins Hintertreffen und wird uns auch gegenüber den Nachbarn im Osten, die wir Gott sei Dank haben, den Polen, ins Hintertreffen bringen. Wir wollen die Probleme ja gemeinsam lösen. Im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sind wir uns häufig viel näher, als es beim Kommentieren von Ergebnissen, möglicherweise auch manchmal in der Presse, hinterher dargestellt wird. Auch beim Tierarzneimittelgesetz - das möchte ich ganz klar sagen - wollen wir eine gemeinsame Lösung. Lassen Sie mich jetzt zurückkommen auf die genannte blitzsaubere agrarpolitische Linie. Lieber Peter Harry Carstensen, lieber wirklich sehr geschätzter Albert Deß, lieber Herr Bleser, hier gibt es einen riesigen Konflikt in eurer Fraktion. Schaut mal, wer eure WTO-Anträge unterschreibt ({7}) und was die zum Inhalt haben! Die Botschaft ist - das muss man sich einmal vorstellen -, dass die WTO-Gespräche sozusagen auf der Basis der Vereinbarungen, die jetzt auf europäischer Ebene getroffen worden ist, fortgeschrieben werden sollen. ({8}) Ich sage euch: Eure WTO-Anträge sind richtiger als eure Agraranträge. Lieber Albert - ich sage das auch vor dem Hintergrund der Wahlen in Bayern -, wer glaubt, dass man mit Schutzzöllen, mit einer nationalen Quote den globalen Herausforderungen am Agrarmarkt wird begegnen können, der liegt falsch. Ich bin dafür, dass man den Bauern die Wahrheit sagt. Unternehmerische Bauern, tüchtige Bauern werden in einem globalen Wettbewerb bestehen. Aber es macht keinen Sinn, einen Schutzzoll hochzuziehen in einer Situation, in der Produkte aus der weiten Welt weit unter den Schutzzollpreisen in unseren Markt hineinkommen können. Das ist keine zukunftsorientierte Agrarpolitik. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, klar.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Goldmann, eigentlich wollte ich Ihnen ja nicht noch zusätzliche Redezeit verschaffen. Aber ich möchte Sie doch Folgendes fragen: Sind Sie bereit, in unser Husumer Papier zu schauen? Dann würden Sie nämlich feststellen, dass es gewaltige Parallelen gibt. In Ihrem Antrag treten Sie für eine „Kulturlandschaftsprämie“ ein; in unserem Papier finden sich Maßnahmen für eine Entkopplung, um in einem sehr einfachen Verfahren der Finanzierung dafür zu sorgen, dass der Bauer, der zum Beispiel am 1. Juli den Antrag stellt, am 7. Juli sein Geld bekommen kann. Sind Sie also bereit, sich das einmal anzuschauen, damit Ihnen bei einigen Dingen die Parallele deutlich wird, und sind Sie auch Peter H. Carstensen ({0}) bereit, dies bei Ihrem Vergleich mit dem für mich in der Tat nicht leicht verständlichen Beschluss, den die Europäische Union uns jetzt auf den Tisch gelegt hat, zu berücksichtigen?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin zu jeder Form der fachlichen Zusammenarbeit mit Christdemokraten bereit. Diese Bereitschaft brauche ich nicht mehr zum Ausdruck zu bringen. Ich habe das Papier bereits gelesen. ({0}) - Peter Harry Carstensen, ich glaube, Sie waren gestern gesundheitlich geschädigt. Entweder sind wir jetzt bereit, uns verstehen zu wollen, oder wir lassen es bleiben. ({1}) Ich habe das Papier gelesen und bilde mir auch ein, es verstanden zu haben. Ich meine, dass es in der CDUSprache so simpel ist, dass mir das auch wirklich geglückt ist. Wir werden die Diskussion miteinander fortsetzen. Dann werden Sie zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Kulturlandschaftsprämie, unsere Flächenprämie wesentlich unbürokratischer, wesentlich effektiver ist als jede Form von Teilentkopplung, die in Ihrer Grünlandprämie zum Ausdruck kommt. ({2}) Lieber Peter Harry Carstensen, ich könnte auch zurückfragen: Sind Sie bereit, den Antrag, den Sie hier stellen, mit den Anträgen zu vergleichen, die Sie bei der WTO-Debatte heute Abend stellen werden, und kommen Sie vielleicht dann nicht selbst ins Grübeln, weil Sie feststellen, dass einige Ihrer agrarpolitischen Ausführungen sehr oberflächlich sind? ({3}) Lassen Sie mich noch einmal auf den Kern der Geschichte zurückkommen - das ist mir wichtig -: Wir sind für eine schnelle, zielorientierte und unbürokratische Entkopplung. In der Tat gibt es auch mit den europäischen Beschlüssen kleine Trippelschritte hin zu einer Entkopplung. Teilweise gibt es eine Flächenprämie, es gibt aber auch noch jede Menge Betriebsprämien. Im Grunde genommen gibt es von allem ein bisschen - aber nicht den großen Wurf. Das, was vorhin hier ausgeführt worden ist, ist völlig richtig: Wir werden ein bürokratisches Gebilde erhalten, das sehr hohe Kosten verursachen und dazu führen wird, dass doch wieder viel zu wenig Geld bei den wirklich Betroffenen ankommt. Ich bin für eine europäische Agrarpolitik und sehe größte Probleme darin, dass man jetzt sozusagen regionale Lösungen finden kann. Als Beispiel nenne ich das Grenzgebiet in meiner Heimatregion. Fünf Kilometer von uns entfernt, bei den Niederländern, wird es ein anderes Modell geben als bei uns in Niedersachsen. In Niedersachsen wird es möglicherweise wieder ein anderes Modell geben als in Nordrhein-Westfalen. Es kommt zur Regionalisierung und zu einem erhöhten bürokratischen Aufwand. In diesem Punkt ist das, was auf europäischer Ebene vereinbart worden ist, schlicht und ergreifend schlecht. Liebe Freunde, ich sage das unter uns Agrarpolitikern: Wir waren doch schon viel weiter. Als Herr Fischler im Ausschuss war, hatten wir wirklich die Hoffnung, dass es zu einer substanziellen Entkopplung, zu einer Vereinfachung im System und zu einer Weichenstellung in Richtung eines Wettbewerbs im europäischen und im globalen Rahmen kommt. Wir waren uns doch darin einig, dass wir diesen Schritt gehen müssen, um die WTO-Gespräche chancenreich zu bestehen. Wir waren uns doch auch darin einig, dass dieser Beitrag gerade den Entwicklungsländern hilft. Nach dem Besuch von Herrn Chirac in der Bundesrepublik Deutschland allerdings wurden - Herr Schröder und Herr Chirac waren sich einig - die klugen Ansätze, die es gab und die auch die Frau Ministerin im Ausschuss vertreten hat, plötzlich aufgegeben. Frau Künast hat bei diesen Agrargesprächen auf der ganzen Strecke verloren. Das ist bedauerlich; denn die riesige Chance, gesellschaftliche Akzeptanz für ein Agrarmodell zu gewinnen, wie es sich die FDP vorstellt und wie es viele Vernünftige mittlerweile begleiten, wurde vertan, indem die unbürokratische und an die bewirtschaftete Fläche gebundene Kulturlandschaftsprämie auf der Strecke geblieben ist. Wir haben eine riesige Chance für gesellschaftliche Weichenstellungen in Richtung einer klugen unternehmerischen Agrarpolitik verpasst. Das ist bedauerlich. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, es ist noch nicht ausreichend deutlich geworden, dass es bei der heutigen Debatte - das gibt auch der Bericht der Bundesregierung wieder - letztlich um den Dreiklang Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft geht. Darüber hinaus geht es aber auch um folgenden Dreiklang: Erstens geht es um die Weiterentwicklung einer standortgerechten und für die Verbraucher transparenten Agrar- und Ernährungswirtschaft in Deutschland unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen in unterschiedlichen Regionen. Es geht also um nationale und regionale Aspekte und um die Weiterentwicklung der Methoden, wie sie gerade auf EU-Ebene beschlossen worden sind. Zweitens geht es um die Reform und die Erweiterung der EU mit dem wichtigen - ich nenne es bewusst so Teilbereich der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik unter den jetzt und in Zukunft noch vermehrt auftretenden neuen Bedingungen. Es geht also um den europäischen Aspekt. Das ist insbesondere nach dem, was wir vorhin in einer namentlichen Abstimmung beschlossen haben, wichtig zu sagen. Drittens geht es um die Entwicklung in der einen Welt; das ist mir besonders wichtig. Dazu gehören - wir haben das in unserem Antrag mit der Drucksachennummer 15/550 niedergeschrieben - eine nachhaltige Agrarpolitik und ein gerechter Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen. Erforderlich ist ein globales Konzept mit mehr Freizügigkeit und Liberalisierung, aber auch Schutz und Hilfe für die Armen in den armen Ländern, und zwar weltweit. Bei allen Entwicklungen und Reformen geht es um die Bemühungen zugunsten von mehr Nachhaltigkeit auf einer globalen Agenda. Seit der Rio-Konferenz bedeutet das: Erstens. Die ökonomischen Rahmenbedingungen müssen weiterentwickelt werden. Das geschieht im WTO-Verhandlungsprozess und wird in einigen Monaten - da bin ich sicher - bei der Ministerkonferenz in Cancun auf der Tagesordnung sein. Zweitens. Die ökologischen Notwendigkeiten im Kontext dessen, was nicht nur wir Christen Schöpfungsverantwortung nennen, müssen international und global berücksichtigt werden. ({0}) Drittens. Es gilt, einen Gerechtigkeitsausgleich als sozialen Auftrag für all diejenigen, die gesellschaftliche und politische Verantwortung tragen, als Auftrag zur Solidarität zu begreifen und entsprechend zu handeln. ({1}) Vor diesem Hintergrund kann es bei den WTO-Verhandlungen nicht mehr vorwiegend um die Absicherung des europäischen Landwirtschaftsmodells - so steht es im Antrag der Union unter der Drucksachennummer 15/534; so hat sie es sogar als Überschrift formuliert - gehen. Vielmehr muss darauf hingewirkt werden, dass im Zuge einer Weiterentwicklung die Maßnahmen im Rahmen der EU-Agrarreform WTOkonform gemacht werden. Die Kollegin Waltraud Wolff hat deutlich gemacht, wie das schon jetzt geschieht. Die EU-Vereinbarungen helfen, dass es diejenigen, die für uns auf der WTO-Ebene verhandeln, nun leichter haben. Vor diesem Hintergrund und dem, was die Bundesregierung im Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht 2003 in dieser Hinsicht feststellt, ist es wichtig, sich für einen verbesserten Marktzugang auch für schon weiterentwickelte Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika einzusetzen und das Problem der handelsverzerrenden Exportsubventionen mit klaren quantitativen Vorgaben und einer klaren Zielperspektive offensiv anzugehen. Für die weitere Qualifizierung des Agrarbereichs im globalen Kontext ist es natürlich wichtig, dass die Multifunktionalität der Landwirtschaft und damit die Maßnahmen zur Förderung des Natur- und Landschaftsschutzes, der Entwicklung ländlicher Räume, der Arbeitsplatzsicherung, des ländlichen Tourismus und regionaler Wirtschaftskreisläufe als förderungswürdig im Rahmen der Greenbox anerkannt werden. All das unterstützt die Bundesregierung für die Weiterentwicklung der Regionen, in denen standortgerechte und nachhaltige Landwirtschaft nach wie vor ein Standort- und Raumfaktor ist. Das bedeutet dann auch mehr Sicherheit für die Entwicklung der Betriebe in Deutschland und in Europa im nächsten Jahrzehnt. Wir wollen aber auch, dass bei den Verhandlungen dafür Sorge getragen wird, dass bestehende Präferenzen für die ärmsten Entwicklungsländer sowie die AKP-Staaten erhalten bleiben. Es muss Maßnahmen zum Schutz der Landwirtschaft der ganz armen Länder geben. ({2}) Billigimporte von Nahrungsmitteln aus reichen Ländern be- bzw. verhindern deren Entwicklung, die meistens von Kleinbauern getragen wird. Im Blick haben wir natürlich auch die Instrumente der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Im Rahmen der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015 wird - vorwiegend in der Verantwortung des BMZ - schon viel Gutes getan. Die Grundlagen sind gelegt. Die EU-Agrarreform kommt voran, wenn auch anders, als es manche wollen. Die EU-Erweiterung erschließt neue Märkte, auf denen sich unsere Leistungsträger - der Kollege Goldmann hat darauf schon hingewiesen - nicht nur aus dem Bereich Agrar- und Ernährungswirtschaft gut platzieren können. Der neue WTO-Rahmen wird neue Möglichkeiten schaffen, auch wenn vieles erst im Laufe der Zeit zum Tragen kommt. Natürlich gab und gibt es noch viele Ungerechtigkeiten, egoistische Verhandlungsstrategien und Sonderwege, zum Beispiel der USA und einzelner Staaten der so genannten Cairns-Gruppe. Auch bedeuten die unterschiedlichen Vorschriften und Standards, zum Beispiel in Brasilien bei der Zuckerproduktion und in Argentinien bei der Fleischproduktion, Wettbewerbsvorteile. Darüber muss man bei den Verhandlungen reden. Das ist dann selbstverständlich Gegenstand der Verhandlungen. Die Vorschläge, die wir in unseren Anträgen, insbesondere in dem Antrag auf Drucksache 15/550, gemacht haben, können dabei hilfreich sein im Sinne einer, wie wir es genannt haben, nachhaltigen Agrarpolitik und eines gerechten Interessenausgleichs weltweit. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der bayerische Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten, Josef Miller. Josef Miller, Staatsminister ({0}): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages! Die Frau Bundesministerin streut Sand in die Augen und redet den Menschen anschließend nach dem Mund. ({1}) Noch nie lagen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander. Das zeigt dieser Agrarbericht. Der Strukturwandel hat sich beschleunigt und das Höfesterben hat mit 4,2 Prozent einen Spitzenwert erreicht, wie es Jahrzehnte nicht mehr der Fall war. ({2}) Eine positive Entwicklung der Zahl der Betriebe gibt es nur noch bei Betrieben über 100 Hektar LF. Die Frau Bundesministerin redet den bäuerlichen Betrieben das Wort, treibt aber in Wirklichkeit eine Politik für die Großstruktur. ({3}) Rot-Grün gibt vor, den Tierschutz und den Umweltschutz besonders ernst zu nehmen. Die rot-grün regierten Länder bilden aber das Schlusslicht, wenn es um Mittel für Agrarumweltmaßnahmen geht. ({4}) Die Einkommen in der Landwirtschaft fallen gegenüber dem Vergleichslohn in der gewerblichen Wirtschaft immer mehr zurück. Sinkende Gewinne, besonders in Futterbaubetrieben und benachteiligten Gebieten, führen dazu, dass dort das Land nicht mehr bewirtschaftet wird. Wenn Sie mit Ihrer Politik so weitermachen, dann ist die Gefahr groß, dass es dort, wo es landschaftlich am schönsten ist, keine Bauern mehr gibt, die das Land pflegen. Das ist die Wirklichkeit. Das ist die Schreckensbilanz der Bundesregierung im Agrarbereich. Das ist wahrlich eine Wende, aber eine Wende, die allen schadet: den Bauern - das beweisen die Zahlen -, den ländlichen Räumen, der Umwelt, den Tieren und den Verbrauchern. Nationale Alleingänge mit weit überzogenen Reglementierungen verteuern die Produktion in Deutschland. Die Frau Bundesministerin hat das Verbraucherverhalten völlig falsch eingeschätzt. Die Bürgerinnen und Bürger greifen im Gegensatz zu Ihren Ankündigungen zunehmend zu Produkten, die unter wirtschaftlich günstigeren, oft auch weit weniger kontrollierten Bedingungen hergestellt werden, nämlich im Ausland. Noch nie ist so viel bei den Discountern eingekauft worden, wie es derzeit der Fall ist. Das spiegeln die Zahlen unbestreitbar wider. ({5}) Das von der Bundesregierung erklärte Ziel, eine verbraucher-, umwelt- und tiergerechte Landwirtschaft zu fördern, wird angesichts dieses Berichtes und der Realität zur Farce. Es besteht wirklich kein Grund, über die Entscheidungen zur gemeinsamen Agrarpolitik zu jubeln. Lesen Sie nach, wie vor drei Jahren die Agenda 2000 als großes Reformwerk bejubelt worden ist. Heute sind drei Jahre vergangen und Sie sprechen von einer völlig neuen Agrarpolitik. Also kann die letzte Reform wirklich nicht gut gewesen sein. Die Halbwertszeit dieser Reform wird auch nicht länger sein. Das sage ich Ihnen voraus. ({6}) Die Bundesministerin schmückt sich jetzt mit fremden Federn und sagt, sie habe Schlimmeres verhindert und Großes erreicht. Vergleichen Sie doch unsere Situation mit der in Frankreich, Österreich, Portugal oder Italien: Wir liegen weit hinten. Die Bundesministerin hat nichts erreicht, außer dem Durchbruch ihrer ideologischen Vorstellungen. ({7}) Es gehört schon Mut dazu, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir haben doch die Garantiemengenregelung durchgesetzt. Vor einem halben Jahr - das können Sie in allen Fachblättern nachlesen - hat sich die Bundesministerin massiv gegen die Beibehaltung der Garantiemengenregelung ausgesprochen. Tatsache ist, dass die in der Agenda 2000 vorgesehenen Interventionspreissenkungen um ein Jahr vorgezogen werden, dass der Interventionspreis für Butter um 25 Prozent sinkt und dass eine drastische Reduzierung der Interventionsmenge auf 30 Tonnen - also praktisch auf null - vorgesehen ist, obwohl es in der Produktion durchaus nicht nur um den Verkauf oder um Lagerhaltung, sondern auch um den Ausgleich jahreszeitlicher Schwankungen geht. Es ist schon ein besonderes Verständnis von Mathematik, wenn man beschließt, den Grünlandgebieten etwas wegzunehmen und dies nur zu 50 Prozent auszugleichen, um dies anschließend als Stärkung der Grünlandgebiete zu verkaufen. Jeder Mathematiklehrer würde eine solche Rechnung mit einer Sechs benoten, weil die einfachsten Grundrechenarten nicht beherrscht werden. ({8}) Das Grünlandprogramm, das Sie angemahnt haben, wird in Bayern erfolgreich durchgeführt. Auch die Kulturlandschaftsprämie, die hier vorgeschlagen wurde, gibt es bereits. Tatsache ist, dass zum Beispiel die bayerischen Milchbauern 5 000 Euro ihres Gewinnes einbüßen werden. Ein Preisrückgang um 1 Cent bedeutet Einbußen in Höhe von 70 Millionen für die bayerischen Milchbauern. Das lässt sich für die Bundesrepublik Deutschland entsprechend hochrechnen. Dabei findet kein Ausgleich statt; es erfolgt vielmehr eine Umverteilung. Die Landwirtschaft wird von Brüssel gebeutelt. Die deutsche Landwirtschaft hat am schlechtesten abgeschnitten. An dieser Stelle wäre die Hilfe der Bundesregierung gefordert. Was aber macht sie? Wer geglaubt Staatsminister Josef Miller ({9}) hat, dem würde mit entsprechenden Hilfen Rechnung getragen, der wird enttäuscht: Das Gegenteil ist der Fall. In keinem Ressort sind so starke Kürzungen vorgesehen wie im Agrarhaushalt: 7,4 Prozent! ({10}) Das ist der Stellenwert, den Sie der Landwirtschaft, der Ernährung, dem Tierschutz und der Umwelt schließlich beimessen. Wen treffen die Kürzungen? Im sozialen Bereich sind die kleinen und mittleren Betriebe am stärksten betroffen. Allein in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ist mit Beitragssteigerungen bis zu 40 Prozent zu rechnen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran, dass es in Ihrer Regierungszeit in der Alterskasse schon zu Beitragssteigerungen um 100 Prozent gekommen ist. Welchem anderen Berufsstand in der Bundesrepublik mutet man so etwas zu? Sie haben die Bauern abgeschrieben und meinen inzwischen, dass es auch ohne die Bauern geht. ({11}) Sie planen darüber hinaus eine Kürzung der Agrardieselrückvergütung. Während Ihrer Regierungszeit ist der Steueranteil des Agrardieselpreises von 11 Cent um 15 Cent auf 26 Cent gestiegen. Damit liegen wir innerhalb der Europäischen Union an der Spitze, gefolgt von Italien mit 8 Cent. In Frankreich sind es nur 2,5 Cent, in Belgien gar 0 Cent. Das bedeutet für die Landwirte eine weitere Belastung in Höhe von 157 Millionen Euro pro Jahr. Allein daraus ergibt sich für einen 40-Hektar-Betrieb ein Nachteil von 1 100 Euro pro Jahr gegenüber einem vergleichbaren französischen Betrieb. ({12}) Diese Agrarpolitik führt zur Vernichtung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. Sie führt dazu, dass die Bewirtschaftung in vielen Gebieten des ländlichen Raumes auf Dauer voraussichtlich nicht mehr sichergestellt werden kann. ({13}) Das reicht Ihnen aber noch nicht. Sie ziehen die Modulation vor und schwächen damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft zusätzlich, indem Sie mit einem ungeheuren Verwaltungsaufwand für nur zwei Jahre eine nationale Modulation einführen, obwohl inzwischen feststeht, dass 2005 die Modulation auf EU-Ebene eingeführt wird. Sie erschweren damit die Arbeit der Landwirtschaftsverwaltungen und erhöhen den ohnehin nicht unbeträchtlichen Bürokratieaufwand für die Landwirtschaft. Kennen Sie denn die Stimmungen draußen im Lande nicht? Spielt es keine Rolle, wie die Steuermittel verwendet werden? Sie sollten nicht der Verwaltung, sondern den Bauern zugute kommen. Für Sie ist die Agrarpolitik ein Experimentierfeld geworden. Der Ausgang bleibt ungewiss. ({14}) Dieser Tage war in den Zeitungen die interessante Nachricht zu lesen, dass heuer Obst und Gemüse doppelt so teuer wie im vergangenen Jahr seien. Weiter hieß es, die Verbraucher könnten aber hoffen, dass dann, wenn die Produkte aus heimischer Erzeugung auf den Markt kämen, die Preise nach unten gingen. Das Problem ist nur: Die heimische Erzeugung spielt in Ihren Überlegungen überhaupt keine Rolle mehr. Das zeigt gerade Ihr Umgang mit den Ökoprodukten, dem sensibelsten Bereich. Dort hat man die rechtlichen Anforderungen in Deutschland auf das niedrige europäische Niveau gesenkt, weil man in erster Linie - das haben Sie heute bestätigt - auf Importe von vermeintlich billigeren Nahrungsmitteln aus dem Ausland setzt. Die deutsche Landwirtschaft hat nicht nur die Aufgabe, Nahrungsmittel und Rohstoffe zu produzieren. Die land- und forstwirtschaftlichen Betriebe pflegen auch etwa 80 Prozent der Fläche unseres Landes. Die Landwirtschaft ist außerdem das wirtschaftliche Standbein in den Dörfern und trägt entscheidend zur sozialen Stabilität im ländlichen Raum bei. Sie ist deshalb nicht mit der Landwirtschaft in anderen Ländern vergleichbar. Die deutsche Landwirtschaft kann nicht länger neue Reglementierungen, nationale Alleingänge und Belastungen ertragen, die ihre Wettbewerbskraft gegenüber Landwirtschaften in anderen EU-Staaten entscheidend schwächen. Die deutsche Landwirtschaft braucht vielmehr verlässliche Rahmenbedingungen und Rückhalt in der Gesellschaft. Ich bitte Sie, unserem Gesetzesantrag zuzustimmen, den wir im Bundesrat eingebracht haben, mit dem wir erreichen wollen, dass die nationale Modulation zumindest ausgesetzt wird. Die EU-Modulation wird dann das ihrige tun. Ich bitte Sie, die Landwirtschaft als eine wichtige Daseinsvorsorge für unsere Bevölkerung zu sehen. Sie ist es, die Lebensraum gestaltet und Lebensmittel erzeugt und die damit einen ganz wesentlichen Einfluss auf unsere Lebensqualität hat. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich kann Sie beruhigen: Die Stimmung ist durchaus nicht so schlecht, wie die eben vorgetragene Schulmeisterei und Schwarzmalerei vermuten lassen. Ich war gerade am letzten Wochenende in Ausübung meines Berufs in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Nach der Geburt hat es den traditionellen Schnaps gegeben. Ich glaube, wenn man die ehrliche Auseinandersetzung mit den Landwirten sucht, dann hat man auch in der jetzigen Situation, die weiß Gott nicht einfach zu bewältigen ist, die Chance auf eine Agrarpolitik mit Zukunft. Schwarzmalerei allein nutzt uns jedenfalls wenig. ({0}) Unter Tierärzten gibt es das alte Sprichwort: Wo man impft, da lass dich nieder; denn Seuchen kehren immer wieder. ({1}) Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass das auch einen materiellen Hintergrund hat. Das gilt natürlich auch für die Geflügelpest. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten und vor allen Dingen aus Italien zeigen, dass die Seuchen in der Tat wiederkehren und dass sie selbst mit Impfungen nicht in den Griff zu bekommen sind. ({2}) Vorbeugende Impfungen haben in beiden Ländern keinen Erfolg gezeitigt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wir haben es zum Beispiel bei der Geflügelpest mit einem Erreger zu tun, der in über 100 Subtypen auftritt. Niemand wird wohl in der Lage sein, für jeden Anwendungs- und Einsatzfall einen adäquaten Markerimpfstoff zu entwickeln. Theoretisch ist das natürlich möglich. Aber praktisch ist das nicht zu realisieren. Deshalb ist der heutige Antrag der FDP „Impfen statt Töten - Grundlage für den Einsatz von Markerimpfstoffen schaffen“ eigentlich unsinnig und fehl am Platz. ({3}) Bereits in der vergangenen Legislaturperiode gab es einen ähnlichen Antrag der FDP. Dort wurde unter dem Titel „Impfen statt Töten“ eine flächendeckende MKSImpfung verlangt. ({4}) - Sicherlich hat sich eine Menge getan, und zwar sowohl auf der europäischen Ebene als auch bei den Initiativen der Bundesregierung. Das konzediere ich Ihnen ja. Dass sich aber damit der wesentliche Teil Ihres heutigen Antrags bereits erledigt hat, sollten Sie wohl klar und eindeutig erkennen, Herr Kollege Goldmann. ({5}) Sie als Tierarzt wissen doch ganz genau, dass Virus nicht gleich Virus ist und dass eine Kuh nicht genauso wie ein Huhn behandelt werden kann. Ein Huhn läuft - wie Sie auf zwei und eine Kuh auf vier Beinen; trotzdem gibt es erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Bekämpfung von Seuchen bei diesen beiden Spezies. ({6}) Eines möchte ich hier klarstellen: Die Notimpfung hat bei der Bekämpfung von Schweinepest und Maulund-Klauenseuche durchaus ihre Berechtigung. ({7}) Das zeigt sich natürlich auch ganz deutlich daran, dass auf der Brüsseler Ebene die Impfstrategie geändert worden ist. Mittlerweile gibt es eine Alternative zu den bislang erfolgten exzessiven Massentötungen. Die Umsetzung erfolgt konsequent. Die neue MKS-Richtlinie ist dafür ein Beispiel. Für den Bereich Schweinepest wird es in absehbarer Zukunft vermutlich eine ähnliche neue Richtlinie geben, die uns zumindest der Sorge enthebt, wieder solche Zustände zu erleben - Sie haben darüber zu Recht geklagt -, wie sie in Großbritannien zuletzt zu beobachten waren. Es ist nicht damit getan, aus einem zwei Jahre alten Antrag einfach bestimmte Passagen zu streichen, etwas Neues hinzuzufügen, das Ganze mit ein bisschen Populismus zu versehen, alles sozusagen zweimal umzurühren und diesen Antrag dann erneut zu stellen. Darauf kommt es hier weiß Gott nicht an. ({8}) - Wenn man aus einem Antrag alles wegstreicht, was nicht hineingehört und auch sachlich nicht richtig ist, dann bleibt eines übrig: Impfen statt Töten. Das klingt zwar nach aktivem Tierschutz, ist aber zumindest in meinen Augen bloß eine hohle Phrase und blanker Populismus. ({9}) Diesen Populismus übertrifft die Union noch bei der Auseinandersetzung über die Geflügelpest. Da wollte man der Öffentlichkeit doch allenthalben weismachen, dass man mit einem 10 Kilometer langen Cordon sanitaire ein neues Instrument zur Bekämpfung von Tierseuchen erfunden hat. Das ist zweifellos nicht richtig, wie uns die Erfahrungen gelehrt haben. Die Seuche wäre durch die Anwendung einer solchen Maßnahme nicht verhindert worden; dadurch wären vielmehr Hundertausende von Tieren - an sich sinnlos - getötet worden; denn die Seuche ist westlich von so einem potenziellen Cordon sanitaire ausgebrochen. ({10}) Ich weiß nicht, ob die Union weitergehende Pläne in Bezug auf Regelungen zur Bekämpfung von Tierseuchen in der Tasche hat. Wenn das der Fall ist, dann möchte ich darum bitten, diese Pläne letztendlich an den Realitäten und an den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren und Forderungen dieser Art nicht wieder aufzustellen. ({11}) Man kann die Idee eines Cordon sanitaire auch weiterentwickeln. Wenn dann irgendwann alle Tiere getötet sind, ist auch das Problem der Seuche gelöst. ({12}) Wir Sozialdemokraten und die rot-grüne Koalition haben einige andere Vorstellungen von praktischem Tierschutz. Wir haben uns maßgeblich dafür eingesetzt, dass der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert wird. ({13}) Im Vorfeld - ich denke an das Jahr 2000 - haben Sie sich dabei nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Das muss man einmal deutlich sagen. Die rot-grüne Koalition ist dabei - das ist klar und deutlich -, die geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zur Tierhaltung, Stück für Stück zu überprüfen und auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen an die Erfordernisse anzupassen. Alles andere überlassen wir denjenigen, die meinen, sie hätten davon Ahnung, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. ({14}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wie ernst es Ihnen mit dem Tierschutz ist, zeigt im Augenblick die Auseinandersetzung über die Schweinehaltungsverordnung. ({15}) Ihre Agrarpolitiker in den Bundesländern und auch Sie selbst stellen regelmäßig Anträge, Standards, die älter als 13 Jahre sind, im Verhältnis eins zu eins umzusetzen. Das kann nicht Sinn einer zukunfts- und tierschutzorientierten Politik sein. ({16}) Im Klartext heißt das nämlich: Ungefähr 0,65 Quadratmeter pro Zweizentnermastschwein. 0,65 Quadratmeter sind vielleicht so viel wie das Kopfkissen von Peter Harry, aber nicht mehr. ({17}) Die in anderen Bundesländern, unter anderem in meinem Heimatland Niedersachsen, geltenden gesetzlichen Regelungen gehen, was die Flächenzumessung angeht, zum Teil schon erheblich darüber hinaus. ({18}) - Aber selbstverständlich! Sie gehen, was die Flächenzumessung betrifft, erheblich darüber hinaus. ({19}) Es ist nicht an der Zeit, wieder hinter das zurückzugehen, was sich schon als Stand der Technik etabliert hat; denn das hieße wirklich, den Tierschutz mit Füßen zu treten. Es hat sich auch schon in Brüssel herumgesprochen, dass wir höhere Werte und eine Anhebung der Standards brauchen. ({20}) 2005 wird es eine solche Anhebung geben. Dann werden wir vielleicht noch einmal eine Diskussion um weitere Anhebungen der Standards führen müssen. ({21}) Wir werden unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gegebenheiten dafür Sorge tragen - das ist meine Politik und das ist die Politik der SPD-Arbeitsgruppe in diesem Hause -, dass die Standards sukzessive erhöht werden, dabei aber wirtschaftliche Nachteile weitestgehend beherrschbar gehalten werden. ({22})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Im Zusammenhang mit der Anhörung, die in der letzten Woche stattgefunden hat, möchte ich der Opposition ein Lob aussprechen. Ich möchte mich für die Kooperationsbereitschaft der Union und der FDP, auch bezüglich des Tierarzneimittelgesetzes, noch einmal recht herzlich bedanken. ({0}) Wir haben zusammen eine ganz gute Linie gefunden. In dem Zusammenhang kann ich nur noch einmal an die rechte Seite des Hauses appellieren.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie können nicht mehr lange appellieren. Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe, dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung kommen, die letztlich den Tieren, den beteiligten Landwirten, den Tierärzten und damit auch dem Tier- und Verbraucherschutz dient. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Priesmeier, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und wünsche Ihnen alles Gute. ({0}) Das Wort hat der Kollege Albert Deß, CDU/CSUFraktion. ({1})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Priesmeier, nach Ihrem Ausflug in die Impfpolitik würde ich Ihnen raten: Lassen Sie doch einen Impfstoff gegen rot-grüne Agrarpolitik entwickeln. Mehr als 400 000 Portionen würden in Deutschland schnellstens angefordert. Der Ernährungs- und agrarpolitische Bericht 2003 belegt an vielen Stellen deutlich, dass seit dem Amtsantritt einer ohne Sachkunde ins Amt gekommenen, dafür umso stärker ideologisch fixierten Ministerin Künast festgestellt werden muss: Die rot-grüne Bundesregierung hat sich von einer Politik für die Bauern in unserem Land verabschiedet. ({0}) Wenn infolge dieser Agrarpolitik die Agrarproduktion immer mehr aus Deutschland verlagert wird, dann erreicht man damit weniger Verbraucherschutz. Frau Künast hat von Anfang an versucht, unsere Bauern in die Ecke zu stellen und mit Kampfbegriffen wie „Agrarfabriken“, „industrialisierte Landwirtschaft“, „Massentierhaltung“, „Agrarwende“, „Klasse statt Masse“ zu diffamieren. Ihr Trommeln für „Klasse statt Masse in der deutschen Landwirtschaft“ unterstellt, dass die Bauern in Deutschland keine hochwertigen und gesunden Nahrungsmittel produzieren. Mit einer solchen Diffamierung wird die Arbeit unserer Bauern und Bäuerinnen - sie sind gut ausgebildet und produzieren nach guter fachlicher Praxis - in Misskredit gebracht. Richtig muss es heißen - das habe ich schon oft gesagt -: Die Masse unserer Nahrungsmittel ist klasse. - Die Frau Ministerin hätte nur das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin befragen müssen. Dort ist festgestellt worden, dass es bei 98,4 Prozent der untersuchten Lebensmittel in Deutschland nicht die geringsten Beanstandungen gegeben hat. Selbst bei den restlichen 1,6 Prozent waren die Beanstandungen nicht des Inhalts, dass eine Gesundheitsgefährdung besteht. ({1}) Da die Frau Künast immer von Massenproduktion spricht, möchte ich hier einmal anmerken: Aus der Massenproduktion der deutschen Autoindustrie zieht auch niemand den dümmlichen Schluss, dass die deutschen Autos nicht klasse Autos sind. ({2}) Der Berichtsteil über die wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft im Wirtschaftsjahr 2001/2002 umfasst erstmals einen Zeitraum, den Frau Künast als Ministerin voll und ganz zu verantworten hat. In dieser Periode hat sich die wirtschaftliche und strukturelle Lage der deutschen Landwirtschaft in beängstigender Weise verschlechtert. Dafür trägt Rot-Grün die Verantwortung. ({3}) Die Einkommen der deutschen Landwirte sind in diesem Zeitraum um 6,6 Prozent zurückgegangen. Für das laufende Wirtschaftsjahr 2002/2003 ist mit einem dramatischen Einkommensrückgang von bis zu 20 Prozent zu rechnen. In einigen Gebieten - dafür kann die Frau Ministerin nichts - mit starken Trockenschäden wird der Einkommensrückgang noch wesentlich gravierender ausfallen. Frau Künast könnte sich aber doch in Brüssel dafür einsetzen, dass die Bauern in den Trockengebieten wenigstens den Futteraufwuchs auf den Stilllegungsflächen nutzen dürfen, weil ihnen sonst die Futtergrundlage entzogen wird. ({4}) - Dann hoffen wir auf ein schnelles Ergebnis, weil es zu spät für die Betriebe wäre, wenn das Ergebnis erst im Herbst käme. Das Ziel des Landwirtschaftsgesetzes, der Landwirtschaft eine Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung zu ermöglichen, wurde laut Agrarbericht deutlich verfehlt. Nach einer Veröffentlichung des Statistischen Amtes der Europäischen Union betrug der Einkommensrückgang je Arbeitskraft in Deutschland bezogen auf das Kalenderjahr 2002 sogar 19,5 Prozent. Noch schlimmer war die Situation nur noch in Dänemark. Angesichts solch einer negativen Einkommensentwicklung kann sich Rot-Grün nicht mehr mit dem Marktgeschehen herausreden. Vielmehr sind diese Ergebnisse größtenteils den von Rot-Grün gesetzten politischen Rahmenbedingungen zuzuschreiben. Die derzeitige Politik der rotgrünen Bundesregierung setzt jedoch alles daran, dass die Ziele des Landwirtschaftsgesetzes noch stärker verfehlt werden. Besonders betroffen macht die Tatsache, dass viele Betriebe aufgrund des agrarpolitischen Kurses der rotgrünen Bundesregierung rat- und mutlos in die Zukunft schauen müssen. ({5}) Das mindert auch die Investitionsbereitschaft der Betriebe. Die Steigerung um 1,4 Prozent, die Sie, Frau Kollegin Wolf, angesprochen haben, bezieht sich auf eine ganz niedrige Basis. Im Jahr zuvor war die Investitionsbereitschaft der deutschen Landwirtschaft auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten angelangt. ({6}) Aus dem Agrarbericht geht ganz deutlich hervor - Sie müssten ihn dazu lesen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen -, dass die bereinigte Quote der Eigenkapitalbildung der Betriebe gegenüber dem Vorjahr um 40 Prozent zurückgegangen ist. Diese Zahl sagt alles über den Erfolg der rot-grünen Agrarpolitik aus. ({7}) Hauptursache für die fehlenden Investitionen ist einmal die Verunsicherung der Landwirte durch zahlreiche nationale Alleingänge - sie wurden heute schon angesprochen - sowie die Vernachlässigung deutscher Agrarinteressen bei der EU-Agrarreform und den WTOVerhandlungen durch Rot-Grün. Die rot-grüne Bundesregierung hat in der EU auch im Agrarbereich durch nationale Alleingänge einen deutschen Sonderweg beschritten und für unsere Landwirte große Wettbewerbsnachteile geschaffen. Statt die EU-Verordnungen eins zu eins umzusetzen, werden den deutschen Bauern zusätzliche Lasten aufgebürdet und sie werden auf nationaler Ebene benachteiligt. Ein weiteres Beispiel für den investitionshemmenden Kurs der rot-grünen Bundesregierung ist die beabsichtigte Novellierung des Baurechts. Ziel muss es sein, dass auch weiterhin die bisherige Privilegierung der Landwirtschaft im Außenbereich erhalten wird, sonst kann dort nicht mehr gebaut werden. ({8}) Die von Rot-Grün verursachte schlechte Einkommenslage würde laut Landwirtschaftsgesetz Maßnahmen zur Einkommensverbesserung erfordern. Statt sich gesetzeskonform zu verhalten, will Rot-Grün den Agrarhaushalt, der in den vergangenen Jahren bereits massive Kürzungen verkraften musste, weiter stark kürzen und hier - ganz unsozial - die Beiträge zu den Krankenversicherungen in einem Ausmaß erhöhen, das schlichtweg unverantwortlich ist. Ich frage mich, wo da das soziale Gewissen der Sozialdemokraten bleibt. ({9}) Die düstere Stimmung in der deutschen Landwirtschaft kann auch der von Frau Künast gepriesene Agrarkompromiss von letzter Woche nicht aufhellen. Ganz im Gegenteil: Wenn das Luxemburger Ergebnis in Teilen der veröffentlichten Meinungen positiv beurteilt wird, meine sehr geehrten Damen und Herren, liegt das daran, dass die Propagandakunst von Frau Künast bei weitem ihre Kunst, sich bei Verhandlungen für deutsche Interessen einzusetzen, übertrifft. ({10}) Wie man die Interessen seines eigenen Landes und seiner Bauern erfolgreich vertritt, hat wieder einmal Frankreich gezeigt. Der französische Landwirtschaftsminister konnte seine Interessen durchsetzen. Er hat verhindert, dass eine Getreidepreissenkung beschlossen wurde. Außerdem hat er eine Totalentkoppelung der Direktzahlungen verhindert. Ich sage Ihnen, warum er das getan hat - darüber wurde bisher überhaupt noch nicht diskutiert -: Frankreich wird nicht entkoppeln, damit die Produktion zu 100 Prozent erhalten bleibt. Deutschland wird, soweit das möglich ist - ich gehe davon aus, dass Rot-Grün entsprechende Vorschläge machen wird -, entkoppeln. Deutschland wird dadurch massiv Marktanteile verlieren, weil die deutschen Landwirte - insbesondere in schlechten Lagen - zu einem großen Teil nicht mehr in der Lage sein werden, zu diesen Bedingungen zu produzieren. Inwiefern hat Frau Künast die Interessen der deutschen Milcherzeuger vertreten? Mir liegt ein Presseartikel aus Niederbayern vor. Ich kenne den Landwirt, der in diesem Artikel die Auswirkungen der Maßnahmen auf seinen Betrieb berechnet hat: Er hat in einen Milchkuhstall investiert, der eine Jahresproduktion von 400 000 Kilo Milch ermöglicht. Er hat berechnet, dass ihm aufgrund dieser Beschlüsse am Jahresende 14 200 Euro weniger Milchgeld übrig bleiben. ({11}) In dem Artikel heißt es weiter: Beim Verlassen der Stube schüttelt er den Kopf: „Und woanders streiken sie wegen drei Stunden mehr Freizeit.“ Daran sieht man, was unseren Bauern zugemutet wird. Dieser Landwirt hat 15 000 Euro weniger Einkommen in der Tasche. Wenn seine Familie ein Jahreseinkommen von 30 000 Euro brutto hat, bedeutet das einen Einkommensverlust in Höhe von 50 Prozent. Und das stellt man noch als großen Erfolg dar! Man sagt - das bedrückt mich besonders -, dass mit diesen Beschlüssen die Voraussetzungen für die im Herbst stattfindenden WTO-Verhandlungen geschaffen wurden. Wir haben bereits 1999, bei den Debatten über die Agenda 2000, vom Bundeskanzler und vom damaligen Minister Funke gehört, dass mit dieser Agenda die Voraussetzungen für die WTO-Verhandlungen geschaffen worden seien. Warum muss man diese jetzt erneut schaffen? ({12}) Die Begründung, dass jetzt die Voraussetzungen für die WTO-Verhandlungen geschaffen worden seien, wird sehr schnell ad absurdum geführt werden. Nach den im Herbst stattfindenden WTO-Verhandlungen werden wir sehr schnell - Peter Bleser hat das schon angesprochen über neue Einschnitte bei der Landwirtschaft diskutieren. Frau Präsidentin, ich will meine Redezeit nicht überschreiten. Ich habe aber noch einen Vorschlag für die Frau Ministerin - sie hat uns leider schon verlassen -: Damit die Öffentlichkeit weniger getäuscht wird, wäre es besser, wenn Frau Künast ihre Amtsbezeichnung schnellstens in Bundesministerin für Verbrauchertäuschung, Bauernverunsicherung und Arbeitsplatzvernichtung ändern würde. Das würde ihre Arbeit treffender beschreiben. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Man muss schon sagen, die CDU/ CSU hat den absoluten Tunnelblick. ({0}) An Ihren Ausführungen sieht man sehr deutlich, dass die Isolation der Agrarpolitiker in der CDU/CSU ganz besonders groß ist. Die Luxemburger Beschlüsse bedeuten einen Systemwechsel, zu dem es keine Alternative gab. Wer glaubt, wir hätten auf diese Reformschritte verzichten können, der lebt in einer anderen Welt: ({1}) Mit diesen Beschlüssen wurde die Finanzierbarkeit der weiteren Entwicklung der EU gewährleistet, wurden die Voraussetzungen für die Osterweiterung der EU geschaffen und wurde der Weg für die WTO-Verhandlungen frei gemacht. Auch die CDU/CSU hat verfolgen können, dass es vonseiten der Außen- und der Wirtschaftspolitik einigen Druck gegeben hat. Die Akzeptanz der Agrarpolitik wird deutlich größer. Das können Sie an der Presseresonanz, insbesondere bei den Berichten, die sich mit der Bewertung der Reformen befassen, erkennen. Es gibt tatsächlich mehr Unterstützung für ländliche Räume. Der Umweltschutz, der Tierschutz und die Kulturlandschaftspflege werden gestärkt. Der Weg hin zu mehr Marktorientierung - das scheint Ihnen am schwersten zu fallen - wird beschritten. Herr Goldmann hat auf die Widersprüchlichkeit in Ihren Äußerungen schon hingewiesen: Auf der einen Seite ist Ihr Antrag, bezogen auf die WTO, absolut liberalistisch; auf der anderen Seite propagieren Sie im Grunde eine massive Staatsorientierung. Wir alle wissen inzwischen, dass dieser Weg nicht mehr gangbar ist. Auch Sie wissen ganz genau, dass die Subventionen an den Bauern vorbeigegangen sind. Die Gelder der EU wurden an die verarbeitende Industrie und an den Handel durchgereicht. ({2}) Die Wirtschaft ist dafür verantwortlich, diese Probleme zu lösen und dafür zu sorgen, dass sich im Wege der Marktorientierung vernünftige Erzeugerpreise entwickeln können. Dafür sind auch die Geschäftsführer in den großen Molkereien verantwortlich. ({3}) Der Agrarbericht macht ganz deutlich, wie diese unbefriedigende Situation entstanden ist. Deswegen gibt es auch die Reformen, die zum Teil schon im Jahr 2000 verabredet worden sind. Der Ministerin gebührt Dank; denn es ist ein großer Vermittlungserfolg, dass die Beschlüsse zustande kommen konnten. Ohne die deutschfranzösische Absprache wäre dies nicht möglich gewesen. Natürlich sind im Reformpaket schwierige Elemente enthalten. Diese Elemente ergeben sich immer, wenn es zum Schluss eine Art Teppichhandel gibt. Die mit der Kopplung verbundene Bürokratie im Milchbereich ist zwar nicht in unserem Sinne. Aber man muss sagen, dass die Probleme im Milchbereich ihren Ursprung in früheren Beschlüssen und Marktentwicklungen haben. Wenn die deutsche Milchwirtschaft heute 104 Prozent über dem Bedarf produziert, dann ist klar, dass es keine vernünftige Erzeugerpreisentwicklung geben kann. Hätten wir damals unter Minister Funke unsere Vorstellungen zum Lieferrecht realisieren können, dann hätten wir heute andere Verhandlungsgrundlagen und andere Möglichkeiten für eine Reduzierung der Menge. Es gibt in den Reformbeschlüssen sehr wichtige Elemente, die in ihrer Wirkung auf die zukünftige Entwicklung beurteilt werden müssen. Dazu zählt auch das einheitliche Vorgehen der Länder. Wir brauchen keine Wettbewerbsverzerrung zwischen den Bundesländern. Wir möchten die heutigen Ungleichgewichte zwischen Ackerbau und Grünland beseitigen sowie eine Stärkung der Viehwirtschaft erreichen. Wir möchten möglichst unbürokratische Ansätze aus den Vorgaben entwickeln und die Probleme im Milchbereich lösen. Wir möchten außerdem die Probleme im Bereich der Schafhaltung und der Ziegenhaltung lösen. ({4}) Die Position der Landwirtschaft am Markt muss gestärkt werden. Es gibt daher große Gemeinsamkeiten zwischen dem Bauernverband, der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und den Grünen. Es gibt auch Differenzen und Kritikpunkte, die wir klar benennen. Es ist aber falsch, dass Peter Bleser von „Feind“ und von „Ideologie“ spricht. Ganz im Gegenteil: Wir instrumentalisieren die Bauern nicht, was besonders im Wahlkampf - ich sage das an die Adresse von Herrn Miller - geschieht. Wir möchten, dass es zu einer vernünftigen Entwicklung kommt. Ich komme zum Schluss. Der heute schon im Rahmen der steuerpolitischen Debatte angesprochene Dreiklang, nämlich Strukturreformen, Vorziehen der Steuerreform und Haushaltskonsolidierung, wird unserer Volkswirtschaft insgesamt zugute kommen. Die Landwirtschaft wird ihren Beitrag leisten müssen. Sie von der CDU/ CSU und von der FDP fordern einen massiven Subventionsabbau. Wir möchten natürlich, dass dieser Subventionsabbau für die Landwirtschaft gerecht ausgeht. Wir werden uns in den Beratungen damit auseinander setzen. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Matthias Weisheit, SPD-Fraktion.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin geriet ich in Gefahr, bei der Rede von Peter Bleser Beifall zu klatschen. ({0}) Das hatte aber nichts mit dem Inhalt seiner Rede zu tun. Es war vielmehr so, dass ich mir gestern Abend überlegt habe, was uns der Kollege heute erzählt. Meine Vermutung ist eingetroffen. Es war nämlich fast dieselbe Rede wie die nach der Verabschiedung der Agenda 2000. Es war inhaltlich der enge Schulterschluss mit dem, was der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Sonnleitner, auf dem Bauerntag verkündet hat. ({1}) Was Sie sagen, ist natürlich Humbug. Wenn hier behauptet wird, es werde keine Politik für die Bauern gemacht, möchte ich zu bedenken geben, dass die Fehler, mit denen wir heute in der europäischen Agrarpolitik zu kämpfen haben, vor 20 Jahren gemacht worden sind, als die Überschüsse auftauchten und kein Mensch den Mut hatte, zu sagen: Hier muss es eine Marktorientierung geben und an dieser Stelle ist Schluss. Es war falsch, dass immer weiter gezahlt wurde und dass der Staat die Produkte, die nicht zu verkaufen waren, aufkaufte. ({2}) - Die waren alle nicht mutig genug. Das gilt im Endeffekt auch für die Reform von 1990. ({3}) - Die Milchquote hat zwar eine Zeit lang geholfen. Aber es ist heute schon einmal klargestellt worden, dass Mengenbegrenzungs- und Abschottungsstrategien in einer offenen Welt nichts bringen. Heute haben wir die neuen Beitrittsländer begrüßt - ({4}) - Peter Harry, reg dich nicht auf, bleib ganz ruhig! ({5}) - Nein, hör doch auf! Diese Diskussion müssen wir noch einmal intensiver führen. Die Fehler liegen in der Vergangenheit. Jetzt sind mutige Schritte notwendig. Ein sehr mutiger Schritt ist in Luxemburg gemacht worden. Herr Staatsminister Miller aus dem Nachbarwahlkreis in Memmingen, der hier erklärt hat, Frau Künast streue Sand in die Augen, liegt damit etwas auf dem Niveau des Bauernverbandspräsidenten, der sagte, Frau Künast und Franz Fischler seien Märchenerzähler. An dieser Stelle ist zu fragen, wer in Wirklichkeit die Märchen erzählt. Das sind doch diejenigen, die so tun, als könne man in Zukunft weitermachen wie bisher und dieses falsche System erhalten. ({6}) Frau Künast und Herr Fischler und schon vorher auch Karl-Heinz Funke haben nie einen Zweifel daran gelassen, in welche Richtung es gehen muss. Ihr wesentliches Ziel war und ist Marktorientierung, also die Landwirtschaft marktfähig zu machen. ({7}) - Gemach, gemach! Wenn ich Zwischentöne höre, aus denen hervorgeht, dass alle Lebensmittelprodukte, die aus dem Ausland kommen, von vornherein von schlechterer Qualität als unsere seien, dann wird es natürlich ganz schlimm. Dass die Produktionsstandards in den einzelnen Staaten unterschiedlich sind, lässt sich nicht verhindern. Das gibt es übrigens bei allen Produkten; ich denke hier etwa an Autos. Auch die Umweltstandards sind wenn nicht in jedem Betrieb, so in jedem Land andere. Deswegen sind ja auch manche, die ausgewandert sind, wieder zurückgekommen. Bei der Diskussion, die ich vom Bauerntag mitbekommen habe, gab es einen Lichtblick: In Zukunft muss man sich mit der aufnehmenden Hand mit denen anlegen, die Handel betreiben, den Discountern, dem Lebensmitteleinzelhandel und den Milchaufkäufern. Die Interessenvertreter des Bauernverbandes sollten sich mit ihnen auseinander setzen - das ist der richtige Weg -, anstatt dauernd auf die Politik einzuschlagen und von ihr zu erwarten, dass sie das regelt, was in der Wirtschaft geregelt werden muss. Wir unterscheiden uns hier in der Grundtendenz massiv: Sie wollen, dass alles über den Staat zu regeln und vom Staat zu leisten sei. ({8}) - Doch, ihr möchtet immer oben draufpacken und wollt, dass der Staat das regelt, was in der Wirtschaft von den Bauern selbst geregelt werden muss. Das kann auf Dauer nicht vom Staat geregelt werden. Diese Ideen von einer Planwirtschaft in der Landwirtschaft solltet ihr euch endlich abschminken. ({9}) Es bleibt noch eine Aussage zu den notwendigen Kürzungen im Agrarbereich, die im kommenden Haushalt anstehen, übrig: Es gibt für die Landwirtschaft kein Grundrecht auf verbilligten Diesel; das sollte klar sein. Darüber wird man sprechen müssen. Wenn ich Subventionen abbauen will, dann gehört auch dieser Punkt dazu. ({10}) - Europaweite Regelungen durchzusetzen habt schon ihr nicht geschafft. Für uns ist es genauso schwierig, solche Regelungen zu schaffen. Ihr habt eben - das ist ganz einfach - Geld ausgegeben, das nicht vorhanden war, ({11}) um das auszugleichen, was ihr auf europäischer Ebene nicht hinbekommen habt. So kann man angesichts der derzeitigen Situation nicht mehr arbeiten, vielleicht unter anderem deshalb, weil damals zu viel Geld ausgegeben worden ist. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/405 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1325 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1324, über den wir nach interfraktioneller Vereinbarung heute abstimmen. ({0}) Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Aufhebung des Gesetzes zur Modulation von Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes auf Drucksache 15/754. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1158, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des GAK-Gesetzes auf Drucksache 15/948. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1158, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1025. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/462 mit dem Titel „EU-Agrarreform mutig angehen und ausgewogen gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/422 mit dem Titel „Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik die Landwirtschaft und die ländlichen Räume in der EU stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1025 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/435 mit dem Titel „Marktwirtschaftliches Modell einer flächengebundenen Kulturlandschaftsprämie verwirklichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1133: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/550 mit dem Titel „Für eine nachhhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/534 mit dem Titel „WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1232 und 15/1004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch ({1}) - Drucksache 15/1114 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Aussprache nicht folgen wollen oder können, den Saal zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Andreas Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003625, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eines gleich vorweg: Man muss klar feststellen, dass sich das Kinder- und Jugendhilfegesetz vom 1. Januar 1991 über all die Jahre grundsätzlich bewährt hat. Jetzt geht es darum, die einzelnen Bereiche auf Wirksamkeit und nach einer Kosten-Nutzen-Analyse zu überprüfen. Im Übrigen ist dieser Vorgang in der freien Wirtschaft selbstverständlich. Ich will den weiteren Beratungen nicht vorgreifen. Man soll ja nie das Hoffen aufgeben, dass die Koalitionsparteien bei einem Unionsgesetzentwurf mitmachen. Aber wenn nicht, dann stellt sich die Frage, meine Damen und Herren von Rot-Grün, nach Ihrer grundsätzlichen Fähigkeit, notwendige Veränderungen vorzunehmen. Wenn Sie hier nicht mitmachen, dann haben Sie weiter Glaubwürdigkeit im Hinblick auf Korrekturen in unserem System verloren. Wie oft haben wir von der Opposition in diesem Hohen Haus schon Anträge zur Verbesserung der kommunalen Finanzsituation eingebracht! Ihnen war das immer egal. Wir von der Union sehen bei unserer Politik über den Tellerrand des Bundestages hinaus, weil es ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept und eine Verzahnung der verschiedenen Ebenen keine in sich schlüssige Politik in unserem Lande gibt. Wie einige von Ihnen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, den Spagat zwischen einem Mandat in einem Kommunalparlament vor Ort und Ihrer kommunalfeindlichen Politik hier im Deutschen Bundestag hinbekommen, das müssen Sie mir noch einmal erklären. ({0}) Eines ist aber ganz klar: Dieser Gesetzentwurf ist kein Kahlschlag in der Jugendhilfe. Es muss doch erlaubt sein, Regelungen auf den Prüfstand zu stellen und bei Fehlentwicklungen aus den Praxiserfahrungen heraus Korrekturen vorzunehmen. Unser aller Wille muss doch sein, Mitnahmeeffekte, Missbrauchsfälle und Ungerechtigkeiten zu vermeiden oder auszuschalten. Uns geht es um eine gerechte und nachhaltige Kinderund Jugendhilfe für die Menschen, die sie wirklich brauchen. Wenn Sie gegen diesen Gesetzentwurf sind, dann haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, offenbar keinen Kontakt mehr zur kommunalen Basis. ({1}) Reden Sie doch einmal mit den Jugendämtern vor Ort, den Bürgermeistern und Landräten! Sie werden schnell über Fälle in Kenntnis gesetzt, über die man nur den Kopf schütteln kann und die draußen im Land keiner mehr versteht. Eine Bitte für die Beratungen: Kommen Sie nicht mit einer hoch emotionalisierten Sozialromantik und einer absichtlichen Nichtbeachtung der Fakten und der Praxis! Argumentieren Sie bitte nicht nur mit Ihrer Kritik an der Kostendämpfung, sondern lassen Sie uns über die Zielrichtung und den Zweck einer gerechten und nachhaltigen Leistungsgewährung streiten. Wir wollen zudem bürokratische Hemmnisse abbauen, Länderkompetenzen stärken und zurückholen und durch Deregulierung auf diesem Gebiet eine Optimierung erreichen. Klar ist, meine Damen und Herren von der Koalition, dass Sie als Zentralismusfans sich hier immer etwas schwer tun. Das wissen wir. Aber jetzt wäre die Zeit, einmal über den Schatten zu springen. ({2}) Ich möchte auf drei Regelungen in unserem Gesetzentwurf eingehen, erstens auf die Änderung des § 10. Mit unserem Vorschlag werden die Zuständigkeitsstreitigkeiten und Vollzugsprobleme zwischen der Jugendund der Sozialhilfe entfallen. Durch die Neufassung der Vorschrift wird erreicht, dass für die seelisch behinderten oder von einer solchen Behinderung bedrohten jungen Volljährigen vorrangig die Träger der Sozialhilfe, nicht die der Jugendhilfe zuständig sind. Gerade bei dieser Zielgruppe ist es zum Teil besonders schwierig, eine klare Trennlinie zwischen erzieherischem Bedarf und Rehabilitation zu ziehen. Während die körperliche Behinderung klassifiziert ist, gibt es für den Begriff der seelischen Behinderung keine rechtliche Definition, sondern nur einen Katalog von Beispielfällen. Durch diese Neuregelung gäbe es mehr Klarheit und mehr Vereinfachung, weil das Drohen einer seelischen Behinderung erstmals definiert ist. Jetzt gibt es trotz fachärztlicher Gutachten Unklarheiten, sodass letztlich Verwaltungsgerichte entscheiden müssen. Zweitens: § 35 a. Es gibt neben der enormen Kostensteigerung für die Kommunen in den letzten Jahren deutliche Mitnahmeeffekte sowie erhebliche Auslegungsprobleme aufgrund der ausgedehnten und unbestimmten Reichweite des Leistungstatbestandes nach § 35 a. Der Leistungstatbestand würde enger und klarer gefasst werden. Die ausgeuferten Hilfen zum Beispiel bei Lese- und Rechtschreibschwäche oder auch bei Rechenschwäche werden eingeschränkt. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es gibt hier eine klar bessere Möglichkeit, junge Menschen mit solchen Schwächen zu fördern, nämlich eine gute Schulpolitik. Das müssen Sie nur Ihren zuständigen Länderministern erklären. Dass unionsgeführte Länder bei PISA besser abgeschnitten haben, brauche ich hier nicht zu vertiefen; das wissen Sie. ({3}) Die Neufassung hat zur Folge, dass a) die wesentlich seelische Behinderung zum Rechtsanspruch auf Einglie- derungshilfe führt und dass b) ein einheitliches Recht für alle jungen Menschen mit Behinderungen entsprechend der Intention des SGB VIII geschaffen wird. Ziel ist eine Gleichbehandlung und mehr Gerechtigkeit; deshalb von unserer Seite der Vorschlag für eine Neuregelung. Drittens: § 41. Junge Volljährige können bis zum Ende des 27. Lebensjahres erstmals Jugendhilfeleistungen in Anspruch nehmen. Dies sollte die Ausnahme sein, jedoch hat es sich in der Praxis zum Regelfall entwickelt. Durch die Neuregelung schaffen wir eine saubere Abgrenzung, es werden Zuständigkeiten geklärt und Reibungsverluste durch den hohen Verwaltungsaufwand sowie Mitnahmeeffekte vermieden. Durch die Neufassung wird erreicht, dass bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfemaßnahmen fortgesetzt und die Leistungen der Jugendhilfe spätestens mit Vollendung des 21. Lebensjahres beendet werden. Notwendige Hilfe zur Selbsthilfe kann jungen Volljährigen effektiver durch moderne und qualifizierte Ansätze der Sozialhilfe, Wohnungsvermittlung oder Schuldnerberatung angeboten werden. Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Entwurf unter anderem eine praxisnahe Ausgestaltung der Regelung des Datenschutzes, eine Optimierung der Jugendhilfeplanung und eine Rückholung von Länderkompetenzen bei Struktur- und Organisationsfragen durchsetzen. Diese Analyse des SGB VIII ist nach rund einem Jahrzehnt erforderlich und notwendig. Die Korrekturen müssen aus unserer Sicht unbedingt gemacht werden. ({4}) Meine Damen und Herren, der heutige Plenartag wurde mit einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers eröffnet. Die Ankündigungen der letzten Tage und Wochen bedeuten, dass endlich auch in den Reihen von SPD und Grünen ein Hauch von Bewegung zu verspüren ist. Es ist festzustellen: Die Bewegung ist noch sehr diffus und Sie wissen nicht, in welche Richtung Sie laufen müssen. Sie scheuen sich selbst beim Reförmchenpaket Agenda 2010, das ja den Namen deshalb hat, weil diese Agenda spätestens am 20. 10. dieses Jahres schon wieder veraltet sein wird. Sie bringen diese Agenda 2010 nicht einmal ins Parlament ein, weil Sie sich der eigenen Mehrheiten in diesem Hohen Haus nicht sicher sind. Ihre Kommissionsstrategie verpufft auch bei der Gemeindefinanzreform. ({5}) Sie wollen ganz einfach nicht kapieren, dass die Kommunen für Investitionen die Luft zum Atmen und für kommunale Entscheidungen Planungssicherheit brauchen. ({6}) In Sachen aktuelle Steuerreform haben Sie in Zukunft auch nicht gerade Wohltaten für die Kommunen zu verteilen, Herr Kollege Schaaf. Jetzt rächt es sich, dass sich die Gemeindefinanzreform so lange hinzieht und dass Sie hier völlig verpennt haben. Sie machen Politik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. So werden Sie sich nicht durchschlängeln können. Jetzt gilt es, Entscheidungen zu treffen. Der vorliegende Entwurf ist ein Beispiel von vielen, bei denen Sie sich bewegen müssen. Deutschland muss sich bewegen. ({7}) Wir von der Opposition geben Ihnen Orientierung; denn diese haben Sie dringend nötig. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel.

Christel Hanewinckel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000802

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch hat die Kinder- und Jugendhilfe im vereinten Deutschland Ende 1990/Anfang 1991 eine neue Rechtsgrundlage erhalten. Das vorrangige Ziel dieses Gesetzes war und ist die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz als zentraler Voraussetzung für die Einlösung des Rechtes eines jeden Kindes und Jugendlichen auf Erziehung und Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. ({0}) In den 13 Jahren der Geltung dieses Gesetzes ist es mehrfach verbessert worden. Ich erinnere hier nur an die Einführung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz zum 1. Januar 1996 und an die Verbesserung der Beratungsangebote der Jugendhilfe im Zusammenhang mit der Kindschaftsrechtsreform zum 1. Juli 1998. Dieses Gesetz hat sich in seinen Zielsetzungen bewährt. ({1}) Darin sind sich die Bundesregierung, die fachliche Praxis und der Bundesrat einig. Wir haben damit die Verantwortung, die bewährte Zielsetzung dieses Gesetzes auch in Zukunft im Auge zu behalten. Ich hoffe, Herr Kollege Scheuer, dass wir vorrangig eine Sachdebatte führen werden, die den Kindern und Jugendlichen dient. ({2}) Die Änderungsvorschläge, die der Bundesrat bzw. die CDU/CSU-Fraktion zum SGB VIII unterbreiten, sollen vor allem die Kostenentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe stoppen. In der Tat sind die öffentlichen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland von 14,3 Milliarden Euro im Jahr 1992 auf 19,2 Milliarden Euro im Jahr 2001 angestiegen. Ein genauerer Blick in die Statistik zeigt, dass es im Wesentlichen zwei Aufgabenfelder sind, die zu dieser Steigerung geführt haben. Zum einen ist es die Umsetzung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz. Die Aufwendungen für diesen Bereich sind in den alten Bundesländern in diesem Zeitraum um fast 3 Milliarden Euro gestiegen, während sie in den neuen Bundesländern aufgrund der demographischen Entwicklung um 1 Milliarde Euro gesunken sind. Diese Ausgaben beruhen auf einem klaren Gesetzesauftrag des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit der Neuordnung des § 218 und damit dem Schutz des ungeborenen Lebens. Eltern sollen bessere Möglichkeiten haben, ihre Elternschaft und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren. Die anderen Aufgaben, die im Wesentlichen für die Kostenentwicklung verantwortlich sind, sind die Hilfen zur Erziehung und Hilfen für junge Volljährige. Wenn der Gesetzentwurf des Bundesrates nun darauf abzielt, eine weitere Kostenbelastung der Kommunen zu vermeiden oder wenigstens deutlich einzudämmen, so ist diese Zielsetzung bezogen auf die Haushaltssituation der Kommunen gut zu verstehen und nachzuvollziehen. Zu fragen bleibt aber, welche Folgen mit den vom Bundesrat beabsichtigten Leistungskürzungen für junge Menschen und Familien verbunden sind. Bei steigenden Kosten in diesem Feld einfach die Leistungen zu kürzen wäre etwa so, als wenn wir bei vermehrten Feuerwehreinsätzen das Wasser für die Feuerwehr rationieren würden. ({3}) Deshalb haben wir als Politikerinnen und Politiker die Pflicht, uns mit den Ursachen für die steigende Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auseinander zu setzen. Wir müssen also weiterhin die Rahmenbedingungen verändern, damit Eltern Partnerschaft, Elternschaft und ihre beruflichen Verpflichtungen unter den berühmten einen Hut bringen können. Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist es deshalb, in guter Kooperation mit Verbänden und Initiativen die Kompetenzen von Eltern zu stärken. Das ist möglich durch die Stärkung der sozialen Netzwerke und der Infrastruktur der Familien vor Ort. Ein wichtiges Anliegen ist auf den Weg gebracht, der Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder, eng verbunden mit einer Qualitätsoffensive in Bildung und Erziehung. Die Bundesregierung wird Länder und Gemeinden beim Ausbau nicht nur der Ganztagsbetreuung, sondern auch der Betreuung der unter dreijährigen Kinder unterstützen. Gerade Kindern aus Familien, die auf weniger Ressourcen zurückgreifen können, wird auf diese Weise bekanntlich die Chance auf gute und gleiche Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Die soziale Herkunft dieser Kinder darf nicht über ihre soziale Zukunft entscheiden. ({4}) Wenn der Bundesrat nun beabsichtigt, Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe an verschiedenen Stellen zu kürzen bzw. einzuschränken, dann lehnt die Bundesregierung Gespräche darüber grundsätzlich nicht ab. Aber es muss geprüft werden, ob durch die beabsichtigten Einsparungen tatsächlich nicht die Folgekosten in anderen Bereichen erhöht werden und ob die Einsparungen den Kindern und Jugendlichen und jungen Volljährigen, die auf solche Leistungen angewiesen sind, nicht Chancen der Entwicklung und der Integration in unsere Gesellschaft nehmen. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates, die am 9. Juli im Kabinett beschlossen werden wird, zu den einzelnen Vorschlägen dezidiert Stellung genommen. Ich möchte jetzt hier nur drei Themen kurz herausgreifen. Erstens geht es um den § 35 a - das sind die Vorschläge zur Einschränkung des Rechtsanspruchs auf Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche -, der wohl bei allen eine wichtige Rolle spielt. Auch die Bundesregierung verfolgt die Entwicklung der Ausgaben nach diesem Paragraphen im SGB VIII mit Sorge. Dabei fällt insbesondere die starke Inanspruchnahme von Eingliederungshilfen wegen so genannter Teilleistungsstörungen wie Legasthenie oder Dyskalkulie auf. In letzter Zeit wird auch Eingliederungshilfe für hoch begabte Kinder gewährt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheuer?

Christel Hanewinckel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000802

Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich davon ausgehe, dass wir im Ausschuss genügend Zeit haben werden, um hierüber zu diskutieren. Alle diese Beispiele weisen darauf hin - darin sind wir uns fast einig -, dass vorrangig zuständige Institutionen mit Hilfesystemen, allen voran die Schule, hier ihrer Primärverantwortung nicht in ausreichendem Maße gerecht werden mit der Folge, dass die Kinder- und Jugendhilfe als nachrangiges Leistungssystem hier in größerem Umfang eintreten muss. Es ist die vordringliche Aufgabe der Länder, und zwar die aller Bundesländer - da müssen wir uns nicht gegenseitig etwas vorrechnen -, im Rahmen der Schule spezifische Förderprogramme für diese Kinder vorzusehen. ({0}) Die Bundesregierung unterstützt durchaus die Absicht des Bundesrates, § 35 a auf seine Zielgenauigkeit hin zu überprüfen. Allerdings haben wir zurzeit große Zweifel daran, dass die angestrebten Ziele mit dem Änderungsvorschlag tatsächlich erreicht werden können. Zweitens komme ich auf die beabsichtigte Änderung von § 41 SGB VIII - Hilfe für junge Volljährige - zu sprechen. Die Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige war eines der zentralen Ziele der Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts im Jahre 1990/91. Die individuelle Persönlichkeitsentwicklung richtet sich nicht immer nach dem juristisch abstrakt bestimmten Zeitpunkt der Volljährigkeit. Das Erwachsenwerden und der Prozess der Ablösung vom Elternhaus sind häufig mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Der Übergang in Ausbildung und Arbeit gestaltet sich nicht immer reibungslos. In dieser sensiblen Phase werden für viele junge Menschen die Weichen dafür gestellt, ob sie gesellschaftlich integriert werden oder nicht. Eine Reduzierung der Leistungen für junge Volljährige mag vordergründig die kommunalen Kassen entlasten, tatsächlich aber würden damit vielen jungen Menschen in dieser sensiblen Phase wichtige Leistungen für ihre gesellschaftliche Integration vorenthalten. Die Folge wäre, dass sie den Einstieg in Beruf und Gesellschaft nicht fänden, sondern ausstiegen. Deshalb ist auch dieser Änderungsvorschlag sehr genau zu prüfen. ({1}) Drittens möchte ich auf den Vorschlag des Bundesrats zu sprechen kommen, den Ländern durch einen so genannten Landesrechtsvorbehalt die Möglichkeit zu eröffnen, die Aufsicht über Tageseinrichtungen für Kinder anderen Behörden als den Landesjugendämtern zuzuweisen. Die Aufgabenwahrnehmung soll auf die Kreisverwaltungsbehörden delegiert und die Aufsicht damit dezentral angesiedelt werden. Die Aufsicht über Tageseinrichtungen hat eine wichtige Aufgabe zum Schutz von Kindern. Sie gewährleistet nämlich Mindeststandards für das Wohl der dort betreuten Kinder und Jugendlichen. Eine Kommunalisierung dieser Aufsicht würde bedeuten, dass Finanzverantwortung und Fachaufsicht in einer Hand liegen, wodurch die große Sorge entstünde, dass eine so organisierte Aufsicht nicht in erster Linie dem Kindeswohl, sondern vorrangig dem Kassenwohl dient. ({2}) Meine Damen und Herren, der Staat kann nur das Geld ausgeben, das ihm zur Verfügung steht. Das wissen wir alle; das ist eine Binsenweisheit. Daher muss auch die Kinder- und Jugendhilfe kostenbewusst agieren und alle Möglichkeiten für eine noch bessere Effektivität und Qualität der Aufgabenwahrnehmung ausschöpfen. Darüber werden wir in den Ausschüssen beraten. Ich hoffe, dass wir für die Kinder und Jugendlichen gute und verantwortliche Entscheidungen treffen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDPFraktion.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein gutes Beispiel für den Stellenwert der Jugendpolitik der damaligen liberal-konservativen Bundesregierung. Es hat sich insgesamt bewährt. Das haben auch meine Vorredner schon festgestellt. Zwölf Jahre nach dem In-Kraft-Treten ist eine kritische Überprüfung jedoch sicherlich sinnvoll. ({0}) Das Ausgabevolumen in der Kinder- und Jugendhilfe von 19,2 Milliarden Euro im Jahre 2001 ist angesichts der Finanzmisere der öffentlichen Haushalte durchaus kritisch zu analysieren. Generell kann Sparen ein Beitrag zur Nachhaltigkeit einer politischen Maßnahme sein. Kostendämpfung in der Jugendhilfe kann man als Maßnahme zur Sicherung des Fortbestandes der Jugendhilfe verstehen. Das gilt natürlich insbesondere für die finanziell besonders belasteten Kommunen. Wer jedoch in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen, dass Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft sind und dass falsches Sparen an dieser Stelle schlimme Folgen haben kann. ({1}) Wenn die Jugendarbeit den heute sehr großen Anforderungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganze Gesellschaft die negativen - auch die finanziellen - Folgen. Außerdem ist im Blick zu behalten, dass die Kinder- und Jugendhilfe im Ausgabenblock des Sozialbudgets unseres Landes im Jahre 1998 ohnehin einen sehr bescheidenen Anteil von 7 Prozent einnahm und dass auch der Anteil an den Ausgaben der Kommunalhaushalte mit 9,4 Prozent keineswegs sehr hoch ist. Vor diesem Hintergrund sind Vorschläge für Leistungseinschränkungen in der Jugendhilfe stets kritisch zu prüfen. Mit dem vorliegenden Entwurf werden vor allem zwei Ziele verfolgt: Erstens soll angesichts der katastrophalen Finanzlage eine finanzielle Entlastung der Kommunen geschaffen werden. Zweitens sollen bürokratische Hemmnisse abgebaut und die Effizienz in der Jugendhilfe durch Deregulierung gesteigert werden. Beide Ziele teilt die FDP uneingeschränkt. Es wird aber noch näher zu prüfen sein, ob erstens die in dem Gesetzentwurf gewählten Maßnahmen uneingeschränkt geeignet sind, diese Ziele zu erreichen, und ob zweitens inakzeptable negative Wirkungen für die Kinder- und Jugendhilfe dabei auszuschließen sind. ({2}) Zu den einzelnen Vorschlägen in dem Gesetzentwurf wird die FDP-Fraktion daher einen konstruktiven Dialog führen. Wir halten zum Beispiel eine Angleichung der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte junge Menschen an die Regelungen, die für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche nach dem Sozialhilfegesetz bestehen, grundsätzlich für sinnvoll und diskussionswürdig. Die bisherige Unterscheidung zwischen geistig und körperlich Behinderten auf der einen und seelisch Behinderten auf der anderen Seite ist nicht ganz überzeugend. Deshalb geht auch der Vorschlag, den Unterschied der Leistungszuständigkeit zwischen den Trägern der Jugend- und der Sozialhilfe aufzuheben, in eine plausible Richtung. Auch die Einschränkung der Leistungen für junge Volljährige auf die Fälle, in denen Jugendhilfemaßnahmen vor der Volljährigkeit begonnen wurden, trägt zu einer Klärung der Zuständigkeiten bei. Grundsätzlich sollte sich die Jugendhilfe auf die Förderung der betroffenen Jugendlichen beschränken; denn dadurch würden auch hier Reibungsverluste durch Abgrenzungsprobleme vermieden. Die FDP begrüßt vor allem den Vorschlag zur Aufwertung der Jugendhilfeplanung im Hinblick auf einen kontinuierlichen Prozess und einen höheren Gesamtstellenwert. Der Vorschlag, Kollege Scheuer, durch Landesrecht veränderte Zuständigkeiten für die Aufsicht über Tageseinrichtungen für Kinder zu ermöglichen, kann einen positiven Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung leisten. Allerdings darf es nicht zu Interessenkollisionen auf der Ebene der örtlichen Träger der Jugendhilfe kommen. Ebenso wird die FDP die Vorschläge zu Änderungen im Datenschutz kritisch beleuchten. Auch hier müssen wir zwar Kostendämpfung in Verwaltungsverfahren im Blick haben, doch dürfen mit doppelter Zielsetzung anvertraute Daten nicht einfach aus dem Vertrauensschutz herausgenommen werden. ({3}) Alles in allem ist die Diskussion um Reformen in der Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll. Es wird jedoch eine sehr genaue Prüfung der einzelnen Vorschläge notwendig sein. Daher spricht sich die FDP dafür aus, dass der federführende Ausschuss zu dem Gesetzentwurf eine Anhörung mit Experten durchführt, die uns eine Basis für eine sachgerechte Entscheidung unter Berücksichtigung der Wirkungen für Kinder und Jugendliche sowie für Länder und Kommunen gibt. Ich danke. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger von Bündnis 90/Die Grünen.

Jutta Dümpe-Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003519, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir lehnen die von CDU/CSU geplanten Änderungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz ab, ({0}) und zwar nicht deshalb, Herr Scheuer, weil wir Zentralismusfans wären, sondern weil damit einschneidende Leistungseinschränkungen im Bereich der Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche eintreten würden. Der Antrag beinhaltet außerdem Verschlechterungen bei den Hilfen für junge Volljährige. ({1}) Im Grunde genommen hat er nur ein einziges Ziel, nämlich Einsparungen in Höhe von 150 bis 250 Millionen Euro. Das ist der einzige Grund, warum das KJHG auf den Prüfstand soll - auf Kosten von Kindern und Jugendlichen. Ich bin der Ansicht: So geht das nicht. ({2}) Sie wollen § 10 KJHG dahin gehend ändern, dass Leistungen für junge Volljährige in den Zuständigkeitsbereich des Bundessozialhilfegesetzes verschoben werden. Damit wäre der Vorrang der Jugendhilfe aufgehoben. Das wäre so ziemlich das Dümmste, was wir machen könnten. Ganz deutlich: Es geht um Hilfemaßnahmen für junge Menschen, die körperlich behindert oder von Behinderung bedroht sind. Es geht um Volljährige, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Gerade für diese jungen Menschen wäre es fatal, wenn Effekte begonnener Hilfeleistungen in hohem Maß infrage gestellt würden. Ich habe mit Interesse im Bundesratsprotokoll vom 23. Mai nachgelesen, dass Bayern der Auffassung ist - ich zitiere -, die Jugendhilfe könne nicht auf Kosten der Substanz leben und man müsse „ausufernde“ Leistungen vermeiden. Dazu ist zu sagen - der Kollege Haupt hat es angesprochen -: Bei einem Wechsel von einem örtlichen zu einem überörtlichen Träger werden keine nennenswerten Kosten eingespart, sondern nur verschoben. Gerade Bayern ist das Paradebeispiel für die Unsinnigkeit einer Neuregelung wegen angeblicher Einspareffekte. Das dortige Landesjugendamt weist in seiner Jugendhilfestatistik von 1999 nämlich nur 36 Fälle von Eingliederungshilfen für 18- bis 21-Jährige und ganze sechs Fälle von Hilfen für junge Menschen von 21 bis 27 Jahren aus. Sie wollen § 35 a KJHG neu fassen. In dem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass Kinder und Jugendliche von einer wesentlichen Behinderung bedroht sein müssen. Dasselbe soll für die Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft gelten. Dabei wissen Sie genau: Die Widersinnigkeit der Unterscheidung in „wesentliche“ und „unwesentliche“ Behinderung ist hinlänglich und differenziert belegt. Meine Damen und Herren von der Union, Ihre Vorschläge tragen außerdem zur Unschärfe und Verkomplizierung bei. Entscheidungen der Jugendämter würden nämlich stärker als bisher im willkürlichen Ermessen getroffen werden müssen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheuer?

Jutta Dümpe-Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003519, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. - Das bedeutet, dass die geplante Neuregelung zum Nachteil von betroffenen Kindern und Jugendlichen ausgelegt würde. Da solche Ermessensentscheidungen aber juristisch sehr fragwürdig sind, heißt das auch, es würde zu einer Zunahme von Klageverfahren kommen. Das vergeudet sozialpädagogische Ressourcen und verursacht in hohem Maße Kosten. Mit der geplanten Neuregelung des § 41 beabsichtigen Sie unter anderem ein generelles Maßnahmeende mit Vollendung des 21. Lebensjahres. In der Begründung heißt es, dass sich Jugendhilfeleistungen von der Ausnahme zum Regelfall entwickelt hätten. Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Annahme kommen. Sie wird in keiner Weise durch die statistischen Zahlen der Dortmunder Zentralstelle für Kinder- und Jugendhilfe untermauert. Was Ihre weiteren Vorschläge angeht, nämlich keine Ersthilfe mehr ab dem 18. Lebensjahr und Weiterführung von Maßnahmen für über 18-Jährige nur noch als Kannleistung, sage ich Ihnen: Sie gefährden bedarfsgerechte Hilfeleistung und Sie gefährden damit die berufliche und soziale Integration junger Menschen. ({0}) Ihnen würden nämlich wichtige Unterstützungsleistungen entzogen und sie würden im Zuständigkeitsgerangel - das ist wirklich ein ganz großes Manko - zwischen Jugendhilfe und Sozialhilfe auf der Strecke bleiben. ({1}) Der von Ihnen geplante Kahlschlag ({2}) in der Jugendhilfe ist unter allen Umständen zu verhindern. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass junge Menschen mit Benachteiligungen jede Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um sich positiv entwickeln zu können. Wir alle müssen endlich zu der Einsicht kommen, dass das keine Ausgaben, sondern Investitionen sind. Wenn wir die nicht tätigen, dann werden wir Kosten haben, und zwar doppelt und dreimal so hohe. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, dass sowohl die Frau Staatssekretärin als auch die Kollegin der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen keine Zwischenfragen gestatten. ({0}) Das wundert deshalb, weil sie sonst immer gern bereit sind, selber Fragen zu stellen und auch zu beantworten. Frau Kollegin Dümpe-Krüger, das Wort „Kahlschlag“ habe ich vor einiger Zeit schon einmal gehört. Das ist ein paar Jahre her und es ging um die Einführung des demographischen Faktors. Damals war es auch Ihre Seite, die von einem Kahlschlag gesprochen hat. Heute führen Sie in ähnlicher Form einen Faktor ein und Sie sprechen nicht mehr von einem Kahlschlag. ({1}) Wenn wir am Ende der Diskussion über dieses Gesetz sind, dann werden auch Sie das Wort Kahlschlag aus Ihrem Vokabular gestrichen haben. ({2}) Wir haben heute einen Gesetzentwurf auf der Tagesordnung, der sich mit der Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes beschäftigt. Man muss ganz deutlich sagen: Es steht außer Frage, dass das KJHG sich bisher im Großen und Ganzen bewährt hat und dass es richtig war, seinerzeit diese Entscheidung zu treffen und das KJHG auf den Weg zu bringen. Aber die Praxiserfahrungen zeigen auch, dass es gilt, sich einzelne Bereiche dieses Sozialleistungsgesetzes anzuschauen und diese auf ihre Wirksamkeit und gerade in der heutigen Zeit auf ihre Kosten-Nutzen-Relation zu überprüfen. Seit dem In-Kraft-Treten des KJHG am 1. Januar 1991 haben sich die Zahlen dramatisch verändert. 1992 - die Frau Staatssekretärin hat es schon gesagt - betrugen die Jugendhilfeausgaben 14,3 Milliarden Euro, 2001 19,2 Milliarden Euro. Das ist knapp ein Drittel mehr. Die Klage der kommunalen Spitzenverbände ist deshalb durchaus gerechtfertigt, wenn in ihr darauf hingewiesen wird, dass ein durch ein Bundesgesetz geregelter Rechtsanspruch letztlich einzig und allein im Wirkungskreis der Kommunen angesiedelt ist und diese die finanziellen Belastungen haben. Wir sollten mit Blick auf das Konnexitätsprinzip zukünftig darüber nachdenken, ob wir nicht dahin kommen müssen, dass derjenige, der Gesetze erlässt, auch die finanziellen Mittel bereitstellen muss. ({3}) - Das wird kommen. Ich bin gespannt, ob Sie zustimmen, wenn wir das Konnexitätsprinzip hier thematisieren werden. Insofern sind der Wunsch und die Aufforderung der Kommunen zu verstehen, das KJHG auf den Prüfstand zu stellen. Ich sage hier ganz deutlich: Es darf keinen Kahlschlag geben. Es darf auch keinen Qualitätsverlust geben. ({4}) Dennoch gilt auch in der Jugendhilfe das Prinzip der Nachhaltigkeit, das Ihnen bestens bekannt ist. Damit auch die jungen Menschen von morgen eine Chance auf positive Entwicklungsbedingungen haben, gilt es stärker als bisher, die knapper werdenden Ressourcen ziel- und zweckgerichtet einzusetzen. In der Vergangenheit traten aber in der Praxis häufig Abgrenzungs- und Zuständigkeitsprobleme zwischen der Sozialhilfe und der Jugendhilfe auf, die zum Teil auf die fehlende rechtliche Definition des Begriffs „seelisch Behinderte“ zurückgehen. Dadurch wiesen sowohl die Inanspruchnahme als auch die Bewilligung von Hilfen nach § 35 a SGB VIII bei genauerer Analyse deutliche regionale Disparitäten auf. Ich habe an einer Veranstaltung kommunaler Träger teilgenommen, Frau Dümpe-Krüger, die deutlich gemacht hat, dass es sehr wohl Disparitäten gibt. Das müssen wir ändern. Es geht nicht an, dass es vom Wohnort abhängt, ob junge Leute bestimmte Leistungen bekommen. Anhand Ihrer Fallzahlen aus Bayern haben Sie das als unsinnig bezeichnet. Das Land Rheinland-Pfalz, das nicht im Verdacht steht, der CDU nahe zu stehen, hat im Bundesrat erklärt: Das Land Rheinland-Pfalz unterstützt die bayerische Initiative zur Änderung des § 35 a SGB VIII. ({5}) Was die Fallzahlen angeht, hat das Land RheinlandPfalz angegeben, dass knapp 25 Prozent des gesamten Kostenanstiegs bei den Hilfen nach den §§ 27 bis 35 a sowie nach § 41 SGB VIII auf die Hilfen für seelisch behinderte Kinder zurückgehen. Diese Angaben stammen, wie gesagt, nicht aus Bayern, sondern aus RheinlandPfalz. ({6}) Nicht nur aus diesem Grunde fordern wir die Angleichung der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte an die Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Aber auch dabei ist selbstverständlich sicherzustellen - das ist mir besonders wichtig -, dass seelisch behinderten jungen Menschen über die Sozialhilfeträger die erforderlichen Leistungen zukommen, die im Rahmen der rehabilitativen Maßnahmen zum Wohle der jungen Menschen erforderlich sind. Aber dazu hat schon mein Kollege Scheuer ausführlich Stellung genommen. Ich möchte noch kurz auf einige andere Schwerpunkte des Gesetzentwurfs eingehen, zum Beispiel auf den Datenschutz. Der Kollege Haupt hat schon darauf hingewiesen. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen erfordert oft eine zeitnahe Weitergabe der Daten innerhalb des Jugendamtes. Es geht nicht darum, Daten nach außen zu tragen. Es muss möglich sein, die Daten innerhalb des Jugendamtes zügig weiterzugeben. In diesem Zusammenhang darf der Datenschutz nicht zu Reibungsverlusten führen bzw. die Zusammenarbeit innerhalb eines Jugendamtes erschweren. Daten, die mitgeteilt worden sind, um Sach- und Geldleistungen zu erhalten, sind unserer Meinung nach „nicht anvertraut“ und können deshalb weitergegeben werden. Ich denke, auch in diesem Bereich würde eine Änderung zu einer größeren Rechtssicherheit und Verwaltungsvereinfachung führen. Um den jungen Menschen und ihren Familien im Einzelfall rasch und zielgerichtet zu helfen, um Fehlinvestitionen zu vermeiden und Synergieeffekte zu nutzen, brauchen wir ein kompatibles Netz an JugendhilfeleistunIngrid Fischbach gen. Dazu muss - auch das hatten Sie schon angesprochen, Herr Haupt - die Jugendhilfeplanung regelmäßig fortgeschrieben werden. Diese Notwendigkeit wollen wir mit unserem Antrag gesetzlich klarstellen. Nur so können die Kontinuität der Jugendhilfeplanung in der Praxis verbessert, die Aktualität und Prozesshaftigkeit betont und dem Prinzip der Nachhaltigkeit - wie bereits erwähnt - Rechnung getragen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Punkt unseres Gesetzentwurfs ist die Rückholung von Länderkompetenzen in Struktur- und Ordnungsfragen. Bereits seit 1998 wurden länder- und parteiübergreifend - auch das zu Ihrer Information - Initiativen zur Änderung des § 85 SGB VIII bzw. zur Öffnungsklausel eingebracht, zum Beispiel durch das Land Schleswig-Holstein. Noch ist Schleswig-Holstein rot, aber auch daran kann sich etwas ändern. Bisher sind für die Wahrnehmung der Aufgaben zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen nach § 85 SGB VIII grundsätzlich die überörtlichen Träger der Jugendhilfe zuständig. Die beabsichtigte Neuregelung soll den Ländern die Möglichkeit geben, die Aufsichtskompetenz für Kindertageseinrichtungen auf die örtliche Ebene zu übertragen. Allerdings handelt es sich hierbei um ein Kanngesetz, Frau Dümpe-Krüger. Der Text der Bestimmung lautet: Im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder kann durch Landesrecht die Zuständigkeit abweichend von Abs. 2 Nr. 2 bis 7 bestimmt werden. Damit wird den Ländern eine eigene Gestaltungsmöglichkeit gegeben. Wer will, kann davon Gebrauch machen. Wer es nicht will, weil sich die alte Regelung bewährt hat, kann es lassen. ({7}) - Herr Schaaf, ich hoffe nicht, dass Ihr Zuruf, das nach Kassenlage zu entscheiden, an die Adresse von Schleswig-Holstein gerichtet ist. ({8}) Als Letztes möchte ich auf die Anrechnung des Kindergeldes bei bestimmten Jugendhilfeleistungen eingehen. Es ist nachvollziehbar, dass insbesondere Eltern, die selbst keine Aufwendungen für ihre Kinder haben, da sie außerhäuslich in einer Einrichtung oder in Wohnformen des betreuten Wohnens untergebracht sind und dort auch betreut werden, nicht mehr das volle Kindergeld beziehen können. In diesen Fällen, wenn also das Jugendamt den Lebensunterhalt des Kindes sicherstellt, muss es möglich sein, das Kindergeld anzurechnen. Die bisherige Schlechterstellung der Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen, wird damit beseitigt. Die gerade von mir dargestellten Änderungsvorschläge haben insgesamt den Sinn, in Zukunft Hilfen und Finanzen ziel- und zweckgerichteter einsetzen zu können. Wir alle sind uns sicherlich einig, dass unsere jungen Menschen ein Recht auf kindgerechte und jugendgemäße Förderung haben. Dafür muss die Politik die Rahmenbedingungen schaffen. Das bedeutet aber auch, der jungen Generation nicht weitere Hypotheken aufzubürden. Nicht nur die jungen Menschen von heute, sondern auch die von morgen müssen eine Chance auf gute Entwicklungsbedingungen haben. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von den Koalitionsfraktionen, in diesem Sinne in die Beratungen zu gehen und mit uns gemeinsam etwas für die jetzige und die zukünftige Jugend zu tun. Ich danke. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von der SPD.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Frau Fischbach, Sie schreiben in der Maiausgabe der Zeitschrift „Jugendpolitik“ des Deutschen Bundesjugendrings: Investitionen in die junge Generation sind die erfolgreichsten und wirksamsten Zukunftsinvestitionen unserer Gesellschaft. ({0}) Diese Aussage ist richtig. Ich kann sie nur voll und ganz unterstützen. Umso überraschter war ich allerdings, meine Herren und Damen von der Union, als ich Ihren Gesetzentwurf - er und der Gesetzesantrag, den Bayern in den Bundesrat eingebracht hat, sind wortgleich - gelesen hatte; denn von der richtigen Erkenntnis, dass wir dringend Investitionen in die junge Generation benötigen, haben Sie sich offensichtlich bei der Formulierung Ihres Gesetzentwurfs nicht leiten lassen. Sie schlagen nämlich Leistungskürzungen für Kinder und Jugendliche vor. So wollen Sie - das behaupten Sie jedenfalls - die Kommunen entlasten und für Nachhaltigkeit in der Jugendhilfe sorgen, Frau Fischbach. Wenn man aber genau hinschaut, dann stellt man fest, dass Sie tatsächlich nur die Verlagerung von Kosten und - das ist entscheidend - die Verschlechterung von Bildungschancen erreichen. Mit Zukunftspolitik und Nachhaltigkeit haben Ihre Vorschläge nichts zu tun. ({1}) Ich werde Ihnen das an zwei Punkten verdeutlichen, und zwar an Ihren Vorschlägen zum Umgang mit behinderten Kindern und Jugendlichen und an Ihren Vorschlägen zur Zuständigkeit bei der Aufsicht über die Kindertagesstätten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie wollen die Leistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche einschränken sowie jungen Volljährigen mit seelischen Behinderungen den Anspruch auf Eingliederungshilfe gänzlich verwehren. Sie unterstellen damit, dass die Leistungsgewährung für viele dieser jungen Menschen nicht nötig sei. Wer sind denn diese jungen Menschen mit seelischen Behinderungen, die Eingliederungshilfen bekommen? Es sind sehr häufig Kinder und Jugendliche mit so genannten Teilleistungsschwächen, also Kinder und Jugendliche, die große Schwierigkeiten haben, richtig lesen, schreiben oder rechnen zu lernen. Davon können viele betroffen sein, der Sohn des Arbeiters bei BMW genauso wie die Tochter des Hochschulprofessors. Das gebe ich natürlich zu. Aber ich weiß aus meiner Zeit als Kommunalpolitikerin und Lehrerin, dass für diese Gruppe Eingliederungshilfen sehr wohl notwendig sind; denn aufgrund ihrer Lese- und Schreibschwäche werden die Betroffenen vielfach ausgegrenzt. Herr Scheuer, es hat nichts mit Sozialromantik zu tun, wenn wir erkennen, dass aus Kindern mit einfachen Lernschwächen Außenseiter der Gesellschaft mit psychischen Problemen werden können. ({2}) Ich sage Ihnen: Das müsste allerdings nicht so sein. Herr Scheuer, ich gebe Ihnen vollkommen Recht: Wenn ein Kind Probleme hat, zu lernen, dann braucht es unsere Unterstützung; das ist keine Frage. Vor allem müssten die Schulen - das ist richtig - spezielle Förderangebote machen, um diese Kinder an das Leistungsniveau ihrer Mitschüler heranzuführen. So könnte Ausgrenzung unterbunden werden. ({3}) Weil die öffentliche Verantwortung an dieser konkreten Stelle fehlt, steht die Jugendhilfe in der Pflicht. So wird die Jugendhilfe zum Auffangbecken für Aufgaben gemacht, die eigentlich von anderen erledigt werden müssten. Es ist also kein Wunder, dass die Kosten bei der Jugendhilfe steigen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union, die Jugendhilfe von diesen Kosten entlasten wollen, haben Sie in Ihren Bundesländern dazu die Möglichkeit. Hierfür müssen Sie nicht das Kinder- und Jugendhilfegesetz ändern, sondern zum Beispiel von München oder Wiesbaden aus für mehr Personal an den Schulen sorgen. ({4}) Herr Scheuer, das wäre eine echte Entlastung für die Kommunen und eine wirkliche Hilfe für die jungen Menschen. ({5}) Kommen wir nun zu der Gruppe der jungen Erwachsenen mit seelischen Behinderungen. Diesen jungen Menschen wollen Sie den Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem KJHG gänzlich verwehren. Sie wollen stattdessen, dass diese jungen Menschen Leistungen aus der Sozialhilfe beziehen. Wie wollen Sie so Einsparungen für die Kommunen, die Sie so gerne wollen, erreichen, Herr Scheuer? Das ist doch nichts anderes als ein Verschiebebahnhof. Ganz abgesehen davon ist zu sagen, dass die Fallzahlen sehr niedrig sind - in diesem Zusammenhang bin ich Frau Dümpe-Krüger sehr dankbar - und der Einspareffekt damit bedeutungslos ist. In Bayern gab es ganze 42 Fälle. Das zeigt, dass wir an der falschen Stelle sparen. ({6}) Ihre vermeintliche Sparpolitik wird die Kommunen - das ist das Problem - teuer zu stehen kommen; denn jeder Jugendliche, der heute nicht integriert wird, bekommt morgen keinen Ausbildungsplatz, hat übermorgen keine Arbeit und schließlich keinen eigenen Rentenanspruch. Dies verursacht deutlich höhere Kosten als ein Eingliederungshilfeanspruch nach dem KJHG. Ihr Vorschlag hat mit Nachhaltigkeit überhaupt nichts zu tun. ({7}) Eine solche Politik können wir nicht zulassen. Herr Scheuer, bei allem Verständnis für die kommunale Haushaltssituation werden wir sicherstellen, dass bedürftige Kinder Hilfe erhalten. Es bringt uns nicht weiter, Probleme zu ignorieren, indem man sie als nicht wesentlich bezeichnet, und Kosten einfach auf andere Träger abzuwälzen. Das führt uns in eine Sackgasse. ({8}) Eltern und Kinder in schwierigen Situationen brauchen oft professionelle Hilfe. Sie bekommen sie von den örtlichen Jugendämtern. Das ist gut und das ist richtig so. Das haben wir gewollt; dazu haben wir das KJHG geschaffen. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir diesen Familien die Hilfe, die sie brauchen, nehmen. Es bringt uns aber sehr wohl weiter, wenn wir für die Familien vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, damit sie gar nicht erst in schwierige Situationen kommen. Genau das tut die Bundesregierung: Sie setzt nicht auf einfallslose Sparpolitik, sondern auf einen investierenden Sozialstaat. ({9}) Sie setzt auf den Ausbau der Infrastruktur für Kinder und Familien. Unser Schlüsselwort heißt: Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Bildung ist nämlich ein Ticket für die Zukunft. ({10}) Deshalb bauen wir die Betreuung und die Bildung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und in Ganztagsgrundschulen aus. Kinder früh groß und stark zu machen heißt, sie zu stabilen Persönlichkeiten heranzubilden, die später möglichst keine Eingliederungshilfe nach dem KJHG benötigen. Chancengleichheit in der Bildung bedeutet aber auch, dass wir - möglichst bundesweit einheitliche Standards entwickeln müssen. Damit komme ich zu einem weiteren Ihrer Vorschläge: Lockerung von Zuständigkeiten. Sie wollen erreichen, dass Kindertageseinrichtungen künftig nicht mehr vom überörtlichen Träger, sondern von der Kommune selbst beaufsichtigt werden. Das heißt, die Kommune, die einen Kindergarten unterhält, könnte künftig selbst die Qualität dieser Einrichtung kontrollieren. Ich denke, das ist absurd, vor allen Dingen dann, wenn Standards eingehalten werden sollen. ({11}) Herr Scheuer, Sie fordern, die Kommunen zu entlasten. Aber dadurch tun Sie es in diesem Bereich nicht: Den Kommunen werden mehr Kosten aufgebürdet, weil sie diese Aufsicht durchführen müssen. Also gilt auch hier: Ziel nicht erreicht! Wir brauchen keine Leistungskürzungen, Verschiebebahnhöfe und Verschlechterung der Bildungschancen, wie Sie sie vorschlagen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die § 1 des Kinderjugendhilfegesetzes entsprechen, nämlich Rahmenbedingungen, die gewährleisten, dass jeder einzelne junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Persönlichkeitsentwicklung erhält. Die Bundesregierung schafft diese Rahmenbedingungen mit ihren Investitionen in Bildung und Betreuung. Liebe Frau Fischbach, das sind diejenigen Zukunftsinvestitionen, die Sie selbst in der am Anfang meiner Rede erwähnten Zeitschrift fordern. ({12}) Wir haben die Weichen richtig gestellt. Ich lade Sie herzlich ein, gemeinsam mit uns auf diesem richtigen Weg weiterzugehen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/1114 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 e auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften - Drucksache 15/350 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten - Drucksache 15/29 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 15/1311 - Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Dr. Norbert Röttgen Jerzy Montag b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexual- straftäter auf den Prüfstand stellen - Drucksachen 15/31, 15/1311 - Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Dr. Norbert Röttgen Jerzy Montag c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Einsatzes der DNA-Analyse bei Straftaten mit sexuellem Hintergrund - Drucksache 15/410 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksache 15/778 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - Drucksache 15/899 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht es nicht nur um so spektakuläre Fälle wie den Fall des kleinen Pascal im Saarland, der vor einiger Zeit durch die Presse ging. Es geht um viele Tausend Übergriffe. Im Jahr 1999 waren es rund 20 000 Kinder, die die Polizei als Opfer von sexueller Gewalt registrierte. Das aber - das wissen wir alle - ist nur die Spitze des Eisbergs. Im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist eine Dunkelziffer von rund 70 Prozent zu verzeichnen. Kinderschutzexperten nehmen sogar an, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher ist. Trotz aller Fortschritte, die wir gemacht haben, ist es immer noch eine traurige Realität, dass Kinder über Monate und Jahre hinweg gequält werden, ohne dass sich jemand für sie einsetzt oder ihnen beisteht. Dagegen sollten wir etwas tun. Das war die einhellige Meinung in dem Gesetzgebungsverfahren. Nur: Darüber, wie dieses Tun aussehen soll, sind die Meinungen doch sehr deutlich auseinander gegangen. Im Ergebnis muss ich konstatieren, dass es keine Einigkeit gibt. Ich hatte mit der Fraktion der SPD und der Fraktion der Grünen vorgeschlagen, eine Anzeigepflicht einzuführen. Dieser Vorschlag hat sich als der wohl umstrittenste Punkt in dem ganzen Gesetzgebungsverfahren überhaupt erwiesen. Sie wissen, dass wir uns nun entschlossen haben, auf die Anzeigepflicht zu verzichten. Das beruht zum Teil auf der Kritik der Opferverbände. Sie haben bei der Anhörung im Bundesministerium der Justiz verschiedene Punkte dafür angeführt, dass sie die Anzeigepflicht nicht mittragen können. Im Ergebnis war dafür vor allem die Unsicherheit über ihren eigenen Rechtsstatus in dem Verfahren maßgebend. Insoweit kann ich einen Teil der Argumente nachvollziehen. In dem anderen Teil geht es mehr um Fragen des Glaubens daran, dass eine bestimmte Entwicklung so oder so ihren Lauf nimmt. Das ist einer empirischen Prüfung nicht so recht zugänglich. Betroffene Jugendliche haben uns gesagt, dass sie eine Anzeigepflicht für richtig halten und dafür eintreten würden. Man sieht also: Die Wahrnehmungen können auch in dem Bereich sehr unterschiedlich sein. Ich kann Ihnen versprechen: Ich werde das Thema nicht fallen lassen. Ich meine nach wie vor, dass die Anzeigepflicht ein richtiger Weg ist, und werde weiter die Diskussion zu verschiedenen Punkten führen, um zu sehen, ob sich vielleicht in der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere in der Wahrnehmung der Verbände etwas ändert. Wir sind uns aber einig darüber, dass es keinen Sinn macht, ein Gesetz zu schaffen, wenn die Betroffenen von vornherein sagen, dass sie damit nicht arbeiten wollen und nicht arbeiten werden. Deshalb haben wir darauf verzichtet. Die Frage ist nur, was es für Alternativen gibt. Das Bedauerliche ist, dass ich weder aus diesem Haus noch von den Opferverbänden Alternativen gehört habe, die man umsetzen sollte, um zu einer Verbesserung der Situation zu kommen. Deswegen sollten wir an diesem Thema gemeinsam weiterarbeiten. Wir schlagen jetzt zunächst vor, eine Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto „Hinschauen statt Wegschauen“ zu starten. ({0}) Dieses Prinzip wollten wir ja auch mit der Anzeigepflicht stärken. Das ist das, was wirklich wichtig ist. Das Bundesministerium der Justiz wird gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium Maßnahmen dazu unternehmen. Wir werden uns auch gemeinsam an Bund und Länder wenden, um zu erreichen, dass in den Schulen insofern für mehr Sensibilität geworben wird. Da gibt es offenbar noch Erlasse, die Lehrer daran hindern, in einzelnen Bereichen tätig zu werden. Wir werden dafür werben, dass ehrenamtliche Mitarbeiter besser geschult werden und vor allen Dingen auch im Bereich von Justiz und Polizei die Fortbildung weiter ausgebaut wird. Wir haben von den Opferverbänden gelernt, dass die Fortbildung gerade bei der Polizei, was den Umgang mit den Opfern angeht, schon relativ weit gediehen ist, während bei der Justiz sehr häufig mangelnde Sensibilität beklagt wird. ({1}) Das Thema werde ich mit den Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der Justizministerkonferenz besprechen. Wir werden auch in den Fortbildungseinrichtungen, die der Bund mitfinanziert, spezielle Angebote ins Programm aufnehmen, weil, wie ich meine, diesem Missstand ein Ende gemacht werden muss. Dazu gehört auch, dass die Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern, Opferschutzverbänden, Polizei, Gerichten und Staatsanwaltschaften verbessert werden muss. Wir werden hierzu eine Tagung veranstalten, auf der wir die jeweils Verantwortlichen zusammenbringen und gemeinsam überlegen, wo es am meisten hakt. Lassen Sie mich noch zu einem weiteren Punkt kommen, der uns sehr wichtig war. Es geht um den Schutz behinderter Menschen vor sexuellen Übergriffen. Dieses Thema vermisste man im Entwurf des von der Opposition eingebrachten Gesetzes zunächst völlig. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sind wir uns auch da ein wenig näher gekommen. Beim sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen haben wir nun den Gleichlauf zum strukturell verwandten sexuellen Missbrauch bei Kindern hergestellt und die Strafrahmen entsprechend angepasst. Das heißt, es gibt in Zukunft keine minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen mehr. ({2}) Damit wird es auch grundsätzlich keine Geldstrafen für solche Taten mehr geben, sondern nur noch Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten. Besonders schwere Fälle werden mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr belegt. Mit einer anderen Regelung erfüllen wir eine schon seit Jahren vorgebrachte Forderung der Behindertenverbände. Künftig wird der Beischlaf mit einem widerstandsunfähigen Menschen ebenso wie die Vergewaltigung bestraft, nämlich mit mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe. Wir haben bei sehr vielen Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen oder unter Ausnutzung eines spezifischen Machtverhältnisses dafür gesorgt, dass die Verjährung ebenso wie bei anderen Fällen ruht. Das heißt, künftig wird die Verjährungsfrist für diese Taten bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Opfer 18 Jahre alt wird, nicht laufen. Dann tritt vielmehr die normale Verjährungsfrist ein. Das heißt, jede Frau und jeder Mann kann, wenn er oder sie erwachsen ist und sich die schweren Folgen von Vergewaltigungen im Kindesalter, wie es häufig der Fall ist, dann einstellen, noch den Täter zur Anzeige bringen und Klage einreichen. ({3}) Zugunsten der Opfer haben wir auch geregelt, dass Opfern, die ihre eigenen Interessen nicht hinreichend wahrnehmen können, ein kostenloser Opferanwalt beigeordnet wird; sie erhalten insofern eine Unterstützung. ({4}) Zwei weitere Punkte möchte ich gerne noch erwähnen: Zum einen war es uns ein Anliegen, die Verbreitung von Kinderpornographie über das Internet wirksamer zu bekämpfen. Sie wissen, dass sich diese über dieses Medium sehr schnell verbreitet. Wir mussten feststellen, dass die diesbezüglichen Strafandrohungen, die wir im Gesetzbuch hatten, bei weitem nicht mehr ausreichen. Der Handel in den so genannten geschlossenen Benutzergruppen im Internet war von unserem Strafgesetzbuch nämlich nicht umfasst. Deswegen bedurfte es einer Änderung. Es können jetzt Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren verhängt werden, um dem Handel gerade in diesen geschlossenen Benutzergruppen Einhalt zu bieten. ({5}) Wir versprechen uns davon nicht nur eine Reduzierung der Nachfrage nach solchen Bildern, sondern darüber hinaus vor allen Dingen eine Reduzierung der Produktion. Man muss sich ja eines klar machen: Jedem Bild, das im Internet gehandelt wird, ist ja vorher ein Missbrauch des Kindes oder eine Gewalttat vorausgegangen; das ist ja nötig, damit so etwas fotografiert werden kann. Darauf zielen wir auch eigentlich hin. Schließlich - das ist der nächste Punkt - werden wir mit der vorgeschlagenen Möglichkeit der vorbehaltenden Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, eine Gesetzeslücke schließen. Die Gerichte können sich künftig auch bei den 18- bis 21-Jährigen, die nach Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden, die Entscheidung über eine Sicherungsverwahrung bis zur Entlassung des Täters vorbehalten. Das setzt voraus, dass der Heranwachsende schwere Straftaten mit erheblicher Schädigung seiner Opfer begangen hat und entsprechende Taten von ihm auch in Zukunft zu befürchten sind. Mit dieser Regelung tragen wir zum einen dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit Rechnung; wir berücksichtigen zum anderen aber auch - darauf möchte ich gerne besonders hinweisen - die Besonderheiten dieser Altersgruppe und die besondere Verantwortung des Staates zur Förderung einer positiven Entwicklung von jungen Menschen, selbst wenn sie schwere Straftaten begangen haben. Der Vorschlag eröffnet nicht pauschal - wie der Entwurf der CDU/CSU-Fraktion es vorsieht - die Vorschriften des allgemeinen Strafrechts zur Sicherungsverwahrung, sondern es wird eine spezifische Lösung für diese Altersgruppe geschaffen, die wir auch angesichts der wissenschaftlichen Diskussion für erforderlich halten. Ich meine, dass der Gesetzentwurf mit den vom Rechtsausschuss empfohlenen Änderungen eine ausgewogene und in sich geschlossene Lösung für die anstehenden Fragen des Sexualstrafrechts darstellt. Die Kinder- und Opferschutzverbände haben das im Übrigen auch zum Ausdruck gebracht: Sie haben gesagt, dass sie die vorgesehenen Regelungen sehr gut fänden, dass sie sich einzig und allein an der Anzeigepflicht gestört hätten. Die Opposition fordere ich auf: Nehmen Sie den Opferschutz ernst und stimmen Sie mit uns für dieses Gesetz. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen aus - ({0}) - Von der CDU/CSU-Fraktion. - Ich hätte hinzufügen können: Aus dem Rhein-Sieg-Kreis.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist eine besondere Ehre, dass mein schöner Wahlkreis hier Erwähnung findet. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts erfordert von uns als Gesetzgeber eine Gratwanderung. Geboten ist sowohl konsequente Entschlossenheit als auch die Wahrung des rechtsstaatlichen Maßes. ({0}) Emotionale Anteilnahme an Einzelschicksalen ist legitim. Die politische Instrumentalisierung solcher Einzelschicksale, wie wir sie leider erlebt haben, ist nicht legitim, sie ist abstoßend. ({1}) Sagen Sie das Ihrem Bundeskanzler. Die Erwartung der Bevölkerung an den Staat ist wahrscheinlich höher, als sie der auf Rationalität und Rechtsstaatlichkeit verpflichtete und dadurch begrenzte Staat erfüllen kann. Rechtsstaatlichkeit und grundrechtlicher Schutz der Bürger bilden aber nicht nur eine Grenze des staatlichen Handelns, sondern auch ein Handlungsgebot, wenn und weil es um den Schutz von Schwachen, den Schutz von Kindern, von Behinderten und von Frauen, gegen sexuelle Gewalt geht. Darum ist das rechtsstaatlich Mögliche zugleich das rechtsstaatlich Nötige. Die Koalition, unter Einschluss des Bundeskanzlers, ist in den letzten Monaten bei dieser Gratwanderung ein paar Mal abgerutscht. Frau Zypries, auch Sie haben bei Ihrem ersten wichtigen Gesetzgebungsvorhaben nicht sicher geführt. Nicht nur der Weg, sondern auch das Ergebnis ist nicht überzeugend. Das möchte ich anhand von fünf konkreten Punkten nachweisen: Erstens. Frau Zypries, am Anfang stand Ihre Forderung, sexuellen Missbrauch nicht mehr nur als Vergehen, sondern als Verbrechen zu verfolgen. In einem Interview der „taz“ vom 20. November 2002 haben Sie dazu erklärt: Diese Heraufstufung soll deutlich machen, dass der Kindesmissbrauch zu den abscheulichsten Straftaten überhaupt gehört. Ich zitiere weiter: Es geht darum, der Gesellschaft ein Signal zu geben, dass auch die nicht ganz schweren Fälle besonders verwerflich sind … Aber selbstverständlich müssen die angedrohten Strafen angemessen sein. Deshalb muss es die Möglichkeit geben, minder schwere Fälle auch mit weniger als einem Jahr Haft zu bestrafen. Diese Aussage der Bundesjustizministerin, die sie während ihrer Amtszeit machte, entspricht exakt der Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Stimmen Sie ihr also zu. In der letzten Runde haben Sie bekannt, das sei ein Irrtum gewesen. ({2}) Vielleicht war es nicht nur ein Irrtum; denn der rechtspolitische Sprecher der Grünen hatte in Reaktion auf Ihre Ankündigungen sofort erklärt, Frau Zypries habe dabei nur „für sich“ gesprochen. Politisch hat er leider Recht behalten, auch wenn er in der Sache nicht Recht hatte. Unsere erste Forderung ist es, Kindesmissbrauch nicht so zu behandeln wie Ladendiebstahl und Sachbeschädigung, sondern deutlich zu machen, dass Kindesmissbrauch die schwerste Einstufung als abscheuliches Verbrechen verdient. ({3}) Dieses gesellschaftspolitische Signal müssen wir geben. Alle Ihre Kampagnen nützen nichts, wenn der Gesetzgeber selber diese Wertung nicht ernsthaft ausspricht. ({4}) - Dann richtet sich dieser Vorwurf der reinen Polemik an Ihre Bundesjustizministerin, die unsere Position vertreten hat. ({5}) Zweitens. „Wer bei Kindesmissbrauch wegschaut, muss ins Gefängnis.“ Diese Überschrift der „Bild am Sonntag“ drückte das nunmehr wichtigste Anliegen der Frau Justizministerin aus. Sie haben für diese Auffassung gekämpft, aber Sie sind mit dieser Auffassung alleine geblieben. Ich finde es bemerkenswert, mit welcher Offenheit Sie heute eingeräumt haben, dass Sie sich nicht haben durchsetzen können und dass Sie diesen Gesetzentwurf, der gleich beschlossen werden wird, in diesem für Sie entscheidenden Punkt nicht für richtig halten. Das ist auch das Eingeständnis mangelnder politischer Durchsetzungsfähigkeit. ({6}) Sie sind die Bundesjustizministerin und nicht nur irgendein Mitglied des Bundestages, das sich auf diese Art äußern kann. Sie sind, wie gesagt, mit Ihrer Auffassung allein geblieben. In der Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses haben alle Ihrer Auffassung widersprochen. Die Rechtspraktiker haben gesagt, diese Vorschrift, die die Justizministerin immer noch für richtig hält, sei nicht praktikabel. Die Rechtswissenschaftler haben davon gesprochen, dass sie überflüssig sei. Die Vertreter der Opferverbände waren der Meinung, sie sei kontraproduktiv. Ich zitiere den Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kinderschutzzentren, der in einem Gespräche mit „Spiegel Online“ sagte: Wenn das Gesetz geworden wäre, hätte das einen Sprengsatz in das gesamte System der Jugendhilfe gelegt. - Sie haben Ihre Meinung nicht geändert und Sie haben sich nicht durchsetzen können. Für den Verzicht auf Ihr wichtigstes Anliegen wurde Ihnen von den Grünen eine kleine Konzession bei der Sicherungsverwahrung gemacht. Die Sicherungsverwahrung soll nun bei Heranwachsenden, auf die Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, möglich sein. Diese Forderung - das ist auch eine Forderung von uns - hatten Sie immer vehement abgelehnt, weil das Ganze nach Ihrer Meinung verfassungsrechtlich nicht möglich sei. ({7}) Ihre Bereitschaft, auf Kommando in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, ist schon beachtlich, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen. Wir halten das, was Sie vorschlagen, immer noch nicht für ausreichend. Es bleibt noch eine Lücke. Wir halten es im Hinblick auf die potenziellen Opfer von Sexualverbrechen für nicht hinnehmbar - ja für skandalös -, dass der Staat Verbrecher, die wahrscheinlich erneut ein Gewaltverbrechen begehen werden, auf freien Fuß setzt. Diese gegenwärtige Rechtslage wollen Sie nicht ändern. Natürlich ist das ein großer Eingriff in die Freiheit des Straftäters. Darum sind hohe Anforderungen an das Verfahren zu stellen. ({8}) Aber wenn unabhängige Gutachter zu dem Ergebnis kommen, dass die Wiederholungswahrscheinlichkeit hoch ist, dann muss die Abwägung zugunsten des Opfers und nicht zugunsten des Täters ausfallen. Es ist ein rechtsstaatliches Gebot, Opfer zu schützen. ({9}) Wir können dem Bürger doch nicht vermitteln, dass der Staat nicht anders handeln kann und den Täter auf freien Fuß setzen muss, obwohl dieser Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein Verbrechen begehen wird. Erst wenn er erneut ein Verbrechen begeht, sind Sie bereit, ihn in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Das ist zynisch und absurd. Diese Verweigerung des Schutzes von Opfern und der Bevölkerung ist keinem Menschen zu erklären. Sie haben zu der nachträglichen Sicherungsverwahrung unterschiedliche Auffassungen. Die Grünen haben dazu noch im Ausschuss erklärt, sie sei aus materiellverfassungsrechtlichen Gründen nicht haltbar. Herr Stünker hat ebenfalls erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken geäußert und davon gesprochen, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung hoch problematisch sei. ({10}) In der Sitzung des Rechtsausschusses war Ihr Ministerium auf mehrere Nachfragen des Kollegen Krings nicht in der Lage, zu sagen, was denn Ihre verfassungsrechtliche Auffassung zu diesem Punkt ist. Der Parlamentarische Staatssekretär hat sich herausgewunden. ({11}) Sie, Frau Zypries, halten materiell-verfassungsrechtlich eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für zulässig; denn Sie haben die Länder aufgefordert, eine entsprechende Vorschrift zu erlassen. Das ist erneut ein offener Dissens! Was gilt eigentlich in der Koalition auf dem Gebiet der Rechtspolitik? ({12}) Das bestätigt unsere These von der strukturellen Handlungsunfähigkeit der Koalition auf diesem Gebiet. ({13}) Sie können aus politischen Gründen nicht handeln und das Notwendige tun. Ich komme zum genetischen Fingerabdruck. Was spricht eigentlich dagegen, dieses präventive Instrument konsequent auszunutzen und den genetischen Fingerabdruck auf alle Straftäter anzuwenden, die eine Straftat mit sexuellem Hintergrund begangen haben? Das würde dem Straftäter klar machen, dass er bei der nächsten Straftat erwischt wird. Sie setzen aus ideologischen Gründen dieses Instrument nicht ein. Der letzte Punkt betrifft den sexuellen Missbrauch von Widerstandsunfähigen. Die betroffenen Behinderten halten es für diskriminierend, dass das Ausnutzen ihrer Widerstandsunfähigkeit nicht in gleicher Weise bestraft wird wie das Brechen des Widerstandes. ({14}) - Nein, das ist falsch. - Der sexuelle Missbrauch von Widerstandsunfähigen ist kein Verbrechen. Unsere Forderung ist, diese Tat als Verbrechen einzustufen. Warum weigern Sie sich, dieser Forderung nachzugeben? Ich zitiere den früheren sozialdemokratischen Kollegen -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Herr Röttgen, Ihre Redezeit ist schon erheblich überschritten.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich ende mit dem Zitat des früheren sozialdemokratischen Abgeordneten Antretter, der mir in einem Schreiben mitgeteilt hat: Sowohl Frau Ministerin Däubler-Gmelin als auch Frau Ministerin Zypries hatten uns zugesagt, sich für eine entsprechende Änderung des StGB einzusetzen. Gemeint ist damit die Einstufung des sexuellen Missbrauchs von Widerstandsunfähigen als Verbrechen. Auch diese Ankündigung ist nicht realisiert worden. Sie halten die Forderungen nicht ein, die Sie an sich selbst gestellt haben. Dieses Gesetz ist eine Kette eingestandener Irrtümer, erzwungener Korrekturen und fauler Kompromisse. Darum findet es unsere Zustimmung nicht. Wir haben einen überlegenen Entwurf eingebracht. Wenn Sie ihm zustimmen, tun Sie etwas für den Opferschutz. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was lange währt, wird endlich gut. So könnte man das Gesetzgebungsverfahren zum Sexualstrafrecht beschreiben. Anhörungen, produktiver Streit und die Lehre, dass das, was gut gemeint ist, manchmal doch nicht gut ist, haben jetzt zu einem guten Ergebnis geführt: Der Schutz der Opfer wird verbessert, die Strafwürdigkeit einer Tat wird im Strafmaß deutlich gemacht und Strafbarkeitslücken werden geschlossen. Leider gehören alle Formen von sexualisierter Gewalt zu den alltäglichen Verbrechen in Deutschland. Sie wissen, dass viele dieser Straftaten die Opfer an Körper und Seele verletzen und ihre Persönlichkeit tiefgreifend verändern. Die Zahlen der Kriminalstatistik belegen es: Die sexualisierte Gewalt an Kindern hat im letzten Jahr um 6 Prozent zugenommen. Ich benutze den Begriff „sexualisierte Gewalt“ bewusst; denn das Wort „Missbrauch von Kindern“ impliziert, dass es auch einen Gebrauch von Kindern gibt. Dies werden wohl alle in diesem Hause ablehnen. ({0}) Auch bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung hat es 2002 eine Erhöhung um bis zu 14 Prozent gegeben. Ich sehe darin eine erhöhte Bereitschaft, diese Delikte anzuzeigen. Dies ist sicherlich auch ein Erfolg des 2002 in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetzes, das Frauen in die Rechtsposition versetzt, sich effektiver gegen Gewalttäter zur Wehr zu setzen. Das ist praktizierter Opferschutz. Auch mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den dazu eingebrachten Änderungen verfolgen wir das Ziel, die Opfer zu stärken. Unsere Leitlinie - sozusagen der rot-grüne Faden der Reform - ist die Verbesserung des Opferschutzes. Dabei gilt unser Augenmerk ganz besonders den Kindern und den Menschen mit Behinderung. Unser Bemühen, zusammen mit der Bundesregierung dieses Gesetz in allen Punkten optimal auf die Erfordernisse der Praxis abzustimmen, ist auch daran zu erkennen, dass noch im Gesetzgebungsverfahren wesentliche Verbesserungen erreicht wurden. Den Rat der Fachexpertinnen und -experten aus den Verbänden und der gerichtlichen Praxis haben wir aufgenommen. Herr Kollege Röttgen, es gibt hier überhaupt keinen Anlass für Häme gegenüber der Ministerin. Für mich ist es ein Zeichen von Stärke, die eigene Position zu verändern, wenn man damit etwas Besseres bewirken kann. ({1}) Dafür danke ich Ihnen, Frau Ministerin, ausdrücklich. Meine Damen und Herren, ich gehe zunächst auf die Änderungen zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt ein. Gerade diese verabscheuungswürdigen Verbrechen erregen in der Öffentlichkeit immer wieder besonderes Aufsehen. Hier haben wir Strafbarkeitslücken geschlossen. Bisher waren teilweise schwer wiegende Gefährdungen von Kindern straffrei, zum Beispiel das Anbieten von Kindern im Internet. Der Gesetzentwurf reagiert auf die neuen Entwicklungen bei der Internetkriminalität. So können in Zukunft auch Täter verfolgt werden, die Kinder im Internet anbieten. Daneben haben wir auch den Strafrahmen für Kinderpornographie angehoben; denn Kinderpornographie ist für uns keine Bagatelle. ({2}) Ebenso wird es keine bloße Geldstrafe mehr bei sexuellem Missbrauch geben. Stattdessen wird die Mindeststrafe eine Freiheitsstrafe von drei Monaten sein. Dies macht den Unrechtsgehalt der Tat deutlicher. Die Möglichkeiten, einen minder schweren Fall anzunehmen, haben wir stark eingeschränkt. Bei sexuellen Übergriffen empfinden die Opfer die Bezeichnung „minder schwer“ oft als Verharmlosung. Daher wurde diese Möglichkeit auch nur für den Einzelfall beibehalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, die von Ihnen vorgeschlagene Mindeststrafe von einem Jahr für jede Form von sexuellem Missbrauch von Kindern ist eine Mogelpackung. ({3}) Auf der einen Seite suggerieren Sie, es handle sich in jedem Fall um einen Verbrechenstatbestand, selbst wenn es um eine einvernehmliche sexuelle Handlung zwischen einer 13-Jährigen und einem 15-Jährigen geht. Auf der anderen Seite wollen Sie den minder schweren Fall beibehalten, der sogar mit einer Geldstrafe geahndet werden kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage? ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dies hat sich mit meinem letzten Satz erledigt. - Herr Röttgen, Sie sollten warten, bis ich fertig bin. Dann stimmen auch Sie mir zu. ({0}) Menschen mit Behinderungen sind besonders gefährdet, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Auch sie erhalten endlich den gleichen strafrechtlichen Schutz wie alle anderen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Herr Kauder möchte eine Zwischenfrage stellen. Sie genehmigen das?

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kauder.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, weil es zum zweiten Mal falsch gesagt wird, erlaube ich mir eine Zwischenfrage: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass nach § 47 Abs. 2 StGB Freiheitsstrafen von bis zu einem halben Jahr auch als Geldstrafen verhängt werden können und dass Ihre Behauptung, die Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten lasse eine Geldstrafe nicht zu, demnach falsch ist?

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diese Mindeststrafe haben wir auf drei Monate festgesetzt. Natürlich besteht die Möglichkeit, in jedem einzelnen Falle eine Geldstrafe zu verhängen; das wissen wir. Trotzdem ist es wichtig, ein Signal zu geben, dass ein sexualisierter Missbrauch nicht mit Geld entkräftet werden kann. Für die Opfer, die Unrecht erlitten haben, ist es sehr wichtig, zu wissen, dass der Täter möglicherweise auch ins Gefängnis gehen muss. - Vielen Dank. ({0}) Ich möchte jetzt auf die widerstandsunfähigen Personen und damit auch gleich auf die Position der CDU/ CSU eingehen: Auch hier haben Sie gefordert, dass der Grundtatbestand der Vergewaltigung mit einem Jahr Strafe belegt wird. Wir haben gesagt: Wir belassen die jetzige Regelung. Aber die Mindeststrafe haben wir gestrichen. Insofern ist das zwar rechtsdogmatisch etwas anderes; aber wir kommen zu dem gleichen Ergebnis. Wir haben mit den Behindertenverbänden sehr intensiv darüber gesprochen. Die Vergewaltigung einer widerstandsunfähigen Person ist mit zwei Jahren Freiheitsstrafe belegt. In anderen Fällen wird § 177 StGB in Anrechnung gebracht; das wissen Sie genauso wie ich. ({1}) Wir haben weitere Verbesserungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen erreicht. Ich nenne hier nur die zwingende Nebenklagevertretung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung, die Gleichstellung im ambulanten und stationären Bereich und die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs in der Therapie bei körperlich Behinderten, die bisher davon ausgenommen wurden. Aber alle gesetzlichen Verbesserungen - so nötig sie sind - haben eine Grenze und die heißt: Strafanzeige. Denn es lässt sich nur das verfolgen, was vorher zur Anzeige gebracht wurde. Deshalb muss es in unser aller Interesse sein, die Anzeigenbereitschaft zu erhöhen. Die Absicht, Menschen verstärkt zum Hinschauen zu bewegen, anstatt wegzuschauen, hat die Praxis begrüßt. Ernst zu nehmende Bedenken haben dazu geführt, die geplante Anzeigenpflicht wieder zurückzunehmen. Missbrauchsopfer brauchen Zeit. Sie brauchen unterstützende Hilfe durch Vertrauenspersonen, bevor sie im Strafverfahren aussagen können. Eine Pflicht zur Anzeige hätte für die Opfer die Hemmschwelle angehoben, sich jemandem anzuvertrauen. Erfahrungsgemäß ist das betroffene Kind dann zu keinerlei Aussage mehr bereit. Möglicherweise bliebe es dem sexuellen Missbrauch länger ausgeliefert. Wir brauchen präventive Maßnahmen, Aufklärungsaktionen und ein möglichst breites Angebot an Beratungsmöglichkeiten. Ich stimme mit dem FDP-Antrag überein. Es tut gut, dass die FDP ihr Rechtsstaatsprofil schärfen möchte. Denn der Ausfall von Frau Pieper, Menschen für etwas zu bestrafen, was andere getan haben, hatte mit Rechtsstaatlichkeit und liberalem Denken nicht sehr viel zu tun. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wir sind in vielen Punkten auf Sie zugegangen. Wir haben die Möglichkeit der DNA-Analyse auf alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erweitert, im Einzelfall bei einer geringfügigen Tat. Aber das ist Ihnen noch immer nicht genug: Sie fordern eine umfassende Erweiterung auf andere Delikte. Für uns ist das rechtsstaatlich äußerst bedenklich. Da machen wir nicht mit. ({2}) Ebenso sieht es mit der Sicherungsverwahrung für Heranwachsende aus. Sie wollen eine nachträgliche Anordnung bis zum Tage vor der Entlassung, ohne dass das Gericht das im Urteil vorgesehen hat. Das halten wir für verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Stattdessen haben wir uns für einen eng eingegrenzten Bereich entschieden, zum Beispiel wenn jemand zu einer Strafe von fünf Jahren verurteilt wurde und der Vollzug der Strafe grundsätzlich in einer sozialtherapeutischen Anstalt erfolgt. Im vorliegenden Gesetzentwurf und im Entschließungsantrag wird der Fokus auf die strafrechtlichen Aspekte gelegt. Allerdings kann das beste Strafrecht nicht ersetzen, was wir alle zu verantworten haben: eine sensible und aufmerksame Gesellschaft, die jede Form von sexualisierter Gewalt ächtet und den Opfern Schutz und Hilfe bietet. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir bei der Beratung der verschiedenen Gesetzesinitiativen zum Sexualstrafrecht von einer anfänglich sehr emotionalen Diskussion doch zu einer der Sache angemessenen Debatte gefunden haben. ({0}) Damit können wir der Ernsthaftigkeit des Themas gerecht werden. Die Tatsache, dass man nach den umfassenden Reformen der vergangenen Legislaturperioden erneut zu einer Reform dieses Themenkomplexes kommt, zeigt, wie sehr dieser Bereich in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt ist. Trotzdem dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, die notwendige juristische Feinarbeit hinter plakativen Aktionismus zurücktreten zu lassen. ({1}) Hier sind gerade die Aufstufung des Strafrahmens bei sexuellem Missbrauch von Kindern vom Vergehen zum Verbrechen sowie der Wegfall des minder schweren Falles zu nennen. Dies mag den Eindruck der Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers bei der Bevölkerung hervorrufen, hat aber den gegenteiligen Effekt, da absehbar ist, dass in der Praxis die Neigung zur Einstellung von Bagatellfällen steigen wird. Zu Recht sollte aber hier die Strafbarkeitsschwelle schon früh einsetzen, um einen möglichst hohen Schutz von Opfern gerade in Anfangsbereichen solcher Straftaten zu erreichen. Im Übrigen kann man durch die Verschiebung von Strafrahmen keinen Richter veranlassen, diese Strafrahmen tatsächlich auszuschöpfen. Hier ist die Regierung ebenso wie die CDU/CSU-Fraktion schlichtweg auf dem Holzweg. Zu begrüßen sind die Maßnahmen gegen die Verbreitung der Kinderpornographie. Hier sind die Vorschläge von Rot-Grün geeignet, dem offenbar bestehenden Handlungsbedarf gerecht zu werden. Der eigenständige Straftatbestand macht deutlich, dass wir das besondere Unrecht dieser Handlungen würdigen und der durch die Entwicklung gerade des Internets stark veränderten Verbreitungssituation ernsthaft Rechnung tragen. ({2}) Ein weiteres Problemfeld, das in der Diskussion immer wieder angeschnitten wurde, ist die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden. Hier ist grundsätzlich zu sagen, dass die FDP-Fraktion die Einführung dieses Instruments für sinnvoll erachtet. Aus rechtsstaatlicher Sicht sind wir aber für die Vorbehaltslösung, das heißt das Vorsehen der nachträglichen Anordnung der Sicherheitsverwahrung durch das erkennende Gericht. In diesem Zusammenhang sind wir auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts gespannt, die uns hoffentlich bei der Frage, ob diese Materie im Rahmen der Gefahrenabwehr bei den Ländern oder als strafprozessuale Frage in der Kompetenz des Bundes zu regeln ist, Klärung bringen wird. Aus meiner Sicht wäre hier eine bundesweit einheitliche Regelung sehr zu begrüßen, um im gesamten Bundesgebiet einheitliche Sicherheitsstandards zu gewährleisten. Im Moment haben wir da sozusagen einen Flickenteppich, je nach Regelung auf Landesebene. Das ist letztendlich nicht wirklich überzeugend. ({3}) Die Einführung der DNA-Analyse unabhängig von der erheblichen Bedeutung der Anlasstat greift eine Forderung auf, die auch aus der FDP stammt. Sie stellt auf die mittlerweile wissenschaftlich fundierte Erkenntnis ab, dass ein erheblicher Anteil der zunächst als Exhibitionisten auffällig gewordenen Menschen später Täter eines gewalttätigen Sexualdelikts wird. Gerade hier kann nach meiner Auffassung in dem uns allen am Herzen liegenden präventiven Bereich eine Menge getan werden. Hier liegt auch der Schwachpunkt der vorliegenden Entwürfe der Regierungskoalition und der CDU/CSUFraktion. Um die Zahl der Missbrauchsfälle zu verringern, ist ein integriertes Maßnahmenpaket erforderlich, das sich nicht in der Änderung von Strafgesetzen erschöpft. Vielmehr muss die psychosoziale Versorgung von missbrauchten Kindern - ich greife sehr gerne Ihre Aussage, Frau Schewe-Gerigk, auf, dass es sich hier um Opfer von sexualisierter Gewalt handelt, und stelle den Begriff „Missbrauch“ infrage; das Thema ist sexuelle Gewalt an Kindern - gewährleistet und die Präventionsarbeit gestärkt werden. Daran müssen wir arbeiten. Auch eine weitere Stärkung von Opferrechten ist ein Schritt in die richtige Richtung. Hierzu gehören eine weitere Stärkung der Nebenklage, die Bereitstellung eines Opferanwalts sowie die Beteiligung des Opfers im Fall einer Einstellung des Verfahrens, um ihm auch dann noch eine echte Mitwirkungsmöglichkeit zu geben. ({4}) Vor Gericht muss vermieden werden, dass die Kinder ein zweites Mal zu Opfern werden. ({5}) Dazu ist es auch erforderlich, besser auf die bereits geschaffenen zahlreichen Möglichkeiten zu ihrem Schutz im Verfahren hinzuweisen, sodass diese stärker in Anspruch genommen werden. Dies kann auch mit einer gesetzlichen Hinweispflicht auf das Opferentschädigungsgesetz geschehen. Im präventiven Bereich muss eine verstärkte Aufklärung mit einer erhöhten Sensibilität gegenüber den Anzeichen und Phänomenen der sexualisierten Gewalt an Kindern einher gehen. Gerade die Stärkung des Selbstbewusstseins der Kinder ist der beste Schutz vor Übergriffen. Es ist für Kinder sehr wichtig zu erleben, dass ihnen geglaubt wird. Wenn ihre Geschichte aufgrund falsch verstandener Loyalität mit dem Täter oder dessen Umfeld, welches häufig dasselbe ist wie das des Kindes, mit einem Achselzucken abgetan wird, ist es nur noch leichter Opfer. Es handelt sich hier ganz häufig um Beziehungsstraftaten und selten um die in der Presse wahrgenommenen spektakulären Fälle. In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass die Nichtanzeige von Sexualstraftaten nicht in den Katalog des § 138 StGB aufgenommen worden ist. Dies würde zu einer unerträglichen Belastung für potenzielle Zeugen führen, die dann immer in einer Grauzone stehen und sich letztendlich häufig auch dem Vorwurf der falschen Verdächtigung ausgesetzt sehen würden. ({6}) Für sehr wichtig, Frau Ministerin, halte ich Ihren Vorschlag, der mich sehr positiv überrascht hat, die Fortbildung für Richter und Staatsanwälte zu forcieren. Hier besteht ein großer Nachholbedarf und die Justiz, auch die Justiz der Länder, muss sich sehr ernsthaft darum kümmern. Nach meiner Meinung müssen das auch die Familienrichter - es betrifft nicht nur die Strafjustiz, sondern auch die Ziviljustiz, soweit sie mit dieser Problematik zivilrechtlich befasst ist - tun. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Den Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, die Therapiemöglichkeiten für Täter einer Evaluierung zu unterziehen und ein Forschungsprojekt in diesem Feld durchführen zu lassen, halten wir für sehr richtig und notwendig. Sie sehen, meine Damen und Herren, dass alle von der FDP-Fraktion gemachten Vorschläge im Entschließungsantrag der FDP-Fraktion ihren Niederschlag finden. Wir hoffen, dass damit tatsächlich dem Thema der Sexualstraftaten fachlich sehr viel besser entsprochen wird und letztendlich auch für die Opfer eine Entwicklung eintritt, die ihnen hilft und ihnen die Möglichkeit bietet, sich wieder in der Gesellschaft zurechtzufinden, nachdem sie Schweres erlebt haben. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Renate Gradistanac von der SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sexueller Missbrauch von Kindern - ich bleibe jetzt bei dem eingeführten Begriff, obwohl ich sehr viel mehr Sympathie für den Begriff sexualisierte Gewalt habe, den Sie verwendet haben -, Kinderpornographie, Kinderhandel und Kinderprostitution sind abscheuliche Straftaten und müssen konsequent verfolgt und bestraft werden. Diesem Ziel kommen wir mit der heutigen Reform des Sexualstrafrechts ein großes Stück näher. ({0}) Gleichzeitig ist die Reform ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung des nationalen Aktionsplans zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Daran möchte ich ausdrücklich erinnern. ({1}) Der Aktionsplan geht zurück auf den Zweiten Weltkongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern, der im Dezember 2001 in Yokohama stattgefunden hat. Wir durften mitreisen; Herr Haupt, Sie wissen bestimmt noch - ich erinnere mich besonders gut daran -, dass sich die teilnehmenden Staaten verpflichtet haben, anhand einer nationalen Gesamtstrategie die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umfassend zu bekämpfen. Der Aktionsplan bündelt ressortübergreifend einen Katalog von Maßnahmen, die vier Ziele verfolgen: den strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln - darüber diskutieren wir heute -, Prävention und Opferschutz zu stärken, internationale Strafverfolgung und Zusammenarbeit sicherzustellen und die Vernetzung der Hilfs- und Beratungsangebote zu fördern. Frau Ministerin, Sie haben vorhin einige Beispiele dazu genannt. Die Reform des Sexualstrafrechts ist eine - ich möchte herausstellen: eine - zentrale Maßnahme bei der Umsetzung dieser Ziele. Dabei geht es uns im Gegensatz zur CDU/CSU-Fraktion nicht um eine grundsätzliche Verschärfung. Wir wollen Lücken im Gesetz schließen und eine differenzierte Anpassung vornehmen. ({2}) Das will ich an einigen Beispielen verdeutlichen: Der strafrechtliche Schutz von Kindern gegen sexuellen Missbrauch wird durch neue Straftatbestände verbessert. So macht sich bei einfachem sexuellen Missbrauch ohne Körperkontakt künftig auch strafbar, wer durch Schriften auf ein Kind einwirkt, wer ein Kind zu sexuellem Missbrauch anbietet und wer sich mit einem anderen zum sexuellen Missbrauch eines Kindes verabredet. Damit wird eine große Lücke im Strafgesetz geschlossen. ({3}) In diesem Zusammenhang möchte ich herausstellen, dass wir das so genannte elterliche Erzieherprivileg einschränken. Dadurch wollen wir die Verantwortung der Eltern und Sorgeberechtigten, die zum Beispiel pornographische Schriften zugänglich machen, einfordern. Die Strafbarkeit der Darstellung von Gewalttätigkeit wird um das Merkmal „menschenähnliche Wesen“ erweitert. Gemeint sind künstliche Wesen, Außerirdische oder auch gezeichnete Menschen. Die schockierenden Ereignisse von Erfurt erfordern die verbesserte Bekämpfung von Gewaltdarstellungen. Die heutige Reform umfasst auch den wichtigen Bereich des Kinderhandels. Mündel und Pfleglinge werden in den Kreis der geschützten Personen aufgenommen. Die Schutzaltersgrenze wird von 14 auf 18 Jahre angehoben. Wichtig und richtig ist, dass Nebenklageberechtigte, die aufgrund ihrer psychischen und physischen Situation nicht in der Lage sind, ihre Interessen ausreichend wahrzunehmen, einen so genannten Opferanwalt bestellen können. Im EU-Jahr für Menschen mit Behinderungen - das wurde heute schon verschiedene Male angesprochen freut es mich, dass wir die Forderungen der Behindertenverbände aufnehmen und erfüllen konnten. ({4}) Angeglichen werden die Strafrahmen des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen an die Strafrahmen der sexuellen Nötigung bzw. der Vergewaltigung nach § 177 StGB. Die Einführung einer Anzeigepflicht bzw. Mitteilungspflicht ist nicht weiter verfolgt worden. Wir haben die Bedenken der Praktikerinnen und Praktiker ernst genommen; ich bedanke mich an dieser Stelle für die konstruktive Unterstützung. Damit wird deutlich, dass das Kindeswohl oberste Priorität hat und keine Mechanismen in Gang gesetzt werden, die dem Strafrecht gerade in diesem hoch sensiblen Bereich einen Vorrang einräumen. Frau Ministerin Zypries, wir unterstützen ausdrücklich Ihre Auffassung, dass Menschen mehr Zivilcourage zeigen müssen und „hinschauen statt wegschauen“ sollen. ({5}) Eine breit angelegte Präventionskampagne mit dem Ziel, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für das drängende Problem des sexuellen Missbrauchs zu schärfen, begrüßen wir nachdrücklich. Einen besonderen Handlungsbedarf sehen wir in der Tourismuswirtschaft, die aufgerufen ist, ihren eigenen Ehrenkodex endlich einmal ernst zu nehmen und umzusetzen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Justizminister des Landes Hessen, Christean Wagner. Dr. Christean Wagner, Staatsminister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich spreche zu einer Bundesratsinitiative des Landes Hessen betreffend das Strafvollzugsgesetz. Nach unseren Vorstellungen soll § 2 dieses Gesetzes dahin gehend geändert werden, dass der Schutz der Allgemeinheit als gleichrangiges Vollzugsziel neben der Resozialisierung Berücksichtigung findet. Die im Strafvollzugsgesetz genannten Ziele und Aufgaben des Strafvollzugs müssen nach meiner Überzeugung in eine neue Balance gebracht werden. Der jetzige Gesetzestext erweckt den Eindruck, als müsse der Strafvollzug ausschließlich auf die Resozialisierung des Täters ausgerichtet sein. Unser Anliegen ist Folgendes: Der Schutz der Allgemeinheit vor dem Straftäter darf keine bloß nachrangige Aufgabe des Strafvollzugs sein. ({1}) Im Gesetzestext muss eindeutig zum Ausdruck gebracht werden, dass der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten ebenfalls ein Vollzugsziel ist und dass dieses gleichrangig neben das Ziel der Resozialisierung tritt. Die geltende Fassung des § 2 lautet wie folgt: Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen … Folgendes soll angefügt werden: Zugleich dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten ({2}). Die derzeitige Struktur des § 2 Strafvollzugsgesetz verleitet zu dem Schluss, dass der Schwerpunkt des Vollzugs in der als Vollzugsziel genannten Resozialisierung liegt und dass der Schutz der Allgemeinheit zwar eine Aufgabe, jedoch nicht das Ziel des Strafvollzugs sei. In der Rechtsprechung und der Literatur wird daher konsequenterweise die Auffassung vertreten, dass der Resozialisierung der uneingeschränkte Vorzug gelte. ({3}) Die Resozialisierung sei oberste Richtschnur für die Gestaltung des Vollzugs im Allgemeinen und im Einzelnen. Alle übrigen Aufgaben, also auch der Schutz der Allgemeinheit, und die allgemeinen Strafzwecke des Strafgesetzbuchs, zu denen ich hier auch gern reden würde, dies aber aus Zeitgründen nicht tun kann, seien nachrangig. Die damit notwendig verbundene Inkaufnahme von Risiken etwa bei der Gewährung von Ausgang, Freigang, Urlaub aus der Haft und offenem Vollzug sei gerechtfertigt. Dem Prinzip der Eröffnung von Freiheitsspielräumen zur Einübung sozialer Verantwortung gebühre der Vorrang. Meine Damen und Herren, diese Auffassung teile ich ausdrücklich nicht. Ich halte es nicht für akzeptabel, im Zweifel der Resozialisierung den Vorrang vor der Sicherheit der Allgemeinheit zu geben. Strafvollzug darf nicht auf dem Rücken potenzieller Opfer stattfinden. Mit der Fixierung auf die Resozialisierung als einzigem Vollzugsziel wird verkannt, dass Freiheitsstrafe selbstverständlich auch dann zu vollziehen ist, wenn klar ist, dass dieses Vollzugsziel nicht erreicht werden kann. Meine Damen und Herren, im Übrigen möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Die Gefangenenpopulation mit den Problemgruppen der Ausländer, der Drogenabhängigen und der Gewalttäter hat sich in den letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert. Bundesweit ist der Ausländeranteil von 9 Prozent im Jahre 1977 auf Staatsminister Dr. Christean Wagner ({4}) 30 Prozent im Jahre 2002 gestiegen. Hessen liegt mit einem Ausländeranteil von 44 % an der Gesamtzahl der Gefangenen bundesweit an der Spitze. In der Untersuchungshaft beträgt dieser Anteil in Hessen sogar etwa 64 Prozent. Es muss heute auch zur Kenntnis genommen werden, dass immer mehr Gefangene für Behandlungen ungeeignet sind. Unter den ausländischen Strafgefangenen befindet sich eine steigende Anzahl Gefangener ohne jegliche soziale Wurzel in Deutschland. Das Vollzugsziel der Resozialisierung läuft hier völlig ins Leere. Lassen Sie mich deshalb Folgendes feststellen: Im Gesetzentwurf des Bundesrates wird - das will ich zur Vermeidung von Missverständnissen ausdrücklich sagen keine Alternative zum Resozialisierungsauftrag, sondern die längst überfällige Aufwertung des gleichrangigen Auftrages des Staates zur Sicherheitsgewährleistung postuliert. ({5}) Um es noch einmal mit anderen Worten zu sagen: Das Ziel der Resozialisierung ist parteiübergreifend völlig unbestritten. ({6}) Es ist ein vernünftiges Ziel, dafür zu kämpfen, dass ein straffällig gewordener Straftäter nach Verbüßung der Haft als - ich will es einmal mit meinen Worten sagen rechtstreues Mitglied unserer Rechtsgemeinschaft wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden kann. Dagegen kann doch niemand etwas haben, auch ich nicht. (Hans-Christian Ströbele ({7}): Fast nichts! - Nicht „fast“. Ich sage aber gleichzeitig: Auch die Sicherheitsbelange der Bevölkerung müssen beim Vollzug der Strafe beachtet werden. ({8}) - Herr Schmidt, so steht es aber nicht im Gesetzentwurf. - Ich füge hinzu: Wenn ich zwischen dem Ziel der Resozialisierung des Straftäters auf der einen Seite und dem Ziel des Schutzes der Bevölkerung auf der anderen Seite abwägen muss - das ist ein schwieriger Vorgang -, dann muss ich im Zweifel für den Schutz der Bevölkerung votieren. Ich bin sehr gespannt darauf, von Ihnen zu hören, ob Sie das aufgrund Ihrer Erfahrungen aus der Praxis anders sehen. ({9}) Ich jedenfalls plädiere dafür, dass § 2 des Strafvollzugsgesetzes in dem vorgetragenen Sinne novelliert wird. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Röttgen, ich meine, das Thema, das wir heute am späten Nachmittag hier behandeln, ist viel zu ernst, als dass man derart polemisch und populistisch damit umgehen kann, wie Sie es in Ihrer Rede heute wieder getan haben. ({0}) Vor allen Dingen die Vorwürfe, die Sie an die Justizministerin gerichtet haben, wiederholen sich; es perpetuiert sich langsam. ({1}) Herr Kollege Röttgen, Sie haben jede Woche dieselbe Melodie drauf. Ich glaube, Sie sollten das in Zukunft ein wenig zurückfahren. Es würde der Zusammenarbeit dienen. ({2}) Ich möchte mich heute schwerpunktmäßig noch einmal mit dem Thema beschäftigen, das auch bei Ihnen wieder eine große Rolle gespielt hat, nämlich mit der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung. Sie möchten von uns, dass wir das ins - ich betone - Strafgesetzbuch schreiben; das ist Ihr Begehren. Ich bin seit 1998 im Bundestag und glaube, dass ich heute meine siebte Rede zu diesem Thema halte. So lange schon kommen Sie fortwährend mit dem gleichen Anliegen. Heute beraten wir den über den Bundesrat uns zugeleiteten Entwurf aus Baden-Württemberg mit. ({3}) - Nein, Sie wollen den § 66 StGB ändern. ({4}) - Ja, das ist die sich anschließende Geschichte. Das andere ist der Entwurf aus Baden-Württemberg, Herr Kollege. Das ist der Punkt, um den es Ihnen hierbei geht. Herr Kollege Röttgen hat vorhin ja auch darauf hingewiesen. Wie sieht die Rechtslage heute aus? Ich glaube, das müssen wir noch einmal kurz darstellen. Im vorigen Jahr haben wir hier die Regelung getroffen, nach der sich der Tatrichter im Urteil eine Sicherungsverwahrung vorbehalten kann. Nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe von mehreren Jahren wird durch das Tatgericht endgültig geprüft, ob es zu verantworten ist, einen Straftäter aus der Haft zu entlassen oder ob die Sicherungsverwahrung vollzogen werden muss. Sie fordern von uns immer wieder eine Regelung, die es ermöglicht, auch nachträglich noch eine Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dabei denken Sie an Straftäter, für die das Gericht bei der Verurteilung zwar keine Sicherungsverwahrung angeordnet hat, die aber während des Vollzugs bei bestimmten Personen den Eindruck erwecken, sie seien so gefährlich, dass sie zukünftig vergleichbare Straftaten begehen werden. Genau darum geht es. Zu dieser Frage - darum widme ich mich diesem Thema - verbreiten Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Lokalpresse Polemik, die teilweise wirklich abstrus ist. ({5}) - Auch Ihr Kollege Grindel ist ein guter Mann, aber von rechtsstaatlichen Dingen versteht er wenig; das ist richtig. ({6}) Wir haben Ihnen schon von Anfang an gesagt, dass wir gegen eine solche Regelung schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken haben. Sie sind auch heute nicht ein einziges Mal bereit gewesen, sich mit diesen Bedenken auseinander zu setzen. Ich nenne Ihnen noch einmal die drei wesentlichen Gründe: Erstens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, wie von mir skizziert und von Ihnen gefordert, verstößt nach Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes gegen das Rückwirkungsverbot. Sie treffen damit einen Personenkreis, der zu einem Zeitpunkt verurteilt worden ist, als es eine solche Regelung gar nicht gegeben hat. Zweitens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung verstößt nach Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes gegen das Verbot der Doppelbestrafung. Bei ihrer Anordnung würden gegen einen Straftäter durch zwei konstitutive Entscheidungen nacheinander eine Freiheitsstrafe verfügt. ({7}) Drittens - das ist das wesentliche Argument -: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die von Ihnen gefordert wird, ist mit Art. 5 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar; denn danach ist nur die in einer strafrechtlichen Verurteilung angeordnete Sicherungsverwahrung zulässig. Sie wollen dies zukünftig durch Beschluss auf der Grundlage einer Gefährdungsprognose zulassen. Ich meine, das ist nicht tragbar. Die Bedenken, die ich Ihnen eben genannt habe, sind in mehreren Anhörungen, die wir seit 1998 gemeinsam durchgeführt haben, von den Sachverständigen bestätigt worden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, jetzt keine Zwischenfrage. ({0}) Ein weiterer, aus unserer Sicht durchschlagender Einwand ist prozessrechtlicher Natur; auch darauf gehen Sie nie ein. Stattdessen haben Sie vorhin erklärt, das, was Sie vorschlagen, sei ein rechtsstaatlich sicheres Verfahren. Die von Ihnen vorgeschlagene Regelung unterläuft aus unserer Überzeugung die rechtsstaatlichen Garantien der Strafprozessordnung, wie sie für jeden Beschuldigten zu gelten haben. In Ihren Entwürfen ist vorgesehen, die schwere Sanktion der Sicherungsverwahrung durch Beschluss im Wege eines Anhörungsverfahrens vor der Strafvollstreckungskammer nachträglich zu verhängen. Durch einen Beschluss soll also im Nachhinein die materielle und formelle Rechtskraft des Strafurteils durchbrochen werden. ({1}) Damit werden dem rechtskräftig Verurteilten im Ergebnis die grundlegenden rechtsstaatlichen Garantien vorenthalten. Diese gelten für jeden und sind: die mündliche öffentliche Hauptverhandlung, Beteiligung von Schöffen an der Urteilsfindung, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision gesicherte Beweisantragsrecht und die Pflichtverteidigung in der Hauptverhandlung. Ein verurteilter Straftäter hat diese Garantien nach Ihren Vorschlägen nicht mehr. Sie schaffen zwei Arten von Strafprozessrecht. Ich frage mich: Warum gehen Sie, Herr Röttgen, so fahrlässig mit Rechtsstaatsgarantien unserer Verfassung um? Sie tun dies, ({2}) um in der Tagespolitik populistisch Stimmung zu machen, wie dies die vorhin gemachten Ausführungen zum Strafvollzugsgesetz gezeigt haben. ({3}) - Ich sage Ihnen noch einmal: Die Fälle, von denen Sie meinen, sie würden durch unsere Regelung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht erfasst, sind nach wie vor Fälle der Prävention, des Polizeirechts. Polizeirecht ist nach unserer Verfassung nun einmal Ländersache. Die Länder müssen diese Regelungen treffen. Das müssen wir sauber trennen, sonst bewegen wir uns auf einem sehr schmalen Grat. Um Ihren Gedankengang zu Ende zu führen und um Ihnen zu verdeutlichen, wie abstrus es werden kann, wenn man Ihren Vorstellungen folgen würde, möchte ich Ihnen dazu einiges sagen. Ich habe Ihnen das schon einJoachim Stünker mal vorgehalten, aber Sie hören gar nicht zu, Herr Kollege Röttgen. Wenn Sie die Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen wollen, wie Sie es von uns fordern, dann taucht die Frage auf, warum die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht auch für bereits entlassene Straftäter gelten soll, ({4}) die fünf Jahre Führungsaufsicht haben, wenn innerhalb der fünf Jahre Führungsaufsicht festgestellt wird, dass die Gefährlichkeit besteht. Wollen Sie auch dann durch Beschluss einer Kammer diesen Weg gehen? Mit Sicherheit nicht. Polizeirecht ist hier die richtige Lösung. Ich kann das auf die Spitze treiben, um Ihnen zu verdeutlichen, wie gefährlich das für den Rechtsstaat ist, was Sie machen, und wie Sie mit diesen Überlegungen am Rechtsstaat zündeln. Wie verhält es sich denn mit der Sicherungsverwahrung ohne Straftat? Wie ist es, wenn wir feststellen, dass ein Mensch herumläuft, von dem zwei Sachverständige sagen, dass er so gefährlich sei, dass er möglicherweise erhebliche Straftaten begehen kann? Auch das ist ein Fall des Polizeirechts. Das ist überhaupt keine Frage. Das ist eine Sache, die die Länder regeln müssen. Ich habe versucht, Ihnen heute noch einmal deutlich zu machen, dass Sie mit diesen Vorschlägen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auf dem Irrweg sind. Wir werden Ihnen nicht folgen. Was Sie nach wie vor vorschlagen, ist aus unserer Sicht rechtsstaatlich äußerst bedenklich. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Raab von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erneut diskutieren wir heute über das Sexualstrafrecht. Meine Kollegen haben dazu nicht nur heute, sondern auch in anderen Debatten genauestens und zum Teil verständlicherweise hoch emotional Stellung genommen und Fakten und Fälle aufgezeigt, die verdeutlicht haben, dass eine strikte Verschärfung des Sexualstrafrechts dringend notwendig ist. Ich möchte zunächst auf die DNA-Analyse eingehen. Es freut uns zu hören, dass Sie die Möglichkeiten der DNA-Analyse nun doch ausweiten wollen. Denn eines ist nun offenbar auch Ihnen klar geworden: Die DNAAnalyse ist inzwischen zu einem der wichtigsten rechtsmedizinischen Erkenntnismittel geworden, einem Mittel, das man sich nicht mehr wegdenken kann und dessen Möglichkeiten man deshalb voll ausschöpfen muss. ({0}) Zurzeit enthält die Datenbank des BKA 265 000 Datensätze. Allein 2002 hat die Datenbank geholfen, dass 66 Fälle von Mord und Totschlag, 135 Sexualverbrechen, 250 Raubüberfälle, Erpressungen und mehr als 3 000 Eigentumsdelikte aufgeklärt werden konnten. Otto Schily wird es gefreut haben. ({1}) Bei solchen Ergebnissen, meine Damen und Herren von der Regierung, müssten Sie doch eigentlich bemüht sein, das geltende, unserer Meinung nach zu enge Recht zu erweitern und neue Voraussetzungen zu schaffen, um wirklich effektiv vorbeugen zu können. Wie erklären Sie sonst einem Opfer, dass es leider nur möglich ist, gegen den Willen eines Betroffenen DNA zu entnehmen, wenn seine Straftat erhebliche Bedeutung hatte oder wenn vorhersehbar ist, dass künftig Strafverfahren von erheblicher Bedeutung gegen den Betroffenen geführt werden? Es ist unerlässlich - das steht deutlich in unserem Gesetzentwurf -: Der Katalog der Anlasstaten muss erweitert werden, und zwar auf alle Taten mit sexuellem Hintergrund. ({2}) Es ist genau dieser sexuelle Hintergrund, auf den es uns ankommt. Denken Sie zum Beispiel an sexualbezogene Straftaten wie Beleidigung mit sexuellem Hintergrund, denken Sie an sexuell motivierte Drohanrufe. Hier handelt es sich natürlich nicht um Straftaten von erheblicher Bedeutung. Jedoch hat eine Studie der Universität Göttingen vom April 2002 ergeben, dass bei exhibitionistischen Straftätern mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin rund 2 Prozent mit der späteren Begehung eines sexuellen Gewaltdelikts zu rechnen ist. Eine schwere Straftat ist in diesem Bereich oft der traurige Höhepunkt einer sexuell geprägten Straftatenserie. Dieser Erkenntnis hat sich die Bundesregierung zwar angeschlossen, die notwendigen Konsequenzen aber leider nicht gezogen. Der sexuelle Hintergrund vieler Taten wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht gebührend gewürdigt. Es geht hier - da sollten wir uns alle einig sein um das Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger und die Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung. Dem muss dringend Rechnung getragen werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass 56 Prozent der verurteilten Exhibitionisten innerhalb der nächsten zehn Jahre wieder ein Sexualdelikt begehen, ist ein Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht unserer Meinung nach klar gerechtfertigt und auch sachlich begründet. ({3}) Aus diesem Grund plädieren wir dafür, Straftaten mit sexuellem Hintergrund in den Anlasstatenkatalog mit aufzunehmen. Diese Lösung ist sachgerecht und prägnant. Schließen Sie sich unserer Forderung an! Die DNA-Analyse ist ein Weg der Strafverfolgung, bei dem wir scheinbar einen gemeinsamen Ansatz gefunden haben. Wir fordern Sie aber in einem weiteren Punkt auf, unserer Forderung zu folgen, und zwar hinsichtlich der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Wir fordern konsequente Maßnahmen, die Wiederholungstäter daran hindern, erneut Kinder, Frauen und Behinderte zu überfallen und zu vergewaltigen. Eine Lösung in solchen Fällen ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung, deren Notwendigkeit ich Ihnen in der Hoffnung, Sie überzeugen zu können, gerne näher bringen möchte. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung gibt es im geltenden Recht bereits, jedoch nur in den Fällen, in denen das erkennende Gericht im Urteil einen entsprechenden Anordnungsvorbehalt ausgesprochen hat. Nicht erfasst werden die Fälle, in denen während des Strafvollzugs erkannt wird, dass es sich um einen gemeingefährlichen Täter handelt. ({4}) Es geht uns auch in diesem Zusammenhang - ich wiederhole mich an dieser Stelle gerne - um den Schutz möglicher Opfer und damit um den Schutz unserer Bevölkerung. ({5}) Der Justiz sind gegenwärtig die Hände gebunden, wenn sich während des Strafvollzugs herausstellt, dass ein Täter nicht therapierbar ist. Darf das sein? Entspricht das Ihrem Rechtsgefühl? Ich frage Sie vor allem: Wird das dem Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger gerecht? Ich beantworte diese Frage eindeutig mit Nein. ({6}) „Wegsperren - und zwar für immer“ hat sogar Ihr Kanzler gefordert. Im Nachhinein stellt sich aber heraus, dass sich diese Forderung im Gesetzentwurf nicht wiederfindet. Es war wohl nur Wahlkampfgetöse. Er hat im Juli 2001 sogar noch einen draufgesetzt, indem er sagte, ein Sexualstraftäter müsse komplett weggesperrt werden, wenn sich während der Haft herausstellt, dass er weiter gefährlich ist. Einige Bundesländer - darunter Bayern - haben sich dieser Auffassung angeschlossen und entsprechende Landesgesetze geschaffen. Wir können nicht damit rechnen, dass sich weitere Länder anschließen. Deswegen fordere ich Sie auf - es ist Aufgabe des Bundes, in diesem Bereich tätig zu werden -: Tun Sie etwas! Schützen Sie unsere Bürger und die potenziellen Opfer! Führen Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch ohne Anordnungsvorbehalt ein! Wenn Sie sich dazu durchringen können, haben Sie uns selbstverständlich auf Ihrer Seite. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute Nachmittag das Wort Opferschutz zu oft gehört. Opferschutz muss man von Herzen wollen, aber man muss ihn auch umsetzen können. Als ich die Beiträge gehört habe, hat sich mein Verdacht verstärkt, dass Sie nicht etwa den perfekten Opferschutz nicht wollen, sondern dass Sie ihn nicht perfektionieren können. Herr Kollege Stünker hat über die Sicherungsverwahrung räsoniert und den Eindruck erweckt, es sei ein Verbot der Doppelbestrafung zu diskutieren. Die Sicherungsverwahrung ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Deswegen ist die Doppelbestrafung in diesem Zusammenhang kein Thema. ({0}) Da laboriert man fachunkundig am Grunddelikt des sexuellen Missbrauchs von Kindern herum, weil man es nicht fachkundig kann. ({1}) Dass die Kollegin Schewe-Gerigk feststellt, deshalb, weil die Mindeststrafe in einigen Fallvarianten auf drei Monate erhöht worden sei, sei eine Geldstrafe nicht mehr möglich, sehe ich ihr nach. ({2}) Aber von einer Justizministerin darf ich erwarten, dass sie § 47 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs kennt; den kennt jeder Jurastudent im zweiten Semester. Danach ist bei einer Mindeststrafe bis zu sechs Monaten eine Geldstrafe möglich und auch weitgehend üblich. ({3}) Meine Damen und Herren, Sie ändern den Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern und schaffen den minder schweren Fall ab. Dafür führen Sie den besonders schweren Fall ein und dienen damit niemandem. ({4}) Das ist nicht die Botschaft, die Eltern, die Angst um die Entwicklung ihrer Kinder haben, hören wollen. ({5}) Siegfried Kauder ({6}) Die richtige Botschaft wäre gewesen, § 176 StGB so zu ändern, dass der sexuelle Missbrauch eines Kindes als Verbrechen angesehen wird, so wie wir es verlangen. Sexueller Missbrauch eines Kindes ist nämlich - das habe ich in diesem Hohen Haus schon einmal gesagt - Mord an einer kleinen Seele. Die Antwort kann nur heißen: Mindeststrafe ein Jahr. Aber es sollte die Möglichkeit des minder schweren Falls geben, damit sich der Täter, der ein Geständnis ablegt und damit dem missbrauchten Kind das Auftreten in der Hauptverhandlung erspart, eine Strafmilderung erarbeiten kann. Rückfalltäter - darauf haben wir Sie bereits aufmerksam gemacht - müssen ebenfalls als Verbrecher behandelt werden. Auch hier kannten Sie das Gesetz nicht; denn Sie haben zuerst § 12 StGB übersehen. Sie hätten beinahe aus Nachlässigkeit ein Verbrechen zu einem Vergehen herabgestuft. Ich danke Ihnen, dass Sie das korrigiert haben. Aber nun haben Sie den nächsten Fehler eingebaut. Wenn ein Straftäter ein Kind sexuell missbraucht und das Ergebnis für pornographische Zwecke verwenden will, dann ist das ein Verbrechen. Bisher gab es die Möglichkeit des minder schweren Falls. Und das war auch gut so. Es handelt sich hier um ein so genanntes unechtes Unternehmensdelikt mit weit vorverlagerter Strafbarkeit, bei dem außerdem der Gehilfe die gleiche Strafe wie der Täter bekommt und die Strafmilderungsmöglichkeit nach § 27 Abs. 2 StGB nicht nutzen kann. Der Gesetzgeber sagt, dass man die Möglichkeit des minder schweren Falls braucht, damit der Gehilfe, der nur die Videokamera besorgt, die Möglichkeit hat, sich Strafmilderung mit einem Geständnis zu verdienen. ({7}) Ich empfehle Ihnen, hierzu im gängigen Praktikerkommentar Tröndle/Fischer Anmerkung 13 zu § 176 a StGB zu lesen. Dann kennen Sie die Gründe. Auch hier ist Ihnen ein gesetzgeberischer Fehler unterlaufen. ({8}) Wir haben über den Opferschutz zuletzt am 8. Juni dieses Jahres diskutiert. Ich habe damals erklärt, dass beim Opferschutz nie ein großer Wurf gelungen ist. Dankenswerterweise war es der Kollege Ströbele, der eingeworfen hat, dass das Flickschusterei sei und dass man das einmal richtig machen müsse. Heute hätten Sie Gelegenheit. Sie wollen § 387 a StPO so ändern, dass Menschen, die nicht allein in der Lage sind, ihre Rechte wahrzunehmen, einen Opferanwalt auf Staatskosten erhalten. Hier haben Sie meine Sympathie. Wir haben aber am 8. Juni 2003 auch darüber gesprochen, dass die Hinterbliebenen von Mordopfern ebenfalls einen Opferanwalt benötigen. Das haben Sie nicht berücksichtigt. Das ist Flickschusterei. Warum haben Sie nicht auch das geregelt? Heute wäre die Zeit dafür gewesen. ({9}) - Es hat schon etwas damit zu tun; denn der Opferanwalt hat - jedenfalls nach Ihrem Vorschlag - auch Bedeutung für das Sexualstrafrecht. ({10}) Man sieht, dass Sie nicht bereit sind, den Opferschutz und das Sexualstrafrecht unter dem Blickwinkel eines Tatopfers, eines Kindes, zu betrachten. Sonst würden Sie eine solche Flickschusterei nicht machen! ({11}) Wenn es um Opferschutz und Opferentschädigung und insbesondere wenn es um den Schutz von Kindern gegen sexuelle Übergriffe geht, dann ist auf eines immer Verlass: Sie sitzen im Bremserhäuschen. ({12}) Das werden wir nicht zulassen. Wir werden Sie jagen. Es gibt noch zwei offene Baustellen: den Opferschutz und die Opferentschädigung. Auch hier haben Sie sich als Bedenkenträger profiliert. Das steht Ihnen aber nicht zu. Sie sollten lieber an die Opfer denken, anstatt grundrechtliche Bedenken vorzutragen, deren Tragweite Sie überhaupt nicht abschätzen können. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften, Drucksache 15/350. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1311, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1344. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt. Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten, Drucksache 15/29. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1311, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 9 b: Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/1311 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexualstraftäter auf den Prüfstand stellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 15/31 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Tagesordnungspunkte 9 c bis 9 e: Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/410, 15/778 und 15/899 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses - Drucksache 15/1094 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Günter Nooke das Wort. ({2}) Herr Kollege Nooke, warten Sie bitte noch einen Moment, damit diejenigen, die der Beratung dieses Tagesordnungspunktes nicht beiwohnen wollen, den Saal verlassen können.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich danke für die Aufmerksamkeit, die Sie dem wichtigen Thema „Berliner Stadtschloss“ durch Ihren Hinweis beigemessen haben. Das freut uns ganz besonders. Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist es genau ein Jahr her, dass der Deutsche Bundestag die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses unter Berücksichtigung der historischen Fassaden mit großer und fraktionsübergreifender Mehrheit beschlossen hat. Das ist die positive Botschaft. Sehr geehrter Herr Kollege Barthel, Sie haben sich in der letzten kulturpolitischen Debatte darüber beklagt, dass ich das Positive nicht angemessen in den Vordergrund stelle. ({0}) Ich wiederhole: Dass wir vor einem Jahr - fraktionsübergreifend und mit Zweidrittelmehrheit - den Beschluss zur Wiedererrichtung dieses Schlosses gefasst haben, ist ein gutes Zeichen gelungener parlamentarischer Zusammenarbeit: orientiert an der Sache, einig im politischen Willen, entschlossen im Weg. Ich wiederhole gern: Das ist die positive Botschaft. Wie Sie wissen, hat die Unionsfraktion diesen Jahrestag zum Anlass genommen, mit einem Antrag an den damaligen Beschluss zu erinnern. Das ist für parlamentarische Beratungen zwar nicht ganz üblich; in diesem Falle erscheint es uns aber notwendig. Wir müssen leider feststellen, dass es bisher wenig konkrete Schritte zur Umsetzung dieses - eben zitierten - Beschlusses gegeben hat. Das ist die schlechte Nachricht. Da unser Antrag bewusst kurz gehalten ist, erlauben Sie mir, dass ich die zentralen Forderungen hier noch einmal mündlich vortrage: Erstens. Wir sehen es als erforderlich an, dass die Bundesregierung das für das Frühjahr 2003 angekündigte Nutzungs- und Finanzierungskonzept der Arbeitsgruppe, die von der Beauftragten für Kultur und Medien geleitet wurde, nunmehr vorlegt. Es ist schlicht unverständlich, warum der Bundestagsbeschluss so stiefmütterlich behandelt wird. Es ist ein Papier, das für das Frühjahr angekündigt war. Wir stehen kurz vor der Sommerpause. Zumindest jetzt sollte es vorgelegt werden. ({1}) Es liegt mir fern, Mutmaßungen darüber anzustellen, warum man da in Verzug ist. Aber wir müssen unsere Sorge darüber zum Ausdruck bringen, dass dieser gemeinsame Beschluss nicht die angemessene Würdigung und Umsetzung erfährt. - Zumindest das wollte ich zu Protokoll gegeben haben. Zweitens. Aus dem eben Gesagten ergibt sich folgerichtig, dass wir die Bundesregierung hiermit auffordern, die für die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages von vor einem Jahr erforderlichen Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen. Verbunden damit ist die Forderung nach Vorlage eines Zeitplans für die Umsetzung des Beschlusses. Drittens. Wir wünschen uns darüber hinaus, dass an der Ecke Schlossfreiheit/Unter den Linden ein Areal als Ort für die in dem Bericht der Expertenkommission vorgesehene Einwerbung von privaten Mitteln zur Verfügung gestellt wird. Für die Realisierung einer Infobox laufen Gespräche mit Sponsoren. Wir sollten uns durchaus bewusst machen, dass es wichtige private Initiativen gibt, die es voranzutreiben und nicht zu behindern gilt. Der Schlossaufbau ist auf private Initiative angewiesen. Es wäre leichtfertig und fahrlässig, die privaten Initiativen nicht nach Kräften zu unterstützen. Ich will viertens deutlich sagen: Eine finanzielle wie ideelle, direkte oder indirekte Unterstützung einer Nutzung des Palastes der Republik durch den Bund lehnen wir ab. ({2}) Auch in Bezug darauf ist die Einigkeit in der Sache groß. Erst kürzlich hat sich der Regierende Bürgermeister Berlins bei der Eröffnung der Ausstellung des Werkes von Paul Kleihues für den schnellen Abriss des Gebäudes ausgesprochen. Folgendes geht sicherlich nicht: Man kann nicht beteuern, dass die Nutzung des Palastes nur ohne öffentliches Geld möglich ist, und gleichzeitig Mittel aus dem Hauptstadtkulturfonds für Projekte im Palast mobilisieren. ({3}) Einige mögen das als trickreich ansehen. Ich finde: Das ist ein Versuch der Täuschung, zumindest ist es grober Unfug. Dass im Hauptstadtkulturfonds zu 100 Prozent Bundesmittel sind, haben zumindest wir nicht vergessen. Wir müssen uns heute, ein Jahr nach dem Beschluss, fragen: Was wollen wir eigentlich und was brauchen wir jetzt? Wir brauchen keine Bekräftigung des Beschlusses, sondern wir brauchen deutliche Signale, dass der Bund und damit die Staatsministerin für Kultur und Medien zu diesem Beschluss steht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nooke, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gesine Lötzsch?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Nooke, Sie haben gerade zutreffend festgestellt, dass im Hauptstadtkulturfonds zu 100 Prozent Bundesmittel sind. Würden Sie mir darin zustimmen, dass der Beschluss des Deutschen Bundestages zum Wiederaufbau des Stadtschlosses eigentlich gar nicht rechtmäßig gefasst wurde, da das Areal Schlossplatz nicht dem Bund allein, sondern dem Bund und dem Land Berlin gemeinsam gehört? Hätte also nicht zumindest ein gemeinsamer Beschluss Voraussetzung für die Forderung sein müssen, das Stadtschloss wieder aufzubauen?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir als Verfassungsorgan sind sehr darauf bedacht, hier auch rechtmäßige Beschlüsse zu fassen. Da wir öffentlich tagen, hat der Regierende Bürgermeister in Berlin diesen Beschluss auch mitbekommen. Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass er das Grundstück nicht zur Verfügung stellen will, wenn wir den Schlossbau beschließen. ({0}) Es könnte ein Signal sein, auch für Berlin, wenn wir mit dem finanzpolitischen Gezerre aufhören. Es könnte natürlich auch ein Signal sein, wenn der Bund klar sagte, womit denn zu rechnen ist. Es wäre sicherlich ein Signal, wenn auch ein schlechtes, wenn der Bund sagte: Das beschlossene Verhältnis von kultureller zu kommerzieller Nutzung von 80 : 20 wird umgekehrt. ({1}) Ich möchte das nicht, aber selbst das wäre besser, als wenn gar nichts passiert und nur die Zwischennutzung vorangetrieben wird. Wir müssen jetzt die Grundlagen für eine Entscheidung schaffen und müssen unser gemeinsames Anliegen meines Erachtens gemeinsam weiter vorantreiben. Wir haben keine Zeit zu verlieren, sondern uns konsequent für die Umsetzung des vor einem Jahr gefassten Beschlusses zu engagieren. Das Argument, dass in der jetzigen Situation die Realisierung des Schlossbaus ein zu vernachlässigendes Thema ist, über das man besser nicht redet, lasse ich nicht gelten. Wir haben uns nie vorgemacht, dass der Bau in zwei Jahren fertig sein wird. Wir sollten uns in ein paar Jahren aber auch nicht nachsagen lassen müssen, wir hätten unseren Beschluss von vor einem Jahr nicht ernst genommen. Dafür brauchen wir keine weiteren Beschlüsse im Bundestag zu fassen. Eine neue Phase für den Schlossbau muss jetzt beginnen. Das meine ich auch aus Prinzip. Wir müssen das, was wir vor einem Jahr beschlossen haben, ernst nehmen. Der Beginn der neuen Phase könnte, ganz pragmatisch, wie folgt aussehen: Für die Vorbereitung und Durchführung des Wettbewerbs sind zwei Jahre zu veranschlagen. Jetzt ist es erforderlich, dass diese zwei Jahre genutzt werden. Dafür ist die Unterstützung durch eine Projektierungsgesellschaft nötig, die mit einer überschaubaren Vorfinanzierung von 2,5 Millionen Euro arbeiten kann. Die 2,5 Millionen Euro sind jetzt erforderlich und wären gut angelegt, weil so keine Zeit verloren geht. Unser Beschluss bekäme damit eine realistische Grundlage. Ohnehin wird die Summe zurückgezahlt, da sie in den Baunebenkosten enthalten ist. Mit dem Vorliegen der Wettbewerbsergebnisse ist, wenn alles gut läuft, in frühestens zwei Jahren zu rechnen. Dann hat unser Beschluss eine anschauliche Grundlage. An Anschaulichkeit mangelt es dem Projekt „Stadtschloss Berlin“ ja jetzt noch etwas. Mit Worten allein ist das Projekt offensichtlich nicht so leicht zu beflügeln. Ich komme zum Schluss: Dass es weitergeht, muss unser vordringliches gemeinsames Interesse sein. Unser Antrag bietet dazu die notwendigen Ansatzpunkte und ermöglicht es, eine breite, fraktionsübergreifende, bisher in der Sache positive Zusammenarbeit im Deutschen Bundestag fortzuführen. ({2}) Ich wiederhole für den Kollegen Barthel meine Botschaft: Die positive Zusammenarbeit wünsche ich mir weiter. Wir sollten uns die Situation ersparen, im Jahre 2004 - vielleicht wieder am 3. oder 4. Juli - hier sagen zu müssen: Wir haben auch im vergangenen Jahr nichts erreicht; wir stehen mit leeren Händen da. Vielmehr sollten wir die Zeit nutzen. Das ist das Anliegen unseres Antrages. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Staatsministerin Christina Weiss.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, auf den Tag genau vor einem Jahr hat die Bundesregierung mein Haus gebeten, gemeinsam mit den Bundesministerien für Finanzen sowie für Verkehr, Bauund Wohnungswesen, dem Berliner Senat und den zukünftigen Trägern eines Humboldt-Forums ein Nutzungs- und Finanzierungskonzept für den Berliner Schlossplatz zu erarbeiten. Die Arbeitsgruppe hat intensiv gearbeitet und ein praktikables Raumkonzept und mehrere Finanzierungskonzepte vorgelegt. Die Finanzierungsoptionen - Sie haben schon Recht, dass sich darin das Problem verbirgt - werden derzeit gewertet und gewichtet. Wir werden sie Ihnen, meine verehrten Damen und Herren, nach der Sommerpause als Teil unseres Abschlussberichtes vorstellen. Niemand sollte doch meinen, man könne einen 600 Millionen Euro teuren Stadtmittelpunkt einfach so über Nacht planen. Wer es mit einem Projekt, das Generationen überdauern soll, eilig hat, der meint es mit ihm schlicht nicht ernst. ({0}) Mit einem wolkigen Luftschloss ist auch niemandem gedient. Wenn ich die Ernsthaftigkeit betrachte, mit der in der Arbeitsgruppe und in den entsprechenden Institutionen an der Zukunft des Berliner Stadtzentrums gearbeitet wurde und noch weiter gearbeitet werden wird, überrascht mich immer wieder der Argwohn der Opposition. Ganz offensichtlich nimmt man dort noch immer an, die Bundesregierung werde den Beschluss des Hohen Hauses zur Neugestaltung des Schlossplatzes torpedieren. Doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie irren sich. Die Neugestaltung der Berliner Mitte ist und bleibt ein zentrales Ziel auf der baupolitischen Agenda der Bundesregierung. Es handelt sich für uns auch um ein kulturpolitisches Bekenntnis, das unumstößlich ist. ({1}) Es zwingt uns schlicht und ergreifend die Finanzdisziplin dazu, alle verfügbaren Kräfte zunächst und zumindest parallel auf die Sanierung der Berliner Museumsinsel zu konzentrieren. Als Teil des UNESCOWeltkulturerbes genießt die Museumsinsel zu Recht oberste Priorität. Sie dürfen auch nicht vergessen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es gerade diese Museumslandschaft ist, die wir durch die Neugestaltung des Schlossplatzes inhaltlich wie architektonisch vollenden wollen. Am Ort des zerstörten Hohenzollern-Schlosses soll das so oft beschriebene und klug konzipierte Humboldt-Forum entstehen, zu dem es keine ernsthafte Alternative gibt; ({2}) es sei denn, man provoziert einen Schlossbau um seiner selbst willen. Das allerdings hat für mich mit einer nachhaltigen und wirkungsvollen Kulturpolitik, die Verantwortung auch für nachfolgende Generationen trägt, nichts zu tun. ({3}) Erlauben Sie mir noch ein Wort zum Thema Verantwortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit, mit denen sich die Bundesregierung der Wiedergewinnung der historischen Mitte Berlins stellt. Verantwortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit sind nämlich die Tugenden einer modernen Kulturpolitik, die der Opposition inzwischen wohl abhanden gekommen sind. Das merkt man, wenn der Kollege Nooke regelmäßig kommunistische Morgenluft wittert, nur weil wir nicht sofort mit dem Schleifen des Palastes der Republik beginnen. ({4}) Sie schlottern regelrecht vor diesem Skelett, das doch eigentlich so harmlos ist. Aber auch Ihnen, Herr Nooke, kann geholfen werden. ({5}) Der Abschlussbericht, den Sie nach der Sommerpause lesen können, wird nämlich - ganz gerecht - auch auf die Möglichkeiten eingehen, wie der Palast der Republik beseitigt werden kann. ({6}) Allen Unkenrufen zum Trotz wird die Zukunft dieses geschundenen Ortes im Herzen unserer Hauptstadt nicht durch die Bundesregierung bedroht, sondern eher durch den Aktionismus von Grabenkämpfern. Ich glaube, wir sollten diesen Aktionismus beenden und gemeinsam auf die Zukunft des Schlossplatzes schauen und gemeinsam darum ringen, wie wir ihn für nachfolgende Generationen am besten gestalten können. ({7}) Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Günter Rexrodt für die FDP-Fraktion.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Staatsministerin, auch ich bin damit einverstanden, dass wir hier keine Grabenkämpfe führen und nicht in Aktionismus verfallen. Sie haben allerdings für spätestens Juni einen Bericht angekündigt, diesen dann aber nicht vorgelegt und als Begründung angegeben, die Arbeitsgruppe arbeite ernsthaft. Obwohl Sie nicht zu Potte gekommen sind, darf man Ihnen nun nicht einmal vorwerfen, dass es später wird. Das ist nicht zielführend. ({0}) Sie sprechen davon, dass bezogen auf den Wiederaufbau des Schlosses und den Abriss des Parlaments Aktionismus festzustellen sei. ({1}) Nachdem ich mir Ihre Formulierungen, die Sie sehr feinsinnig vorgetragen haben, angehört habe, habe ich den starken Eindruck gewonnen, dass eine unheilige Allianz noch nicht aufgegeben wurde.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Rexrodt, es ist gerade eine gewisse Unruhe entstanden, da aufgrund eines Versprechers der Eindruck entstanden ist, die FDP wolle das Parlament abreißen. Ich nehme an, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handelt, welches wir so nicht im Protokoll erscheinen lassen sollten. ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, so weit sind wir noch nicht. Es geht um den Palast. Es gibt eine unheilige Allianz zwischen denen, die sich selbst zur kulturpolitischen Elite befördert haben, und jenen, die aus verschiedenen politischen, antiroyalistischen Überlegungen heraus den Aufbau eines Kubus mit der Fassade eines Schlosses nicht wollen. ({0}) - Dieser Umkehrschluss ist nicht zulässig. Dagegen brauche ich aber auch keine Verteidigung. Diese unheilige Allianz hat noch nicht aufgegeben; deshalb geht die Sache nicht voran. Ich bin äußerst betrübt darüber, dass es erst des Antrages der CDU/CSU bedurfte, um überhaupt einmal etwas über den Fortgang zu erfahren. ({1}) Ich wünsche mir dringend, dass der Bundestag in den Haushalt für 2004 2 oder 2,5 Millionen Euro einstellt, die es möglich machen, die Planung dieses Kubus in Angriff zu nehmen. Mit der Planung muss eine private Planungsgesellschaft beauftragt werden können. Ich wünsche mir die Beauftragung einer privaten Planungsgesellschaft mehr als die Einschaltung der Bundesbaudirektion. ({2}) Ich wünsche mir auch, dass der Bundestag in den Haushalt 2004 Geld für den Abriss des Palastes der Republik einstellt, um endlich deutlich zu machen, dass er abgerissen wird. Der Palast der Republik - Frau Staatsministerin, niemand schlottert hier vor einem, wie Sie sagen, harmlosen Gerüst oder Gestell - ist über alle Maßen unansehnlich, ({3}) er ist ein häßliches Relikt aus den Zeiten der DDR. Es ist ein Ausdruck der Unfähigkeit unseres Staates, dass man immer noch nicht mit diesem Relikt fertig geworden ist und es beseitigt hat. Ich würde mir wünschen, dass wir die hohen Zuwendungen, die die Bundesregierung dem Land Berlin, dem Senat macht, mit der Auflage verbinden, dass das Land Berlin - Frau Kollegin, Sie haben das eben angesprochen - endlich zu einer eindeutigen Aussage, was das Stadtschloss angeht, kommt. ({4}) Das Herummogeln des Berliner Senats um dieses Problem ist nicht mehr erträglich. Es ist im Übrigen auch ein Alibi dafür, dass sich die „unheilige Allianz“, die ich hier eben zitiert habe, immer wieder auf den Weg macht, um am Ende doch noch eine Entwicklung zu verhindern, die der Bundestag vor einem Jahr dankenswerterweise mit überzeugender Mehrheit beschlossen hat. Ich wünsche mir sehr - als Parlamentarier sind wir aufgefordert, dies zu tun; ich tue es aber auch aus vollem Herzen -, dass nicht mehr nur lange diskutiert wird, sondern dass endlich Taten zu sehen sind. Das ist wichtig, um mit diesem Platz, mit der Mitte Berlins Schritte nach vorne zu tun, die die Menschen in diesem Lande wünschen und die dieses Land braucht. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der CDU/CSU scheint mir eine fürsorgliche Belagerung der Bundesregierung an den Punkten, an denen sie schon längst katholisch ist zu sein. ({0}) Wenigstens die wunderbare Opern-Entscheidung am gestrigen Tage sollte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, doch überzeugt haben, dass die nachhaltigsten und entschlossensten Kämpfer für die Mitte Berlins und für die Kulturpolitik Berlins gerade in der Bundesregierung sitzen. In diesem Zusammenhang: Herzlichen Glückwunsch, Christina Weiss! ({1}) Der Beschluss - über den auch ich mich sehr gefreut habe -, der im letzten Jahr in freier Abstimmung der Abgeordneten mit großer Mehrheit gefasst wurde, war von so eindeutiger Klarheit, dass niemand auch nur wagen kann, an diesem Beschluss zu rühren. Er wurde von der Mehrheit dieses Parlamentes gefasst und ist damit bindend für jede Bundesregierung. Wichtig ist auch, dass man mit diesem Beschluss so sorgfältig umgeht, dass die richtigen Signale an die Zivilgesellschaft ausgesendet werden, sodass zum Beispiel die Bereitschaft besteht, dafür auch Geld zu spenden. Darum finde ich es richtig, dass wir sofort nach der Sommerpause den Bericht bekommen, in dem genau aufgezeigt werden soll, wie das Stadtschloss genutzt und wie es finanziert werden soll. Ich möchte ausdrücklich meinen Wunsch unterstreichen, dass es öffentlich genutzt wird. Wenn man eine so große Anstrengung unternimmt - in diesem Parlament und mit der Mobilisierung von Geldern -, dann muss das einfach sein; etwas anderes fände ich der Würde des Platzes nicht entsprechend. ({2}) Der Zwischenbericht der Arbeitsgruppe Schlossareal, der uns im Februar dieses Jahres gegeben wurde, hat dies zum Teil schon erfüllt - auch deswegen verstehe ich den CDU/CSU-Antrag nicht -; es heißt nämlich in dem Bericht, dass durch die temporäre Nutzung keine Risiken oder Kosten für die öffentliche Hand entstehen dürfen, dass es zu keinen Verzögerungen bei der weiteren Planung kommen darf und dass der Abriss des Palastes, etwa durch eine Verfestigung der Nutzung, nicht infrage gestellt werden darf. Ich unterstreiche das; das ist auch meine Absicht. Ich finde aber auch, dass man die Kirche im Dorf lassen muss. Ich selbst lese mit großem Interesse die Berichte in den Zeitungen über die ersten Besichtigungen des Palastes der Republik und achte dabei auch auf die Tonlage. Ich sage Ihnen meine ganz persönliche Meinung: Ich empfinde dies als richtig deutsch. Die Deutschen mögen offensichtlich Stätten, die als leicht gruselig gelten. So gibt es auch schon alle möglichen Nutzungsvorschläge von der Hochzeit bis zur Wagneroper. ({3}) Dies erinnert mich an das Wort des französischen Philosophen Alain Badiou, man habe stets den Eindruck, das Sein an sich spreche noch Deutsch. Er meint damit, dass alles, was einen besonders tiefen Sinn hat, unserer Seele besonders nahe stehe. Wenn dies so ist, dann bin jedenfalls ich bereit, das mit einiger Ironie und Großzügigkeit zu ertragen, allerdings nur, solange die französische Klarheit herrscht, die besagt, dass ein einmal gefasster Beschluss nicht mehr geändert wird. Geld, das in der Berliner Kulturszene so knapp ist, soll nicht an falscher Stelle ausgegeben werden. Die Öffentlichkeit braucht ein Signal, in welche Richtung es geht, und Gewissheit, dass wir diesen Platz vor allen Dingen für kulturelle und öffentliche Zwecke nutzen wollen. Auch muss möglichst bald angefangen werden können, für den Wiederaufbau des Stadtschlosses Geld zu sammeln. Wir werden sehr bald nach der Sommerpause aktiv werden. Insoweit sind die Dinge diesmal wirklich auf dem richtigen Weg und in den richtigen Händen. Danke. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Vera Lengsfeld, CDU/CSU-Fraktion.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Von der Gestaltung eines offenen Bürgerforums in der Mitte der Spreeinsel war in einem PDS-Antrag von vor etwa einem Jahr die Rede. Dies war der klar erkennbare Versuch, den Beschluss des Bundestages zum Wiederaufbau des zerstörten Berliner Stadtschlosses polemisch zu unterlaufen. Bekanntlich unterlag die PDS damit; der Beschluss zur Wiedererrichtung des StadtVera Lengsfeld schlosses ist in diesem Hause mit überwältigender Mehrheit getroffen worden. Trotzdem geht der Kampf weiter; denn bis heute gibt es keine konkreten Schritte zur Umsetzung dieses Beschlusses. Mittlerweile wird mehr davon geredet, was man mit der Ruine des Palastes der Republik anfangen könnte, als davon, wie man sie los wird, obwohl jede Nutzung der Palastruine indirekt ein Unterlaufen der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses bedeutet. Zudem kostet diese Zwischennutzung sehr viel Geld. Manche Schätzungen sprechen von 10 bis 16 Millionen Euro. Der Verein für die Zwischennutzung des Palastes, der sich im Mai dieses Jahres gegründet hat, nennt selbst schamhaft 1,5 Millionen Euro, die nötig seien, um die Ruine wieder in einen begehbaren Zustand zu versetzen. Nach einer Pressemitteilung des Vereins sollen diese 1,5 Millionen Euro zunächst - ich betone das Wörtchen „zunächst“ - aus privaten Mitteln aufgebracht werden. Hier stellt sich sofort die Frage, was geschehen wird, wenn die Mittel nur zur Hälfte oder zu drei Vierteln privat aufgebracht werden können. Sicherlich wird dann wieder nach Bundesmitteln gerufen werden. Immer wieder ist zu lesen, der so genannte Palast verdiene eine Gnadenfrist. Was heißt denn Gnadenfrist, liebe Kolleginnen und Kollegen? Es ist unstreitig, dass das Stadtschloss vor allen Dingen durch seine barocke Erweiterung zu einer der kulturhistorisch bedeutendsten Residenzen Europas wurde. Der Palast der Republik, der in den 70er-Jahren auf dem Grund des abgerissenen Stadtschlosses errichtet worden war, war niemals ein Palast des Volkes. Er war beim Volk in etwa so beliebt wie die DDR-Regierung. Er wurde allerdings zum Symbol für all jene, die sich mit dem ruhmlosen Verschwinden der DDR niemals abfinden konnten und mithilfe des Palastes der Republik ihre ewig gestrigen Grabenkämpfe weiterführen wollen. Frau Staatsministerin Weiss, Sie haben vorhin die Grabenkämpfe beklagt. Ich weise Sie auf eine Presseerklärung des Vereins „Zwischennutzung“ hin, dem Sie laut Internet ebenfalls angehören sollen. Ich persönlich empfinde es als sehr problematisch, wenn Sie einen Parlamentsbeschluss durchsetzen sollen und gleichzeitig einer Bürgerinitiative angehören, die sich für eine Zwischennutzung stark macht. Das ist ein Interessenkonflikt, dem ich mich, wenn ich Kulturstaatsministerin wäre, nicht aussetzen würde. ({0}) - Ich hätte mich auch unhöflicher ausdrücken können. Ich wollte einfach nett sein ({1}) und nett das rüberbringen, was eigentlich eine skandalöse Tatsache ist. In dieser Pressemitteilung des Vereins „Zwischennutzung“ steht zu lesen, dass eine Zwischennutzung nicht notwendigerweise den Erhalt des Palastes der Republik zum Ziele habe. Was heißt denn „nicht notwendigerweise“? Das heißt, ein Erhalt des Palastes der Republik wäre das eigentliche Ziel des Vereins - zu erreichen über die Zwischennutzung -, das er aber aus politischen Gründen jetzt nicht so deutlich nennen will. ({2}) Die Zwischennutzung wird also von diesem gleichnamigen Verein als Chance begriffen, um - ich zitiere - bewusst Abschied zu nehmen von einem Gebäude, das wie kein anderes für die DDR-Gesellschaft von zentraler Bedeutung war und dessen unvermeidbare Asbestsanierung von vielen als symbolischer Akt eines kalten Abrisses angesehen wurde. - Das, liebe Frau Weiss, sind nun wirklich Grabenkämpfe. Die werden nicht im Antrag der CDU/CSU geführt, sondern in Presseerklärungen wie dieser. Deshalb ist es nicht vermessen, den Initiatoren zu unterstellen, dass es ihnen um Ostalgie geht, um eine Werbung für die Wiederherstellung des Palastes, um ihr ewiggestriges Anliegen, die DDR nicht vergehen zu lassen. ({3}) Deshalb erwarte ich eine ganz klare Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung des Beschlusses des Parlamentes. Ich denke, es wäre eine tolle Sache, wenn wir am 3. Oktober 2010 - passend zur Agenda des Kanzlers - gemeinsam die Schlosseröffnung feiern könnten. ({4}) - 2010. Ich sagte: Passend zur Agenda Ihres Kanzlers sollten wir gemeinsam die Schlosseröffnung feiern und damit einen symbolischen Schlussstrich unter die DDRNostalgie setzen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Eckardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich würde gern höflich sein. Aber bei dem letzten Beitrag hatte ich das Gefühl: Ich bin im falschen Film. ({0}) Denn es geht hier nicht darum, den Palast der Republik wieder aufzubauen. Soviel ich weiß, geht die Debatte darum, was mit dem Schloss geschehen soll bzw. wann es wieder aufgebaut werden soll. ({1}) Eckhardt Barthel ({2}) Es ist inzwischen eine wirklich nervende Geisterdiskussion darüber im Gange, ob eine Zwischennutzung richtig oder falsch ist. Eine solche wird es kaum geben. Denn das kann keiner bezahlen; so simpel ist die Geschichte. Im vorliegenden Antrag wird gefordert, dass es keine ideelle Unterstützung seitens der Bundesregierung geben soll. Ich stelle mir einmal vor, im Palast der Republik fände eine Veranstaltung statt und Frau Weiss würde sich eine Eintrittskarte kaufen und in den Palast hineingehen. Ist das dann eine ideelle oder gar materielle Unterstützung der Bundesregierung im Hinblick auf eine Zwischennutzung? ({3}) Ich finde das alles sehr merkwürdig. Diejenigen, die sich immer auf die Expertenkommission berufen, vergessen an diesem Punkt die Aussage der Expertenkommission. Denn gerade die Expertenkommission hatte den Vorschlag einer Zwischennutzung gemacht, und zwar mit der Bedingung - die Bundesregierung hat sie aufgenommen -, dass es keine Verfestigung der Nutzung geben darf und dass keine Mittel hineingesteckt werden dürfen. Trotzdem immer wieder diese Mühle der Zwischennutzung! Ich begreife es nicht. Aber vielleicht ist das auch der leichteste Teil des gesamten Problems. ({4}) Was ist eigentlich der Kern dessen, worüber wir sprechen? ({5}) - Danke! - Sie fordern ja einen zügigen Wiederaufbau des Stadtschlosses. Ich nenne drei Punkte, die den Rahmen dieser Diskussion bilden, und zwar zunächst unseren Beschluss. Ich wiederhole ihn nicht; ich lege nur Wert darauf, ihn im Rahmen dessen, was ich vorschlagen möchte, zu erwähnen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Barthel, darf der Kollege Rexrodt eine Zwischenfrage stellen?

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Barthel, Ihre Ausführungen zur Zwischennutzung veranlassen mich zu der Frage an Sie als Mitglied einer Fraktion, die die Regierungskoalition trägt, ob Sie bestätigen können, was die Kollegin Lengsfeld eben geäußert hat: dass die Staatsministerin Weiss Mitglied einer Initiative sei, die sich für die Zwischennutzung des Palastes der Republik einsetzt. Dies möchte ich gerne von Ihnen bestätigt oder dementiert haben, wenn Sie das können. ({0})

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rexrodt, ich gestehe, dass ich gar nicht alle Vereine kenne, denen ich angehöre. Erst recht weiß ich nicht, in welchen Vereinen die Staatsministerin ist. Ich mache Ihnen einen einfachen Vorschlag: Fragen Sie sie nachher selbst. ({0}) Wir sind ja gleich fertig. Vielleicht kriegen wir das dann noch heraus. ({1}) - Ich finde das jetzt wirklich ein bisschen kleinkariert. ({2}) Wir reden über ein Projekt, das vielleicht 700 oder 800 Millionen Euro kosten wird, und Sie fragen nach der Mitgliedschaft der Staatsministerin in einer Initiative. ({3}) - Wenn Sie mir jetzt die Chance gäben, weiterzureden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Um die augenblickliche Situation richtig ermessen zu können, sollte man sich noch einmal die Eckpunkte vor Augen halten. Der erste Eckpunkt ist unser Beschluss. Er steht. Das sage ich ganz bewusst, auch angesichts dessen, was ich noch sagen werde. Zweitens. Der Schlossplatz ist potthässlich. Er schreit nach Veränderung und nach Gestaltung. ({4}) Drittens. Nach meiner Wertung - ich bin sicher, Sie teilen diese Meinung - haben wir ein grandioses Nutzungskonzept für dieses Schloss. ({5}) Jetzt beginnt mein Problem, Herr Nooke. Das Konzept geht von 80 Prozent öffentlicher Nutzung aus. Sie sagen jetzt leichtfertig, Sie wollten es zwar nicht, aber es könnten auch 20 Prozent öffentliche Nutzung sein. ({6}) Um Gottes willen! Dann lieber nichts dorthin bauen. Was gehört zum Nutzungskonzept? Die außereuropäische Sammlung aus Dahlem, die wissenschaftliche Eckhardt Barthel ({7}) Sammlung Humboldt und Teile der Stadtbibliothek sollten dort hinein. Das ist eine sinnvolle Nutzung. ({8}) Das ist nur möglich, wenn mindestens 80 Prozent des Gebäudes öffentlich genutzt werden. Ich glaube, wir müssen einen vierten Eckpunkt formulieren. Wir haben heute Morgen alle die Regierungserklärung und die Debatte zur finanziellen Situation unseres Landes gehört. Jetzt erlaube ich mir, einen ganz persönlichen Vorschlag zu machen. In Anbetracht der finanziellen Situation dieses Landes und dieser Stadt sollten wir - obwohl der Bau des Schlosses zulasten des Bundes gehen wird - ehrlich sagen: Wir verschieben dieses Projekt, ({9}) bis wir ein Finanzierungskonzept entwickeln können, ({10}) das dem Nutzungskonzept entspricht. ({11}) - Das ist meine persönliche Meinung. Das wäre Ehrlichkeit. Das wäre Klarheit. Sie können dagegen sein. Gestatten Sie mir eine eigene Meinung! Vielleicht ist Ihnen so etwas fremd. ({12}) Ich bitte Sie wirklich, sich zu überlegen, ob das nicht eine Möglichkeit wäre. ({13}) Aber auch dazu gehörte erstens eine Schleifung des Palastes der Republik - so schnell wie möglich - und zweitens eine Gestaltung dieses Areals; ich könnte mir eine gärtnerische Gestaltung gut vorstellen. ({14}) Dann können wir - ohne unseren Beschluss infrage zu stellen - die Zeit nutzen. Wir sollten der nächsten Generation vielleicht nicht nur - das betonen Sie ja immer - große Schulden, sondern auch eine Aufgabe übertragen, die zu lösen wir zurzeit aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind. Ich danke Ihnen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Vor Jahresfrist hat der Bundestag beschlossen, den Berliner Schlossplatz neu zu gestalten, den Palast der Republik abzureißen und eine Schlossattrappe aufzubauen. Die PDS war dagegen; das wurde heute schon gewürdigt. Ich hatte für mein Nein politische, städtebauliche, historische, ökonomische und demokratische Gründe und ich habe sie mehr denn je. Die Debatte vom Vorjahr ist nachlesbar, wir müssen sie heute hier nicht wiederholen. ({0}) Als Berlinerin wiederhole ich: Der Schlossplatz ist alles andere als ein werbendes Kleinod unserer Stadt. Er ist ein totes Areal, und das schon seit 13 Jahren. Deshalb hat die PDS vorgeschlagen, den Platz mit Zwischennutzungen zu beleben, die anziehend und gefragt sind. Vor einer Woche zog Beachvolleyball Tausende auf den Platz. In den nächsten Tagen wird die Aktion „Schaustelle Berlin“ wiederum Tausende anziehen. Der asbestsanierte Palast kann von innen besichtigt werden. Das ist gut und das klappt nur, weil es Ideen und Initiativen gibt. ({1}) Damit Sie nicht noch eine Zwischenfrage stellen, gestehe ich: Ich habe für ganze 5 Euro schon eine Eintrittskarte erworben und werde mir morgen um 16 Uhr den Palast ansehen. Die erste Führung ist schon seit drei Wochen ausverkauft. ({2}) Damit bin ich beim Antrag der CDU/CSU. In diesem Antrag wird gefordert, jede finanzielle wie ideelle direkte und indirekte Unterstützung einer Nutzung des Palastes der Republik abzulehnen. ({3}) Im Klartext: Sie fordern, dass der Bundestag jedwede Initiative ablehnen soll, die dazu führen könnte, dass der Palast zwischengenutzt und der Platz belebt wird. Frau Merkel, Herr Nooke, Frau Lengsfeld, ich finde, so viel Kalk und Berlin-Ferne wurden selten zu Papier gebracht. ({4}) Deshalb verspreche ich Ihnen in Anlehnung an eine ostbekannte Satire: Am Ende des Sommers wird es heißen: „Die Berliner lächelten sehr finster“, zumal es inzwischen über 200 Ideen und Anträge gibt, den Palastrohbau zu nutzen. ({5}) Dass garantiert nicht nur DDR-Nostalgiker an einer Zwischennutzung interessiert sind, zeigt mir meine Postmappe, denn merkwürdigerweise kommen die Interessenten aus den westlichen Bundesländern und aus der Architektenkammer, ehemals Westberlin. Zum Schluss noch zum großen Thema Geld. Die Schlossfans haben immer wieder behauptet, das Finanzproblem sei ihr kleinstes Problem. Warum also belästigen Sie heute den Bundestag mit Kleinkram, anstatt sich dafür zu engagieren, dass nicht noch mehr Kultureinrichtungen gefährdet werden, ({6}) weil den Ländern und Kommunen bundesweit immer mehr Gelder entzogen werden? Sagen Sie mir bitte nicht, die allgemeine Finanznot hätte allein Rot-Grün verschuldet. Vor einem Jahr zog die CDU/CSU durchs Land und forderte: Die Steuern müssen runter. - SPD und Grüne sagten „Aber“ und fragten besorgt, wodurch denn die Ausfälle im Staatssäckel kompensiert werden sollen. Nun hat Rot-Grün das Gleiche beschlossen und Sie fragen, wie es kompensiert werden soll. Dieses Wirrwarr herrscht also bei Rot-Grün genauso wie bei Ihnen. Und unisono weichen Sie unserer Frage aus, nämlich der Frage nach gerechten Steuern - ganz wie Kaiser Wilhelm weiland im Stadtschloss. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich der Staatsministerin das Wort zu einer Erklärung zur Aussprache. ({0})

Not found (Gast)

Herr Nooke! Frau Lengsfeld! Meine Damen und Herren! Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich außer in einem einzigen Kunstverein und in einem einzigen Literaturhausverein in keinem anderen Verein Mitglied bin. Vielleicht beruhigt Sie das in Bezug auf die politische Sauberkeit. ({0}) Ich erlaube mir allerdings, die Vorschläge der Kommission sehr ernst zu nehmen, und ich habe immer die Position vertreten: Wenn in der Zwischenzeit eine gute privat finanzierte Zwischennutzung des Palastes möglich ist, werde ich sie unterstützen. Wenn es diese Möglichkeit nicht gibt, richte ich mich nach der Realität. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Staatsministerin, ich vermute, dass die Offenlegung Ihrer für Parlamentarier völlig untypisch niedrigen Zahl von Vereinsmitgliedschaften Ihnen eine Flut von Zuschriften mit entsprechenden Angeboten einbringen wird. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1094 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 d sowie die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: 11 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Doris Barnett, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Volker Beck ({1}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sicherung eines fairen und nachhaltigen Han- dels durch eine umfassende entwicklungsori- entierte Welthandelsrunde - Drucksache 15/1317 - b) Beratung des Antrags der Abgeordnten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim Welthandel mit Dienstleistungen - GATS-Verhandlungen zügig voranbringen - Drucksache 15/1008 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Qualitätssicherung im Bildungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren - Drucksache 15/1095 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Internationale Rechtssicherheit und transparente Regeln für den Dienstleistungshandel GATS-Verhandlungen voranbringen - Drucksache 15/1010 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico - Drucksache 15/1323 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Wohlstand für alle durch mutige Marktöffnung - Drucksache 15/1333 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Dr. Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen geben wir Bundesregierung und EU-Kommission klare Richtlinien für die laufende Welthandelsrunde und die GATS-Verhandlungen an die Hand. Dies ist umso wichtiger, weil sich die Weltwirtschaft und das Welthandelssystem in einer kritischen Situation befinden: Seit der deutlichen Abschwächung der Weltwirtschaft vor drei Jahren ist es immer noch nicht zu einer dauerhaften Erholung gekommen; auch der Ausblick auf das kommende Jahr ist nicht sonderlich rosig. Eine stagnierende Weltwirtschaft mit schwachem Wachstum und steigenden Arbeitslosenzahlen in der Europäischen Union und den USA macht es den Industrienationen schwer, substanzielle und schnell wirksame Handelszugeständnisse zu machen und zügig umzusetzen. Damit entwickelt sich eine Vertrauenskrise zwischen den großen WTO-Mitgliedern und den Entwicklungsländern, die auf die Erfüllung des Versprechens von Doha pochen, eine Entwicklungsrunde zu machen. Zur gleichen Zeit wird die Glaubwürdigkeit und Legitimität des Welthandelssystems in Zweifel gestellt. Für große Teile der Öffentlichkeit bleibt fraglich, ob das derzeitige System tatsächlich zu mehr nachhaltigem Wachstum, höherem Lebensstandard, besseren Arbeitsbedingungen, besserem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und einer entscheidenden Reduzierung der Armut führt. Für Deutschlands Wirtschaft und seine Arbeitsplätze ist die Entwicklung des Welthandels von zentraler Bedeutung; schließlich sind wir Vizeweltmeister im Export. Wir müssen aber auch erkennen, dass eine befriedigende und stabile Aufwärtsentwicklung nicht allein in der Zunahme des Handelsvolumens, sondern auch in dessen gleichgewichtiger Entwicklung besteht. Gerade im Kontext eines sich stets verlangsamenden weltweiten Wachstums müssen wir erkennen, dass lange Zeit bestehende hohe Handelsbilanzdefizite, aber auch -überschüsse früher oder später auf den weltweiten Währungs- und Finanzmärkten Ungleichgewichte und zum Teil nicht unerhebliche Finanzkrisen hervorrufen. ({0}) Diese Finanzkrisen haben häufig nicht nur negative ökonomische Auswirkungen in den betroffenen Staaten und Regionen, sondern führen zunehmend zu mehr Armut und Verelendung von Hunderten von Millionen Menschen. Der Handel und seine Liberalisierung bringt gewiss Wohlstandsgewinne, dies aber, wie UNCTADStudien zeigen, nicht automatisch und nicht in allen Ländern. Es bedarf mehr, damit der Handel eine Erfolgsstory für viele wird. ({1}) Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg wurde überzeugend aufgezeigt, dass Handel ohne Zweifel eine wichtige Säule der Entwicklung ist, aber nur dann, wenn gleichzeitig und gleichrangig ein umfassender Schuldenerlass, die Sicherung angemessener Beschäftigung einschließlich der grundlegenden Arbeits- und Sozialrechte, die Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten, die Armutsbekämpfung und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen angestrebt und schrittweise erreicht werden. ({2}) Wer diese Zusammenhänge nicht sieht, wird mit Handelspolitik pur scheitern. Das Welthandelssystem ist verwundbarer, als wir häufig glauben. Das haben uns nicht nur die Ereignisse vom 11. September und der Irakkrieg gezeigt, sondern auch die schädlichen Auswirkungen von letztlich kleinen Epidemien wie SARS. Deswegen müssen wir, wenn wir vor, während und nach der Konferenz in Cancun verhandeln, unsere Prioritäten für eine erfolgreiche Handels- und Entwicklungspolitik deutlich machen: Erstens. Jede Maßnahme in der WTO muss zu mehr nachhaltigem Wachstum, weniger Armut, mehr Wohlstand und vor allem zu mehr Arbeitsplätzen, möglichst regional gleichgewichtig verteilt, führen. ({3}) Zweitens. Jede Ausweitung des multilateralen Welthandelssystems muss sich als Bestandteil einer kohärenten Politik verstehen, die internationale Konventionen und Verträge, die Ziele der UN-Organisationen wie UNEP, UNCTAD oder ILO - zum Beispiel beim Klimaund Umweltschutz, bei den Menschenrechten sowie bei Arbeits- und Sozialrechten - nicht nur selbstverständlich akzeptiert, sondern diese in ihren Streitschlichtungsverfahren auch respektiert. ({4}) Drittens. Die WTO muss wirklich multilateral sein und von den kleineren und ärmeren Ländern auch als Schutzschild gegenüber der Übermacht und - auch das sage ich - dem politischen Übermut großer Handelsmächte dienen. ({5}) Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Wenn wir ein faires und für kleinere und ärmere Länder umsetzbares Handelssystem wollen, dann müssen wir auch darauf achten, dass administrative Vorschriften für sie tragbar und umsetzbar sind. Wenn wir in unseren Ländern von einem „small business act“ sprechen, dann müssen wir uns auch überlegen, ob wir in der Welthandelsorganisation nicht so etwas wie eine „small and poor countries clause“ brauchen, sozusagen eine „WTO light“, damit diese Länder die Vorschriften auch wirklich handhaben können. ({6}) Viertens. Wir brauchen eine WTO-Reform an Haupt und Gliedern, um die Organisation wieder politisch und sozial hoffähig zu machen. Wenn die WTO in ihrem Verhandlungsprozess nicht möglichst offen, transparent und partizipativ agiert und mit den anderen UNO-Organisationen kooperiert, dann wird sie nicht erfolgreich sein können. ({7}) Was wir im Vorfeld bei den letzten Verhandlungen auch im Zusammenhang mit GATS als Parlamente erlebt haben, von den Gewerkschaften, den Nichtregierungsorganisationen und der breiten Öffentlichkeit einmal ganz zu schweigen, das geht auf keine Kuhhaut. Geheimdiplomatie des 19. Jahrhunderts ist in einer modernen Massendemokratie des 21. Jahrhunderts fehl am Platze. Das müssen sich die WTO, die EU-Kommission und unsere Beamten endlich einmal hinter die Ohren schreiben. ({8}) - Das Parlament muss sich das nicht hinter die Ohren schreiben. ({9}) Wir haben versucht, diesen Prozess klarzustellen und durchzusetzen und wir haben zum ersten Mal in der Parlamentsgeschichte einen Parlamentsvorbehalt zu Außenwirtschaftsverhandlungen eingelegt, um genau dies zu sichern. ({10}) Fünftens. Wir wollen bei GATS volle Flexibilität gesichert wissen, weil es hierbei nicht nur um wirtschaftsnahe Dienstleistungen geht, sondern um den ganzen Bereich von Bildung, Kultur, Gesundheitswesen und um viele andere Dinge, über die unsere Kolleginnen und Kollegen noch sprechen werden. ({11}) Wir wollen, dass künftige deutsche Parlamente Entscheidungen auch wieder rückgängig machen können, weil ein demokratisch beschlossener Sozialvertrag auf Zeit, wie nationale Gesetze nun einmal sind, nicht durch einen faktisch nicht mehr revidierbaren internationalen VerDr. Sigrid Skarpelis-Sperk trag, wie es GATS ist, abgelöst werden soll. Ich sage nachdrücklich: Wir dürfen künftige Parlamente nicht politisch entmündigen und in ihrer Souveränität begrenzen. Das ist unsere Aufgabe. Darauf müssen wir achten, und zwar auch beim GATS und auch gegenüber der EU-Kommission. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der heutigen Debatte liegen vier Anträge zugrunde, davon drei von der Opposition. Daran sehen Sie, wie fleißig wir sind. In allen Anträgen geht es darum, dass wir an dem globalen Welthandel weiterarbeiten, dass wir die Welthandelsrunden endlich zum Abschluss bringen. Dabei ärgert es mich, dass durch falsche Behauptungen, durch falsche Darstellungen von Fakten immer wieder Ängste geschürt werden. ({0}) Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben gerade ein Beispiel dafür gegeben, wie man das tun kann. ({1}) - Herr Tauss, ich erkläre es Ihnen ja. Wenn Sie zuhören, dann werden Sie einiges lernen. ({2}) Bei der ganzen Debatte wird immer wieder behauptet, dass die öffentliche Daseinsvorsorge liberalisiert werden soll. Das aber ist, wie wir wissen, überhaupt kein Thema und davon steht auch in den gesamten Papieren nichts. ({3}) Wenn wir bei GATS diesen Bereich ausklammern - er ist sauber ausgeklammert -, dann haben wir den NGOs im Prinzip den Wind aus den Segeln genommen. Wir sollten hier in diesem Hohen Hause nicht ständig darüber diskutieren, weil wir die Leute dadurch nur verunsichern. ({4}) Wir alle sind aufgefordert - das ist auch meine Bitte an Sie -, das Geschäft mit der Angst, welches Gruppen wie VENRO, Attac und leider auch der DGB immer wieder betreiben, zu ignorieren und eine intensive Öffentlichkeitsarbeit dafür zu betreiben, dass genau das zukünftig nicht mehr läuft. ({5}) Leider gibt es in Ihrem wunderschönen weitschweifenden Antrag eine Reihe von Formulierungen, die genau dieses Geschäft mit betreiben bzw. nach vorne bringen. In Cancun soll beispielsweise eine Entscheidung über zukünftige WTO-Themen von vornherein verhindert werden. Wir halten das für grundsätzlich falsch. Wir müssen nicht nur die Dienstleistungsmärkte öffnen. Natürlich müssen wir auch die Agrarverhandlungen weiterbringen und bei den Zöllen weiterkommen. Es müssen aber auch neue Themen her. Ich nenne nur Handel und Investitionen sowie Handelsvereinfachungen. Wir können nicht einfach darüber hinweggehen; denn diese Themen werden uns in der Zukunft beschäftigen. Im Wesentlichen geht es dabei auch um Entbürokratisierung und Deregulierung. Das jedoch sind Felder, auf denen Rot-Grün sowohl national als auch international keine besonders gute Rolle spielt. ({6}) Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Regierung auf, die europäische Verhandlungsposition bezüglich einer Abstimmung über neue Themen zu verändern. Wir wollen diese neuen Themen und wir wollen nicht erst warten, bis die nächsten Runden vorbei sind. ({7}) Die EU befindet sich nach dem Agrarkompromiss von Luxemburg endlich auf einem besseren - wenn auch noch nicht immer richtigen - Weg. Trotz der französischen Totalverweigerung gab es in Luxemburg einen Kompromiss, den wir begrüßen. Es ist notwendig, dass den Entwicklungsländern gerade auf diesem Sektor geholfen wird. Ich hoffe - hier sind wir sicherlich einer Meinung -, dass wir das gemeinsam so sehen. Lassen Sie mich zum Inhalt der GATS-Liberalisierung nur ganz kurz das Wichtigste sagen. Cancun muss in dieser Welthandelsrunde in allen Bereichen, ob das GATS, TRIPS oder GATT ist, so zügig wie möglich weitergeführt werden. Es darf keine Handelsbehinderungen geben. Ich erinnere noch einmal an den Krimi von Luxemburg. ({8}) Der internationale Dienstleistungshandel besitzt eine immense Bedeutung für die WTO. Zugleich ist dies auch der Bereich, der zu Unrecht die größten Sorgen in der Bevölkerung hervorruft. ({9}) Dagegen sollten wir gemeinsam vorgehen. Hier besteht ein Bedarf an Aufklärung. ({10}) Für die Konsumenten bringt die Liberalisierung der Dienstleistungen nämlich jede Menge: mehr Wahlmöglichkeiten, bessere Preise und höhere Qualität. ({11}) - Frau Skarpelis-Sperk, die Dienstleistungen sind zudem ausgesprochen arbeitsintensiv und eine wichtige Quelle für zukünftige Arbeitsplätze. ({12}) Dass wir in Deutschland durch Ihre falsche Politik diesbezüglich einen erheblichen Bedarf haben, weiß ja wohl eigentlich jeder. ({13}) Mehr als 60 Prozent der Arbeitsplätze in der EU befinden sich im Dienstleistungssektor. Über 70 Prozent unseres BIP werden dort erwirtschaftet. Die EU ist sowohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur von Dienstleistungen. Deswegen besitzen Dienstleistungen eine gewaltige Bedeutung für das Wachstum und die Beschäftigung. Seit den 90er-Jahren ist der Handel mit Dienstleistungen im Schnitt immer etwa 10 Prozent schneller gewachsen als der Exporthandel mit Waren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe es befürchtet. Bitte schön.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Er wird das auch mit der Zusage der Reduzierung seiner Zwischenrufe verbinden.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Fuchs, es war ja unvermeidlich, nachdem Sie mir versprochen hatten, ich könnte etwas lernen. Bisher konnte ich nämlich noch nichts lernen. ({0}) Sie haben viele Dinge gesagt, die natürlich zu unterstreichen sind. Ich habe nur die Bitte, ob Sie freundlicherweise konkret werden können. Sie haben mehrfach davon geredet, dass Dienstleistungen liberalisiert werden sollten. Welche Dienstleistungen meinen Sie? Gehört für Sie die Bildung - hier könnte man differenzieren: die öffentliche Bildung, die der Universitäten, die Weiterbildung - dazu? Gehören für Sie auch die Kultur und das Wasser dazu? Was gehört an Daseinsvorsorge für Sie dazu? Haben Sie meine Frage verstanden? Dann habe ich einfach die Bitte, dass Sie mir antworten, damit das allen klar wird.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unterscheiden Sie bitte zwischen Daseinsvorsorge und Dienstleistung, Herr Tauss. Das hatte ich eben schon einmal gesagt; Sie geben mir aber die Gelegenheit, das zu wiederholen, weil Sie eben anscheinend nicht zugehört haben. Die öffentliche Daseinsvorsorge ({0}) wird bei GATS ausdrücklich ausgeklammert und liegt nach wie vor in der nationalen Hoheit der Parlamente. Fragen Sie Ihre Kollegin Frau Skarpelis-Sperk! Sie wird es Ihnen erklären. Insofern stehen diese Fragen überhaupt nicht zur Diskussion. Es wird immer genau das falsch gemacht, was auch Sie gerade falsch machen, nämlich dass dieser Punkt in die Debatte über Dienstleistungen aufgenommen wird. Das ist nach wie vor national zu regeln. Jedes Parlament hat weiter die Möglichkeit, dies zu tun. ({1}) - Sie haben gerade nach der Daseinsvorsorge gefragt. Zur Frage der Dienstleistungen sage ich Ihnen klar, dass auch bei Dienstleistungen über Deregulierung nachgedacht werden kann. Die französische Position zur Kultur - sprich: die Beschränkung beim Einkauf amerikanischer Filme, die jeder sehen will - kann ich nicht nachvollziehen. ({2}) Eine zügige Liberalisierung bedeutet auch den Abbau von Handelshemmnissen. Hier ist die Regierung in der Handlungsverantwortung. Ich fordere Sie auf: Schließen Sie dauerhaft nationale Regelungen aus. Dadurch werden nämlich Anbieter und Investoren im Dienstleistungsbereich benachteiligt. Ich denke vor allen Dingen an die Entwicklungsländer; sie sind mir besonders wichtig. Frau Skarpelis-Sperk, für mich ist die beste Formel für die Entwicklungsländer: Trade is better than aid. ({3}) Wir müssen den Entwicklungsländern die Chance geben, die Produkte, die sie herstellen können, zu exportieren. Das gilt natürlich auch für den Agrar- und Textilbereich, in dem in jedem Fall Hilfen vereinbart werden müssen. ({4}) Der Antrag der Regierungskoalition konzentriert sich nicht auf das Wesentliche. Es gibt darin eine Menge an Sozialschwärmerei. Dies stellt man fest, wenn man die Ausführungen zu Geschlechtergleichbehandlung, Tierund Umweltschutz und vielen anderen Bereichen liest. Sie wollen die WTO mit allen erdenklichen Politikfeldern zuschütten. Davon halte ich nichts. Wir brauchen eine World Trade Organization und keine World Social Organization. ({5}) Die Bundesregierung praktiziert dies schon in Deutschland zur Genüge. Ich glaube, die Ergebnisse sind nicht so gut, als dass wir die dirigistischen Einflüsse, die wir in diesem Land durch Ihre Regulierungswut haben, exportieren sollten. ({6}) Handel braucht einen Rahmen, in dem sich Unternehmer ihrer Handels- und Handlungsfreiheit erfreuen können. Vertreten Sie uns in Cancun mit dem Motto: Weniger ist mehr! ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welthandelsrunde in Cancun ist eine Zwischenetappe, aber eine sehr bedeutsame. Aus unserer Sicht besteht spätestens nach dem Golfkrieg die Gefahr einer Krise des Multilateralismus. Die Frage ist berechtigt, ob von der WTO wie auch von anderen multilateralen Institutionen ein konstruktives Signal ausgeht, dass das multilaterale System eine Zukunft hat. Ob dies gelingt, ist allerdings offen. Multilaterale Spielregeln im Handel sind nicht nur für eine Exportnation wie Deutschland wichtig, sondern insbesondere ärmere und kleinere Länder sind bei der zunehmenden Tendenz, bilaterale Verträge zu schließen, deutlich benachteiligt, da sie keine Möglichkeiten haben, strategische Allianzen zu bilden und so ihre Verhandlungsposition zu stärken. Worum geht es bei der Doha-Runde? Gerade nach den Ereignissen des 11. September hat die Staatengemeinschaft beschlossen, dass dies eine Runde für die Entwicklungsländer werden muss, aus der sie einen Benefit vom internationalen Welthandel ziehen sollen. Das hat einen guten Grund. Bisher - so war die Analyse der Staatengemeinschaft - waren es die Industrienationen, die von der WTO-Runde profitiert haben. Vielleicht waren es auch einige Schwellenländer. Aber die große Masse der Entwicklungsländer, insbesondere die ärmsten Länder, haben nur draufgezahlt und eben keinen Benefit vom internationalen Welthandel gehabt. Nun ist es so, dass gerade die Entwicklungs- und Schwellenländer - das stimmt mich optimistisch - durchaus keine schwachen und hilflosen Länder mehr sind, sondern die Schwellenländer werden zunehmend zu starken Verhandlungspartnern. Auch die ärmeren Länder bilden Allianzen, wodurch sie sich Gehör verschaffen können. Die Zeit, in der die Industrienationen einseitig ihre Interessen durchsetzen konnten, ist vorbei. Hier liegt auch ein entscheidender Unterschied zur UruguayRunde. Es ist völlig klar: Wenn die Entwicklungsländer in dieser Runde keinen Benefit mit nach Hause nehmen können, dann droht die Blockade der gesamten Verhandlung. Das wäre für uns als Exportnation fatal. Deswegen liegt es in unserem ureigenen, auch wirtschaftlichen Interesse, dass bei dieser Runde ein Fortschritt für die Entwicklungs- und Schwellenländer herausspringt. ({0}) Im Übrigen ist mehr globale Gerechtigkeit auch aus anderen Gründen von Interesse. Denn wenn wir über Terrorismusbekämpfung und Friedenssicherung in der Welt sprechen, dann bedeutet das auch, dass wir Entwicklungs- und Schwellenländern eine Chance zur Entwicklung geben, damit auch sie eine Perspektive haben. Dazu gehört sicher - das wurde schon angesprochen -, dass die WTO demokratischer und transparenter wird und es keine informellen Absprachen zwischen den Industrienationen und den größeren Schwellenländern gibt. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir abgehen von gleichen Regeln für alle und hinkommen zu Regeln, die dem Entwicklungsstand der Länder angepasst sind. ({1}) Das heißt, dass die Schwächeren die Chance auf eine spezielle und differenzierte Behandlung haben. Das gilt für die Streitschlichtung genauso wie für die Umsetzung der Verpflichtung und die Regeln für die Öffnung des Marktzugangs. Weil der Kernpunkt ist, Herr Fuchs, dass wir der WTO-Runde zum Erfolg verhelfen, halten wir es für falsch, die WTO-Runde mit den so genannten SingapurThemen zu überfordern. ({2}) Wir glauben, dass es ein Problem wird, wenn wir immer noch etwas obendrauf packen, und dass das Ergebnis nicht Fortschritt, sondern Blockade ist. Die Parlamente müssen aus meiner Sicht - deswegen hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal diese Frage zu einer zentraleren Zeit debattieren - eine größere Rolle übernehmen. Ich finde es gut, dass wir uns vorgenommen haben, mit regelmäßigen weltweiten Parlamentskonferenzen diesen Prozess zu begleiten. Ich wiederhole: Der Erfolg der WTO-Runde muss substanzielle Zugeständnisse an die Entwicklungsländer bedeuten. Das steht im Zentrum. Wichtig ist ein besserer Marktzugang für die Entwicklungsländer, besonders in den Bereichen, in denen sie exportfähig sind, das heißt Landwirtschaft und Textilien. Bedeutsam ist auch ein Abbau der Exportsubventionen. Herr Fuchs, Sie haben die Ergebnisse der Agrarverhandlungen gelobt. Mein Kollege aus dem Agrarausschuss hat mir gesagt, dass Ihre Kollegen im Ausschuss heute genau das Gegenteil gesagt haben und kein einziges Lob, sondern nur Kritik über die Verhandlungsergebnisse geäußert haben. ({3}) In Europa subventionieren wir jede Kuh mit 2,50 Dollar pro Tag. ({4}) Das ist mehr, als die Hälfte der Weltbevölkerung zum Leben hat. Mit diesen hoch subventionierten Produkten gehen wir in die Entwicklungsländer und zerstören dort die heimischen Märkte. Das ist ein untragbarer Zustand, der sofort beendet werden muss. ({5}) In einem Punkt bin ich besonders stolz auf unseren Antrag: Wir wollen zumindest einen Teil der frei werdenden Gelder als Wiedergutmachung den Entwicklungsländern zur Verfügung stellen. Das ist eine sehr gute Position. ({6}) Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der die Entwicklungsländer betrifft. Ich finde, es ist ein Skandal, dass wir die Einigung, die wir beim TRIPS-Abkommen und beim Zugang der ärmeren Länder zu Medikamenten in Doha erzielt haben, jetzt nachträglich von den USA infrage gestellt wird. Ich erwarte und hoffe, dass nicht weitere Zugeständnisse von den Entwicklungsländern verlangt werden, sondern dass wir eine akzeptable Lösung finden. ({7}) Abschließend möchte ich etwas zu den GATS-Verhandlungen sagen. Die Thematik hier betrifft weniger die europäischen Märkte. Aber ich finde es absolut unverständlich, dass die Europäische Union die Entwicklungsländer auffordert, ihre Wassermärkte und Finanzmärkte zu liberalisieren. Das ist erstens unglaubwürdig, weil wir die Wassermärkte im eigenen Land nicht öffnen wollen. Zweitens glaube ich, dass Wassermärkte nicht pauschal liberalisiert werden sollten. ({8}) Wenn man zum Beispiel Chile und Argentinien vergleicht, dann stellt man fest, dass es besser ist, wenn sich Entwicklungsländer punktuell gegen Krisen schützen können und nicht eine pauschale Liberalisierung der Finanzmärkte vollzogen wird. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die Öffnung der Märkte für eine sehr wichtige Voraussetzung für den Wohlstand gerade auch der Entwicklungsländer halte, die einen Impuls für die Verbesserung der Lebensverhältnisse und Chancen auf Bildung, Gesundheit und Rechtsstaatlichkeit bieten kann. Die Öffnung der Märkte ist deshalb nicht zu verteufeln. Ich hebe das noch einmal besonders hervor, weil dies in diesem Haus offenbar auch nach der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“, in der wir uns schon sehr mühsam mit diesen Binsenweisheiten herumschlagen mussten, immer noch nicht klar geworden ist. ({0}) Ich möchte wegen der knappen Redezeit, die mir noch bleibt, nur kurz auf zwei Punkte eingehen. Es geht nicht darum, weitere Themen zu verhindern oder die WTO-Konferenz zu überfrachten. Zunächst muss - das ist völlig klar - die bestehende Agenda abgearbeitet werden. Danach aber müssen wir sie weiterentwickeln und weitere Themen auf die Tagesordnung setzen - das finde ich sehr wichtig, Herr Kollege Fuchs -; denn es geht darum, die WTO erfolgreich zu gestalten. Insofern geht es nicht um Stillstand und Blockade, sondern um den Fortschritt. ({1}) Als exportorientierte Nation eröffnen sich bei einem erfolgreichen Abschluss der GATS-Verhandlungen für Deutschland enorme Chancen durch mehr Transparenz und internationale Rechtssicherheit. Die FDP wendet sich deshalb strikt gegen alle Versuche - diese werden im rot-grünen Antrag an mehreren Stellen deutlich -, die Bemühungen um mehr Rechtssicherheit auf internationaler Ebene beim Dienstleistungshandel zu blockieren und sich von der übrigen Welt abzuschotten. Auch bei den GATS-Verhandlungen erleben wir diese Zurückhaltung. ({2}) Gemäß der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Bundesbank standen im Jahre 2002 - diese wichtigen Zahlen möchte ich an dieser Stelle nennen - den Erlösen aus dem Dienstleistungsexport in Höhe von 110 Milliarden Euro Ausgaben für Dienstleistungsimporte nach Deutschland in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenüber. Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbestände im Ausland entfallen auf die Dienstleistungsbranchen. In dieser Branche sind 1,6 Millionen Menschen für deutsche Firmen im Ausland tätig. Es handelt sich dabei um einen Markt mit einem Umsatz von 640 Milliarden Euro. Man muss sich einmal vor Augen führen, worüber wir eigentlich sprechen. ({3}) Deutschland ist eine führende Exportnation. Wir dürfen aber nicht zögerlich handeln - das gilt auch für die Behandlung der vorliegenden Anträge -, sondern müssen dazu beitragen, dass die Verhandlungen vorankommen, um den Entwicklungsländern auf diese Weise mehr Chancen zu bieten. Wir als FDP sind entschlossen dagegen - und werden entsprechende Versuche durchweg abwehren -, dass immer neue Bereiche zur so genannten Daseinsvorsorge erklärt werden, nur um sie auf diese Weise einer LiberaGudrun Kopp lisierung zu entziehen. Auch diese Tendenz war heute wieder festzustellen. ({4}) Eines steht fest: Die WTO-Ministerkonferenz muss besonders für die Entwicklungsländer ein Erfolg werden. Sie ist schließlich als Entwicklungsrunde vorgesehen. Wir als FDP bekennen uns auch ausdrücklich dazu. Mein Kollege Michael Goldmann hat heute im Laufe des Tages schon einmal zur Agrarpolitik, die ein sehr wichtiger Punkt auf der Agenda sein wird, Stellung genommen. Wir halten das Ergebnis des Agrarrates für einen Schritt in die richtige Richtung. Aber dieser Weg ist längst noch nicht so konsequent beschritten worden, wie wir uns das vorstellen. Wir haben schon im Jahr 2000 mit der Kulturlandschaftsprämie ein Modell entwickelt, das weitaus zukunftsfähiger ist. ({5}) Wir hätten uns gewünscht, dass wir uns damit stärker hätten durchsetzen können. Von der rot-grünen Regierung wünschen wir uns, dass sie ihre Abschottungspolitik nicht länger fortsetzt. Herr Kollege Fuchs, bitte reden Sie noch einmal mit den Agrariern, damit Sie auf einen gemeinsamen Nenner kommen. ({6}) Im Antrag von Rot-Grün - da ich das sehr bemerkenswert finde, möchte ich Ihnen das kurz zitieren - befinden sich Formulierungen, die den Geist des Rückwärtsgewandten ganz hervorragend zum Ausdruck bringen. Hier ist die Rede von einer „gerechten Verteilung der Handelsgewinne“ - wer will die denn verteilen? - und von einer „Überprüfung aller Liberalisierungsmaßnahmen auf ihre Kulturverträglichkeit“. (Michaele Hustedt ({7}): Was ist an einer gerechten Verteilung rückwärts gewandt? Des Weiteren heißt es - auch das halte ich für ein hervorragendes Beispiel Ihrer Politik -: Vor Unterzeichnung von Handelsabkommen sollen geschlechtsspezifische Folgenabschätzungen durchgeführt werden; ({8}) Ich empfehle, einmal über die Folgenabschätzungen Ihrer Politik zu diskutieren, ({9}) insbesondere über die Bremswirkung Ihrer Politik auf Verhandlungen über notwendige internationale Abkommen. ({10}) Liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, das, was Sie vorschlagen, ist nach wie vor dazu geeignet, Reformen zu verhindern. ({11}) Ich hoffe, dass wir diesen Duktus der 70er-Jahre bald alle überwunden haben und wirklich nach vorne blicken können. Wir dürfen nicht länger in den Dimensionen des Protektionismus und in kleinen Schritten denken. Ich bitte Sie alle, mitzuhelfen, damit die WTO-Verhandlungen ein Erfolg werden. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Hustedt, ich bitte um Nachsicht, dass ich nach deutlich überschrittener Redezeit nicht zur Verlängerung derselben auch noch Zusatzfragen zugelassen habe. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Dr. Raabe für die SPDFraktion. ({1})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geehrten Damen und Herren! „Gerechtigkeit jetzt!“ - das ist das Motto der Welthandelskampagne verschiedener Nichtregierungsorganisationen mit Blick auf die kommende WTORunde im September in Cancun. In der Tat geht es nicht darum, den Entwicklungsländern irgendwelche handelspolitischen Geschenke zu machen, sondern endlich für Gerechtigkeit im internationalen Handelssystem zu sorgen. Deswegen muss ich erstaunt feststellen, dass in einer Debatte, in der es um Strukturpolitik und nicht, wie es oft dargestellt wird, um Almosen für die Entwicklungsländer geht, kein Entwicklungspolitiker von Union und FDP anwesend ist. Das zeigt mir, dass Sie überhaupt nicht begriffen haben, worum es in der Debatte am heutigen Abend geht, ({0}) und dass in Ihren Parteien noch immer von einem Entwicklungsverständnis ausgegangen wird, das den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Das merkt man auch an solch platten Sprüchen wie von Ihnen, Herr Dr. Fuchs, dass die WTO keine Weltsozialorganisation sein solle. Ich sage Ihnen: Doha ist als Entwicklungsrunde definiert und das muss sie auch werden. Es geht darum, den Entwicklungsländern faire Handelschancen zu geben. Wir wollen mit unserem Antrag das Ziel erreichen, die Globalisierung sozial, ökologisch, nachhaltig und gerecht zu gestalten. Dazu sollten Sie endlich Ihren Teil beitragen, anstatt auf diese Weise die ärmsten Menschen zu diffamieren. ({1}) Da das Kräfteverhältnis zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden extrem ungleich ist, können die WTO-Verhandlungen in Cancun nur dann zu einem gerechten Ergebnis führen, wenn den Entwicklungsländern bei den geplanten Liberalisierungen eine Sonderund Vorzugsbehandlung, ein „special and differential treatment“, eingeräumt wird. Dies gilt besonders für den Agrarbereich; denn im ländlichen Raum leben drei Viertel der Hungernden dieser Welt. Das Millenniumsziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren, kann deshalb nur über eine Stärkung der Landwirtschaft und insbesondere der Kleinbauern in den Entwicklungsländern erreicht werden. Dies soll unter anderem durch die Aufnahme einer klar definierten Development Box im WTO-Agrarabkommen geschehen. Dabei soll den Entwicklungsländern das Recht zugestanden werden, ihren eigenen Agrarsektor durch Außenschutz und interne Stützung schützen und fördern zu können. Allerdings nutzt das Recht der Subventionierung den meisten Entwicklungsländern wenig, weil ihnen hierfür das Geld fehlt. Umso verwerflicher sind die enormen Subventionen der Industrieländer für ihre Agrarprodukte, die mit Billigstpreisen die lokalen Märkte in den Entwicklungsländern zerstören. ({2}) Im vergangenen Jahr sind die Agrarsubventionen der OECD-Länder nochmals gestiegen: um fast 13 Milliarden US-Dollar auf 318 Milliarden US-Dollar. Das ist das Sechsfache dessen, was sie für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufbringen. Deshalb fordern wir den vollständigen Abbau aller Exportsubventionen und derjenigen Direktzuschüsse, die handelsverzerrend wirken. Frei werdende Mittel sollten - die Kollegin hat es bereits gesagt - quasi als doppelte Dividende in die Förderung des ländlichen Raumes in Entwicklungsländern gesteckt werden, auch um die Kapazitäten für die Weiterverarbeitung von Agrarprodukten auf- und auszubauen. Der von den europäischen Landwirtschaftsministern in Luxemburg erzielte Kompromiss, der vorsieht, dass die europäischen Agrarsubventionen von der Produktion größtenteils abgekoppelt werden, ist sicherlich begrüßenswert. Er wurde insbesondere auf Druck der deutschen Bundesregierung erzielt. Er ist aber nur ein Schritt in die richtige Richtung. Es müssen weitere Schritte folgen - je schneller, desto besser! ({3}) Gleichzeitig muss der Zugang der Produkte der Entwicklungsländer zum Markt verbessert werden. Für Produkte aus fairem Handel sollte dies sofort und in bevorzugter Weise geschehen. Der Abbau von Zöllen und nicht tarifären Handelshemmnissen, insbesondere auf weiterverarbeitete Produkte, ist nicht nur für den Agrarbereich, sondern für alle Erzeugnisse der Entwicklungsländer wichtig, nicht zuletzt für den Textilsektor. Nach Schätzungen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung könnte ein entsprechender Zugang zu den Märkten der Industrieländer den Entwicklungsländern bis 2005 zu zusätzlichen Einnahmen von jährlich 700 Milliarden US-Dollar verhelfen. Dies entspricht 35 Prozent ihrer jährlichen Einnahmen bzw. 65 Prozent ihrer derzeitigen Einnahmen aus Warenexporten. Herr Dr. Fuchs, ich sage es noch einmal: Es geht in dieser Debatte nicht darum, soziale Wohltaten zu verteilen, sondern diese schreiende Ungerechtigkeit endlich zu überwinden und den Entwicklungsländern das Recht einzuräumen, das wir, die Industrienationen, uns schon seit Jahrzehnten herausnehmen. ({4}) In der globalisierten Welt sind für die Entwicklungsländer natürlich auch andere Bereiche der WTO-Verhandlungen von großer Bedeutung. Das Abkommen zum Schutz der geistigen Eigentumsrechte, TRIPS, wurde schon genannt. Die Gewinninteressen der Pharmaindustrie müssen hierbei eindeutig hinter das Lebensrecht der ärmsten Menschen zurücktreten. Es muss erlaubt werden, dass diese Medikamente auch als Generika produziert werden. Wir dürfen dabei keine Kompromisse eingehen. ({5}) Was die GATS-Verhandlungen über die Liberalisierung von Dienstleistungen angeht, ist es keineswegs so, wie es die Union hier dargestellt hat: dass überhaupt nichts, was in den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge fällt, zur Disposition steht. Das Menschenrecht auf Trinkwasser gehört für mich zu den unverhandelbaren Rechten; denn Trinkwasser ist kein beliebiges Handelsgut und darf deshalb nicht einfach dem freien Markt überlassen werden. ({6}) Herr Dr. Fuchs, Sie sollten sich nicht nur mit dem Angebotskatalog der Europäischen Union beschäftigen. In diesem Katalog kommt in der Tat zum Ausdruck, dass die Europäische Union nicht möchte, dass die Verfügung über das Trinkwasser zur Verbesserung unserer kommunalen Strukturen liberalisiert wird. Es ist unglaublich, dass die EU eine entsprechende Forderung gleichzeitig an 72 Entwicklungsländer stellt. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Forderung nicht mehr erhoben wird. Dies ist ein Ziel unseres Antrages. ({7}) - Die Bundesregierung wird mit diesem Antrag von den Regierungsfraktionen dazu aufgefordert, sich dafür einzusetzen. Wir gehen fest davon aus, dass sie entsprechend agieren wird. ({8}) Bei aller Kritik an bestehenden Ungerechtigkeiten im Welthandelssystem - das möchte ich zum Abschluss sagen - dürfen wir aber zwei wichtige Punkte nicht aus den Augen verlieren: Erstens. In einer Stärkung der WTO mit ihren international verbindlichen Regelungen liegt eine große Chance, gerade für die schwächeren Handelsnationen. Zweitens. Die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zeigen uns, dass eine graduelle und selektive Liberalisierung auch eine echte Chance zur Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung sein kann. Es kommt aber darauf an - wir haben es in unserem Antrag ausgeführt -, dass die Länder selbst ohne Druck entscheiden können, welchen Schritt sie zu welchem Zeitpunkt gehen. Ich komme zum Schluss.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, es wäre schön, wenn der angekündigte Abschluss auch stattfindet.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Weltweite Gerechtigkeit ist kein Luxus und kein Hindernis für mehr Wachstum; sie liegt vielmehr in unserem wohl verstandenen eigenen Interesse; denn wir wollen in einer friedlichen und gerechten Welt leben. Ich bin auch unserer Ministerin dankbar, dass sie immer wieder darauf hinweist, dass Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, auch solche zur Armutsbekämpfung, befolgt werden müssen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Dankesadressen an die Bundesregierung gehen nun wirklich entschieden zu weit.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die WTO-Runde in Doha muss eine Entwicklungsrunde werden. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Im wahrsten Sinne des Wortes: Gerechtigkeit jetzt! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. - Danke, Herr Präsident. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie waren kurz vor dem Punkt, dass Sie für Wiederholungsfälle in besonderer Erinnerung geblieben wären. Nun erteile ich dem Kollegen Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich lege das, was ich mir aufgeschrieben hatte, beiseite, weil ich bei sechs Minuten Redezeit nicht auf die Beiträge eingehen und meine Rede halten kann. Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben eine Rede gehalten, ({0}) die von manchen vielleicht als hervorragend eingeschätzt wird, die aber nichts anders beinhaltet hat als die ganz normale Forderung: Wir wollen alles, und zwar jetzt. ({1}) Über die Frage „Wo stehen wir jetzt und was ist machbar?“ haben Sie überhaupt keine Auskunft gegeben. Es war ein Pauschalkatalog von Forderungen, die man sich überhaupt nur ausdenken kann. ({2}) Das hilft im Augenblick natürlich überhaupt nicht weiter. Wegen der Art und Weise, in der Sie das hier zusammengestellt haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Vor wenigen Tagen fand in Genf ein Symposium bei der WTO statt. Da waren NGOs aus der ganzen Welt zusammen. Die Diskussion dort hat sich wesentlich enger an den Problemen und an der Praxis orientiert, als das in dem Antrag der Fall ist, den die Koalition vorgelegt hat. ({3}) Sie waren viel näher an der Praxis und viel näher an dem, um das es im Augenblick wirklich geht. Sie haben gesagt, wir bräuchten eine Reform der WTO. Haben Sie denn gar nicht mitbekommen, was sich in der WTO geändert hat? NGOs sind bei der WTO akkreditiert. ({4}) Es gibt eine Transparenz, wie sie früher wahrscheinlich weder von den Mitgliedstaaten gewünscht noch üblich war. ({5}) - Richtig! Der Prozess einer parlamentarischen Begleitung beginnt. - Von Supachai, der das Konzept jetzt entwickelt, gibt es das Dialogangebot an die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. ({6}) In der Vorbereitung wird alles auf den Tisch gelegt, wie das vorher überhaupt nicht üblich war. Das heißt: Von Geheimniskrämerei können wir vielleicht bei uns, vielleicht noch in Europa reden, aber sicherlich nicht bei der WTO. Dort gibt es einige Elemente, die den Prozess auch für Entwicklungsländer wesentlich transparenter machen. Ich weiß nicht, ob Sie mitbekommen haben, was hinsichtlich der technischen Unterstützung und der Kapazitätsbildung von dem kleinen Apparat der WTO geleistet wird. ({7}) - Das ist gut so. Wir tun mehr als andere. Das ist sehr erfreulich. Das Ergebnis ist: Die Entwicklungsländer - nicht alle; das ist klar - sind mittlerweile viel besser in der Lage - da hat Frau Hustedt Recht -, an diesem Prozess teilzunehmen. Sie organisieren sich zunehmend. Das Ergebnis dieser Organisation ist, dass sie vieles von dem, was in Ihrem Antrag steht, nicht auf der Tagesordnung haben wollen, ({8}) weil sie sich damit völlig überfordert fühlen und weil sie nicht daran glauben, dass die Art und Weise, wie Sie die Dinge miteinander verknüpfen, ihrer Realität wirklich gerecht wird. Sie wollen natürlich einen langsameren Fortschritt. Sie wollen, dass bestimmte Themen nicht weiterverfolgt werden. Sie wollen, dass die Singapur-Themen erst einmal zurückgestellt werden. Wir haben uns ja auch entschieden, dass in Cancun erst einmal darüber gesprochen werden soll, ob zu den Themen Investment und Wettbewerb überhaupt verhandelt werden soll. Das heißt, da gibt es Spielraum. Die Europäer haben immer gedacht, mit der Agrarpolitik könne man sich Spielraum einhandeln. Das ist ein großer Irrtum. Vertreter der Entwicklungsländer sagen: Ihr handelt euch mit Agrarpolitik gar nichts mehr ein. Ihr seid ohnehin gezwungen, da etwas zu tun. Ihr haltet das selbst nicht durch. Ihr habt in Europa einen Erweiterungsprozess, der Änderungen verlangt. Wir sehen es als unser einfaches Recht an, dass wir jetzt Marktzugang bekommen. ({9}) So hat sich die Situation verändert. Ich sage Ihnen eines, Frau Hustedt: Mit der Formulierung, die Sie gewählt haben, kommen Sie nicht weit. ({10}) Denken Sie nur einmal an das Beispiel Zucker. Wenn wir den Zuckermarkt aufmachen, wie in „everything but arms“ angeregt, dann müssen die Zucker produzierenden AKP-Länder zunächst einmal einen drastischen Preisverfall hinnehmen. Daran muss man auch einmal denken. ({11}) Wer hat den Nutzen, wenn wir uns tatsächlich auf die von den Cairns-Ländern vorgeschlagene Liberalisierung des Agrarmarkts einlassen? Was sind die Präferenzsysteme dann eigentlich noch wert, die heute gegenüber den AKP-Ländern und in Zukunft, wenn es möglich ist, darüber hinaus gegenüber noch mehr Entwicklungsländern bestehen? Ist das wirklich miteinander vereinbar oder ist es nicht eigentlich von noch größerem Nachteil, wenn sie in kürzester Zeit der Konkurrenz der Cairns-Länder ausgesetzt werden? Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, um hier nicht falsche Eindrücke zu bekommen. Bei Public Health raschelt es, Frau Hustedt, hinter den Kulissen. Der größte Blockierer sind im Augenblick nicht mehr die USA, sondern ein kleines Land in der Nähe: Die Interessen der Schweiz sind mittlerweile viel hinderlicher als die USA. Lassen Sie mich abschließend, Herr Präsident, etwas zur parlamentarischen Beteiligung sagen. Wir haben es geschafft, bei der WTO einen solchen Prozess in Gang zu bringen. Hier sitzt heute kein Vertreter des Wirtschaftsministers; der Wirtschaftsminister selbst ist auch nicht da. Das ist symptomatisch dafür, dass diesem Parlament die Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten, auf die es im Vorfeld multilateraler Verhandlungen Anspruch hat, nach wie vor nicht gewährt werden. Wir haben uns alle darum bemüht, aber es ist nach wie vor nur dem Zufall und dem Einzelengagement von Abgeordneten oder solchen Debatten zu verdanken, dass wir überhaupt Gelegenheit haben, über diese Dinge vor Cancun zu diskutieren. ({12}) Es gibt aber eine Bringschuld der Bundesregierung. Sie muss eingefordert werden und demnächst auch einmal formal geregelt werden. So, wie es abläuft, geht es nicht, verehrter Kollege von der SPD, der Sie hier zur Entwicklungspolitik gesprochen haben. Wann haben Sie denn erfahren, dass es Forderungen der EU an 65 Entwicklungsländer in Sachen Wasser gibt? ({13}) - Es sind 65, aber das ist egal, darum müssen wir uns nicht streiten; es sind jedenfalls viele. - Wann haben Sie es denn als Mitglied der Regierungspartei erfahren? Sie haben es auch erst erfahren, als es Ihnen die entsprechenden Initiativen mitgeteilt haben und nachdem Ihnen auch endlich der Vorschlag der Bundesregierung zugestellt wurde. Das muss sich ändern, denn wir werden nie Akzeptanz in der Bevölkerung für diese Prozesse bekommen, wenn wir das Verfahren nicht ändern und es nicht transparenter gestalten. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß, dass die Zeit rennt, aber eine Sache muss ich doch noch einmal klarstellen, Frau Kopp. Wenn man darüber spricht, dass Frauen Zugang zu Bildung erhalten und eine eigene wirtschaftliche Existenz aufbauen können sollen, führt man keine grüne oder sozialdemokratische Quotendebatte, sondern es geht um die existenzielle Frage von Entwicklung. ({0}) Damit lassen sich wirklich viele Probleme lösen. Das sehen Sie in allen Ländern, in denen beispielsweise Mikrokredite für diese Belange eingesetzt werden. Ich möchte Sie wirklich bitten, sich darüber noch einmal zu informieren. ({1}) Damit sind wir schon beim Thema, denn Bildung und Kultur sind endlich auch einmal Gegenstand dieser GATS-Verhandlungen. Das haben wir Präsident Chirac zu verdanken, der bei der Konferenz in Johannesburg zu der Frage von Umwelt und Entwicklung gesagt hat: Wir brauchen die kulturelle Identität; das ist ein wichtiger Punkt. Das sehen wir auch an den Auseinandersetzungen bei den Welthandelskonferenzen. Vor Ort treten Konflikte, auch mit NGOs, auf, weil viele Länder denken, sie würden über den Tisch gezogen, ihre kulturelle Identität würde von einer McDonald’s- und Britney-Spears-Kultur überlagert, sodass sie sie verlieren, und dagegen protestieren. Deswegen müssen wir bei all den Verhandlungen auch die Identitäten der Völker, die jetzt von uns beglückt werden sollen, mit bedenken. Deswegen müssen die Maßnahmen und Regeln des WTO-Regimes endlich auch einmal dahin gehend überprüft werden, wie die kulturelle Identität mit eingebunden werden könnte. Deshalb fordern wir Kulturverträglichkeit. Das ist keine antiquierte, sondern eine vorwärts gerichtete Strategie. ({2}) Ähnliches gilt auch für das GATS-Abkommen. Demzufolge sollen Bildung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen möglichst liberalisiert werden. Okay, die EU hat hierzu keine einheitliche Position und konnte deswegen auch nicht bestimmte Vorgaben durchsetzen. Wir wissen aber doch, was passiert, wenn es zu Verhandlungen in einer großen Runde kommt. Hier herrscht tatsächlich Basarmentalität: Gibst du mir dies, gebe ich dir das. Es gibt nun Gruppen, die ein großes Interesse daran haben, genau diese Bereiche zu liberalisieren und in einen solchen Tauschhandel einzubeziehen. Ich glaube, vielen ist nicht klar, was die Konsequenzen wären, wenn es so kommen wird. Das ist keine Schwarzmalerei. Das sagen ganz seriöse Anstalten. Vertreter der ARD haben uns bei Gesprächen in Brüssel ganz deutlich gemacht, was zum Beispiel passieren würde, wenn wir die audiovisuellen Medien doch liberalisieren würden: Die Zulässigkeit unseres öffentlichrechtlichen Systems mit den Rundfunkgebühren, welches die Sicherstellung einer Grundversorgung für die Öffentlichkeit ermöglicht, würde dann durch WTO-Regeln bestimmt. Wenn sich ein Staat über unsere Gebühren beschwert, würde ein Expertenpanel der WTO, das aus drei Handelsexperten - ich betone: Handelsexperten - besteht, darüber befinden, ob unsere Gebühren dem internationalen Handelsrecht entsprechen oder nicht. Würde ein Verstoß festgestellt, wir aber auf unseren Gebühren bestünden, weil wir glaubten, dass dadurch die öffentlich-rechtliche Versorgung gesichert werden kann, so könnte der Beschwerdeführer gegen uns Handelssanktionen, und zwar in jedem Bereich, verhängen. Man muss sich einmal vor Augen halten, was das in der Konsequenz bedeutet. Ich will gar nicht die Länder aufführen, die ein Interesse an einem solchen Verfahren haben könnten. Wir können uns aber, glaube ich, ganz gut vorstellen, welche Länder das sein könnten. Das könnte auch die Deutsche Welle betreffen, die vollständig vom Staat finanziert wird. Sie ist ein wichtiges Medium, auch zur Krisenprävention in der Welt. Einzelne Länder könnten fordern, dass die Deutsche Welle dort nicht mehr sendet, dass sie nicht mehr mit öffentlichen Geldern unterstützt wird. Sie könnten sagen, dass sie nur weiter senden darf, wenn sie privat finanziert wird und gegenüber den anderen Sendern, die vielleicht von einem Millionär privat finanziert werden, gleichberechtigt ist. Ich kann nur sagen: Dagegen müssen wir uns wappnen. Das dürfen wir auch nicht im Rahmen eines Tauschhandels irgendwann wieder freigeben. Wir müssen sehr wachsam sein. Viele, die sich mit der Materie WTO und GATS beschäftigen, haben das nicht auf der Platte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir über dieses Thema heute hier diskutieren können. ({3}) Die UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt ist auch für die Entwicklung der Länder wichtig. Ich bin froh, dass die Verhandlungen darüber bald beginnen. Die WTO-Regime müssen Überlegungen zur Kulturverträglichkeit und die verschiedenen Identitäten berücksichtigen. In verschiedenen islamischen Ländern sehen wir, dass es, wenn wir die kulturellen Identitäten nicht anerkennen, dazu kommt, dass diese Länder mit ihrer kulturellen Identität Verstöße gegen Menschenrechte und das Gleichheitsprinzip rechtfertigen. ({4}) Dann erfolgt eine Radikalisierung. Darauf müssen wir auch beim Handel achten; denn auch der Handel miteinander ist eine Form des kulturellen Umgangs. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In die Verhandlungen über das GATS-Handelsabkommen sind auch die Bildungsdienstleistungen einbezogen. Hierbei stehen wir vor der Situation, dass Bildung zum einen ein überwiegend öffentliches Gut ist, das mit einem gewöhnlichen Handelsgut nicht gleichgesetzt werden kann. Zum anderen ist Bildung aber auch ein Wirtschaftsfaktor, dessen Bedeutung im internationalen Handel rasant wächst. In den USA werden allein von ausländischen Studenten jährlich rund 10 Milliarden Dollar durch Gebühren und täglichen Konsum umgesetzt. Grundsätzlich begrüßt die CDU/CSU, dass die Liberalisierung des Welthandels mit Dienstleistungen konkrete Formen annimmt. Im Bildungsbereich trägt sie zu mehr Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern, und damit zu mehr Leistungsorientierung und Qualitätssteigerung, bei. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zur besonderen Rolle der Kultur sagen. Wir haben sie in unseren Antrag aufgenommen; denn Kultur entzieht sich der reinen Lehre des Handels mit Dienstleistungen; zum einen, weil die Grenzziehung zwischen Ware und Kultur ein schwieriges Unterfangen ist. Sie ist eine Kernaufgabe in einer demokratischen Gemeinschaft. Sie ist identitätsstiftend und lässt sich nicht ausschließlich wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterordnen. Carl Christian von Weizsäcker hat folgerichtig betont, dass in der Kultur andere Regeln gelten. Zum anderen darf die öffentliche Unterstützung und Subventionierung der Kultur in Deutschland nicht generell zur Disposition gestellt werden. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu Amerika eine 350-jährige Operntradition. Die Opernhäuser werden weitgehend aus öffentlichen Mitteln finanziert. Diese Unterstützung der deutschen Kultureinrichtungen kann nicht in gleichem Maße von ausländischen Produzenten in Anspruch genommen werden. Darauf werden wir achten müssen. Während die Europäische Union in vielen Sektoren Angebote zur Liberalisierung gemacht hat, hat sie im Bildungsbereich kein Angebot zur Liberalisierung gemacht und auch keine Forderungen an die Länder gestellt. Nach den Worten des EU-Handelskommissars Lamy soll es bei der Bildung keine Veränderungen geben. Im Beschluss der EU-Kommission heißt es wörtlich: Die Kommission schlägt keine Verpflichtung im Bildungssektor vor. Demzufolge behalten alle Mitgliedstaaten vollständig das Recht, über die geeignete Organisation ihres Bildungssystems zu entscheiden. Somit stehen wir vor der Frage: Wie viel Markt verträgt die Bildung? Im Bildungsbereich ist die Verantwortung des Staates besonders groß. Deswegen sind einige klare Regeln einzuhalten. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungswesens in Deutschland darf nicht generell zur Disposition gestellt werden. Die öffentliche Aufsicht über das Bildungswesen hat sich in Deutschland bewährt und muss aufrecht erhalten werden. Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehr wohl willkommen, wenn sie die vom Staat oder von Akkreditierungseinrichtungen gestellten hohen Qualitätsstandards erfüllen. Außerdem dürfen aus dem GATSAbkommen keinesfalls Subventionsansprüche ausländischer privater Bildungsanbieter abgeleitet werden. Der so genannte Subventionsvorbehalt des Staates darf nicht fallen. ({0}) Wir sagen deshalb Ja zur Liberalisierung, wenn sie gleichzeitig und in gleicher Intensität in anderen Ländern eingeführt wird und wenn diese Länder in der gleichen Form, wie wir das tun, ihren eigenen Bildungsmarkt öffnen. Dabei gibt es eigentlich keinen Grund für großen Pessimismus. Unlängst hat eine Delegation des Bildungsund Forschungsausschusses des Bundestages mit Verantwortlichen für die GATS-Verhandlungen im amerikanischen Department of Commerce gesprochen. Zunächst lässt sich positiv aus den Gesprächen vermerken, dass die USA beschlossen haben, sehr bald der UNESCO wieder beizutreten. ({1}) Dies sehe ich als klares Zeichen der Amerikaner, sich wieder verstärkt der internationalen Zusammenarbeit im Bildungsbereich zu stellen. Interessant ist auch, dass die USA keine vollständige Liberalisierung wollen, sondern sehr wohl eigene nationale Anliegen formulieren. So sollen auch künftig USStudenten geringere Studiengebühren zahlen müssen als ausländische Studierende. Außerdem sollen auch in Zukunft ausländische Universitäten, die ein Bildungsangebot in den USA offerieren, nicht die gleichen Subventionen und Steuermittel zur Unterstützung bekommen wie die US-amerikanischen Universitäten. Auch nach einer Liberalisierung sollen die US-Universitäten künftig ihre Lehrpläne, Standards und Zulassungen selber regeln können. Was sagen uns diese amerikanischen Vorstellungen? Es zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass die Auffassungen der USA auf der einen Seite und Deutschlands und Europas auf der anderen Seite eigentlich nicht so weit auseinander liegen. Es wird auch künftig möglich sein, dass deutsche Universitäten bzw. die staatlichen Einrichtungen in den Bundesländern Qualitätsstandards setzen und Hochschulabschlüsse anerkennen. Auch werden die deutschen Bundesländer in Zukunft die eigenen staatlichen Hochschulen mit Steuergeldern besonders finanzieren und unterstützen können. Umgekehrt werden ausländische Bildungsanbieter nicht automatisch die gleiche Form der finanziellen Unterstützung bzw. Subvention durch den Staat beanspruchen können. Es ist also das gemeinsame Anliegen der USA und Deutschlands, dass eine staatliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen im eigenen Land keine Subventionsansprüche etwaiger ausländischer privater Bildungsanbieter auslöst. Insgesamt zeigt sich somit, dass es sehr wohl eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den USA und Deutschland bzw. der EU gibt. Ich denke, dies sollte eine gute Grundlage dafür sein, dass die GATS-Verhandlungen auch im Bildungsbereich sachgerecht und konsequent zu einem für alle Beteiligten fruchtbaren Ergebnis geführt werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels durch eine umfassende entwicklungsorientierte Welthandelsrunde, Drucksache 15/1317. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkte 11 b bis 11 d: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1008, 15/1095 und 15/1010 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu Zusatzpunkt 4: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1323 mit dem Titel „WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexiko“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. Zum Zusatzpunkt 5 wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1333 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ - Drucksache 15/1308 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün hatte in der Koalitionsvereinbarung als Ziel formuliert, eine Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen. Wir haben uns nun sehr bemüht, dies noch vor der Sommerpause zu erreichen. Dass dies gelungen ist, darüber darf man sich freuen. Auch freue ich mich, Herr Nooke, dass sich alle vier Fraktionen auf eine gemeinsame Aufgabenbeschreibung einigen konnten. Das ist nicht nur wegen der Atmosphäre, sondern auch im Hinblick auf die spätere Arbeit wichtig. Herr Nooke, Herr Otto, ich bedanke mich bei Ihnen auch dafür, dass wir dies so kollegial geregelt haben. ({0}) Dies ist ein gutes Zeichen für die Arbeit in den nächsten beiden Jahren. - Herr Nooke, so viel zur Frage, wo denn das Positive bleibe. ({1}) Meine Damen und Herren, wir haben uns in doppelter Hinsicht begrenzt: Erstens haben wir die Dauer der Enquete-Kommission auf zwei Jahre festgelegt. Dies halte ich insofern für sinnvoll, als am Ende dieser zwei Jahre die Chance besteht, noch in dieser Legislaturperiode das eine oder andere Ergebnis aus der Enquete-Kommission in die parlamentarische Arbeit hineinzubekommen. Daher ist es gut, dass wir nicht in einer Endlosschleife landen; das soll es ja auch schon gegeben haben. Zweitens haben wir uns bei der Festlegung der Themen begrenzt, die wir behandeln wollen. Mir tut es zwar ein bisschen Leid um meine lieben Kolleginnen und Kollegen - ich sehe gerade Frau Griefahn -: Auswärtige Kulturpolitik und der Medienbereich einschließlich der neuen Medien sind nicht dabei. Aber es war angesichts der Begrenzung auf zwei Jahre notwendig, Mut zur Lücke zu haben; anderenfalls hätte die Gefahr bestanden, in die Oberflächlichkeit abzudriften. Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission soll nicht nur eine Bestandsaufnahme der Situation der Kultur in Deutschland vornehmen, sondern auch Handlungsempfehlungen erarbeiten. Wir alle wissen, dass es mit unserer Kulturlandschaft nicht gerade zum Besten bestellt ist. Nun neige ich nicht dazu, die Arbeit einer EnqueteKommission überzubewerten und zu glauben, nach Abschluss ihrer Arbeit sehe die Welt anders aus. Wir sollten sie aber auch nicht unterbewerten. Wenn wir dies geglaubt hätten, hätten wir uns allerdings auch nicht so stark dafür engagiert. Eckhardt Barthel ({2}) Was Aufgaben, Sinn und Kompetenz der EnqueteKommission angeht, zitiere ich eine Stimme von außen, nämlich aus der „Welt“ von gestern, sofern es mir der Präsident erlaubt. ({3}) - Dieser Präsident tut das.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Präsident weist gern darauf hin, dass der Modernitätsgrad dieses Parlaments schon so weit gediehen ist, dass jederzeit Zitate ohne Genehmigung des Präsidenten vorgetragen werden dürfen, ({0}) es sei denn, Herr Kollege, sie seien unflätig. Dann müsste eingegriffen werden.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da dieses Zitat aus der „Welt“ stammt, vermute ich, dass das nicht zu erwarten ist. Ich finde diesen Artikel ganz spannend; denn es wird die Frage gestellt: Wozu dieser ganze Aufwand im nationalen Parlament, das doch nach streng föderalistischer Lesart für Kultur gar nicht zuständig ist? Die Antwort darauf ist sehr faszinierend; ich möchte sie Ihnen mitgeben: Es geht darum, dass der Bundestag als demokratischer Souverän den politischen Willen der Kulturnation Deutschland zum Ausdruck bringt. Dazu muss diese Kulturnation sich über sich selbst aufklären. Sie muss eine Vorstellung von ihrem Reichtum gewinnen und sich des Prozesses der schleichenden Verödung der Kulturlandschaft bewusst werden. Wenn in finanziell strangulierten Kommunen die Stadttheater, die Bibliotheken, die Musikschulen sterben, dann geht das die ganze Nation an. ({0}) - Sie hat einen Rahmen. Wir sollten uns nicht überschätzen. Ich glaube aber, es ist wichtig, nicht nur darauf hinzuweisen, wie wir die Enquete-Kommission sehen, sondern auch darauf, wie sie von außen gesehen wird. Zu diesen Aufgaben gehört natürlich - ich will nur einige nennen -: die Frage der Strukturreformen, die überall notwendig sind, die Frage, wie wir das bürgerschaftliche Engagement, das ja vorhanden ist und das durch unser Stiftungsrecht - wenn ich das hier einmal sagen darf - erhöht wurde, stärker in den Kulturbereich lenken, die Frage der kulturellen Bildung und nicht zuletzt die Aufgabe, die wirtschaftliche und soziale Situation der Menschen in unserem Lande, die Kunst machen, aufzuarbeiten. Das öffentliche Interesse an der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ist schon im Vorfeld riesengroß. ({1}) - Da schauen wir nicht; das erleben wir permanent. Wenn Sie einmal die Presse im Kulturteil verfolgen - die FDP verfolgt anscheinend nur den Wirtschaftsteil -, ({2}) dann werden Sie feststellen, wie häufig darüber geschrieben wird, manchmal auch mit Häme - das gebe ich gerne zu - unter der Überschrift „Noch eine Kommission“, wobei die dann mit der Rürup-Kommission usw. gleichgesetzt wird; ({3}) aber das ist ein anderes Thema. Die Enquete-Kommission stößt also auf ein sehr großes Interesse, vor allen Dingen - das ist für uns besonders wichtig - auf das große Interesse von Kulturinstituten sowie von Künstlerinnen und Künstlern an der Arbeit, die wir leisten wollen. Man merkt es erstaunlicherweise - ich weiß, wovon ich rede - an den vielen Angeboten von Einzelpersonen aus der Kulturszene und auch von Kulturinstituten, mitzuarbeiten. ({4}) - Herr Otto, ich finde es ganz toll, dass diese Bereitschaft vorhanden ist. Über etwas anderes bin ich ein bisschen traurig: Da wir nur eine begrenzte Zahl von Sachverständigen haben werden, werden viele, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, enttäuscht sein. Das tut mir schon jetzt Leid. Wir werden heute gemeinsam den vorliegenden Antrag beschließen. Ich bin sicher: Angesichts der gemeinsamen Vorbereitungen und der kooperativen Zusammenarbeit im Vorfeld wird auch die Arbeit in dieser EnqueteKommission sicher sehr erfolgreich werden - und dies nicht, weil es uns Spaß macht, sondern weil hoffentlich ein gutes Ergebnis herauskommt, was für unsere Kulturlandschaft in Deutschland nur positiv sein kann. Ich bedanke mich. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland hat eine einzigartige Kulturlandschaft. Unser Land bietet eine beispiellose kulturelle Vielfalt, die über viele Generationen gestaltet worden ist. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat dies treffend beschrieben. Er hat gesagt: Unsere Kultur ist gewachsen wie ein kräftiger und viel gestalteter Mischwald. Er leistet seinen Beitrag zur lebensnotwendigen Frischluft. Die Menschen in unserem Land - also wir - brauchen Kultur. Stellen Sie sich ein Leben ohne Theater - sei es Staatsbühne oder Volkstheater -, ohne Musik - sei es Philharmonie oder Kirchenchor -, ohne Tanz - sei es Ballett oder Volkstanzgruppe -, ohne Literatur - sei es Roman oder Kinderbuch -, ohne bildende Kunst - sei es im Museum oder zu Hause - vor. Wir brauchen Kultur wie die Luft zum Atmen. Doch diese Luft wird zunehmend dünner. Grund hierfür ist die Not der öffentlichen Haushalte. Versiegende Finanzen führen zur Schließung von Theatern, Museen oder Musikschulen. Die meisten dieser Einrichtungen verschwinden unwiederbringlich. Was jetzt verloren geht, wird wohl verloren bleiben, selbst wenn sich die Haushaltslagen entspannen. Meine Damen und Herren, wenn diese Entwicklung nicht beendet wird, werden wir über kurz oder lang vor den Ruinen dessen stehen, was einmal eine einzigartige Kulturlandschaft war. ({0}) Dieser drohenden Gefahr sind sich alle Fraktionen in diesem Hause bewusst. Mit dem vorliegenden interfraktionellen Antrag wollen wir deshalb eine Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einsetzen. Sie hat die Aufgabe, eine umfassende Beschreibung des Kulturlebens in Deutschland zu liefern und folgende Fragen zu beantworten: Was macht heute Kultur in Deutschland aus? Was müssen wir schützen, was weiterentwickeln? Es geht aber nicht nur um eine Bestandsaufnahme. Ziel der Enquete-Kommission wird auch sein, dem Parlament auf dieser Basis konkrete, umsetzbare Vorschläge für eine Bestandssicherung und für eine Stärkung von Kunst und Kultur in Deutschland zu unterbreiten. ({1}) Um eine Grundlage für gesetzgeberische und ordnungspolitische Initiativen zu schaffen, bedarf es Fakten. Da fehlen uns zum Teil aktuelle Daten, zum Beispiel für den Bereich der Kulturförderung. Wie ist die Lage der öffentlichen und der freien Kultureinrichtungen? Welche Strukturen haben eine Perspektive, welche sind veraltet? Wir wissen, dass die meisten kulturellen Einrichtungen in Deutschland öffentlich finanziert werden. Aber Kultur ist eine freiwillige Aufgabe, keine Pflichtaufgabe. Gerade in Zeiten von Verteilungskämpfen wie heute ist dies häufig der einzige Bereich, an den Hand angelegt werden kann. Hieraus folgt die Kernfrage: Gibt es einen Anspruch auf eine kulturelle Grundversorgung? Was gehört zum notwendigen kulturellen Fundament einer Nation? Wie viel Kultur gehört zur Bildung? Wie viel Bildung setzt Kultur voraus? Meine Damen und Herren, wenn über eine Verpflichtung des Staates - auf welcher Ebene auch immer nachgedacht wird, wird auf der anderen Seite über eine stärkere Beteiligung des Nutzers zu diskutieren sein. Wie viel Kultur muss aus öffentlichen Mitteln finanziert werden? Es steht sicherlich außer Frage, dass der Staat sich nicht gänzlich aus der Kulturförderung zurückziehen darf. Aber ohne private Kulturförderung wird es dauerhaft nicht gehen, und zwar unabhängig von der Kassenlage. ({2}) Denn im privaten Engagement liegt auch immer eine Ressource, die finanziell nicht messbar ist. Wie können wir in diesem Bereich bürgerschaftliches Engagement stärken, wie können wir es attraktiver machen? Auch bei uns gibt es Mäzenatentum. Denken Sie nur an Männer in unserer Tradition wie Solomon Guggenheim oder Heinz Berggruen! Privatleute wie zum Beispiel Henri Nannen errichten Stiftungen. Schenkungen sind keine Seltenheit. Sie sind aber nicht wie in angloamerikanischen Ländern die Regel. Kann dies durch flankierende Maßnahmen attraktiver gemacht werden? Bedarf es anderer Regelungen im Bereich des Steuerrechts und des Stiftungsrechts? Welche weiteren Möglichkeiten, wie zum Beispiel Sponsoring, gibt es? Kultur ist selbst ein wichtiger ökonomischer Faktor. Mit Kultur lässt sich Geld verdienen. Kultur bietet Arbeitsplätze. Kultur wertet jeden Standort auf. Heute will kaum jemand an einem Ort leben oder arbeiten, in dem es kein kulturelles Angebot gibt. Kein Tourist besucht gerne einen solchen Ort. Welche ökonomischen Chancen bietet also Kultur? Welche Möglichkeiten gibt es für die in diesem Bereich Tätigen? Kultur ist immer nur das, was Menschen schaffen. Die wirtschaftliche und soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler wird ein weiteres wichtiges Thema sein. Ist ihre Situation befriedigend? Wie kann sie gegebenenfalls verbessert werden, zum Beispiel im Bereich der Künstlersozialversicherung? Wie steht es mit dem Urheberrecht, dem Folgerecht im Kunsthandel? In der derzeitigen Diskussion wird unter anderem die Frage gestellt, ob wir das öffentliche Dienstrecht im Kulturbereich brauchen. Fragen über Fragen. Wir brauchen diese EnqueteKommission, um festzustellen, welche Fragen berechtigt sind und wie sie beantwortet werden können. Die zukünftige Kommission trägt deshalb eine große Verantwortung; ihre Arbeit bietet aber auch eine große Chance. Bitte erinnern Sie sich an die Worte von Richard von Weizsäcker. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ gibt uns die Chance, nicht nur den Kahlschlag in dem von ihm beschriebenen Wald zu verhindern, sondern den Wald auch wieder aufzuforsten. Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam nutzen! ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Ursula Sowa, Bündnis 90/Die Grünen.

Ursula Sowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ sorgt bereits für Schlagzeilen. ({0}) Die „Welt“ wurde schon zitiert; ich zitiere sehr gern die „Süddeutsche Zeitung“, weil ich von dort komme. Dort wird heute in einem ausgezeichneten Artikel über dieses noch ungeborene Leben berichtet. Ulrich Raulff unkt: Zu fürchten ist, dass die Enquete nur das jüngste Bild vom Staat als Spielführer in der Kultur befestigen wird. … die neue Enquete nur das Relief der bedrohten Kulturlandschaft ausleuchten soll. Am Ende kriegt dann noch einmal der Staat so richtig sein Fett ab, wenn er schreibt: Wer für den Erhalt von kulturellen Einrichtungen plädiert, sagt: Staat. Und wer für ihre Schließung ist, sagt wieder: Staat. Es ist die alte deutsche Lieblingsvokabel. Leider steht in dem Beitrag nicht, was denn seine Lieblingsvokabel ist. Danach muss man wohl noch woanders suchen. Die Medien lieben es, immer wieder Schreckensnachrichten im Kulturbereich zu verbreiten. In letzter Zeit ist es Usus, über die drohende Schließung von Häusern zu berichten, angefangen von Stadtteilbibliotheken bis hin zur Oper. In manchen Städten sind sogar drei Opern gleichzeitig bedroht. ({1}) - Das stimmt. Ich möchte zwei Beispiele, stellvertretend für sehr viele Bedrohungen in unserer Kulturlandschaft, herausgreifen. Über das eine Beispiel war erst Mitte Juni in der „Thüringer Allgemeinen Zeitung“ zu lesen: „Noch ist Polen nicht verloren“. So heißt auch das Stück, mit dem das Ensemble in Erfurt heute seine letzte Vorstellung gibt. Ab morgen ist Erfurt die einzige deutsche Landeshauptstadt ohne Schauspiel. Das Stück erzählt, wie sich ein Theater in schwerer Zeit behauptet. Die Thüringer Kulturpolitik gleicht eher dem Hamlet: Zaudern und warten, bis jemand die Leichen zählt. Ein Blick nach München zeigt, dass auch in einer der reichsten Städte heftige Debatten darüber geführt werden, ob das zur Sanierung anstehende traditionsreiche Deutsche Theater erhalten werden kann; denn die geschätzten Kosten für das zumindest hinter den Kulissen marode Bauwerk belaufen sich auf stattliche 140 Millionen Euro. Bei der Stadt selbst war bis vor kurzem die Schließung fast beschlossene Sache. Im Fall Erfurt zeigt sich, welche Auswirkungen die Neustrukturierung der Theaterlandschaft in einem ganzen Bundesland haben kann. Erfurt bekommt nämlich im Herbst statt des Theaters eine Oper. In München hat sich Professor Wickenhäuser mit einer Studentengruppe an das Projekt „Bedeutung und Zukunft des Deutschen Theaters für München und Bayern“ gewagt. Man will nicht nur Daten und Fakten erarbeiten, sondern zugleich Perspektiven zur Rettung des Deutschen Theaters aufzeigen. Dabei werde, so Wickenhäuser, nicht nur nach Sponsoren geschielt, sondern die Rettung müsse so gestaltet werden, dass die Münchner Bürger und Bürgerinnen, aber auch Firmen gerne an einer Rettungsaktion mitwirken. Diese beiden Beispiele sind so genannte Länderbeispiele; denn es sind so genannte Staatstheater betroffen, die natürlich für die jeweilige Stadt - sei es Erfurt, sei es München - von großer Bedeutung sind. Natürlich geht es hier um die Finanzierung. Seit dem Jahr 2002 hat sich die Situation bei der Kulturfinanzierung verschlechtert. Die öffentlichen Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden für Kultur hatten im letzten Jahr einen Umfang von 8,28 Milliarden Euro. Diese Zahl ist kaum bekannt, wie eine Umfrage zeigen würde. Von diesen 8,28 Milliarden Euro trägt der Bund etwa 10 Prozent, nämlich 834 Millionen Euro. Daneben bringt der Bund eine weitere überraschende Zahl - noch einmal etwa die Hälfte, nämlich 480 Millionen Euro, für die Pflege kultureller Beziehungen im Ausland auf. Wenn wir auf Bundesebene nun die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einrichten, sollten wir uns dieser Zahlen bewusst sein. In der Tat wird der Löwenanteil der Kulturpolitik - etwa 90 Prozent - von den Gemeinden und Ländern finanziert, aber die Bedrohung der Kulturlandschaft in Deutschland geht meiner Meinung nach uns alle an. Umso erfreulicher ist in diesem Zusammenhang, dass der Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission von allen Bundestagsfraktionen gemeinsam eingebracht wird. Der Bundestag macht damit deutlich, welchen Stellenwert Kulturpolitik in diesem Hause hat. ({2}) Ich bin davon überzeugt, dass die gemeinsame Suche nach Lösungen für die drängenden ökonomischen Probleme unserer Kulturlandschaft und ihrer Institutionen ein politischer Beitrag per se werden kann. Auch in der Politik ist es nie verkehrt, neue Wege des Umgangs miteinander zu probieren, sozusagen die politische Kultur zu pflegen. Lassen Sie uns also in eine gemeinsame Beratung eintreten! Lassen Sie uns gemeinsam nach Lösungen suchen! Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ soll ein Angebot an all diejenigen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene werden, die sich dafür einsetzen wollen, dass unsere bedrohte Kulturlandschaft weder vertrocknet noch mutiert, sondern weiterhin in ihrer Vielfalt blühen wird. Ich wünsche dieser EnqueteKommission möglichst viel Esprit, der dazu führen soll, Bürger und Bürgerinnen am besten von klein auf zu ermuntern, diese Kulturlandschaft aktiv mitzugestalten. Ich möchte im Sinne von Jean-François Lyotard schließen, der die Stärkung von Kunst und Kultur forderte, um das „sonst Unbegreifliche fühlbar“ zu machen und uns dazu zu bringen, „unser Bewusstsein zu erweitern“. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Daub, FDPFraktion.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute in einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen die Einsetzung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Obwohl das Wort „Kommission“ gewisse Abnutzungserscheinungen erfahren hat - siehe Hartz und Rürup -, obwohl wir gerne die Länder mit im Boot sähen, werden wir engagiert mitarbeiten, weil uns das Thema Kultur wichtig ist. Wir sind ein Land mit bedeutender Kultur. Ja, es stimmt: Unsere Theater- und Museenlandschaft ist weltweit einzigartig. Das gilt es, zu erhalten, für uns und für unsere Kinder. ({0}) Der Zeitpunkt der Einsetzung dieser Enquete-Kommission könnte passender nicht sein. Die Haushaltssituation von Bund, Ländern und Gemeinden ist bedrohlich für unsere kulturellen Aktivitäten. Die weit verbreitete Ignoranz der eigenen Kultur gegenüber führt in der Politik nur allzu leicht zu der Neigung, Kultur nach Kassenlage zu machen, also zu sparen. Am Ende bleibt von der Kultur nur noch der Kulturbeutel übrig. ({1}) Der Umgang des rot-roten Berliner Senats mit seinen Opern ist eines der traurigen und zugleich erschreckenden Beispiele dafür. Die FDP begrüßt, dass sich endlich eine Kommission mit den Auswirkungen der finanziellen Lage der Kommunen auf den Kulturbereich und mit dem Besucherinteresse an den jeweiligen Kultureinrichtungen befasst. Ich fordere Sie deswegen auf, das Verlangen der FDP nach einer gemeinsamen Bund-Länder-Enquete nicht mehr zu blockieren. Wie wichtig die Einbeziehung der Länder ist, zeigt das Scheitern der Verhandlungen zur Fusion der Kulturstiftung des Bundes mit der Kulturstiftung der Länder in der letzten Woche. Obwohl die Frau Staatsministerin dieses Scheitern miterlebt hat, widersetzt sie sich unserer Forderung. ({2}) - Sie hat es vertreten müssen. - Dabei ist es Aufgabe der Enquete-Kommission, die Rolle des Staates für eine kulturelle Grundversorgung zu definieren. Wir wollen ohne Denkverbote über eine moderne Finanzierung, über geeignete Rechtsformen und über zukunftssichernde Strukturen diskutieren. Es ist schön, dass die Koalitionsfraktionen nun endlich über ihren Schatten springen und sich FDP-Positionen zu Eigen machen. ({3}) - Nun hören Sie doch einfach bis zum Ende zu. - In dem Sinne fördern wir bürgerschaftliches Engagement. Sponsoring, die Arbeit von Stiftungen und das Engagement von Mäzenen brauchen Strukturen, über die wir vorbehaltlos diskutieren müssen. Es sind Menschen, die Kunst machen; sie entsteht nicht von allein. Deshalb gehört natürlich auch die Situation der Künstler in die Kommission. Eine klare Analyse darüber soll uns später in die Lage versetzen, rechtliche Rahmenbedingungen - ich betone: Rahmenbedingungen - zu erstellen, die der Arbeitswirklichkeit der Künstler entsprechen. ({4}) Um diese Arbeit zu unterstützen und zu fördern, haben wir zusammen mit der Union eine Große Anfrage eingebracht. Die Künstler brauchen auch Kunstverwerter wie beispielsweise Galeristen und Konzertmanager. Auch damit werden wir uns befassen. Wir reden viel von Bildung. Dazu gehört auch die musisch-kulturelle Bildung. ({5}) Eine langfristig angelegte Kulturpolitik muss die Folgen der Schließung von Musikschulen, die Folgen der Kürzung der Kulturetats oder die Folgen des Ausfalls von Musik- und Kunstunterricht an den Schulen kennen. Hier wird der Grundstein zum Verständnis unserer Kultur gelegt. ({6}) Hier werden Neigung und Interesse von Kindern geweckt. Die Schulen haben hier eine große Verantwortung. Deshalb müssen wir klären, wie die Schulen durch Kooperation mit anderen Kultureinrichtungen in dieser Arbeit unterstützt werden können. ({7}) Es ist eine kluge Entscheidung, den Zeitrahmen für die Kommissionsarbeit auf zwei Jahre festzulegen. Gerade im Hinblick auf die notwendige Strukturerneuerung und gleichzeitig sinkende Kulturetats dürfen wir keine Zeit verlieren. Zudem schlagen wir vor, dass die Enquete-Kommission in regelmäßigen Abständen die Öffentlichkeit über Teilergebnisse unterrichtet. Die Ergebnisse der Kommission sind eine Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen. Die eigentliche Kulturpolitik findet aber natürlich im Ausschuss für Kultur und Medien sowie bei den Menschen statt. Ich bitte Sie darum, dass wir in diesem Sinne in der Kommission effektiv miteinander arbeiten. Dann wird auch etwas Gutes daraus. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias Sehling, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matthias Sehling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003634, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Einsetzung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ wird von der CDU/CSU-Fraktion nicht aus Nächstenliebe gegenüber den Koalitionsfraktionen unterstützt, nur weil diese das in ihrem Koalitionsvertrag vorgesehen haben. ({0}) Vielmehr halten wir die damit beabsichtigte genauere Untersuchung der Situation und des Strukturwandels öffentlicher Kulturpolitik zur Sicherung der Kulturarbeit angesichts der aktuellen Finanzmisere in den öffentlichen Haushalten für dringend erforderlich. ({1}) Der frühere bayerische Staatsintendant August Everding hat es treffend formuliert: „Kultur ist keine Zutat, Kultur ist der Sauerstoff einer Nation.“ Kultur hat einen Wert an sich. Wenn sie einer Rechtfertigung bedarf, dann der, dass der Staat ohne sie verkümmert und der Einzelne erstickt. Deswegen muss jede Generation die Chance haben, mit Kultur aufzuwachsen. Kulturpolitik ist somit nicht nur die Aufgabe des Staates und der Kommunen, sondern gar ihre Pflicht. ({2}) Ungeachtet der konkreten Ausgestaltung der Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wird im Grundgesetz ungeschrieben von der Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik ausgegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus auch die Legitimität staatlicher Mittel für die Kultur abgeleitet. Der Staat hat sich jedoch auch Grenzen auferlegt. In der Kulturpolitik gilt das Subsidiaritätsprinzip. Das bedeutet nicht nur, dass die Länder und Kommunen und nicht der Bund Hauptträger der Kulturpolitik sind. Subsidiarität bedeutet vor allem, dass der Staat die kulturelle Entfaltung nur unterstützt, und zwar mit erheblichen Geldmitteln und fachlicher Kompetenz. Kaum eine größere kulturelle Einrichtung könnte heute ohne öffentliche Förderung überleben. ({3}) Der Trachtenverein, der seine kostspieligen Trachten zu erhalten hat, erwartet vom Staat ebenso Unterstützung wie der Mühlenbesitzer, der seine denkmalgeschützte Mühle unterhalten muss. ({4}) Bund, Länder und Gemeinden geben jährlich insgesamt - wir haben die Größenordnung vorhin schon gehört - über 8 Milliarden Euro für Kunst und Kultur aus. Von privater Seite werden dagegen bisher nur rund 255 Millionen Euro an Sponsorenmittel investiert. Dieses Dreißigstel der Privaten ist selbstverständlich noch viel zu wenig. ({5}) Städte und Gemeinde sind aufgrund der sinkenden Gewerbesteuereinnahmen hier zunehmend überfordert. Die öffentliche Kulturförderung muss deshalb stärker als bisher - wer wüsste es nicht - durch privates Sponsoring ergänzt werden. Wir brauchen die Privaten, die Wirtschaft, die Mäzene und die Stiftungen, und zwar nicht nur, um dem Staat und den Kommunen Geld zu sparen, sondern vielmehr auch, um möglichst zahlreiche zusätzliche Projekte zu verwirklichen. Es wurde vorhin schon angesprochen: Selbst das kürzlich reformierte Stiftungswesen muss offenbar noch attraktiver gestaltet und ausgebaut werden. ({6}) Angesichts der Vererbungswelle in den nächsten Jahren darf der Staat nichts unversucht lassen, Anreize für Stiftungen und Sponsoring zu schaffen, und zwar nicht nur für den Sport. ({7}) Ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Kulturförderung, der im Einsetzungsantrag nicht erwähnt wird, ist die Bewahrung und die Pflege des Kulturgutes der deutschen Vertreibungsgebiete. Die Geisteswerke Immanuel Kants aus Ostpreußen und Gerhart Hauptmanns aus Schlesien gehören ebenso zur deutschen Kultur wie die Leistungen des aus Eger stammenden Balthasar Neumann oder des Böhmerwald-Dichters Adalbert Stifter. Dieser Auftrag zur Bewahrung ist im Übrigen eine der wenigen Aufgaben im kulturellen Bereich, die dem Bund ausdrücklich übertragen worden sind. Sie wurde sogar eigens im deutschen Einigungsvertrag festgezurrt. ({8}) Durch die Verankerung in § 96 Bundesvertriebenengesetz verfügen Bund und Länder hier über einen zeitlosen Gestaltungsauftrag. In der gesamten deutschen Bevölkerung und übrigens auch im Ausland soll das Bewusstsein um das Kulturgut der Vertreibungsgebiete wach gehalten werden. Dieser Auftrag und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten werden, um es vorsichtig zu sagen, bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Im Einsetzungsantrag der Enquete-Kommission wird das Ziel genannt, zu zeigen, was Kultur in Deutschland heute ausmacht. Gleichzeitig wird zu Recht betont, dass die Pflege von Kunst und Kultur vorrangig Aufgabe der Länder und Kommunen ist. Deswegen schlage ich, ähnlich wie bei der PISA-Studie, ein gezieltes Benchmarking vor. So könnte unsere Bestandsaufnahme der Kulturförderung und Kulturarbeit in Deutschland eine Benchmarking-Bilanz der Kulturpolitiken der Länder und des Bundes ergeben - sozusagen eine PISA-Studie der Kulturförderung. In zwei Jahren werden wir dann eine Datengrundlage haben, um zu erkennen, wo wir im Kulturstaat Deutschland heute stehen, wo es Defizite gibt und wie wir den Kulturstaat Deutschland trotz knapper Mittel nachhaltig sichern und ausbauen sollten. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion.

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sehling, ich darf Sie direkt ansprechen: Sie haben beachtliche Gedanken vorgetragen und besonders herausgearbeitet, dass in die Überlegungen unseres kulturellen Erbes sicherlich auch das einzubeziehen ist, was in den Vertreibungsgebieten erschaffen wurde und was uns auch kulturell bindet. Da Sie das hervorgehoben haben, will ich auf Folgendes aufmerksam machen: Wir haben ungeheuer viel Kulturgut dadurch verloren, dass Emigrantinnen und Emigranten in der Zeit von 1933 bis 1945 das Land verlassen haben. ({0}) Dieser Aderlass lastet schwer auf uns. Auch das gehört dazu und ergänzt sich. Das ist kein Widerspruch. Die Aufgaben der Enquete-Kommission sind von meinen Kollegen Vorrednerinnen und Vorrednern beschrieben worden. Bevor ich auf einzelne Aspekte eingehe, erlauben Sie mir eine Anmerkung. Wir erleben zurzeit eine sehr grundsätzliche und verfassungspolitische Debatte - das haben wir in dieser Woche im Ausschuss für Kultur und Medien erlebt; die Frage der Fusion der Kulturstiftung ist dafür ein lebendiges Beispiel - über die Aufgaben des Staates, die Zuordnung der Verantwortlichkeiten auf Bund oder Länder sowie die Finanzierung der Aufgaben. Bei allen kooperativen Ausprägungen, die sich in der Staatspraxis herauskristallisiert haben, ist klar - das ist unstreitig -, dass die Kulturhoheit prinzipiell bei den Ländern liegt. In den Debatten des Deutschen Bundestages aber wird die Kulturarbeit in den Städten und Kommunen selten bedacht. Dabei ist dies die Ebene, die im Wesentlichen kulturelle Aktivitäten entwickelt und verantwortet. ({1}) Die Kommunen selbst und die Menschen dort sind die Hauptakteure; denn die Kommunen klären vor Ort eigenverantwortlich und in aller Regel ohne Rechtspflicht, welche Angebote vorgehalten werden. Hier beobachten wir seit Jahren, dass die kommunale Finanznot auf der Kulturarbeit vor Ort lastet. Vieles ist infrage gestellt. Manche Angebote wurden bereits aufgegeben. Wenn sich diese Enquete-Kommission in einem besonderen Schwerpunkt den Bedingungen der Kulturarbeit vor Ort zuwendet, geschieht dies ausdrücklich nicht in der Absicht, die kommunale Eigenverantwortlichkeit zu unterlaufen. Vielmehr geht es nach meiner Überzeugung darum, die grundsätzlichen Entwicklungen aufzuspüren, dabei ihre Risiken und Chancen auszuloten und sich zentralinhaltlich selbst zu vergewissern, was wir zukünftig auf Dauer brauchen. ({2}) Einige Themenfelder sind von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern angesprochen worden. Ich möchte einige Akzente unter einem speziellen Blickwinkel herausarbeiten. Der erste Punkt ist der Strukturwandel. Bei aller Kritik an Krise und Finanznot liegt in Krisen - ich weiß, das ist ein flacher Spruch - auch eine Chance. Konkret ist zu beobachten, dass der Druck in den Kommunen und unter den Kultur Schaffenden deutlich diskursive Prozesse über kommunale Kulturentwicklung in Gang gesetzt hat. Deutlich zu beobachten ist, dass sich der Dialog zwischen den Kulturverantwortlichen einzelner Institutionen und ihre Kooperationsfähigkeit deutlich verbessert haben. Die Kulturverwaltungsreform zeitigte beachtliche Erfolge. Bedeutende Organisationsmodelle sind entwickelt worden, die Effizienzgewinne erzielten. Das zweite Stichwort lautet Selbstorganisation und ehrenamtliches Engagement. Deutlich ist: Nicht nur die kommunalen Institutionen prägen das Klima in den Städten. Jeder hat aus seinem Umfeld Beispiele deutlich vor Augen. Bildende Künstlerinnen und Künstler etablieren sich autonom in Ateliergemeinschaften und öffnen ihre Arbeitsstätten. Bürgerinitiativen koordinieren kulturelle Aktivitäten in ihren Stadtteilen, profilieren sie, lassen aufhorchen und heben bewusst die kulturellen Schätze ihrer Quartiere. Breites bürgerschaftliches Engagement ist gerade in Zeiten der Krise insofern zu beobachten, als sich eine Fülle von Fördervereinen und Initiativen um Institutionen herum bilden. Das sind lebhafte Beispiele konkreten ehrenamtlichen Engagements. Wenn sich eine Bürgerstiftung bildet, um eine aufgegebene städtische Galerie zu retten, zeigt dies, dass auch moderne Formen, die wir zum Teil gesetzgeberisch eröffnet haben, greifen und vor Ort einen kulturellen Mehrwert organisieren. ({3}) Es sind die Stichworte kulturelle Grundversorgung und kulturelle Grundbildung genannt worden. Aus einer ganz anderen Ecke, nämlich dem Ausbau der Ganztagsbetreuung, wird eine engere Kooperation zwischen schulischen Aktivitäten und den kulturellen Aktivitäten vor Ort nahezu provoziert. Bei der Kooperation zwischen Grundschulen und Institutionen wie Musikschulen, Kinder- und Jugendtheatern und Bibliotheken gibt es erfreuliche Beispiele von Pilotprojekten. Zugleich stellt sich in diesem Kontext aber auch die Frage, wie sich das Verhältnis von Zentralität und Dezentralität von Grundbildungsangeboten gestaltet. Es ist ein Aberwitz, Stadtteilbibliotheken zu schließen, wenn stadtteilnahe Grundschulen mit Bibliotheken zur Leseförderung kooperieren sollen. Da stellen sich Fragen. ({4}) Das ist aber letztendlich eine kommentierende Anmerkung. Ich weiß, es geht hier um kommunale Selbstverwaltungsrechte, die ich angesichts unserer Kompetenz abschließend nicht bewerten will. Aber es geht um inhaltliche Entwicklungen, die aufzuzeigen sind. Da sollten wir nicht wegtauchen. Ich möchte schließlich das Augenmerk noch auf eine weitere Aufgabe der Enquete-Kommission richten: die Kulturwirtschaft. Wir reden immer von dem „weichen“ Standortfaktor. ({5}) Wer das ausschließlich darauf verkürzt, der hat die Realität nicht richtig wahrgenommen. ({6}) Kultur ist ein ausgesprochen harter Standortfaktor und hat ökonomisch enorme Entwicklungspotenziale. Wer daran Zweifel hat, der möge sich die Kulturwirtschaftsberichte in Nordrhein-Westfalen, die schon in vierter Edition herausgegeben werden, anschauen. Es gibt dort sehr konkrete Beispiele, die die Umwegrentabilität deutlich belegen. Da sollten wir alle nachdenklich werden. Auch unter ökonomischen Aspekten ist die Kulturwirtschaft ein wichtiger Faktor. Damit wird existenziell auch die Beschäftigungssituation der dort Schaffenden angesprochen. Auch das ist ein Aspekt unserer EnqueteKommission. Insofern ist ihre Arbeit sehr breit angelegt. Wenn wir Kultur als Treibsatz, als Ferment vielfältiger Facetten des gesellschaftlichen Zusammenlebens begreifen, dann wird deutlich, dass diese Enquete-Kommission eine sehr wichtige Aufgabe hat. Ich freue mich, dass es in diesem Parlament möglich ist, die EnqueteKommission gemeinsam auf den Weg zu bringen. Ich erhoffe mir eine gute Zusammenarbeit, gute Ergebnisse und eine Plattform, die weiteres und konkretes, vielleicht sogar gesetzgeberisches Handeln in diesem Haus eröffnet. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde von den Vorrednern schon darauf hingewiesen, auch von den Vorrednern meiner Fraktion, nämlich der designierten Vorsitzenden und dem Kollegen von der CSU, dass wir einen gemeinsamen Einsetzungsbeschluss dazu benutzen wollen, gemeinsame und für die Kulturförderung in Deutschland ergebnisreiche Arbeit zu leisten. Die Anfangsbedingungen in dieser Debatte sind gut. Unser Ziel ist es, das Thema Kultur nicht nur zu untersuchen und darzustellen, sondern auch konkrete Maßnahmen zu entwickeln und zu empfehlen, um Kulturförderung in Deutschland zu stärken. Ich will in diesem Zusammenhang an die Diskussion erinnern, dass wir uns den Titel „Kulturförderung in Deutschland“ als noch treffender für den Kernbereich unserer Aufgaben hätten vorstellen können. ({0}) Was wir mit der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ vielleicht nicht vollständig schaffen werden, ist - das kam in dieser Debatte auch schon zur Sprache - die Selbstfindung der Kulturnation Deutschland. Ich glaube, daran müssten sich noch einige andere beteiligen. Wenn sich im Zusammenhang mit der EnqueteKommission einige in diesem Hause wie auch außerhalb dieses Hauses und außerhalb der Politik darüber Gedanken machen würden, worum es dabei eigentlich geht, dann hätte die Kommission sicherlich schon eine wesentliche Debatte angestoßen. Aus der Feststellung, dass das Untersuchen nicht das einzige Anliegen der Kommission ist, sondern dass wir auch umsetzbare Handlungsempfehlungen entwickeln wollen, die auf verlässlichen Bestandsaufnahmen basieren, ergibt sich auch die Notwendigkeit, dass wir die entsprechenden Daten möglichst bald bekommen. Wir haben - zugegebenermaßen etwas streberhaft - schon darauf hingearbeitet. Frau Daub hat bereits darauf hingewiesen. In dieser Woche haben wir gemeinsam mit der FDP eine Große Anfrage eingebracht, die sich mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstleriGünter Nooke schen Berufe und des Kulturbetriebs in Deutschland beschäftigt. ({1}) Damit wird die geplante Bestandsaufnahme der Enquete-Kommission zur sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler präzisiert und ergänzt. Darüber hinaus wird der Kunstmarkt mit einbezogen. Die Künstlerinnen und Künstler stehen als Akteure schließlich nicht allein. Uns ist es wichtig, den Zusammenhang mit den Vermittlern und den Verwertern von kultureller Produktion darzustellen und näher zu untersuchen. Auch wir wissen, dass nicht alle Künstlerinnen und Künstler reiche Leute sind. Aber das gilt ebenso für andere Berufsgruppen. Wir wollen für einen größeren Blickwinkel sorgen und die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage derer näher betrachten, die „nur“ Kultur vermitteln. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage kann uns gerade am Beginn der intensiven Beratungen der Kommission eine große Unterstützung sein. Damit würde ein wichtiger Beitrag zum Erfolg der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ geleistet. Wir haben uns im Vorfeld auf den Text des Einsetzungsbeschlusses und damit auch auf die Aufgaben geeinigt. Sprachlich weist er noch nicht ganz die Qualität auf, die wir uns für die Arbeit der Kommission und den Abschlussbericht wünschen, aber es sind durchaus Verbesserungen möglich. ({2}) Wir haben mit diesem Beschluss die Dauer der Kommission notwendigerweise auf zwei Jahre beschränkt. ({3}) Ich halte das für einen weisen Beschluss. Herr Barthel hat bereits darauf hingewiesen, welche Aufgaben der Beschluss nicht umfasst. Ich meine aber, wir müssen zum Beispiel - Herr Sehling und auch Sie haben das bereits angesprochen - auch die Kultur berücksichtigen, die aus Gebieten, die nicht mehr zu Deutschland gehören, hierher zurückgekommen ist oder die in Berlin durch die Vernichtung der Juden verloren gegangen ist. Trotzdem müssen wir im Zusammenhang mit der Enquete-Kommission noch einen wichtigen Gesichtspunkt beachten. Wir wären gut beraten, wenn wir uns bei den Themen, die wir in der Kommission behandeln, mit der Materie beschäftigen, für die der Bundestag eine originäre Zuständigkeit hat. Das bewahrt uns nämlich davor, falsche und auch nicht zu erfüllende Erwartungen an die Enquete-Kommission zu wecken. ({4}) Wir hätten es aufgrund der Kompetenzverteilung vorgezogen, die originären Zuständigkeiten des Bundes noch stärker in den Vordergrund des Einsetzungsbeschlusses zu stellen, allein deshalb, um von Anfang an den Eindruck zu vermeiden, wir führten anderes im Schilde als die Förderung der Kultur im verfassungsmäßigen Rahmen. Wir sollten uns bei der zukünftigen Arbeit der Kommission auch darauf verständigen, dass die Aufgaben der Länder und Gemeinden nicht zum Hauptgegenstand der Beratungen werden. Trotzdem werden wir uns damit befassen müssen, um zum Beispiel die von meinen Vorrednern angesprochene Analyse zu erstellen. Wenn wir über die Situation der Theater in Deutschland sprechen, werden wir uns mit den tariflichen Rahmenbedingungen beschäftigen müssen. Wenn wir über Gastspiele von Künstlern in Deutschland sprechen, werden wir über das Steuerrecht sprechen müssen. Wenn wir darüber reden, wie Privatleute besser eingebunden werden können, müssen wir über das Gemeinnützigkeitsrecht diskutieren. ({5}) Ich bin ebenso wie Herr Ehrmann der Meinung, dass es um die harten Fakten der Kulturwirtschaft geht, über die wir zu sprechen haben. Wenn wir uns um die musisch-kulturelle Bildung kümmern - auch das ist im Einsetzungsbeschluss aufgeführt -, geht es um die Frage, wie wir in Deutschland ein Klima erzeugen können, in dem es zur Selbstverständlichkeit wird, dass Eltern ihren Kindern den Besuch von Musik- und Kunstschulen ermöglichen und dass umgekehrt die Städte und Gemeinden attraktive Angebote machen können. Bei dieser Enquete-Kommission geht es auch darum, gute Stimmung für die Kultur in Deutschland zu machen. Ein günstiges Klima für die Kultur im Land hätte zum Beispiel nicht zugelassen - wenn ich das als Berliner einmal sagen darf -, dass ein Finanzsenator dadurch Stimmung macht, dass er vorgibt, mit der Schließung einer Oper könne er den Etat der größten Stadt Deutschlands sanieren. ({6}) Wir sollten jedenfalls den Blick für die Größenverhältnisse behalten. Kulturförderung in Deutschland bedeutet auch - darauf ist schon hingewiesen worden -, dass Bund, Länder und Gemeinden in umgekehrter Reihenfolge Beiträge leisten, gerade wenn es um das finanzielle Engagement geht. Wenn es allerdings um die Rahmenbedingungen geht, ist die Förderung der Kultur in Deutschland schon wesentlich von dem abhängig, was wir als Bundesgesetzgeber tun. Dafür sind wir auch unzweifelhaft zuständig. Hier sehe ich den Schwerpunkt unserer zukünftigen Arbeit. Wir verbinden mit dem Einsetzungsbeschluss also durchaus ehrgeizige Pläne. Einig sollten wir uns alle darin sein, dass am Ende der Bemühungen mehr für die Kulturförderung in Deutschland herauskommen muss. Wenn am Schluss sogar der Satz stünde, dass Kultur nicht nur Kernaufgabe, sondern Pflichtaufgabe des Staates ist, dann hätten wir zumindest einen Arbeitsauftrag und ein Ergebnis formuliert. Ich denke, es wird ein schwerer, aber auch ein lohnender Weg. Insofern wünsche ich uns gute Zusammenarbeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Drucksache 15/1308. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ist damit eingesetzt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Kranz, Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({1}), Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg - zu dem Antrag der Abgeordneten Henry Nitzsche, Dirk Fischer ({2}), Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Stadtentwicklung Ost - Mehr Effizienz und Flexibilität, weniger Regulierung und Bürokratie - zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim Günther ({3}), Horst Friedrich ({4}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Stadtumbau Ost - ein wichtiger Beitrag zum Aufbau Ost - Drucksachen 15/1091, 15/352, 15/750, 15/1331 Berichterstattung: Abgeordnete Ernst Kranz Peter Hettlich Joachim Günther ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ernst Kranz, SPD-Fraktion.

Ernst Kranz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003571, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen! Beginnen möchte ich meine Ausführungen mit einer Aussage, die Lutz Freitag, der Präsident des GdW, am 21. Mai dieses Jahres im Rahmen eines Expertengesprächs über den Stadtumbau Ost im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gemacht hat. Er hob hervor, der Zusammenhang zwischen dem Programm „Stadtumbau Ost“ und dem Aufbau im Osten sei von entscheidender Bedeutung und dürfe in der öffentlichen Diskussion nicht vernachlässigt werden. Das Programm sei eine notwendige Bedingung für den Aufbau Ost. Andererseits sei auch die Wirkung des Programms „Stadtumbau Ost“ sehr begrenzt, wenn der Aufbau Ost nicht gelinge. Dieser Gedanke zog sich letztendlich wie ein roter Faden durch das gesamte Expertengespräch im Ausschuss. Ich finde es auch gut, dass die Opposition die in ihren Anträgen formulierte Unterstellung, das Programm „Stadtumbau Ost“ wirke nicht bzw. es könne die Probleme nicht lösen, in den sachlich geführten Diskussionen nicht wiederholt hat. ({0}) Wenn ich schon am 3. April dieses Jahres darauf verweisen konnte, dass Minister Stolpe bereits zum Dritten Leerstandskongress des GdW die Lösungen der von Ihnen angesprochenen Probleme präsentieren konnte, so können wir heute feststellen, dass im Rahmen der Verwaltungsvereinbarung 2003 bereits ein wesentlicher Teil auch Ihrer Vorschläge von der Bundesregierung auf den Weg gebracht wurde. ({1}) - Genau das habe ich gesagt. - Ein wichtiger Punkt ist, dass die Länder mehr Gestaltungsspielraum bei dem Einsatz der Kassenmittel des Bundes haben. Sie können mehr als die bisher vereinbarten 50 Prozent zugunsten von Rückbaumaßnahmen einsetzen. Weiterhin werden die Altschuldenhilfe und das Programm „Stadtumbau Ost“ stärker aufeinander abgestimmt. Die Mittel für den Rückbau im Programm „Stadtumbau Ost“ werden als Landesbeitrag nach § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes anerkannt. Das ist ganz wichtig; denn damit werden die Handlungsspielräume der Länder zur Unterstützung existenzgefährdeter Wohnungsunternehmen erheblich erweitert. Die Regierung hat Regelungen für den Programmbaustein Wohneigentumsbildung geschaffen, ({2}) derentwegen Pauschalierungen einfacher und flexibler gestaltet und die bisher strikte Gebietstrennung gelockert wurden. Auch sind die Mittel des Programms „Stadtumbau Ost“ künftig mit dem neuen Infrastrukturprogramm und dem Wohnraummodernisierungsprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau kombinierbar. Damit stehen den Trägern der technischen Infrastruktur zinsgünstige Darlehen für den erforderlichen Infrastrukturumbau zur Verfügung. Zur Beschleunigung des Rückbaus wird bei gegebenen Verpflichtungsrahmen die jeweils erste der fünf Jahresraten der Kassenmittel, über die jedes Programmjahr abgewickelt wird, von 5 Prozent auf 15 Prozent angehoben. Der Ausgleich erfolgt durch eine entsprechende Minderung der letzten Raten. Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist ein Paradebeispiel für eine zügige Umsetzung von aktuellem Änderungsbedarf. Die lange Laufzeit dieses Programms, von 2002 bis 2009, verlangt eine ständige Überprüfung und Anpassung an die veränderten Gegebenheiten. Aus diesem Grund haben die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen in ihrem Antrag „Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg“ entsprechende Forderungen an die Bundesregierung formuliert. Den Kernpunkt bildet dabei die regelmäßige Information des Bundestages über den Stand der Umsetzung des Programms. Dabei sollen Auswertungen der erzielten Erfolge bei unterschiedlichen städtebaulichen Konzepten vorgenommen werden sowie auf Probleme bei der Umsetzung auf den verschiedenen Ebenen und bei den verschiedenen Beteiligten eingegangen werden. Weiterhin wird an die Bundesregierung appelliert, die geplante Wirkungsanalyse der Investitionszulage für Maßnahmen der Modernisierung von Wohngebäuden rechtzeitig vorzulegen, sodass eine zeitnahe Entscheidung über eine Verlängerung der Investitionszulage getroffen werden kann. Der Deutsche Bundestag appelliert gleichzeitig an die ostdeutschen Bundesländer, zur Erleichterung der Vorfinanzierung abtretungsfähige Bewilligungsbescheide auszustellen. Dieser Punkt taucht in der aktuellen Diskussion über die Gegenzeichnung der Verwaltungsvereinbarung 2003 durch die Bundesländer auf. Im Mai wurde die Verwaltungsvereinbarung 2003 an die Länder überwiesen. Bis zum heutigen Tag haben genau fünf Bundesländer - Bremen, Hamburg, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein - unterzeichnet. Wie Sie wissen, sind die Mittel für das laufende Jahr erst dann abrufbar, wenn die Verwaltungsvereinbarung unterzeichnet wurde. Die immer wieder geäußerte Kritik, die Bundesregierung verschleppe das Wirksamwerden der Verwaltungsvereinbarung, ({3}) muss ich deshalb klar und deutlich zurückweisen. Ein schnelles Wirksamwerden der Verwaltungsvereinbarung ist allein Sache der Länder. Zudem haben die Länder ihre Kassenmittel des Jahres 2002 bisher in sehr unterschiedlichem Maße abgerufen. Auch das zeigt: Es liegt an den Ländern, die vom Bund bereitgestellten Mittel zeitnah zu verbrauchen. Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost verlangt auch in Zukunft von uns allen wichtige politische Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen und fortführen. Ich bin mir sicher, dass uns auch in der zukünftigen Diskussion die Investitionszulage Ost und die Frage der Altschulden bei Abrissflächen beschäftigen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Henry Nitzsche, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Henry Nitzsche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003601, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die Lage der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern habe ich bereits bei der Einführung unseres Antrags geredet. Damit war ich offensichtlich erfolgreich, wie ich heute feststellen kann; denn es hat Ihnen, Frau Staatssekretärin, und auch der SPD-Fraktion bei der Einschätzung der Situation der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern genützt. Ihr Antrag lag schon nach vier Monaten vor. Herr Kranz, in Ihrem Antrag wird so lange abstrahiert, bis die Sachverhalte nur noch positiv erscheinen. Ich dachte, Sie seien Bürgermeister und nicht Lyriker oder Soziologe. Sie wissen ja: Soziologen sind diejenigen Menschen, die zu einer guten Lösung noch das passende Problem suchen. Ich möchte als Erstes auf den Freizug der Wohnungen eingehen. Es stimmt natürlich, dass die betroffenen Mieter die Umsetzung in den meisten Fällen konstruktiv und verständnisvoll mittragen. Auch erste Urteile stärken die Position der Wohnungswirtschaft, wenn es darum geht, die letzten Mietverhältnisse in einem Abbruchhaus aufzulösen. Dennoch bleibt eine generelle Frage offen, nämlich wie beim Stadtumbau mit dem Aufheben von Mietverhältnissen umzugehen ist. Mein Kollege Wanderwitz wird darauf noch näher eingehen. Natürlich muss die unter Punkt II in Ihrem Antrag vorgenommene Wertung der Maßnahmen der Bundesregierung etwas relativiert werden. Es stimmt schon, dass die Länder jetzt mehr als 50 Prozent der Stadtumbaumittel für den Rückbau einsetzen können. Nicht gesagt wird aber, Kollege Kranz, was als Fußnote in der Verwaltungsvereinbarung steht: Der Bund behält sich vor, zu überprüfen, ob in späteren Jahren ein Ausgleich zugunsten der Aufwertung erfolgt. ({0}) - Wir brauchen aber zunächst einmal den Rückbau, liebe Frau Kollegin. ({1}) Der Rückbau muss beschleunigt werden; denn sonst bleibt es hinsichtlich der Finanzierung nur ein Nullsummenspiel. Ähnlich verhält es sich mit der Aufstockung der zusätzlichen Altschuldenhilfe. 658 Millionen Euro ermöglichen in der Tat mehr Hilfe für existenzgefährdete Unternehmen. Dennoch ist schon jetzt erkennbar, dass die Anträge bei der KfW nicht komplett bedient werden können. Existenzgefährdete Unternehmen können nicht Wohnungen abbrechen und gleichzeitig Altschulden zurückzahlen. So wird der Stadtumbau nicht funktionieren. ({2}) Die Möglichkeit der Kommunen, im Einzelfall den Rückbau auch außerhalb der festgelegten Gebiete zu fördern, muss unterstützt werden. Dass jedoch im Vollzug dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen die objektkonkrete Benennung vorzulegen ist, lässt die Bürokratie ausufern. Eine Entscheidung der Einzelfälle durch die Länder oder - noch besser - sogar durch die Wohnungsunternehmen wäre wesentlich angemessener. Frau Staatssekretärin, ich habe mir die Mühe gemacht, einmal zusammenzustellen, was alles zu beachten ist, wenn ein Abriss ansteht. Sie wissen das vielleicht noch nicht. Also: Abrissgenehmigung, Denkmalschutzmit Sicherheitskonzept, Rückbauvereinbarung mit der Kommune, öffentliche Ausschreibung - obwohl es noch gar kein Regelwerk für den Abbruch gibt -, Finanzierungskonzept, von der Bank bestätigt, Antragsteller muss die Gemeinde sein, Fristen sind einzuhalten, INSEK muss da sein und diskutiert sein, ({3}) Altschuldenhilfe-Gesetz, Testat, Bankunterschrift, Unterschrift des Freistaats, Beschluss des Aufsichtsrats, Kommunikation mit den Bewohnern, Umzugsmanagement, Ersatzwohnraum, Kündigung, Vertragsfristen der Ver- und Entsorger, Kosten der Aufwertung. Das ist eine ganz kleine Aufstellung dessen, was alles zu beachten ist, wenn ein Objekt abgerissen werden soll. Und da kommen Sie mit der Forderung nach objektkonkreter Benennung! ({4}) - Katastrophe hoch drei! Genau! Auch mit der Anhebung der Kassenmittel der ersten Jahresscheibe auf 15 Prozent ist der Bund unserer Forderung nach einer verbesserten Mittelausstattung zum Beginn der Programmjahre gefolgt. Die Forderung von Rot-Grün an die Länder, abtretungsfähige Bewilligungsbescheide auszustellen, ist allerdings - das wissen Sie, Kollege Kranz, am besten - nur eine Notlösung für notwendige Vorfinanzierungen. Vielmehr muss nach Wegen gesucht werden, wie das tatsächlich benötigte Finanzvolumen fristgerecht bereitgestellt werden kann. Dass auch finanzschwache Kommunen am Stadtumbau Ost teilhaben, kann nur erreicht werden, wenn die Kommunen entweder auf die Aufwertung verzichten - das ist für das Gelingen des Stadtumbaus Ost sicherlich nicht hilfreich - oder wenn wir wie beim Rückbau auf die Drittelung - Drittel Gemeinde, Drittel Land, Drittel Bund - verzichten. Etwas mehr Klarheit hinsichtlich dieses Punktes in der Verwaltungsvereinbarung wäre schon erforderlich. Besonders skeptisch stehe ich natürlich dem Typisierungsgedanken bei der Auswertung der kommunalen Konzepte gegenüber. Hier ist nicht viel zu holen. Jede Kommune muss ihren Weg für den Stadtumbau finden und dabei eine Vielzahl von Randbedingungen beachten. Ein Allheilmittel ist schlecht zu finden. Positiv sind die von Ihnen aus unserem Antrag übernommenen Aussagen zur Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen und zur Investitionszulage zu werten. Alles in allem haben Sie wichtige Punkte unseres Antrags erneut formuliert. Wenn Sie auch gewillt gewesen wären, den notwendigen Sprung zu wagen, was das Sonderkündigungsrecht angeht, wäre es für Sie einfacher gewesen. ({5}) Es hätte damit sein Bewenden haben können, wenn Sie sich schlicht unserem Antrag angeschlossen hätten. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollege Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Leerstand im Osten ist wirklich ein großes Problem, aber es handelt sich hier, Herr Nitzsche, nicht um ein strittiges Thema; das wissen Sie auch. Bisher haben sich alle Fraktionen immer darum bemüht, das Thema konstruktiv voranzubringen. Ich war eben nicht ganz sicher, ob Sie einen Beitrag dazu leisten wollten, dass wir das in diesem Sinne fortführen. Mir wäre das sehr wichtig. Rot-Grün hat sich in der letzten Legislaturperiode jedenfalls sowohl mit der §-6-a-Regelung im Altschuldenhilfe-Gesetz als auch mit dem Stadtumbauprogramm Ost konstruktiv und zügig diesem Thema gestellt und hat die Initiative zur Lösung dieses Problems ergriffen. Wir alle sollten darüber sehr froh sein. Das Erstaunliche ist, dass dieses schwierige Thema auch in den ostdeutschen Ländern, Städten und Kommunen sowie von der Wohnungswirtschaft rundherum konstruktiv angegangen wird. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir in dem Stadtumbauprogramm Ost ein lernendes System sehen. Alle Beteiligten müssen step by step versuchen, dieses System zu optimieren und die anstehenden Aufgaben so vernünftig und konstruktiv wie möglich zu lösen. Obwohl ich nie und nimmer gerne Bürgermeister einer Stadt sein würde, der den Leuten sagen muss, dass er einen halben Stadtteil abreißen wird, finde ich es trotzdem großartig, wie konstruktiv alle Beteiligten, die Wohnungswirtschaft, die Kommunen und die Länder - zwar manchmal nicht ganz so toll, wie wir es uns wünschen und insbesondere die Mieter, an diese Frage herangehen. Der erste Punkt, wo ein deutlicher Dissens zwischen uns besteht, ist der Umgang mit den Mietern. Wir haben es schon intensiv bei der Mietrechtsnovelle diskutiert: Rot-Grün hält es nicht für notwendig, neue mietrechtliche Regelungen in diesem Bereich zu erlassen. Inzwischen haben mehrere Gerichte, in Jena, in Hoyerswerda und in Halle, wie ich glaube, in ihren Urteilen gesagt, dass der Passus im BGB, demzufolge der Vermieter bei berechtigtem Interesse kündigen kann, für den Abriss ausreicht. Nach dieser Regelung geht man vor; das funktioniert auch, im Übrigen sehr konstruktiv. Auch die Mietervereinigungen arbeiten ihrerseits konstruktiv daran mit. Ich werbe noch einmal inständig dafür, niemandem einzureden, wir benötigten ein neues Mietrecht. Das würde nur Streit zwischen der Eigentümer- und der Mieterseite provozieren. Das wäre nicht gut. ({0}) Zweiter Punkt: Die Koalition hat die Verwaltungsvereinbarung sehr gut weiterentwickelt. Ich bedanke mich dafür, Frau Gleicke. Ich wünsche mir, dass die Länder - ich halte es schon für ein Problem, dass diese Vereinbarung von einer Reihe von ostdeutschen Ländern noch nicht unterschrieben wurde - ihre eigene Bürokratie überwinden und möglichst zügig die Verwaltungsvereinbarung unterschreiben, damit das Geld auch wirklich fließen kann. Auf weitere wichtige Veränderungen ist der Kollege Kranz eben schon eingegangen. ({1}) Ich möchte sie aufgrund meiner begrenzten Redezeit nicht noch einmal wiederholen. Es handelt sich durchweg um gute Veränderungen, womit wir in diesem Punkt weiterkommen. Ein Satz wenigstens noch zur Frage von Abriss und Aufwertung: Wir brauchen beides, aber wir wissen, dass es jetzt erst einmal um zügigen Abriss geht. ({2}) Wir wollen aber diese Gebiete nicht wie offene Wunden liegen lassen, sondern die Bevölkerung in den jeweiligen Stadtteilen soll auch sehen, dass es wieder vorangeht. Deswegen ist Aufwertung genauso notwendig. Wir können nicht sagen: „Jetzt wird erst einmal nur abgerissen“, und dann bleiben die Stadtteile einfach so liegen. Das wollen wir nicht. Wir engagieren uns genauso auch für die notwendige Aufwertung. ({3}) Lassen Sie mich bei allem Erfolg, den wir bei diesem Programm bisher verzeichneten, und trotz all der Mühen und der konkreten Arbeit auf den verschiedenen Ebenen, besonders in den Kommunen, doch noch ein paar Punkte ansprechen, über die wir zu diskutieren haben und wo wir weiterkommen müssen. Ich will darauf aufgrund meiner begrenzten Redezeit nur stichpunktartig eingehen: Als Erstes haben wir noch im ländlichen Raum große Probleme. Der zweite Bereich betrifft die Infrastruktur; diese Frage hat der Kollege Kranz eben auch angesprochen. Der dritte Punkt betrifft die privaten Eigentümer. Auch wenn die privaten Eigentümer im Endeffekt Nutznießer mutiger Abrissvorhaben der städtischen und genossenschaftlichen Wohnungswirtschaft sind, bekommen wir doch in vielen Städten Probleme mit privaten Eigentümern. ({4}) Ich möchte als Letztes auf drei Punkte hinweisen, wo wir schon weitergekommen sind. Ein ganz wichtiger Schritt ist, dass die Grunderwerbsteuerbefreiung bei der Zusammenführung von Wohnungsunternehmen gewährt wird. Die Regierung hat zugesagt, die Bundesratsinitiative wohlwollend zu begleiten. Wir müssen dann sehen, ob die EU das mit trägt. Ich hoffe und werbe dafür, dass wir auf diesem Weg einen Schritt vorankommen. Ich bitte darum, dass wir diesbezüglich alle zusammenarbeiten. Der nächste Punkt ist die Investitionszulage im Baubereich. Hinsichtlich der Aufwertung ist auch das sehr wichtig. Der letzte Punkt - ich komme gleich zum Schluss -: Die Art und Weise, wie die Koalition das Thema Eigenheimzulage im Haushalt angegangen ist, halte ich für sehr gut. Was der Osten wirklich braucht, ist: Schluss mit der Eigenheimzulage und Schluss mit der Zersiedlung. Stattdessen braucht der Osten ein solides Programm für Stadterneuerung, familiengerechte Eigentumsbildung in den Städten und eine Stärkung des Stadtumbauprogramms Ost. ({5}) In diesem Sinne hoffe ich, dass das auch die Opposition im Zuge der Beratungen unterstützen wird. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther, FDP-Fraktion.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist fraglich, ob die Wohnungspolitik und die Wohnungswirtschaft es verdient haben, dass wir zu so später Stunde diese Debatte führen. Ich bin der Meinung der Stadtumbau Ost ist ein Thema, das nicht nur für den Osten relevant ist. Dieses Thema sollten wir generell einmal auf die Tagesordnung stellen; ({0}) Joachim Günther ({1}) denn die Regionalisierung ist in jeder Situation unterschiedlich. Darauf sollte man reagieren. Kollege Kranz, Sie haben gesagt, dass die Opposition von der Auffassung abgerückt ist, dass das Stadtumbauprogramm Ost nicht wirkt. Das ist nicht ganz richtig. Das Stadtumbauprogramm Ost - das sage ich in Richtung Bundesregierung - hat etwas auf den Weg gebracht, das aus meiner Sicht optimal ist: In den Städten hat überhaupt erst einmal eine Planung stattgefunden; man hat sich mittelfristige Ziele gesteckt, die vieles voranbringen. Dieser Effekt ist absolut positiv. Das Problem ist aus heutiger Sicht aber nach wie vor die Bevölkerungswanderung in Deutschland und die Situation in den Städten, in den Stadtkernen selbst. Es gibt eine Bevölkerungswanderung. Ein Bürgermeister oder ein Baudezernent einer betroffenen Stadt - ich will nicht das Superbeispiel Hoyerswerda nennen; es gibt im Osten Deutschlands andere Städte, die ähnliche Probleme haben - sagt Ihnen: Wie soll ich denn für die nächsten zehn Jahre planen, wenn aus meiner Stadt jährlich 2 000 bis 2 500 Menschen wegziehen? Das ist das Hauptproblem. Deshalb kann das Wohnungsbauprogramm nicht der Ansatz sein. Wir müssen vielmehr einen Ansatz in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie in der Arbeitsmarktpolitik insgesamt finden. Nur wenn es uns gelingt, die Bevölkerungsströme zumindest einigermaßen in Grenzen und damit kalkulierbar zu halten, können wir auf den Stadtumbau direkt eingehen; denn ein Bürgermeister, der nicht weiß, wie viele Einwohner seine Stadt in zehn oder 20 Jahren haben wird, sieht sich einer komplizierten Planung gegenüber. Deshalb brauchen wir - das ist richtig - einige Reformen, die in diese Richtung gehen. In Bezug auf den Leerstand brauchen wir aber auch einiges, was in Ihren Vorschlägen bisher noch nicht enthalten ist: Frau Eichstädt-Bohlig, was den Freizug im Wohnungswesen anbetrifft, ist es zwar richtig, dass es kaum Mieterdiskussionen gibt; das Problem bei einem Einzelabriss ist aber immer der letzte Mieter, dessentwegen es Streit sowie wochen- und monatelange Verzögerungen gibt. Solche Probleme unbürokratischer und schneller zu lösen muss ein Ziel sein. Für solche Einzelfälle müssen wir in den nächsten Monaten eine Regelung finden. ({2}) Das zweite Hauptproblem beim Abriss - jeder weiß das; wir brauchen das nicht genauer auszuführen - sind die Altschulden. Dieses Thema betrifft die Wohnungsgesellschaften und die Genossenschaften. Aber auch die Privateigentümer - der Begriff wurde schon genannt bilden ein großes Potenzial. Die privaten Haus- und Grundeigentümer im Osten Deutschlands sind von diesem Problem ebenfalls stark betroffen. Ich möchte nicht, dass sie immer nur neben oder nach den Genossenschaften eingeordnet werden. Ihre persönliche Situation ist oft viel härter als die mancher Genossenschaften. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke. ({0})

Iris Gleicke (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000687

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den wichtigsten Aufgaben in Ostdeutschland gehört der Stadtumbau Ost. Das wird auch daran deutlich, dass alle Fraktionen dieses Hohen Hauses hierzu Anträge eingebracht haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - Herr Günther, bei Ihnen bedanke ich mich ganz ausdrücklich für den konstruktiven Beitrag -, bei allen Problemen und Unterschieden, die wir im Detail sehen, eint uns das Wissen darum, dass diese Aufgabe zu erfüllen ist. Ich glaube, Sie tragen auch insgesamt das Programm „Stadtumbau Ost“ mit. Wir sind uns darüber einig, dass dieses Programm zügig weiterlaufen und zügig abgearbeitet werden muss. Zu der Kritik, die in Ihrem Antrag geäußert wird, Herr Nitzsche: Das sehe ich anders; denn vieles ist bereits erreicht. Das Programm läuft seit einem Jahr. Vor einem Jahr hatten wir den Wettbewerb zum Stadtumbauprogramm, für den die Kommunen Stadtentwicklungskonzepte erarbeitet haben. Einige dieser Konzepte sind auch ausgezeichnet worden. Herr Kollege Kranz, wir haben dieser Tage eine Broschüre herausgebracht, in der diese unterschiedlichen Konzepte veröffentlicht werden, damit sich andere beteiligen und auch voneinander lernen können. ({0}) An dem ersten Programm, das wir aufgelegt haben, beteiligen sich 179 Gemeinden. Wir hatten die Absicht - das habe ich auch in der letzten Debatte gesagt -, mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ ein lernendes Programm aufzustellen. Wir haben immer gesagt: Wir betreten an dieser Stelle Neuland. ({1}) Wir haben etwas in Gang gesetzt, das es in dieser Republik vorher nicht gegeben hat. Aus diesem Grunde werden wir uns natürlich immer wieder damit zu beschäftigen haben, welche Veränderungen es geben muss. Ich will die Veränderungen, die wir jetzt mit der Verwaltungsvereinbarung für 2003 vorgenommen haben, einfach noch einmal benennen. Wir ermächtigen die Länder, auch mehr als 50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen. Die Entscheidung muss aber vor Ort getroffen werden, dort wo diejenigen sitzen, die am Besten wissen: Brauchen wir mehr Geld für den Rückbau, oder müssen wir das Geld in die Aufwertung stecken, um auch Zielwohnungen zu erhalten? Diese Entscheidung können wir den Trägern vor Ort nicht abnehmen. Das sollten wir auch tunlichst lassen. ({2}) Wir verzahnen den Stadtumbau Ost stärker mit unserer Altschuldenhilfe-Regelung. Wir wollen, dass hier stärker Hand in Hand gearbeitet wird. Wir wollen, dass die Unternehmen, die am stärksten betroffen sind und deshalb gemäß § 6 a Hilfe bekommen, mehr und schneller abreißen können. Auch dies ist aber vor Ort zu entscheiden. Wir können hier niemanden aus der Verantwortung nehmen. Wir machen möglich, dass die Mittel für den Rückbau im Programm „Stadtumbau Ost“ auch als Landesbeitrag zur Altschuldenentlastung anerkannt werden. Ich bedanke mich ausdrücklich beim Bundesfinanzminister, dass solche Dinge möglich sind, damit wir zügig vorankommen. ({3}) Wir haben auch die Regelung für die Wohneigentumsbildung vereinfacht und großzügiger gestaltet. Die Ursache für den Wegzug aus der Stadt ist ganz oft das Fördern des Bauens auf der grünen Wiese. Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle doch der Diskussion über die Wohneigentumsförderung stellen. ({4}) Damit verstärken wir auch unser eigenes Stadtumbauprogramm. ({5}) Wir wollen, dass das Bauen auf der grünen Wiese angesichts der Leerstände in den Städten nicht weiter betrieben wird. Wir wollen vielmehr, dass in den Städten auch wieder Familien leben können, indem familienfreundliche Wohnungen und auch die Wohneigentumsbildung im Bestand ermöglicht wird. Ich darf Ihnen noch etwas Erfreuliches vermelden: In dem gestern beschlossenen Bundeshaushaltsplan haben wir festgelegt, dass die Kassenmittelrate im Jahre 2004 auf 20 Prozent erhöht wird. Damit steht mehr Geld zur Verfügung. Ich glaube, dass wir damit eine gute Voraussetzung geschaffen haben, den Stadtumbau zu beschleunigen. ({6}) Zu den 45 000 bewilligten Abrissen aus dem vergangenen Jahr werden noch einmal 50 000 hinzukommen. Auch das macht deutlich, dass wir vorankommen und dass wir auf einem guten Wege sind. Wir werden uns weiter austauschen. Übrigens ist unser Bundesminister dieser Tage unterwegs; heute ist er in Halle-Neustadt. Er wird eine Sommerreise machen und wird sich stark mit dem Stadtumbau Ost auseinander setzen. Herr Kollege Nitzsche, ich musste vorhin bei der Aufzählung der Litanei von Genehmigungen, die man so braucht, etwas schmunzeln; wir haben schließlich nicht all diese Genehmigungen erfunden. ({7}) Außerdem finde ich es schon ein bisschen witzig, wie Sie beispielsweise angesichts der Silberhöhe in Halle auf den Denkmalschutz kommen. Wir sind uns doch einig, dass wir etwas tun müssen. Lassen Sie uns doch bitte konstruktiv weiter diskutieren. Die neuen Bundesländer brauchen den Stadtumbau Ost. Wir sind auf gutem Wege und sind, denke ich, auch stolz auf das, was bisher erreicht wurde. Wir müssen auch die Arbeit derer loben, die sich vor Ort engagieren. Dann gehört es auch dazu, dass man keine unsachgemäße Kritik anbringt, sondern sich sachlich auseinander setzt. Wir werden immer wieder Gespräche führen, um herauszufinden, worauf wir reagieren müssen und wie wir das Programm noch besser machen können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marco Wanderwitz, CDU/CSU-Fraktion.

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle sind nicht vor Fehleinschätzungen gefeit. Gerade die Wiedervereinigung war ein riesiger Kraftakt für den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber. In guter Absicht wurde auch ein Teilaspekt der heutigen Debatte geregelt, die Problematik des Verbots so genannter Verwertungskündigungen in den neuen Ländern, wie von meinem sächsischen Kollegen Henry Nitzsche schon angesprochen wurde. Unser Ihnen heute vorliegender Antrag fordert ein Sonderkündigungsrecht für Rückbauvorhaben, diese Forderung enthält auch der Antrag der FDP. Die Staatsregierung des Freistaates Sachsen hat am 27. Mai 2003 beschlossen, einen weiter gehenden Gesetzesantrag für die Aufhebung des Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum BGB in den Bundesrat einzubringen. Vor dem 3. Oktober 1990 begründete Mietverhältnisse in den neuen Ländern sind nach geltendem Recht bis auf wenige Ausnahmen, auf die ich später noch zu sprechen komme, für den Vermieter quasi unkündbar. ({0}) - Es ist noch ein bisschen von Herrn Nitzsches Redezeit übrig; insofern werde ich schon hinkommen. Dies gilt selbst und gerade dann, wenn der Vermieter dadurch an einer anderen wirtschaftlicheren Verwertung der Immobilie gehindert wird. Eine solche Verwertungsmöglichkeit ist der Rückbau. Der Wille des Gesetzgebers war 1990 der Schutz von Mietern preiswerten Wohnraums in den neuen Ländern unter dem Gesichtspunkt der Wohnungsknappheit zu diesem Zeitpunkt. Der Verfall ganzer Stadtteile war keine Seltenheit. Andererseits konnten die Plattenbausiedlungen nie den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Zwischenzeitlich stehen rund 1,3 Millionen Wohnungen zwischen Chemnitz und Greifswald leer. Neuerlicher Verfall setzt ein; die Silberhöhe wurde gerade genannt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Um nur einige zu nennen: Abwanderungswellen in ungeahntem Ausmaß, demographische Entwicklung, aber auch die Sanierung vorrangig von Altbauten und der Neubau von Wohnungen. Aus meiner Sicht ist damit der Normzweck entfallen. Die derzeitige gesetzliche Regelung erweist sich sogar als Hemmnis für die Entwicklung in den neuen Ländern. ({1}) Wer soll denn eine Immobilie mit einem verbliebenen Mieter, der sich nicht am Verfall stört, einer neuen Nutzung zuführen? An dieser Stelle sage ich ganz deutlich, dass nicht nur Sanierung die neue Nutzung sein kann. Wir brauchen die gezielte Wegnahme von Wohnungen vom Markt in erheblichen Größenordnungen, um das Gefüge zu retten. Aber selbstverständlich sollen die Sanierung und die Umnutzung genauso erfasst werden, daher greift eine reine Abrisskündigung zu kurz. Die Situation wird nicht wesentlich dadurch verbessert, dass die Rechtsprechung mittlerweile in Einzelfällen trotz des Ausschlusses der Verwertungskündigung die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung unter den Bedingungen des § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB angenommen hat. Dies betrifft einerseits bisher nur besonders gravierende Fälle, etwa den Fall des über Jahre ausharrenden letzten verbliebenen Mieters in einem elfstöckigen Wohnhaus. Die Mietzahlungen deckten in diesem Fall nicht einmal mehr die Betriebskosten für den Wohnkomplex. Zum anderen ist aufgrund der uneinheitlichen Entscheidungspraxis der Gerichte erhebliche Rechtsunsicherheit gegeben. Jeder einzelne Fall bedarf derzeit der gerichtlichen Entscheidung, gegebenenfalls durch mehrere Instanzen. Bereits der Zeitfaktor ist dabei absolut inakzeptabel. ({2}) Das Teilaufheben des Art. 232 des Einführungsgesetzes zum BGB würde den Mieter ja auch nicht schutzlos machen. Die erwähnte Regelung, die Kündigungsmöglichkeit bei berechtigtem Interesse an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks, würde dann auch in den neuen Ländern alleinige Anwendung für derartige Fälle finden. Für das dort normierte berechtigte Interesse setzt die Rechtsprechung bereits jetzt sehr enge Kriterien. ({3}) Der Antrag der Regierungsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Thema blendet leider den von mir aufgezeigten Aspekt aus. ({4}) Das Programm Stadtumbau Ost und all die schönen Stadtentwicklungskonzepte werden aber ohne Beachtung dieses Problems ins Leere laufen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Ihr Antrag ist leider so falsch wie manche Initiative aus Ihrer Feder. Er ist in der Sache falsch, weil schon die Analyse falsch ist. ({5}) Sie schreiben von den bereits bestehenden Möglichkeiten und Ausnahmefällen. Da fragt man sich schon, ob Sie die Lage vor Ort wirklich kennen. Lassen Sie uns die Verantwortung für die Entwicklung der Städte und Gemeinden in den neuen Ländern übernehmen! Stimmen Sie für unseren Antrag und geben Sie der Bundesratsinitiative des Freistaates Sachsen Ihre Unterstützung! Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/1331. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1091 mit dem Titel „Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/352 mit dem Titel „Stadtentwicklung Ost Mehr Effizienz und Flexibilität, weniger Regulierung und Bürokratie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmenverhältnis angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/750 mit dem Titel „Stadtumbau Ost - ein wichtiger Beitrag zum Aufbau Ost“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmenergebnis wie die beiden vorherigen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Dr. Jürgen Gehb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Gesetzbuches ({0}) - Drucksache 15/1096 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Beim Tagesordnungspunkt 12 sind von den Rednerin- nen und Rednern aller Fraktionen die Reden zu Protokoll gegeben worden.1) Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({3}), Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Vorrang für die Ostseesicherheit - Drucksachen 15/465, 15/1194 - Berichterstattung: Abgeordnete Annette Faße Beim Tagesordnungspunkt 14 haben ebenfalls alle Red- nerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/1194 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Vorrang für die Ostseesicherheit“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/465 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/ CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streikräftepotenziale ({5}) - Drucksache 15/1104 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe 1) Anlage 12 2) Anlage 13 Hierzu haben ebenfalls alle Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1104 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Vewaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit KOM ({8}) 433 endg.; Ratsdok. 12138/02 - Drucksachen 15/457 Nr. 2.2, 15/1288 - Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Dirk Manzewski Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Auch hierzu haben alle Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben.4) Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung über einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmo- nisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, Druck- sache 15/1288. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Ent- schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Für eine Verbesserung der privaten Vermitt- lung im Aupairbereich zur wirksamen Verhin- derung von Ausbeutung und Missbrauch - Drucksache 15/1315 - Auch hierzu haben alle Rednerinnen und Redner ih- ren Reden zu Protokoll gegeben.5) 3) Anlage 14 4) Anlage 15 5) Anlage 16 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag mit dem Titel „Für eine Verbesserung der privaten Vermittlung im Aupairbereich zur wirksamen Verhinderung von Ausbeutung und Missbrauch“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/1315? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 4. Juli 2003, um 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.