Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten
Jürgen W. Möllemann hat der Abgeordnete Michael
Kauch am 14. Juni 2003 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich.
({0})
Für die noch zu besetzende Position eines stellvertretenden Mitglieds im Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen schlägt die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen den Kollegen Rainder Steenblock vor. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist der Kollege Steenblock als Stellvertreter im
Programmbeirat bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler: Deutschland bewegt sich - mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung
2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1})
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchssteuergesetze
- Drucksache 15/1313 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber,
Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Undine Kurth ({3}), Dr. Reinhard Loske, Volker
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Reisen ohne Handicap - Für ein barrierefreies Reisen und Naturerleben
in unserem Land - Drucksache 15/1306 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner
({6}), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele,
Volker Beck ({7}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung der
Armut und der Hungerkrise im südlichen Afrika
- Drucksache 15/1307 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck ({9}), Katrin
Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung
der Welternährungssituation und Verwirklichung des
Rechts auf Nahrung - Drucksache 15/1316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({10})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({11}), Volker Beck
({12}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Naturschutz geht alle an - Akzeptanz und Integration
des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stärken - Drucksache 15/1318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({13})
Sportausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert Hüppe,
Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter:
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Forschungsförderung der Europäischen Union unter
Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger
Prinzipien der Mitgliedstaaten - Drucksache 15/1310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({14})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({15}) und
weiterer Abgeordneter: Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Stammzellforschung - Drucksache 15/1346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({16})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union
3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({17})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 50 zu Petitionen
- Drucksache 15/1335 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 51 zu Petitionen
- Drucksache 15/1336 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 52 zu Petitionen
- Drucksache 15/1337 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 53 zu Petitionen
- Drucksache 15/1338 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 54 zu Petitionen
- Drucksache 15/1339 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Doha-Runde zum Erfolg
führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche
WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico - Drucksache 15/1323 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp,
Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mehr Wohlstand für alle
durch mutige Marktöffnung - Drucksache 15/133 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({23})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Jäger, Ulrike
Mehl, Michael Müller ({24}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Volker Beck ({25}), Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Flüssen mehr Raum geben Ökologische Hochwasservorsorge durch integriertes
Flussgebietsmanagement - Drucksache 15/1319 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,
Angelika Brunkhorst, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Hochwasserschutz Solidarität erhalten, Eigenverantwortung stärken
- Drucksache 15/1334 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 7 und 19 in
Verbindung mit der Aussprache zur Regierungserklärung
aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 8 - Berliner Stadtschloss - und 9 - Sexualstrafrecht -, 10 - Einsetzung einer Enquete-Kommission - und 11 - WTO/
GATS-Verhandlungen - sowie 12 - Änderung des BGB
- und 13 - Stadtumbau Ost - sollen jeweils getauscht
werden. Der Tagesordnungspunkt 4 - Gemeindefinanzreform - wird am Freitag um 9 Uhr beraten.
Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 49. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam,
Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU: Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht
({28})
- Drucksache 15/932 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({29})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Präsident Wolfgang Thierse
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungs-
punkte 7 a und 7 b sowie 19 a und 19 b auf:
ZP 1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanz-
ler
Deutschland bewegt sich - mehr Dynamik für
Wachstum und Beschäftigung
7 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Steuerehrlichkeit
- Drucksache 15/1309 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({30})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur vereinfachten Nachversteuerung
als Brücke in die Steuerehrlichkeit
- Drucksache 15/470 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({31})
Rechtsausschuss
19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, Heinz
Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Steuern: Niedriger - Einfacher - Gerechter
- Drucksache 15/1231 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({32})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Steuersenkung vorziehen
- Drucksache 15/1221 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({33})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({34})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vorweg eine Bemerkung zu einem anderen
Thema: Der italienische Ministerpräsident hat es für
richtig gehalten, einen deutschen Kollegen des Europäischen Parlamentes mit einem Nazivergleich zu belegen.
Ich denke, ich stelle hier für das ganze Hohe Haus fest:
Diese Äußerung ist in Inhalt und Form eine Entgleisung
und völlig inakzeptabel.
({0})
- Herr Glos, ich hoffe, das gilt auch für Sie. Mehr will
ich dazu nicht sagen.
({1})
Ich habe die Erwartung, dass sich der italienische Ministerpräsident für diesen inakzeptablen Vergleich in aller
Form entschuldigt.
({2})
Bezogen auf unser Thema gibt es Zeiten, in denen
hart gestritten werden muss, und Zeiten, in denen Zusammenarbeit angesagt ist. Es gibt Grundsatzfragen,
über die wir uns intensiv und, wo nötig, auch hartnäckig
auseinander setzen müssen.
Heute geht es aber um etwas anderes. Heute geht es
darum, sorgsam die Bedingungen zu definieren und verantwortungsbewusst den Rahmen dafür abzustecken,
dass unser Land wieder Tritt fasst und sich abermals als
eine leistungsfähige, aber eben auch solidarische Gesellschaft erweist. Diese Herausforderung werden wir nur
bewältigen, wenn wir unsere Kräfte gemeinsam auf dieses Ziel richten, wenn wir einmal vergessen, was uns ansonsten trennt, und wenn wir bereit sind - das sage ich
auch an die Mitglieder des Bundesrates -, die Verantwortung wahrzunehmen, die die Menschen in Deutschland von uns erwarten.
({3})
Mir ist klar, dass auch das nicht ohne Streit abgehen
wird, ohne Auseinandersetzungen in der Sache. Das ist
auch richtig so. Aber im Vordergrund muss gerade jetzt
das gemeinsame Bemühen um konstruktive Lösungen
stehen. Mein Eindruck ist, dass wir etwa bei der Gesundheitsreform auf einem guten Weg sind, und ich bedanke mich bei der Opposition ausdrücklich für die Bereitschaft zur Mitarbeit.
({4})
Die Fragen, die wir heute und in den kommenden Tagen und Wochen diskutieren, beschäftigen nicht nur die
Menschen in Deutschland; sie beschäftigen auch und gerade Europa. Das hat Gründe. Unsere Volkswirtschaft,
die deutsche Volkswirtschaft, ist ungeachtet all dessen,
was wir zu verbessern haben, die stärkste Europas. Etwa
30 Prozent der Wertschöpfung in Gesamteuropa werden
von der deutschen Volkswirtschaft und damit von den
Menschen in Deutschland erwirtschaftet.
Dies bedeutet, dass wir gewiss für das verantwortlich
sind, was in unserem Land geschieht, dass wir aber darüber hinaus auch eine besondere Verantwortung für die
europäische Entwicklung tragen. Dieser Verantwortung
wollen wir uns stellen; denn ohne ein starkes Deutschland ist Europa schwächer, als es sein müsste.
({5})
Ich füge hinzu: Es gilt auch, dass Deutschland ohne
einen europäischen Binnenmarkt und ohne die europäische Integration weit weniger Chancen hätte, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Das gilt ökonomisch, das
gilt aber auch politisch. Es gilt übrigens auch für unser
Sozialmodell der Teilhabe und der sozialen Marktwirtschaft. Deshalb stellen wir uns unserer Verantwortung
für Deutschland und Europa im wohlverstandenen gemeinsamen Interesse, weil das eine ohne das andere
nicht mehr geht.
Vor diesem Hintergrund stimmen wir unsere strukturellen und konjunkturellen Maßnahmen aufeinander ab
und übernehmen auf der Basis des europäischen Paktes
für Stabilität und Wachstum die Verantwortung für genau dies: Stabilität und Wachstum. Deshalb haben wir in
einem für Deutschland bisher beispiellosen Kraftakt Entscheidungen getroffen, die für mehr Dynamik, mehr
Wachstum und mehr Beschäftigung sorgen. Deshalb
sind wir in der Lage, die Bürgerinnen und Bürger, aber
auch die mittelständischen Unternehmer ab Anfang
nächsten Jahres dramatisch von Steuern zu entlasten.
({6})
Ab dem 1. Januar nächsten Jahres werden die Bürgerinnen und Bürger im Durchschnitt 10 Prozent weniger
Steuern zahlen müssen. Wir senken den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Ich will daran erinnern, dass vor
fünf Jahren der Eingangssteuersatz noch bei 26 Prozent
lag.
({7})
Was das insbesondere für die Bezieher der unteren Einkommen bedeutet, kann man sich nicht häufig genug
klar machen.
({8})
10 Prozent weniger Steuern sind 10 Prozent mehr, die
den Menschen zur Verfügung stehen, um ihr Leben entsprechend ihren eigenen Wünschen zu gestalten.
({9})
Das ist es, worum es nach unserer Auffassung geht,
wenn von Konsum und im Zusammenhang damit von
der Förderung der Binnennachfrage gesprochen wird,
dass nämlich Menschen mehr von dem, was sie erarbeitet haben, für die Qualität ihres eigenen Lebens und für
ihre Kinder ausgeben können, ohne dass die Grundlagen
des gemeinsamen Staates infrage gestellt werden.
Ich habe dem Deutschen Bundestag am 14. März die
Agenda 2010, unser Programm zur strukturellen Erneuerung und zur Modernisierung des Sozialstaates, vorgestellt. Genau das ist das Fundament, auf dem die Politik
für Wachstum und Beschäftigung gründet.
Ich will das mit einigen zentralen Punkten in Erinnerung rufen. Einerseits gehen wir damit die lange vernachlässigten strukturellen Ursachen unserer Wachstumsschwäche energisch an und andererseits bauen wir
unseren Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme
so um, dass sie uns und auch künftigen Generationen
eine gute Zukunft ermöglichen.
Bis 2010 können wir durch die strukturellen Reformen der Agenda 45 Milliarden Euro im Bundeshaushalt
einsparen. Wir haben die Strukturreform nicht vorrangig
und schon gar nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Kosten ausgerichtet. Wir betreiben das Sparen
eben nicht als Selbstzweck. Im Vordergrund stand und
steht für uns immer die Orientierung, die Ausgaben für
das Bestehende auf das Notwendige zu begrenzen,
schlicht deshalb, um Mittel für die Gestaltung der Zukunft zur Verfügung zu haben und diese zu mobilisieren.
({10})
Dabei ist klar geworden, dass wir in Deutschland
wirklich ein neues Denken brauchen, und zwar eine Veränderung auch und gerade in der Mentalität, weg von der
Besitzstandswahrung und hin zur Gestaltung von Zukunftschancen. Dieses Umdenken hat in den dreieinhalb Monaten seit unserer Initiative zur Agenda 2010
eingesetzt. Ich glaube, es ist spürbar geworden, dass es
sich gerade in den vergangenen Tagen und Wochen verstärkt hat. Auch im Ausland wird mittlerweile positiv
wahrgenommen: Deutschland ist bereit, sich zu verändern; Deutschland bewegt sich.
({11})
Mit der Agenda 2010 und den Reformen zugunsten
des Arbeitsmarktes und des Mittelstandes haben wir den
Weg zur strukturellen Modernisierung Deutschlands, zur
Innovation und zur Weiterentwicklung von Teilhabe und
Gerechtigkeit vorgezeichnet. Im Gesundheitswesen beispielsweise brauchen wir mehr Marktwirtschaft, mehr
Wettbewerb und mehr Transparenz. Dabei werden wir
nicht auf die hervorragende Qualität der medizinischen
Versorgung in Deutschland verzichten.
Auf dem Arbeitsmarkt haben wir durch die bereits
umgesetzten so genannten Hartz-Reformen im Niedriglohnsektor und bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen so hohe Beschäftigungschancen erreicht
wie nie zuvor. Durch die Einrichtung von Personal-SerBundeskanzler Gerhard Schröder
vice-Agenturen und die vertraglichen Regelungen zur
Zeit- und Leiharbeit verschaffen wir nicht nur deutlich
mehr Arbeitswilligen Zugang zum Arbeitsmarkt - und
zwar zum ersten Arbeitsmarkt -, sondern haben wir auch
den gesamten Bereich der Leiharbeit aus dem geholt,
was man die „Schmuddelecke“ nennt,
({12})
in der sich die entsprechenden Angebote und die Nachfrage früher großenteils bewegt haben.
Die Förderung der Selbstständigkeit durch die so genannten Ich-AGs und damit verwandte Maßnahmen
sind ein Angebot, das schon jetzt sehr stark angenommen wird. Ich bin sicher: Schon im nächsten Jahr werden wir in Deutschland einen Arbeitsmarkt geschaffen
haben, der weit offener und anpassungsfähiger ist, als es
jahrzehntelang der Fall war.
({13})
Das liegt im Interesse derer, die Arbeit und Dienstleistungen nachfragen, aber vor allem im Interesse derer, die
heute noch arbeitslos sind.
Meine Damen und Herren, natürlich gilt unser Augenmerk ganz besonders dem Mittelstand, der weit
mehr als die Hälfte der Bruttowertschöpfung in Deutschland erwirtschaftet und mit rund 70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitaus die meisten
Menschen beschäftigt.
Die Maßnahmen sind Ihnen bekannt. Ich fasse sie als
Stichworte noch einmal zusammen: Novellierung der
Handwerksordnung,
({14})
Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, Förderung
von Existenzgründern, Abbau von Bürokratie und Stärkung der Eigenkapitalbasis.
({15})
Dazu kommt, wohlgemerkt, die Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten und Abgaben. Das heißt, wir
geben dem Mittelstand die Möglichkeiten an die Hand,
sein Engagement und seine Innovationskraft - also das,
was unser Land so stark gemacht hat - aufs Neue vollständig zur Geltung zu bringen.
Deshalb ist es so wesentlich, was wir am vergangenen
Wochenende in Neuhardenberg beschlossen haben:
Mittelständische Unternehmen müssen ab dem nächsten
Jahr fast 10 Milliarden Euro weniger Steuern zahlen.
Damit geben wir in einer wirtschaftlich schwierigen Situation ein klares Signal an die Wirtschaft: Weniger
Steuern für mehr Investitionen und mehr Investitionen
für mehr Beschäftigung!
({16})
Das alles zusammen - strukturelle Reformen bei
Rente und Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt und in der
mittelständischen Wirtschaft - ergibt die Botschaft und
den Inhalt dessen, was die Agenda 2010 ausmacht. Im
Kern geht es bei allen Maßnahmen um ein und dasselbe:
dass wir den Schritt zu mehr Verantwortung, mehr Initiative und mehr Gemeinwohl hinbekommen.
({17})
Wir müssen zu größeren Zukunftschancen statt sturem
Beharren auf den Besitzständen, zu einer neuen Balance
zwischen ökonomischer Notwendigkeit, sozialem Zusammenhalt und gesellschaftlichem Aufbruch kommen.
Wir haben uns in diesem Jahr große Chancen zur politischen Gestaltung erkämpft. „Erkämpfen“ ist schon das
richtige Wort; denn der Prozess, Zustimmung für die
Agenda 2010 und die Strukturreformen zu gewinnen,
war nicht leicht und - wie könnte es anders sein - für
manche auch schmerzhaft. Aber wir können heute sagen: Dieser Prozess ist gelungen. Der Umschwung im
Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind
bereit, die Veränderungen mitzutragen.
({18})
Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die letzten Passagen
meiner Rede angesichts der Unruhe auf der Besuchertribüne vollständig mitbekommen haben. Trotzdem will
ich sie nicht wiederholen.
({19})
Wie gesagt, der Umschwung im Denken findet statt.
Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Veränderungen mitzutragen. Hier beziehe ich die Gewerkschaften ausdrücklich ein, ohne die Deutschland - ich betone
das gerade jetzt durchaus bewusst - nie so leistungsstark
geworden wäre, wie es ist.
({20})
In ihren eigenen Reihen haben die Gewerkschaften einen
Klärungsprozess durchlaufen, der ganz gewiss zeigt:
Auch die Gewerkschaftsmitglieder wollen Akteure des
Wandels, nicht seine Opfer und erst recht nicht seine
Bremser sein.
Den Weg, die gesellschaftlichen Mehrheiten für die
Agenda 2010 zu gewinnen, ist die Regierungskoalition
so konsequent gegangen, wie das die Bürgerinnen und
Bürger von denen erwarten, die Verantwortung tragen:
klar in der Auseinandersetzung, aber geschlossen in den
Entscheidungen und vor allen Dingen entschlossen, die
richtigen Koordinaten für unser Land und seine Zukunft
zu setzen.
Zu den strukturellen Reformen, über die ich geredet
habe, musste der Bundeshaushalt 2004 passen. Der Bundesfinanzminister hat deshalb einen Haushalt vorgelegt,
der den wirtschaftlichen und den politischen Anforderungen - entsprechend den geschilderten Koordinaten Rechnung trägt.
({21})
Dieser Haushalt folgt der Linie der Konsolidierung. Er
macht Ernst mit einem nachhaltigen Einstieg in den
Subventionsabbau und er gibt damit Raum für zukünftiges Wachstum. Nun weiß auch ich: Subventionsabbau
ist ein Ziel, das in der Regel alle gut finden, außer es betrifft sie selber.
({22})
Viele Subventionen - seien es Finanzhilfen oder seien es
steuerliche Subventionen -, an die wir uns aus rechtlichen
Gründen langzeitig gebunden haben, könnten auch dann
nicht sofort reduziert werden, wenn wir das aus Gründen
gesamtwirtschaftlicher Vernunft tun wollten. Aber gerade
weil wir durch die Agenda 2010 im Prozess der Strukturreformen vorankommen und weil wir mit dem
Bundeshaushalt 2004 einen nachhaltigen Subventionsabbau betreiben, haben wir uns den Freiraum erarbeitet,
durch vorgezogene Steuerentlastungen dieses wichtige Signal für Wachstum und damit für Beschäftigung zu geben.
({23})
Mir kommt es insbesondere darauf an, diesen Zusammenhang darzustellen. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Ohne die Festlegungen in der Agenda 2010,
ohne den dazu passenden Haushalt, der eine vernünftige
Balance zwischen Konsolidierung und dem Setzen von
Wachstumsimpulsen enthält, ohne beides wäre es nicht
verantwortbar gewesen, die Steuerreformstufe 2005 vorzuziehen. Nur alle drei zusammen ergeben jenen Dreiklang, der uns nach vorne bringen kann und wird, jenen
Dreiklang, der für mehr Wachstum und damit für mehr
Beschäftigung in Deutschland sorgen wird.
({24})
Natürlich haben wir uns die Antwort auf die Frage,
wie man in der jetzigen Situation handeln kann und handeln muss, nicht leicht gemacht. Tatsache ist, dass wir
- neben der Einleitung der Strukturreformen - in einer
Situation sind, in der die Konjunkturforscher - mit
Recht - auf ermutigende Zeichen verweisen. Die Geschäftsklimaindizes haben sich positiv entwickelt. Die
Binnennachfrage bewegt sich etwas nach vorne, insbesondere die Konsumnachfrage.
Daneben gibt es - wer weiß das nicht? - natürlich
auch Zeichen, die Sorgen machen müssen, zum Beispiel
die veränderten Euro-Dollar-Relationen, die dem Export
mehr Schwierigkeiten machen, als wir uns wünschen
würden; aber gerade deshalb kommt es jetzt darauf an
- dieser Zusammenhang ist mir wichtig -, die ermutigenden Zeichen zu verstärken, damit diese und nicht die
anderen Tendenzen dominieren.
({25})
Darum konnten wir es verantworten, die ohnehin beschlossene dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen.
Von all denjenigen, die - aus welchen Gründen auch
immer - jene Teile der Finanzierung des Vorziehens, die
den Subventionsabbau betreffen, kritisieren und nicht
mitmachen wollen - es gibt entsprechende Erklärungen,
jedenfalls gab es sie -, muss und von denen wird verlangt werden, dass sie Gegenvorschläge machen. Nur
Nein sagen geht nicht mehr; die Zeit der Neinsager ist zu
Ende.
({26})
Wir sind bereit - ich habe das angekündigt und dazu
stehen wir -, mit jedem, der Verantwortung trägt - ich
denke an die Opposition oder an die Mehrheit im Bundesrat -, über die Vorschläge, die wir gemacht haben,
ihre Durchsetzung, ihre innere Gestaltung und auch ihre
Veränderung zu reden.
({27})
Wenn sich erweist, dass die Vorschläge anderer zum
Subventionsabbau sinnvoller sind, dann sind wir bereit,
diese Vorschläge aufzugreifen.
({28})
Ich will dabei nur eines deutlich machen: Es geht mir
darum, dazu beizutragen, dass in unserem Land die aktiv
Beschäftigten, die das Einkommen für sich selbst und
für ihre Familien durch Arbeit in den Dienstleistungszentren, in den Fabriken beziehen, der Maßstab für den
Abbau von Subventionen sind. In den letzten Jahren
wurden in Betrieben freiwillige Leistungen - das ist teilweise nachvollziehbar - abgebaut. Weil das so ist, darf
unser Augenmerk nicht allein darauf gerichtet sein, die
Transfereinkommen möglichst ungeschmälert zu erhalten. Dies wäre gegenüber denjenigen, die die Leistungsträger bei der Entwicklung der volkswirtschaftlichen
Wertschöpfung sind, nicht gerecht.
({29})
Ich möchte abschließend auf das zurückkommen, worauf ich eingangs hingewiesen habe: Vor uns liegen gewiss schwierige Monate, in denen eine große Kraftanstrengung notwendig sein wird, um wirksam werden zu
lassen, was für Deutschland notwendig ist. Wir suchen
die konstruktive Zusammenarbeit mit der Mehrheit im
Bundesrat; denn die Menschen in Deutschland wissen,
dass wir diese Zusammenarbeit jetzt brauchen. Sie erwarten sie von uns, weil es um unser Land geht.
Die Bundesregierung ist zu dieser Gemeinschaftsleistung bereit. Sie begrüßt sehr, dass die Gespräche über
die Gesundheitsreform offenbar gut vorankommen. Als
vertrauensbildende Maßnahme haben wir deshalb den
Termin für die abschließende Lesung unseres Gesetzentwurfs im Bundestag storniert. Wir denken allerdings,
dass die Erwartung, dass es zu weiterer konstruktiver
Zusammenarbeit kommt, gerechtfertigt ist.
({30})
Was die Rentenversicherung angeht, so will ich zunächst noch einmal darauf hinweisen, dass die RentneBundeskanzler Gerhard Schröder
rinnen und Rentner am 1. Juli - das war vorgestern - turnusgemäß erhöhte Rentenzahlungen bekommen haben.
({31})
Ich will noch einmal an Folgendes erinnern: Wir haben
mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode
die Säule der Kapitaldeckung neben die der Umlagefinanzierung gestellt. Damit haben wir in Deutschland bereits in großen Teilen das umgesetzt, was Partner- und
Nachbarländer noch vor sich haben. Aber wir haben damals noch zu sehr auf die konjunkturelle Entwicklung
vertraut. Deswegen und wegen der dramatischen Veränderungen in der Demographie werden wir in dieser
Frage strukturell noch einmal nacharbeiten müssen. Das
Ziel bleibt: Die Rentner müssen einen guten Lebensstandard haben. Die arbeitenden Generationen dürfen nur
mit einem Beitrag belastet werden, den sie auch tragen
können. Deshalb wollen wir erreichen, dass der Beitragssatz in diesem Jahr bei 19,5 Prozent bleibt. Wir
wollen und müssen den weiteren Anstieg der Lohnnebenkosten begrenzen.
({32})
In der zweiten Hälfte dieses wichtigen
Reformjahres 2003 werden wir uns darauf konzentrieren, wie die Menschen in Deutschland für gute Arbeit
gutes Geld verdienen können. Wir machen die Strukturreform nur aus einem einzigen übergeordneten Grund:
({33})
damit Deutschland auch in Zukunft ein guter Sozialstaat
und eine moderne Volkswirtschaft bleiben kann. Beides
gehört untrennbar zusammen.
({34})
Wir werden deshalb ein hohes Tempo einschlagen,
wenn es um Innovation und Familienpolitik, um bessere
Bildung und Betreuung, um bessere Möglichkeiten für
Forschung und Entwicklung geht. Wir wollen nicht nur
ein kurzfristiges Signal des Aufbruchs. Wir sagen den
Menschen in Deutschland nicht nur: Konsumiert und
gebt euer Geld aus! Wir sagen ihnen vielmehr: Es lohnt
sich, in diesem Land zu arbeiten und zu leben, zu investieren und zu konsumieren. Wir sagen ihnen: Lasst euch
nicht irremachen von denen, die schon wieder warnen
oder den Impuls zerreden, den wir mit den Steuersenkungen gerade geben wollen!
({35})
Ich habe am 14. März über die Neunmalklugen in der
öffentlichen Diskussion gesprochen, über diejenigen, denen immer alles entweder zu weit oder nicht weit genug
geht. Wir können heute sagen, denke ich, dass wir mittlerweile einen gewaltigen Schritt vorangekommen sind.
({36})
Heute haben wir einen großen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit und über die Richtigkeit
der Agenda 2010. Wir haben aus der Bevölkerung eine
große Zustimmung zur vorgezogenen Steuersenkung:
von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von
all denen, die in diesem Land etwas unternehmen wollen. Was wir tun, haben wir vernünftig durchgerechnet.
({37})
Wir wissen deswegen, dass Deutschland das schultern
kann und dass Deutschland das schaffen wird.
({38})
Ich denke, meine Damen und Herren, es ist deutlich geworden: Die Menschen in unserem Land wollen Bewegung.
({39})
Sie haben verstanden, dass das notwendig ist.
Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer von
Ihnen sich mit welchen Tönen auch immer verweigert, der
sollte aufpassen, dass er sich nicht darin irrt, ob die Menschen in Deutschland jene Form der Zusammenarbeit, die
ich Ihnen noch einmal anbiete, nicht doch wollen.
({40})
Ich glaube nicht, dass Sie sonderlich viel davon haben
werden, wenn Sie dieses Angebot ausschlagen.
({41})
In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({42})
Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Deutschland bewegt sich“ - so der Titel Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler. Für mich und viele andere
stellt sich allerdings, nach der Regierungserklärung noch
mehr als vorher, die Frage: Wohin?
({0})
Was ist die Richtung dieser Bewegung? Ich zitiere:
Wir werden - wie geplant - die nächsten Stufen der
Steuerreform … am 1. Januar 2004 und … am
1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.
… Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar
gegenüber denjenigen sagen, die als Patentrezept
Steuersenkungen, bis der Staat draufzuzahlen hat,
anbieten.
Das hat nicht irgendwann irgendwer gesagt, sondern das
haben Sie, Herr Bundeskanzler, uns zur Einleitung der
neuen Etappe Ihrer Politik bei der Vorstellung der
Agenda 2010 am 14. März dieses Jahres erklärt. Das waren Ihre Worte.
({1})
Herr Bundeskanzler, damals hatten wir 4,5 Millionen
Arbeitslose, damals hatten wir Nullwachstum. An dieser
Situation hat sich nichts verändert.
({2})
Heute aber behaupten Sie, den Freiraum dafür zu haben,
Steuersenkungen vorschlagen zu können. Ihr Bundesfinanzminister erklärt, eine Neuverschuldung im Bundeshaushalt für das nächste Jahr, den er gestern vorgestellt
hat, von über 7 Milliarden Euro über der verfassungsrechtlichen Grenze sei ganz normal.
Jetzt frage ich Sie einfach: Was ist die Richtung Ihrer
Politik?
({3})
Man muss ja wenigstens wissen, wie die Richtung im jeweiligen Quartal aussieht.
({4})
Ich sage Ihnen, das Problem Ihrer Politik besteht darin,
dass Sie nur ein Entweder-oder kennen. Aus diesem Entweder-oder entsteht für die Menschen in diesem Lande
genau das nicht, was wir so dringend brauchen, nämlich
Verlässlichkeit der Politik und Vertrauen in die Veränderungen, die notwendig sind.
({5})
Deshalb kann die Gleichung eben nicht lauten: Entweder
Steuerentlastung, aber dafür unsolide Finanzen oder solide Finanzen, aber dafür Steuerbelastung, sondern die
Gleichung - dafür steht die Union in diesem Lande ({6})
muss lauten: Solide Finanzen ja, Steuerentlastungen ja,
Strukturreformen ja. Das brauchen wir. Dreimal ja und
kein Entweder-oder, so lautet unsere Alternative.
({7})
Deshalb heißt es: Wir brauchen Reformen aus einem
Guss.
({8})
Reformen muss man richtig machen. Natürlich ist es so
- niemand von uns bezweifelt das -, dass die Menschen
in diesem Land Entlastungen brauchen, steuerliche Entlastungen, auf die sie sich verlassen können und die
haltbar und tragfähig sind. Deshalb drängt die Zeit.
({9})
Aber, meine Damen und Herren, die Menschen in diesem Land haben genug Enttäuschungen erlebt. Deshalb
haben Edmund Stoiber und ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, geschrieben
({10})
- bleiben Sie ganz ruhig -, dass die Zeit drängt und dass
wir natürlich, genau wie Sie, wollen, dass für die Menschen Entlastungen, solide Finanzen und keine zusätzlichen Belastungen geschaffen werden. Aber aus Ihrer
Antwort schließe ich, dass dabei ein Missverständnis
entstanden ist. Wir haben nicht darum gebeten, außerhalb der normalen Ordnung mit Ihnen Gespräche zu führen, sondern wir haben darauf gepocht, dass Sie das tun,
was Ihre Arbeit ist, dass Sie nämlich das, was Sie wollen, ganz konkret untermauern
({11})
und dass Sie Vorschläge machen, wie diese Dinge umgesetzt werden sollen.
({12})
Wir haben dazu bei uns in der Fraktion eine ganz
klare Beschlusslage.
({13})
Diese heißt: Wir wollen ein Vorziehen der Steuerreform 2005.
({14})
- Ihr Bundeskanzler hat Ihnen eigentlich gerade ins
Stammbuch geschrieben, wie die Stimmung im Land ist
und wie man sich angesichts dessen zu verhalten und
über vernünftige Lösungen zu reden hat.
({15})
Wenn Sie glauben, Sie könnten hier rumgackern, dann
sind Sie fehl an diesem Platz; das sage ich Ihnen ganz
klar.
({16})
Wohl niemand von Ihnen wird doch infrage stellen,
dass man für ein Vorziehen der Steuerreform eine seriöse
Finanzierung braucht, dass man aufpassen muss, dass
nicht das, was in die rechte Tasche gegeben worden ist,
aus der linken wieder herausgenommen wird,
({17})
dass man schauen muss, was an strukturellen Reformen
wirklich erreicht worden ist.
Deshalb sage ich Ihnen: Uns geht es - die Grundsätze
sind klar - jetzt um die konkrete Umsetzung. Herr Bundeskanzler, von Sprüchen allein erneuert sich dieses
Land nicht.
({18})
In Neuhardenberg haben Sie dem Publikum verkündet,
Sie wollten das Vorziehen der Steuerreform durch einen
Mix aus Kreditfinanzierung, marktgerechtem Erlös von
Privatisierungen und Subventionsabbau erreichen. Gestern hat Ihr Finanzminister einen Haushalt vorgelegt,
({19})
in dem die gesamte Finanzierung der Steuerreform mit, wie
er so nett sagte, einem technischen Detail versehen wurde,
nämlich einer Neuverschuldung von 7 Milliarden Euro.
({20})
Das eine war am Sonntag, das andere am Mittwoch. Ich
frage Sie: Was gilt?
Wir haben heute früh alle aufmerksam verfolgt, wie
Herr Poß im Deutschlandfunk gesagt hat,
({21})
es werde die Zeit kommen, zu der Sie konkrete Vorschläge vorlegen. Herr Bundeskanzler, Sie haben Edmund
Stoiber und mir geantwortet: Wir werden dem Deutschen Bundestag Vorschläge vorlegen und - das haben
Sie übrigens gleich als freudsche Fehlleistung hinzugefügt - dafür eine Mehrheit bekommen; das haben wir gar
nicht infrage gestellt. Wenn Sie diese Vorschläge vorlegen - das ist mein Angebot -, dann werden wir unverzüglich mit Ihnen in Beratungen eintreten,
({22})
egal ob es in der Sommerpause, vorher oder nachher, im
Juli oder im August ist - wann immer Sie wollen -, aber
Sie müssen diese Vorschläge vorlegen, Herr Bundeskanzler.
({23})
Ich sage Ihnen dies in aller Deutlichkeit: Wir verlangen diese klare Vorlage und es wird über das Vorziehen
der Steuerreform keine Detaildebatte geben, bevor Sie
nicht gesagt haben, wie Sie es finanzieren wollen.
({24})
Dies ist die Arbeitsteilung, die man in einem Land erwarten kann, in dem die einen die Regierung stellen und
die anderen in der Opposition sitzen. Wenn Sie, Herr
Bundeskanzler, glauben, dass Sie diese Arbeitsteilung
aufheben müssen, weil Sie nicht in der Lage sind, selber
Vorschläge zu machen, dann bleibt nur eines: Dann müssen Sie den Platz, auf dem Sie sitzen, verlassen, und
zwar umgehend.
({25})
Herr Bundeskanzler, der Stabilitätspakt kam in Ihrer
Rede nur ansatzweise vor. Der für die Finanzen zuständige EU-Kommissar Pedro Solbes hat Ihnen am 1. Juli
dieses Jahres ins Stammbuch geschrieben: „Ein Defizit
über 3 Prozent im Jahre 2004“ - das wäre im dritten Jahr
in Folge - „würde inkompatibel mit den Haushaltsregeln
der Europäischen Union sein.“ Sie sagen hier, dass dieser Haushalt der Linie der Konsolidierung folgt.
({26})
Als Tüpfelchen auf dem i sagen Sie: Was wir tun, haben
wir gut durchgerechnet.
({27})
Man kann zwar vieles versuchen, aber man darf die
Menschen im Lande nicht verhöhnen. Es ist doch offensichtlich - Herr Eichel, Sie wissen es besser als alle anderen, weil es Ihre Beamten Ihnen sagen -,
({28})
dass dieser Haushalt auf Sand gebaut ist, weil er ein außergewöhnliches Produkt von Luftbuchungen sowie von
getürkten und geschönten Zahlen ist, die vorne und hinten nicht stimmen.
({29})
Bei diesem Haushalt setzen Sie - auch das ist einzigartig
in Deutschland - die Zustimmung zu Gesetzesvorhaben
voraus, die Ihnen im Bundesrat vor zwei Monaten verweigert wurde.
({30})
Noch bevor Sie von Steuersenkungen gesprochen haben, wurden die Vorschläge der Ministerpräsidenten
Koch und Steinbrück zum Subventionsabbau berücksichtigt, damit dieser Haushalt überhaupt verfassungskonform ist.
({31})
Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, uns immer einzureden, wir brauchten noch mehr Subventionsabbau,
({32})
zusätzlich zu dem, der schon im Haushalt eingerechnet
worden ist. Dann sagen Sie doch bitte einmal, an welcher Stelle. Halten Sie die Menschen in diesem Lande
nicht für dumm und unterstellen Sie ihnen nicht, dass sie
nicht unterscheiden können zwischen dem Subventionsabbau, der schon im Haushalt eingerechnet worden ist,
und dem Subventionsabbau, der für ein Vorziehen der
Steuerreform zusätzlich notwendig ist! So dumm sind
die Menschen in diesem Lande nicht. Deshalb werden
sie sich das nicht gefallen lassen.
({33})
Es kommen noch weitere Unsicherheiten hinzu. Sie
wollen zwar den Mittelstand entlasten und diejenigen
fördern, die den Weg in die Selbstständigkeit gehen.
Aber schauen Sie sich einmal an, welche Unsicherheiten
sozusagen noch im Hintergrund lauern: ein SPD-Parteitagsbeschluss, ein Parteitagsbeschluss von den Grünen,
die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und eine Ausbildungsabgabe. All das soll im November beraten werden. Glauben Sie wirklich, dass sich ein Klima für Investitionen und von Aufbruch in diesem Lande einstellt,
wenn die Menschen mit diesen Unsicherheiten leben
müssen?
({34})
Ich glaube es nicht. Wir verstehen, dass die Menschen in
diesem Lande nicht investieren, sondern dass sie Klarheit und Wahrheit über das, was notwendig ist, wollen.
({35})
Deutschland bewegt sich - aber sehr vieles nur auf
der Stelle. Es gibt seit dem 14. März nicht ein einziges
Gesetzgebungsvorhaben,
({36})
das schon im Gesetzblatt steht. Manches ist zwar wenigstens auf den Weg gebracht worden, aber das Allermeiste ruht noch.
({37})
- Es liegt nicht daran, dass wir uns verweigern.
({38})
- Die Ausblendung der Wirklichkeit war noch nie ein guter Ratgeber. Wir haben hier Woche für Woche gewartet.
({39})
Aber Sie kamen nicht zu Potte, weil Sie Ihre Sonderparteitage - die SPD hat am 1. Juni und die Grünen haben
erst am 14. Juni getagt - abwarten mussten. Wir könnten
in diesem Lande schon viel weiter sein. Das ist doch die
Wahrheit.
({40})
Es bestreitet doch überhaupt kein Mensch, dass in der
Agenda 2010 Schritte in die richtige Richtung enthalten
sind.
({41})
Ich will an dieser Stelle noch einmal Kommissar Solbes
zitieren. Er hat gesagt, es sei nur ein erster Schritt und es
würden noch weitaus profundere und wichtigere Reformen notwendig sein.
({42})
Herr Bundeskanzler, Sie sprechen von einem beispiellosen Kraftakt, den Sie bewältigt haben. Dieser mag
nach innen stattgefunden haben. Aber das Land hat von
diesem Kraftakt noch nichts gemerkt. Die Situation ist
die gleiche wie im März.
({43})
Ich muss sagen, dass wir viele unerledigte Aufgaben
haben: die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Gemeindefinanzreform. Das Jahr ist
bald zu Ende.
({44})
Sie haben über die Rentner gesprochen. Sollen wir
Sie eigentlich dafür loben, dass die Rentner die gesetzlich zugesagte Rentenerhöhung am 1. Juli pünktlich bekommen? Wohin sind wir eigentlich gekommen? Die
Rentner wissen nicht, was im nächsten Jahr Sache sein
wird. Sie wissen nicht, ob sie eine Erhöhung ihrer Renten bekommen werden oder ob die Schwankungsreserve
auf Null gestellt werden wird. Sie sind voll und ganz in
der Hand eines Finanzministers, der seinen Haushalt
nicht mehr im Griff hat. Das ist die Wahrheit für die
Menschen in diesem Lande.
({45})
Es war immer ein gemeinsames Gut dieses ganzen
Hauses, dass Menschen, die auf eine Lebensleistung im
Arbeitsleben zurückblicken, nicht von der Kassenlage
des Bundeshaushalts abhängig sind. Wir werden dafür
Sorge tragen, dass Rentnerinnen und Rentner wieder auf
eine verlässliche Rentenformel bauen können und nicht
mehr länger Spielball Ihrer politischen Interessen sein
werden.
({46})
Meine Damen und Herren, Solbes sagte, wir benötigten mutige Reformen für den Arbeitsmarkt. Nach langem Zögern und Warten hat Herr Clement etwas vorgelegt. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Von Mut kann an
dieser Stelle keine Rede sein.
({47})
Wir haben einen alternativen Gesetzentwurf in die Beratungen zur Reform des Arbeitsmarktes eingebracht, der
seinen Namen verdient. Ich nenne nur einige Punkte aus
diesem Gesetzentwurf.
Herr Clement, Sie gehen an den Kündigungsschutz
- das wissen Sie selbst - mehr kosmetisch heran, als
dass es wirklich hilft. Was bedeutet es eigentlich, wenn
in einem Betrieb mit fünf Beschäftigten der sechste bis
hundertste Beschäftigte nicht mehr gezählt wird, wenn
er einen befristeten Arbeitsvertrag hat? Das fördert doch
nur das Abschließen befristeter Arbeitsverträge, bringt
aber den Menschen, die einen Job annehmen, keine Verlässlichkeit. Deshalb haben wir hierzu viel bessere Vorschläge gemacht. Übernehmen Sie sie; dann ist dieses
Land besser dran.
({48})
Meine Damen und Herren, zum Kernstück unserer
Arbeitsmarktreform: Sie werden nicht daran vorbeikommen, sich dem Thema betriebliche Bündnisse für
Arbeit zu widmen. In den vergangenen Wochen haben
wir einen Streik der IG Metall erlebt, der an den Menschen dieses Landes, vor allen Dingen an den Beschäftigten in den neuen Bundesländern, vollkommen vorbeigegangen ist. Zum Schluss haben die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den Füßen
abgestimmt, weil sie keine rechtliche Grundlage dafür
hatten, für sich betriebliche Regelungen zu finden, wie
wir sie in unserem Gesetzentwurf vorschlagen. Wenn Sie
es mit dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirklich ernst meinen und sie letzten Endes
nicht unter den Druck von ganz anderen Kräfteverhältnissen kommen sollen, dann sollten Sie aus dem Verhalten der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lernen und endlich das Thema betriebliche
Bündnisse für Arbeit auf die Tagesordnung setzen, damit
vernünftige Lohnvereinbarungen möglich werden. So
könnten die Beteiligten auch die Flexibilität aufbringen,
die man in Zeiten der Globalisierung braucht, damit die
Arbeitsplätze nicht in andere Länder, etwa nach Mittelund Osteuropa, abwandern. Das ist die Wahrheit.
({49})
Ich kann Ihnen nur eines anbieten: Machen Sie das,
was Sie im Niedriglohnbereich gemacht hatten. Gehen
Sie in den Vermittlungsausschuss und übernehmen Sie
unseren Gesetzentwurf.
({50})
Dann wird Deutschland einen wirklichen Schritt nach
vorn machen. Sie loben inzwischen ja selbst, was im
Niedriglohnbereich geschehen ist.
Meine Damen und Herren, wir haben die Kooperation
im Bereich des Gesundheitssystems mit der Absicht angenommen, redliche, ehrliche, faire Verhandlungen zu
führen. Unser gemeinsames Ziel ist die Begrenzung des
Beitrags auf 13 Prozent. Wir werden darauf achten, dass
das Ergebnis dieser Verhandlungen nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern eine tragfähige Grundlage
sein wird, die den Menschen in diesem Lande ein Stück
Sicherheit gibt.
({51})
Aber Tatsache ist auch, dass Sie in vielen Bereichen
weit weg davon sind, die notwendigen strukturellen Reformen anzupacken. Ihnen ist bis heute überhaupt nicht
das gelungen, was dieses Land eigentlich braucht: eine
Diskussion über die Ziele dessen, was Sie tun. Womit
sollen und wollen die Menschen in diesem Land in den
nächsten zehn Jahren ihr Geld verdienen? Welche Arbeitsplätze braucht Deutschland und was tun wir dafür,
damit sie erhalten werden? Schauen Sie einmal in Ihren
Haushalt: Die Ausgaben für die Verkehrsinfrastruktur
sind trotz Mautgebühren geringer als im vergangenen
Jahr,
({52})
es gibt Unsicherheit in der Forschungslandschaft aufgrund des Wegfalls der Mittel aus den UMTS-Lizenzen.
Schauen Sie sich einmal die Debatte über die Verpackungsverordnung an. Es dürfte überhaupt nur ein Kabinettsmitglied geben, das dieses Thema mit Freude erfüllt. Deutschland diskutiert Stunden und Aberstunden
und verliert wegen hirnrissiger Vorschläge des Bundesumweltministers zur Verpackungsverordnung Arbeitsplätze.
({53})
Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass es das zentrale
Problem Deutschlands ist, ob nunmehr auch kleine Glasfläschchen mit Apfelsaft bepfandet werden sollen? Haben Sie schon einmal überlegt, dass man bestimmte Sorten von Colaflaschen überhaupt nicht mehr bekommt,
weil man sie nur noch dort abgeben kann, wo man sie
gekauft hat, und keine Flaschen mehr bei Coca-Cola ankommen? Der Schwachsinn kennt an dieser Stelle keine
Grenzen! Machen Sie endlich etwas Vernünftiges daraus!
({54})
Herr Bundeskanzler, es reicht nicht, wenn Sie auf irgendeiner Versammlung sagen, dass Ihnen das Regime,
nach dem die CO2-Lizenzen in Deutschland berechnet
werden sollen, suspekt erscheint. Sie müssen auf europäischer Ebene darauf achten, dass solche Regelungen
handhabbar sind. Sie müssen auf europäischer Ebene dafür eintreten, dass keine Chemikalienrichtlinie geschaffen wird, die in Deutschland die gesamte chemische Industrie zu Boden reißt.
({55})
Sie müssen darauf achten, dass der gesamte pharmazeutische Bereich nicht durch eine Positivliste kaputtgemacht wird. Wenn Sie die Arbeitsplätze der Zukunft haben wollen, dann geht das über die Strukturreformen, die
Sie bisher benannt haben, weit hinaus
({56})
und erfordert Forschungsfreundlichkeit sowie Technologiefreundlichkeit - und die vermisse ich bei denjenigen,
die in der Mitte dieses Saales sitzen, ganz besonders.
({57})
Deshalb sage ich Ihnen: Deutschland muss wieder
nach vorne kommen.
({58})
Das ist unser aller Anliegen.
({59})
Sie haben in den letzten viereinhalb Jahren nichts, aber
auch gar nichts dazu beigetragen.
({60})
- Herr Poß, ich habe das heute früh schon einmal gehört
und möchte deshalb darauf eingehen: Wer hat wen mies
gemacht und wer hat die Realitäten beim Namen genannt?
({61})
Wenn wir im vorigen Jahr gesagt hätten: „Es wird in diesem Jahr im Bundeshaushalt eine Nettoneuverschuldung
von 40 Milliarden Euro geben“, dann hätten Sie uns geziehen, dass wir Deutschland schlechtreden. Inzwischen
ist dies die Realität.
Es hat doch keinen Sinn, dass wir den Kopf in den
Sand stecken und uns nicht mit den realen Fakten auseinander setzen. Der Bundeskanzler hat hier wieder ein
kleines Gemälde von Hoffnung und Freude gezeichnet.
Aber schauen Sie sich doch einmal die Lage der Gemeinden bzw. der Kommunen an! Schauen Sie sich einmal an, wie hoch zurzeit die Investitionen in Deutschland sind!
({62})
Schulen können nicht mehr renoviert werden, Bibliotheken erhöhen die Gebühren und Schwimmbäder schließen.
({63})
Verschließen Sie doch nicht die Augen davor,
({64})
dass Sie eine Politik betrieben haben, die in diesem
Lande kein Wachstum ermöglicht, sondern es zurückgedrängt hat und dass Deutschland deshalb in der derzeitigen Lage ist.
({65})
Wir glauben an die Kraft der Menschen in diesem
Lande. Wir glauben daran, dass Deutschland seinen Anteil an der Globalisierung und seine Chancen nutzen
kann. Wir glauben daran, dass wir bestimmte Dinge
punktuell gemeinsam machen können. Aber, Herr Bundeskanzler, es bleibt auch die Zeit des Streites über den
besten Weg dafür, dass, wenn man dieses Land verlässt
und sich im Ausland über Deutschland unterhält, wieder
gesagt wird: Dieses Land ist wirklich in Bewegung. Wenn Sie heute nach Brüssel, nach Washington oder
nach Peking fahren, dann fragen die Menschen: Warum
schafft ihr es nicht, den Transrapid zu bauen? Warum
schafft ihr es nicht, Wachstum zu generieren? Warum
seid ihr die Letzten in Europa?
Deshalb sage ich Ihnen: Ohne Streit werden Sie nicht
voranzubringen sein. Wir sind die Kraft, die Sie in Bewegung setzt.
({66})
Dabei wollen wir Ihnen weiterhelfen.
Herzlichen Dank.
({67})
Ich erteile das Wort Kollegen Franz Müntefering,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Merkel, die Antwort auf Ihre Eingangsfrage ist ganz einfach: Wohin geht die politische Reise in
Deutschland? Nach vorne!
({0})
Die Wahrheit ist einfach - Ihre Kurzsichtigkeit ist keine
Entschuldigung dafür, dass Sie hier so tun, als ob das
nicht zu erkennen wäre -: In den rund 100 Tagen seit
dem 14. März, seit der Agenda 2010
({1})
ist in Deutschland vieles in Bewegung gekommen.
({2})
Sie könnten das erkennen, wenn Sie wollten. Sie wollen
es nicht erkennen. Deshalb haben Sie heute eine Selbstfindungsrede gehalten. Sie haben eine Fraktionsrede gehalten. Wenn der eigene Laden so durcheinander ist wie
bei Ihnen, dann muss man seine eigene Truppe ansprechen. Das haben Sie getan. Aber Sie haben nichts zu der
Frage gesagt, wie es in unserem Land weitergeht.
({3})
Wir haben mit der Agenda 2010, in diesen 100 Tagen
beginnend und verstärkt, den Paradigmenwechsel der
Politik in Deutschland eingeleitet. Das war schwer. Das
bleibt schwer. Da gibt es viele Widerstände. Wir haben
uns an vielen Stellen durchgesetzt. Die Einsicht und die
Zustimmung zu diesem Projekt wachsen.
Wir haben vor allen Dingen mit der gefährlichen
Selbstzufriedenheit Schluss gemacht, die in den 90erJahren in Deutschland gang und gäbe war. Jahr für Jahr
haben wir und haben auch Sie auf eine starke Konjunktur gehofft, die die Strukturfragen des Landes irgendwie
löst oder überdeckt. Wir haben darauf gehofft, dass ein
hohes Wachstum in Deutschland uns davor bewahrt,
Strukturen verändern zu müssen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Wer dieser Erkenntnis ausweicht, der kann
den Ansprüchen der Politik für die Zukunft nicht gerecht
werden. Wir haben daraus die Konsequenzen gezogen.
({4})
Die Agenda 2010 ist längst ein Bündel konkreter
Maßnahmen geworden. Sie ist auch im europäischen
Ausland und in der Welt zum Synonym für die Handlungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in Deutschland
geworden.
({5})
- Sie mögen das leicht nehmen. Aber es ist so. Herr
Niebel, wenn man sich mit den Politikern in anderen
europäischen Ländern - dazu hatten wir am letzten Wochenende Gelegenheit -, aber auch darüber hinaus unterhält, dann merkt man: Die Welt, Europa zumal, schaut
darauf, was wir in Deutschland mit der Agenda 2010
machen, ob wir den Mut und die Kraft haben, sie umzusetzen und aus ihr in vielerlei Hinsicht praktische Politik
zu machen.
Ziel ist, Innovationen zu stärken, den Kommunen zusätzliche Investitionskraft zu geben, den Arbeitsmarkt zu
modernisieren, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsgerecht zu machen - immer mit der Zielsetzung,
Wohlstand zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu ermöglichen.
({6})
Nun sind die Umfrageergebnisse für uns, die Sozialdemokraten, in den letzten Wochen und Monaten nicht
gut. Das sehen wir. Auch damit muss man sich auseinander setzen; das tun auch Sie. Aber wir machen
keine Politik entlang der Zahlen des „Politbarometers“
und werden das auch in Zukunft nicht tun. Vielmehr orientieren wir uns an den Interessen dieses Landes. Das
wird sich zum guten Schluss auszahlen.
({7})
Wer in dieser Gesellschaft Vertrauen gewinnen will,
der muss aufhören, nach der Melodie zu singen, die viele
von uns - auch Sie, auch wir - sich in den vergangenen
Jahren angewöhnt haben: Mal schauen, was die Menschen meinen. - Nein, wir müssen hören, was sie wollen
und was ihre Sorgen sind, aber dann die politischen
Konsequenzen daraus ziehen und die Menschen auf diesem Weg mitnehmen. Das werden wir auch in Zukunft
tun. Wir werden nicht auf das „Politbarometer“ schauen.
Wir werden mit unserem praktischen Handeln das Vertrauen der Menschen gewinnen. Das wollen wir und das
erreichen wir auch.
({8})
Wir haben uns in den letzten Tagen natürlich die
Frage gestellt: Wo ist die Opposition? Frau Merkel, ich
habe gelernt: Sie sitzen im Wartehäuschen. Das haben
Sie uns eben mitgeteilt.
({9})
Sie hatten über lange Zeit Gelegenheit, sich im Windschatten unseres Regierungshandelns einen weißen Fuß
zu machen.
({10})
- Herr Schauerte auch. Das ist so weit in Ordnung. Aber
nun kommt der Punkt, an dem auch Sie eine Meinung
haben müssen. Ich weiß nicht, was bei Ihnen eigentlich
passiert ist. Der Bundeskanzler hat die Gesetze am
14. März angekündigt und wir haben sie vorbereitet.
({11})
Nun stellen wir fest: keine Ideen, keine Richtung, keine
Zuversicht, keine Meinung bei der Opposition.
({12})
Ihr Problem ist, Frau Merkel, dass Sie zu viel daran denken, wer wann bei Ihnen Kanzlerkandidat oder -kandidatin für 2006 werden könnte, und dass Sie zu wenig an die
Interessen dieses Landes denken.
({13})
Vergessen Sie das mit der Kanzlerkandidatenfrage, Frau
Merkel. Bis dahin wird hinter den Anden noch so mancher Pakt geschlossen werden.
({14})
Als es in den vergangenen Tagen nun darauf ankam,
gab es bei der Union kein Konzept zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz und kein Konzept zur Handwerksordnung.
(Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie können doch
zur Sache gar nichts sagen!
Sie haben lediglich pauschal alles abgelehnt, was wir auf
den Tisch gelegt haben. Da werden Sie sich noch korrigieren müssen.
({15})
Bei Ihnen war kein Konzept zu erkennen. Das wurde
nun auch am Wochenende deutlich, als es um das Vorziehen der Steuerreform ging. Solange Sie es selbst gefordert haben, fanden Sie es gut; jetzt, wo es konkret
wird,
({16})
wissen Sie nicht mehr, ob Sie dafür oder dagegen sein
sollen. Wenn man sich anguckt, was dazu in den letzten
Wochen und Monaten von Ihnen gesagt wurde, dann
wird das deutlich. Friedrich Merz am 21. Juni: „Wir sind
nicht bereit, Harakiri zu machen.“ CDU-Vorstand am
21. Juni 2003: „Die CDU Deutschlands will, dass die
Bürger weniger Steuern zahlen. Sie erwartet, dass die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der die
dritte Steuerreformstufe vorzieht.“ Das Ganze ist dann in
unnachahmlicher Weise von Herrn Stoiber am 30. Juni
auf den Punkt gebracht worden.
({17})
Edmund Stoiber: „Die Union sagt ja nicht Nein, sondern
die Union sagt: Ja, aber.“
({18})
Das ist die Situation, in der Sie sich bewegen. Das kann
man gar nicht toppen, das ist kabarettreif. Aber Sie werden sich entscheiden müssen, wenn Sie dabei sein wollen, meine Damen und Herren.
({19})
Es könnte sein, dass bei einigen von Ihnen nicht die
Interessen Deutschlands im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen, sondern dass sie sich in ihrem Oppositionsdenken verlieren. Das geht nicht, Frau Merkel. Wir
brauchen die Opposition im Bundesrat in diesem Herbst,
wobei ich weiß, dass es besonders für Sie, Frau Merkel,
schwer ist, wenn mitten im warmen Sommer in der
CDU/CSU der März ausbricht. Dadurch entsteht bei Ihnen ein ziemliches Chaos, das haben wir schon festgestellt.
({20})
Aber, meine Damen und Herren, die eigentliche Anstrengung beginnt erst; wir wissen das. Wir werden im
zweiten Halbjahr 2003 eine Reihe wichtiger Entscheidungen zu treffen haben, sowohl im Bundestag als auch
im Bundesrat. Im zweiten Halbjahr liegt die härtere Strecke des Jahres vor uns. Aber es wird sich in diesem Jahr,
in 2003, im Wesentlichen entscheiden, ob Deutschland
den Weg nach vorn findet - wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch, sozialpolitisch.
({21})
- Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. - Ich finde es
gut, dass wir begonnen haben, im Bereich des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes zu verhandeln. Sie, Frau
Merkel, haben eben angesprochen, dass ein Beitragssatz
von 13 Prozent erreicht werden soll. Ich sage: Ja, daran
werden wir mitarbeiten; das ist auch unser Ziel. Aber eines muss klar sein: Es kann nicht nur darum gehen, das
Geld, das für das Gesundheitswesen gebraucht wird,
anders zu finanzieren, sondern die Struktur des Gesundheitswesens muss so verändert werden, dass die Produktivität im Gesundheitswesen steigt und im Gesundheitswesen auch gespart werden kann. Das ist Bedingung für
das, was wir miteinander erreichen wollen.
({22})
Deshalb kann nicht die einfache Formel gelten: Was
die Arbeitgeber nicht mehr zahlen, damit die Lohnnebenkosten sinken, das müssen jetzt die Arbeitnehmer allein bezahlen, sondern wir werden einen vernünftigen
Mix erreichen müssen. Ich glaube, dass wir es das schaffen.
Zum Thema Kommunen. Frau Merkel, es ist richtig,
dass die Investitionskraft der Kommunen gestärkt werden muss. Das wissen wir schon lange. Sie aber haben
vor einigen Wochen nicht verhindert - vielleicht konnten
Sie es auch nicht -, dass im Bundesrat das Steuervergünstigungsabbaugesetz aufgehalten wurde. Dadurch
wären den Städten und Gemeinden bis zum Jahr 2006
6 Milliarden Euro zugekommen. Das haben Sie verhindert.
({23})
Es ist nicht ehrlich, dass sich die Bürgermeister und
Oberbürgermeister der CDU darüber beschweren, sie
hätten kein Geld, während Sie im Bundesrat verhindern,
dass sie Geld bekommen. Das ist nicht in Ordnung.
({24})
Wir werden eine Gemeindefinanzreform auf den Weg
bringen und die Gewerbesteuer aktivieren. Wir werden
die freien Berufe einbeziehen. Wir werden dafür sorgen,
dass die Kommunen durch die Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angemessen entlastet
werden. Denn wir wissen: Es ist besonders für die Handwerksbetriebe, für die kleinen und mittleren Unternehmen wichtig,
({25})
dass die Arbeit, die es vor Ort in den Städten und Gemeinden gibt, auch getan werden kann.
Es gibt auch weiterhin eine hohe Investitionsquote im
Haushalt des Bundes. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die
Investitionsquote sei im Jahr 2004 niedriger als in diesem Jahr. Das hängt im Wesentlichen damit zusammen,
dass im Haushalt des nächsten Jahres keine Mittel für
Flutopferhilfe enthalten sind. Das war nämlich der
Grund für die Höhe in diesem Jahr. Auch im nächsten
Jahr liegt die Investitionsquote bei etwa 25 Milliarden
Euro. Ein Großteil davon fließt in Maßnahmen in Ostdeutschland. Das ist gut so und soll auch so bleiben, weil
dort noch vieles aufzuarbeiten ist. Wir bleiben bei einer
hohen Investitionsquote des Bundes, auch zugunsten des
Ostens Deutschlands.
({26})
Mit dem Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit ist
gesichert, dass die ABM- und die SAM-Maßnahmen, so
wie am 14. März vom Bundeskanzler zugesagt, in Ostdeutschland im erforderlichen Umfang zur Verfügung
stehen. Wir wissen, dass es diese Maßnahmen nicht
mehr flächendeckend wie bisher in Deutschland geben
muss. Dort, wo sie nötig sind, werden die notwendigen
Mittel aber zur Verfügung stehen.
Wir haben die Änderung der Handwerksordnung
auf den Weg gebracht. Dazu gibt es Kritik, auch aus Ihren Reihen. Was mich nur wundert, ist, dass nach dem
Motto diskutiert wird: Alles oder nichts. Dabei wissen
wir doch ganz genau, dass mit Blick auf die Handwerksordnung etwas verändert werden muss, alleine um sie
europafest zu machen. Denn es besteht in Deutschland
die absurde Situation, dass Gesellen aus anderen Ländern Europas zu uns kommen und Betriebe aufmachen
können, ohne dass sie den Meisterbrief dafür brauchen.
Das bringt die Freizügigkeit in Europa mit sich. Umgekehrt gehen deutsche Gesellen aus Nordrhein-Westfalen
in die Niederlande und gründen dort Unternehmen, um
in Deutschland am Arbeitsmarkt tätig zu sein.
Es besteht also die Notwendigkeit, die Handwerksordnung zu verändern und sie europakompatibel zu machen. Dem dürfen wir nicht aus dem Weg gehen. Deshalb lautet meine herzliche Bitte an Sie, auch in diesem
Punkt aus der Totalopposition herauszukommen. Wir
wollen im Interesse des Handwerks, im Interesse der Gesellen, im Interesse des Arbeitsmarktes in Deutschland
und im Interesse der Bekämpfung der Schwarzarbeit die
Handwerksordnung modernisieren. Wir wollen sie öffnen und so dafür sorgen, dass es in diesem Bereich mehr
Impulse geben kann.
({27})
Wir werden in diesem Herbst Entscheidungen im Bereich Ausbildung zu treffen haben. Wir wissen, dass wir
mit unseren Ankündigungen den einen oder anderen in
der Wirtschaft verschrecken. Das wollen wir eigentlich
nicht. Wir wollen den Unternehmen nicht drohen, es
werde, wenn nicht eine ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung gestellt werde, etwas passieren. Allerdings ist Folgendes unverzichtbar - dazu
stehen wir -: Wir müssen in Deutschland erreichen, dass
die jungen Menschen, die aus der Schule kommen, die
Chance haben, eine Ausbildung oder eine Arbeit zu bekommen oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen auf
ihr Berufsleben vorbereitet zu werden. Wenn nicht ausreichend viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen
- es wird sich am 30. September zeigen, ob das Angebot
ausreicht oder nicht -, dann müssen wir als Politiker daraus Konsequenzen ziehen und dafür sorgen, dass die
jungen Menschen eine Chance bekommen. Da sind wir
in der Pflicht. Das werden wir auch erreichen.
({28})
Wir werden auch Entscheidungen im Bereich Innovationen zu treffen haben. Hierzu haben wir in der letzten Legislaturperiode viel getan und viel von dem aufgearbeitet, was Sie in den 90er-Jahren haben liegen lassen.
Wir werden auch im nächsten Jahr 3 Prozent mehr für
Großforschungseinrichtungen geben. Hier gibt es auch
Erfolge. Durch die Halbleiterförderung zum Beispiel haben inzwischen allein in Dresden etwa 11 000 Menschen
in diesem Bereich Beschäftigung gefunden, bei etwa
16 000 Menschen in der Bundesrepublik insgesamt.
Wenn man die Rechnung über Kosten und Nutzen aufmacht, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass etwa
2 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln hineinfließen,
dass aber etwa 6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2010 erwirtschaftet werden.
Wir haben erreicht, dass die Zahl der Menschen, die
in Unternehmen beschäftigt sind, welche sich schwerpunktmäßig mit Biotechnologie befassen, seit 1999 um
66 Prozent gestiegen ist; das sind 15 000 Arbeitsplätze.
({29})
Auch um die Intention, über Innovation, über neues
Wissen, über neue Fähigkeiten den Wohlstand langfristig zu sichern, wird es in diesem Herbst in Deutschland
gehen. Ich kann nur hoffen, dass Sie dabei sein werden.
({30})
Wir werden in diesem Herbst bei allen Themen, über
die wir zu diskutieren haben, auch über die Finanzpolitik, über die Stabilität und über das Wachstum, die damit
verbunden sind, sprechen. Wir werden dabei des Weiteren über unser gemeinsames Anliegen, uns durch Subventionsabbau Finanzierungsspielräume für öffentliche
Aufgaben zu verschaffen, sprechen.
Dabei werden wir Sie zunächst einmal an unser Anliegen erinnern, die Gewinnmindestbesteuerung möglich zu machen. Das haben Sie im Bundesrat abgelehnt.
Wenn ich mir manche Gesichter hier anschaue, dann
habe ich den Eindruck, es tut Ihnen ein bisschen Leid,
dass Sie dort so damit umgegangen sind.
({31})
Das Ziel, dass die großen Unternehmen Körperschaftsteuer mindestens für die Hälfte dessen zahlen, was sie als
Gewinn haben, ist nämlich ein legitimes Ziel. Wir werden
das erneut auf die Tagesordnung bringen. Sie werden sich
dann entscheiden müssen, was Sie tun wollen.
Außerdem werden wir einen Vorschlag zur Veränderung der Eigenheimzulage machen. Damit soll erreicht
werden, dass mehr in den Bestand investiert und mehr
Rücksicht auf die veränderte Lage am Wohnungsmarkt
und bei der Bevölkerungsentwicklung genommen wird.
Die Bevölkerungszahl wird in fünf bis zehn Jahren
schrumpfen. Die Zahl der Wohnungen in Deutschland ist
ausreichend, aber die Wohnungen sind nicht immer am
richtigen Platz. Deshalb ist es richtig, jetzt verstärkt darauf zu setzen, dass in den Bestand in den Stadt- und
Ortskernen investiert wird. Diesen Weg werden wir
Schritt für Schritt gehen. Das bedeutet, dass wir bis zum
Jahre 2010 etwa 4,4 Milliarden Euro für Investitionen in
den Bestand einsetzen, dies allerdings unter Aufgabe
dessen, was bisher an Eigenheimzulage gewährt worden
ist. Diese Tendenz ist richtig; gar keine Frage.
({32})
Meine Damen und Herren, wir werden ferner über die
Entfernungspauschale sprechen. Dabei wird es um die
Modalitäten gehen. Die Frage ist hier, ob Sie sich an der
Stelle bewegen. Wir wissen, dass wir in dieser Frage aufeinander zugehen müssen. Es gibt Argumente dafür,
hiermit sozialpolitisch und regionalpolitisch vernünftig
umzugehen. Mehr möchte ich dazu heute nicht sagen.
Den Hinweis darauf, dass wir mehrere Vorschläge dafür
gemacht haben, welcher Weg beschritten werden kann,
wollte ich hier allerdings noch kurz geben. Nun sind Sie
dran und müssen auch einmal deutlich machen, was Sie
sich eigentlich vorstellen, wenn Sie, Herr Merz, sagen,
dass es dafür einen Gegenfinanzierungsvorschlag geben
müsse. Was, bitte schön, meinen Sie damit?
In diesem Herbst gibt es ein weiteres ganz wichtiges
Thema, das auch der Kanzler angesprochen hat - die
Renten, die Alterssicherung -, das auch mit dem
Haushalt 2004 in Verbindung steht. Wir haben entschieden, dass im Haushalt festgelegt werden soll - so steht es
jetzt auch dort -, dass der Rentenversicherungsbeitrag
im Jahre 2004 nicht über 19,5 Prozent steigen soll und
dass der Bundeszuschuss für die Alterssicherung, für die
Rente um 2 Milliarden Euro reduziert wird. Das hat finanzielle Konsequenzen in einer Größenordnung von
etwa 5 oder 6 Milliarden Euro insgesamt. Darüber und
wahrscheinlich zeitgleich auch über die Pflegeversicherung wird zu sprechen sein, wenn im Oktober, so denke
ich, im Deutschen Bundestag die Rentengesetzgebung
auf der Tagesordnung steht. Ich weiß, dass dieses Thema
nicht populär ist. Ich möchte das bei dieser Gelegenheit
aber schon ankündigen, damit sich alle darauf einstellen
können, vielleicht dieses Mal auch Sie. Nutzen Sie also
die drei Monate und bilden Sie sich eine eigene Meinung
zu diesen Themen, damit Sie dann, wenn wir die Gesetze
auf den Tisch legen, handlungsfähig sind.
({33})
Im Wesentlichen wird es hierbei um den Nachhaltigkeitsfaktor bzw. um die Frage gehen, wie beim Anstieg
der Renten eine gewisse Analogie zu dem erreicht werden kann, was die Aktiven erhalten. Das ist nämlich das
Geheimnis des Nachhaltigkeitsfaktors. Bisher ist das in
Deutschland nicht bzw. nicht in hinreichendem Maße
gegeben. Deshalb besteht hier Regelungsbedarf. Es muss
in Gesetzen neu fixiert werden, wohin die Reise gehen
soll.
Meine Damen und Herren, was wir in den letzten Jahren und insbesondere in der allerletzten Zeit gelernt haben,
({34})
ist, dass nichts von dem, was errungen worden ist, was
erstritten worden ist, sicher ist auf immer, auch nicht der
Wohlstand. Das haben wir alle in Deutschland lange geglaubt; Herr Glos, Sie und ich auch. Das ist eine Generationenfrage.
({35})
- Doch, das haben Sie. - Wir hatten fünfzig gute Jahre
und haben geglaubt, das sei selbstverständlich. Nun merken wir plötzlich, dass das nicht so ist und dass wir den
Menschen sagen müssen: Ihr müsst vorsorgen und an
morgen und übermorgen denken. Das nimmt natürlich
Impulse aus der Wirtschaft und aus dem Handeln der
Menschen heraus.
Die Menschen in Deutschland müssen verstehen, dass
es anstrengend wird, sie müssen hier und dort Abstriche
machen. Dieses Land ist aber stark genug, um wieder
nach vorne zu kommen. Wir haben alle Potenziale, um
Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Das werden
wir mit Gerhard Schröder, dieser Bundesregierung und
dieser Koalition tun.
Vielen Dank.
({36})
Ich erteile Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Bitte schön, Kollege Westerwelle. Jetzt ist die nötige
Ruhe wieder eingekehrt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben am Wochenende auf
Ihrer Klausurtagung beschlossen, dass Sie die Schritte
zur Steuersenkung vorziehen, also den Weg der Steuersenkungen gehen wollen. Für die liberale Opposition in
diesem Hause will ich erklären: Wenn Sie den Weg von
Steuersenkungen wirklich gehen wollen und wenn Ihren
Worten auch Taten folgen, dann werden Sie die Unterstützung der Freien Demokraten in diesem Hause dafür
haben.
({0})
Ich sage das deshalb, weil wir Liberale uns natürlich
an das erinnern, was wir selber in Wahlkämpfen immer
wieder gesagt haben.
({1})
Im Bundestagswahlkampf und in jedem anderen Wahlkampf sowie bei jeder wirtschaftspolitischen Debatte in
diesem Hause haben wir gesagt: Herr Bundeskanzler,
gehen Sie den Weg der Steuersenkungspolitik! Eine
Steuersenkungspolitik ist das beste Beschäftigungsprogramm.
Herr Bundeskanzler, erhöhen Sie sich aber bitte nicht,
indem Sie das als eine geniale Erkenntnis an diesem Wochenende für sich vereinnahmen. Seit Jahren werden Sie
in Richtung Steuersenkungen getrieben. Jahrelang waren
Sie nicht bereit dazu. Hätten Sie den Weg der Steuersenkungspolitik früher beschritten, dann hätten heute Hunderttausende von Menschen mehr eine Arbeit.
({2})
Das wollen wir an dieser Stelle auch klar machen.
Sie sagen hier, die Opposition habe dieses und jenes
nicht mitgemacht. So weit sind wir noch gar nicht; denn
von Ihnen liegt überhaupt nichts vor.
({3})
So sehr ich den Ansatz der Mitwirkung auch bei den
Kolleginnen und Kollegen der Union teilweise nicht
teile, so sehr ist aber die Kritik an dem, was Sie heute
Morgen hier geboten haben, berechtigt. Wir kommen
hierher und denken, dass es nach dieser Klausurtagung
eine Regierungserklärung gibt, in der uns der Bundeskanzler sagen wird, wo die Privatisierung, der Subventions- und der Bürokratieabbau erfolgen werden und wie
viel Schulden er machen will. Nichts davon haben Sie
hier gebracht - Lyrik, Paraphrasen und Märchenstunde.
({4})
Das ist für eine Regierungserklärung in einer solch verheerenden Situation für unser Land zu wenig.
({5})
Sie sagen, Sie berufen sich auf das, was Sie in Ihrer
Regierungserklärung am 14. März hier gesagt haben. Ich
erinnere mich noch sehr genau daran, weil ich die Ehre
hatte, Ihnen für unsere Fraktion auf diese Regierungserklärung zur so genannten Agenda 2010 zu antworten.
Wir haben Ihnen mit Anträgen nicht nur einmal, sondern
dutzendfach deutlich gemacht: Ziehen Sie diese Steuersenkungsschritte vor. Damals haben Sie uns - das haben
Sie heute sogar zitiert - zu den Neunmalklugen der öffentlichen Diskussion gestempelt. - Herzlich willkommen im Klub der Neunmalklugen, Herr Bundeskanzler.
({6})
In Wahrheit ist es doch so, dass Sie den Weg der Steuersenkungspolitik nicht aus innerer ordnungspolitischer
Überzeugung gehen wollen, sondern weil Sie, getrieben
durch Meinungsumfragen, erkennen, dass Ihr bisheriger
Regierungsweg ein Crashkurs für unser Land war und
dass die Menschen dies bemerkt haben. Aber Sie müssen
jetzt konkret werden. Ich sage noch einmal: Wenn Sie
konkret werden und den Weg der marktwirtschaftlichen
Erneuerung gehen wollen, dann werden wir mit unserem
gewachsenen Gewicht in den Ländern dafür sorgen, dass
es keine Blockadepolitik gegen die Interessen unseres
Landes gibt.
Aber Sie müssen auch konkret werden. Sagen Sie der
Opposition bitte nicht, sie würde nur darauf warten, dass
Sie etwas vorlegen. Von den Freien Demokraten gibt es
zu jedem Reformprojekt in diesem Lande konkrete Gesetzesinitiativen. Lesen Sie sie! Vielleicht kommen Sie
dann zu besseren Erkenntnissen.
({7})
Ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen:
Wir in der Opposition
({8})
werden uns heute anders verhalten, als Sie sich damals
in der Opposition verhalten haben; denn wir kennen unsere staatspolitische Verantwortung für Deutschland.
Wir werden nicht so wie Sie 1997 die Petersberger Beschlüsse, die vermutlich beste Steuersenkungsreform,
die in diesem Hause jemals beschlossen worden ist, im
Bundesrat blockieren. Die Verantwortung dafür tragen
Herr Lafontaine, Sie, Herr Bundeskanzler, und Herr
Eichel als Ministerpräsident. Sie haben damals diese
Blockadepolitik zum Schaden für unser Land durchgeführt. Wir haben das damals kritisiert. Wir werden es
heute nicht so machen.
({9})
Dieses Land wäre weiter, wenn Sie nicht jedes Mal
nur auf Meinungsumfragen, bevorstehende Wahlen und
Wahlergebnisse reagieren würden. Sie sprechen hier von
einem beispiellosen Kraftakt.
({10})
Ich muss wirklich fragen: Was war das bisher? Bisher
bestand der beispiellose Kraftakt des Bundeskanzlers darin, dass er als SPD-Vorsitzender einen Parteitag der
SPD hinter sich gebracht hat.
({11})
Wenn schon das ein Kraftakt sein soll - dass dies
schwierig ist, weiß jeder Parteivorsitzende -, dann muss
die deutsche Einheit dagegen ein Spaziergang gewesen
sein.
({12})
Gleiches gilt für Ludwig Erhard mit der Einführung der
sozialen Marktwirtschaft. Der Kraftakt liegt nicht hinter
Ihnen, sondern vor Ihnen und vor dem ganzen Haus. Zu
dieser notwendigen Erkenntnis müssen Sie in der deutschen Politik endlich gelangen.
({13})
Anlässlich Ihres gestrigen Besuchs im sächsischen
Pirna, Herr Bundeskanzler, erinnere ich an die Debatte
im August 2002 vor der Bundestagswahl, in der wir über
die Finanzierung der Hochwasserhilfen gesprochen
haben. Als Sie seinerzeit beschlossen haben, die weiteren Schritte der Steuersenkungen zu verschieben, um die
Hilfen für die Flutkatastrophe finanzieren zu können, haben wir Ihnen gesagt: Für Deutschland wäre es besser,
die Katastrophe des Hochwassers nicht mit der Katastrophe von mehr Steuern und damit mehr Arbeitslosigkeit
bekämpfen zu wollen. Wir haben Ihnen geraten: Gehen
Sie den Weg der Steuersenkungen. - Ich habe einmal
nachgelesen, was damals für Zwischenrufe gemacht
wurden. Der Kollege Tauss hat gerufen: Freibier für alle.
Dieser Zwischenruf kam aus den Reihen der SPD. Der
Kollege Tauss nimmt anstandshalber wenigstens an dieser Debatte nicht teil. Er müsste rote Ohren bekommen,
wenn er seine Zwischenrufe von damals hören würde.
({14})
Frau Scheel, was haben Sie noch vor wenigen Tagen
alles erzählt? Ich habe die Zeitungsausschnitte noch einmal nachgelesen, die mir Herr Kollege Solms vorgelegt
hat, der das zusammen mit unseren anderen Freunden,
die in diesem Bereich arbeiten, noch viel detaillierter
verfolgt. Frau Scheel, Sie haben den Freien Demokraten
gesagt, Steuersenkungspolitik im Interesse eines Aufschwungs zu verfolgen, sei Voodoo-Ökonomie. Offensichtlich sind auch Sie diesem Zauber endlich erlegen.
Gott sei Dank, kann ich dazu nur sagen.
({15})
- Frau Scheel, schweigen Sie.
({16})
Lesen Sie in aller Ruhe nach, was Sie gesagt haben. Ich
glaube, fast jede Ihrer Reden sollten Sie genüsslich aufessen.
({17})
Es ist ein Treppenwitz, was von Ihnen dazu gekommen
ist.
({18})
Für diese Debatte sollten Sie, Frau Scheel, aus Gründen
des Stils Buße tun und sagen: Jawohl, ihr Liberalen, ihr
seid Klasse. Dazu haben Sie wirklich Grund.
Ich möchte Ihnen jetzt gern einmal sagen, welche
konkreten Finanzierungsvorstellungen wir zu diesem
Punkt vorgelegt haben. Auch diese Debatte ist aberwitzig. Sie sagen, es gebe keine Vorschläge der Opposition.
Jeder Bürger, der uns jetzt zuschaut, kann in dieser
Stunde im Internet nachlesen, dass wir Freie Demokraten Ihnen auf Euro und Cent vorgerechnet haben, wie die
Steuersenkungspolitik zu finanzieren ist. Gehen wir ins
Detail und fangen wir mit der Privatisierungsstrategie
an, die Sie, Herr Bundeskanzler, zu Recht nach Ihrer
Klausurtagung vor der imposanten Kulisse des Schlosses
vorgetragen haben. Das macht Ihnen übrigens keiner
nach.
({19})
Das muss man professionell anerkennen. Sie machen
eine Show, die wirklich unvergleichlich ist. Dagegen ist
der Auftritt von George Bush auf dem Flugzeugträger
rein gar nichts. Es ist wirklich beeindruckend, wie Sie
das machen.
({20})
Ich möchte Ihnen jetzt einmal vorlesen, was in Wahrheit das Sparbuch dieser Republik ist. Reden wir einmal
über die Privatisierungsstrategie. Im Beteiligungsbericht der Bundesregierung stehen mittlerweile
426 Beteiligungen nur des Bundes. Das beginnt im
alphabetischen Verzeichnis mit der „Abwicklungsgesellschaft Kabelsysteme GmbH & Co. KG“ in HagenErkrath und hört mit der Nummer 426 mit der „ZugBus
Schleswig-Holstein GmbH“ in Kiel auf. Wir stellen fest,
dass wir Reisebüros besitzen und erhebliche Anteile an
Personalberatungsbüros haben.
({21})
- Wir, das Volk. Sie haben ein spannendes Staatsverständnis. - Frau Scheel, weil Sie es immer noch nicht
verstanden haben: Wir Politiker sind nicht die Eigentümer von Steuergeldern, sondern die Treuhänder. Entsprechend müssen wir uns verhalten.
({22})
Bringen Sie endlich dieses Buch auf den Markt. Wenn
Sie es selber nicht können, dann beauftragen Sie eine
Unternehmensberatung, die Ihnen zeigt, wie man so etwas macht. Das ist kein Tafelsilber, das wir verscherbeln
wollen, sondern das ist in Wahrheit Senkblei um den
Hals der Steuerzahler. Das gehört endlich privatisiert.
Dann können wir jede Steuersenkungsreform lässig finanzieren.
({23})
Der Bundesfinanzminister ruft „Quatsch“ dazwischen.
Herr Bundesfinanzminister, ich sage Ihnen voraus: Genau das werden Sie machen. Dass dieser Finanzminister
immer zur besseren Erkenntnis getrieben werden muss,
ist meines Erachtens auch ein Problem in diesem Lande.
({24})
Sie, Herr Finanzminister, sind ein Buchhalter, aber von
einer dynamischen Wirtschaftspolitik verstehen Sie gar
nichts.
Gehen wir weiter zur Subventionspolitik. Auch dazu
gibt es einen konkreten Vorschlag von den Freien Demokraten in diesem Hause. Wir sagen Ihnen: Nach der Privatisierung kürzen Sie die Subventionen. Wir sagen Ihnen nicht nur gezielt, welche Subventionen gekürzt
werden können, wir haben Ihnen auch vorgerechnet, wie
die Subventionen durch einen linearen Abbau in Höhe
von 20 Prozent zurückgeführt werden können. Das ist
ohnehin ordnungspolitisch dringend geboten. Es ist
nämlich verdammt unfair, dass die Großen Subventionen
bekommen und dann mit Dumpingangeboten die Kleinen kaputtmachen.
({25})
Aber was machen Sie? Holzmann. Das ist typisch Bundeskanzler Schröder.
({26})
Deswegen fordern wir eine Subventionskürzung von
20 Prozent, sie ist in diesem Land notwendig.
({27})
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass diese
Opposition konstruktive Vorschläge vorgelegt hat. Wenn
Sie diese jetzt nach und nach aufnehmen, soll uns das
herzlich willkommen sein, denn es geht um unser Land
und darum, dass Arbeitsplätze entstehen. Es geht um
Wirtschaftswachstum und es wäre besser, wir würden
mehr machen als das, was von Ihnen jetzt zaghaft begonnen wurde.
Das ist das zweite große Thema. Wir glauben vielleicht, dass wir durch diese wenigen marktwirtschaftlichen Ansätze, die jetzt von der Regierung vorgeschlagen
werden, in der Lage wären, die Kurve in Deutschland zu
kriegen. Das ist falsch. Das Reformkonzept, das Sie bisher vorgelegt haben, ist - wenn alles gut geht - bestenfalls dazu geeignet, einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Einen Rückgang der
Arbeitslosigkeit werden Sie damit aber nicht bewirken;
denn in Wahrheit bleiben Sie wieder in sämtlichen Fragen auf halber Strecke - manchmal bereits auf den ersten
10 Prozent der Strecke - stehen. Ob in der Privatisierungspolitik, beim Subventionsabbau oder beim Bürokratieabbau - wo bleiben denn die Gesetzentwürfe, die
Sie mit der Agenda 2010 im März angekündigt haben?
Wo bleibt die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe
und der Sozialhilfe, die wir immer wieder gefordert haben? Setzen Sie sie um! Wir machen gerne mit.
Es reicht nicht aus, eine lyrische Regierungserklärung
vorzulesen. Als Bundeskanzler müssen Sie Taten vorweisen und konkret dazu Stellung nehmen, was Sie vorhaben. Dass Sie - nachdem am Wochenende die Streiks
in Ostdeutschland Gott sei Dank zusammengebrochen
sind - in Ihrer heutigen Regierungserklärung das Thema
„Tarifrecht und Arbeitsmarkt“ im Grunde genommen
wieder völlig aussparen, ist ein weiteres großes Problem.
Mit der Steuersenkungspolitik werden mit Sicherheit
ein paar Fortschritte in diesem Land erzielt. Wenn aber
die notwendigen Strukturreformen ausbleiben, scheitert
das Vorhaben schon, bevor die Umsetzung richtig beginnen konnte.
({28})
Ich möchte an dieser Stelle betonen: Es ist ein Verdienst der Ostdeutschen, dass sie den Gewerkschaftsfunktionären endlich gezeigt haben, dass eine solche
Politik nicht gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land betrieben werden kann. Es ist
ein Verdienst der Ostdeutschen, dass dieses Tarifkartell
endlich durchbrochen wurde. Gehen wir endlich noch
weiter! Wenn sich 75 Prozent der Belegschaft eines Unternehmens mit der Unternehmensführung auf ein bestimmtes Vorgehen verständigen wollen, dann soll das
auch gelten dürfen, ohne dass es ein Funktionär verhindern kann.
({29})
Wenn Sie das nicht schaffen, dann wird über das, was
Sie bisher vorgelegt haben, hinaus nichts erreicht werden.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Unterschied zwischen dem, was Sie bisher vorgelegt haben,
und unserer Politik ist der Unterschied zwischen einer
buchhalterischen und einer dynamischen Wirtschaftspolitik.
({30})
Sie wollen schon jetzt und mit hohem Tempo die Neuverschuldung erhöhen. Wir hingegen weisen Sie darauf
hin, dass eine Steuersenkungspolitik in diesem Lande
nicht nur im Interesse neuer Arbeitsplätze nötig ist, sondern dass sie auch ohne zusätzliche Neuverschuldung finanzierbar ist. Wir haben im Zusammenhang mit dem
Subventionsabbau und der Privatisierungspolitik vorgerechnet, wie das funktioniert.
Hüten Sie sich davor, zu schnell das süße Gift der
Schulden zu nehmen, nur weil Sie damit auf den geringsten Widerstand in Ihren eigenen Reihen stoßen!
({31})
Schlagen Sie den vernünftigen Weg der Strukturreformen ein! Deutschland hat das verdient. Wir kennen unsere staatspolitische Verantwortung.
({32})
Wir werden Sie auf Ihrem Weg begleiten, wenn es denn
ein Weg der Vernunft ist.
Den Worten zur Steuersenkung müssen aber endlich
Taten folgen. Die Menschen wollen nicht mehr, dass Sie
nur reden, Herr Bundeskanzler. Sie wollen sehen, dass
Sie handeln. Sie hatten genug Zeit. Hauptsache, Sie kehren endlich um! Besser für dieses Land wäre allerdings,
Sie würden abtreten. Neuwahlen wären das beste Beschäftigungsprogramm für Deutschland!
({33})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
vergangenen Tagen und Wochen hat diese rot-grüne Regierung etwas auf den Weg gebracht, das sich sehen lassen kann.
({0})
Wir sind auch aus grüner Sicht mit den Vereinbarungen,
die in Neuhardenberg getroffen worden sind, hochzufrieden.
Herr Westerwelle, auf die Frage, welches der bessere
Weg ist, gibt es nur eine Antwort: lieber mit dem Kanzler in Neuhardenberg als mit Ihnen im Container!
({1})
Wir machen jetzt unter schwierigen Rahmenbedingungen Ernst mit den notwendigen Strukturreformen.
Wir bringen auch Bewegung in den Arbeitsmarkt. Wir
haben bereits damit angefangen und werden im Herbst
fortfahren. Darüber hinaus unternehmen wir besondere
Anstrengungen, damit junge Menschen unter 25, aber
auch ältere Langzeitarbeitslose eine Chance haben, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen.
({2})
Herr Westerwelle, ein Mitglied Ihrer Fraktion hat zu
den besonderen Anstrengungen, älteren Arbeitslosen
wieder eine Chance zu geben, gesagt, man solle kein
Geld für hoffnungslose Fälle ausgeben. Das unterscheidet uns in der Politik.
({3})
Wenn Sie das unter Dynamik verstehen, dann kann ich
Ihnen nur sagen, dass Sie damit alleine dastehen. Das ist
Ausdruck Ihrer Ellbogenmentalität und hat mit Dynamik
nichts zu tun. Das ist nur zynisch.
({4})
- Ich kann Ihnen das aus dem Pressespiegel heraussuchen. Das ist überhaupt kein Problem.
({5})
Ich sage Ihnen noch etwas: Sie haben hier mit Häme
über die Streiks in Ostdeutschland gesprochen. Ich bin
davon überzeugt, dass das, was dort geschehen ist, den
kritischen Diskussionsprozess, der in den Gewerkschaften längst begonnen hat, weiter befördern wird. Aber die
Häme, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben, teilen
wir nicht; denn wir wissen, wohin wir kommen würden
- das wollen Sie ja -, wenn es keine starken Gewerkschaften in Deutschland mehr gäbe.
({6})
Das Gesetzespaket für die Gesundheitsreform liegt
vor. Die Reformen der Rentenversicherung und der Pflegeversicherung werden wir im Herbst dieses Jahres beschließen. Auch die Gemeindefinanzreform werden wir
im Herbst anpacken, egal ob sich die Kommission, die
dafür eingesetzt wurde, einigen wird oder nicht.
({7})
Damit sind wir auf dem Weg, die zentralen Aufgaben zu
lösen. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme in
Deutschland finanzierbar halten und sie damit zukunftsfest machen. Wir sorgen so dafür, dass sich die Menschen in Zukunft auf die solidarischen Systeme, auf die
sie tatsächlich angewiesen sind, verlassen können. Deshalb unternehmen wir die erwähnten Anstrengungen.
Die Koalition hat sich inzwischen nicht nur darauf verständigt, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland gesenkt werden müssen, sondern ist auch dabei, die Strukturreformen umzusetzen, die tatsächlich zu einer
Senkung der Lohnnebenkosten führen werden.
({8})
Das wird entscheidend dafür sein, dass der Faktor Arbeit
in Deutschland nicht mit Abgaben überbelastet wird und
dass Arbeitslose wieder eine bessere Chance in Deutschland haben, in Beschäftigung zu kommen.
Gleichzeitig schlagen wir mit dem Haushaltsentwurf
2004 noch radikalere und noch konsequentere Schritte
zum Subventionsabbau vor. Wir sind besonders dankbar, dass der Bundesfinanzminister in seinem jetzigen
Haushaltsentwurf noch radikaler an die ökologisch falschen bzw. fragwürdigen Subventionen herangegangen
ist als in der Vergangenheit.
({9})
Gerade mit dem geplanten Subventionsabbau werden
wir Bewegung in die verfestigten Strukturen in Deutschland bringen. Warum machen wir das? Wir machen das,
weil solche Strukturen den Weg für Neues und Wichtiges blockieren, nämlich für Investitionen in Bildung und
Forschung, in Innovationsfähigkeit, in die ökologische
Modernisierung und auch in eine moderne KinderpoliKrista Sager
tik. Dafür brauchen wir Luft und diese verschaffen wir
uns jetzt.
({10})
Wir wissen, dass die Strukturreformen, die wir jetzt
in den sozialen Sicherungssystemen, aber auch beim
Subventionsabbau durchführen, nicht sofort, sondern
erst mittel- und langfristig wirken. Die Wirkung wird
aber dauerhaft und nachhaltig sein. Das ist der Grund,
warum diese Reformen Priorität für uns haben, warum
sie auf Platz eins der Agenda 2010 stehen. Das ist der
Grund, warum wir sagen: Strukturreformen zuerst! Wir
wissen auch, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern etwas abverlangen müssen. Aber ich glaube, dass viele
Menschen in diesem Land begriffen haben, warum wir
das alles tun. Wir machen diese Reformen, um das Land
in den Bereichen nach vorne zu bringen, die wirklich
wichtig sind, nämlich in den Zukunftsbereichen.
Wir haben uns darauf verständigt - darüber sind wir
besonders froh -, dass wir im Herbst dieses Jahres noch
einmal Änderungen im Bereich der Rentenversicherung
und der Pflegeversicherung vornehmen werden, um
diese sozialen Sicherungssysteme tragfähig zu gestalten,
und dass wir ebenfalls im kommenden Herbst die
Grundlagen legen werden, um im nächsten Jahr den Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 19,5 Prozentpunkten zu stabilisieren. Wir sind auch darüber froh,
dass wir über das Gesundheitspaket jetzt ernsthaft verhandeln. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir gemeinsam
etwas zustande bringen, wenn die Opposition es ehrlich
meint.
Eines sage ich ganz klar: Es wird mit uns keine Einigung geben, die nur den Patientinnen und Patienten etwas abverlangt.
({11})
Gerade weil der Gesundheitsbereich im Hinblick auf
Arbeitsplätze und Innovationen immer wichtiger wird,
gerade weil wir wollen, dass das medizinisch Notwendige auch in Zukunft gewährleistet ist, müssen wir dort
für mehr Effizienz, mehr Transparenz und mehr Wettbewerb sorgen. Deswegen wird es mit uns keine Einigung
geben, die nur auf Finanzen ausgerichtet ist und weder
eine Strukturreform noch ein Aufbrechen der Machtkartelle vorsieht.
Ich bekomme immer mehr Signale - auch das sage
ich ganz deutlich - von unserem Koalitionspartner, aber
auch von anderen, dass es im Herbst zu einer ernsthaften
Diskussion über die Bürgerversicherung kommen
wird. Ich kann die Opposition nur dazu einladen, sich an
dieser Diskussion konstruktiv zu beteiligen. Herr
Seehofer hat wirklich Recht: Die Schaffung einer Bürgerversicherung ist eine Zukunftsaufgabe, die wir angehen müssen.
({12})
Im Herbst werden wir uns auf die Umsetzung der
Agenda 2010 und darüber hinaus auf die Frage konzentrieren, wie eine alternde Gesellschaft ihre Innovationsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung
nicht nur erhalten, sondern auch weiterentwickeln kann.
Deutschland und Europa brauchen die besten Köpfe und
die besten Ideen, um sich nachhaltig weiterzuentwickeln. Meine Damen und Herren von der Opposition,
dazu gehört ein modernes Zuwanderungsrecht. Auch
was diesen Bereich angeht, müssen Sie von der Bremse
gehen.
({13})
Ein zukunftsfähiges Deutschland kann sich keine Opposition leisten, die bei der Schaffung eines modernen Zuwanderungsrechts auf der Bremse steht oder im Wartesaal sitzt.
Die Opposition hat langsam begriffen - das ist interessant -, dass es offensichtlich nicht besonders günstig
ist, sich dem Vorhaben der Regierung, Steuern zu senken, zu verweigern. Aus unserer Sicht ist es angesichts
der Durchführung von Strukturreformen und des Abbaus
von Subventionen akzeptabel, jetzt einen Impuls zu setzen, der sich auf die Konjunktur in diesem Lande positiv
auswirken soll. Wer sagt, wir sollten Steuersenkungen
möglichst nicht durch zusätzliche hohe Schulden finanzieren, der hat die Grünen sofort auf seiner Seite.
({14})
Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass der kreditfinanzierte Teil der Steuerreform - auch aus Gründen der
Generationengerechtigkeit - möglichst gering ist.
({15})
Zumindest ein Teil der CDU hat es möglicherweise
gerade noch geschafft, mit quietschenden Reifen die
Kurve zu kriegen. Die „Alpen-Connection“ von Frau
Merkel funktioniert offensichtlich etwas besser als ihre
„Anden-Connection“. Einige kritische Kommentare
dazu kann ich Ihnen aber nicht ersparen. In Ihren eigenen Reihen haben sie offensichtlich erhebliche Probleme. Dabei denke ich nicht nur an Herrn Koch, den
hessischen „Doktor No“, sondern vor allen Dingen an
Mitglieder Ihrer Fraktion. Die Diskussion in Ihrer Fraktion hat offensichtlich sehr viel damit zu tun, dass Sie
sich über die Kanzlerkandidatur bis heute nicht verständigt haben.
({16})
Frau Merkel hat in ihrem Brief an den Bundeskanzler
eine verlässliche Politik eingefordert. Ich frage mich in
der Tat, wo Ihre Verlässlichkeit in der Steuerpolitik
bleibt.
({17})
Da ist von Verlässlichkeit keine Spur; da herrscht das
blanke Chaos. Das stellen nicht nur wir fest.
({18})
Als wir eine Steuerreform längst beschlossen hatten,
durch die die Steuersätze in Deutschland ein Rekordtief
erreichen - sie werden um circa 10 Prozentpunkte gesenkt -, haben Sie gesagt: Das reicht alles nicht; die
Steuersätze müssen noch viel weiter sinken. Was ist
jetzt? Jetzt machen Sie total die Rolle rückwärts. Was ist
denn mit der Gegenfinanzierung? Herr Merz hat uns damals erzählt: So eine Steuersenkung finanziert sich praktisch aus sich selbst heraus.
({19})
Was ist jetzt? Jetzt sagt er: große Verschuldungsproblematik, alles nur Teufelszeug. - Herr Merz weiß offensichtlich nicht, wovon er redet.
({20})
Was erzählt uns eigentlich Frau Merkel? Frau Merkel
sagt in der „Bild“-Zeitung: Subventionsabbau zur Gegenfinanzierung muss sein. In der gleichen Ausgabe der
„Bild“-Zeitung sagt sie: Subventionsabbau ja, aber niemandem in diesem Land irgendetwas wegnehmen. Herr Stoiber sagt wiederum: Doch, natürlich, allen etwas
wegnehmen, nämlich gleichmäßig 10 Prozent. - Frau
Merkel sagt in der „Bild“-Zeitung: Aber auf keinen Fall
mit Schulden. - Was sagt der Konfusionsrat, Herr Stoiber? Er sagt: Doch, 30 Prozent davon mit Schulden. Frau Merkel sagt: Herr Steinbrück und Herr Koch sollen
doch jetzt einmal Gegenfinanzierungsvorschläge machen.
({21})
Das sagt sie in der „Bild“-Zeitung. Hier sagt sie wiederum: Die Regierung soll Vorschläge machen. - Wenn
die Regierung Vorschläge macht, dann sagen Sie aber
immer nur Nein und stehen auf der Bremse.
({22})
Kein Mensch in diesem Land begreift, wohin Sie eigentlich wollen. Es ist auch nicht so, dass Sie nur ein
Kommunikationsdesaster haben. Sie haben vor allem
auch ein Konzeptdesaster,
({23})
weil Sie kein Konzept vorlegen können, aus dem hervorgeht, wohin es eigentlich gehen soll.
({24})
Tatsache ist doch, dass die Regierung den Karren in
diesem Land zieht. Sie zieht aber nicht nur den Karren in
diesem Land, sondern sie muss auch noch die Opposition mitschleppen - das ist doch das Problem! -,
({25})
und zwar eine Opposition, die sich mit ihrem ganzen
„Nein“, „Jein“, „Ja, aber“ auch noch gegen das Mitschleppen wehrt. Um über Ihre schlechten Haltungsnoten bei dieser unglücklichen Übung hinwegzutäuschen,
sagen Sie auch noch: Schneller, schneller, schneller,
schneller! - Aber es kann doch nicht schneller gehen,
wenn Sie ständig auf der Bremse stehen!
({26})
Die Regierung hat im letzten Jahr genügend Vorschläge dazu gemacht, wie man Subventionen in diesem
Land abbauen kann, wie man gerade auch an Subventionen herangehen kann, die inzwischen überholt sind und
Investitionen in Neues blockieren.
({27})
Was ist von Ihnen gekommen? Von Ihnen ist nichts weiter gekommen als taktische Spielchen. Sie dürfen nicht
denken, dass die Menschen in diesem Land das nicht
langsam durchschauen.
Sie sagen: Die Regierung soll einmal einen Vorschlag
machen. Dann macht die Regierung einen Vorschlag.
({28})
Sie sagen: Nein, gerade der gefällt uns nicht. Dann
macht die Regierung einen neuen Vorschlag. Sie sagen:
Jetzt hat die Regierung schon wieder einen gemeinen
Vorschlag gemacht. - Das ist doch Ihr Spiel! Mit diesen
Tricksereien werden wir in diesem Land nicht weiterkommen.
({29})
Herr Müntefering hat völlig zu Recht gesagt, dass Sie
diese taktischen Spielereien ausschließlich auf Kosten
der Länder und Gemeinden betreiben. Sie wissen ganz
genau, dass über die Hälfte der Subventionen, die im
Subventionsbericht aufgeführt sind, in Form von Steuervergünstigungen gewährt werden. Wenn Sie jedes Mal,
wenn eine Steuervergünstigung abgebaut wird, behaupten, das sei jetzt aber eine ganz gemeine Steuererhöhung,
dann meinen Sie es überhaupt nicht ehrlich damit, Subventionen in diesem Land abbauen zu wollen.
({30})
Sie wissen doch: Wenn Subventionen in Form von Steuervergünstigungen und nicht in Form von Finanzhilfen
abgebaut werden, dann dient das ganz besonders den
Ländern und Gemeinden. Sie haben mit Ihrer verfluchten Taktik - Sie haben im Bundesrat vernünftige Maßnahmen blockiert - dazu beigetragen, dass die Haushalte
der Länder und Gemeinden so sind, wie sie sind.
({31})
Jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Was sich jetzt
zeigt - die Wartesaalpolitik von Frau Merkel hat es deutlich gemacht -, ist, dass Sie mit Ihrer Taktik gründlich
gescheitert sind. Sie haben das ganze halbe Jahr im Bundesrat mit der Blockierung der Finanzpolitik ausschließlich darauf gesetzt, dass Sie die Regierung möglicherweise destabilisieren können. Das Gegenteil haben Sie
erreicht: Nie ist diese rot-grüne Koalition so stabil gewesen wie zurzeit.
({32})
Nie ist diese rot-grüne Koalition so handlungsfähig gewesen wie zurzeit. Nicht handlungsfähig ist die CDU/
CSU. In der CDU/CSU herrscht völliges Durcheinander.
Sie stehen nicht nur vor einem Kommunikations- und
Konzeptdesaster, sondern auch vor einem Strategiedesaster, weil Ihre Strategie auf ganzer Länge gescheitert
ist.
({33})
Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen in
diesem Lande begreifen, dass wir in einer schwierigen
Situation sind,
({34})
die aber auch eine Chance bietet, um schmerzhafte, aber
notwendige Veränderungen in diesem Land voranzubringen. Immer mehr Menschen verstehen, dass auch
eine Chance darin besteht, wenn man sich auf den Weg
macht, um eine neue Balance zwischen Selbstbestimmung, Solidarität und Gemeinwohl zu finden.
Ein schweizer Historiker hat einmal gesagt: Nur in
der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben. Die Regierung handelt danach; die Menschen verstehen es inzwischen. Ich hoffe, dass langsam auch Bewegung in die
Opposition kommt, und zwar nicht nur in den eigenen
Reihen, sondern nach vorne zum Nutzen dieses Landes.
({35})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Guido Westerwelle.
Frau Kollegin, Sie haben ganz am Anfang Ihrer Rede
gesagt, ein Vertreter meiner Fraktion habe erklärt, dass
er der Meinung sei, dass sich bei älteren Arbeitslosen
Mühe nicht mehr lohne. Ich möchte Sie bitten, jetzt hier
vor diesem Hohen Hause zu sagen, wo das gewesen ist
und von wem dieses Zitat stammt, da ich dem als Parteivorsitzender, wie Sie verstehen werden, natürlich nachgehen möchte.
({0})
Herr Westerwelle, ich habe diesen Kommentar zu der
Verabschiedung des Programms für Langzeitarbeitslose
gestern einer Tickermeldung entnommen. Ich werde
diese Tickermeldung aus meinen Unterlagen heraussuchen und sie Ihnen dann übergeben. Es wird sich ja feststellen lassen, ob diese Tickermeldung stimmt.
({0})
- Entschuldigen Sie, ich werde sie Ihnen geben.
({1})
Sie wurde gestern veröffentlicht, darin wurde ein Mitglied Ihrer Fraktion zitiert.
({2})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, dass die Reden in der Debatte, die
wir heute führen, bis auf die Rede von Frau Merkel, insbesondere die vorausgegangene Rede, erklären, warum
es in diesem Land so wenig Vertrauen gibt. Wenn diejenigen, die uns regieren sollen, so konfus handeln und
weder ein noch aus wissen und sich vor allen Dingen in
dem, was sie tun und sagen, sprunghaft verhalten, dann
müssen wir uns überhaupt nicht wundern, wenn sich die
Konsumenten und die Investoren in diesem Land zurückhalten.
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Rede mit Pathos,
soweit nicht Lustlosigkeit überwogen hat, vorgetragen.
Sie haben sich ein Stück weit dafür entschuldigt, dass
fünf Jahre nichts geschehen ist,
({1})
und erklärt, warum Sie sich jetzt möglicherweise bewegen wollen. Wir wissen, dass sich bisher vor allen
Dingen der Fuhrpark zwischen Neuhardenberg und Berlin hin und her bewegt hat. Das waren die einzig wirklich erkennbaren Bewegungen, die es in der ganzen
Szene gegeben hat.
({2})
Ansonsten herrscht in Deutschland leider immer noch
Stillstand. Diese rot-grüne Bundesregierung ist die Ursache dafür. Sie, Herr Bundeskanzler, erinnern mich an einen Schiffbrüchigen, der, wenn er irgendwo Treibholz
sieht, sofort ruft: Land in Sicht!
({3})
Die Situation ist leider ein bisschen ernster. Wir befinden uns nämlich in einer Vertrauensfalle und es fehlt
die Aufbruchstimmung. Ich frage mich, woher die Aufbruchstimmung eigentlich kommen soll. Wir haben seit
drei Jahren Stagnation. Das DIW sagt, wir hätten es in
diesem Jahr mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun.
Kein anderes Land in Europa ist in diesem schlimmen
Zustand. Die Arbeitslosigkeit liegt um 350 000 über
dem Vorjahreswert. Selbst die Nürnberger Bundesanstalt, an deren Spitze Sie für ein hohes Jahresgehalt einen Chefpropagandisten gesetzt haben, spricht inzwischen für den Winter von 5 Millionen Arbeitslosen.
Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland hat Angst um
seinen Arbeitsplatz. Im letzten Jahr hatten wir 38 000 Insolvenzen und Betriebsaufgaben. Auch in diesem Bereich wird es in diesem Jahr einen neuen Rekord geben.
Statt den Mittelstand zu ermutigen, wird das Handwerk durch die Ankündigungen in diesem Gesetzentwurf weiter verunsichert, und das in einer konjunkturell
schwierigen Lage. Die Bauern, die ebenfalls zum Herzen
unserer mittelständischen Wirtschaft gehören, sind in
den Zangengriff genommen worden, vorgetragen aus der
EU und nachgesetzt durch Frau Künast. Der Rest wird
dann von Eichel besorgt.
({4})
- Herr Schmidt, dass Sie für die Bauern und für das
Handwerk überhaupt nichts übrig haben, ist bekannt. Interessieren Sie sich wenigstens für die Lage der Bauarbeiter!
({5})
In der Bauwirtschaft haben wir einen Rückgang um
15 Prozent. Die öffentlichen Haushalte laufen aus dem
Ruder, insbesondere die Kommunalhaushalte. Wenn die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD noch ein bisschen Beziehung zur Basis in ihren Wahlkreisen, wo sie
um die Stimmen buhlen, hätten, dann wüssten sie, was in
den Städten und Gemeinden los ist und wie gering die
Investitionsfähigkeit noch ist.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns allen
wäre es sehr recht, wenn das, was Sie angekündigt haben, viel bringen würde. Wir wollen auch gerne dazu
beitragen; denn wir haben kein Interesse daran, dass dieses Land untergeht. Im Gegenteil, wir wollen hier leben
und wir wollen, dass unsere Kinder hier leben und dass
auch unsere Enkel noch eine Zukunft haben. Zu dem
Thema komme ich noch.
Ich will ein Beispiel nennen, woran sich zeigt, dass
die Menschen kein Vertrauen haben. Es gibt Zeitungen,
allen voran die Boulevardpresse,
({7})
in denen Tabellen abgedruckt werden, an denen man ablesen kann, wie viel jeder mehr in der Tasche hat, wenn
die Steuerreform 2005 vorgezogen wird. Wie viel das
tatsächlich ist, werden wir ganz am Schluss feststellen.
Aber in diesem Zusammenhang werden die Menschen
schon gefragt: Was machen Sie mit dem Geld, falls es
tatsächlich bei Ihnen in der Tasche ankommt? Darauf
antworten 52 Prozent, sie wollten sparen oder Schulden
tilgen. In den Konsum fließt diesen Umfragen zufolge
nicht allzu viel. Das zeigt, dass die Menschen kein Vertrauen haben.
Aber Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen seit drei
Jahren, uns einzureden, es gehe wieder aufwärts. Dabei
verweisen Sie immer wieder auf die zweite Jahreshälfte
und das letzte Quartal. Es fragt sich nur, Herr Bundeskanzler: In welchem Jahr geht es aufwärts?
({8})
- 2010 und folgende, aber nur, weil wir dann schon
lange wieder regieren.
({9})
Die preiswerteste Maßnahme - ich kann mir sogar
vorstellen, dass man das Geld dafür über Bürgerinitiativen sammelt - wäre eine Neuwahl in diesem Land. Das
würde sich auszahlen; denn das wäre stabilisierend und
vertrauensbildend.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der
Wachstumsprognose von 0,75 Prozent für 2003 hält
Herr Eichel noch immer fest.
({10})
- Er ist schon gegangen.
({11})
Er schämt sich. Er dürfte nicht Hans Eichel heißen, sondern müsste inzwischen Ali Eichel genannt werden; man
kennt ja die Prognosen, die in Bagdad von einem gewissen Ali - genannt Lügen-Ali - abgegeben worden sind.
({12})
Wenn schon die politisch Verantwortlichen bei uns im
Land das kleine Einmaleins nicht beherrschen, wie sollen es dann die Schüler bei der PISA-Studie können?
Wir sprechen über Zahlen und Fakten. Da lässt sich vieles nicht schön- und weichreden. Die Unterstellung einer
Wachstumsprognose von 2 Prozent für den Haushalt
2004 ist reiner Zweckoptimismus. Nun wissen wir, Optimismus ist wichtig; er ist in der Wirtschaft ein wichtiger
Faktor. Aber es muss auch ein bisschen Realismus zugrunde gelegt werden. Diese Annahme ist unrealistisch.
Deswegen kann ich gut verstehen, dass der Bundesfinanzminister inzwischen anderen Hausaufgaben nachgeht.
Ich finde, dass Prognosen immer schwierig sind, da
sie die Zukunft betreffen. Aber ich glaube, manches lässt
sich besser vorhersagen, als es diese Bundesregierung
getan hat.
Wir wissen natürlich auch, dass die Steuerpolitik sehr
viel dazu beitragen kann, in einem Land Wachstum zu
schaffen. Deswegen treten wir für niedrigere Steuern
und niedrigere Abgaben ein. Das ist ein permanenter
Kampf, der immer wieder neu geführt werden muss. Es
kann nämlich nicht angehen, dass jemandem etwas aus der
linken Tasche genommen wird und dass ihm etwas - möglicherweise weniger - in die rechte Tasche gesteckt wird.
Wir dürfen natürlich nicht nur die Steuern betrachten. International gesehen ist unsere Steuerbelastung
nicht so hoch. Aber wir haben die höchste Steuer- und
Abgabenlast.
({13})
Das muss man natürlich berücksichtigen. Diese hohe
Belastung durch Abgaben und Steuern - Herr Poß, Sie
beschäftigen sich schon lange damit - hat maßgeblich zu
diesem Wirtschaftseinbruch beigetragen und dazu geführt, dass wir jetzt in dieser Falle stecken.
({14})
Jetzt wollen Sie die dritte Stufe der Steuerreform
vorziehen, obwohl die zweite Stufe noch nicht in Kraft
getreten ist. Ich sage immer: Wenn man den dritten
Schritt nach dem ersten macht, dann besteht die Gefahr,
dass man stolpert.
({15})
- Stolpert. Putzen Sie sich die Ohren!
Frau Sager, die jetzt nicht mehr anwesend ist, wollte
wissen, wie wir zu dieser Steuerreform stehen. Einer der
Fehler dieser Steuerreform, die nicht unsere Steuerreform war, ist, dass sie nicht aus einem Guss ist, sondern
in drei Stufen erfolgen soll. Die erste Stufe wurde, wie
jedermann weiß, sofort durch die Einführung der Ökosteuer und durch die Erhöhung der Tabaksteuer und Versicherungsteuer konterkariert.
({16})
Jetzt gibt es eine weitere Erhöhung der Tabaksteuer. Früher stand auf den Zigarettenpackungen: „Rauchen gefährdet die Gesundheit“. Jetzt muss darauf gedruckt werden: „Rauchen fördert die Gesundheit“, weil das Geld
angeblich in den Gesundheitsbereich fließen soll.
Wir sollten vor allen Dingen niedrige Steuersätze bei
einer breiten Bemessungsgrundlage in den Vordergrund
stellen.
({17})
Die Steuerreform, die Sie auf den Weg gebracht haben,
erfüllt diesen Anspruch nicht. Wir reden über das Vorziehen einer Stufe der Steuerreform, die wir besser konzipiert hatten und die wir besser gemacht hätten. Aber
letztendlich wird ein Vorziehen der dritten Stufe an uns
nicht scheitern. Darüber werde ich noch sprechen.
Ich will noch Folgendes sagen. Die dritte Stufe, die
für 2005 vorgesehen war, würde auch dann in Kraft treten, wenn der Bundestag jetzt in Urlaub gehen würde
und seine Mitglieder überhaupt nicht mehr zurückkommen würden. Dann aber säße Eichel vollends in der
Falle, weil die Stufe 2005 so, wie sie konzipiert worden
ist, direkt in Kraft treten würde.
Nun wird der Versuch gemacht, das, was beim Steuerzahler in der Tasche bleibt und was ihm versprochen worden ist, zu schmälern. Wenn ich es richtig weiß, reden Sie
von der Abschaffung der Entfernungspauschale.
({18})
- Die Einschränkung der Entfernungspauschale steht im
Haushaltsentwurf.
({19})
Es wird selbstverständlich auch über den Abbau der
Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen geredet. Auch dieser Vorschlag geistert immer wieder herum. Sie wollen auch noch andere Subventionen
abbauen, um das Vorziehen der dritten Stufe gegenzufinanzieren.
({20})
Nun wissen Sie, dass die Maßnahmen zur so genannten Gegenfinanzierung, von denen Sie dankenswerterweise wieder gesprochen haben, dauerhaft bestehen bleiben. Aber man hat im Rahmen der dritten Stufe 2005
eine Senkung versprochen, ohne dass das Geld auf der
anderen Seite genommen wird. Es ist also so: Durch das
Vorziehen der Steuerreform um ein Jahr wird dem Steuerzahler etwas in die rechte Tasche gesteckt, aber aus der
linken Tasche wird ihm das Geld dauerhaft genommen.
({21})
Das übersehen die Menschen bei dieser Diskussion.
({22})
Ihre Kalkulierbarkeit und Stetigkeit, Herr Bundeskanzler, - Frau Merkel hat vorhin vorgelesen, was Sie
noch am 14. März gesagt haben - erinnert an einen kugelgelagerten Wetterhahn, der sich nach dem Wind
dreht. Andreas Hoffmann hat in der „Süddeutschen
Zeitung“ über Ihre Vorschläge geschrieben: „Vorhang
auf für Harry Potter... “.
({23})
Herr Bundeskanzler, Sie haben Chuzpe und eine gewisse Unverschämtheit. Sie hat Ihnen oft geholfen. Ob
diese Chuzpe Ihnen diesmal hilft, ist sehr fraglich. Sie
besteht darin, dass Sie das Versprechen einer Steuersenkung oder des Vorziehens einer Steuersenkung, die populär ist, damit verbinden, dass Sie sagen: Liebe Opposition, wenn du keine neuen Schulden bis zum
Gehtnichtmehr haben willst, dann sage doch, wie das
Ganze zu bezahlen ist. - Diese Arbeitsteilung machen
wir nicht mit; das bringe ich hier ganz klar zum Ausdruck.
({24})
- Herr Poß, Sie sind Steuerpolitiker, lassen sich aber
zum Beispiel auch vom Sachverständigenrat beraten,
dessen Vorsitzender ein SPD-Mitglied ist. Er mahnt allerdings zur Vorsicht, was die Verschuldung anbelangt.
Die Regierung glaubte, es werde eine Euphorie an
den Finanzmärkten geben, wenn sie das Vorziehen der
Steuersenkung verkündet. Eine solche Euphorie ist aber
ausgeblieben. Die Wirklichkeit ist die Reaktion der
Märkte und ein Stück weit auch die Reaktion der Menschen auf solche Maßnahmen. Die Menschen misstrauen
der SPD, weil sie wissen, dass die Versuche aller SPDBundesregierungen Ende der 70er-Jahre gescheitert sind,
die Konjunktur durch Deficitspending, wie es damals so
schön hieß, anzukurbeln. Heute müssen wir und unsere
Kinder immer noch die Zinsen dafür zahlen. Diese Politik, alles auf die nächste Generation zu verlagern, die übrigens immer kleiner wird, halte ich für eine falsche Politik.
({25})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, niemand,
der etwas von der Sache versteht, bestreitet, dass es den
so genannten Laffer-Effekt, gibt. Ronald Reagan arbeitete mit diesem Effekt; aber Reagan, den die SPD nicht
gemocht hat, war auch ansonsten kalkulierbar. Für die
Leute ist immer wichtig, wer welches Instrument in die
Hand nimmt. Es gibt Leute, denen man es aus der Erfahrung heraus nicht zutraut. Sie, Herr Bundeskanzler, haben noch wenig dazu getan, Vertrauen zu gewinnen. Was
nun diesen Laffer-Effekt, den Effekt des Vorziehens
positiver Wirkungen angeht, sagen die Ökonomen,
man könne 30 Prozent einkalkulieren, wenn ansonsten
alles stimmt.
Wir können erst dann darüber verhandeln, Herr Bundeskanzler, wenn Sie Fakten auf den Tisch gelegt und
Vorschläge gemacht haben. Dies geht selbstverständlich
in einem parlamentarischen Verfahren viel besser. Ich
halte nichts von Kungelrunden, in denen etwas mit heißer Nadel genäht wird; dies geht bei so komplizierten
Vorhaben wie Steuergesetzen ohnehin nicht. Ansonsten
soll es an uns nicht scheitern. Vielleicht mache ich mich
nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen beliebt, wenn
ich sage: Für uns ist die Sommerpause kein Tabu, wenn
es darum geht, unserem Land wirklich zu helfen. Nur
müssen die Voraussetzungen dafür von Ihnen geschaffen
werden. Erst dann kann man miteinander reden.
({26})
Ich spreche ein anderes, hochgelobtes Prinzip von
Rot-Grün an, das Prinzip der Nachhaltigkeit. Tatsächlich findet sich das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit immer
nur in Sonntagsreden. Eine hemmungslose Lastenverschiebung auf kommende Generationen ist aber moralisch nicht vertretbar. Deswegen muss die Bundesregierung selbstverständlich Antwort darauf geben, wie es
mit der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik aussieht.
({27})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorhin
wurde der italienische Ministerpräsident zitiert, dem offensichtlich in einem anderen Parlament eine Entgleisung unterlaufen ist. Er hat sich dafür in dem anderen
Parlament auch entschuldigt.
({28})
- Im Gegensatz zu Frau Sager habe ich Pressemeldungen hier, die besagen, dass er sich entschuldigt hat.
({29})
Vergleiche wie der, den Herr Berlusconi gebraucht hat,
sind unzulässig; aber wir sind hier in Deutschland.
({30})
- Im deutschen Parlament.
Hier in diesem Parlament ist der Stabilitätspakt seinerzeit
einstimmig abgesegnet worden. Der Euro-Stabilitätspakt
war für uns eine Bedingung, diese neue Währung einzuführen, weil wir wollten, dass die Menschen Vertrauen in
die neue Währung haben können.
({31})
Nicht zuletzt unsere italienischen Freunde - die Franzosen sowieso -, die den Stabilitätspakt immer als Fessel
einer expansiven Finanzpolitik gesehen haben, warten
doch nur darauf, dass wir Deutsche diesen Stabilitätspakt sprengen. Diesen Gefallen dürfen wir niemandem
tun; denn dies wäre nur ein kurzfristiger Gefallen für bestimmte Länder, in denen die Schuldenmentalität stärker
verbreitet war. Bei uns war sie nicht verbreitet. Sie ist
erst in den allerletzten Jahren gewachsen.
({32})
- Ja, das ist leider der Fall. Ich kann, wenn Sie es hören
wollen, Zahlen nennen: In den letzten zwei Jahren der
Regierung Helmut Kohl konnte Theo Waigel - darüber
brauchen Sie überhaupt nicht zu lachen; auch damals war
eine schwierige Wirtschaftslage, Sie haben damals vier
Jahre lang Steuerreformen blockiert - im Hinblick auf die
Defizitgrenze jeweils 2,2 bis 2,5 Prozent vorweisen.
({33})
Jetzt überschreiten wir, wie vorhin richtig gesagt worden ist, das dritte Mal das Maastricht-Ziel von 3 Prozent.
In diesem Jahr wird sogar mit mehr als 4 Prozent bzw. mit
bis zu 5 Prozent gerechnet. Von diesem Jahr spricht ja
schon keiner mehr, wie man gnädigerweise auch nicht
mehr über die Haushaltszahlen, über die Neuverschuldung im Bundeshaushalt von 40 Milliarden Euro - nicht
D-Mark -, spricht. So etwas hat es noch nie gegeben. Darüber spricht man nach dem Motto „Über Schulden spricht
man nicht; Schulden hat man“ - dies ist natürlich eine
starke Abwandlung eines alten Sprichworts - nicht mehr.
({34})
Ich stelle noch einmal fest: Wenn die großen Volkswirtschaften des Euroraums, Deutschland und Frankreich, den Stabilitätspakt vorsätzlich infrage stellen,
dann berührt das zutiefst das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger und auf Dauer auch das Vertrauen der Finanzmärkte in diese Währung. Wir wollen nicht, dass es
heißt: Europa einig Euroland, einig Inflationsland!
({35})
Wer dies tut, legt die Axt an die Wurzeln Europas.
({36})
Europa kann ohne eine stabile Währung nicht bestehen;
das wissen wir alle. Wie schnell Europa in anderen Fragen auseinander fällt, ist erst in diesem Jahr wieder demonstriert worden; das brauche ich vor diesem fachkundigen Publikum nicht zu wiederholen.
Herr Bundeskanzler, wir müssen dafür sorgen, dass
uns insgesamt ein Kraftakt gelingt, der natürlich in allererster Linie von der Bundesregierung gestemmt werden
muss. Eine Opposition ist klassischerweise dazu da, die
Regierung zu kontrollieren und eigene Vorschläge auf
den Tisch zu legen. Das haben wir vor der Wahl getan.
Das ist leider nicht voll goutiert worden.
({37})
- Ich spreche von 6 037 Menschen in Deutschland, die
bewirkt haben, dass die SPD noch einmal stärker geworden ist als die Union.
({38})
Mehr waren es nicht.
({39})
Frau Präsidentin, Sie würden vielleicht trotzdem dort
oben auf Ihrem Platz sitzen, aber nicht Präsident Thierse.
({40})
Aber es ist ja nicht so wichtig, wer sich auf welchem
Sessel tummelt.
({41})
- Das hat überhaupt nichts mit einem schlechten Verlierer zu tun.
({42})
Schlimm ist vielmehr die Tatsache, dass bei der Wahl für
Deutschland viel verspielt worden ist.
Herr Bundeskanzler, ich fasse zusammen: Uns muss
man zu Steuersenkungen weder treiben noch jagen. Aber
das Ganze muss natürlich seriös sein.
({43})
Es dürfen nicht zu viele Lasten nach vorne verschoben
werden. Es darf nicht zu tief in gewachsene Strukturen
eingegriffen werden. Änderungen bei der Entfernungspauschale sind so eine Geschichte. Dass sich unser Land
sehr gleichmäßig entwickelt hat, liegt auch an solchen
Dingen wie der Entfernungspauschale. Wenn man dies
plötzlich beendet, gibt es möglicherweise andere Siedlungsstrukturen.
({44})
Man kann sich nicht einfach mit einem Hauruck über die
Dinge hinwegsetzen.
Aber das Verfahren muss über das Bundeskabinett
und die Koalitionsfraktionen erfolgen. Die Parteien, die
diese Regierung tragen, müssen dahinter stehen. Sie hatten ja bei den ersten kleinen Schritten Mühe, Ihre eigene
Partei hinter sich zu versammeln. Ich habe Sie bewundert,
({45})
wie Sie bei den Genossinnen und Genossen angetreten
sind, sie beschworen haben und am Schluss wieder mit
dem Feindbild „Dann kommen die bösen Konservativen
und machen alles kaputt“ gearbeitet haben.
Also noch einmal: Bringen Sie Ihre Vorhaben durch
Ihre Partei, aber dieses Mal rascher! In der Verfassung
steht nämlich nicht, dass Parteitage darüber beschließen
müssen.
({46})
Wir haben vielmehr ein ordnungsgemäßes parlamentarisches Verfahren, das so aussieht: Das Bundeskabinett
beschließt. Der Bundestag überweist den Entwurf an die
Ausschüsse. Wir können, wie gesagt, über Fristverkürzungen reden. Dann beraten wir miteinander in den Gremien. An uns wird der Aufschwung in diesem Land
nicht scheitern.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({47})
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Glos, man möchte fast fragen: Was ist eigentlich mit dieser Opposition los? Beim Vorziehen der Steuerreform
sagen Merkel und Stoiber „Hü!“; Koch und Merz sagen
„Hott!“, Austermann und Milbradt sagen: Steuern mit
der Bundesregierung zusammen senken. Merz sagt: Mit
mir auf gar keinen Fall. Ich frage: Was gilt jetzt eigentlich? Herr Glos, auch nach Ihrer Rede wissen wir das
noch nicht.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie
hatten nun wirklich lange genug Zeit, sich auf das Wochenende in Neuhardenberg vorzubereiten. Die Presse
hat ja schon vorher darüber spekuliert, dass das Vorziehen der Steuerreform möglich ist. Aber Sie haben es
nicht geschafft. Vielmehr gackern Sie durcheinander wie
ein wild gewordener Hühnerhaufen. Das ist nicht gut für
Deutschland.
({0})
Herr Glos, ich will mich nicht dabei aufhalten, Ihr
Chaos weiter zu beschreiben. Nur so viel: Wir wünschen
und wir hoffen, dass sich die Kräfte der Vernunft in Ihren Reihen gegen die Blockadestrategen - oder soll ich
sagen: „Gegen den Andenpakt“? - durchsetzen. Ihr Gebot der Stunde muss heißen, Verantwortung für Deutschland zu übernehmen, statt eine Strategie von Sonthofen
zu fahren, die schon in den 70er-Jahren das Land und Sie
nicht weitergebracht hat. In diesem Sinne wünsche ich
CDU und CSU an dieser Stelle ganz einfach gute Besserung.
Mein Appell geht besonders an die jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der Unionsfraktion; vielleicht
sind ja noch ein paar da. Ich sage den Jüngeren in allen
Fraktionen des Hauses: Wir müssen heute für Reformen
kämpfen, damit auch künftige Generationen in Sicherheit und Wohlstand leben können. Deshalb meine Bitte,
mein Appell an diejenigen, die 1998 oder 2002 das erste
Mal ins Parlament gekommen sind: Lassen Sie sich nicht
für billige Blockademanöver missbrauchen, sondern helfen Sie mit, Deutschland wirklich voranzubringen!
({1})
Worum es in der Sache geht, hat der Bundeskanzler
heute Morgen klargemacht. Um die konjunkturellen und
die strukturellen Probleme unseres Landes zu lösen,
brauchen wir eine Doppelstrategie. Dazu gehören zum
einen die Strukturreformen am Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, bei der Alterssicherung und zur Stärkung der Leistungsfähigkeit unserer Kommunen. Das ist
alles Bestandteil der Agenda 2010. Wir haben das auf
den Weg gebracht und werden das in diesem Jahr ins Gesetzblatt bringen. Zum anderen wollen wir - das ist seit
Neuhardenberg deutlich -, um die private Nachfrage und
die Investitionen in Deutschland anzuregen, die geplanten Stufen der Steuerreform vorziehen.
Wir senken ab dem 1. Januar des kommenden Jahres
die Einkommensteuer für alle um rund 10 Prozent. Davon
profitieren besonders die Bezieher kleiner und mittlerer
Einkommen. Durch diese Stärkung der Kaufkraft kann
und wird es gelingen, die Binnennachfrage anzukurbeln.
Auch bei den Investitionen bringt diese Reform neue Impulse. Besonders Personengesellschaften - meine Damen
und Herren, Sie haben im Wahlkampf auf jeder Veranstaltung das Hohelied auf die kleinen und mittleren Unternehmen gesungen - werden von dieser Tarifsenkung profitieren.
Wir setzen also auf einen Mix aus Erneuerung unserer
Strukturen auf der einen Seite und Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur auf der anderen Seite. Ziel dieser
umfassenden Erneuerung ist es, weitaus mehr private
und auch öffentliche Investitionen auszulösen, um mehr
Dynamik, mehr wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Dazu kommt - das wäre nicht möglich, wenn wir die
Strukturen nicht verändern würden - eine Strategie zur
Senkung der Lohnnebenkosten. Eine zu hohe Belastung des Faktors Arbeit durch Beiträge zu den Sozialversicherungen wirkt gerade im Dienstleistungssektor, wo
menschliche Arbeit meist nicht durch Maschinen ersetzt
werden kann, faktisch wie eine Strafsteuer auf Beschäftigung. Mit der Senkung der Lohnnebenkosten durch die
Reform unserer sozialen Sicherung und mehr Flexibilität
am Arbeitsmarkt werden wir dafür sorgen, dass die
Schwelle, oberhalb derer Wirtschaftswachstum in
Deutschland zu mehr Beschäftigung führt, tatsächlich
sinken kann.
Keine Frage, Deutschland - das führt ja gerade die
FDP so gern im Mund - braucht mehr Flexibilität. Die
deutsche Definition von Freiheit kann und darf nicht heißen: Freiheit bedeutet bei uns in Deutschland Regelungslücke. Ich sage aber an die Adresse der Union und
auch an die Adresse der FDP: Sie fordern mehr Flexibilität immer nur von denen im Blaumann. Wenn es um
Wettbewerb und Flexibilität bei denen im weißen Kittel
oder mit weißem Kragen geht, kehrt bei Ihnen auffälliges Schweigen ein, Herr Westerwelle, auch heute.
({2})
CDU und CSU machen sich zurzeit vielerorts - im
Paul-Löbe-Haus war das vernehmlich zu hören - zu
Lobbyisten der Besitzstandswahrer. Wer wie CDU/CSU
und FDP Deregulierung nur bei Arbeitnehmern und Angestellten, nicht aber in Bezug auf Ärzte, Apotheker,
Selbstständige und Handwerker fordert, wer wie Sie versucht, die Modernisierung der Handwerksordnung und
mehr Wettbewerb im Bereich der Arzneimittel zu verhindern, der hat nicht begriffen, dass es wirklich darauf
ankommt, alle zu bewegen, um Deutschland zu erneuern.
({3})
Das müsste man Ihnen einmal deutlich ins Stammbuch
schreiben - ich hoffe, Sie hören mir noch zu - und insofern werden wir Ihnen das auch noch einmal schriftlich
geben.
Wir werden diese Reformen angehen, meine Damen
und Herren. Da, wo sie nicht zustimmungspflichtig sind,
machen wir sie allein, und bei den anderen Punkten werden wir Sie haarklein stellen. Wir wollen wissen, ob es
- ich sage es einmal ganz deutlich - blödes Geschwätz
ist, wenn Sie von Flexibilität sprechen, oder ob Sie Flexibilität in jedem Bereich und nicht nur von einer Seite
der Gesellschaft fordern.
({4})
Es waren vor allen Dingen vier Standortvorteile, die
unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der
wirtschaftlich erfolgreichsten Länder dieser Erde gemacht haben, das ein hohes Maß an sozialem Ausgleich
organisieren konnte. An diese vier Standortvorteile können und wollen wir mit unseren Reformen wieder anknüpfen.
Unser erster Standortvorteil war und ist immer noch
die hohe Qualifikation der Menschen in unserem Land.
Keine Frage, es sind in allen Bereichen Bildungsreformen notwendig, wenn wir wieder an die Spitze kommen
oder an der Spitze bleiben wollen. Ein Land, das kein
Gold im Boden hat, so hieß es einmal in einem interessanten Kommentar, muss das Gold in den Köpfen der
Menschen heben. Vor allem aber müssen wir auch in
diesem Jahr jedem Schulabgänger und jeder Schulabgängerin die Chance auf einen Ausbildungsplatz bieten.
({5})
Wir werden das Unsere dafür tun und unsere Mittel nutzen. Wir sagen aber auch der Wirtschaft sehr deutlich:
Bildet aus! Es ist in eurem eigenen Interesse.
({6})
Wer glaubt, sich heute Ausbildungskosten sparen zu
können, und von der Politik morgen die Einreise ausländischer Fachkräfte fordert, hat sich geschnitten, um es
ganz klar zu sagen. Wir werden die Wirtschaft dort in die
Verantwortung nehmen.
({7})
Unsere jungen Leute haben eine Ausbildungschance verdient, hier und heute. Das ist ganz wichtig, um den
Standortvorteil Qualifikation für Deutschland zu erhalten.
Der zweite Standortvorteil war und ist immer noch innovative Wissenschaft und Forschung in Deutschland.
Es hat „Made in Germany“ immer ausgezeichnet, dass
hier kluge Menschen Produkte und Verfahren entwickelt
haben, die hier auch zu Produktion und zu Arbeitsplätzen geführt haben. Hier sind wir an manchen Stellen
noch in der Weltspitze und ich möchte die Opposition
bitten, das nicht kaputt zu reden. Ich erinnere an den Maschinenbau, an den Anlagenbau und an die Biotechnologie. An anderen Stellen, beispielsweise im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnologien, müssen wir aufholen, da sind wir im Hintertreffen. Ich bitte
Sie ganz herzlich, miteinander - wir haben gestern
zumindest im Ausschuss darüber sehr einvernehmlich
diskutiert - die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, beispielsweise bei der Reform des Telekommunikationsgesetzes, die in diesem Jahr ansteht, um in diesem Bereich Impulse für mehr Investitionen und mehr
technologischen Fortschritt in Deutschland zu geben.
Der dritte Standortvorteil war und ist nach wie vor die
hervorragende Infrastruktur in Deutschland. Unsere
Straßen sind im Vergleich zu denen in anderen Ländern
immer noch in einem hervorragenden Zustand. Damit
das auch in Zukunft so bleiben kann, brauchen wir neue
Wege in der Finanzierung auch öffentlicher Infrastruktur. Dazu gehören neue Betreibermodelle, auch Public
Private Partnership kann und muss in Deutschland weiter entwickelt werden. Es geht ganz einfach darum, auch
privates Kapital für öffentliche Aufgaben mobilisieren
zu können.
Es gibt aber einen Bereich, meine Damen und Herren,
in dem wir in der öffentlichen Infrastruktur nach wie vor
weit im Hintertreffen sind, das ist die Kinderbetreuung.
Ein Blick nach Skandinavien zeigt sehr deutlich: Eine
bessere Kinderbetreuung schafft bessere Bildungsmöglichkeiten.
({8})
Eine bessere Kinderbetreuung führt zu einer besseren
Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine bessere Kinderbetreuung sorgt dafür, dass mehr Frauen die Chance
haben, ihr Können im Arbeitsleben einzubringen.
Eine bessere Kinderbetreuung und damit eine höhere
Frauenerwerbstätigkeit gehen in diesen Ländern auch
mit einer höheren Geburtenrate einher, sind also gut für
die demographische Entwicklung. Auch das sollten vor
allen Dingen Sie, meine Damen und Herren von der
CSU, zur Kenntnis nehmen, wenn Sie versuchen, aus
ideologischen Gründen gegen bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten und gegen Ganztagsschulen zu polemisieren.
({9})
- Dann frage ich Sie: Welches Land in Deutschland hat
denn die schlechtesten Kinderbetreuungsmöglichkeiten
und die wenigsten Ganztagsschulen? Das ist der Freistaat Bayern.
({10})
Um es auf den Punkt zu bringen: Unsere Volkswirtschaft
kann sich schlechte Kinderbetreuungsangebote einfach
nicht länger leisten.
Ich komme zu einem weiteren Standortfaktor, zum
sozialen Frieden in unserem Lande. Darüber möchte ich
sprechen, nicht nur weil er seit langem stabile demokratische Verhältnisse in Deutschland bewirkt sondern
auch, weil er für die Wirtschaft wichtig ist. Der soziale
Frieden als wirtschaftlicher Standortfaktor wird oft unterschätzt. Schaut man sich das Ergebnis eines internationalen Vergleiches an, so haben wir relativ wenige
Streiks - trotz der Berichterstattung der letzten Wochen
und Monate - und so gut wie keine sozialen Verwerfungen oder Unruhen in Deutschland gehabt. Man kann sogar sagen: In Deutschland wird mehr Zeit durch Grußworte oder durch Reden von Herrn Westerwelle
verschwendet als durch Streiktage.
({11})
Insofern ist es auch aus wirtschaftlichen Überlegungen
von Interesse, den sozialen Frieden zu erhalten.
Das müssen wir unter dramatisch veränderten Rahmenbedingungen tun. Die wirtschaftliche Globalisierung,
die demographische Entwicklung und der technische
Fortschritt machen es dringend erforderlich, unseren Sozialstaat umzubauen, damit soziale Sicherheit auch in
Zukunft möglich ist. Auf diesen Weg haben wir uns gemacht, nicht erst seit gestern oder seit Beginn dieser Legislaturperiode, sondern auch schon in der vergangenen
Legislaturperiode. Wir sagen sehr deutlich: Unser Sozialstaat der Zukunft konzentriert die Hilfen auf diejenigen, die unverschuldet in Not geraten sind; er setzt darauf, zu fördern und zu fordern; er verbindet gleiche
Rechte für den Einzelnen mit gleichen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und sorgt für einen fairen Ausgleich der Lasten und Chancen zwischen den Generationen.
Für diesen Sozialstaat lohnt sich so manche Mühe
und so mancher Ärger, die wir schon jetzt haben, aber
auch noch vor uns haben. Vor allem lohnt sich diese
Mühe aber für unser Land. Ich bitte das gesamte Parlament, auch die Opposition, um Unterstützung. Die Menschen erwarten von uns zu Recht kein kleinkariertes politisches Gezänk, sondern Lösungen. Sie erwarten von
Opposition und Regierung, vom Bund, aber auch von
den Bundesländern, dass die Politik ihrer Verantwortung
gerecht wird.
Meine herzliche Bitte an CDU/CSU lautet: Wir haben
in vielen Bereichen zu streiten. Aber denken Sie bei den
Diskussionen, die anstehen, in erster Linie an Deutschland und nicht so sehr an die bayerische Landtagswahl.
Erfüllen Sie Ihre Pflicht als Opposition, die Ihnen die
Verfassung durchaus zuweist. Es muss Ihr Schaden nicht
sein, meine Damen und Herren von der Opposition,
wenn die Menschen in Deutschland zur Abwechslung
auch einmal stolz auf die Opposition sein können.
({12})
- Zum Thema Realitätsverlust möchte ich gerne etwas
sagen. Ich habe mir eben die Rede von Herrn Glos angehört. Frau Merkel hat in ihrer Rede gesagt, Subventionen
müssten abgebaut werden; so habe ich sie vorhin verstanden. Herr Glos sagt, wir sollten ja keinen Subventionsabbau vornehmen, dieser würde Effekte wieder zunichte machen.
({13})
Was denn nun? - Sie haben verhindert, dass die Kommunen in diesem Jahr 6 Milliarden Euro zur Verfügung
haben, um ihre Investitionskraft zu stärken.
({14})
Herr Hinsken, der dort sitzt, versucht, das Handwerk gegen diese Bundesregierung aufzuhetzen, weil wir die
notwendigen Schritte unternehmen, um die Handwerksordnung in Deutschland zu modernisieren. Sie sind eine
Opposition der Verweigerer. Zurzeit werden Sie Ihrer
Verantwortung nicht gerecht.
Deshalb lautet meine Bitte an Sie: Kommen Sie auf
den Boden der Realität zurück. Es soll Ihr Schaden nicht
sein. Wir alle arbeiten für Deutschland, auch Sie. Ich
wünsche Ihnen - wie gesagt - gute Besserung. Einige
bei Ihnen haben das begriffen, andere noch nicht.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Gäste! Wo liegt eigentlich Neuhardenberg, das ehemalige Marxwalde, und wie kommt man
dahin? Diese praktischen Fragen werden sich einige Abgeordnete sicherlich gestellt haben. Der Kanzler
brauchte nicht auf die Autokarte zu schauen oder den
Fahrplan der Deutschen Bahn zu studieren, sondern er
kam und verschwand dann wieder mit dem Hubschrauber. Das ist das eigentliche Problem. Als Erich Honecker
durch die Lande fuhr, wurden die Häuserreihen, an denen er mit seinem Auto vorbeikam, notdürftig angestrichen und die Menschen, die er auf den Marktplätzen traf,
waren vertrauenswürdige Statisten.
({0})
Der Kanzler sieht die Welt aus der Vogelperspektive,
aus einem Hubschrauber. Er erklärt, Deutschland bewege sich. Dabei kann er allerdings gar nicht sehen, was
sich mehrere Tausend Meter unter ihm tut. Er fliegt über
das Land und liest Umfrageergebnisse. Dabei hat er nur
noch eine Zahl im Kopf, nämlich die Zahl, die den prozentualen Abstand zwischen der CDU und der SPD beschreibt.
Nun haben Sie mit dem Versprechen einer steuerlichen Entlastung von circa 15 Milliarden Euro für
2004 in den Umfragen einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Wir als PDS haben am Wochenende nicht eine Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro versprochen, sondern einen Bundesparteitag abgehalten. Lothar Bisky
wurde zum Parteivorsitzenden gewählt und hat die Opposition zur Agenda 2010 präzisiert - die PDS hat auch
einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Letzteres scheint
mir aus ökonomischer Sicht die geeignetere Strategie zu
sein.
({1})
Der Bundeskanzler ist offensichtlich bereit, für einen
Prozentpunkt mehr in den Umfragen die Wahlprogramme der CDU komplett zu übernehmen, um so Frau
Merkel und Herrn Stoiber unter Druck zu setzen. Die politische Debatte hat mit der Realität nichts mehr zu tun.
Sie ist quasi zu einer Hasenjagd konvertiert. Es stellt
sich nur noch die Frage, wer gerade Hase und wer Jäger
ist, die CDU oder die SPD.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will
die Steuerreform vorziehen. Schauen wir uns doch einmal die Ergebnisse der letzten großen, unsozialen Steuerreformen der Bundesregierung an:
Erstens. Sie haben gigantische Steuerentlastungen für
große Aktiengesellschaften durchgesetzt. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer fielen zum Beispiel
von 24 Milliarden Euro auf unter null. Sie mussten Steuerguthaben in gigantischen Größenordnungen an Konzerne auszahlen. Die gewünschten Investitionen und die
erwartete konjunkturelle Belebung blieben jedoch aus.
Zweitens. Die Steuerreform führte dazu, dass die Einnahmen der Städte und Gemeinden und auch die der
Länder dramatisch abstürzten. Sie sind kaum noch in der
Lage, ihre gesetzlichen Pflichtaufgaben zu erfüllen. Allein meine Heimatstadt Berlin wird aufgrund der vorgezogenen Steuerreform weitere 460 Millionen Euro jährlich im Stadtsäckel vermissen.
Was hat die Bundesregierung aus ihrer ersten Steuerreform gelernt? - Augenscheinlich nichts; denn die Losung
lautet: Weiter so! Die von Ihnen geplante Steuerreform
bedeutet bei einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro
eine Steuerersparnis von 267 Euro. Das sind im Monat
gut 22,25 Euro Ersparnis.
({2})
- Das ist besser als nichts, das ist richtig. Aber bei einem
Jahreseinkommen von 1 Million Euro kommt man schon
auf 67 000 Euro Steuerersparnis im Jahr. Das soll Gerechtigkeit sein?
Interessant ist, dass die „FAZ“, aber auch die „Bild“Zeitung die Steuerersparnisse in ihren Tabellen nur bis
zu einem Jahresgehalt von 100 000 Euro berechnet haben. Einkommensmillionäre gibt es in diesen Blättern
gar nicht.
Klar ist, dass von 22,25 Euro nicht viel übrig bleiben
wird, wenn sich die große Koalition von SPD und CDU
auf einen Subventionsabbau einigt. Ich glaube, zum
Beispiel Herr Ackermann, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, mit einem Jahresgehalt von 6,9 Millionen
Euro wird auf die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale und die Steuerbefreiung von Nacht- und Sonntagsarbeit nicht angewiesen sein. Ihn wird der Subventionsabbau nicht treffen.
Meine Damen und Herren, die nächste Stufe der Steuerreform wird genauso wenig den Massenkonsum ankurbeln wie die bisherigen Steuerreformen der Bundesregierung. Was Sie den Leuten an Steuern zurückgeben,
holen Sie sich beim Subventionsabbau wieder zurück.
Eine Linie ist nicht erkennbar.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck,
dass der Kanzler mit einem ernsten Hubschraubersyndrom zu kämpfen hat. Wir nannten das zu DDR-Zeiten
das Wandlitz-Syndrom. Ich empfehle Ihnen, einfach mal
wieder mit der Straßenbahn zu fahren oder die Deutsche
Bahn zu nutzen. Dann werden Sie Deutschland mit anderen Augen sehen.
Übrigens: Mit der Bahn kommt man mit dem DB Regio, Linie 7 - Berlin-Eberswalde-Frankfurt/Oder - nach
Neuhardenberg. Der Bahnhof liegt circa zehn Kilometer
von Neuhardenberg entfernt. Die tägliche Verbindung
gibt es allerdings nur im Zweistundentakt. Wer von den
Ministern ist eigentlich mit der Bahn gekommen?
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir gehen bald in die Sommerpause, aber wir werden uns in einem Herbst wieder treffen, der mit Sicherheit sehr
schwierig wird.
Wir werden eine hohe Arbeitslosigkeit haben, die bis
an die Fünfmillionengrenze heranreichen kann, und wir
befinden uns - das wissen wir; darüber haben wir gestern auch im Haushaltsausschuss gesprochen - im dritten
Jahr hintereinander in einer Stagnation. Das ist in erster
Linie für die betroffenen Arbeitslosen ein großes Problem; das wird aber auch ein großes Problem bei der
Aufstellung des Haushaltes 2004 sein. Deswegen reicht
es nicht, nur darüber zu jammern und zu klagen, dass wir
in einer schwierigen Situation sind und - ich kann mir
vorstellen, dass mein Kollege Austermann von der
CDU/CSU das hier möglicherweise strapazieren wird so unglaublich schlechte Haushaltszahlen haben.
Im Haushalt 2004 wollen wir 14 Milliarden Euro einsparen - das sehen wir in unserem Entwurf vor -, mehr
als die Hälfte davon im Übrigen auf der Ausgabeseite.
Wenn wir gleichzeitig auch auf der Einnahmeseite konsolidieren,
({0})
dann sollten Sie das - dafür möchte ich werben - nicht
nur als Luftbuchungen bezeichnen. Im Zweifel sollten
Sie uns noch überholen. Dann schauen wir, ob Ihre Vorschläge besser sind.
({1})
Es geht jedenfalls nicht, von Luftbuchungen zu sprechen und sich auf der anderen Seite darüber zu beschweren, dass zum Beispiel die Rentner belastet werden sollen. Sie müssen dann schon den Mut haben, Alternativen
gegenüberzustellen. Wir haben sehr ehrgeizige Einsparvorschläge vorgelegt und bereits - das muss ich einmal
ganz deutlich sagen, weil Sie uns immer vorwerfen, es
sei noch nichts genannt; das wissen Sie aber auch - einen
massiven Subventionsabbau konkretisiert.
({2})
- Die Steinkohlesubventionen werden weiter abgebaut.
Ich weiß, dass Sie uns dabei unterstützen werden. Das
finde ich im Übrigen gar nicht schlecht.
({3})
Ich will Ihnen sagen: Sie können nicht nur Vorwürfe
machen. Ich möchte dafür werben, dass Sie auch Alternativen vorlegen. Es wäre gut, wenn Sie das täten; denn
dann könnten wir darüber streiten.
Es reicht nicht, nur zurückzublicken und zu klagen,
dass Sie dies und das früher falsch gefunden haben. Es
reicht auch nicht, zu sagen, früher hätten wir versprochen, die Situation werde besser. Wir alle dürfen nämlich den Blick für die Realität nicht verlieren. Die Realität ist heute schwierig. Wir haben eine immens hohe
Arbeitslosigkeit und befinden uns in der Stagnation; damit gilt es umzugehen. Das gilt auch für die Opposition,
die das zur Grundlage ihrer Argumentation machen
muss. Das erwarte ich von Ihnen und auch von meinen
Kollegen im Haushaltsausschuss.
({4})
In der Kürze der mir noch verbliebenen Zeit möchte
ich noch über das Vorziehen der Steuerreform reden.
Ihre Fraktionschefin sagte, sie hätten „gesessen und gewartet“. Das wäre für uns ja noch bequem gewesen.
Nein, es ist viel schlimmer: Ihre Reaktion darauf, Ihr ungeordnetes Vorgehen beim Vorziehen der Steuerreform,
zeigt, dass Sie nicht zu einer ehrlichen Debatte bereit
sind. Ich will Ihnen ehrlich sagen: Das geht in diesem
Land und auch für Sie auf Dauer nicht gut.
Die Bevölkerung empfindet das Vorziehen der Steuerreform zu Recht als Entlastung. Sie sagt aber mehrheitlich - das Gleiche gilt auch für uns -, dass wir uns das
Vorziehen auf Pump eigentlich nicht leisten können.
({5})
Deshalb brauchen wir Ihre Kooperation, weil die Mehrheitsverhältnisse so sind, wie sie sind. Herr Glos, Sie haben auch von der Nachhaltigkeit gesprochen. Ich bitte
Sie, die Verantwortung, die Sie im Bundesrat tragen und
die Sie sich erkämpft haben, auch wahrzunehmen.
({6})
Es kann nicht sein, dass die Eigenprofilierungssucht eines Herrn Koch ein solches Durcheinander bewirkt, sodass Sie sich hinterher nicht mehr bewegen können. Eigenprofilierung darf jetzt nicht sein.
({7})
Dazu sind die Probleme in unserem Land zu groß. Auch
Sie tragen Verantwortung in unserem Land. Ob Sie wollen oder nicht: Die Lage ist nun einmal so.
({8})
Ich will zum Abschluss Folgendes sagen: Niemand
von uns bestreitet, dass die Hauptprobleme nicht unbedingt nur mit den Steuern zu tun haben. Vielmehr müssen jetzt Strukturreformen Priorität haben. Sie wissen,
dass wir mit der Agenda 2010 nicht nur Ankündigungen
gemacht haben, sondern auch die entsprechenden Gesetzentwürfe bereits vorgelegt haben: Die Beratungen
zur Gesundheitsreform laufen. Über die Veränderungen
auf dem Arbeitsmarkt haben wir schon strittig diskutiert.
Im Herbst werden wir noch über eine ganz entscheidende Frage debattieren, nämlich die Reform der Alterssicherung.
Ich fordere Sie auf, mutiger zu sein und dabei auch
den Konflikt mit Lobbyisten nicht zu scheuen. Der Weg
zur Lösung ist nun einmal steinig. Die Bevölkerung
weiß, dass Reformen schmerzhaft sein können. Das
müssen Sie anerkennen. Wir werden Vorschläge machen. Aber bei einem Teil der Vorschläge werden wir
Ihre Zustimmung brauchen. Wir sind bereit, gewisse
Kompromisse zu machen. Aber Neinsager können wir
uns in diesem Land nicht leisten. Deswegen fordere ich,
dass Sie sich nicht nur darauf beschränken, unsere Vorschläge abzulehnen.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich
Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die
Diskussion verfolgt, der hat sich sicherlich darüber gewundert, dass in einer Debatte im Anschluss an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers weder dieser
noch ein Minister aus seinem Kabinett hier anwesend ist.
({0})
Es sind zwar eine ganze Reihe von Stellvertretern hier,
aber der Kanzler selber eben nicht.
Dabei wäre es gut, man könnte sich mit ihm über das
unterhalten, was sich in der vergangenen Zeit getan hat
und weshalb wir heute diese Debatte nach der Regierungserklärung führen müssen. Heute Nachmittag wird
der Bundeskanzler im Untersuchungsausschuss, dem
Lügenausschuss, aussagen müssen. Der Lügenausschuss
soll aufklären, wie mit den Menschen in diesem Land
vor der Bundestagswahl umgegangen worden ist.
({1})
Ich sage: Die Lügen von 2002 sind offensichtlich die
Grundlage für den Haushalt von heute, den Herr Eichel
vorgelegt hat. Wenn man sich den Haushalt anschaut,
stellt man fest, dass er ein einziges Lügengebäude ist.
({2})
Ich will das konkret deutlich machen: In unserem
Land findet kein Wirtschaftswachstum statt. Der „Handelsblatt“-Indikator weist heute Stagnation aus. Der
Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsausschuss, als wir ihn gefragt haben, warum er auf unsere
Vorschläge zu Steuersenkungen nicht eher eingegangen
ist, geantwortet, er habe das dritte Jahr der Stagnation
abwarten wollen. Das heißt, der Regierung war bewusst,
dass sie spätestens nach zwei Jahren Stagnation hätte
handeln müssen, aber sie hat trotzdem nichts gemacht
und die notwendigen Maßnahmen nicht umgesetzt. Im
dritten Jahr der Stagnation ist die Regierung dazu endlich bereit.
Ein Teil der Redner der Koalition hat uns heute vorgehalten, es gebe hie und da unterschiedliche Stimmen in
unseren Reihen. Wenn ich mir die Eckdaten unseres
Landes anschaue, dann muss ich sagen: Viele Menschen
in diesem Lande - das gilt selbst für mich, der ich von
Herrn Poß und anderen vor der Bundestagswahl immer
als Kassandra gescholten worden bin, weil ich die Situation realistisch beschrieben habe - haben sich nicht vorstellen können, wie desaströs die Lage zurzeit in
Deutschland ist. Deshalb muss man heute klar benennen,
wer an dieser Entwicklung schuld ist.
({3})
Bei allen wesentlichen Kennziffern der wirtschaftlichen
Entwicklung wie Wachstum, Beschäftigung und Kaufkraft ist Deutschland nach vier Jahren Reformstau unter
Schröder im Vergleich zu anderen führenden Nationen
zurückgefallen. In diesen vier Jahren wurde den Bürgern
etwas vorgegaukelt.
Wenn man heute der Realität ins Auge sehen will,
dann ist es dringend geboten, auf der Grundlage des
Haushalts 2003 eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dies
hätte zur Folge, dass ein Nachtragshaushalt auf den
Tisch gelegt werden müsste, aus dem hervorgeht, wo wir
zurzeit stehen. Jetzt muss mit dem Sparen wirklich angefangen werden.
Sparen heißt zunächst einmal, dass die Regierung ihren eigenen Konsum zurückfährt.
({4})
Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht eine neue Kommission, ein Gutachterausschuss oder ein Beratergremium eingesetzt wird oder neue Subventionen initiiert
werden. Fast täglich werden neue, für den Haushalt kostenträchtige Maßnahmen eingeleitet. Sie aber weigern
sich, eine Haushaltssperre zu verhängen, ein Haushaltssicherungsgesetz zu machen und einen Nachtragshaushalt vorzulegen.
Wir fordern Sie auf, zur Haushaltsklarheit und
Haushaltswahrheit zurückzukehren.
({5})
Innerhalb einer Woche gibt es inzwischen den zweiten
Haushaltsentwurf. Am Mittwoch vor einer Woche hat
Eichel einen ersten Haushaltsentwurf vorgelegt, der mit
einer Verschuldung endete, die scheinbar gerade noch
innerhalb der Verfassungsgrenze lag. Er hat gestern einen zweiten Haushaltsentwurf vorgelegt, der diese Verfassungsgrenze überschreitet. Man kann den Bürgern gar
nicht genug demonstrieren, dass das Parlament gezwungen ist, die Verfassung, die von diesem Parlament geschaffen worden ist, einzuhalten. Wenn eine Regelung in
der Verfassung existiert, die verbietet, dass wir mehr
neue Schulden machen, als wir Mittel für Investitionen,
also für die Zukunft, einsetzen, dann kann man doch
nicht leichtfertig sagen: Das interessiert uns überhaupt
nicht,
({6})
wir überschreiten die Verschuldungsgrenze um 6 oder
7 Milliarden Euro oder umgerechnet 14 Milliarden DM,
es wird sich im Laufe der Zeit schon richten.
Nun haben Sie gesagt, wir sollten uns an der einen
oder anderen Maßnahme beteiligen, die Sie vorschlagen
wollen. Ich unterstreiche noch einmal, was unsere Fraktionsvorsitzende gesagt hat: Alles, was Sie jetzt genannt
haben, ist bereits im ersten Haushaltsentwurf, den Sie
eine Woche zuvor vorgestellt haben, enthalten gewesen,
von der Entfernungspauschale über die Eigenheimzulage
bis - das ist besonders interessant - hin zu dem, was
Koch und Steinbrück erst noch ermitteln sollen.
({7})
Da ist im Haushalt eine Einsparung eingestellt, ohne
dass die Einigung über diese Position bisher herbeigeführt worden ist. Das kann man nicht anders als Luftbuchungen, Luftlöcher und Hoffnungswerte bezeichnen.
Trotz dieser Regelung ist es dem Bundesfinanzminister
nicht gelungen, einen Haushalt vorzulegen, der die Verfassungsgrenze einhält.
({8})
- Die Frage stellt sich überhaupt nicht.
({9})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode 1 078 Anträge vorgelegt. Wir haben in dieser Wahlperiode
256 Anträge vorgelegt. Darunter war eine Fülle von Vorschlägen, an welcher Stelle gestrichen werden soll.
({10})
Auch im Monat Juni haben wir einen Antrag vorgelegt,
der unsere grundsätzliche Position unterstreicht, nämlich: Die Steuertarife müssen herunter, die Ausnahmen
müssen weg. Das ist die grundsätzliche Position der
Union.
Was Sie jetzt vorschlagen, ist die zweitbeste Lösung.
Wir sind auch für die zweitbeste Lösung, wenn mehr
nicht zu machen ist, aber es macht keinen Sinn, eine
Steuersenkung vorzunehmen, bei der von vornherein sicher ist, dass, nur um den Haushalt auszugleichen, den
Menschen das Geld, das sie durch den denkbaren wirtschaftlichen Wachstumsimpuls erhalten, wieder aus der
Tasche gezogen wird.
Ich kann Ihnen sagen, was bisher Bestandteil des
Haushalts ist. Sie sollten überlegen, woher Sie die weiteren 7 Milliarden Euro nehmen wollen. Sie haben bisher
zur Rente keine klare Aussage gemacht. Der Bundesfinanzminister ist von Neuhardenberg mit dem Auftrag
zurückgekommen, er möge sich mit der Ministerin
Schmidt einigen.
({11})
- Nein, das hat er nicht. - Wir wissen bisher nicht, ob er
die Schwankungsreserve auflösen will. Wie will er die
Schwankungsreserve auflösen, wenn diese im Wesentlichen aus Immobilien besteht? Soll der Beitrag gesenkt
werden? Nach dem Finanzplan des Bundes für die
nächsten vier Jahre ist davon auszugehen, dass die Rentner in Deutschland in den nächsten vier Jahren Einkommenseinbußen haben werden, ohne dass Sie bisher eine
Entscheidung getroffen haben.
Einkommenseinbußen wird es auch bei den Landwirten geben. Michael Glos hat auf die Zangenbewegung - EU, Frau Künast, Bundeshaushalt - hingewiesen.
Einschränkungen bei der Alters- und Krankenversicherung: Die Beiträge für die Krankenversicherung werden
um 30 bis 40 Prozent steigen. Wir wollten eigentlich
eine Politik machen, mit der die Beiträge und die Abgabenlast gesenkt werden. Versorgungsempfänger: Halbierung der jährlichen Sonderzuwendungen; aktive
Beamten, Richter und Soldaten: Kürzung des Weihnachtsgeldes, Streichung des Urlaubsgeldes, Einschränkungen bei der Beihilfe; Arbeitslose: Einschränkungen
der Leistungen; Familien: Einschränkung des Kreises
der Berechtigten für den Bezug von Erziehungsgeld; Alleinerziehende: Einschränkung des Kreises der Berechtigten für den Bezug von Unterhaltsvorschuss. Was Sie
hier tun, finde ich besonders unanständig, weil das die
Schwächsten der Gesellschaft, die Familien und die unvollständigen Familien betrifft.
Zivildienstleistende sind betroffen und Häuslebauer.
Die Eigenheimzulage und die Wohnungsbauprämie fallen weg. Alle Arbeitnehmer erfahren eine Einschränkung der Entfernungspauschale. Ich sage Ihnen noch
einmal: Sie haben die Einschränkung der Entfernungspauschale bereits in dem ersten Haushaltsentwurf verarbeitet.
({12})
Wie werden Sie reagieren, wenn später die Arbeitnehmer nicht auf die Pauschale setzen, sondern die Kosten
extra abrechnen? Unternehmen: Einschränkung der zeitanteiligen AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter im Jahr
der Anschaffung.
Sie haben ein Konvolut von Maßnahmen vorgelegt, in
dem - um die Balance des Haushalts einigermaßen zu
wahren - so viele Kürzungen zulasten der Menschen in
unserem Land vorgesehen sind, dass kaum Grund zu der
Annahme besteht, das Vorziehen der Steuerreform könne
einen Wachstumsimpuls auslösen.
({13})
- Unsere Vorschläge liegen bereits vor. Ich darf sie
Herrn Heil noch einmal nennen: erstens Haushaltssicherungsgesetz, zweitens Haushaltssperre, drittens Nachtragshaushalt
({14})
und viertens ein verfassungsmäßiger Haushalt für das
nächste Jahr.
({15})
Dazu gehört meines Erachtens - das kann nicht oft
genug festgestellt werden -, dass wir endlich anfangen
zu sparen. Das fängt bei der Regierung an. Es gibt keinen Tag, an dem sie nicht irgendein Vorhaben ankündigt,
mit dem sie den Bürgern hier und da neue Geschenke zustecken möchte.
({16})
- Der Kollege Kauder hat völlig Recht. Wenn es ein wesentliches Problem in diesem Land gibt, dann ist das die
Tatsache, dass die Menschen kein Vertrauen in das
Handeln der Regierung haben.
({17})
Wenn kein Vertrauen vorhanden ist, fehlt es an Konsum und an Investitionen. Viele Unternehmer in meinem
Wahlkreis, aber auch darüber hinaus, teilen mir mit, sie
müssten zugunsten der weiteren Entwicklung ihres Betriebes zwar eigentlich Investitionen vornehmen und sie
könnten dies auch, aber solange diese Politik fortgeführt
werde, würden sie nicht investieren.
({18})
Das Gleiche gilt für die Konsumenten. Obwohl sie
zum Konsum in der Lage wären, legen sie lieber das
Geld auf das Sparbuch, weil sie davon ausgehen müssen,
dass, wenn die Regierung weiter so vor sich hin wurstelt,
das Wirtschaftswachstum auch im nächsten Jahr nicht sicher ist und dass sich das vorgesehene Wachstum als
Trugbild erweist.
({19})
- Herr Poß, der Unternehmer entscheidet sich dann für
Investitionen, wenn es der Regierung gelingt, den Eindruck zu vermitteln, dass sie eine berechenbare Politik
gestaltet. Schröder aber blinkt links und fährt nach
rechts. Dass er nach rechts fährt, kann einem manchmal
gefallen, aber am nächsten Tag blinkt er dann rechts und
fährt nach links.
Solange bei der Regierung kein klarer Kurs erkennbar
ist, wird sie kein Vertrauen erzielen.
({20})
Deswegen müssen jetzt die richtigen Vorschläge auf den
Tisch kommen. Dann wird die Union ihre Alternative
vorlegen. Erst dann kommt Deutschland voran.
Herzlichen Dank.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
„Es ist immer das Gleiche: Man nimmt eine Gesetzessammlung zur Hand, um eine Rechtsregel nachzuschlagen, und steht vor der Frage, wo man suchen soll.“ Dieser Satz aus dem Vorwort zum Einkommensteuergesetz trifft natürlich auch und besonders für das Steuerrecht zu. Die Transparenz der Steuergesetze ist für die
Umsetzung unserer modernen Steuerpolitik, die die
Grundlage der Klausurtagung des Bundeskabinetts in
Neuhardenberg und der Agenda 2010 darstellt, eine
wichtige Voraussetzung.
Modernisierung und Vereinfachung sind Ziele unserer
Steuerpolitik und Voraussetzung für Steuergerechtigkeit.
Doch neben Vereinfachung und Transparenz gibt es
noch andere Ansprüche, die eine nachhaltige Steuerpolitik erfüllen muss. Sie muss Grundlage für die notwendige Finanzausstattung zur Erfüllung der staatlichen
Aufgaben sein, wirtschaftliche Impulse setzen, auf konjunkturelle Veränderungen reagieren können und dem
Grundsatz auf eine gerechte Lastenverteilung gerecht
werden.
Besondere Beachtung bei der Umsetzung dieser Aufgaben hat das Gesetz zur Senkung der Steuersätze und
zur Reform der Unternehmensbesteuerung vom 23. Oktober 2000 gefunden, das den Einstieg in die große
Steuerreform darstellte und mit der Umsetzung der letzten beiden Stufen nunmehr abgeschlossen werden soll.
Was das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform
im Einzelnen bedeutet, möchte ich noch einmal kurz ins
Gedächtnis rufen. Der Eingangssteuersatz sinkt auf
15 Prozent, der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Der
Grundfreibetrag steigt auf 7 664 Euro. Gleichzeitig haben wir das Kindergeld auf 154 Euro angehoben. Gegenüber 1998 bedeutet das für eine allein erziehende Mutter
mit einem Kind und einem Einkommen in Höhe von
20 000 Euro eine Reduzierung der Belastung von 804 auf
182 Euro. Das sind mehr als 77 Prozent. Bei einem verheirateten Alleinverdiener mit einem Kind und einem zu
versteuernden Einkommen in Höhe von 35 000 Euro bedeutet das eine Reduzierung von 3 429 auf 1 074 Euro,
also um fast 69 Prozent. Aber auch alle anderen Steuerpflichtigen werden entlastet, und zwar im Durchschnitt
um 10 Prozent. Davon profitieren aber nicht nur Familien. Auch Einzelfirmen und Personengesellschaften
werden dadurch deutlich mehr Geld in der Kasse haben.
({0})
Das schafft zusätzliche Impulse für Konsum und Investitionen. Beides brauchen wir, um unserer Wirtschaft
Dynamik für Wachstum und Beschäftigung zu verleihen.
Ich schlage ein steuerpolitisches Sofortprogramm
zum Ankurbeln der Wirtschaft vor: Vorziehen der
zweiten und dritten Steuerentlastungsstufe …
So ist es - von Edmund Stoiber - am 29. September
2001 in der „Welt am Sonntag“ zu lesen. Am 29. Juni
2003 war dagegen bei Reuters zu lesen:
Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat das Nein der Union zu
dem vom Bundeskabinett beschlossenen Vorziehen
der Steuerreform bekräftigt.
Doch am vergangenen Sonntag kam - hoffentlich - die
endgültig letzte Wendung - und zwar diesmal zum Guten - in einem Brief an Bundeskanzler Gerhard
Schröder.
({1})
- Ja, er hat ihn beantwortet. Lesen Sie keine „Bild“-Zeitung, Herr Hinsken?
({2})
Einhergehen muss mit den geplanten Steuersenkungen für alle Steuerpflichtigen selbstverständlich ein
umfassendes Programm zum Abbau von Steuersubventionen. Subventionsabbau darf nicht nur ein Wahlkampfversprechen sein. „Die Wahlversprechen von
heute, sind die Steuern von morgen.“ Diesen Satz
möchte ich heute ganz besonders meinen bayerischen
Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben. Ein
einfaches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zu
fordern ist eine Sache, die konkrete Umsetzung eine ganz
andere. Wenn man pauschal Forderungen nach einem
einfachen Steuersystem erhebt, erntet man auf breiter
Front Zustimmung. Sobald es aber konkret wird, sieht
die Welt plötzlich ganz anders aus.
({3})
Das gilt auch beim Thema Subventionsabbau. Jeder
befürwortet grundsätzlich einen Abbau von Finanzhilfen
oder Steuervergünstigungen, und zwar völlig zu Recht;
denn sie entlasten Einzelne und belasten alle. Doch jedes
Stopfen von Steuerschlupflöchern, das Eindämmen von
Umgehungsmöglichkeiten und der Abbau von Vergünstigungen wirken natürlich umgekehrt: für Einzelne belastend, aber für alle anderen entlastend.
({4})
Wer also allgemein nach Subventionsabbau ruft, dann
aber in jedem konkreten Fall mit der Parole „Hilfe, hier
droht eine Steuererhöhung!“ die Umsetzung verhindert,
erweist der Sache einen Bärendienst. Gerade die Diskussion über den Abbau von Steuervergünstigungen im
Frühjahr dieses Jahres hat gezeigt, dass Lobbyarbeit bei
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Leider hat sich
wieder einmal erwiesen, dass Sie noch nicht einmal Ihren eigenen Sonntagsreden glauben. Doch das Motto
„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ wird
hier genauso wenig funktionieren wie überall.
Es gab in den letzten Tagen Hunderte von Schlagzeilen oder widersprüchlichen Aussagen aus den Reihen
der CDU/CSU, die ich versucht bin zu zitieren. Aber ich
habe mir just das Zitat herausgesucht, das sich auch unser Fraktionsvorsitzender herausgepickt hat - ich denke,
man kann es ruhig noch einmal vortragen, weil es die Situation der CDU/CSU so schön beschreibt -:
Die Union sagt ja nicht Nein, sondern die Union
sagt: Ja, aber …
Dieses entschiedene Sowohl-als-auch ist ein Zitat von
Edmund Stoiber im „heute journal“ vom 30. Juni dieses
Jahres. Aber so kann es nicht gehen. Die Aufgaben in
der Steuerpolitik sind viel zu ernst, als dass Sie hier Ihre
taktischen Spielchen spielen können.
({5})
Die Menschen im Lande erwarten Entscheidungen.
Diese Entscheidungen können zum großen Teil nur in
Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesrat getroffen werden. Hier sind Sie in der Pflicht. Wir wollen
diese Zusammenarbeit. Die Länder haben ein ureigenes
Interesse an Ergebnissen; denn sie haben die Verantwortung für ihren Haushalt und für die Kommunen.
Wir brauchen einen Abbau von Subventionen und
Ausnahmen, nicht nur im Interesse der Staatsfinanzen;
er ist ein wirkungsvoller Beitrag zur Steuervereinfachung und zur Steuergerechtigkeit.
Die Bekämpfung von Steuerbetrug ist eine große
Herausforderung für die nächste Zeit. Ich glaube, es ist
niemand hier in diesem Hohen Haus anwesend, der mir
- bei allen Differenzen, die wir vielleicht haben - nicht
zustimmt. Allein im Bereich der Umsatzsteuer werden
Bund, Ländern und Kommunen jährlich 14 Milliarden
Euro vorenthalten. Der Grund dafür sind betrügerische
Machenschaften, die zulasten aller Menschen und aller
Unternehmen in diesem Land gehen. Wir müssen diese
Vergehen mit aller Konsequenz ahnden und verfolgen.
({6})
Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass
Steuerhinterziehung eben kein Kavaliersdelikt ist. Sie
stellt eine Flucht Einzelner aus der Verantwortung für
das Gemeinwesen dar, die zulasten des Gemeinwesens
geht. Würde uns die hinterzogene Umsatzsteuer zur Verfügung stehen, hätte Hans Eichel sicherlich eine Sorgenfalte weniger.
Das gilt sicher auch für manche Kämmerer in den
Städten, die den Ergebnissen der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen mit Spannung entgegensehen. Die Kommission erarbeitet derzeit konkrete Vorschläge zur Lösung der drängenden Probleme des
kommunalen Finanzsystems. Die Weiterentwicklung der
Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftsteuer
soll zentraler Punkt einer umfassenden Gemeindefinanzreform sein. Es muss sich für die Gemeinden lohnen, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und Belästigungen, die Industriegebiete mit sich bringen, in Kauf zu
nehmen. Durch den Wegfall des lokalen Hebesatzrechtes
als Quelle der eigenen Wirtschaftskraft einer Gemeinde
würde dieser Anreiz gänzlich entfallen. Die freien Berufe sollen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
und zur Verstetigung in diese kommunale Wirtschaftssteuer einbezogen werden. Sobald die Ergebnisse der
Kommission vorliegen, werden wir einen entsprechenden Entwurf ins Gesetzgebungsverfahren einbringen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel zum 1. Januar
2004 erreichen werden.
({7})
Auch hierbei lade ich Sie zur Zusammenarbeit ein!
Kommen Sie mit auf den Weg, die kommunale Selbstverwaltung auch bezüglich der finanziellen Seite zu erhalten; denn rasche Hilfe tut hier Not. Das Ergebnis des
Vermittlungsausschusses zum Steuervergünstigungsabbaugesetz kommt zu den Problemen, die die Kommunen bereits haben, erschwerend hinzu. Bevor der Vermittlungsausschuss eingeschaltet worden war, konnten
die Kommunen aufgrund dieses Gesetzes mit Mehreinnahmen in Höhe von 6,7 Milliarden Euro rechnen; geblieben sind 600 Millionen Euro. Die Mehrheit im Bundesrat hat die Verbesserung der Einnahmesituation durch
ein schlichtes Nein zunichte gemacht.
Ich denke, wir müssen in diesem Zusammenhang
deutlich machen, wer die Verantwortung trägt, wenn
Schwimmbäder geschlossen oder Gebühren erhöht werden. Die Reduzierung der Subvention bei der Wohnbauförderung, der größten Subvention schlechthin, ist
dem Nein des Bundesrates ebenso zum Opfer gefallen
wie die Besteuerung von privaten Veräußerungsgewinnen beim Verkauf von Aktien.
Zur kurzfristigen Stärkung der kommunalen Einnahmen haben wir Zinsverbilligungsprogramme für kommunale Investitionen aufgelegt. Außerdem werden die
Kommunen durch den Bund von Beiträgen zum Flutopfersolidaritätsfonds vollständig freigestellt. Das bringt
unmittelbar 800 Millionen Euro in die Gemeindekassen.
Für meine Heimatstadt Hürth, eine Stadt mit 55 000 Einwohnern, macht dies den stattlichen Betrag von immerhin 640 000 Euro aus. Das freut unseren roten Bürgermeister und es freut ebenso unseren schwarzen
Kämmerer.
Wir alle wissen, dass Geld im Ausland liegt, das
- offiziell ausgewandert oder geflohen - in Deutschland
weder versteuert wird noch den Unternehmen zur Verfügung steht. Diesem Kapital wollen wir eine Brücke zurück nach Deutschland und zurück in die Steuerehrlichkeit bauen. Es ist vorgesehen, dass eine einfache,
vollständige Erklärung über bisher nicht versteuerte Einnahmen und die Zahlung eines Pauschalbetrages von
25 Prozent bzw. 35 Prozent eine strafbefreiende Wirkung hat.
Gleichzeitig müssen wir aber auch - das sage ich in
aller Deutlichkeit - Kontrollen einführen. Die Lösung,
die jetzt gefunden wurde, nämlich die unbürokratische
Kontrolle durch das Bundesamt für Finanzen über die
Kontenevidenzzentrale, ist sehr wirkungsvoll. Dieser
Lösung kann sich hier im Haus niemand entziehen, denn
eines muss klar sein: Wir können nicht heute Straffreiheit gewähren und hinnehmen, dass morgen das gleiche
Spiel von vorn losgeht.
({8})
Die EU-Richtlinie wird uns dabei helfen.
Unsere Philosophie ist eindeutig: Statt neue Steuertatbestände zu schaffen, sollen vorhandene Steuerquellen
ausgeschöpft werden. Niedrigere Steuern für alle statt
wenige Ausnahmen für Einzelne! Das erhöht die Steuergerechtigkeit und die Akzeptanz. Dazu brauchen wir Ihren Beitrag. Bei Johann Michael Möller in der „Welt“
vom 30. Juni 2003 heißt es so schön:
Zweifel hat auch die Opposition. Doch die muss
sich nicht nur nach den Alternativen fragen lassen,
sondern der Öffentlichkeit auch erklären, warum
plötzlich falsch sein soll, was sie selbst immer mit
vollen Backen für richtig befunden hat.
({9})
Machen Sie mit Ihrem Ja zur Steuervereinfachung
und zum Subventionsabbau Ernst! Wir sind bereit, diesen mutigen Schritt zu gehen. Seien Sie es auch!
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir können eines festhalten: Die Union ist die
seriöse Steuersenkungspartei Deutschlands.
({0})
Wir sind jederzeit bereit, seriöse Steuersenkungen mitzutragen. Alle Vorschläge, die wir zur Steuersenkung gemacht haben, haben wir mit seriösen Finanzierungsvorschlägen verbunden. Wenn der Herr Bundeskanzler jetzt
sagt, er wolle die Steuern senken, dann ist er aufgefordert, seriöse Finanzierungsvorschläge dafür vorzutragen.
({1})
Der Vorschlag, den uns der Bundeskanzler vorlegt,
besteht aus zwei Teilen. Erstens soll die Neuverschuldung um über 7 Milliarden Euro angehoben werden
- die Steuersenkung wird also voll schuldenfinanziert und zweitens - das hat er heute im Laufe des Tages vorgeschlagen - soll die Tabaksteuer, also eine Verbrauchsteuer, erhöht werden. Ich habe mir noch einmal seine
Rede vom 14. März dieses Jahres angeschaut. In der großen Agenda-Rede hat er hier am Pult gesagt: Meine Damen und Herren, wer Steuersenkungen fordert und diese
über neue Schulden oder Verbrauchsteuererhöhungen finanzieren will, handelt verantwortungslos. - Herr Bundeskanzler, mit dem Vorschlag, den Sie jetzt gemacht haben, handeln Sie verantwortungslos.
({2})
Deshalb sind Sie aufgefordert, ein seriöses Finanzierungskonzept vorzulegen. Es kann nicht die Aufgabe der
Opposition sein, Ihre Hausaufgaben zu erledigen und zu
sagen, wie finanziert werden soll, sondern der Herr Bundeskanzler mit seiner Regierung und seinem Finanzminister hat diese Aufgabe zu leisten. Wir fordern dies ein.
({3})
- Ich sage Ihnen zu, Herr Binding: Wenn Sie ein seriöses
Finanzierungskonzept auf den Tisch legen, werden wir
es konstruktiv diskutieren.
Wir verengen hier das Thema „Steuersenkungen in
Deutschland“ allerdings allein auf die Frage, ob eine
Steuerreform, die schon längst im Gesetzblatt steht,
2005 oder 2004 stattfinden soll. Das ist, glaube ich, eine
zu starke Verengung des Themas. Wird denn die steuerrechtliche Lage in Deutschland für den Bürger einfacher,
wenn wir den Reformschritt um ein Jahr vorziehen? Nein, die Steuerformulare bleiben gleich kompliziert!
Wird das Steuerrecht transparenter, wenn wir ihn vorziehen? - Nein, kein Mensch, der eine Steuererklärung in
diesem Land unterschreibt, ist in der Lage, zu verstehen,
was er da eigentlich tut! Bei einer Grenzbelastung bei
den Abgaben von 67 Prozent wird nach wie vor die
Schattenwirtschaft gefördert. Deshalb sagen wir: Es
kann nicht allein um das Vorziehen gehen, sondern wir
brauchen ein Konzept für eine durchgreifende Steuerreform: einfach, transparent, mit niedrigen Steuersätzen
und einer breiten Bemessungsgrundlage. Dazu wird die
Union Vorschläge unterbreiten.
({4})
Wenn wir über Gegenfinanzierung sprechen, geht es
natürlich auch um Vertrauen. Ich will Ihnen klar und
deutlich sagen, was Sie in den vergangenen Monaten in
der Diskussion zum Steuervergünstigungsabbaugesetz
getan haben.
({5})
Sie haben massiv Vertrauen verspielt, Herr Poß, Vertrauen, das jetzt fehlt, weshalb die Menschen „angstsparen“ und die Unternehmen in diesem Land nicht investieren. Deshalb geht Ihre Rechnung auch nicht auf,
neues Vertrauen schaffen zu können, indem Sie die Reformstufe um ein Jahr vorziehen. Wir brauchen eine verlässliche Politik. Die Damen und Herren, die auf der Regierungsbank sitzen, haben leider jegliches Vertrauen
verspielt und werden es mit solchen Vorschlägen auch
nicht zurückgewinnen.
({6})
Auf der Tagesordnung dieser Debatte steht heute auch
noch das Thema „Brücke in die Steuerehrlichkeit“.
Wir wollen Menschen animieren, Kapitalerträge, die sie
in ihrer Steuererklärung nicht angegeben haben, in die
Legalität zurückzuführen. Wir werden das demnächst
hier im Bundestag beraten.
Im gleichen Atemzug kündigen Sie eine Vermögensteuerdebatte im Herbst an. Wie kann denn jemand Vertrauen in Deutschland bilden, wenn er einerseits zu Steuerehrlichkeit auffordert und Brücken für die nachträgliche
Legalisierung bauen will, andererseits aber mit einer
Vermögensteuerdebatte droht?
({7})
Sie kündigen eine Debatte über die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer an. Wer von Ihnen glaubt
denn, dass man dadurch Vertrauen gewinnt? Auch hinsichtlich der Besteuerung von Kapitalerträgen lassen Sie
die Menschen vollkommen im Unklaren. Kein Mensch
weiß, was auf uns zukommt.
({8})
Wie soll denn in diesem Land Vertrauen entstehen,
wenn hier so gearbeitet wird? Sie müssen Ihre Vorhaben
zusammenführen, Sie brauchen ein einheitliches Konzept. Dies ist nicht vorhanden. Schnelle Sprüche des
Bundeskanzlers, die dasselbe am 14. März als verantwortungslos und heute als eine richtige politische Maßnahme bezeichnen, schaffen kein Vertrauen in Deutschland.
({9})
Gestatten Sie mir noch ein paar Worte zum Bundesfinanzminister. Er hat in dem Jahr, als er sein Amt angetreten hat, angekündigt, im Jahr 2004 würden wir einen
ausgeglichenen Bundeshaushalt haben.
({10})
- Sie haben es dann modifiziert und von 2006 gesprochen, aber ursprünglich war von 2004 die Rede.
({11})
Dass wir im nächsten Jahr keinen ausgeglichenen Bundeshaushalt haben, ist unser Hauptproblem. Weil Sie das
nicht erreichen, müssen wir jetzt überhaupt darüber diskutieren, wie eine Steuersenkung finanziert werden
kann. Wenn Ihr Finanzminister das eingehalten hätte,
was er damals versprochen hatte, müssten wir die Debatte, die hier heute stattfindet, nicht führen. Die Aussage des Bundesfinanzministers damals lautete, die
Schulden von heute sind die Steuern von morgen, Frau
Frechen. Im nächsten Jahr marschiert er unter Einbeziehung aller Risiken im Bundeshaushalt auf 50 Milliarden
Euro an neuen Schulden in einem einzigen Jahr zu. Ich
glaube, das können wir den kommenden Generationen
nicht vermitteln.
Schauen wir uns die Verfassungslage an: Im Jahr
2002 haben Sie hier am Pult geleugnet, dass der Haushalt verfassungswidrig sein könnte, also die Schulden
höher als die Investitionen seien. Diese Frage wird im
Laufe des Tages noch im Wahrheitsfindungsausschuss
beraten werden. Sie haben es nun aufgegeben, für das
Jahr 2003 einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzulegen, denn es gibt kein Haushaltssicherungsgesetz, es gibt
keinen Nachtragshaushalt, es gibt keinerlei Initiativen,
den Verfassungsrahmen wieder einzuhalten. Für 2004
- das wäre das dritte Jahr in Folge - planen Sie ebenso
den Bruch der Verfassung, indem Sie wieder mehr
Schulden aufnehmen, als Sie investieren.
Sie können auch nicht auf der einen Seite Ihren Finanzdaten für 2004 ein Wachstum von 2 Prozent zugrunde legen und auf der anderen Seite gleichzeitig die
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen lassen.
Herr Kollege Meister, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Was ist denn jetzt die Wahrheit? Werden wir ein
Wachstum von 2 Prozent haben oder wird das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört sein?
Ich fordere von Ihnen Konzepte, die durchdacht sind,
die wahr sind und auf die man vertrauen kann. Dann
können wir auch gerne seriös diese Fragen miteinander
diskutieren.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst
Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundeskanzler hat heute in seiner Regierungserklärung den Faden seiner Rede vom 14. März dieses Jahres
wieder aufgenommen, als er in Bezug auf die Entwicklung in Deutschland sagte, dass er den Sozialstaat erneuern, die Wirtschaft beleben und neue Chancen für Bildung und Forschung schaffen wolle.
Am Ende dieser langen Debatte möchte ich darauf zurückkommen, womit Frau Merkel Ihre Rede in dieser
Debatte eingeleitet hat, nämlich mit der Frage: Was soll
die Richtung sein? Unser Fraktionsvorsitzender hat daraufhin gesagt: Die Richtung ist die nach vorne. Ich
möchte das insoweit ergänzen, als es auch darum gehen
muss, mehr Chancen in Deutschland zu schaffen: Chancen für die Wirtschaft, Chancen für die Gesellschaft,
aber auch individuelle Chancen und Chancen für neue
Formen der Zusammenarbeit. In diesem Rahmen möchte
ich die möglichen Chancen in drei bis vier Bereichen
aufzeigen.
Ich komme zum ersten Bereich. Man hat ja manchmal
den Eindruck, dass das Parlament lieber untereinander
diskutiert und über jede Frage die Debatte zu jeder Zeit
gerne aufnimmt, statt einmal Rückschau zu halten, zu
schauen, was sich eigentlich seit der Zeit, als der Bundeskanzler im März die Agenda 2010 im Parlament vorgestellt hat, positiv verändert hat. Es gibt Beispiele dafür, wo Menschen neue Chancen eröffnet wurden und an
denen aufgezeigt werden kann, wie neue Formen der Zusammenarbeit mehr Chancen eröffnen.
Der Bundeskanzler hat im März davon gesprochen,
dass ein 4-Milliarden-Euro-Programm zur Einrichtung
von mehr Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten in Deutschland aufgelegt werden soll. Er
hat es im März angesprochen, mittlerweile ist es Wirklichkeit. Das ist Dynamik in der Gesellschaft, die nicht
nur beschworen, sondern die praktisch wirksam wird,
wenn Bund, Länder und Gemeinden an einem Strang
ziehen. Diese gemeinsame Dynamik, von uns eingeleitet, aber von den Ländern aufgenommen, hat zu dem erfolgreich verwirklichten Versprechen geführt, mehr
Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten und damit mehr
Chancen für Kinder, Jugendliche und Familien zu schaffen.
({0})
Da wir wissen, dass wir auf die Zusammenarbeit zwischen den Verfassungsorganen, zwischen Regierung und
Opposition, zwischen Bund und Ländern angewiesen
sind, schauen wir auch, wie sich Positionen entwickeln.
Uns hat es gefreut, dass sich zwischen März und heute
auch die CDU/CSU über Frau Dr. Böhmer mit einem
Konzept für mehr Ganztagsschulen, für mehr Ganztagsbetreuung neu positioniert hat. Gut so! Gut ist im Übrigen auch, dass sich die Kultusministerkonferenz auf Bildungsstandards im mittleren Schulbereich geeinigt hat.
Wir wünschen uns, dass dieser dynamische gute
Schritt, der zwischen SPD- und CDU-Ländern für mehr
Chancen, für mehr Qualifikation, auch für mehr Wettbewerbsfähigkeit entwickelt worden ist, in Zusammenarbeit mit dem Bund vervollkommnet werden kann.
Weshalb ist uns das so wichtig? Ich schiebe eine Bemerkung ein, die vielleicht weniger mit Haushaltszahlen
als mit Grundverständnis zu tun hat. Mehr Chancen
heißt auch mehr Durchlässigkeit. Es muss uns eine neue
Warnung sein, dass auch die erweiterte PISA-Studie gezeigt hat, dass Deutschland nicht nur nicht so gut ist, wie
wir gerne sein möchten, sondern auch einen Spitzenplatz
im internationalen Bildungsvergleich hat, den es nicht
haben will, nämlich bei der Anbindung von Bildungswegen an Einkommen und Status der Familie. Deutschland
ist in seinen Bildungschancen nicht durchlässig.
Weshalb ist uns Durchlässigkeit so wichtig? Durchlässigkeit in Bezug auf Bildungschancen ist der individuelle Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik insofern,
als man nicht an den Status gebunden ist, sondern sich
mit eigenem Vermögen, aber auch mit eigenem Wollen
weiterentwickeln kann. Das ist gesellschaftliche Dynamik.
An dieser Stelle haben wir zu starke konservative
Strukturen. Wir haben nicht genug Durchlässigkeit. Bei
uns hat die begabte Tochter eines Arbeiters zu selten die
Gelegenheit Rechtsanwältin zu werden. Bei uns wird der
fleißige, aber nicht so begabte Sohn des Bankdirektors
nicht ehrbarer Handwerker, sondern vielleicht schlechter
Rechtsanwalt oder nicht auskömmlicher Betriebswirt.
Hier brauchen wir Durchlässigkeit; denn hier gibt es Reserven, die etwas an aggressiver wirtschaftlicher Betätigung, an neuen Ideen, an Wertschöpfung in die Gesellschaft hineintragen, die allen zugute kommen.
({1})
Das Werben um Durchlässigkeit ist, wenn wir Dynamik
in unsere Gesellschaft bringen wollen, ein Kredo, ein gemeinsames Anliegen, wie es in der Agenda 2010 vorgezeichnet ist.
Wenn ich positiv anspreche, dass das im Zusammenwirken von Bund und Ländern, von Opposition und Regierung gelingt, dann will ich den Hochschulbereich
dabei nicht ausnehmen. Auch im Hochschulbereich haben wir seit mehreren Jahren einen positiven Prozess: einen Anstieg der Studierendenquote auf fast 40 Prozent
und eine stärkere Einbeziehung von sozial nicht so starken Kindern und Jugendlichen aus entsprechenden Familien in den Hochschulbesuch mit einer deutlichen Anhebung der Gefördertenquote. Mehr ausländische
Studenten kommen zu uns und mehr deutsche Studenten
können ins Ausland gehen. Wir haben auch mehr Studenten im technischen Bereich. Das ist eine Gemeinschaftsleistung, an der wir weiterarbeiten können.
Ich möchte meinen Blick auch darauf richten, dass
wir uns heute in Bezug auf Steuersenkungen so lange
vor allem auf der fiskalischen Ebene auseinander gesetzt
haben, statt den Bürgerinnen und Bürgern, die auch
diese Debatte verfolgen, deutlich zu machen, was wir
uns davon erwarten. Natürlich kann man etwas erwarten;
denn die vorgezogene Steuersenkung schafft zusätzliche
Chancen, zum Beispiel für die wirtschaftlichen Unternehmen. 10 Milliarden Euro Steuerentlastung bedeuten
Chancen. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, uns alle
bewegende Probleme in der Gesellschaft so zu debattieren, dass die Chance, die mit der Steuersenkung verbunden ist, zu einer Lösung dieser Probleme beiträgt.
Wir finden es gut, wenn die Industrie- und Handelskammern auf breiter Ebene in den Betrieben für Lehrstellen werben. Sogar der Bundeskanzler, die Minister,
auch auf Landesebene, und wir alle als Abgeordnete
werben dafür. Aber man könnte doch das Argument
bringen: Mittelständische und kleine Unternehmen,
überlegt euch, ob ihr die Einstellung eines zusätzlichen
Auszubildenden vorziehen könnt, weil auch die steuerliche Entlastung vorgezogen wird.
({2})
Das ist kein kleines, sondern ein großes Segment; denn
die kleinen und mittleren Unternehmen sowie die Personengesellschaften erfahren jetzt eine deutliche Entlastung. Dieser Bereich trägt im Wesentlichen zur Wertschöpfung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und vor
allen Dingen auch zur Schaffung von vielen Ausbildungsplätzen bei.
({3})
Ich möchte noch einmal an die Diskussion über die
Handwerksordnung anknüpfen. Herr Hinsken, wir haben
da noch eine kleine Auseinandersetzung offen. Wir haben doch nicht - und das mit Ihnen zusammen - das
Meister-BAföG verbessert, um auf der anderen Seite den
Meisterbrief abschaffen zu wollen. Man kann doch
nicht glauben, dass eine Regierung die diesbezügliche
Förderung auf 90 Millionen Euro erhöht und gleichzeitig
den Meisterbrief entwerten will.
({4})
- Das ist auch nicht so. - Wir haben jetzt die Chance,
dem Handwerk und den kleinen und mittleren Unternehmen etwas Luft zu verschaffen, damit sie langfristig qualifizieren können. Mit der langfristigen Qualifizierung
bereiten diese Unternehmen den Boden, um auch in Zukunft gute Dienstleistungen und gute Produkte anbieten
zu können.
Dieses neue Denken „Fordern und Fördern“ im sozialpolitischen Bereich muss auch im steuerpolitischen
Bereich Einzug halten; der Bundeskanzler hat heute darüber gesprochen. Damit schafft man die Chance auf
Entlastung und gibt den Unternehmen die Möglichkeit,
ihre Selbstverpflichtung einlösen zu können. Die Belastung wird geringer. Damit haben die Unternehmen bessere Möglichkeiten, mehr Lehrlinge einzustellen und
mehr Weiterbildung anzubieten.
Die Unternehmen haben ferner die Möglichkeit, im
Bereich Forschung und Entwicklung mehr zu tun, was
für die Zukunft sehr wichtig ist. Wir können nämlich
feststellen: In den Unternehmen, gerade in den kleinen
und mittleren Unternehmen, die in der Forschung sehr
aktiv sind, gibt es deutliche Zuwächse an Arbeitsplätzen,
während dort, wo keine Forschungsaktivitäten vorhanden sind, ein besonders starker Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen ist.
Mittelständische Unternehmen müssen sich überlegen, wo sie etwas Neues schaffen können und wie sie
das Wissen aus dem Umfeld von Fachhochschulen und
Universitäten im Rahmen von Transferprogrammen nutzen können. Darin liegt eine Chance. Die Steuerentlastung drückt sich nicht nur in Prozentzahlen aus. Sie
hängt auch mit soliden Staatsfinanzen zusammen. Es
kommt aber entscheidend darauf an, ob wir wichtige Bereiche der Wirtschaft modernisieren können.
Wissenschaftler müssen sich mehr auf wirtschaftlichem Gebiet betätigen und die Wirtschaft muss mehr an
die Wissenschaft angebunden werden; die Wirtschaft
muss sich sozusagen an die Wissenschaft wenden. Diese
Bereitschaft ist im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen, der unsere Volkswirtschaft im Wesentlichen
trägt, zu gering ausgebildet. Wir schaffen jetzt die Rahmenbedingungen, dass sich dieser Prozess verstärken
kann.
({5})
Eine weitere Bemerkung. Es darf nicht untergehen,
was sich in dem Zeitraum vom März dieses Jahres bis
heute verfestigt hat und in welchen Bereichen es Verlässlichkeit gibt. Der Bundeskanzler hat im März angekündigt, dass die Mittel für die großen deutschen Forschungsorganisationen um 3 Prozent steigen werden.
Dieses wird auch geschehen. Damit, Herr Kollege
Austermann, haben wir Verlässlichkeit an einer Stelle
geschaffen, die nicht nur wegen ihres Finanzumfangs,
sondern auch wegen der Breite der Forschung wichtig
ist: die Grundlagenforschung der Max-Planck-Institute,
die anwendungsbezogene Forschung der Fraunhofer-Gesellschaft und die auf nationale Ziele ausgerichtete Forschung der Helmholtz-Institute. Für die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben Bund und Länder eine
Verpflichtung. Die Zusage des Bundeskanzlers, die Bundesmittel um 3 Prozent zu erhöhen, ist auch gleichzeitig
eine Verpflichtung für die Länder, sich kooperativ zu
verhalten.
Wir verstärken auch die Nachwuchsförderung. In diesem Bereich werden schon jetzt 50 Prozent mehr Mittel
eingesetzt. Wir arbeiten auch in dem Bereich der Internationalisierung. Eine Delegation von Forschungspolitikern, die gerade in Amerika war, hat dort vielfach gehört, dass die Max-Planck-Institute und die Deutsche
Forschungsgemeinschaft wirkungsvolle Wissenschaftsinstitutionen sind. Wegen der Juniorprofessur ist es attraktiv, aus anderen Ländern nach Deutschland zu kommen und sich hier wissenschaftlich zu betätigen. Wir
wollen gerade in der Forschungspolitik die Gemeinsamkeit betonen.
Ich glaube, diese verstärkten Aktivitäten, die schon in
der März-Rede des Bundeskanzlers und die auch heute
von ihm und unserem Fraktionsvorsitzenden angesproDr. Ernst Dieter Rossmann
chen worden sind, sind hinsichtlich der Investitionen
und der Dynamik im Bereich dieser Zukunftsfelder
wichtig.
Schlussbemerkung: Der Bundeskanzler hat seine Regierungserklärung unter das Motto „Sozialstaat erneuern“ gestellt: Wir wollen über die Erneuerung des Sozialstaats mehr Chancen für Bildung, Forschung und
Innovation in Bezug auf den Einzelnen, aber auch die
Gesellschaft insgesamt schaffen. Unser Fraktionsvorsitzender drückte es so aus, dass es jeder auch für sich persönlich versteht: Das Saatgut muss trocken gehalten und
eingebracht werden. Es muss auch Zeit finden, sich zu
entwickeln. Mit der Zusage, dass wir den steuerlichen
Rahmen dafür schaffen werden, dass sich das Saatgut
bei den einzelnen Menschen und in den einzelnen Unternehmen entwickeln kann, machen wir einen guten
Schritt nach vorn. Diese Saat wird für uns alle gut aufgehen. Deshalb sollten wir nicht den parteipolitischen
Streit, sondern das gemeinsame Bemühen, zu Lösungen
zu kommen, in den Vordergrund stellen.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1309, 15/470, 15/1231 und 15/1221
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April
2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik
Zypern, der Republik Lettland, der Republik
Litauen, der Republik Ungarn, der Republik
Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur
Europäischen Union
- Drucksachen 15/1100, 15/1200 ({0})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({1})
- Drucksache 15/1300 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Gloser
Rainder Steenblock
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1301 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Walter Schöler
Antje Hermenau
Zu dem Gesetzentwurf liegen ein Änderungsantrag
und ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Meine Damen und Herren, zu Beginn dieses Tagesordnungspunktes darf ich auf der Tribüne zwei Gäste begrüßen, die anlässlich unserer heutigen Abstimmung
über das Gesetz zum Beitritt der zehn bisherigen Kandidatenländer zur Europäischen Union in den Deutschen
Bundestag gekommen sind.
Es ist mir eine Freude, meinen Kollegen, den Marschall des Sejm der Republik Polen, Herrn Marek
Borowski, begrüßen zu können, dessen Land am 8. Juni
2003 dem Beitritt zur Europäischen Union zugestimmt
hat. Herzlich willkommen!
({3})
Ebenso herzlich begrüße ich Herrn Günter Verheugen,
Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig
für Fragen der EU-Erweiterung.
({4})
Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn
Länder wird ein weiterer wesentlicher Schritt zur Realisierung der Vereinigung Europas sein. Ich bin zuversichtlich, dass sich auch die erweiterte Europäische
Union der gemeinsamen Verantwortung für die Schaffung und die Sicherung des Friedens in der Welt bewusst
ist und in diesem Sinne wirken wird. Nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Erfahrungen in Deutschland bin
ich davon überzeugt, dass mit dem Vollzug der Erweiterung am 1. Mai 2004 eine Aufgabe erst richtig beginnt,
die uns über die nächsten zehn oder 20 Jahre begleiten
wird: die wirkliche Gestaltung der Einheit Europas. Eine
europäische Verfassung wird dabei ebenso unverzichtbar
sein wie die enge Zusammenarbeit der Parlamente.
Ich danke Ihnen, Herr Borowski, und Ihnen, Herr Verheugen, dass Sie es ermöglicht haben, an dieser für
Deutschland sehr wichtigen Plenardebatte teilzunehmen.
({5})
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Herr Präsident hat es schon gesagt: Mit der Ratifizierung der EU-Beitrittsverträge von zehn europäischen
Ländern durch den Deutschen Bundestag - in einigen
Jahren werden auch Rumänien und Bulgarien zur EU gehören - vollzieht sich ein wichtiger Schritt zur europäischen Wiedervereinigung. Machen wir uns die Größe
dieses Ereignisses bewusst: Wer hätte 1989 ernsthaft daran geglaubt, dass die EU nur 15 Jahre später ihre Türen
für zehn überwiegend ost- und mitteleuropäische Staaten
öffnen würde? Wohl nur wenige.
An dieser Stelle gratuliere ich zunächst den Beitrittsstaaten, deren Vertreter heute auf der Tribüne bei uns zu
Gast sind, zu der großartigen Leistung, die sie auf dem
Weg in die EU erbracht haben.
({0})
Die hohe Zustimmung, die der EU-Beitritt in den Beitrittsreferenden zahlreicher zukünftiger Mitgliedstaaten
erfährt, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist Ausdruck
dafür, dass die EU-Mitgliedschaft für die Menschen trotz
aller Härten auf dem Weg dorthin vor allem Grund zu
großer Hoffnung ist.
Umgekehrt fehlt aber in einem Teil unserer Gesellschaft leider noch das Bewusstsein, dass es sich bei den
Beitrittsstaaten nicht um ferne, exotische Länder handelt, sondern dass diese Staaten unsere kulturellen, religiösen und politischen Traditionen teilen. Unsere
Kulturen waren über Jahrhunderte in immer neuer Weise
miteinander verschränkt und haben sich gegenseitig befruchtet.
Wir brauchen nur nach Krakau, Riga, Prag oder
Budapest zu reisen, um dies zu verstehen. In Prag wurde
1348 die erste Universität in Zentraleuropa gegründet.
Der Pole Chopin verzaubert vom 19. Jahrhundert bis
heute die Musikliebhaber in Europa und in der ganzen
Welt.
({1})
Die Städte der baltischen Staaten blühten dank der
Hanse auf. Viele Länder, die nun der EU beitreten, haben
durch die Habsburger Monarchie ein gemeinsames Erbe.
Aber die Nationalismen des 19. und des
20. Jahrhunderts trennten unsere Bevölkerungen. Die
Germanisierungsversuche gegenüber den Polen im späten 19. Jahrhundert sind hier ein böses Beispiel. Die Unterdrückung und die Ermordung unserer Nachbarvölker
im Osten durch Nazi-Deutschland sind der schreckliche
Höhepunkt von Nationalismus und Rassenwahn.
Aber auch die Niederringung des Nationalsozialismus
brachte keineswegs die Befreiung aller europäischen
Völker von Diktatur und Unterdrückung. Über einen
Teil Europas senkte sich der Eiserne Vorhang. Nur selten und nur wenigen Menschen gelang es in dieser Zeit,
trotz Mauer und Stacheldraht zueinander zu kommen
und die Verbindung aufrechtzuerhalten.
Meine Damen und Herren, die Unterschiedlichkeit
der Lebensverhältnisse hat in den vergangenen Jahrzehnten ein Übriges getan. Der Westen konnte sich in
Freiheit und Demokratie entwickeln - auch Westdeutschland. Dass Frankreich den Deutschen die Hand
zur Versöhnung gereicht hat, hat entscheidend dazu beigetragen. Der europäische Weg wurde durch die europäische Integration geprägt. Diese Zusammenarbeit
brachte den Menschen in den beteiligten Staaten Stabilität, Wohlstand, Freiheit und Frieden. Auch die Zielsetzung, zu einer politischen Zusammenarbeit zu kommen, wurde nicht aus dem Auge verloren.
Doch die Wunde des geteilten Europa blieb: Während
die eine Hälfte des Kontinents immer mehr zusammenwuchs und sich die Menschen daran gewöhnten, frei reisen und handeln zu können, erduldete man noch immer
langwierige Kontrollschikanen, wenn man - was selten
genug vorkam - vom goldenen Westen in den grauen
Osten fuhr. Wir wussten nicht viel über unsere östlichen
Nachbarn. Aber interessierten wir uns wirklich für sie?
Hatten wir es uns nicht längst in unserem satten Wohlstand bequem gemacht und horchten wir nicht nur gelegentlich auf, wenn sich irgendwo im Osten freiheitsliebende und verzweifelte Menschen gegen die aus Moskau
ferngesteuerte Willkürherrschaft auflehnten? Ja, die
Menschen dort haben sich nie mit der Unfreiheit und ihrer Abspaltung von den gemeinsamen kulturellen Wurzeln abgefunden.
Ich selbst erfuhr das, als ich 1971 in der Folge der
neuen Ostpolitik Willy Brandts zum ersten Mal nach
Polen und wenige Jahre später als junge Lehrerin nach
Prag kam. Seit dieser Zeit habe ich Freunde in Polen.
Unsere Kinder sind im gleichen Alter. Den einen - im
Westen - standen viele Möglichkeiten offen. Die anderen - im Osten - wuchsen in der Sehnsucht auf, die
Weite und die Freiheit zu gewinnen.
1989 endlich waren die Bürgerrechtsbewegungen
am Ziel: Die kommunistischen Regime waren am Ende.
Ungarn ließ Hunderte von DDR-Bürgern ausreisen, die
sich in die deutsche Botschaft in Budapest geflüchtet
hatten. Auch in Polen erfuhren die Flüchtlinge aus der
DDR sehr viel Hilfe. Dafür haben wir zu danken.
({2})
Schließlich wurden die Mauern eingerissen.
Nun gibt uns die Vergrößerung der EU endlich wieder
die Chance, näher zusammenzurücken und vom vielfältigen Reichtum in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft erneut zu profitieren. Mit dem Beitritt der zehn
neuen Länder wird es auch einen Zuwachs an Sicherheit
für alle an der EU beteiligten Länder geben. Jetzt haben
wir die Chance, gemeinsam unseren Wohlstand zu sichern und unsere Lebensverhältnisse auf hohem Niveau
zu stabilisieren. Denn die Vergrößerung des Binnenmarktes wird einen Wachstumsimpuls auslösen.
Auch politisch wird die EU von dem Beitritt der
neuen Länder profitieren. Denn die bevorstehende Vergrößerung um zehn Mitgliedsländer hat den Reformdruck in der EU stark erhöht. Schon in den vergangenen
Jahren war es immer schwieriger geworden, eine Gemeinschaft von zuletzt 15 Staaten mit Instrumenten und
Methoden zu managen, die ursprünglich für sechs Gründungsmitglieder geschaffen worden waren. Dass die
Bürgerinnen und Bürger sich immer mehr fragten, wer
denn was in Brüssel entscheidet, weist auf die fehlende
Transparenz des Institutionengefüges hin und wirft
gleichzeitig die Frage nach der demokratischen Legitimation auf.
So brachte die Entscheidung in Nizza, bis 2004 zehn
weitere Länder in die EU aufzunehmen, gleichzeitig den
Beschluss, in einer Regierungskonferenz eine grundlegende Reform zu verabschieden. Die deutschen Sozialdemokraten haben einen gewichtigen Anteil daran, dass
diese Reform durch einen Konvent vorbereitet wurde, in
dem europäische und nationale Abgeordnete eine bedeutende Rolle spielten. Vor wenigen Tagen hat der Europäische Rat in Thessaloniki den Verfassungsentwurf
als Grundlage für seine Entscheidung in der Regierungskonferenz entgegengenommen.
Meine Damen und Herren, auch wenn nicht alle Wünsche an eine europäische Verfassung erfüllt werden
konnten, so ist es doch ein großer Erfolg, dass die
Rechte des Parlaments gestärkt sind, dass mit einem
europäischen Außenminister die Voraussetzung dafür
geschaffen wurde, dass die EU ihre Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik weiterentwickeln kann, und dass
die Grundrechtecharta in die Verfassung integriert ist.
({3})
An dieser Arbeit haben die Vertreter der zukünftigen
Beitrittsländer gleichberechtigt mitgewirkt. Sie werden
diese Rolle auch in der Regierungskonferenz haben. Für
mich ist dies ein Beleg dafür, dass wir gemeinsam den
Weg in eine politische Union gehen können.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach dem glücklichen Abschluss der Beitrittsverhandlungen im Dezember in Kopenhagen mussten wir allerdings erschrocken
erkennen, dass sich die Europäer in der Frage gespalten
zeigten, wie mit der Irakkrise umzugehen sei. Gemeinsam mit Großbritannien und Spanien unterstützten insbesondere unsere zukünftigen EU-Mitglieder die Position der Vereinigten Staaten, im Irak militärisch zu
intervenieren. Diese Situation warf die Frage auf, ob die
GASP in der EU schon zu Ende war, bevor sie überhaupt richtig in die Wege geleitet worden war. Es wurde
diskutiert, ob die politische Union mit den Neumitgliedern in weite Ferne rückte, ob sich die Union demnach
auf einen gemeinsamen Markt reduzieren würde.
Ich bin ganz anderer Meinung. Gerade die divergierenden Positionen in der Irakfrage haben mit aller Dringlichkeit deutlich gemacht, dass wir eine Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Die zarten
Keime dieser Zusammenarbeit, wie sie sich in Mazedonien zeigten, müssen unbedingt weiterentwickelt werden. Diese Notwendigkeit wird in allen alten und neuen
Mitgliedstaaten gesehen.
({4})
Aber diese gemeinsame Politik entsteht nicht automatisch, sondern muss - und kann - erarbeitet werden. Der
Wille dazu ist vorhanden.
Differenzen heute festzustellen heißt nicht, eine Krise
zu konstatieren, sondern bedeutet zu allererst, die Normalität der europäischen Vielfalt zur Kenntnis zu nehmen. Dabei gibt es nicht die Trennung zwischen „altem“
und „neuem“ Europa - um an dieser Stelle die Zuschreibung von Donald Rumsfeld zu zitieren. Der Konventsprozess hat nämlich deutlich gemacht, das es keine Fronten zwischen Alt- und Neumitgliedern gibt, wie auch
nicht zwischen großen und kleinen Staaten. Nein, wir
alle stehen gemeinsam vor großen Herausforderungen.
Die erweiterte Europäische Union wird entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ihr politisches
Gewicht stärken müssen. Diese EU wird in der Lage
sein, für ihre Bürgerinnen und Bürger mehr soziale Gerechtigkeit, mehr innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Diese EU wird als attraktives Gesellschaftsmodell auf andere Regionen ausstrahlen.
Ich bin deshalb ganz sicher, dass die große Mehrheit
der Kolleginnen und Kollegen in diesem Bundestag,
über alle Parteigrenzen hinweg, mit uns für die Ratifizierung des Beitrittsvertrages stimmen wird.
({5})
Europa kommt heute seiner Wiedervereinigung ein großes Stück näher - ein schöner Grund zum Feiern.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz zur
Ratifizierung des Beitrittsvertrags zu. Wie wir in unserem Entschließungsantrag formulieren, eröffnet sich mit
der Osterweiterung der Europäischen Union nach den
bitteren Erfahrungen vor allem in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts die historische Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in ganz Europa nachhaltig zu stärken. Die Einigung Europas ist das wertvollste Erbe der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist klar: Die
neuen Mitglieder in der Europäischen Union werden
nicht erst jetzt Europäer, sie sind es immer gewesen.
({0})
Europa erweitert sich nicht, sondern Europa überwindet
seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch nicht zu
Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder Belgrad sind
schließlich Europa.
Weil in der Literatur, im Bundesrat und in den Fraktionen dieses Hauses unterschiedliche Auffassungen dazu
vertreten werden, ob das Ratifizierungsgesetz eine Verfassungsänderung darstellt oder nicht, schlagen wir mit
einem Änderungsantrag vor, zur Sicherheit die formalen
Voraussetzungen der Art. 23 und 79 des Grundgesetzes
zu wahren.
Die Europäische Union als Rechts- und Wertegemeinschaft bietet auch die Chance, Wunden der Vergangenheit zu heilen. Das Fortbestehen von Dekreten, die als
Rechtfertigung für Tötungen, Vertreibungen und Entrechtungen gedient haben, verträgt sich damit nicht.
({1})
Wir begrüßen die jüngsten Erklärungen der tschechischen Regierung vom 19. und 29. Juni und wir fordern
die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag
auf, entsprechend der Aufforderung des Europäischen
Parlaments schon aus dem Jahre 1999 mit der Tschechischen Republik über die Aufhebung dieser Dekrete zu
verhandeln.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, welch großartige
Entwicklung die europäische Einigung gerade angesichts
der Lasten der Vergangenheit nimmt, habe ich persönlich
am vergangenen Samstag wieder einmal empfunden.
Beim Appell anlässlich der Beförderung der Offiziersanwärter der 10. Heeresdivision war auch ein Ehrenzug der
deutsch-französischen Brigade angetreten. Deshalb
wurde am Ende dieses Appells nicht nur die deutsche,
sondern auch die französische Nationalhymne gespielt.
Man muss sich das vorstellen: die Marseillaise im Rastatter Schloss anlässlich der Beförderung deutscher Soldaten zu Offizieren. Wer etwas von der deutsch-französischen Geschichte oder auch vom Schicksal unserer
badischen Grenzlandschaft weiß, der kann in einem solchen Augenblick nicht unberührt bleiben.
Ein einiges Europa ist die beste Chance für uns, nicht
nur die Wunden der Vergangenheit zu heilen, sondern
auch unseren Interessen und unserer Verantwortung in
dieser komplizierten Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Aber damit Europa diese Aufgabe erfüllen kann, muss es die erste Bewährungsprobe
bestehen und seine Teilung überwinden. Auch deshalb
liegt die Erweiterung der Europäischen Union nicht nur
im Interesse der künftigen Mitglieder, sondern genauso
in unserer aller Interesse und vor allem im Interesse
Deutschlands, das schließlich in der Mitte Europas gelegen ist.
({2})
Das gilt auch für die Wirtschaft. Angesichts ganz unterschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse und Strukturen wird es in diesem Bereich natürlich Übergangsschwierigkeiten geben; das sollten wir auch heute nicht
verschweigen. Aber ich bin mir ganz sicher: Auf mittlere
Sicht bedeutet ein größerer einheitlicher Wirtschaftsraum mit mehr Dynamik Wachstumschancen für alle.
Die Erweiterung der Europäischen Union ist eben kein
Nullsummenspiel, in dem die einen verlieren müssen,
was die anderen gewinnen sollen, sondern alle werden
Vorteile haben.
Das gilt übrigens ganz besonders für die Gebiete in
der Nachbarschaft der neuen Mitgliedstaaten, also für
die Grenzregionen. Ich habe eben von der deutsch-französischen Grenzregion gesprochen. Das gilt genauso für
die Grenzregion der im Osten gelegenen Bundesländer.
Ich füge hinzu: Diese Regionen sollten in der Zukunft,
nach dem Beitritt unserer Nachbarn, vor allem die
Chance grenzüberschreitender regionaler Zusammenarbeit verstärkt nutzen.
Wir alle profitieren aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch; denn wir sind schließlich von den
Entwicklungen in allen Teilen der Welt betroffen, viel
stärker als früher, positiv und negativ. Das nennt man
üblicherweise Globalisierung. Ich bin mir ganz sicher,
dass wir als Europäer gemeinsam mehr erreichen und
bewirken können. In dem Maße, in dem die europäische
Einigung gelingt, ist sie übrigens auch ein Modell, eine
Vision der Hoffnung für andere Teile der Welt. Jahrhundertelange Streitigkeiten, Kriege und Spaltungen hinter
sich zu lassen - das muss man sich vorstellen -, kulturelle und nationale Identitäten und Verschiedenartigkeiten zu wahren und zugleich zu gemeinsamem Handeln fähig zu sein, Einheit und Vielfalt richtig
auszutarieren - je besser uns das in Europa gelingen
wird, umso mehr kann das auch für andere Regionen in
unserer krisengeschüttelten Welt ein Modell sein.
({3})
Viele in dieser Welt schauen deshalb voller Interesse und
voller Hoffnung auf diesen europäischen Einigungsprozess.
Wenn wir die globale Rolle, die globalen Interessen
und die globale Verantwortung Europas richtig bedenken, dann wird auch klar - auch das muss am heutigen
Tag gesagt werden -, dass europäische Einigung und atlantische Partnerschaft keine Alternativen darstellen,
sondern zusammengehören und wie zwei Seiten derselben Medaille untrennbar sind.
({4})
Nach dem Ersten Weltkrieg - daran muss man angesichts
der Debatte der zurückliegenden Monate erinnern - sind
Ansätze zur europäischen Einigung auch deshalb gescheitert, weil sich Amerika zu schnell aus Europa zurückgezogen hatte. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg
die europäische Einigung so glücklich gelungen ist und
wir heute an diesem Punkt stehen, hat ganz wesentlich
mit amerikanischem Engagement in Europa zu tun.
({5})
Wer Europa gegen Amerika einen wollte, der wird
Europa am Ende nur spalten. Das war in den letzten Monaten zu besichtigen.
({6})
Ich will das heute nicht vertiefen. Aber unabhängig
von der Frage, wer in der Irak-Debatte welchen Fehler
gemacht hat - Fehler sind nicht nur auf einer Seite gemacht worden -, musste uns doch alle erschrecken,
welch schwere Spaltung quasi über Nacht in Europa
wieder eingetreten ist und wie sehr unsere östlichen
Nachbarn und künftigen Mitglieder der Europäischen
Union, vor allem die Polen, betroffen waren, weil sie
plötzlich die Sorge haben mussten, sie würden vor eine
Wahl zwischen Europäischer Union und atlantischer Sicherheit gestellt werden. Frau Kollegin Schwall-Düren
und ich waren mit dem polnischen Außenminister zusammen und mussten ihm sagen, sein Land brauche sich
als künftiges Mitglied der Europäischen Union nicht dafür zu entschuldigen, dass es mit Amerika freundschaftliche Beziehungen unterhält. So weit haben wir es gebracht, meine Damen und Herren. Wir sollten schnell
daraus lernen.
({7})
Ich finde es gut, dass jetzt auch Intellektuelle - wer
immer Intellektueller sei; das definieren die ja selbst und
üblicherweise gehört man dann, wenn man anderer Meinung ist als sie, nicht dazu - eine Debatte über die politische Verantwortung Europas angestoßen haben. Es geht
aber nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieser
Diskussion diejenigen außen vor halten zu wollen, die in
einer konkreten Frage anderer Meinung sind. Karl
Lamers und ich haben - darauf lege ich schon Wert - in
der politischen Debatte wohl eine Art Copyright für den
Begriff Kerneuropa. Deswegen sage ich im Sinne
authentischer Interpretation: Kerneuropa war für uns
eben gerade nicht ein Element der Spaltung,
({8})
- nein, sondern es war und muss bleiben ein Element dynamischer Führung für ganz Europa. Genau das, Herr
Fischer, haben Sie falsch gemacht.
({9})
- Ich weiß doch, was wir damals geschrieben haben.
({10})
- Auch das stimmt nicht.
({11})
Da fragen Sie mal den italienischen Staatspräsidenten,
der damals Schatzminister war. Der hat genau das gesagt. Wir haben einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass die Italiener bei den Gründungsmitgliedern
der Europäischen Währungsunion gewesen sind, weil sie
die notwendigen Reformen in ihrem Lande zustande gebracht haben, an denen diese Bundesregierung scheitert,
wie wir bei der Diskussion heute Vormittag feststellen
konnten. Auch das ist die Wahrheit.
({12})
- Ich weiß doch, was ich damals geschrieben habe. Sie
haben es damals nicht gelesen und jetzt wollen Sie es
verfälschen und es in falscher Form in Anspruch nehmen.
({13})
Lassen Sie mich noch etwas sagen, wenn ich schon
bei dieser Intellektuellendebatte bin. Fast noch spannender zu sein scheint mir, dass ein Mann wie Jürgen
Habermas, der so oft für Verfassungspatriotismus plädiert hat, jetzt ein Gefühl der politischen Zusammengehörigkeit für Europa voraussetzt.
({14})
- Weil das etwas anderes ist als Verfassungspatriotismus. - Darauf will er eine europäische Identität gründen.
In seinem zusammen mit Jacques Derrida veröffentlichten Aufruf fragt er - ich zitiere ihn -:
Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und
Errungenschaften, die für europäische Bürger das
Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals
stiften?
Das ist die Grundlage für nationale wie für europäische
Zugehörigkeit und Identität, und das ist eben sehr viel
mehr als Verfassungspatriotismus.
({15})
Geteilte Erinnerungen und Gefühle stiften ein solches
Verständnis von Zugehörigkeit und Identität.
Ich meine, dass der Austausch zwischen Osten und
Westen in Europa in seiner langen Geschichte ganz wesentlich dazugehört. Unser Kollege Arnold Vaatz
schreibt in der Vorbemerkung zu einer von ihm noch
nicht veröffentlichten, aber hoffentlich irgendwann zu
veröffentlichenden „Geschichte Mitteldeutschlands“
über die politische Dynamik der Geschichte, die aus dem
Spannungsfeld zwischen Osten und Westen im Laufe der
Jahrhunderte immer wieder entstanden ist.
({16})
Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für ganz
Europa. Das müssen wir jetzt fruchtbar gestalten. Dann
wird das für uns alle in Europa von Nutzen sein.
({17})
- Verehrter Herr Weisskirchen, damit drehen Sie auf Debatten zurück, die wir vor mehr als zehn Jahren geführt
haben. Wollen Sie den Begriff Mitteldeutschland wirklich aus der deutschen Sprache streichen? Ich glaube, Sie
haben nicht alle Tassen im Schrank. Das tut mir wirklich
Leid.
({18})
Dass wir über die deutsche Einigung im Jahre 2003 anlässlich des anstehenden Beitritts von Polen und anderer
Länder zur Europäischen Union noch streiten müssen,
ist wirklich steinerweichend. Wir sind uns doch darüber
im Klaren, dass wir im Zuge der europäischen Einigung
über Grenzen nicht mehr streiten, sondern dass wir
Grenzen durch die europäische Einigung überwinden.
Deswegen ist es doch ein Freudentag, wenn zehn unserer
Nachbarn im Osten der Europäischen Union beitreten
wollen.
({19})
Deswegen müssen wir aber unsere Sprache und unsere
Begriffe doch nicht ändern.
Ich würde gerne noch einen weiteren Gesichtspunkt
ansprechen. Der Beitritt der künftigen EU-Mitglieder
muss auch unsere Nachbarschaft im Osten stärker in unser Blickfeld rücken. Auch hier muss sich Europa bewähren und auch hier liegen für alle Europäer große
Chancen.
Ich will einige Worte zu Russland sagen. Russland ist
zum Teil Europa und es ist zugleich auch eine Weltmacht.
Übrigens belegt auch die Beziehung zu Russland wieder,
dass die europäische Einigung und die atlantische Partnerschaft zusammengehören; die Polen wissen das. Ich
glaube, die deutsch-russische Zusammenarbeit ist mit
Amerika für Polen sehr viel weniger mit Sorgen verbunden denn als Alternative zur atlantischen Partnerschaft.
Für Europa allein ist Russland zu groß. Deshalb bietet die
euro-atlantische Gemeinschaft auch für Russland die bessere Perspektive für eine dauerhafte Zusammenarbeit.
({20})
Im Übrigen zeigt jeder Blick auf die aktuelle Agenda der
Weltpolitik, wie sehr wir auf einen gestaltenden Beitrag
Europas, auf eine enge atlantische Partnerschaft und auf
eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Russland angewiesen sind.
Die guten Ansätze, die sich in den letzten Wochen
etwa im Quartett für den Fahrplan zum Frieden im Nahen Osten oder auch bei den Treffen in Petersburg und
Evian gezeigt haben, müssen genutzt und weiterentwickelt werden. Auch deshalb ist der Beitritt der zehn
neuen Mitglieder zur Europäischen Union nicht nur ein
historisches Ereignis, indem nach bitterer Vergangenheit
ein neues und hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte
aufgeschlagen wird. Dieser Beitritt muss für uns auch
Anstoß sein, uns über unsere Verantwortung und Chancen in dieser Zeit so aufregender Veränderungen in der
Welt klar zu werden.
Auch in diesem Sinne wird der Beitrag unserer neuen
Mitglieder in der Europäischen Union dringend gebraucht.
({21})
Das Wort hat jetzt der Herr Außenminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute abschließend über die Erweiterung der Europäischen Union. Die Vorrednerin und der Vorredner
haben zu Recht darauf hingewiesen: Bei dieser Erweiterungsrunde um zehn neue Mitgliedstaaten handelt es
sich nicht nur um die größte Erweiterung; allein aufgrund dessen würde sie das Prädikat „historisch“ schon
verdienen. Zugleich gehören überwiegend Nachbarstaaten dazu, die bisher jenseits des Eisernen Vorhanges zu
leben hatten. Das heißt, neben der größten Erweiterung
ist es zugleich ein Überschreiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs, weswegen man, wie es Kollege Schäuble
getan hat, durchaus sagen kann, dass es der entscheidende Schritt zur Wiedervereinigung Europas ist.
Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass das
Haus insgesamt Zustimmung signalisiert hat. Lassen Sie
es mich so sagen: Die neuen Mitgliedstaaten sind uns als
gleichberechtigte Mitglieder der erweiterten Union recht
herzlich willkommen.
({0})
Die Gleichheit der Mitgliedstaaten ist eines der ganz
entscheidenden Prinzipien. Dass dieses Prinzip der
Gleichheit gilt, haben wir bereits im Konvent gezeigt.
Obwohl die neuen Mitgliedsländer noch nicht formal
beigetreten waren, arbeiteten wir dort als Gleichberechtigte zusammen. Das hat auch der Europäische Rat in
Thessaloniki gezeigt, wo die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister der 25 bereits gemeinsam
gearbeitet haben.
({1})
- Bitte?
({2})
- Ich gebe zu, es war ein Fehler, dass ich „Bitte“ gesagt
habe.
({3})
Wenn ich über die größte Erweiterungsrunde rede, dann
versteht der Abgeordnete Müller, München, CSU, nur
Türkei. Dies ist eine spezifische Form der Übersetzung
von Ihnen. Wenn ich aber schon dabei bin - ({4})
- Auf Geheiß Ihres Landesgruppenvorsitzenden nehme
ich es sofort zurück.
({5})
Wir werden Ihrem Antrag auf eine Zweidrittelmehrheit nicht zustimmen.
({6})
Es ist doch völlig klar, was damit intendiert ist. Obwohl
es gar nicht notwendig ist, wollen Sie damit die Möglichkeit erhalten, bei kommenden Erweiterungsrunden
der Union mit einer Minderheit Beschlüsse zu blockieren. Deswegen lehnen wir diesen Antrag als gute und
überzeugte Europäer ab.
({7})
Der Kollege Schäuble wollte eine intellektuelle Debatte führen. Das finde ich gut und richtig; ich werde
gleich darauf eingehen. Aber Herr Schäuble ist mit einigen knappen Bemerkungen sehr schnell über den zweiten Entschließungsantrag hinweggegangen. Ich verstehe
auch, warum. Dort wird nämlich erneut auf das deutschtschechische Verhältnis eingegangen. Ich kann Ihnen
nur sagen: Für uns gilt die unter Bundeskanzler Helmut
Kohl und unter Beteiligung vieler Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition und auch der Frau Vizepräsidentin mühselig erarbeitete Deutsch-Tschechische Erklärung.
Das Verhältnis ist schon schwierig genug. Auf der einen Seite bestreitet niemand die Verantwortung unseres
Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das
gehört konstitutiv zur Identität des demokratischen
Deutschlands. Aber auf der anderen Seite muss auch das
erlittene Unrecht und das Leiden derer, die vertrieben
wurden und ebenfalls ein großes Opfer zu bringen hatten, betont werden. Auf dieser gemeinsamen Grundlage
und gründend auf der historischen Verantwortung unseres Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus
wurde damals die Deutsch-Tschechische Erklärung formuliert, die wir nach wie vor für die Basis der Entwicklung unserer Beziehungen halten.
({8})
In diesem Zusammenhang begrüßen wir die jüngste
Rede von Ministerpräsident Spidla, die sehr mutig und
couragiert war.
({9})
Ich möchte auch die sehr positiven Reaktionen von Sprechern der sudetendeutschen Landsmannschaft hervorheben.
({10})
- Richtig. Aber Ihr Antrag ist eher rückwärts gewandt.
({11})
Nichts wäre uns lieber, als dass die Nachkommen der
Sudetendeutschen - inzwischen handelt es sich überwiegend um die zweite und dritte Generation; dies gilt
auch für alle anderen Heimatvertriebenen - und die Verantwortlichen in der Tschechischen Republik wie auch
die Gesellschaften miteinander in einen Dialog kommen.
Dieser Dialog soll nicht mehr durch Konfrontation, sondern durch ein Aufeinander-Zugehen und AufeinanderZudenken geprägt sein. Deswegen wird alles, was uns in
eine ultimative Verhandlungssituation in Bezug auf die
Aufhebung der Benes-Dekrete bringen soll, das Gegenteil von dem bewirken, was gegenwärtig gemacht wird.
Das werden wir nicht mitmachen.
Wir wollen diesen offenen Prozess des AufeinanderZugehens fördern. Ich wünsche mir, dass sich der Geist,
den Ministerpräsident Spidla in seiner jüngsten Rede gezeigt hat, in einem Antrag niederschlägt. Dann würde ich
Zustimmung empfehlen. Aber diesen kann ich in Ihrem
Antrag nicht finden. Darin kommt vielmehr sehr stark
der bayerische Landtagswahlkampf zum Vorschein. Deshalb werden wir dem Antrag nicht zustimmen.
({12})
Jenseits dessen ist es wichtig, dass wir über die Zukunft des erweiterten Europas diskutieren. Ich stimme
Kollege Schäuble ausdrücklich zu: Es ist faszinierend, zu
sehen, was dieses Europa, das angeblich bewegungsunfähig ist, seit der Zeitenwende von 1989 geleistet hat. Die
europäische Einigungsidee ist schon lange vorher geboren worden und ist damit wesentlich älter. Sie ist eine
Antwort auf das Europa der Schlachtfelder des 19. und
20. Jahrhunderts. Sie bedeutet eine Überwindung der
Konfrontation der europäischen Nationalstaaten im
Staatensystem, indem die Interessen, beginnend mit den
ökonomischen Zielen, zusammengefügt wurden.
Dahinter stand aber auch die Überwindung der politischen Teilung, der Grenzen. Aus der Sicht der 50erJahre sollten eines späteren und ferneren Tages Teile der
Souveränität, soweit es notwendig war, ohne dass die
europäischen Nationen deswegen ihr Gesicht, ihre Identität, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Eigenheiten
verlieren, zusammengefügt werden. Dieses Europa wird
nie ein kontinentaler homogener Staat werden. Dies
steht nicht nur im Widerspruch zur Geschichte der europäischen Staaten, sondern - das ist viel älter - zur Geschichte der europäischen Völker. Die Deutschen, die
Franzosen und die Polen gab es schon lange, bevor es
Nationalstaaten in diesem Sinne gab. Diese sind in der
Geschichte eine kurzzeitige Erscheinung.
Die Europäische Union, diese Einigungsidee, ist die
Antwort auf das Europa der nationalen und nationalistischen Konfrontationen. Das ist das Eigentliche. Wir
mussten in den 90er-Jahren beim Auseinanderbrechen
Jugoslawiens die Schattenseite der europäischen Vielfalt
erkennen.
Ich meine - das habe ich Jürgen Habermas in einem
privaten Gespräch gesagt -, dass wir weiter sind als bei
der damaligen Debatte über Kerneuropa. Diese Vorstellung ist im Übrigen nicht richtig. Ich kann mich an die
Debatte erinnern. Die Idee von Kerneuropa ist im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht und der
Einführung des Euro aufgekommen. Sie stand im Zusammenhang mit der Angst, vor allem mit der CSU ein
Problem zu bekommen, wenn auch Italien der Eurozone
beitritt.
Schon damals habe ich euch als Oppositionspolitiker
entgegengehalten, dass diese Debatte weder dem deutschen noch dem bayerischen Interesse dient. Wer sich
die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Norditalien und
Bayern anschaut, der wird das wissen. Es geht vor allen
Dingen nicht, dass wir ein Land, das zum Kern der europäischen Integration gehört, beim Euro außen vor lassen.
Das war der entscheidende Punkt. Das war das Spaltungselement.
Ich kritisiere das nicht unter dem Gesichtspunkt, dass
an der Kerneuropadebatte nicht viel Konstruktives gewesen wäre. Aber sich heute als der große europäische
„Integrator“ hinzustellen, das unter den Tisch fallen zu
lassen und die Bundesregierung wegen der Entwicklung
im Zusammenhang mit dem Irak zu kritisieren zeugt davon, dass man die Geschichte nicht so wahrnimmt, wie
sie tatsächlich gewesen ist.
({13})
Ich bin der Meinung, dass eine „Lokomotive“, die nur
aus wenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
besteht, nur die zweitbeste Lösung ist. Schauen Sie doch
die Realität an. Es war manchmal sinnvoll, Regelungen
nur für einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union
vorzusehen. Das Schengener Abkommen war eine wichtige Initiative. Heute ist dieses Abkommen für die meisten Mitgliedstaaten Vertragsbestandteil. Das heißt, der
innere Freiraum von Recht und Justiz wird mehr und
mehr Realität.
Dabei ist es wichtig, dass die Europäische Grundrechte-Charta jetzt in die Verfassung kommt. Wenn
europäische Institutionen im Zusammenhang mit der
Kriminalitätsbekämpfung Eingriffe in die Grundrechte
der Bürgerinnen und Bürger vornehmen, dann gebietet
es einer der Grundsätze der Demokratie, dass auch die
Grundrechte, das heißt der Schutz der Bürgerinnen und
Bürger gegenüber quasistaatlichem Handeln, gesichert
werden. Genau das wird mit der Aufnahme der Grundrechte-Charta in die Verfassung gewährleistet.
({14})
Darüber hinaus ist diese Verfassung die Konsequenz
der Erweiterung. Was wurde uns alles in Sonntagsreden
entgegengehalten, wenn wir gesagt haben, dass wir die
Erweiterung für historisch unausweichlich halten, dass
diese Erweiterung dann allerdings einer Neugestaltung
der europäischen Institutionen bedarf, um die erweiterte
Union handlungsfähiger zu machen, weil sie zugleich
größer und per definitionem mit 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern und 25 und mehr Mitgliedstaaten
unübersichtlicher und noch weniger verstehbar wird!
Die Europäische Union muss für die Menschen transparenter werden. Das Subsidiaritätsprinzip - das war
vor allem Ihr Petitum - wird in der Verfassung verankert
und die Wächterrolle der nationalen Parlamente wird
festgeschrieben. Sie muss nur noch genutzt werden.
Es ist aber auch klar, dass wir die Europäische Union
demokratischer machen müssen. Ich erinnere an den
gestrigen Vorfall im Europäischen Parlament. Ich hoffe,
dass das in einem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und Ministerpräsident Berlusconi unmissverständlich
richtig gestellt wird und die Angelegenheit mit einer
Entschuldigung abgeschlossen wird. Der gestrige Tag
macht auch die Bedeutung Europas und des Europäischen Parlaments klarer. Wir werden bei den Wahlen erleben, dass das erweiterte Europa eine größere Bedeutung bekommt.
Für mich war es eine Erfahrung, als ich mit dem polnischen Staatspräsidenten und meinem Kollegen, dem
polnischen Außenminister, in der Nähe von Oppeln im
Kampf für das Referendum zum ersten Mal in Polen
aufgetreten bin. Das war sozusagen ein Wahlkampf, um
für das Ja zu Europa zu werben. Das zeigt, wie sich
Europa politisiert und demokratisiert und wie Grenzen
überschritten werden. Wir haben die Erfahrung innerdeutsch gemacht und machen sie jetzt auf gesamteuropäischer Ebene mit Ländern, die bis vor kurzem durch
Mauer und Stacheldraht von uns getrennt waren, heute
aber mit uns verbunden sind. Das ist wahrhaft eine historische Entwicklung.
({15})
Der Prozess wird Geduld und ein Aufeinander-Zugehen erfordern. Die alten Mitgliedstaaten haben über
Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes Europa „gelernt“ und die Bevölkerungen sind langsam in die Europäische Union hineingewachsen.
Wir haben im deutsch-deutschen Einigungsprozess
erlebt, dass vieles, was sich im Westen über Jahrzehnte
hinweg langsam entwickelt hat, von den Menschen in
Ostdeutschland quasi über Nacht übernommen werden
musste. Dasselbe gilt im europäischen Einigungsprozess
für die Menschen in den Beitrittsländern. Dabei bedarf
es Verständnisses und Sensibilität füreinander und auch
- wie wir Deutsche im deutsch-deutschen Einigungsprozess gelernt haben - Geduld. Aber letztendlich ist es ein
großer Erfolg.
Dieses Europa wird auch in der Außenpolitik seinen
eigenen Weg finden müssen. Es nützt nichts, wenn wir
jedes Mal dasselbe wiederholen. Ohne die USA hätte es
keinen europäischen Einigungsprozess gegeben. Gerade wir Deutsche wissen: Wenn die USA in einem sich
vereinigenden Europa gewisse Befürchtungen, Ängste
und meinetwegen auch Vorurteile ausbalancieren, dann
liegt das auch in unserem Interesse. Aber gleichzeitig
müssen wir erkennen, dass der europäische Pfeiler der
transatlantischen Brücke ohne ein stärkeres Europa langsam mürbe werden würde. Das heißt, nicht „weniger
Amerika“, sondern „mehr Europa“ ist die Aufgabe, die
wir gemeinsam zu lösen haben.
({16})
- Nach Ihrer Methode wird das nicht funktionieren, Herr
Pflüger. Im transatlantischen Bündnis müssen Sie auch
kritikfähig bleiben, wenn Sie anderer Meinung sind. Das
ist der entscheidende Punkt.
({17})
Sie sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes kein Maßstab für mich, Herr Kollege Pflüger.
({18})
Denn was Sie unter einer kritischen Meinung verstehen,
ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel.
({19})
- Hören Sie doch auf! Es ist doch so: Von einer bestimmten Stelle erfolgt eine Ansage und dann gibt Friedbert Pflüger Laut. Sie wissen so gut wie ich, dass das die
Realität ist.
({20})
Ihre Position wird von der überwiegenden Mehrheit Ihrer Kollegen nicht geteilt; sie sehen es vielmehr genauso
kritisch wie ich.
({21})
Es gab zwischen uns einen Dissens beim Thema Irak.
Ich betone ausdrücklich: Das war nicht nur eine Frage
der Spaltung - die wir alle bedauert haben -, sondern es
war eine Herausforderung für uns alle, wie wir uns auf
die neuen Gefahren einstellen sollen. Ich meine, dass es
für die beiden Positionen eine große Chance bedeutet,
wenn sie aufeinander zugehen. Aufeinander zugehen
heißt aber nicht, dass sozusagen die eine Seite die Segel
streicht und gegenüber der anderen Seite klein beigibt.
Was wir in der Europäischen Union mit dem neuen
strategischen Papier erreicht haben, zeigt die Richtung,
die wir einschlagen müssen. Angesichts der Herausforderungen und Probleme, vor denen wir gerade im erweiterten Nahen Osten stehen, halte ich das für dringend geboten. Voraussetzung dafür ist aber ein Europa, das
handlungsfähig und sich einig ist. Das wird unter Demokraten nie ohne Streit zustande kommen.
Gestatten Sie, dass der Kollege Schäuble eine Frage
stellt?
Bitte.
Herr Bundesminister, könnten Sie nach Ihren Ausführungen über die Bereitschaft zur Kritik - die wohl auch
die Bereitschaft, Kritik zu ertragen, einschließt; aber darauf wollte ich nicht hinaus - noch zu der Art der Reaktion der deutschen und der französischen Regierung auf
die polnische Kritik in einer bestimmten Frage Stellung
nehmen?
({0})
Herr Kollege Schäuble, bei der Beantwortung dieser
Frage würde ich gerne differenzieren. Das wissen Sie
auch.
({0})
- Ich will es Ihnen gerne erläutern. - Ich habe damals
ausgeführt, dass ich von einer bestimmten Sprache oder
auch Art des Umgangs mit Partnern - wen auch immer
das betreffen mag - nichts halte. Ich bin vielmehr der
Meinung, dass wir aufeinander zugehen und auch das
notwendige Verständnis für kritische Positionen - auch
wenn es in der Familie einmal etwas konfrontativer zugeht, was in Familien gerade in Sachfragen immer möglich ist - aufbringen müssen und dass dies immer auf
Augenhöhe und von Gleich zu Gleich zu geschehen hat.
Das war und ist die Haltung der Bundesregierung und
das wird auch so bleiben.
({1})
Ich habe hinzugefügt, dass dies von unseren Erfahrungen im deutschen Vereinigungsprozess geprägt ist.
Seien wir doch dankbar dafür,
({2})
dass wir einen gemeinsamen Erfahrungsvorlauf haben,
den wir auf europäischer Ebene einbringen können. Deswegen möchte ich noch einmal allen, aber besonders unseren polnischen und tschechischen Nachbarn zurufen:
Seien Sie uns herzlich willkommen!
Vielen Dank.
({3})
Herr Pflüger, mir ist eine Kurzintervention des Abgeordneten Hintze angekündigt worden.
Ich habe nicht gesehen, dass sich auch der Kollege
Hintze zu einer Kurzintervention gemeldet hat.
({0})
Gut, dann erteile ich Ihnen als Erstem das Wort zu
einer Kurzintervention. Bitte, Herr Pflüger.
Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister Fischer
hat sich eben zu der Art und Weise geäußert, wie wir mit
unseren Freunden in Amerika umgehen. Ich möchte sehr
deutlich sagen, dass ich unterschiedliche Meinungen innerhalb der Allianz für das Normalste auf der Welt halte.
Wir alle sind der Ansicht, dass es in einem Bündnis
freier Länder richtig und notwendig ist, auch Meinungsunterschiede auszutragen. Tun Sie doch nicht so, Herr
Bundesminister, als ob dies der Streitpunkt in den letzten
sechs Monaten gewesen wäre! Das ist er nie gewesen.
Der Streitpunkt ist vielmehr die Art und Weise gewesen,
wie die Bundesregierung ihre Position vorgetragen hat,
wie Amerika beschimpft worden ist - bis hin zu Vergleichen von Bush mit Cäsar und Hitler - und wie den Amerikanern Abenteurertum unterstellt worden ist. Diese Art
und Weise sowie die Tatsache, dass es über Monate hinweg keinen Kontakt zwischen der Bundesregierung und
der Führung in Washington gegeben hat, haben wir
kritisiert.
Herr Bundesminister, Sie haben davon gesprochen,
dass Sie mehr Europa haben wollen. Es ist richtig, dass
wir mehr Europa brauchen. Aber das Problem ist, dass
Europa in den letzten sechs Monaten schwächer und uneiniger geworden ist und dass es gespalten gewesen ist.
Diese Politik, die Sie zu verantworten haben, führt in die
Irre. Meinungsunterschiede sind in Ordnung. Aber sie
müssen auf vernünftige Art und Weise ausgetragen werden. Vor allen Dingen sollte man miteinander und nicht
übereinander und auch nicht auf den Marktplätzen reden. Darum ist es uns in den letzten Wochen gegangen.
({0})
Herr Abgeordneter Hintze, möchten Sie noch eine
Kurzintervention machen? - Das ist der Fall. Herr Minister, Sie können dann auf die beiden Kurzinterventionen erwidern.
Bitte, Herr Hintze.
Der Bundesaußenminister hat eben so viel unerfreulichen Diskussionsstoff geliefert, dass man darauf eingehen muss.
({0})
- Doch, das ist wichtig. - Ich finde es bedauerlich, dass
die Regierung versucht, ihren Frust über die Probleme
im deutsch-amerikanischen Verhältnis am außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion abzureagieren. So können Sie Ihre Fehler nicht wieder gutmachen.
({1})
Der Grund meiner Kurzintervention ist aber ein anderer. Der Bundesaußenminister hat der Opposition mit
mächtiger Stimme vorgeworfen, sie wolle anlässlich des
Beitritts der zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie dem Mittelmeerraum ein Präjudiz für weitere Beitritte schaffen, und das nur, weil wir in unserem Änderungsantrag auf die verfassungsmäßigen Grundlagen
dieser Entscheidung hinweisen. Herr Bundesaußenminister, es geht darum, in einer wichtigen Schicksalsfrage
Europas ein Präjudiz zulasten der Rechte des Deutschen
Bundestages zu verhindern.
({2})
Deswegen treten wir aufgrund unserer verfassungsmäßigen Überzeugung dafür ein, dass Art. 23 in Verbindung
mit Art. 79 des Grundgesetzes die rechtliche Grundlage
für Erweiterungen der EU ist.
Als überzeugte Europäer - das möchte ich aus politischer Sicht hinzufügen - treten wir dafür ein, die Europäische Union stets so zu erweitern, dass jede Erweiterungsrunde ein politischer und kultureller Gewinn für
Europa ist. Die jetzige Erweiterung ist ein solcher Gewinn. Wir werden ihr zustimmen. Das haben wir im
Europaausschuss bereits einstimmig getan. Aber wir
wollen uns bei jeder neuen Erweiterungsrunde das kritische Urteil darüber vorbehalten, ob das, was Sie uns vorschlagen, Europa tatsächlich gut tut. Das lassen wir uns
von niemandem nehmen. Das ist übrigens - damit gehe
ich auf eine andere Bemerkung ein - kein Sonderanliegen der CSU, sondern die gemeinsame Überzeugung
von CDU und CSU.
({3})
Als Letztes möchte ich darauf hinweisen, dass Sie
sich zu meiner positiven Überraschung über die inakzeptable Aussage, die der italienische Ministerpräsident im
Europäischen Parlament gestern getätigt hat, maßvoll
geäußert haben. Allerdings habe ich heute Morgen mit
Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass der Bundeskanzler von diesem Pult aus mit großer Geste eine öffentliche Rüge erteilte.
({4})
- Moment, fangen Sie nicht an zu schreien!
Herr Kollege Hintze, Sie dürfen jetzt keinen Debattenbeitrag mit mehreren Punkten leisten. Die Redezeit
von drei Minuten ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Herr Bundeskanzler
von diesem Pult aus eine öffentliche Rüge ausgesprochen hätte, nachdem seine eigene Justizministerin in
ähnlicher Weise entgleist war.
Danke schön.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Hintze hat sich in diesem Debattenbeitrag ein
weiteres Mal als großer Realist - um nicht zu sagen: als
großer Realo - gezeigt.
({0})
Herr Hintze, Sie gehen nämlich davon aus, dass Sie weitere Beitrittsrunden - sie werden in den Jahren bis 2010
und danach stattfinden - von der Oppositionsbank aus
begleiten.
({1})
Da pflichte ich Ihnen ausdrücklich bei.
Kollege Hintze, ich pflichte Ihnen allerdings nicht
bei, was die juristischen Begründungen angeht. Die
Pflicht der Opposition ist sowohl heute als auch in Zukunft - ({2})
- Das hat mit Arroganz überhaupt nichts zu tun. Ich greife
lediglich das auf, was Kollege Hintze gerade gesagt hat.
Wenn er meint, dass wir die Erweiterungsrunde im Jahr
2007 noch in dieser Rollenverteilung begleiten, dann
stimme ich ihm zu. Ich werde versuchen, alles dazu beizutragen, dass diese Rollenverteilung aufrechterhalten
bleibt.
Ich würde Ihr Recht, zu bewerten, ob Sie zustimmen
können oder nicht, niemals negieren. Im Gegenteil: Das
ist nicht nur Ihr Recht, sondern auch Ihre Pflicht. Dass
Sie allerdings schon jetzt sozusagen in Umkehrung der
Verfassungsrealitäten andere Spielregeln wollen, um am
Ende über eine Blockademinderheit zu verfügen, das
wird nicht funktionieren können, Kollege Hintze.
({3})
Im Übrigen möchte ich mich nicht am Kollegen
Pflüger abreagieren. Meine Meinung ist seit meinem Erlebnis auf der letzten Münchener Sicherheitskonferenz
unverändert. Die Höflichkeit gebietet es, das hier so darzustellen, wie es in Wirklichkeit ist.
({4})
- Das hat mich überhaupt nicht getroffen. Mich haben
amerikanische Kollegen, aber auch bedeutende Repräsentanten der NATO gefragt, ob das bei uns so üblich
sei. Darauf habe ich geantwortet: Leider ja. Mich abzureagieren, habe ich gar nicht nötig.
Ich möchte auf Ihren letzten Punkt, Kollege Pflüger,
zu sprechen kommen. Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundeskanzlers, dass die Äußerungen von Ministerpräsident Berlusconi inakzeptabel sind und über
eine Entschuldigung aus der Welt geschafft werden müssen. Übrigens hat Herr Fini, der stellvertretende Ministerpräsident Italiens, das genauso gesehen. Er hat gesagt,
er halte das im Interesse der deutsch-italienischen
Beziehungen für eine Selbstverständlichkeit.
Jeder von uns hat sich schon einmal vergaloppiert,
meinetwegen auch böse. Wenn Sie hier schon Vergleiche
ziehen: Ich kann mich an den Gorbatschow-Vergleich erinnern, der völlig daneben war. Später haben sich die
beiden Herren zum Nutzen aller sehr gut verstanden.
Dieser Vergleich war genauso daneben. In einer Biografie wurde er, wenn ich mich richtig entsinne, im Nachhinein als Fehler qualifiziert. Niemand, der sich für
einen Fehler entschuldigt, bricht sich einen Zacken aus
der Krone. Wo Menschen sind, da passieren Fehler,
manchmal auch schlimme. Das kann man mit einem offenen Wort geraderücken, indem man sich entschuldigt.
Das hat der Bundeskanzler gesagt. Dem stimme ich voll
zu. Das hat mit Anprangern oder Ähnlichem überhaupt
nichts zu tun.
({5})
Auch etwas anderes, was Kollege Pflüger behauptet
hat, lasse ich so einfach nicht stehen.
Erstens. Dass es zwischen den Führungen monatelang
keinen Kontakt gegeben hat, ist - das wissen Sie auch schlechterdings Unfug. Ich stand in permanentem Kontakt mit meinem Kollegen. Sie können natürlich sagen:
Der Außenminister, der Secretary of State, der Innenminister und andere gehören nicht zur Führung. Das mag
Ihre Perspektive sein. Ich teile sie nicht.
Zweitens. Wir hatten einen Streit darüber, ob militärische Mittel angemessen sind. So etwas kommt zwischen Demokratien vor. Das wissen Sie so gut wie ich.
Dieser Streit wurde ausgetragen. Ich bin froh, dass wir
ihn hinter uns haben.
Schließlich, Kollege Pflüger, lassen Sie mich zu Ihrer
Behauptung, die Bundesregierung führe uns in die Irre,
Folgendes sagen: Darüber, wer hier wen in die Irre führt,
müssen und werden Sie gegenwärtig in der CDU diskutieren. Darüber sind wir nicht traurig.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit bei Ihnen, meine Herren aus Polen, die Sie
heute hier in dieser ganz wichtigen Debatte zuhören,
keine Irritationen entstehen, möchte ich eines ganz deutlich machen: Die FDP-Fraktion ist die Fraktion im Deutschen Bundestag, die nie einen Zweifel daran gelassen
hat, dass sie diesen Beitrittsprozess, und zwar beginnend
mit dem ersten Beitritt zur Europäischen Union, immer
wollte und immer zielstrebig verfolgt hat. Was für viele
sehr lange eine Vision war, wird heute Realität - dank liberaler Außenminister. Die FDP hat auch nie einen
Zweifel daran gelassen, dass der Vertrag über den
Beitritt in diesem Haus wie ein ganz normaler Ratifizierungsvertrag mit einfacher Mehrheit ratifiziert wird.
Wir sind in Kontinuität mit der Regierungspolitik der
früheren CDU/CSU-FDP-Koalition.
({0})
1994, als es um den Beitritt dreier Länder ging, haben
wir genau dieselbe Position wie heute vertreten. In diesem Punkt gehören wir eindeutig zur Minderheit in diesem Haus; denn da hat es jetzt bei CDU/CSU und SPD
die Rochaden gegeben. Anscheinend spielt auch bei der
Bewertung juristischer Fragen eine nicht unwesentliche
Rolle, in welcher Verantwortung man in diesem Hause
ist. Wir haben an unserer Position nie Zweifel aufkommen lassen und haben diese Position klar, eindeutig,
nachvollziehbar und so vertreten, dass keine Irritationen
entstehen.
({1})
Wir von der FDP-Fraktion begrüßen herzlich die Bürgerinnen und Bürger der Beitrittsstaaten, nicht nur die
aus Polen, sondern die aus allen zehn Ländern, die am
1. Mai 2004 zur Europäischen Union gehören werden.
Natürlich gilt das uneingeschränkt auch für die
Tschechische Republik. Wir sind froh darüber, dass die
Tschechische Republik zur Europäischen Union gehören
wird - gerade mit Blick auf die deutsche Vergangenheit
und das Unrecht, das vielen Menschen, Deutschen und
Tschechen, widerfahren ist. Gerade deshalb ist es ein
entscheidender historischer Schritt.
({2})
Das Bekenntnis der tschechischen Bevölkerung zum
EU-Beitritt, die Erklärung des tschechischen Parlaments
und des tschechischen Ministerpräsidenten Spidla sind
eindeutig ein Schritt hin zu einem neuen Kapitel auch in
den Beziehungen der beiden Staaten Bundesrepublik
Deutschland und Tschechische Republik. Ich bin davon
überzeugt, dass gerade in der Unionsmitgliedschaft von
Deutschland und Tschechien eine hervorragende Grundlage dafür liegt, auch immer noch offene und zu debattierende Fragen in gegenseitigem Einvernehmen zu lösen. Aber belasten wir diese gemeinsame Zukunft bitte
nicht mit Versprechungen und Entschließungen!
({3})
Jetzt steht die Europäische Union vor der Herausforderung, die Erweiterung auch tatsächlich zu vollziehen,
die Chancen zu nutzen und die Risiken, die natürlich
ebenfalls vorhanden sind, zu minimieren. Wirtschaftliche Kooperation, besonders in grenzüberschreitenden
Regionen, Ausbildungs- und Bildungsoffensiven sowie
grenzüberschreitende Verkehrsmaßnahmen haben natürlich hohe Priorität. Aber gerade der italienischen Ratspräsidentschaft kommt in dieser für die Europäische
Union, für ihre Integration und für ihren Weiterentwicklungsprozess wichtigen Zeit eine ganz herausragende
Bedeutung zu. Gerade jetzt, in dieser Stunde, muss das
Vertrauen der neuen Mitgliedstaaten gewonnen werden
und muss gegenseitiges Verständnis gestärkt werden, um
auf dieser Grundlage Interessengegensätze zu überwinden. Deshalb ist besorgniserregend, dass das Debüt des
italienischen Ministerpräsidenten als Ratspräsident im
Europäischen Parlament gestern völlig missglückt ist.
Gerade jetzt, in dieser Phase, braucht die Europäische
Union einen Ratspräsidenten, der überzeugt und den
europäischen Verfassungsprozess weiter voranbringt,
der integriert und nicht mit seinen Ausfällen im Europäischen Parlament Misstrauen sät. Alles andere birgt die
Gefahr in sich, dass die Ratspräsidentschaft mit diesen
Belastungen nicht zu dem Erfolg kommt, den wir von
diesem Prozess erwarten.
({4})
Das Allermindeste ist doch, dass sich der italienische
Ministerpräsident dafür entschuldigt, damit diese Auseinandersetzung nicht die Beratungen in den kommenden Monaten und insbesondere die Regierungskonferenz, die im Herbst beginnt, überlagert.
Wir Liberale begrüßen ausdrücklich, dass es jetzt
einen ersten Entwurf einer europäischen Verfassung
gibt. Er stellt in vielen Bereichen die Weichen richtig
und gibt Antworten darauf, wie mit den Herausforderungen im Rahmen der Erweiterung umzugehen ist. Für uns
sind beide Prozesse - Erweiterung und Vergrößerung sowie Vertiefung der Europäischen Union - unabdingbar
miteinander verbunden. Wir erwarten aber auch, dass
auf den noch verbleibenden Konventssitzungen über entscheidende Punkte und noch mögliche Verbesserungen
verhandelt wird. In den letzten Beratungsrunden zum
dritten Teil geht es nicht nur um technische Fragen, sondern auch darum, in der Ausgestaltung wichtiger Kompetenzfragen klare Regelungen und nicht solche, die
nachher zulasten der Mitgliedstaaten ausgelegt werden
können, zu treffen.
Deshalb wollen wir, dass die Kompetenzen etwa bezüglich der Daseinsvorsorge nicht verlagert werden, dass
die Binnenmarktkompetenz eingeschränkt wird sowie in
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik über
qualifizierte Mehrheiten der Europäischen Union bessere Handlungsmöglichkeiten gegeben werden. Dieser
Versuch muss jetzt in den Beratungen, aber möglicherweise auch noch, ohne dass das ganze Paket aufgeschnürt wird, in den Beratungen der Regierungskonferenz unternommen werden.
Dass wir in der Europäischen Union eine offene Debatte über die Konzeption ihrer Außenpolitik brauchen,
ist ja unstreitig. Das hat ja auch die Diskussion heute
Morgen zum Ausdruck gebracht. Wir als FDP wollen ein
selbstbewusstes und starkes Europa, das sich nicht allein
aus einer schlichten Abgrenzung zu den Vereinigten
Staaten von Amerika bzw. einer schlichten Unterwerfung unter amerikanische Vorstellungen definiert, sondern das seine eigene Außen- und Sicherheitspolitik in
Partnerschaft zu unseren amerikanischen Freunden definiert und dadurch Vertrauen aufbaut. Hierfür müssen
Mechanismen geschaffen und Verfahrensabläufe festgelegt werden,
({5})
damit nach strittigen Diskussionen über wichtige Einzelfragen ein gemeinsames Handeln der Europäischen
Union möglich wird, und zwar ohne dass es durch Irritationen, die nach wie vor nach der emotionalen Auseinandersetzung der letzten Monate um den Irakkrieg bestehen, überlagert wird.
Wir also haben klare Vorstellungen von einem starken
handlungsfähigen Europa. Die vielen Kulturen und Traditionen sind eine Bereicherung für uns. Wir Liberale
sind froh, dass wir wirklich für uns in Anspruch nehmen
dürfen, entscheidende Weichenstellungen für die heute
anstehenden Entscheidungen mit vorgenommen zu haben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert
Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Prag vor über 20 Jahren, die Charta 77 gerade wenige
Jahre alt. Anglicka 8, nahe am Wenzelsplatz - Milan
Horacek, der auf der Tribüne sitzt, kennt es -: Anna
Sabatova und Petr Uhl wohnen hier, streng bewacht;
sie leise und eindringlich, er blickt mich verschmitzt aus
den Augenwinkeln an und zitiert Konrad György: Wir
leben im unglücklichen Teil Europas, uns geht es um die
Freiheit, uns geht es darum, dass wir als Europäer die
gleichen Rechte wie ihr als Europäer habt. Auch unser
Teil Europas will glücklich werden. - Das haben sie damals zu mir gesagt.
({0})
Um die Freiheit geht es. Prag liegt westlich von Wien.
Istvan Szent-Ivanyi aus Budapest zeigt mir im gleichen Jahr, wie die Dissidenz miteinander ringt, um Solidarität und wieder um Freiheit debattiert. Er sagt: Das ist
unser Wollen, unser Ziel - Freiheit, so wie bei euch im
Westen Europas. Heute ist er liberaler Vorsitzender des
Europaausschusses. Er hat gezeigt, was Solidarität in
Zeiten der Diktatur heißt.
Oder Marju Lauristin, die große estnische Sozialdemokratin. Wer einmal in Tallin war, war vielleicht auch
vor dem Parlament und hat auf die wunderbare Altstadt
und das weite baltische Meer geblickt. Marju Lauristin
hat, die Büste ihres Vaters zeigend, gesagt - das war
Mitte der 80er-Jahre -: Er hat Estland in die Diktatur gebracht, ich, Marju Lauristin, will das, was mein Vater getan hat, rückgängig machen; ich will, dass Estland Mitglied der Familie der europäischen Demokratien wird. Ich war erstaunt, überrascht, erfreut.
Oder Emmanuelis Zingeris, ehemals Mitglied des
Parlaments in Vilnius, heute als Mitglied der jüdischen
Gemeinde in Vilnius dafür sorgend, dass das Jerusalem
des Ostens niemals verloren geht, die Geschichte des
europäischen Judentums, das in Europa eine Klammer
bedeutet hat um den Westen, den Osten und die Mitte
Europas und das Deutschland damals zerstört hat. Er
sagt: Seitdem ist das Wort „Holocaust“ in den Namen
meines Landes eingebrannt auf alle Zeit.
Oder Jan Józef Lipski aus Polen. Er lebt nicht mehr.
Wie würde er sich freuen, wenn er diesen Tag, den
1. Mai 2004, erleben könnte, er, der den demokratischen
Sozialismus damals als PPS-Vorsitzender - so nannte
man das - im Exil am Leben gehalten hat, nach Polen
zurückgebracht hat, sich der Solidarnosc und zuvor der
Menschenrechtsbewegung angeschlossen hat.
Was für Menschen, was für Männer und Frauen! Sie
gehören jetzt zu uns.
({1})
Häufig wird gesagt, die Europäische Union erweitere
sich nach Osten. Nein. Jiri Grusa hat es richtig erkannt
und beschreibt als Lyriker und Diplomat sensibel und
analytisch genau, worauf die meisten hoffen und worüber der Deutsche Bundestag heute entscheiden wird: Der
Westen verlängert sich. Alle hinzukommenden Mitglieder wollen Teil des Westens sein. Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität - in der EU haben sie
ihren Platz, fest und unverrückbar. Jetzt gilt es, das, was
sich die Länder mit der Sehnsucht nach Freiheit erkämpft haben, was sie sich erstritten haben, in der Europäischen Union zu sichern. Wir und alle anderen Mitglieder der Europäischen Union sind dazu bereit, euch
den Platz zu geben, gemeinsam mit uns die Zukunft der
Europäischen Union zu gestalten!
({2})
Das bleibt, wenn auch manchmal der eine oder andere
Punkt ärgerlich ist, wenn auch mit der Brüsseler Technokratie gerungen werden muss - Günter, du verzeihst,
dass ich das so sage -: Die Europäische Union ist der
Rahmen, in dem diese Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ihren festen Platz gewinnen. Das ist ein ungeheurer qualitativer Sprung in der Geschichte Europas. Das,
was jahrhundertelang unsere eigene Geschichte geprägt
hat, der unendliche schreckliche Strom der Gewalt, der
durch die Zeiten gegangen ist, ist gestoppt.
Kollege Pflüger, an diesem Punkt kann es doch keine
Frage sein, dass die USA zu Beginn der Wächter gewesen ist, der uns diese Freiheit gesichert hat. Das wissen
wir doch. Nur mit den USA kann es gelingen, die Freiheit in der ganzen Welt zu sichern und mitzuhelfen, dass
alle Menschen, die es wollen, eine Chance auf Freiheit
bekommen. In diesem Punkt gibt es keine Meinungsverschiedenheiten mit den USA.
Es wäre merkwürdig, wenn gerade die Sozialdemokratie, die in den 20er-Jahren die einzige Partei in
Deutschland gewesen ist, die die innere Verbindung zwischen den USA und Europa aufrechterhalten hat, diese
Gemeinsamkeit aufkündigen würde. Wir haben 1925 die
Forderung nach Schaffung der Vereinigten Staaten von
Gert Weisskirchen ({3})
Europa in unser Programm geschrieben. Wenn in Europa
das, was die Sozialdemokratie 1925, also ein paar Jahre
vor der Hitler-Diktatur, gefordert hat, durchgesetzt worden wäre, dann hätten wir diesem Kontinent und der
ganzen Menschheit viel Leid und Schrecken ersparen
können.
({4})
Herr Kollege Schäuble, ich nehme gerne das auf, wovon Sie gesprochen haben: Worin besteht das innere
Band, das uns verbindet? Wir Deutsche bringen in die
Europäische Union die Erfahrung ein, dass man in die
Barbarei und in die Diktatur abstürzen kann. Die Länder,
die jetzt dazukommen, bringen die Erfahrung mit, dass
diejenigen, die die Freiheit wollen, die Diktatur überwinden können. Diese beiden Grundgedanken werden die
Klammer sein, die die Europäer in Ost und West miteinander verbindet. Die Sehnsucht nach Freiheit sowie
der Kampf gegen die Diktatur und die Unterdrückung
sind das innere Band, das die Europäer im Osten und im
Westen miteinander verbindet. Das ist der Schatz der
historischen Erfahrung und die gemeinsame Grundlage
für das neue Europa.
({5})
Es gibt noch eine zweite gemeinsame Erfahrung; ich
bitte alle, sich diesen qualitativen Sprung vor Augen zu
führen. In Art. 1 unserer Verfassung steht: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar.“ Das ist die Grundlage für
die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Unionsbürgerschaft. Ja, die Zeit der klassischen nationalstaatlichen Souveränität, die an das Territorium und die, wie
Carl Schmitt es gesagt hat, an den Nomos der Erde gebunden war, ist glücklicherweise vorbei. Aber wir müssen eine neue Souveränität erarbeiten. Jürgen Habermas
hat Recht: Diese neue Souveränität ist die des postnationalen Denkens, wodurch die alten Krankheiten des
Kontinents, nämlich der Nationalismus, überwunden
werden.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss.
Paul Valéry hat einmal gefragt, was aus diesem
Europa einmal werden wird; es sei doch eigentlich ein
kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents. Nein, dieses Europa ist, was es wird. Die Menschen wollen, dass
dieses Europa ein Entwurf für die Zukunft und ein Laboratorium der Moderne wird. Damit können wir ein neues
universales Zusammenleben entwickeln, das etwas anderes ist als Globalisierung.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Uhl.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem 1. Mai 2004 werden zehn neue Mitgliedstaaten aus Osteuropa sowie Malta und Zypern der
Europäischen Union beitreten. Die CDU/CSU begrüßt
die Erweiterung der Europäischen Union.
({0})
Der Osten Europas hat über vier Jahrzehnte lang unter
der Sowjetherrschaft gelitten. Jetzt muss endlich politisch stabilisiert werden, was zu uns, nach Europa, heimgeholt wird. Nach einem von Krieg und Spaltung geprägten Jahrhundert können die Völker Europas in
Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zusammenleben. Die Osterweiterung - hier hat Ministerpräsident
Teufel mit seiner Formulierung Recht - ist deshalb vor
allem eine Stärkung der europäischen Friedensordnung.
Sie ist auch eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Notwendigkeit, zu der es überhaupt keine vernünftige Alternative geben kann.
Mit dieser Erweiterung sind aber - das wissen auch
Europaeuphoriker - viele Herausforderungen und vor allem viele Verteilungskämpfe verbunden. Bei der Osterweiterung handelt es sich um die größte Erweiterung
in der Geschichte der EU; sie hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die deutschen Hoheitsrechte. Deshalb
fordern wir, die CDU/CSU-Fraktion, dass der Beitrittsvertrag gemäß Art. 79 Grundgesetz im Bundestag und
im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit ratifiziert wird.
({1})
Bereits durch die Ausweitung der qualifizierten
Mehrheitsentscheidungen im Vertrag von Nizza hat
Deutschland Hoheitsrechte auf die EU übertragen. Diese
Mehrheitsentscheidungen werden jetzt im Beitrittsvertrag rechtsverbindlich festgeschrieben und in einigen
Teilen sogar noch geändert. Schon um mögliche Verfahrensfehler bei diesem historischen Schritt der Osterweiterung, den wir alle wollen, zu vermeiden, gilt: Was bei
der Nizza-Abstimmung einer Zweidrittelmehrheit bedurfte, muss auch jetzt mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Dies ist der Inhalt unseres Änderungsantrags.
({2})
Eine unserer größten Herausforderungen liegt im Zusammenwachsen Europas, in der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Identität. Wie schwierig das
Zusammenwachsen von lange Getrenntem ist, wissen
wir Deutsche aus eigener Erfahrung am allerbesten.
Nahe liegt deswegen die besorgte Frage: Wie soll sich
ein Europa, das sich schon mit 15 Mitgliedern oft nicht
einigen konnte, mit 25 Mitgliedern verständigen können?
Vor allem beim Treffen von Nizza wurde das Wiedererstarken nationaler Interessen offenkundig.
({3})
Herr Weisskirchen, mit fortschreitendem Alter müssten
Sie auch als glühender Anhänger von Habermas Folgendes erkennen: Die Menschen identifizieren sich zuallererst mit ihrer Heimat und ihrer Nation. Auch wenn es Ihnen Leid tun sollte, so wird es bleiben.
({4})
Deshalb werden die Nationen und die Regionen auch in
Zukunft stets die zentralen Elemente einer europäischen
Identität bleiben.
({5})
Wir Deutsche wollten das lange Zeit nicht wahrhaben; Sie wollen es noch heute nicht wahrhaben. Wir sahen die europäische Integration als bequemen Ausweg
aus unserer deutschen Identitätskrise. Die Bundesrepublik wurde von manchen - Sie haben es kurioserweise
heute wiederholt - als „postnationales“ Gebilde empfunden. So sagte es Habermas wörtlich; so hat es Herr
Weisskirchen heute wiederholt.
({6})
Psychologen würden dies als eine Ersatzhandlung bezeichnen.
Aber es war auch Besserwisserei im Spiel: Die Ursache hierfür liegt im 19. Jahrhundert, als wir Deutsche
- Deutschland als verspätete Nation - die Letzten waren,
die zum Nationalstaat fanden. Nun wollten wir endlich
einmal die Ersten sein, die in Europa ankommen. Diese
deutsche Besserwisserei ist hier incidenter im Spiel.
Jetzt wundern sich manche Deutsche, warum die europäischen Nachbarn an diesem deutschen Wesen nicht genesen wollten und uns nicht folgen wollen.
({7})
Spätestens jetzt, nach der Wiedervereinigung, muss
der Bezug zur eigenen Vergangenheit geklärt werden.
Gerade für uns Deutsche heißt dies: Die Reduzierung der
eigenen Geschichte auf die NS-Zeit reicht für eine gesunde nationale Identität nicht aus. Eine solche Identität braucht auch positive Erinnerungen. Bei allem kollektiven Schuldbewusstsein muss es auch ein natürliches
nationales Selbstbewusstsein der Deutschen geben.
({8})
Nur durch einen ehrlichen Umgang mit der deutschen
Geschichte kann eine europäische Identität entstehen.
Das gilt nicht nur für uns. Das gilt auch für die Beitrittskandidaten.
Wir Deutsche bemühen uns seit langem um Versöhnung und um materiellen Ausgleich für das von deutscher Seite verursachte Leid. Seit der Wende versuchen
wir mit viel Engagement die offene sudetendeutsche
Frage zu lösen. Wir hätten in den Beitrittsverhandlungen gute Chancen dafür gehabt.
Aber es war Bundeskanzler Schröder, der bereits
1999 gegenüber dem tschechischen Ministerpräsidenten
gesagt hat - ich zitiere ({9})
„dass wir Deutsche uns nicht mehr mit der Vergangenheit belasten wollen und wir deshalb diese Fragen als abgeschlossen betrachten“. Originalton Schröder!
({10})
Heute erzählt uns Außenminister Fischer, dass diese
Frage ein - wörtlich - „offener Prozess des Aufeinanderzugehens“ sei.
({11})
Was gilt jetzt? Ist dies eine von Schröder abgeschlossene
Frage oder ein offener Prozess?
({12})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Meckel?
Ich möchte jetzt zum Schluss kommen.
({0})
Mit dieser Aussage hat Bundeskanzler Schröder in
Wahrheit die Interessen unserer Vertriebenen verraten.
({1})
- Herr Fischer, warum brüllen Sie denn so dazwischen?
({2})
Ich habe Ihnen doch gerade einen Widerspruch aufgezeigt. Sie sagen, es sei ein offener Prozess, und Schröder
sagt, es sei ein abgeschlossener Prozess.
({3})
Wer hat denn hier das Sagen, Sie oder Schröder?
({4})
Eine Diskussion über die Struktur und die Grenzen
Europas ist jetzt dringender erforderlich denn je. Wir
haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Von einem handlungsfähigen Staatenbund, von einem Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts, von einer Wirtschaftsund Währungsunion wurde gesprochen. Sind das noch
unsere Ziele? Das ist die Frage.
({5})
Ein Mehr an Erweiterung bedeutet zwangsläufig ein
Weniger an Vertiefung. Wenn wir weitere 80 Millionen
Menschen muslimischen Glaubens aufnehmen - Herr
Fischer, Sie wollen das ja -,
({6})
wenn wir die EU, so wie Sie es wollen, vom Atlantik bis
hinüber nach Georgien, Armenien, den Iran und den Irak
überdehnen,
({7})
werden wir kein europäisches Wir-Gefühl erzeugen.
({8})
Wir können die Türkei nicht aufnehmen. Sie, Herr
Fischer, sagen, die Aufnahme der Türkei sei ein wesentlicher Baustein im Kampf gegen den Terrorismus. Da
gebe ich Ihnen sogar Recht. Aber wenn Sie sagen, die
Europäisierung der Türkei könne sich nur durch eine
Vollmitgliedschaft in der EU entwickeln, so ist das einfältig und fantasielos, Herr Fischer.
({9})
Mit dieser Position vertreten Sie mehr türkische als deutsche Interessen. Das ist der Punkt.
Wo wollen wir Europa enden lassen? Unlängst hat
Berlusconi vorgeschlagen, Russland in die EU aufzunehmen. Die Ukraine klopft seit langem an. Bald findet sich
ein Fürsprecher für die Maghreb-Staaten.
({10})
Die EU ist eine Wirtschaftsgemeinschaft und auch eine
Wertegemeinschaft, aber deswegen noch lange kein Samariterbund.
({11})
Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit.
Trotz dieser nötigen und eher skeptischen Gedanken
zur Europäischen Union sollten wir heute, am Tag der
Zustimmung zur Osterweiterung, die wir alle begrüßen,
die neuen Beitrittsländer, vertreten in diesem Saal durch
Polen, herzlich willkommen heißen.
({0})
Deswegen sagen wir: Es muss und wird jetzt zusammenwachsen, was in Europa zusammengehört.
({1})
Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Meckel.
Verehrter Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass das, was Sie soeben dargestellt haben, sehr
stark dem widerspricht, was wir heute im Zusammenhang mit dem Beitritt von zehn neuen Staaten in gemeinsamem Geist erklären sollten?
({0})
Ihre Wortwahl - Sie reden von einer offenen sudetendeutschen Frage - ist in dem Kontext, dass wir in
Deutschland in früheren Zeiten von einer offenen deutschen Frage geredet haben, wirklich ein Skandal.
({1})
Zum anderen möchte ich Ihnen sehr deutlich sagen,
dass ich für richtig halte, was der Bundesaußenminister
dargestellt hat: Der Umgang mit der Vergangenheit ist
ein offener Prozess, dem wir uns gemeinsam stellen. Gerade das, was der tschechische Ministerpräsident vor wenigen Tagen sehr klar und sehr deutlich zum Ausdruck
gebracht hat, ist ein großer und mutiger Schritt in diesem
Prozess. Er sagte, dass er die moralische Verantwortung
anerkennt und auf diesem Wege voranschreiten will.
Dies ist gerade auch für die tschechische Gesellschaft
wichtig und bringt sie weiter.
({2})
Davon klar unterschieden - übrigens schon in der von
Helmut Kohl mitgetragenen Deutsch-Tschechischen Erklärung aus dem Jahre 1997 - ist die Rechtsfrage.
Rechtsfragen sind hier nicht mehr offen. Sie müssen abgeschlossen sein. Auch dies hat der tschechische Ministerpräsident in aller Klarheit gesagt: Aus den damaligen
Dekreten folgen heute keine neuen Rechtsakte mehr. Ich
denke, dies ist eine klare Aussage.
Übrigens hat der tschechische Präsident schon im
März gesagt, dass er die Vertreibungen aus heutiger
Sicht für inakzeptabel und für Unrecht hält. Ihr Parteikollege Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlamentes, hat dies für die
vom Europäischen Parlament erwartete Erklärung gehalten.
Ich möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, diesen Prozess
anzuerkennen und klar zwischen moralischer Verantwortung und Rechtsakten zu unterscheiden?
({3})
Herr Kollege Meckel, da Sie den Europaparlamentarier Brok zitieren, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es eine Aufforderung des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1999 gibt, fortbestehende Gesetze
und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 - also die
Benes-Dekrete - aufzuheben, soweit sie sich auf die Vertreibung von einzelnen Volksgruppen aus der ehemaligen Tschechoslowakei beziehen. Das ist die Position des
Europäischen Parlaments.
({0})
Hier wird nun moralisch argumentiert. Es wird gesagt, dass hier Unrecht geschehen ist. Da fragen wir uns
und vor allem die Vertriebenen sich doch zu Recht, warum aus diesem moralischen Unwerturteil nicht auch die
rechtlichen Konsequenzen gezogen werden können.
Dazu ist das Parlament der Tschechei bisher nicht bereit.
Dies allein fordern wir ein.
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die PDS im Bundestag hat die EU-Osterweiterung immer grundsätzlich befürwortet - im Unterschied zur Osterweiterung der NATO, die wir für falsch hielten und
weiterhin halten.
({0})
Das Ob der EU-Osterweiterung war daher nicht unsere
Frage, wohl aber das Wie: Wie soll der Beitritt neuer
EU-Länder vollzogen werden? Wie und wohin soll sich
die Union insgesamt entwickeln?
Die PDS hat immer dafür geworben, dass die EU eine
demokratische Sozialunion mit einer friedensbewahrenden Außen- und Sicherheitspolitik wird. In diesem
Sinne hat auch die PDS-Abgeordnete Sylvia-Yvonne
Kaufmann für die Europäische Linke im Konvent agiert.
Der Konvent hat den Entwurf einer EU-Verfassung
vorgelegt. Das ist gebührend gefeiert worden. Wichtiger
ist meines Erachtens etwas ganz anderes. Deshalb begrüße ich, dass nach der PDS nun auch die FDP-Fraktion
Volksabstimmungen über die künftige EU-Verfassung
fordert.
({1})
Nur so können Bürgerinnen und Bürger die erweiterte
EU erschließen und in ihr von Anfang an mitbestimmen.
Wer eine erweiterte EU will, der muss auch für diese
werben, nicht nur bei fernen Fototerminen, sondern daheim im Alltag.
De facto geschieht allerdings im Moment das Gegenteil. Nehmen wir nur den Metallerstreik der letzten Wochen. Es ging um die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost an die im Westen. Die Botschaft an die
Streikenden war: Wenn ihr aufmuckt, dann wandern die
Arbeitsplätze weiter gen Ost. So wird die osterweiterte
EU als Drohung aufgebaut und nicht als Chance, auch
für die ostdeutschen Länder.
({2})
Zu den Ängsten gehört auch die Frage, ob und wie
strukturschwache Gebiete in den neuen Bundesländern
durch die EU künftig noch gefördert werden; denn allein
dadurch, dass die erweiterte EU noch größere Problemregionen kennt, werden die Sorgen zwischen Thüringen
und Rügen nicht kleiner. Die Arbeitsminister in Berlin
und Mecklenburg-Vorpommern, Harald Wolf und
Helmut Holter, haben deshalb ein Innovationsprogramm für die neuen Bundesländer vorgestellt. Es ist
ein Diskussionsangebot der PDS, wie die neuen Bundesländer wirtschaftlich gestärkt und sozial stabilisiert werden können, auch und gerade vor dem Hintergrund der
EU-Osterweiterung. Die Reaktion der Bundesregierung
darauf: bislang Null. Ich sage: arrogant Null.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun komme ich
noch zu dem seit gestern Abend vorliegenden Antrag der
CDU/CSU. Er trägt die Überschrift „Bundesgrenzschutz
für die EU-Osterweiterung tauglich machen“. Mit ihm
sollen die Sicherheit der Bürger gewahrt und der Schutz
vor Kriminalität erhöht werden. So weit, so gut; denn
wer in diesem Hause will das nicht? Dann aber kommt
das ganze Arsenal der sattsam bekannten bayrischen
Instrumente. CDU und CSU wollen den Bundesgrenzschutz hochrüsten und seine Befugnisse ausweiten. Sie
verdächtigen noch mehr Menschen ohne Anlass, sie
schüren das Misstrauen gegen alle, die nicht deutsch
aussehen, sie fordern Sondereinsatzrechte auf Flughäfen
und Bahnhöfen und sie wollen noch mehr überwachen,
im Inland und EU-weit. Sie streben eine europäische
Sicherheitsordnung an, die nach allen bisherigen Regelungen weder demokratisch legitimiert noch parlamentarisch kontrollierbar ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass Sie namens der EU-Osterweiterung Grenzregimes und Zustände fordern, die Sie zu Ostblockzeiten zu Recht
scharf kritisiert haben? Die PDS im Bundestag lehnt das
jedenfalls, auch aus Erfahrung klug geworden, ab.
({4})
Mein Schlusssatz: Die EU-Osterweiterung naht mit
Riesenschritten. Sie darf für die Bürgerinnen und Bürger
nicht hereinbrechen oder über sie kommen, sie muss
willkommen sein. Dafür gilt es aber, erheblich mehr und
anderes zu tun, als bisher, auch durch dieses Parlament,
getan wurde. Zugleich darf die EU-Osterweiterung nicht
für Interessen missbraucht werden, die einer friedliebenden demokratischen und sozialen EU entgegenwirken.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben noch
zwei kürzere Redebeiträge und eine Erklärung zur Abstimmung. Ich bitte Sie, den Lärmpegel ein bisschen zu
senken, damit man die Redner verstehen kann.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man muss aufpassen, wenn man Wörter wie „historisch“
bemüht, aber ich glaube, wir erleben jetzt im Bundestag
schon eine besondere Stunde. Endlich - ich glaube, ich
kann das für alle hier im Hause betonen - sind wir so
weit, dass wir mit frohem Herzen der Erweiterung der
Europäischen Union zustimmen können. Ich glaube, das
ist wirklich ein historischer Moment.
({0})
Es ist natürlich immer schwierig, einem solchen historischen Moment gerecht zu werden. Ich glaube, der
Kollege Gert Weisskirchen hat mit seiner Rede gezeigt,
wie man das machen kann. Gert, dir ein herzliches Dankeschön dafür. Das war die Rede eines überzeugten
Europäers, aus dem Herzen heraus. Ich finde, solche Reden braucht das Parlament viel öfter.
({1})
Was wir in einer solchen historischen Debatte nicht
brauchen, sind rückwärts gewandte Reden. Ich möchte
keine parteipolitische Schärfe in die Diskussion hineinbringen, aber dass der Kollege Schäuble in einer solchen
historischen Stunde in seiner Rede das Hauptaugenmerk
darauf richtet, uns allen zu erklären, was er damals mit
Kerneuropa gemeint hat, und dass er der Meinung ist,
zum zigstenmal aufwärmen zu müssen, was wir mit den
Amerikanern angestellt haben, ist für Sie vielleicht befriedigend, es ist aber nicht das, was wir brauchen: Wir
müssen in Europa nach vorne sehen. Sie haben mich mit
Ihrer Rede - das sage ich sehr deutlich - enttäuscht.
({2})
Angesichts der Rede des Kollegen Uhl, der über eine
gesunde nationale Identität und von einer offenen
sudetendeutschen Frage gesprochen hat, muss ich Ihnen sagen: Was wir von der Union bisher in dieser Debatte gehört haben, ist dem Anlass nun wirklich nicht angemessen, den wir hier feiern, nämlich die Erweiterung
Europas und die Rückkehr von Staaten nach Europa, die
durch den Eisernen Vorhang gegen ihren Willen von
Europa getrennt waren. Lassen Sie uns gemeinsam nach
vorne sehen.
({3})
An dieser Stelle möchte ich allen Ländern, die nun
beitreten, ein ausdrückliches Dankeschön sagen, insbesondere aber den Ländern, die aus dem ehemaligen Ostblock kommen. Sie haben uns in den letzten 13 Jahren
vorgemacht, was es heißt, wirkliche Reformen zu bestehen, was es heißt, schmerzliche Einschnitte zu machen,
die auch die Bevölkerung treffen, um für Europa fit zu
sein. Sie haben die wirkliche Leistung vollbracht. Ihnen
schulden wir Dank, dass sie zu uns kommen.
({4})
Lassen Sie mich stellvertretend für die vielen Menschen, die darum gekämpft haben, den Einigungsprozess
zu einem guten Ende zu bringen, eine Person herausstellen; bitte sehen Sie mir das nach. Wir haben mit Günter
Verheugen einen Kommissar nach Brüssel geschickt,
der in wirklich hervorragender Manier diese EU-Erweiterung vorangebracht hat und der mit seiner ihm eigenen
Art alles getan hat, um geräuschlos und am Ende mit einem guten Kompromiss die Erweiterung schnell voranzubringen. Das erfüllt mich mit Stolz. Lieber Herr Kommissar Verheugen, ich glaube, ich kann Ihnen auch im
Namen des ganzen Bundestages ein herzliches Dankeschön für das sagen, was Sie für Europa getan haben.
({5})
Lassen Sie uns also nach vorne schauen. Lassen Sie
uns erkennen, welche große Chance diese erweiterte
Europäische Union bietet. Lassen Sie uns überlegen, ob
wir nicht auch bei uns etwas ändern müssen. Ein Beitritt
bedeutet nicht einfach nur einen Beitritt zu einem bestehenden Gebilde - ich glaube, das hätten wir aus der
deutschen Wiedervereinigung lernen müssen -, sondern
bedeutet, dass Europa eine neue Qualität bekommt, dass
auch wir uns ändern müssen, dass auch wir bereit sein
müssen, von unseren neuen Mitbürgern in der Europäischen Union ernsthaft zu lernen und nicht als Schulmeister des alten Westens aufzutreten. Ich glaube, wir können
eine Menge von den Beitrittsstaaten lernen.
({6})
Durch die Erweiterung haben wir die große Chance,
dafür zu sorgen, dass Europa ein starkes Europa wird.
Wenn wir von einem starken Europa sprechen, dann ist
diese Formulierung nicht gegen die USA gerichtet, wie
man es uns vonseiten der Union immer wieder einreden
will. Nein, wer starke transatlantische Beziehungen will,
braucht ein starkes und großes Europa. Auch für die
transatlantische Partnerschaft ist die EU-Erweiterung ein
wichtiger Meilenstein. Es liegt an uns, das sinnvoll zu
nutzen.
({7})
Wenn ich davon gesprochen habe, dass wir uns ändern müssen, dann heißt das auch, zu überdenken, wie
wir gemeinsam mit den neuen Partnern neue Impulse
und neue Schwerpunkte in der neuen Europäischen
Union setzen können. Ich bin sehr froh darüber, dass der
französische Staatspräsident, der polnische Präsident
und der Bundeskanzler in Breslau im Rahmen des Weimarer Dreiecks deutlich gemacht haben, dass Deutschland und Frankreich im neuen Europa die anderen nicht
vergessen wollen. Wir wollen gemeinsam mit unseren
Partnern Europa gestalten. Deshalb ist die Initiative
„Weimarer Dreieck“ eine wichtige und weitsichtige
Initiative, die entstanden ist, weil sich Hans-Dietrich
Genscher dafür eingesetzt hat. Wir sollten dieses
Weimarer Dreieck nutzen, um Europa weiterzubringen.
({8})
Im neuen Europa liegt die Bundesrepublik Deutschland in der Mitte. Sie liegt in der Mitte eines Europas,
das die Teilung des Kontinents durch den Kalten Krieg
endlich beendet hat. Ich glaube, daraus erwächst die Verantwortung, zusammen mit unseren neuen europäischen
Partnern die Zukunft zu gestalten. In diesem Sinne wünsche ich dem neuen Europa: Glück auf!
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Michael Stübgen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der Ratifizierung der Gesetze zum Beitritt
von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern zur Europäischen Union haben wir den Höhepunkt eines 13 Jahre
währenden europäischen Prozesses erreicht. Er begann
1990 mit dem Abschluss von Assoziierungsabkommen
mit einigen mittel- und osteuropäischen Ländern. 1993
wurden die so genannten Kopenhagener Kriterien, das
heißt die Voraussetzungen für den Beitritt weiterer Länder zur Europäischen Union, definiert. Der Europäische
Rat von Luxemburg hat 1997 beschlossen, dass mit
sechs Kandidatenländern Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. 1999 hat der Europäische Rat in Helsinki beschlossen, mit den sechs weiteren Kandidatenländern Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Im Jahre
2002 wurden die Beitrittsverhandlungen mit zehn Kandidatenländern abgeschlossen. Im nächsten Jahr, 2004,
wird es Wahlen zum Europäischen Parlament in
25 europäischen Ländern geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die
Europäische Union in der Lage war, diesen langen Prozess, in dem in allen Mitgliedsländern der Europäischen
Union Regierungen gewechselt haben, erfolgreich abzuschließen, ist ein Reifezeugnis für die Europäische
Union.
({0})
Ich sage das insbesondere deshalb, weil sich die Europäische Union in diesem Jahr bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bedauerlicherweise als noch
nicht reif genug gezeigt hat.
In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig zu erwähnen, dass der Abschluss dieses Prozesses auch ein
Beispiel für die Solidarität innerhalb der Europäischen Union ist; denn nicht nur Länder wie Deutschland, das aufgrund seiner langen Grenze nach Mittelund Osteuropa geradezu ein existenzielles Interesse an
einem Beitrittsprozess hat, haben dieses Projekt unterstützt, sondern auch westeuropäische Länder wie Irland,
Frankreich, Spanien und Portugal haben dies getan und
unterstützen den Prozess weiterhin. Dies sind Länder,
die in ihren Grenzgebieten zum großen Teil ganz andere
Probleme haben.
In diesem Zusammenhang müssen die enormen Leistungen, die die Kandidatenländer in den letzten Jahren
vollbracht haben, ganz besonders erwähnt werden.
({1})
Die Beitrittsländer mussten die schwierigen so genannten Kopenhagener Kriterien erfüllen, den äußerst komplexen und komplizierten Acquis communautaire übernehmen und implementieren und zum Teil drastische
Reformen in der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik
und der Verwaltung durchführen. Es gab in diesen Ländern Irrungen und Wirrungen. Es gab dort Wahlergebnisse mit erdrutschartigen Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse. Trotzdem haben diese Länder, haben deren
Regierungen, deren Politiker, an dem Beitrittsprozess
festgehalten. Die Referenden in verschiedenen mittelund osteuropäischen Ländern zum Beitritt zeigen auch
deutlich, dass dies keine Politik ausschließlich von Politikern, sondern der Bürger dieser Länder ist.
({2})
Zum vorläufigen Abschluss dieses Beitrittsprozesses
möchte ich auf den Europäischen Rat von Thessaloniki
am vergangenen Wochenende hinweisen. Mir persönlich
- ich glaube, auch der großen Mehrheit dieses Hauses wäre es lieber gewesen, wenn es möglich gewesen wäre,
die Beitrittsurkunden von Bulgarien und Rumänien
schon heute zu ratifizieren. Aber ich glaube, der Europäische Rat am vergangenen Wochenende hat sehr deutlich gemacht, dass wir alles dafür tun müssen und alles
dafür tun werden, dass die Verhandlungen mit den beiden Ländern im Jahre 2004 abgeschlossen werden können und dass diese beiden Länder spätestens im Jahre
2007 Vollmitglieder der Europäischen Union sein werden.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Schluss noch auf ein Thema zu sprechen kommen, das in dieser Debatte gelegentlich schon eine Rolle
gespielt hat. Es geht um die gesetzliche Grundlage, auf
der wir dieses Gesetz jetzt verabschieden wollen.
Es gibt Dinge, die sich mit unterschiedlichem Vorzeichen wiederholen. 1994, als der Deutsche Bundestag die
Beitrittsverträge mit drei EFTA-Staaten ratifiziert hat,
hat die SPD als Opposition verlangt, dass diese Ratifizierung mit einer verfassungsändernden Mehrheit erfolgen muss. Die Koalition von CDU/CSU und FDP hat für
die einfache Mehrheit votiert.
({4})
Heute schlägt die rot-grüne Bundesregierung vor, dieses
Gesetz mit einer einfachen Mehrheit zu verabschieden.
Die CDU/CSU ist für eine Abstimmung nach Art. 23
Grundgesetz.
Ich selber befinde mich in einer etwas skurrilen Situation, weil ich vor neun Jahren im Bundestag die Position
der CDU/CSU vertreten habe, die heute die Position der
SPD ist.
({5})
Deshalb will ich Ihnen kurz erläutern, warum ich unserem Antrag zustimme und dies vor neun Jahren wahrscheinlich auch hätte tun sollen.
({6})
- Hören Sie mir zu, dann werden Sie merken, dass ich
Recht habe.
Erstens. Wir können hier und heute nicht zweifelsfrei
feststellen, welche Rechtsgrundlage bei der Verabschiedung dieses Gesetzes zu berücksichtigen ist. Deshalb ist
es richtig, den absolut sicheren Weg über Art. 23 des
Grundgesetzes zu gehen, auch wenn er möglicherweise
nicht zwingend notwendig ist.
Zweitens. Da sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat überhaupt keine Gefahr besteht, dass die notwendige Zweidrittelmehrheit für dieses Gesetz nicht zustande kommen wird - das Ergebnis wird noch weit
höher ausfallen -, sollten wir es auch auf dieser Grundlage verabschieden.
Drittens - das ist für mich der wichtigste Punkt -: Ich
denke, dass wir als Deutscher Bundestag mit der Ratifizierung dieses Gesetzes nach Art. 23 Grundgesetz das
klare, deutliche, stabile und positive Signal zu unseren
europäischen Partnern senden würden, dass wir als
Deutscher Bundestag es uns leisten können, solche Gesetze mit verfassungsändernder Mehrheit zu verabschieden, und dass das deutsche Parlament unabhängig von
allen innenpolitischen Auseinandersetzungen keinen
Zweifel an seiner europäischen Ausrichtung lässt; das
galt für gestern, das gilt für heute und das gilt für morgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt keinen Grund, unserem Antrag nicht zuzustimmen, es gibt
aber viele Gründe, unserem Antrag zuzustimmen. Darum bitte ich Sie.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Zur Abstimmung zum Entschließungsantrag der
CDU/CSU liegt eine schriftliche Erklärung des Abge-
ordneten Singhammer1) vor. Zur namentlichen Abstim-
mung liegen schriftliche Erklärungen von den Abgeord-
neten Fromme2) und Jüttner3) vor. Frau Kollegin
Steinbach möchte eine mündliche Erklärung zur namentlichen Abstimmung abgeben.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Deutsche Bundestag beschließt heute in einem Gesamtpaket über die Erweiterung der Europäischen Union. Der Beitritt zur Europäischen Union ist für
jedes der zehn Länder an Kriterien geknüpft, die zuvor
erfüllt sein müssen. Zu diesen Voraussetzungen gehört
auch die Beachtung der Menschenrechte.
Ich stelle fest, dass nicht alle Beitrittsländer die Menschenrechtsnormen erfüllt haben. Nach wie vor gibt es in
vier Ländern Vertreibungs- und Entrechtungsgesetze,
deren Auswirkungen bis zum heutigen Tage - es gibt aktuelle Urteile - zu spüren sind. Diese Gesetze widersprechen den Menschenrechten, dem Völkerrecht und den
Kriterien von Kopenhagen. Die Europäische Kommission hat in ihren Beitrittsberichten bewusst darüber hinweggesehen. Die Bundesregierung hat dem leider nicht
entgegengewirkt, sondern diese Haltung sogar noch gestützt. Das ist fahrlässig.
Wer Menschenrechte nicht nur als wohlfeile Vokabel
in Sonntagsreden verwendet und ihnen im konkreten
Einzelfall dann, wenn es möglich ist, nicht zum Durchbruch verhilft, vergeht sich an den Menschenrechten.
({0})
- Herr Außenminister, halten Sie an sich. - Wohin das
führt, haben wir insbesondere am Beispiel der Tschechischen Republik seit Monaten in Ohr und Augen. Ein
Mann wie Benes, der die Verantwortung für Mord,
Zwangsarbeit und Vertreibung von Millionen Menschen
zu verantworten hatte, wird wenige Tage vor dieser Abstimmung zur europäischen Erweiterung, im Jahre 2003,
sozusagen zum Volkshelden erklärt. Das ist mir unerträglich.
({1})
Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts-,
sondern auch eine Wertegemeinschaft. Es schadet ihr in
der Substanz, wenn menschenrechtsfeindliche Gesetze
als Morgengabe eingebracht werden und nicht einmal
der gute Wille zur Heilung der Wunden erkennbar ist.
Das Versagen in dieser Frage liegt zum überwiegenden
Teil - das sage ich ausdrücklich - nicht bei den Beitritts-
ländern, sondern bei der Europäischen Kommission. Sie
1) Anlage 4
2) Anlage 5
3) Anlage 6
hat die Menschenrechte nicht mit dem nötigen Nachdruck durchgesetzt und dadurch den Eindruck vermittelt,
dass alles in bester Ordnung sei.
({2})
Wir brauchen ein versöhntes Europa, in dem die vielen Völker friedvoll miteinander leben können;
({3})
denn unsere europäischen Völker leben bewusst und unbewusst auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament.
({4})
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für unsere
Völker sehr eng miteinander verwoben. Europa endet
- das wissen wir alle - nicht an Oder, Neiße oder im
Bayerischen Wald. Günter Grass und der polnische Journalist Adam Michnik haben in großer Einheit festgestellt, dass historische Versöhnung nicht stattfinden
kann, wenn düstere Kapitel der Vergangenheit tabuisiert
werden. Aber genau das ist im Beitrittsverfahren geschehen.
Frau Kollegin, Sie müssen Ihr Abstimmungsverhalten
begründen, keine Rede halten.
({0})
Frau Präsidentin, das ist meine Begründung.
({0})
Da wir heute mit nur einem einzigen Votum über alle
Beitrittskandidaten, auch über die nicht davon betroffenen Länder beschließen, werde ich der Vorlage mit diesem eben angebrachten Vorbehalt zustimmen.
({1})
Ich danke gleichzeitig der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass sie die Defizite in einem Entschließungsantrag
benannt hat.
({2})
Ich schließe die Hoffnung an, dass trotz der Defizite in
allen betroffenen Ländern ein wirklicher Heilungsprozess einsetzen möge. Die Menschen unserer Nachbarländer sind mir herzlich willkommen.
({3})
Es liegen noch zwei schriftliche Erklärungen zur Ab-
stimmung von den Abgeordneten Götzer1) und
Rupprecht2) vor, die wir auch zu Protokoll nehmen.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem
Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tsche-
chischen Republik, der Republiken Estland, Zypern,
Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und
der Slowakischen Republik zur Europäischen Union.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 15/1300, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Ände-
rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den
wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU-
Fraktion auf Drucksache 15/1358? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung. Es wurde verlangt,
über den Gesetzentwurf namentlich abzustimmen. Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich jetzt die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen und teile mit, dass sich die
Abgeordneten Matthias Sehling und Beatrix Philipp3)
der Erklärung der Abgeordneten Steinbach angeschlossen haben und dass es persönliche Erklärungen zur Abstimmung von den Abgeordneten Fischer ({0}), Wellenreuther und Bellmann4) gibt. Sie wurden
nach der Abstimmung über den Entschließungsantrag
der CDU/CSU abgegeben.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das wichtige Ergebnis der namentlichen Ab-
stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechi-
schen Republik, der Republik Estland, der Republik
Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen,
der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik
Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen
Republik zur Europäischen Union bekannt. Abgegebene
Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 575.
1) Anlage 9
2) Anlage 10
3) Anlage 7
4) Anlage 8
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 575
nein: 1
enthalten: 4
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Karl Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Hans Eichel
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Günter Gloser
Uwe Göllner
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
({8})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({9})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Iris Hoffmann ({12})
Frank Hofmann ({13})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({14})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({15})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({16})
Christian Müller ({17})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({18})
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({19})
Michael Roth ({20})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({21})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({22})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({23})
Ulla Schmidt ({24})
Silvia Schmidt ({25})
Dagmar Schmidt ({26})
Wilhelm Schmidt ({27})
Heinz Schmitt ({28})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({29})
Reinhard Schultz
({30})
Swen Schulz ({31})
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({32})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({33})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({34})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({35})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({36})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
({37})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({38})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({39})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({40})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({41})
({42})
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({43})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({44})
Dirk Fischer ({45})
Axel E. Fischer ({46})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({47})
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Ralf Göbel
Tanja Gönner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({48})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({49})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({50})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({51})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({52})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({53})
Stephan Mayer ({54})
Conny Mayer ({55})
Dr. Martin Mayer
({56})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({57})
Doris Meyer ({58})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Stefan Müller ({59})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({60})
Michaela Noll
Claudia Nolte
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({61})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({62})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({63})
Hartmut Schauerte
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({64})
Andreas Schmidt ({65})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({66})
Magdalene Strothmann
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({67})
Gerald Weiß ({68})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90 / DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({69})
Volker Beck ({70})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({71})
Katrin Göring-Eckardt
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Peter Hettlich
Thilo Hoppe
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({72})
Markus Kurth
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Kerstin Müller ({73})
Winfried Nachtwei
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({74})
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Werner Schulz ({75})
Petra Selg
Rainder Steenblock
Silke Stokar von
Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({76})
FDP
Daniel Bahr ({77})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich ({78})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({79})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann
({80})
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({81})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Zöller
Enthalten
CDU/CSU
Martin Hohmann
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
({82})
Es gab eine Neinstimme und vier Enthaltungen. Der Ge-
setzentwurf ist damit angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/1300 empfiehlt der Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der FDP und der Stimme einer fraktionslosen
Abgeordneten gegen die Stimmen von CDU/CSU ange-
nommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/1359. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die
Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf:
25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Zulassungs- und Prüfungsverfahrens des
Wirtschaftsprüfungsexamens ({83})
- Drucksache 15/1241 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({84})
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Bundesnaturschutzgesetzes
- Drucksache 15/776 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({85})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Joachim Günther ({86}), Horst
Friedrich ({87}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SEDUnrecht ({88})
- Drucksache 15/1235 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({89})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
ZP 2a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Tabaksteuergesetzes und anderer Verbrauchsteuergesetze
- Drucksache 15/1313 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({90})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Undine Kurth ({91}), Dr. Reinhard
Loske, Volker Beck ({92}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Reisen ohne Handicap - Für ein barrierefreies
Reisen und Naturerleben in unserem Land
- Drucksache 15/1306 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({93})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans
Büttner ({94}), Reinhold Hemker, Karin
Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
({95}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Unterstützung von Landreformen zur Bekämpfung der Armut und der Hungerkrise im
südlichen Afrika
- Drucksache 15/1307 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({96})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Reinhold Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta
Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck ({97}), Katrin Dagmar
Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Welternährungssituation
und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung
- Drucksache 15/1316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({98})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Undine Kurth ({99}), Volker Beck ({100}), Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Naturschutz geht alle an - Akzeptanz und Integration des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stärken
- Drucksache 15/1318 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({101})
Sportausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert
Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter
Forschungsförderung der Europäischen Union
unter Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten
- Drucksache 15/1310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({102})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
({103}) und weiterer Abgeordneter
Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Stammzellforschung
- Drucksache 15/1346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({104})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1235 soll
zusätzlich an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 o sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 26 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes und eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/1205 ({105})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({106})
- Drucksache 15/1340 Berichterstattung:
Abgeordnete Barbara Wittig
Dorothee Mantel
Josef Philip Winkler
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1340, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das
ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
dritter Lesung angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Zollverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 15/1060 ({107})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({108})
- Drucksache 15/1342 Berichterstattung:
Abgeordnete Simone Violka
Elke Wülfing
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1342, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich bin mir über das Abstimmungsverhalten
nicht ganz im Klaren. Stimmen Sie zu?
({109})
- Wir sind in der zweiten Lesung. Der Finanzausschuss
empfiehlt auf Drucksache 15/1342, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen.
({110})
- Auch Sie stimmen zu. - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
gegen eine Stimme aus der CDU/CSU angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Ich stelle fest, dass
der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist.
Tagesordnungspunkt 26 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über die grenzüberschreitende Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen in den
Mitgliedstaaten ({111})
- Drucksache 15/1062 ({112})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({113})
- Drucksache 15/1283 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Ingo Wellenreuther
Jerzy Montag
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, Drucksache 15/1283, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 f:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung über
den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
27. Juni 2001 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Indien über die
Auslieferung
- Drucksache 15/1073 ({114})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({115})
- Drucksache 15/1285 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Wolfgang Zeitlmann
Jerzy Montag
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/1285, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({116}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Änderung der
Richtlinien 72/166/EWG, 845/5/EWG und
90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie
2000/26/EG über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung
KOM ({117}) 244 endg.; Ratsdok. 9864/02
- Drucksachen 15/103 Nr. 2.34, 15/985 Berichterstattung:
Abgeordnete Axel Schäfer ({118})
Michael Grosse-Brömer
Jerzy Montag
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({119}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Entschließung des Europäischen Parlaments
zu der Mitteilung der Kommission an den Rat
und das Europäische Parlament „Clearing
und Abrechnung in der Europäischen Union.
Die wichtigsten politischen Fragen und künftigen Herausforderungen“
({120}) ({121})
- Drucksachen 15/611 Nr. 1.7, 15/1169 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Georg Fahrenschon
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 i:
Beratung der Beschlussempfehung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({122}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Dreizehnte Verordnung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({123})
- Drucksachen 15/1074, 15/1154 Nr. 1, 15/1281 Berichterstattung:
Abgeordnete Astrid Klug
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 15/1074 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 j:
Beratung der Beschlussempfehung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({124}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung EG-rechtlicher
Vorschriften, zur Novellierung der Zweiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({125}) und zur
Aufhebung der Dreiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes ({126})
- Drucksachen 15/1178, 15/1272 Nr. 2.2, 15/1351 Berichterstattung:
Abgeordnete Astrid Klug
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 15/1178 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig
angenommen worden.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 26 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({127})
Sammelübersicht 45 zu Petitionen
- Drucksache 15/1242 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 45 ist einstimmig angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 26 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({128})
Sammelübersicht 46 zu Petitionen
- Drucksache 15/1243 4648
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 46 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({129})
Sammelübersicht 47 zu Petitionen
- Drucksache 15/1244 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 47 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({130})
Sammelübersicht 48 zu Petitionen
- Drucksache 15/1245 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 48 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({131})
Sammelübersicht 49 zu Petitionen
- Drucksache 15/1246 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 49 ist wieder einstimmig
angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({132})
Sammelübersicht 50 zu Petitionen
- Drucksache 15/1335 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 50 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({133})
Sammelübersicht 51 zu Petitionen
- Drucksache 15/1336 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Keine. Sammelübersicht 51 ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({134})
Sammelübersicht 52 zu Petitionen
- Drucksache 15/1337 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 52 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({135})
Sammelübersicht 53 zu Petitionen
- Drucksache 15/1338 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 53 findet aufseiten der Koalitionsfraktionen Zustimmung und stößt aufseiten der Oppositionsfraktionen CDU/CSU und FDP auf Ablehnung.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({136})
Sammelübersicht 54 zu Petitionen
- Drucksache 15/1339 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 54 ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Die Punkte sollen gleich anschließend
aufgerufen werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Regelung
des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft
- Drucksachen 15/38, 15/837, 15/1066, 15/1353 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Beides ist
nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 15/1353. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU
gegen die Stimmen der FDP angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Förderung
von Kleinunternehmern, zur Eindämmung
der Schattenwirtschaft und zur Verbesserung
der Unternehmensfinanzierung
- Drucksachen 15/537, 15/900, 15/1042, 15/1197,
15/1354 Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg-Otto Spiller
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Das Gleiche gilt auch für die folgende Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/1354? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er-/0900erMehrwertdiensterufnummern
- Drucksachen 15/907, 15/1068, 15/1126, 15/1198,
15/1355 Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. - Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 15/1355? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
({137})
- Ich muss mich eben erkundigen. Einen Moment bitte.
({138})
Kommen Sie bitte zum Präsidium!
({139})
- Wir müssen in der Tat noch Abstimmungen durchführen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abwicklung der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben ({140})
- Drucksache 15/1181 ({141})
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({142})
- Drucksache 15/1352 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Klaas Hübner
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1352, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP angenommen.
({143})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? ({144})
Es bestehen Unklarheiten über die Mehrheit,
({145})
demzufolge müssten wir leider einen Hammelsprung
durchführen.
({146})
Niemand, auch keiner der Geschäftsführer der Opposition, ist der Meinung, dass dieses ein sinnvoller Anlass
für einen Hammelsprung ist.
({147})
Ich werde deshalb jetzt die Abstimmung wiederholen.
Wer stimmt für den Gesetzentwurf? - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. ({148})
Wer stimmt dagegen? ({149})
Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
dritter Lesung angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 26 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Tätigkeit
europäischer Rechtsanwälte in Deutschland
und weiterer berufsrechtlicher Vorschriften
für Rechts- und Patentanwälte, Steuerberater
und Wirtschaftsprüfer
- Drucksache 15/1072 ({150})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({151})
- Drucksache 15/1284 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Strässer
Michael Grosse-Brömer
Jerzy Montag
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/1284, den Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da-
mit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - In
schöner Einstimmigkeit beenden wir damit die Abstim-
mungen. Tagesordnungspunkt 26 e findet einstimmig
Zustimmung.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 f auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht
2003 der Bundesregierung
- Drucksache 15/405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({152})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Birgit
Homburger, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Modulation von
Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen
Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes
- Drucksache 15/754 ({153})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des GAK-Gesetzes
- Drucksache 15/948 ({154})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({155})
- Drucksache 15/1158 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({156})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Hans-Michael Goldmann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({157})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud
Wolff ({158}), Matthias Weisheit, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Volker Beck ({159}), Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Agrarreform mutig angehen und ausgewogen gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({160}), Gerda Hasselfeldt,
Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik die Landwirtschaft und die ländlichen
Räume in der EU stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel HappachKasan, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Marktwirtschaftliches Modell einer flächengebundenen Kulturlandschaftsprämie verwirklichen
- Drucksachen 15/462, 15/422, 15/435, 15/1025 Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Wolff ({161})
Friedrich Ostendorff
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({162})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias Weisheit,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Thilo Hoppe, Friedrich Ostendorff, weiterer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen
gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({163}), Albert Deß, Gerda
Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
WTO-Verhandlungen - Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern
- Drucksache 15/550, 15/534, 15/1133 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Peter H. Carstensen ({164})
Hans-Michael Goldmann
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Agrarpolitische Herausforderungen der WTO
und EU-Osterweiterung mit der Kulturlandschaftsprämie meistern
- Drucksache 15/1232 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({165})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Impfen statt Töten - Grundlage für den Einsatz von Markerimpfstoffen schaffen
- Drucksache 15/1004 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({166})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Zum Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht 2003
liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Frau Bundesministerin Renate Künast.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Fachleute wissen, dass ich angesichts
des drohenden Hammelsprungs hier auf heißen Kohlen
saß, weil ich das Flugzeug bekommen muss, um zum
Bauerntag zu kommen, wo ich nicht gänzlich absent sein
möchte. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis.
Ich habe aber hier eine schöne Aufgabe, nämlich von
dem Erfolg in Luxemburg zu berichten.
({0})
- Ich weiß, dass es da wieder Kritik gibt. Jetzt übernehmen Sie aber nicht gleich mit Zwischenrufen den O-Ton
des Deutschen Bauernverbandes. Ein Kommissar hat Ihnen doch in dieser Woche in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass Sie sich nicht vor dessen Karren spannen lassen sollen. Überlegen Sie selber!
({1})
Ich will Ihnen dazu einiges sagen. Beim Thema Reformen in Deutschland ist ein interessantes Phänomen zu
beobachten: Alle fordern ständig Bewegung, aber wenn
es mit den Reformen ernst wird, sagen alle: Wir hätten
aber lieber Stillstand.
({2})
Komischerweise ist das in allen Bereichen so - wir kennen das - und komischerweise trifft sich an exakt dieser
Stelle die CDU/CSU mit dem Bauernverband. Deshalb
hat es mich auch nicht gewundert, als ich hörte, dass
Herr Fischler bei der Rüttgers-Veranstaltung in Nordrhein-Westfalen vor einigen Tagen gesagt hat, der Deutsche Bauernverband habe eine Tendenz zu Worst-CaseSzenarien.
Jeder tut, was er kann, meine Damen und Herren. Ich
meine, dass wir gut beraten sind, eine solche Politik an
dieser Stelle nicht zu machen, um nicht die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft zu verspielen - übrigens des
Berufsstandes, den Sie angeblich immer verteidigen
wollen. Ich glaube, dass man, wenn man will, dass sich
der Standort Deutschland weiterentwickelt, anfangen
muss, das Richtige zu tun und positiv zu strukturieren.
Aber dazu hat der Bundeskanzler heute früh das Notwendige gesagt.
Warum brauchen wir eine Agrarreform? Ich will Ihnen ein paar Punkte aufzählen: erstens weil es um die
Zukunft der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland
geht, die man schlicht und einfach mit Passivität nicht
regeln wird; zweitens weil die Verbraucherinnen und
Verbraucher Erwartungen an die Landwirtschaft haben,
die nicht mit den Erwartungen von vor 50 Jahren identisch sind - sie sind heute klar auf Nachhaltigkeit ausgerichtet -; drittens weil alle Subventionen aus Steuergeldern, die wir zahlen, gesellschaftliche Akzeptanz
brauchen - das heißt, dass auch im Agrarbereich alles
auf dem Prüfstand steht und neu begründet und legitimiert werden muss -; viertens weil wir wissen, dass ab
2004 die „EU 25“ Realität ist und deshalb die Finanzmittel knapper sind; fünftens weil im September die
WTO-Verhandlungen in Cancun anstehen.
Ich sage Ihnen ehrlich: Bevor ich alle Wirtschaftsund Finanzminister in den Regelungen des Agrarbereichs herumrühren lasse, strukturieren wir den Bereich
lieber selber so, dass wir, auch in Abgrenzung zu den
USA, die passiv sind, erhobenen Hauptes nach Cancun
gehen können. Genau das haben wir erreicht.
({3})
Man kann nicht über die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft in Europa reden, ohne das Schicksal selbst in
die Hand zu nehmen. Ebenso kann man nicht, auch nicht
mit einem christlichen Anspruch, darüber reden, dass die
Entwicklungsländer eine Chance haben sollen, ohne sich
an Reformen im Agrarbereich zu machen.
Was haben wir erreicht? In Luxemburg haben wir den
notwendigen Paradigmenwechsel erreicht. Man kann
ihn an einigen wenigen Kernpunkten gut darstellen:
Erstens. Die Direktzahlungen werden von der Produktion abgekoppelt. Das gibt den Bauern mehr Entscheidungsfreiheit.
({4})
Das ist wichtig; denn nun können sie auf einer bestimmten Basis von Zahlungen, die sie erhalten, sagen: Jetzt
überlege ich mir, was am Markt funktioniert und was ich
anbauen will.
Zweitens. Die Direktzahlungen werden in Zukunft an
die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvorschriften gebunden. Das ist ein richtiger Schritt, den
die Verbraucher und Steuerzahler erwarten, weil es ihr
Geld ist, das ausgegeben wird.
Drittens. Ab 2005 gibt es die obligatorische Modulation. Ich habe Ihnen vor zweieinhalb Jahren vorhergesagt, dass sie kommen wird. Jetzt ist sie da. Sie stärkt die
nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume und ist sozusagen WTO-sicher. Dieses Geld geben wir im Interesse
der Steuerzahler aus. Über diesen Punkt werden wir im
Zusammenhang mit dem Subventionsabbau nicht diskutieren müssen.
({5})
Wir haben mit der Entkopplung den alten Mechanismus „Je mehr man produziert, desto mehr Steuergelder
bekommt man“ durchbrochen. Mit der Modulation haben wir eine ganze Reihe von Möglichkeiten für den
ländlichen Raum geschaffen. Die Bauern müssen zwar
entsprechende Anträge stellen. Aber das ist der Wille der
Steuerzahler.
Die Regel ist, dass EU-weit 80 Prozent der Modulationsmittel in dem Mitgliedstaat verbleiben, in dem sie anfallen. Wir haben für Deutschland die Sonderregelung,
dass in Deutschland als einzigem Mitgliedstaat 90 Prozent der Modulationsmittel verbleiben. Die 10 Prozent
extra können wir ganz gezielt in Roggenanbauregionen
investieren, um dort Umstiegsmöglichkeiten und Alternativen zu finanzieren.
({6})
Das heißt, wir können 185 Millionen Euro investieren;
das ist mehr, als wir es mit geringen Ausgleichszahlungen im zweistelligen Bereich gekonnt hätten.
({7})
Wir tun Wesentliches für den Natur- und Tierschutz
sowie für die Pflege der Kulturlandschaft. Auf unsere
Initiative hin hat die Kommission bei der Förderung des
ländlichen Raumes einige neue Punkte aufgenommen:
der Fördergrundsatz „Tierschutz“, das eigene Kapitel
„Lebensmittelqualität“ - wir in Deutschland wissen,
dass wir das brauchen - und ein Kapitel zur Förderung
höherer Standards im Tier- und Umweltschutz sowie
- das ist für mittelständische und Familienbetriebe nicht
unwichtig - die Unterstützung lokaler Partnerschaften
zur Förderung von integrierten Entwicklungsstrategien.
({8})
Wir alle wissen nämlich, dass man den einzelnen Familienbetrieb nicht sich selbst überlassen darf, sondern dass
es Sinn macht, auf regionaler Ebene gemeinsame Strategien zu entwickeln.
Wir alle wissen auch, dass das Hauptproblem im Bereich der Milchwirtschaft liegt; denn für die meisten
Bauern in Deutschland ist die Milch die Haupteinkommensquelle. Die Milchbauern tun sehr viel für den Erhalt
der Kulturlandschaft. Nirgendwo in der Landwirtschaft
wird so viel gearbeitet wie in der Milchwirtschaft.
({9})
Deswegen haben wir in Luxemburg hart gekämpft. Herr
Deß, auch Sie wissen, wie der Vorschlag des Kommissars aussah.
Das Ergebnis der längeren Beratung an der Stelle war:
Erstens. Die Quotenregelung wird bis 2015 verlängert.
Sie alle wissen, dass noch im Januar/Februar die Mehrheit des Agrarrates gegen diese Verlängerung war. Herr
Deß, wenn Sie merken, dass im Juni etwas herauskommt, wovon Sie im Januar nicht zu träumen wagten,
könnten Sie ruhig ein freundliches Gesicht machen.
({10})
Zweitens. Die von der Kommission vorgeschlagene
Milchquotenerhöhung ab 2007/08, die den Druck auf
den Markt noch mehr erhöht hätte, ist erst einmal vom
Tisch.
Drittens. Wir haben durchgesetzt - Sie haben sich
noch nicht einmal getraut, das zu fordern -, dass die bereits in der Agenda 2000 beschlossenen Regelungen zur
Milchquotenerhöhung erst einmal verschoben werden.
Die Senkung der Interventionspreise fällt deutlich geringer aus, als von Fischler vorgeschlagen.
Meine Damen und Herren, nun tun Sie nicht so, als
seien wir das letzte kleine gallische Dorf. Reden Sie
nicht immer von Marktwirtschaft, wenn Sie das Gegenteil haben wollen.
({11})
Tun Sie nicht so, als ob Deutschland seine Exportinteressen wahren könnte, wenn beispielsweise der Butterpreis
- es gibt 70 000 Tonnen eingelagerte Butter, die der
Steuerzahler vom Markt kauft - gestützt wird. Jeder, der
nur einen Hauch Ahnung von internationaler Politik hat,
weiß doch, dass man diese künstliche Konstruktion - auf
der einen Seite Überproduktion und auf der anderen
Seite Preisstützung - nicht halten kann. Es kann daher
nur langfristig darum gehen, einen Ausgleich zu schaffen und dem einen oder anderen die Möglichkeit zu geben, zu überlegen, was er mit seiner Produktion macht.
Deshalb bin ich froh, dass bei der Senkung der Interventionspreise nur 4 Prozent und nicht 10 Prozent, wie
Fischler vorgeschlagen hatte, herausgekommen sind und
dass wir einen Preisausgleich von 80 Prozent erreicht
haben; bei der Agenda 2000 waren es seinerzeit nur
50 Prozent. Ich glaube, dass sich dies sehen lässt.
({12})
Zum Schluss weise ich noch auf einen wichtigen
Punkt hin: Wir haben es alle miteinander in der Hand,
die Probleme im Milchbereich durch eine Grünlandprämie auszugleichen. Ich fordere Sie dazu auf, an dieser Stelle offen zu diskutieren.
({13})
Eine Grünlandprämie hilft den Landwirten tatsächlich,
weil sie in diesen Kulturlandschaften gesellschaftliche
Arbeit leisten.
({14})
Der Weg dahin ist mit den Luxemburger Beschlüssen
bereitet. Bund und Länder müssen dies gemeinsam umsetzen. Aber hier müssen Sie natürlich den Mut haben,
an den Stellen, an denen einige Landwirte sehr viel bekommen, etwas wegzunehmen, damit die Grünlandstandorte von den zu verteilenden Mitteln etwas abbekommen. In Zeiten der Agenda 2010 und von
Sparhaushalten in Bund und Ländern wissen alle, dass es
nicht mehr Geld gibt und dass wir Gerechtigkeit herstellen müssen. Wer über die Situation der Milchbauern
klagt, meine Damen und Herren, muss das Instrument
der Grünlandprämie anwenden und dafür sorgen, dass
diejenigen, die sehr viel bekommen, ein Stück zugunsten
der Milchbauern abgeben. Ich werde Sie daran messen,
ob Sie den Mut haben, diese Prämie einzuführen.
({15})
Meine Damen und Herren, wir haben mit den Beschlüssen von Luxemburg viele flexible Regelungen geschaffen, die es uns ermöglichen, mit Blick auf die deutsche Situation zielgenau etwas aufzubauen, was am
Ende so effektiv und rational ist, dass es bei den Ländern
nicht mehr Verwaltungsarbeit auslöst.
({16})
Ich kann Sie nur auffordern, hier nicht nachzukarten,
sondern die Beschlüsse, die es nun einmal gibt, umzusetzen. Hier hoffe ich auf Ihre konstruktive Arbeit.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir bitte eine Vorbemerkung: Peter Harry
Carstensen, an dessen Stelle ich hier stehe und der im
Moment leider nicht im Saal ist, musste gestern zu einem Check-up ins Krankenhaus. Als er heute wiederkam, sagte er, er habe einen hundertprozentigen Freispruch erhalten. Wir alle sind froh, dass er gesund ist.
({0})
Meine Damen und Herren, bei der Vorbereitung dieser Rede habe ich lange darüber nachgedacht, wie ich sie
anlege. Soll ich hier die schonungslose Wahrheit über
die derzeitige Agrarpolitik der Bundesregierung vortragen und die Ergebnisse der Brüsseler Agrarbeschlüsse
nüchtern erläutern, um damit noch mehr Pessimismus zu
verbreiten, als in der Landwirtschaft ohnehin schon vorhanden ist, oder soll ich den Optimismus, den ich persönlich schon immer bevorzuge, in den Vordergrund
stellen?
Frau Künast, lassen Sie mich Ihnen vorweg eines sagen: Sie bekämpfen den Bauernverband als einen persönlichen Feind. Der Bauernverband besteht aus gewählten Vertretern; er vertritt die Interessen der in Not
befindlichen bäuerlichen Familien.
({1})
Diese Interessenvertretung sollten Sie achten und schätzen, nicht aber bekämpfen.
({2})
Meine Damen und Herren, würde hier Pessimismus
verbreitet, führte dies zu einem weiteren Investitionsstau
in der Agrarwirtschaft, verunsicherte das die Menschen,
die in der Ernährungswirtschaft einen Arbeitsplatz
haben, und verleidete das den jungen Menschen auf
den Bauernhöfen die Lust, die Betriebe ihrer Eltern
fortzuführen. Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der
Opposition, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Tut
man dies, kann daraus durchaus eine Entscheidungsgrundlage erwachsen, die zu einer Erneuerung führt.
Die Agrarreform der EU ist ein perspektivloser, bürokratischer Murks, dessen Verfallsdatum in wenigen
Jahren schon abgelaufen sein wird. Dieses Datum
könnte mit einem Regierungswechsel in Deutschland zusammentreffen, sofern dieser nicht noch vorher eintritt.
Damit ist in der Ferne die Morgenröte der Hoffnung
sichtbar, dass die Agrar- und Verbraucherpolitik in
Europa und Deutschland wieder vorangebracht werden
kann.
({3})
Meine Damen und Herren, bis es aber so weit ist, gehen wir durch ein Tal drastischer und dramatischer Einkommensverluste. Wir werden den Verlust Tausender
Arbeitsplätze in den vor- und nachgelagerten Bereichen
der Agrarwirtschaft zu beklagen haben. Wir werden den
Rückgang der Marktanteile von hochwertigen heimischen Lebensmitteln zugunsten von unter ganz anderen
Qualitäts- und Tierschutzbedingungen erzeugten, importierten Lebensmitteln bejammern.
({4})
Darüber hinaus werden wir von einem gewaltigen und
noch mehr verschärften bürokratischen Gestrüpp gefesselte landwirtschaftliche Unternehmer bedauern müssen.
Dafür tragen Sie, Frau Künast, mit Ihrer linksideologischen Politik die volle Verantwortung.
({5})
Ihr Bundeskanzler, der Ihnen diese gesellschaftliche und
ideologische Spielwiese überlassen hat, trägt sie ebenfalls.
Bevor ich nun die EU-Beschlüsse näher erläutere,
möchte ich kurz die dramatische Situation der deutschen Landwirtschaft beleuchten. Laut Agrarbericht
der Bundesregierung, den wir heute mit beraten, sank
der Gewinn pro landwirtschaftliches Unternehmen im
Wirtschaftsjahr 2001/2002 um 6,6 Prozent. Die Schätzung der Bundesregierung für das jetzt abgelaufene
Wirtschaftsjahr 2002/2003 ist schon bei einem Minus
von 15 Prozent angelangt. Der Gewinn wird aber leider
noch mehr sinken.
({6})
- Der Künast-Effekt wirkt derzeit und in Zukunft sogar
noch verstärkt.
Vor diesem Hintergrund einer frustrierenden Einkommenssituation unserer bäuerlichen Familien müssen wir
die gestern im Kabinett beschlossenen Sonderlasten für
die deutschen Bauern scharf verurteilen. Die Einnahmen
aus der Mineralölsteuer für Agrardiesel sollen um
157 Millionen Euro erhöht werden. Sie wissen, dass unsere Kollegen in Frankreich je Liter Diesel nur 5,5 Cent
Steuern und die Dänen sogar nur 3,2 Cent zahlen. Wir
zahlen schon heute 25,6 Cent Steuern auf die Prozessenergie von Sondermaschinen, die auf dem Acker eingesetzt werden. Dies ist keine Benutzung von öffentlichen
Verkehrswegen, womit diese Steuer einmal gerechtfertigt wurde. Das wird jetzt noch einmal verschärft und
das bekämpfen wir entschieden.
({7})
Ein Zweites ist gestern beschlossen worden: die Zuschüsse für die landwirtschaftlichen Krankenversicherungen um 20 Prozent, um 243 Millionen Euro, zu
kürzen.
({8})
Wissen Sie eigentlich, was Sie da getan haben? Diese
Zuschüsse hatten einmal den Sinn, den hohen Anteil an
älteren Menschen, die in landwirtschaftlichen Versicherungen versichert sind, abzufedern. Wenn dies so umgesetzt wird, dann werden wir in einigen regionalen Krankenversicherungen - speziell in Rheinland-Pfalz Beitragserhöhungen von bis zu 51 Prozent haben. Das
bedeutet das Aus für diese Versicherungsform, eine Versicherungsform, die die Möglichkeit geschaffen hat, auf
Besonderheiten in der Landwirtschaft einzugehen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Das ist eine unanständige
Politik.
({9})
Ich frage ganz besonders die sozialdemokratischen Kollegen, ob sie das noch mit ihrem Gewissen vereinbaren
können. Das sind Sonderlasten, die keine andere gesellschaftliche Gruppe zu tragen hat, und Sie packen immer
noch drauf.
Diese Meldungen erreichen die Bauernfamilien vor
dem Hintergrund, dass die Einkommen in den letzten
Jahren, wie schon geschildert, zurückgegangen sind, sie
im laufenden Wirtschaftsjahr ebenfalls rückläufig sind
und die Ernteaussichten in diesem Jahr - allerdings witterungsbedingt - nicht die besten sind. Gesteigert wird
diese Stimmungslage der Bauern auch nicht durch Ihr
Frohlocken, Frau Künast, über die EU-Agrarreform, die
weitere Einkommensrückgänge in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zur Folge haben wird. Verständlich, dass sich
auf den Höfen Resignation und Verzweiflung ausbreiten!
Damit komme ich zur Agrarreform, die Sie letzte Woche mit beschlossen haben. Anstatt die ursprünglich bis
zum Ende des Jahres 2006 laufende Agenda 2000 fortzuführen und sie als Verhandlungsgrundlage der EU heranzuziehen, haben Sie sich in Brüssel über den Tisch ziehen lassen. Es ist ein Tor, wer glaubt, dass solche
Erklärungen des Verzichts auf Marktanteile und letztlich
auf Arbeitsplätze bei den WTO-Verhandlungen honoriert würden. Im Gegenteil: Es wird sicher draufgesattelt.
So werden wir schon kurze Zeit nach der WTO-Runde
eine neue Agrarreform beschließen müssen. Wie sollen
die Menschen planen, wenn sie sich bei der
Agenda 2000 schon vor Ablauf der Hälfte der Zeit auf
neue Daten einstellen müssen? So behaupte ich, dass
auch die neue Agrarreform wenig Planungssicherheit
bieten wird.
Frau Künast, eines muss man Ihnen lassen - das gilt
auch für den hoffentlich im nächsten Jahr ausscheidenden Agrarkommissar Fischler -: Sie haben es geschafft,
die Reform so kompliziert zu machen, dass es kaum
möglich ist, einem Bürger, der nicht mit Spezialwissen
ausgestattet ist, diese plausibel zu erläutern.
({10})
- Ich werde Ihnen gleich erklären, welche Position wir
haben.
Die genannten Ziele sind noch zu akzeptieren: mehr
Tierschutz, mehr Landschaftspflege, von mir aus auch
mehr ökologisch ausgerichteter Landbau. Das alles ist
durchaus anerkennenswert.
Aber die Realität ist genau das Gegenteil. Ich frage
Sie: Glaubt jemand, dass die Absenkung des Milchpreises um circa 25 Prozent auf Weltmarktniveau - das
sind etwa 20 Cent pro Liter - die Milchqualität steigert
oder einen mit höheren Kosten verbundenen Tierschutz
ermöglicht? Glaubt jemand, dass Milcherzeuger statt eines kostendeckenden Milchpreises lieber einen Teilausgleich für Preisrückgänge vom Steuerzahler haben wollen?
Glaubt jemand, dass eine nicht mehr an die Nahrungsmittelproduktion gekoppelte Flächenprämie mehr Landschaftspflege bedeutet?
Glaubt jemand, dass ein nicht mehr durchschaubares
Prämiensystem mit teilentkoppelter, regional unterschiedlicher, an 18 EU-Auflagen gebundener, eventuell
von einer Zwangsberatung abhängiger und einer Modulation - also einer Umverteilung - unterworfener Ausgleichszahlung dem Steuerzahler oder den Landwirten
noch vermittelbar ist?
Glaubt jemand, dass das Verkaufen oder das Verpachten von Prämienrechten und die damit verbundene
Schaffung eines neuen Berufsbildes - Hängemattenlandwirt - auch nur von einem Bürger verstanden werden? Glaubt jemand, dass ein Flickenteppich von mit
unterschiedlichen Prämienrechten versehenen Flächen,
das Ganze womöglich noch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, administrativ noch zu „handeln“ ist?
Glaubt jemand, dass die drastischen Erzeugerpreissenkungen in Form von niedrigen Brot-, Milch- oder
Fleischpreisen je einen Verbraucher erreichen?
Glaubt jemand, dass Sie, Frau Künast, die von Brüssel erlaubte Umverteilung von 10 Prozent der Direktzahlungen - immerhin über 500 Millionen Euro - für eine
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Landwirtschaft einsetzen werden?
({11})
Alle diese Fragen werden wir leider mit Nein beantworten müssen.
({12})
Damit ist diese Reform im Ergebnis geschildert. Sie haben sich in Brüssel über den Tisch ziehen lassen.
({13})
Dies geschah, weil Sie ohne Vision dorthin gegangen
sind und keine eigenen Vorstellungen in die Verhandlungen eingebracht haben.
({14})
Das war die Grundlage. Sie haben vorher keine Entwürfe gefertigt und mussten sich so mit dem zufrieden
geben, was Ihnen angeboten wurde.
Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben Ihnen klare Positionen entgegengestellt. In
unserem Husumer Papier haben wir die richtigen Weichenstellungen für eine langfristige Reform skizziert.
({15})
Sie können sie gern übernehmen. Damit würden Sie
bei den Bauern auf Verständnis stoßen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin.
Wir wollen, dass auch bei den WTO-Verhandlungen
die flächendeckende, multifunktionale Landwirtschaft in
Europa durchgesetzt wird. Wir wollen, dass die Bäuerinnen und Bauern, die in Verantwortung vor den Verbrauchern, den Tieren und der Natur als unabhängige Unternehmer handeln, von ihrer Arbeit leben können.
Damit komme ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück. Tun wir alles, damit die Laufzeit dieser
Agrarreform möglichst kurz ist und diese Regierung
möglichst schnell ihr Ende findet. Dann haben wir wieder Platz für Hoffnung in den Köpfen der Menschen geschaffen.
Ich bedanke mich.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Wolff,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herrn Blesers Rede kann ich kurz wie folgt
Waltraud Wolff ({0})
zusammenfassen: Subventionsabbau ja, aber nicht bei
uns!
Ich möchte meiner Rede ein ganz herzliches Dankeschön an Sie, Frau Bundesministerin Künast, voranstellen.
({1})
Denn bei den Agrarverhandlungen haben Sie nicht zuletzt durch Ihr ausgezeichnetes Verhandlungsgeschick
einen für Deutschland wirklich guten Kompromiss erzielt.
({2})
Keiner der Fachpolitiker, selbst die CDU-Kollegen
nicht, hätte ein solches Ergebnis erwartet. Sie waren am
Anfang sogar sprachlos.
({3})
Die sehr unterschiedlich strukturierte Landwirtschaft
in Deutschland ist wirklich nicht leicht zu vertreten und
gerade deshalb ist das Ergebnis im Sinne dieser Vielfalt
ein großer Erfolg. Ich beglückwünsche Sie dazu.
({4})
Ich möchte gern auf Peter Bleser eingehen, der gesagt
hat: Frau Künast allein trägt die Verantwortung. - Ich
denke, der deutsche Bundeskanzler, Frau Künast und
auch der französische Staatschef sowie der französische
Landwirtschaftsminister tragen hier Verantwortung,
nämlich die Verantwortung für eine gemeinsame europäische Zukunft. Das ist ein sehr wichtiger Punkt; ich
denke dabei auch an die heutige Debatte über die EUOsterweiterung.
({5})
Deutschland und Frankreich haben hier gezeigt, wie
europäische Zukunft gemeinsam gestaltet werden kann.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU hat bewiesen, dass sie reformfähig ist, obwohl ich während der
drei Verhandlungswochen wirklich oft an eine Papstwahl
erinnert wurde und mich immerzu gefragt habe: Wann
endlich steigt der weiße Rauch auf?
({7})
Nun endlich ist es vollbracht. Die neue Ausrichtung ist
gekennzeichnet durch die starke Entkopplung - wir haben das eben schon von der Bundesministerin gehört -,
durch die Stärkung der ländlichen Räume und durch die
Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung von
Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvorschriften. Für die
WTO-Verhandlungen im September sind wir auf diese
Art und Weise sehr gut aufgestellt.
Die EU befindet sich in der Offensive. Das ist eine
ungeheure Stärkung unserer gemeinsamen Position, gerade auch gegenüber den USA. Denn der Abbau von direkten Preisstützungssystemen war neben der Exporterstattung und neben dem Abbau der Zölle ein wesentlicher Forderungspunkt der letzten WTO-Ministerratstagung im Jahre 2001. Andere Länder sind noch lange
nicht so weit, wie wir in der EU jetzt sind.
({8})
Über den finanziellen Rahmen hinaus wurde nun die
Marschrichtung für zehn Jahre festgelegt.
Peter Harry Carstensen, dass du so krank gewesen
bist, tut mir Leid. Aber ich würde sagen: Halte dich jetzt
einfach mal zurück.
({9})
Der Deutsche Bauernverband kritisiert die EU-Agrarreform als Flickschusterei. Ich finde diese Kritik schon
sehr erstaunlich,
({10})
denn allen Mitgliedstaaten - das wissen wir, das haben
wir auch vorhin noch einmal von der Ministerin gehört ist ein gewisser Teil an Selbstbestimmung geblieben. Ein
Beispiel dafür ist die Möglichkeit der freien Entscheidung für eine Betriebsprämie
({11})
oder für eine Angleichung von Ackerbau- und Grünlandprämien. Das ist doch im Sinne der Landwirtschaft. Wir
müssen endlich lernen, europäisch zu denken.
({12})
Interessen fallen aufgrund unterschiedlicher regionaler
Gegebenheiten - ich erinnere nur an das Klima - nun
einmal unterschiedlich aus. Wir können das auch positiv
gestalten, wenn wir nur wollen; denn alle Länder haben
die Möglichkeit, die für sie günstigsten Lösungen zu finden. Genau aus diesem Grund finde ich die harsche Kritik des DBV einfach nicht berechtigt,
({13})
auch vor dem Hintergrund, dass Deutschland aufgrund
der wegfallenden Roggenintervention als einziges Land
90 Prozent der modulierten Mittel behalten darf, während die anderen Länder nur 80 Prozent der Mittel zur
Auszahlung für die ländlichen Räume erhalten.
({14})
An dieser Stelle möchte ich auch auf die Bundesratsinitiative, auf den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des
GAK-Gesetzes, eingehen. Wir wollen möglichst rasch
die EU-weite Modulation erlangen, aber wir unterstützen nicht die auch mit diesem Entwurf gestützte Gangart
der CDU/CSU und der FDP, die besagt, dass nichts verändert werden soll. Das ist nicht die richtige Lösung und
wir haben dafür auch in Brüssel die rote Karte bekommen.
({15})
Die Aufhebung der nationalen Modulation ist falsch und
wir lehnen diesen Gesetzentwurf deshalb strikt ab. Im
Gegensatz dazu wird die nationale Modulation in der
europäischen aufgehen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, Sie schreiben in Ihrem Entschließungsantrag - der
Kollege Peter Bleser hat das vorhin auch noch einmal
benannt -,
({16})
die anhaltende mangelnde Investitionstätigkeit sei besorgniserregend. Erstens sagt der Agrarbericht 2003 etwas anderes aus. Wenn Sie ihn gelesen haben, werden
Sie festgestellt haben, dass die Höhe der Nettoinvestitionen im Vergleich zum Vorjahr um circa 1,4 Prozent gestiegen ist.
({17})
Zweitens haben viele Betriebe die Halbzeitbewertung
der EU abgewartet; denn diese Regelungen sind für die
Entwicklung logischerweise entscheidend. Die Landwirtschaft wird in Zukunft nur noch dann Akzeptanz in
der Bevölkerung erhalten, wenn sie vermehrt umweltund tiergerechte Verfahren einsetzt.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirtschaftsministerinnen und Landwirtschaftsminister der
Bundesländer sind nun an der Reihe, hier aktiv mitzuarbeiten. Frau Künast hat für die nächste Woche eingeladen. Ich kann mir vorstellen, dass es möglich ist, gemeinsam an zukunftsorientierten Maßnahmen zu arbeiten,
über Ländergrenzen und - wie ich mir wünsche - über
Parteigrenzen hinweg, für unsere Bauern und für unsere
ländlichen Räume.
Auch wenn es die Opposition in diesem Hause nicht
wahrhaben will: Die Neuausrichtung der EU-Agrarpolitik bestätigt den Kurs der Bundesregierung. Sie müssen
akzeptieren, dass die Weichenstellung, die wir nach dem
Auftreten von BSE vorgenommen haben, richtig war.
({19})
In der Rede von Peter Bleser wurde deutlich, dass Sie
die Neuausrichtung der Agrarpolitik anscheinend emotional noch zu bewältigen haben. Kommen Sie damit endlich zum Ende und versuchen Sie, aus der Opposition
heraus mitzugestalten! Denn es gilt der alte Spruch: Wer
zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Danke schön.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen.
Sie gilt Frau Künast, die schon auf dem Weg nach Freiburg ist, was ich sehr bedauere. Ich hätte mir gewünscht,
dass sie uns im Plenum zuhört.
({0})
Sie hat nämlich behauptet, dass wir immer Bewegung
fordern würden, dass wir aber, wenn es ernst wird, lieber
Stillstand hätten. Es hätte ihr gut getan, einem FDP-Redner zuzuhören; denn dann hätte sie gemerkt, dass das genau nicht unsere Position ist. Im Gegenteil, lieber Kollege Bleser: Ich meine, dass auf europäischer Ebene im
Hinblick auf unternehmerische Marktwirtschaft und unternehmerische Landwirtschaft von Frau Künast eine
große Chance verspielt worden ist und dass wir in Zukunft bitter darunter leiden werden.
Wir Liberale wollen eine Agrarpolitik, die all das zum
Ziel hat, was sich eigentlich jeder wünscht: gute Qualität, artgerechte Haltungsformen und natürlich höchsten
Verbraucherschutz. Vor allen Dingen aber wollen wir
uns sichtbar vor die Bauern stellen, die gerade in der jetzigen Zeit, in der es um Subventionskürzungen und
Haushaltskürzungen geht, zum Teil äußerst ungerechtfertigten Angriffen ausgesetzt sind.
({1})
Es ist fachlich nicht begründet und es macht wirklich
keinen Spaß, wenn zum Beispiel Sabine Christiansen
eine Abenddiskussion damit eröffnet, gerade bei den
Subventionen für die Bauern könne besonders viel gekürzt werden, und meint, man könne das auf nationaler
Ebene machen. Wer sich damit nie beschäftigt hat, der
weiß nicht, dass wir seit langem auf dem Weg zu einer
europäischen Agrarpolitik sind. Für mich bleibt eine
europäische Agrarpolitik die Voraussetzung für eine
globale Agrarpolitik. Eine solche globale Agrarpolitik
brauchen wir, wenn wir bei den WTO-Verhandlungen
bestehen wollen.
({2})
Den deutschen Bauern geht es nicht gut, wie der Ernährungsbericht belegt. Aber die deutschen Bauern verfügen wie der Landwirtschaftsbereich insgesamt über
ein hohes Maß an Wissen und Können, sodass es mir um
die Zukunft nicht bange sein müsste, wenn man ihnen
nicht dauernd Knüppel zwischen die Beine werfen
würde
({3})
und wenn man endlich der Idee folgen würde, die wir Liberale seit langem vertreten, nämlich weg von der Produktsubvention hin zur Zuwendung in die Fläche zu
kommen. Die von uns vorgeschlagene Kulturlandschaftsprämie ist die kluge Antwort auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Sie hat einen riesengroßen Vorteil: Sie ist unbürokratisch und bewirkt - bei
erheblicher Einsparung im System -, dass das Einkommen des Bauern über die gut bewirtschaftete Fläche um
das Doppelte erhöht wird. Das wäre der Weg gewesen,
den wir hätten gehen sollen.
Die FDP zieht seit Jahren unter Günther Bredehorn,
unter Uli Heinrich und den anderen Mitstreitern eine
glasklare agrarpolitische Linie. Wir brauchen mehr
Marktorientierung und - ich sage das hier noch einmal wir brauchen die entschiedene, unbürokratische, volle
Entkopplung.
({4})
- Nein, nein, Peter Harry; ich will dich ja gesundheitlich
schonen. Auf euer Programm komme ich gleich noch zu
sprechen.
Jetzt möchte ich erst einmal etwas zu den Sozialdemokraten und den Grünen sagen. Sie betreiben meiner
Meinung nach an vielen Stellen eine ideologische Politik
gegen die Bauern.
({5})
Sie diskriminieren die Bauern. Sie setzen europäische
Vorgaben nicht im Verhältnis von 1 : 1 in nationales
Recht um - das machen Sie übrigens nicht nur in der
Agrarwirtschaft, sondern im gesamten grünen Bereich und vermindern so die enormen Chancen des grünen Bereichs im Hinblick auf volkswirtschaftliches Wohlergehen, Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze und Investitionen.
({6})
Sie sollten das schlicht und ergreifend lassen. Das macht
überhaupt keinen Sinn. Das bringt uns gegenüber den
Nachbarn im Westen wie den Gartenbaubetrieben in den
Niederlanden ins Hintertreffen und wird uns auch gegenüber den Nachbarn im Osten, die wir Gott sei Dank haben, den Polen, ins Hintertreffen bringen.
Wir wollen die Probleme ja gemeinsam lösen. Im
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft sind wir uns häufig viel näher, als es beim
Kommentieren von Ergebnissen, möglicherweise auch
manchmal in der Presse, hinterher dargestellt wird. Auch
beim Tierarzneimittelgesetz - das möchte ich ganz klar
sagen - wollen wir eine gemeinsame Lösung.
Lassen Sie mich jetzt zurückkommen auf die genannte blitzsaubere agrarpolitische Linie. Lieber Peter
Harry Carstensen, lieber wirklich sehr geschätzter Albert
Deß, lieber Herr Bleser, hier gibt es einen riesigen Konflikt in eurer Fraktion. Schaut mal, wer eure WTO-Anträge unterschreibt
({7})
und was die zum Inhalt haben! Die Botschaft ist - das
muss man sich einmal vorstellen -, dass die WTO-Gespräche sozusagen auf der Basis der Vereinbarungen,
die jetzt auf europäischer Ebene getroffen worden ist,
fortgeschrieben werden sollen.
({8})
Ich sage euch: Eure WTO-Anträge sind richtiger als eure
Agraranträge.
Lieber Albert - ich sage das auch vor dem Hintergrund der Wahlen in Bayern -, wer glaubt, dass man mit
Schutzzöllen, mit einer nationalen Quote den globalen
Herausforderungen am Agrarmarkt wird begegnen können, der liegt falsch. Ich bin dafür, dass man den Bauern
die Wahrheit sagt. Unternehmerische Bauern, tüchtige
Bauern werden in einem globalen Wettbewerb bestehen.
Aber es macht keinen Sinn, einen Schutzzoll hochzuziehen in einer Situation, in der Produkte aus der weiten
Welt weit unter den Schutzzollpreisen in unseren Markt
hineinkommen können. Das ist keine zukunftsorientierte
Agrarpolitik.
({9})
Herr Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?
Ja, klar.
Herr Kollege Goldmann, eigentlich wollte ich Ihnen
ja nicht noch zusätzliche Redezeit verschaffen. Aber ich
möchte Sie doch Folgendes fragen: Sind Sie bereit, in
unser Husumer Papier zu schauen? Dann würden Sie
nämlich feststellen, dass es gewaltige Parallelen gibt. In
Ihrem Antrag treten Sie für eine „Kulturlandschaftsprämie“ ein; in unserem Papier finden sich Maßnahmen
für eine Entkopplung, um in einem sehr einfachen Verfahren der Finanzierung dafür zu sorgen, dass der
Bauer, der zum Beispiel am 1. Juli den Antrag stellt, am
7. Juli sein Geld bekommen kann. Sind Sie also bereit,
sich das einmal anzuschauen, damit Ihnen bei einigen
Dingen die Parallele deutlich wird, und sind Sie auch
Peter H. Carstensen ({0})
bereit, dies bei Ihrem Vergleich mit dem für mich in der
Tat nicht leicht verständlichen Beschluss, den die Europäische Union uns jetzt auf den Tisch gelegt hat, zu berücksichtigen?
Ich bin zu jeder Form der fachlichen Zusammenarbeit
mit Christdemokraten bereit. Diese Bereitschaft brauche
ich nicht mehr zum Ausdruck zu bringen. Ich habe das
Papier bereits gelesen.
({0})
- Peter Harry Carstensen, ich glaube, Sie waren gestern
gesundheitlich geschädigt. Entweder sind wir jetzt bereit, uns verstehen zu wollen, oder wir lassen es bleiben.
({1})
Ich habe das Papier gelesen und bilde mir auch ein, es
verstanden zu haben. Ich meine, dass es in der CDUSprache so simpel ist, dass mir das auch wirklich geglückt ist.
Wir werden die Diskussion miteinander fortsetzen.
Dann werden Sie zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Kulturlandschaftsprämie, unsere Flächenprämie
wesentlich unbürokratischer, wesentlich effektiver ist als
jede Form von Teilentkopplung, die in Ihrer Grünlandprämie zum Ausdruck kommt.
({2})
Lieber Peter Harry Carstensen, ich könnte auch zurückfragen: Sind Sie bereit, den Antrag, den Sie hier
stellen, mit den Anträgen zu vergleichen, die Sie bei der
WTO-Debatte heute Abend stellen werden, und kommen
Sie vielleicht dann nicht selbst ins Grübeln, weil Sie
feststellen, dass einige Ihrer agrarpolitischen Ausführungen sehr oberflächlich sind?
({3})
Lassen Sie mich noch einmal auf den Kern der Geschichte zurückkommen - das ist mir wichtig -: Wir sind
für eine schnelle, zielorientierte und unbürokratische
Entkopplung. In der Tat gibt es auch mit den europäischen Beschlüssen kleine Trippelschritte hin zu einer
Entkopplung. Teilweise gibt es eine Flächenprämie, es
gibt aber auch noch jede Menge Betriebsprämien. Im
Grunde genommen gibt es von allem ein bisschen - aber
nicht den großen Wurf. Das, was vorhin hier ausgeführt
worden ist, ist völlig richtig: Wir werden ein bürokratisches Gebilde erhalten, das sehr hohe Kosten verursachen und dazu führen wird, dass doch wieder viel zu wenig Geld bei den wirklich Betroffenen ankommt.
Ich bin für eine europäische Agrarpolitik und sehe
größte Probleme darin, dass man jetzt sozusagen regionale Lösungen finden kann. Als Beispiel nenne ich das
Grenzgebiet in meiner Heimatregion. Fünf Kilometer
von uns entfernt, bei den Niederländern, wird es ein anderes Modell geben als bei uns in Niedersachsen. In Niedersachsen wird es möglicherweise wieder ein anderes
Modell geben als in Nordrhein-Westfalen. Es kommt zur
Regionalisierung und zu einem erhöhten bürokratischen
Aufwand. In diesem Punkt ist das, was auf europäischer
Ebene vereinbart worden ist, schlicht und ergreifend
schlecht.
Liebe Freunde, ich sage das unter uns Agrarpolitikern: Wir waren doch schon viel weiter. Als Herr
Fischler im Ausschuss war, hatten wir wirklich die Hoffnung, dass es zu einer substanziellen Entkopplung, zu einer Vereinfachung im System und zu einer Weichenstellung in Richtung eines Wettbewerbs im europäischen
und im globalen Rahmen kommt. Wir waren uns doch
darin einig, dass wir diesen Schritt gehen müssen, um
die WTO-Gespräche chancenreich zu bestehen. Wir waren uns doch auch darin einig, dass dieser Beitrag gerade
den Entwicklungsländern hilft. Nach dem Besuch von
Herrn Chirac in der Bundesrepublik Deutschland allerdings wurden - Herr Schröder und Herr Chirac waren
sich einig - die klugen Ansätze, die es gab und die auch
die Frau Ministerin im Ausschuss vertreten hat, plötzlich
aufgegeben. Frau Künast hat bei diesen Agrargesprächen
auf der ganzen Strecke verloren.
Das ist bedauerlich; denn die riesige Chance, gesellschaftliche Akzeptanz für ein Agrarmodell zu gewinnen,
wie es sich die FDP vorstellt und wie es viele Vernünftige mittlerweile begleiten, wurde vertan, indem die unbürokratische und an die bewirtschaftete Fläche gebundene Kulturlandschaftsprämie auf der Strecke geblieben
ist. Wir haben eine riesige Chance für gesellschaftliche
Weichenstellungen in Richtung einer klugen unternehmerischen Agrarpolitik verpasst. Das ist bedauerlich.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Hemker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube, es ist noch nicht ausreichend deutlich
geworden, dass es bei der heutigen Debatte - das gibt
auch der Bericht der Bundesregierung wieder - letztlich
um den Dreiklang Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft geht. Darüber hinaus geht es aber auch
um folgenden Dreiklang:
Erstens geht es um die Weiterentwicklung einer
standortgerechten und für die Verbraucher transparenten
Agrar- und Ernährungswirtschaft in Deutschland unter
Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen in
unterschiedlichen Regionen. Es geht also um nationale
und regionale Aspekte und um die Weiterentwicklung
der Methoden, wie sie gerade auf EU-Ebene beschlossen
worden sind.
Zweitens geht es um die Reform und die Erweiterung
der EU mit dem wichtigen - ich nenne es bewusst so Teilbereich der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik
unter den jetzt und in Zukunft noch vermehrt auftretenden neuen Bedingungen. Es geht also um den europäischen Aspekt. Das ist insbesondere nach dem, was wir
vorhin in einer namentlichen Abstimmung beschlossen
haben, wichtig zu sagen.
Drittens geht es um die Entwicklung in der einen
Welt; das ist mir besonders wichtig. Dazu gehören - wir
haben das in unserem Antrag mit der Drucksachennummer 15/550 niedergeschrieben - eine nachhaltige Agrarpolitik und ein gerechter Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen. Erforderlich ist ein
globales Konzept mit mehr Freizügigkeit und Liberalisierung, aber auch Schutz und Hilfe für die Armen in
den armen Ländern, und zwar weltweit.
Bei allen Entwicklungen und Reformen geht es um
die Bemühungen zugunsten von mehr Nachhaltigkeit
auf einer globalen Agenda. Seit der Rio-Konferenz bedeutet das:
Erstens. Die ökonomischen Rahmenbedingungen
müssen weiterentwickelt werden. Das geschieht im
WTO-Verhandlungsprozess und wird in einigen Monaten - da bin ich sicher - bei der Ministerkonferenz in
Cancun auf der Tagesordnung sein.
Zweitens. Die ökologischen Notwendigkeiten im
Kontext dessen, was nicht nur wir Christen Schöpfungsverantwortung nennen, müssen international und global
berücksichtigt werden.
({0})
Drittens. Es gilt, einen Gerechtigkeitsausgleich als sozialen Auftrag für all diejenigen, die gesellschaftliche
und politische Verantwortung tragen, als Auftrag zur Solidarität zu begreifen und entsprechend zu handeln.
({1})
Vor diesem Hintergrund kann es bei den WTO-Verhandlungen nicht mehr vorwiegend um die Absicherung des europäischen Landwirtschaftsmodells - so
steht es im Antrag der Union unter der Drucksachennummer 15/534; so hat sie es sogar als Überschrift formuliert - gehen. Vielmehr muss darauf hingewirkt werden, dass im Zuge einer Weiterentwicklung die
Maßnahmen im Rahmen der EU-Agrarreform WTOkonform gemacht werden. Die Kollegin Waltraud Wolff
hat deutlich gemacht, wie das schon jetzt geschieht. Die
EU-Vereinbarungen helfen, dass es diejenigen, die für
uns auf der WTO-Ebene verhandeln, nun leichter haben.
Vor diesem Hintergrund und dem, was die Bundesregierung im Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht
2003 in dieser Hinsicht feststellt, ist es wichtig, sich für
einen verbesserten Marktzugang auch für schon weiterentwickelte Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika
einzusetzen und das Problem der handelsverzerrenden
Exportsubventionen mit klaren quantitativen Vorgaben
und einer klaren Zielperspektive offensiv anzugehen.
Für die weitere Qualifizierung des Agrarbereichs im globalen Kontext ist es natürlich wichtig, dass die Multifunktionalität der Landwirtschaft und damit die Maßnahmen zur Förderung des Natur- und Landschaftsschutzes,
der Entwicklung ländlicher Räume, der Arbeitsplatzsicherung, des ländlichen Tourismus und regionaler
Wirtschaftskreisläufe als förderungswürdig im Rahmen
der Greenbox anerkannt werden.
All das unterstützt die Bundesregierung für die Weiterentwicklung der Regionen, in denen standortgerechte und nachhaltige Landwirtschaft nach wie vor ein
Standort- und Raumfaktor ist. Das bedeutet dann auch
mehr Sicherheit für die Entwicklung der Betriebe in
Deutschland und in Europa im nächsten Jahrzehnt. Wir
wollen aber auch, dass bei den Verhandlungen dafür
Sorge getragen wird, dass bestehende Präferenzen für
die ärmsten Entwicklungsländer sowie die AKP-Staaten
erhalten bleiben. Es muss Maßnahmen zum Schutz der
Landwirtschaft der ganz armen Länder geben.
({2})
Billigimporte von Nahrungsmitteln aus reichen Ländern
be- bzw. verhindern deren Entwicklung, die meistens
von Kleinbauern getragen wird. Im Blick haben wir natürlich auch die Instrumente der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Im Rahmen der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015 wird
- vorwiegend in der Verantwortung des BMZ - schon
viel Gutes getan.
Die Grundlagen sind gelegt. Die EU-Agrarreform
kommt voran, wenn auch anders, als es manche wollen.
Die EU-Erweiterung erschließt neue Märkte, auf denen
sich unsere Leistungsträger - der Kollege Goldmann hat
darauf schon hingewiesen - nicht nur aus dem Bereich
Agrar- und Ernährungswirtschaft gut platzieren können.
Der neue WTO-Rahmen wird neue Möglichkeiten schaffen, auch wenn vieles erst im Laufe der Zeit zum Tragen
kommt. Natürlich gab und gibt es noch viele Ungerechtigkeiten, egoistische Verhandlungsstrategien und Sonderwege, zum Beispiel der USA und einzelner Staaten
der so genannten Cairns-Gruppe. Auch bedeuten die unterschiedlichen Vorschriften und Standards, zum Beispiel in Brasilien bei der Zuckerproduktion und in
Argentinien bei der Fleischproduktion, Wettbewerbsvorteile. Darüber muss man bei den Verhandlungen reden.
Das ist dann selbstverständlich Gegenstand der Verhandlungen.
Die Vorschläge, die wir in unseren Anträgen, insbesondere in dem Antrag auf Drucksache 15/550, gemacht
haben, können dabei hilfreich sein im Sinne einer, wie
wir es genannt haben, nachhaltigen Agrarpolitik und eines gerechten Interessenausgleichs weltweit.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der bayerische Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten, Josef Miller.
Josef Miller, Staatsminister ({0}):
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen des
Deutschen Bundestages! Die Frau Bundesministerin
streut Sand in die Augen und redet den Menschen anschließend nach dem Mund.
({1})
Noch nie lagen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander. Das zeigt dieser Agrarbericht.
Der Strukturwandel hat sich beschleunigt und das Höfesterben hat mit 4,2 Prozent einen Spitzenwert erreicht,
wie es Jahrzehnte nicht mehr der Fall war.
({2})
Eine positive Entwicklung der Zahl der Betriebe gibt es
nur noch bei Betrieben über 100 Hektar LF. Die Frau
Bundesministerin redet den bäuerlichen Betrieben das
Wort, treibt aber in Wirklichkeit eine Politik für die
Großstruktur.
({3})
Rot-Grün gibt vor, den Tierschutz und den Umweltschutz besonders ernst zu nehmen. Die rot-grün regierten Länder bilden aber das Schlusslicht, wenn es um
Mittel für Agrarumweltmaßnahmen geht.
({4})
Die Einkommen in der Landwirtschaft fallen gegenüber dem Vergleichslohn in der gewerblichen Wirtschaft
immer mehr zurück. Sinkende Gewinne, besonders in
Futterbaubetrieben und benachteiligten Gebieten, führen
dazu, dass dort das Land nicht mehr bewirtschaftet wird.
Wenn Sie mit Ihrer Politik so weitermachen, dann ist die
Gefahr groß, dass es dort, wo es landschaftlich am
schönsten ist, keine Bauern mehr gibt, die das Land pflegen. Das ist die Wirklichkeit.
Das ist die Schreckensbilanz der Bundesregierung im
Agrarbereich. Das ist wahrlich eine Wende, aber eine
Wende, die allen schadet: den Bauern - das beweisen die
Zahlen -, den ländlichen Räumen, der Umwelt, den Tieren und den Verbrauchern.
Nationale Alleingänge mit weit überzogenen Reglementierungen verteuern die Produktion in Deutschland.
Die Frau Bundesministerin hat das Verbraucherverhalten völlig falsch eingeschätzt. Die Bürgerinnen und Bürger greifen im Gegensatz zu Ihren Ankündigungen zunehmend zu Produkten, die unter wirtschaftlich
günstigeren, oft auch weit weniger kontrollierten Bedingungen hergestellt werden, nämlich im Ausland. Noch
nie ist so viel bei den Discountern eingekauft worden,
wie es derzeit der Fall ist. Das spiegeln die Zahlen unbestreitbar wider.
({5})
Das von der Bundesregierung erklärte Ziel, eine verbraucher-, umwelt- und tiergerechte Landwirtschaft zu
fördern, wird angesichts dieses Berichtes und der Realität zur Farce.
Es besteht wirklich kein Grund, über die Entscheidungen zur gemeinsamen Agrarpolitik zu jubeln. Lesen Sie
nach, wie vor drei Jahren die Agenda 2000 als großes
Reformwerk bejubelt worden ist. Heute sind drei Jahre
vergangen und Sie sprechen von einer völlig neuen
Agrarpolitik. Also kann die letzte Reform wirklich nicht
gut gewesen sein. Die Halbwertszeit dieser Reform wird
auch nicht länger sein. Das sage ich Ihnen voraus.
({6})
Die Bundesministerin schmückt sich jetzt mit fremden Federn und sagt, sie habe Schlimmeres verhindert
und Großes erreicht. Vergleichen Sie doch unsere Situation mit der in Frankreich, Österreich, Portugal oder Italien: Wir liegen weit hinten. Die Bundesministerin hat
nichts erreicht, außer dem Durchbruch ihrer ideologischen Vorstellungen.
({7})
Es gehört schon Mut dazu, sich hier hinzustellen und zu
sagen: Wir haben doch die Garantiemengenregelung
durchgesetzt. Vor einem halben Jahr - das können Sie in
allen Fachblättern nachlesen - hat sich die Bundesministerin massiv gegen die Beibehaltung der Garantiemengenregelung ausgesprochen.
Tatsache ist, dass die in der Agenda 2000 vorgesehenen Interventionspreissenkungen um ein Jahr vorgezogen werden, dass der Interventionspreis für Butter um
25 Prozent sinkt und dass eine drastische Reduzierung
der Interventionsmenge auf 30 Tonnen - also praktisch
auf null - vorgesehen ist, obwohl es in der Produktion
durchaus nicht nur um den Verkauf oder um Lagerhaltung, sondern auch um den Ausgleich jahreszeitlicher
Schwankungen geht.
Es ist schon ein besonderes Verständnis von Mathematik, wenn man beschließt, den Grünlandgebieten etwas wegzunehmen und dies nur zu 50 Prozent auszugleichen, um dies anschließend als Stärkung der
Grünlandgebiete zu verkaufen. Jeder Mathematiklehrer
würde eine solche Rechnung mit einer Sechs benoten,
weil die einfachsten Grundrechenarten nicht beherrscht
werden.
({8})
Das Grünlandprogramm, das Sie angemahnt haben,
wird in Bayern erfolgreich durchgeführt. Auch die Kulturlandschaftsprämie, die hier vorgeschlagen wurde, gibt
es bereits. Tatsache ist, dass zum Beispiel die bayerischen Milchbauern 5 000 Euro ihres Gewinnes einbüßen
werden. Ein Preisrückgang um 1 Cent bedeutet Einbußen in Höhe von 70 Millionen für die bayerischen
Milchbauern. Das lässt sich für die Bundesrepublik
Deutschland entsprechend hochrechnen. Dabei findet
kein Ausgleich statt; es erfolgt vielmehr eine Umverteilung.
Die Landwirtschaft wird von Brüssel gebeutelt. Die
deutsche Landwirtschaft hat am schlechtesten abgeschnitten. An dieser Stelle wäre die Hilfe der Bundesregierung gefordert. Was aber macht sie? Wer geglaubt
Staatsminister Josef Miller ({9})
hat, dem würde mit entsprechenden Hilfen Rechnung
getragen, der wird enttäuscht: Das Gegenteil ist der Fall.
In keinem Ressort sind so starke Kürzungen vorgesehen
wie im Agrarhaushalt: 7,4 Prozent!
({10})
Das ist der Stellenwert, den Sie der Landwirtschaft, der
Ernährung, dem Tierschutz und der Umwelt schließlich
beimessen.
Wen treffen die Kürzungen? Im sozialen Bereich sind
die kleinen und mittleren Betriebe am stärksten betroffen. Allein in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ist mit Beitragssteigerungen bis zu 40 Prozent zu
rechnen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch
daran, dass es in Ihrer Regierungszeit in der Alterskasse
schon zu Beitragssteigerungen um 100 Prozent gekommen ist. Welchem anderen Berufsstand in der Bundesrepublik mutet man so etwas zu? Sie haben die Bauern abgeschrieben und meinen inzwischen, dass es auch ohne
die Bauern geht.
({11})
Sie planen darüber hinaus eine Kürzung der Agrardieselrückvergütung. Während Ihrer Regierungszeit ist
der Steueranteil des Agrardieselpreises von 11 Cent um
15 Cent auf 26 Cent gestiegen. Damit liegen wir innerhalb der Europäischen Union an der Spitze, gefolgt von
Italien mit 8 Cent. In Frankreich sind es nur 2,5 Cent, in
Belgien gar 0 Cent. Das bedeutet für die Landwirte eine
weitere Belastung in Höhe von 157 Millionen Euro pro
Jahr. Allein daraus ergibt sich für einen 40-Hektar-Betrieb ein Nachteil von 1 100 Euro pro Jahr gegenüber einem vergleichbaren französischen Betrieb.
({12})
Diese Agrarpolitik führt zur Vernichtung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. Sie führt dazu, dass die Bewirtschaftung in vielen Gebieten des ländlichen Raumes
auf Dauer voraussichtlich nicht mehr sichergestellt werden kann.
({13})
Das reicht Ihnen aber noch nicht. Sie ziehen die
Modulation vor und schwächen damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft zusätzlich, indem Sie
mit einem ungeheuren Verwaltungsaufwand für nur zwei
Jahre eine nationale Modulation einführen, obwohl inzwischen feststeht, dass 2005 die Modulation auf
EU-Ebene eingeführt wird. Sie erschweren damit die Arbeit der Landwirtschaftsverwaltungen und erhöhen den
ohnehin nicht unbeträchtlichen Bürokratieaufwand für
die Landwirtschaft.
Kennen Sie denn die Stimmungen draußen im Lande
nicht? Spielt es keine Rolle, wie die Steuermittel verwendet werden? Sie sollten nicht der Verwaltung, sondern den Bauern zugute kommen. Für Sie ist die Agrarpolitik ein Experimentierfeld geworden. Der Ausgang
bleibt ungewiss.
({14})
Dieser Tage war in den Zeitungen die interessante
Nachricht zu lesen, dass heuer Obst und Gemüse doppelt
so teuer wie im vergangenen Jahr seien.
Weiter hieß es, die Verbraucher könnten aber hoffen,
dass dann, wenn die Produkte aus heimischer Erzeugung
auf den Markt kämen, die Preise nach unten gingen. Das
Problem ist nur: Die heimische Erzeugung spielt in Ihren
Überlegungen überhaupt keine Rolle mehr. Das zeigt gerade Ihr Umgang mit den Ökoprodukten, dem sensibelsten Bereich. Dort hat man die rechtlichen Anforderungen in Deutschland auf das niedrige europäische Niveau
gesenkt, weil man in erster Linie - das haben Sie heute
bestätigt - auf Importe von vermeintlich billigeren Nahrungsmitteln aus dem Ausland setzt.
Die deutsche Landwirtschaft hat nicht nur die Aufgabe, Nahrungsmittel und Rohstoffe zu produzieren. Die
land- und forstwirtschaftlichen Betriebe pflegen auch
etwa 80 Prozent der Fläche unseres Landes. Die Landwirtschaft ist außerdem das wirtschaftliche Standbein in
den Dörfern und trägt entscheidend zur sozialen Stabilität im ländlichen Raum bei. Sie ist deshalb nicht mit
der Landwirtschaft in anderen Ländern vergleichbar. Die
deutsche Landwirtschaft kann nicht länger neue Reglementierungen, nationale Alleingänge und Belastungen
ertragen, die ihre Wettbewerbskraft gegenüber Landwirtschaften in anderen EU-Staaten entscheidend schwächen. Die deutsche Landwirtschaft braucht vielmehr verlässliche Rahmenbedingungen und Rückhalt in der
Gesellschaft.
Ich bitte Sie, unserem Gesetzesantrag zuzustimmen,
den wir im Bundesrat eingebracht haben, mit dem wir
erreichen wollen, dass die nationale Modulation zumindest ausgesetzt wird. Die EU-Modulation wird dann das
ihrige tun. Ich bitte Sie, die Landwirtschaft als eine
wichtige Daseinsvorsorge für unsere Bevölkerung zu sehen. Sie ist es, die Lebensraum gestaltet und Lebensmittel erzeugt und die damit einen ganz wesentlichen Einfluss auf unsere Lebensqualität hat.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich kann Sie beruhigen: Die Stimmung ist durchaus nicht so schlecht, wie die eben vorgetragene Schulmeisterei und Schwarzmalerei vermuten
lassen. Ich war gerade am letzten Wochenende in Ausübung meines Berufs in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Nach der Geburt hat es den traditionellen Schnaps
gegeben. Ich glaube, wenn man die ehrliche Auseinandersetzung mit den Landwirten sucht, dann hat man auch
in der jetzigen Situation, die weiß Gott nicht einfach zu
bewältigen ist, die Chance auf eine Agrarpolitik mit Zukunft. Schwarzmalerei allein nutzt uns jedenfalls wenig.
({0})
Unter Tierärzten gibt es das alte Sprichwort: Wo man
impft, da lass dich nieder; denn Seuchen kehren immer
wieder.
({1})
Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass das auch
einen materiellen Hintergrund hat. Das gilt natürlich
auch für die Geflügelpest. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten und vor allen Dingen aus Italien zeigen,
dass die Seuchen in der Tat wiederkehren und dass sie
selbst mit Impfungen nicht in den Griff zu bekommen
sind.
({2})
Vorbeugende Impfungen haben in beiden Ländern keinen Erfolg gezeitigt. Der Grund dafür liegt auf der Hand:
Wir haben es zum Beispiel bei der Geflügelpest mit einem Erreger zu tun, der in über 100 Subtypen auftritt.
Niemand wird wohl in der Lage sein, für jeden Anwendungs- und Einsatzfall einen adäquaten Markerimpfstoff zu entwickeln. Theoretisch ist das natürlich möglich. Aber praktisch ist das nicht zu realisieren.
Deshalb ist der heutige Antrag der FDP „Impfen statt
Töten - Grundlage für den Einsatz von Markerimpfstoffen schaffen“ eigentlich unsinnig und fehl am Platz.
({3})
Bereits in der vergangenen Legislaturperiode gab es einen ähnlichen Antrag der FDP. Dort wurde unter dem Titel „Impfen statt Töten“ eine flächendeckende MKSImpfung verlangt.
({4})
- Sicherlich hat sich eine Menge getan, und zwar sowohl
auf der europäischen Ebene als auch bei den Initiativen
der Bundesregierung. Das konzediere ich Ihnen ja. Dass
sich aber damit der wesentliche Teil Ihres heutigen Antrags bereits erledigt hat, sollten Sie wohl klar und eindeutig erkennen, Herr Kollege Goldmann.
({5})
Sie als Tierarzt wissen doch ganz genau, dass Virus nicht
gleich Virus ist und dass eine Kuh nicht genauso wie ein
Huhn behandelt werden kann. Ein Huhn läuft - wie Sie auf zwei und eine Kuh auf vier Beinen; trotzdem gibt es
erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Bekämpfung von Seuchen bei diesen beiden Spezies.
({6})
Eines möchte ich hier klarstellen: Die Notimpfung
hat bei der Bekämpfung von Schweinepest und Maulund-Klauenseuche durchaus ihre Berechtigung.
({7})
Das zeigt sich natürlich auch ganz deutlich daran, dass
auf der Brüsseler Ebene die Impfstrategie geändert worden ist. Mittlerweile gibt es eine Alternative zu den bislang erfolgten exzessiven Massentötungen. Die Umsetzung erfolgt konsequent. Die neue MKS-Richtlinie ist
dafür ein Beispiel. Für den Bereich Schweinepest wird
es in absehbarer Zukunft vermutlich eine ähnliche neue
Richtlinie geben, die uns zumindest der Sorge enthebt,
wieder solche Zustände zu erleben - Sie haben darüber
zu Recht geklagt -, wie sie in Großbritannien zuletzt zu
beobachten waren.
Es ist nicht damit getan, aus einem zwei Jahre alten
Antrag einfach bestimmte Passagen zu streichen, etwas
Neues hinzuzufügen, das Ganze mit ein bisschen Populismus zu versehen, alles sozusagen zweimal umzurühren und diesen Antrag dann erneut zu stellen. Darauf
kommt es hier weiß Gott nicht an.
({8})
- Wenn man aus einem Antrag alles wegstreicht, was
nicht hineingehört und auch sachlich nicht richtig ist,
dann bleibt eines übrig: Impfen statt Töten. Das klingt
zwar nach aktivem Tierschutz, ist aber zumindest in meinen Augen bloß eine hohle Phrase und blanker Populismus.
({9})
Diesen Populismus übertrifft die Union noch bei der
Auseinandersetzung über die Geflügelpest. Da wollte
man der Öffentlichkeit doch allenthalben weismachen,
dass man mit einem 10 Kilometer langen Cordon sanitaire ein neues Instrument zur Bekämpfung von Tierseuchen erfunden hat. Das ist zweifellos nicht richtig, wie
uns die Erfahrungen gelehrt haben. Die Seuche wäre
durch die Anwendung einer solchen Maßnahme nicht
verhindert worden; dadurch wären vielmehr Hundertausende von Tieren - an sich sinnlos - getötet worden;
denn die Seuche ist westlich von so einem potenziellen
Cordon sanitaire ausgebrochen.
({10})
Ich weiß nicht, ob die Union weitergehende Pläne in
Bezug auf Regelungen zur Bekämpfung von Tierseuchen in der Tasche hat. Wenn das der Fall ist, dann
möchte ich darum bitten, diese Pläne letztendlich an den
Realitäten und an den wissenschaftlichen Erkenntnissen
zu orientieren und Forderungen dieser Art nicht wieder
aufzustellen.
({11})
Man kann die Idee eines Cordon sanitaire auch weiterentwickeln. Wenn dann irgendwann alle Tiere getötet
sind, ist auch das Problem der Seuche gelöst.
({12})
Wir Sozialdemokraten und die rot-grüne Koalition
haben einige andere Vorstellungen von praktischem
Tierschutz. Wir haben uns maßgeblich dafür eingesetzt,
dass der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert wird.
({13})
Im Vorfeld - ich denke an das Jahr 2000 - haben Sie sich
dabei nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Das muss
man einmal deutlich sagen. Die rot-grüne Koalition ist
dabei - das ist klar und deutlich -, die geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zur Tierhaltung, Stück für
Stück zu überprüfen und auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen an die Erfordernisse anzupassen. Alles andere überlassen wir denjenigen, die meinen, sie hätten davon Ahnung, obwohl das in
Wirklichkeit gar nicht der Fall ist.
({14})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, wie ernst es Ihnen mit dem Tierschutz
ist, zeigt im Augenblick die Auseinandersetzung über
die Schweinehaltungsverordnung.
({15})
Ihre Agrarpolitiker in den Bundesländern und auch Sie
selbst stellen regelmäßig Anträge, Standards, die älter
als 13 Jahre sind, im Verhältnis eins zu eins umzusetzen.
Das kann nicht Sinn einer zukunfts- und tierschutzorientierten Politik sein.
({16})
Im Klartext heißt das nämlich: Ungefähr 0,65 Quadratmeter pro Zweizentnermastschwein. 0,65 Quadratmeter
sind vielleicht so viel wie das Kopfkissen von Peter
Harry, aber nicht mehr.
({17})
Die in anderen Bundesländern, unter anderem in meinem Heimatland Niedersachsen, geltenden gesetzlichen
Regelungen gehen, was die Flächenzumessung angeht,
zum Teil schon erheblich darüber hinaus.
({18})
- Aber selbstverständlich! Sie gehen, was die Flächenzumessung betrifft, erheblich darüber hinaus.
({19})
Es ist nicht an der Zeit, wieder hinter das zurückzugehen, was sich schon als Stand der Technik etabliert hat;
denn das hieße wirklich, den Tierschutz mit Füßen zu
treten. Es hat sich auch schon in Brüssel herumgesprochen, dass wir höhere Werte und eine Anhebung der
Standards brauchen.
({20})
2005 wird es eine solche Anhebung geben. Dann werden
wir vielleicht noch einmal eine Diskussion um weitere
Anhebungen der Standards führen müssen.
({21})
Wir werden unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gegebenheiten dafür Sorge tragen - das ist meine
Politik und das ist die Politik der SPD-Arbeitsgruppe in
diesem Hause -, dass die Standards sukzessive erhöht
werden, dabei aber wirtschaftliche Nachteile weitestgehend beherrschbar gehalten werden.
({22})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Im Zusammenhang mit der Anhörung, die in der
letzten Woche stattgefunden hat, möchte ich der Opposition ein Lob aussprechen. Ich möchte mich für die Kooperationsbereitschaft der Union und der FDP, auch bezüglich des Tierarzneimittelgesetzes, noch einmal recht
herzlich bedanken.
({0})
Wir haben zusammen eine ganz gute Linie gefunden. In
dem Zusammenhang kann ich nur noch einmal an die
rechte Seite des Hauses appellieren.
Herr Kollege, Sie können nicht mehr lange appellieren. Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich hoffe, dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung
kommen, die letztlich den Tieren, den beteiligten Landwirten, den Tierärzten und damit auch dem Tier- und
Verbraucherschutz dient.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Priesmeier, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und
wünsche Ihnen alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Albert Deß, CDU/CSUFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Priesmeier, nach Ihrem Ausflug
in die Impfpolitik würde ich Ihnen raten: Lassen Sie
doch einen Impfstoff gegen rot-grüne Agrarpolitik entwickeln. Mehr als 400 000 Portionen würden in
Deutschland schnellstens angefordert.
Der Ernährungs- und agrarpolitische Bericht 2003 belegt an vielen Stellen deutlich, dass seit dem Amtsantritt
einer ohne Sachkunde ins Amt gekommenen, dafür
umso stärker ideologisch fixierten Ministerin Künast
festgestellt werden muss: Die rot-grüne Bundesregierung hat sich von einer Politik für die Bauern in unserem
Land verabschiedet.
({0})
Wenn infolge dieser Agrarpolitik die Agrarproduktion
immer mehr aus Deutschland verlagert wird, dann erreicht man damit weniger Verbraucherschutz.
Frau Künast hat von Anfang an versucht, unsere Bauern in die Ecke zu stellen und mit Kampfbegriffen wie
„Agrarfabriken“, „industrialisierte Landwirtschaft“,
„Massentierhaltung“, „Agrarwende“, „Klasse statt
Masse“ zu diffamieren. Ihr Trommeln für „Klasse statt
Masse in der deutschen Landwirtschaft“ unterstellt, dass
die Bauern in Deutschland keine hochwertigen und gesunden Nahrungsmittel produzieren. Mit einer solchen
Diffamierung wird die Arbeit unserer Bauern und Bäuerinnen - sie sind gut ausgebildet und produzieren nach
guter fachlicher Praxis - in Misskredit gebracht. Richtig
muss es heißen - das habe ich schon oft gesagt -: Die
Masse unserer Nahrungsmittel ist klasse. - Die Frau Ministerin hätte nur das Bundesinstitut für gesundheitlichen
Verbraucherschutz und Veterinärmedizin befragen müssen. Dort ist festgestellt worden, dass es bei 98,4 Prozent
der untersuchten Lebensmittel in Deutschland nicht die
geringsten Beanstandungen gegeben hat. Selbst bei den
restlichen 1,6 Prozent waren die Beanstandungen nicht
des Inhalts, dass eine Gesundheitsgefährdung besteht.
({1})
Da die Frau Künast immer von Massenproduktion
spricht, möchte ich hier einmal anmerken: Aus der Massenproduktion der deutschen Autoindustrie zieht auch
niemand den dümmlichen Schluss, dass die deutschen
Autos nicht klasse Autos sind.
({2})
Der Berichtsteil über die wirtschaftliche Lage der
Landwirtschaft im Wirtschaftsjahr 2001/2002 umfasst
erstmals einen Zeitraum, den Frau Künast als Ministerin
voll und ganz zu verantworten hat. In dieser Periode hat
sich die wirtschaftliche und strukturelle Lage der deutschen Landwirtschaft in beängstigender Weise verschlechtert. Dafür trägt Rot-Grün die Verantwortung.
({3})
Die Einkommen der deutschen Landwirte sind in diesem
Zeitraum um 6,6 Prozent zurückgegangen. Für das laufende Wirtschaftsjahr 2002/2003 ist mit einem dramatischen Einkommensrückgang von bis zu 20 Prozent zu
rechnen. In einigen Gebieten - dafür kann die Frau Ministerin nichts - mit starken Trockenschäden wird der
Einkommensrückgang noch wesentlich gravierender
ausfallen. Frau Künast könnte sich aber doch in Brüssel
dafür einsetzen, dass die Bauern in den Trockengebieten
wenigstens den Futteraufwuchs auf den Stilllegungsflächen nutzen dürfen, weil ihnen sonst die Futtergrundlage
entzogen wird.
({4})
- Dann hoffen wir auf ein schnelles Ergebnis, weil es zu
spät für die Betriebe wäre, wenn das Ergebnis erst im
Herbst käme.
Das Ziel des Landwirtschaftsgesetzes, der Landwirtschaft eine Teilhabe an der allgemeinen Einkommensentwicklung zu ermöglichen, wurde laut Agrarbericht
deutlich verfehlt. Nach einer Veröffentlichung des Statistischen Amtes der Europäischen Union betrug der Einkommensrückgang je Arbeitskraft in Deutschland bezogen auf das Kalenderjahr 2002 sogar 19,5 Prozent. Noch
schlimmer war die Situation nur noch in Dänemark. Angesichts solch einer negativen Einkommensentwicklung
kann sich Rot-Grün nicht mehr mit dem Marktgeschehen
herausreden. Vielmehr sind diese Ergebnisse größtenteils den von Rot-Grün gesetzten politischen Rahmenbedingungen zuzuschreiben. Die derzeitige Politik der rotgrünen Bundesregierung setzt jedoch alles daran, dass
die Ziele des Landwirtschaftsgesetzes noch stärker verfehlt werden.
Besonders betroffen macht die Tatsache, dass viele
Betriebe aufgrund des agrarpolitischen Kurses der rotgrünen Bundesregierung rat- und mutlos in die Zukunft
schauen müssen.
({5})
Das mindert auch die Investitionsbereitschaft der
Betriebe. Die Steigerung um 1,4 Prozent, die Sie,
Frau Kollegin Wolf, angesprochen haben, bezieht sich
auf eine ganz niedrige Basis. Im Jahr zuvor war die
Investitionsbereitschaft der deutschen Landwirtschaft
auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten angelangt.
({6})
Aus dem Agrarbericht geht ganz deutlich hervor - Sie
müssten ihn dazu lesen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen -, dass die bereinigte Quote der Eigenkapitalbildung der Betriebe gegenüber dem Vorjahr um
40 Prozent zurückgegangen ist. Diese Zahl sagt alles
über den Erfolg der rot-grünen Agrarpolitik aus.
({7})
Hauptursache für die fehlenden Investitionen ist einmal die Verunsicherung der Landwirte durch zahlreiche
nationale Alleingänge - sie wurden heute schon angesprochen - sowie die Vernachlässigung deutscher Agrarinteressen bei der EU-Agrarreform und den WTOVerhandlungen durch Rot-Grün. Die rot-grüne Bundesregierung hat in der EU auch im Agrarbereich durch
nationale Alleingänge einen deutschen Sonderweg beschritten und für unsere Landwirte große Wettbewerbsnachteile geschaffen. Statt die EU-Verordnungen eins zu
eins umzusetzen, werden den deutschen Bauern zusätzliche Lasten aufgebürdet und sie werden auf nationaler
Ebene benachteiligt.
Ein weiteres Beispiel für den investitionshemmenden
Kurs der rot-grünen Bundesregierung ist die beabsichtigte Novellierung des Baurechts. Ziel muss es sein,
dass auch weiterhin die bisherige Privilegierung der
Landwirtschaft im Außenbereich erhalten wird, sonst
kann dort nicht mehr gebaut werden.
({8})
Die von Rot-Grün verursachte schlechte Einkommenslage würde laut Landwirtschaftsgesetz Maßnahmen
zur Einkommensverbesserung erfordern. Statt sich gesetzeskonform zu verhalten, will Rot-Grün den Agrarhaushalt, der in den vergangenen Jahren bereits massive
Kürzungen verkraften musste, weiter stark kürzen und
hier - ganz unsozial - die Beiträge zu den Krankenversicherungen in einem Ausmaß erhöhen, das schlichtweg
unverantwortlich ist. Ich frage mich, wo da das soziale
Gewissen der Sozialdemokraten bleibt.
({9})
Die düstere Stimmung in der deutschen Landwirtschaft kann auch der von Frau Künast gepriesene Agrarkompromiss von letzter Woche nicht aufhellen. Ganz
im Gegenteil: Wenn das Luxemburger Ergebnis in Teilen
der veröffentlichten Meinungen positiv beurteilt wird,
meine sehr geehrten Damen und Herren, liegt das daran,
dass die Propagandakunst von Frau Künast bei weitem
ihre Kunst, sich bei Verhandlungen für deutsche Interessen einzusetzen, übertrifft.
({10})
Wie man die Interessen seines eigenen Landes und
seiner Bauern erfolgreich vertritt, hat wieder einmal
Frankreich gezeigt. Der französische Landwirtschaftsminister konnte seine Interessen durchsetzen. Er hat verhindert, dass eine Getreidepreissenkung beschlossen
wurde. Außerdem hat er eine Totalentkoppelung der Direktzahlungen verhindert. Ich sage Ihnen, warum er das
getan hat - darüber wurde bisher überhaupt noch nicht
diskutiert -: Frankreich wird nicht entkoppeln, damit die
Produktion zu 100 Prozent erhalten bleibt. Deutschland
wird, soweit das möglich ist - ich gehe davon aus, dass
Rot-Grün entsprechende Vorschläge machen wird -, entkoppeln. Deutschland wird dadurch massiv Marktanteile
verlieren, weil die deutschen Landwirte - insbesondere
in schlechten Lagen - zu einem großen Teil nicht mehr
in der Lage sein werden, zu diesen Bedingungen zu produzieren.
Inwiefern hat Frau Künast die Interessen der deutschen
Milcherzeuger vertreten? Mir liegt ein Presseartikel aus
Niederbayern vor. Ich kenne den Landwirt, der in diesem
Artikel die Auswirkungen der Maßnahmen auf seinen
Betrieb berechnet hat: Er hat in einen Milchkuhstall investiert, der eine Jahresproduktion von 400 000 Kilo
Milch ermöglicht. Er hat berechnet, dass ihm aufgrund
dieser Beschlüsse am Jahresende 14 200 Euro weniger
Milchgeld übrig bleiben.
({11})
In dem Artikel heißt es weiter:
Beim Verlassen der Stube schüttelt er den Kopf:
„Und woanders streiken sie wegen drei Stunden
mehr Freizeit.“
Daran sieht man, was unseren Bauern zugemutet
wird. Dieser Landwirt hat 15 000 Euro weniger Einkommen in der Tasche. Wenn seine Familie ein Jahreseinkommen von 30 000 Euro brutto hat, bedeutet das einen
Einkommensverlust in Höhe von 50 Prozent. Und das
stellt man noch als großen Erfolg dar!
Man sagt - das bedrückt mich besonders -, dass mit
diesen Beschlüssen die Voraussetzungen für die im
Herbst stattfindenden WTO-Verhandlungen geschaffen
wurden. Wir haben bereits 1999, bei den Debatten über
die Agenda 2000, vom Bundeskanzler und vom damaligen Minister Funke gehört, dass mit dieser Agenda die
Voraussetzungen für die WTO-Verhandlungen geschaffen worden seien. Warum muss man diese jetzt erneut
schaffen?
({12})
Die Begründung, dass jetzt die Voraussetzungen für
die WTO-Verhandlungen geschaffen worden seien, wird
sehr schnell ad absurdum geführt werden. Nach den im
Herbst stattfindenden WTO-Verhandlungen werden wir
sehr schnell - Peter Bleser hat das schon angesprochen über neue Einschnitte bei der Landwirtschaft diskutieren.
Frau Präsidentin, ich will meine Redezeit nicht überschreiten. Ich habe aber noch einen Vorschlag für die
Frau Ministerin - sie hat uns leider schon verlassen -:
Damit die Öffentlichkeit weniger getäuscht wird, wäre
es besser, wenn Frau Künast ihre Amtsbezeichnung
schnellstens in Bundesministerin für Verbrauchertäuschung, Bauernverunsicherung und Arbeitsplatzvernichtung ändern würde. Das würde ihre Arbeit treffender beschreiben.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Man muss schon sagen, die CDU/
CSU hat den absoluten Tunnelblick.
({0})
An Ihren Ausführungen sieht man sehr deutlich, dass die
Isolation der Agrarpolitiker in der CDU/CSU ganz besonders groß ist.
Die Luxemburger Beschlüsse bedeuten einen Systemwechsel, zu dem es keine Alternative gab. Wer
glaubt, wir hätten auf diese Reformschritte verzichten
können, der lebt in einer anderen Welt:
({1})
Mit diesen Beschlüssen wurde die Finanzierbarkeit
der weiteren Entwicklung der EU gewährleistet, wurden
die Voraussetzungen für die Osterweiterung der EU geschaffen und wurde der Weg für die WTO-Verhandlungen frei gemacht. Auch die CDU/CSU hat verfolgen
können, dass es vonseiten der Außen- und der Wirtschaftspolitik einigen Druck gegeben hat.
Die Akzeptanz der Agrarpolitik wird deutlich größer.
Das können Sie an der Presseresonanz, insbesondere bei
den Berichten, die sich mit der Bewertung der Reformen
befassen, erkennen.
Es gibt tatsächlich mehr Unterstützung für ländliche
Räume. Der Umweltschutz, der Tierschutz und die Kulturlandschaftspflege werden gestärkt. Der Weg hin zu
mehr Marktorientierung - das scheint Ihnen am schwersten zu fallen - wird beschritten. Herr Goldmann hat auf
die Widersprüchlichkeit in Ihren Äußerungen schon hingewiesen: Auf der einen Seite ist Ihr Antrag, bezogen
auf die WTO, absolut liberalistisch; auf der anderen
Seite propagieren Sie im Grunde eine massive Staatsorientierung. Wir alle wissen inzwischen, dass dieser
Weg nicht mehr gangbar ist. Auch Sie wissen ganz genau, dass die Subventionen an den Bauern vorbeigegangen sind. Die Gelder der EU wurden an die verarbeitende Industrie und an den Handel durchgereicht.
({2})
Die Wirtschaft ist dafür verantwortlich, diese Probleme
zu lösen und dafür zu sorgen, dass sich im Wege der
Marktorientierung vernünftige Erzeugerpreise entwickeln können. Dafür sind auch die Geschäftsführer in
den großen Molkereien verantwortlich.
({3})
Der Agrarbericht macht ganz deutlich, wie diese unbefriedigende Situation entstanden ist. Deswegen gibt es
auch die Reformen, die zum Teil schon im Jahr 2000
verabredet worden sind. Der Ministerin gebührt Dank;
denn es ist ein großer Vermittlungserfolg, dass die Beschlüsse zustande kommen konnten. Ohne die deutschfranzösische Absprache wäre dies nicht möglich gewesen.
Natürlich sind im Reformpaket schwierige Elemente
enthalten. Diese Elemente ergeben sich immer, wenn es
zum Schluss eine Art Teppichhandel gibt. Die mit der
Kopplung verbundene Bürokratie im Milchbereich ist
zwar nicht in unserem Sinne. Aber man muss sagen, dass
die Probleme im Milchbereich ihren Ursprung in früheren Beschlüssen und Marktentwicklungen haben. Wenn
die deutsche Milchwirtschaft heute 104 Prozent über
dem Bedarf produziert, dann ist klar, dass es keine vernünftige Erzeugerpreisentwicklung geben kann. Hätten
wir damals unter Minister Funke unsere Vorstellungen
zum Lieferrecht realisieren können, dann hätten wir
heute andere Verhandlungsgrundlagen und andere Möglichkeiten für eine Reduzierung der Menge.
Es gibt in den Reformbeschlüssen sehr wichtige Elemente, die in ihrer Wirkung auf die zukünftige Entwicklung beurteilt werden müssen. Dazu zählt auch das einheitliche Vorgehen der Länder. Wir brauchen keine
Wettbewerbsverzerrung zwischen den Bundesländern.
Wir möchten die heutigen Ungleichgewichte zwischen
Ackerbau und Grünland beseitigen sowie eine Stärkung
der Viehwirtschaft erreichen. Wir möchten möglichst
unbürokratische Ansätze aus den Vorgaben entwickeln
und die Probleme im Milchbereich lösen. Wir möchten
außerdem die Probleme im Bereich der Schafhaltung
und der Ziegenhaltung lösen.
({4})
Die Position der Landwirtschaft am Markt muss
gestärkt werden. Es gibt daher große Gemeinsamkeiten
zwischen dem Bauernverband, der Arbeitsgemeinschaft
bäuerliche Landwirtschaft und den Grünen. Es gibt auch
Differenzen und Kritikpunkte, die wir klar benennen. Es
ist aber falsch, dass Peter Bleser von „Feind“ und von
„Ideologie“ spricht. Ganz im Gegenteil: Wir instrumentalisieren die Bauern nicht, was besonders im
Wahlkampf - ich sage das an die Adresse von Herrn
Miller - geschieht. Wir möchten, dass es zu einer vernünftigen Entwicklung kommt.
Ich komme zum Schluss. Der heute schon im Rahmen
der steuerpolitischen Debatte angesprochene Dreiklang,
nämlich Strukturreformen, Vorziehen der Steuerreform
und Haushaltskonsolidierung, wird unserer Volkswirtschaft insgesamt zugute kommen. Die Landwirtschaft
wird ihren Beitrag leisten müssen. Sie von der CDU/
CSU und von der FDP fordern einen massiven Subventionsabbau. Wir möchten natürlich, dass dieser Subventionsabbau für die Landwirtschaft gerecht ausgeht. Wir
werden uns in den Beratungen damit auseinander setzen.
Danke schön.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Matthias Weisheit, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorhin geriet ich in Gefahr, bei der Rede von Peter
Bleser Beifall zu klatschen.
({0})
Das hatte aber nichts mit dem Inhalt seiner Rede zu tun.
Es war vielmehr so, dass ich mir gestern Abend überlegt
habe, was uns der Kollege heute erzählt. Meine Vermutung ist eingetroffen. Es war nämlich fast dieselbe Rede
wie die nach der Verabschiedung der Agenda 2000. Es
war inhaltlich der enge Schulterschluss mit dem, was der
Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Sonnleitner,
auf dem Bauerntag verkündet hat.
({1})
Was Sie sagen, ist natürlich Humbug. Wenn hier behauptet wird, es werde keine Politik für die Bauern gemacht, möchte ich zu bedenken geben, dass die Fehler,
mit denen wir heute in der europäischen Agrarpolitik zu
kämpfen haben, vor 20 Jahren gemacht worden sind, als
die Überschüsse auftauchten und kein Mensch den Mut
hatte, zu sagen: Hier muss es eine Marktorientierung geben und an dieser Stelle ist Schluss. Es war falsch, dass
immer weiter gezahlt wurde und dass der Staat die Produkte, die nicht zu verkaufen waren, aufkaufte.
({2})
- Die waren alle nicht mutig genug. Das gilt im Endeffekt auch für die Reform von 1990.
({3})
- Die Milchquote hat zwar eine Zeit lang geholfen. Aber
es ist heute schon einmal klargestellt worden, dass Mengenbegrenzungs- und Abschottungsstrategien in einer
offenen Welt nichts bringen. Heute haben wir die neuen
Beitrittsländer begrüßt - ({4})
- Peter Harry, reg dich nicht auf, bleib ganz ruhig!
({5})
- Nein, hör doch auf! Diese Diskussion müssen wir noch
einmal intensiver führen. Die Fehler liegen in der Vergangenheit.
Jetzt sind mutige Schritte notwendig. Ein sehr mutiger Schritt ist in Luxemburg gemacht worden. Herr
Staatsminister Miller aus dem Nachbarwahlkreis in
Memmingen, der hier erklärt hat, Frau Künast streue
Sand in die Augen, liegt damit etwas auf dem Niveau
des Bauernverbandspräsidenten, der sagte, Frau Künast
und Franz Fischler seien Märchenerzähler. An dieser
Stelle ist zu fragen, wer in Wirklichkeit die Märchen erzählt. Das sind doch diejenigen, die so tun, als könne
man in Zukunft weitermachen wie bisher und dieses falsche System erhalten.
({6})
Frau Künast und Herr Fischler und schon vorher auch
Karl-Heinz Funke haben nie einen Zweifel daran gelassen, in welche Richtung es gehen muss. Ihr wesentliches
Ziel war und ist Marktorientierung, also die Landwirtschaft marktfähig zu machen.
({7})
- Gemach, gemach!
Wenn ich Zwischentöne höre, aus denen hervorgeht,
dass alle Lebensmittelprodukte, die aus dem Ausland
kommen, von vornherein von schlechterer Qualität als
unsere seien, dann wird es natürlich ganz schlimm. Dass
die Produktionsstandards in den einzelnen Staaten unterschiedlich sind, lässt sich nicht verhindern. Das gibt es
übrigens bei allen Produkten; ich denke hier etwa an Autos. Auch die Umweltstandards sind wenn nicht in jedem
Betrieb, so in jedem Land andere. Deswegen sind ja
auch manche, die ausgewandert sind, wieder zurückgekommen.
Bei der Diskussion, die ich vom Bauerntag mitbekommen habe, gab es einen Lichtblick: In Zukunft muss
man sich mit der aufnehmenden Hand mit denen anlegen, die Handel betreiben, den Discountern, dem Lebensmitteleinzelhandel und den Milchaufkäufern. Die
Interessenvertreter des Bauernverbandes sollten sich mit
ihnen auseinander setzen - das ist der richtige Weg -,
anstatt dauernd auf die Politik einzuschlagen und von ihr
zu erwarten, dass sie das regelt, was in der Wirtschaft
geregelt werden muss.
Wir unterscheiden uns hier in der Grundtendenz massiv: Sie wollen, dass alles über den Staat zu regeln und
vom Staat zu leisten sei.
({8})
- Doch, ihr möchtet immer oben draufpacken und wollt,
dass der Staat das regelt, was in der Wirtschaft von den
Bauern selbst geregelt werden muss. Das kann auf Dauer
nicht vom Staat geregelt werden. Diese Ideen von einer
Planwirtschaft in der Landwirtschaft solltet ihr euch endlich abschminken.
({9})
Es bleibt noch eine Aussage zu den notwendigen
Kürzungen im Agrarbereich, die im kommenden
Haushalt anstehen, übrig: Es gibt für die Landwirtschaft
kein Grundrecht auf verbilligten Diesel; das sollte klar
sein. Darüber wird man sprechen müssen. Wenn ich
Subventionen abbauen will, dann gehört auch dieser
Punkt dazu.
({10})
- Europaweite Regelungen durchzusetzen habt schon ihr
nicht geschafft. Für uns ist es genauso schwierig, solche
Regelungen zu schaffen.
Ihr habt eben - das ist ganz einfach - Geld ausgegeben, das nicht vorhanden war,
({11})
um das auszugleichen, was ihr auf europäischer Ebene
nicht hinbekommen habt. So kann man angesichts der
derzeitigen Situation nicht mehr arbeiten, vielleicht unter anderem deshalb, weil damals zu viel Geld ausgegeben worden ist.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/405 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1325 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 15/1324, über den wir nach interfraktioneller Vereinbarung heute abstimmen.
({0})
Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Aufhebung des Gesetzes zur Modulation
von Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen
Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes
auf Drucksache 15/754. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1158, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des GAK-Gesetzes auf Drucksache 15/948. Der
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1158, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie
zuvor abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1025. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Annahme des Antrages der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/462 mit
dem Titel „EU-Agrarreform mutig angehen und ausgewogen gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/422 mit dem Titel „Mit der Reform der gemeinsamen
Agrarpolitik die Landwirtschaft und die ländlichen
Räume in der EU stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1025 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/435 mit dem Titel „Marktwirtschaftliches Modell einer flächengebundenen Kulturlandschaftsprämie verwirklichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung
der CDU/CSU angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1133: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/550 mit dem Titel „Für eine
nachhhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/534 mit dem Titel „WTO-Verhandlungen
- Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1232 und 15/1004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Maria
Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Achten Buches
Sozialgesetzbuch ({1})
- Drucksache 15/1114 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Aussprache nicht folgen wollen oder können, den Saal zu
verlassen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eines gleich vorweg: Man muss klar feststellen,
dass sich das Kinder- und Jugendhilfegesetz vom
1. Januar 1991 über all die Jahre grundsätzlich bewährt
hat. Jetzt geht es darum, die einzelnen Bereiche auf
Wirksamkeit und nach einer Kosten-Nutzen-Analyse zu
überprüfen. Im Übrigen ist dieser Vorgang in der freien
Wirtschaft selbstverständlich.
Ich will den weiteren Beratungen nicht vorgreifen.
Man soll ja nie das Hoffen aufgeben, dass die Koalitionsparteien bei einem Unionsgesetzentwurf mitmachen.
Aber wenn nicht, dann stellt sich die Frage, meine Damen und Herren von Rot-Grün, nach Ihrer grundsätzlichen Fähigkeit, notwendige Veränderungen vorzunehmen. Wenn Sie hier nicht mitmachen, dann haben Sie
weiter Glaubwürdigkeit im Hinblick auf Korrekturen in
unserem System verloren.
Wie oft haben wir von der Opposition in diesem Hohen Haus schon Anträge zur Verbesserung der kommunalen Finanzsituation eingebracht! Ihnen war das
immer egal. Wir von der Union sehen bei unserer Politik
über den Tellerrand des Bundestages hinaus, weil es
ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept und eine Verzahnung der verschiedenen Ebenen keine in sich schlüssige
Politik in unserem Lande gibt. Wie einige von Ihnen,
meine Damen und Herren von Rot-Grün, den Spagat
zwischen einem Mandat in einem Kommunalparlament
vor Ort und Ihrer kommunalfeindlichen Politik hier im
Deutschen Bundestag hinbekommen, das müssen Sie
mir noch einmal erklären.
({0})
Eines ist aber ganz klar: Dieser Gesetzentwurf ist kein
Kahlschlag in der Jugendhilfe. Es muss doch erlaubt
sein, Regelungen auf den Prüfstand zu stellen und bei
Fehlentwicklungen aus den Praxiserfahrungen heraus
Korrekturen vorzunehmen. Unser aller Wille muss doch
sein, Mitnahmeeffekte, Missbrauchsfälle und Ungerechtigkeiten zu vermeiden oder auszuschalten.
Uns geht es um eine gerechte und nachhaltige Kinderund Jugendhilfe für die Menschen, die sie wirklich brauchen. Wenn Sie gegen diesen Gesetzentwurf sind, dann
haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,
offenbar keinen Kontakt mehr zur kommunalen Basis.
({1})
Reden Sie doch einmal mit den Jugendämtern vor Ort,
den Bürgermeistern und Landräten! Sie werden schnell
über Fälle in Kenntnis gesetzt, über die man nur den
Kopf schütteln kann und die draußen im Land keiner
mehr versteht.
Eine Bitte für die Beratungen: Kommen Sie nicht mit
einer hoch emotionalisierten Sozialromantik und einer
absichtlichen Nichtbeachtung der Fakten und der Praxis!
Argumentieren Sie bitte nicht nur mit Ihrer Kritik an der
Kostendämpfung, sondern lassen Sie uns über die Zielrichtung und den Zweck einer gerechten und nachhaltigen Leistungsgewährung streiten.
Wir wollen zudem bürokratische Hemmnisse abbauen, Länderkompetenzen stärken und zurückholen
und durch Deregulierung auf diesem Gebiet eine Optimierung erreichen. Klar ist, meine Damen und Herren
von der Koalition, dass Sie als Zentralismusfans sich
hier immer etwas schwer tun. Das wissen wir. Aber jetzt
wäre die Zeit, einmal über den Schatten zu springen.
({2})
Ich möchte auf drei Regelungen in unserem Gesetzentwurf eingehen, erstens auf die Änderung des § 10.
Mit unserem Vorschlag werden die Zuständigkeitsstreitigkeiten und Vollzugsprobleme zwischen der Jugendund der Sozialhilfe entfallen. Durch die Neufassung der
Vorschrift wird erreicht, dass für die seelisch behinderten oder von einer solchen Behinderung bedrohten jungen Volljährigen vorrangig die Träger der Sozialhilfe,
nicht die der Jugendhilfe zuständig sind. Gerade bei dieser Zielgruppe ist es zum Teil besonders schwierig, eine
klare Trennlinie zwischen erzieherischem Bedarf und
Rehabilitation zu ziehen. Während die körperliche Behinderung klassifiziert ist, gibt es für den Begriff der
seelischen Behinderung keine rechtliche Definition,
sondern nur einen Katalog von Beispielfällen. Durch
diese Neuregelung gäbe es mehr Klarheit und mehr Vereinfachung, weil das Drohen einer seelischen Behinderung erstmals definiert ist. Jetzt gibt es trotz fachärztlicher Gutachten Unklarheiten, sodass letztlich
Verwaltungsgerichte entscheiden müssen.
Zweitens: § 35 a. Es gibt neben der enormen Kostensteigerung für die Kommunen in den letzten Jahren deutliche Mitnahmeeffekte sowie erhebliche Auslegungsprobleme aufgrund der ausgedehnten und unbestimmten
Reichweite des Leistungstatbestandes nach § 35 a. Der
Leistungstatbestand würde enger und klarer gefasst werden. Die ausgeuferten Hilfen zum Beispiel bei Lese- und
Rechtschreibschwäche oder auch bei Rechenschwäche
werden eingeschränkt. Meine Damen und Herren von
Rot-Grün, es gibt hier eine klar bessere Möglichkeit,
junge Menschen mit solchen Schwächen zu fördern,
nämlich eine gute Schulpolitik. Das müssen Sie nur Ihren zuständigen Länderministern erklären. Dass unionsgeführte Länder bei PISA besser abgeschnitten haben,
brauche ich hier nicht zu vertiefen; das wissen Sie.
({3})
Die Neufassung hat zur Folge, dass a) die wesentlich
seelische Behinderung zum Rechtsanspruch auf Einglie-
derungshilfe führt und dass b) ein einheitliches Recht für
alle jungen Menschen mit Behinderungen entsprechend
der Intention des SGB VIII geschaffen wird. Ziel ist eine
Gleichbehandlung und mehr Gerechtigkeit; deshalb
von unserer Seite der Vorschlag für eine Neuregelung.
Drittens: § 41. Junge Volljährige können bis zum
Ende des 27. Lebensjahres erstmals Jugendhilfeleistungen in Anspruch nehmen. Dies sollte die Ausnahme sein,
jedoch hat es sich in der Praxis zum Regelfall entwickelt. Durch die Neuregelung schaffen wir eine saubere
Abgrenzung, es werden Zuständigkeiten geklärt und
Reibungsverluste durch den hohen Verwaltungsaufwand
sowie Mitnahmeeffekte vermieden. Durch die Neufassung wird erreicht, dass bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfemaßnahmen fortgesetzt und die
Leistungen der Jugendhilfe spätestens mit Vollendung
des 21. Lebensjahres beendet werden. Notwendige Hilfe
zur Selbsthilfe kann jungen Volljährigen effektiver durch
moderne und qualifizierte Ansätze der Sozialhilfe, Wohnungsvermittlung oder Schuldnerberatung angeboten
werden.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem
Entwurf unter anderem eine praxisnahe Ausgestaltung
der Regelung des Datenschutzes, eine Optimierung der
Jugendhilfeplanung und eine Rückholung von Länderkompetenzen bei Struktur- und Organisationsfragen
durchsetzen. Diese Analyse des SGB VIII ist nach rund
einem Jahrzehnt erforderlich und notwendig. Die Korrekturen müssen aus unserer Sicht unbedingt gemacht
werden.
({4})
Meine Damen und Herren, der heutige Plenartag
wurde mit einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers eröffnet. Die Ankündigungen der letzten Tage und
Wochen bedeuten, dass endlich auch in den Reihen von
SPD und Grünen ein Hauch von Bewegung zu verspüren
ist. Es ist festzustellen: Die Bewegung ist noch sehr diffus und Sie wissen nicht, in welche Richtung Sie laufen
müssen. Sie scheuen sich selbst beim Reförmchenpaket
Agenda 2010, das ja den Namen deshalb hat, weil diese
Agenda spätestens am 20. 10. dieses Jahres schon wieder veraltet sein wird. Sie bringen diese Agenda 2010
nicht einmal ins Parlament ein, weil Sie sich der eigenen
Mehrheiten in diesem Hohen Haus nicht sicher sind.
Ihre Kommissionsstrategie verpufft auch bei der Gemeindefinanzreform.
({5})
Sie wollen ganz einfach nicht kapieren, dass die Kommunen für Investitionen die Luft zum Atmen und für
kommunale Entscheidungen Planungssicherheit brauchen.
({6})
In Sachen aktuelle Steuerreform haben Sie in Zukunft
auch nicht gerade Wohltaten für die Kommunen zu verteilen, Herr Kollege Schaaf. Jetzt rächt es sich, dass sich
die Gemeindefinanzreform so lange hinzieht und dass
Sie hier völlig verpennt haben.
Sie machen Politik nach dem Motto: Wasch mir den
Pelz, aber mach mich nicht nass. So werden Sie sich
nicht durchschlängeln können. Jetzt gilt es, Entscheidungen zu treffen. Der vorliegende Entwurf ist ein Beispiel
von vielen, bei denen Sie sich bewegen müssen.
Deutschland muss sich bewegen.
({7})
Wir von der Opposition geben Ihnen Orientierung; denn
diese haben Sie dringend nötig.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Christel Riemann-Hanewinckel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit dem Achten Buch Sozialgesetzbuch hat die Kinder- und Jugendhilfe im vereinten Deutschland Ende 1990/Anfang 1991 eine neue
Rechtsgrundlage erhalten. Das vorrangige Ziel dieses
Gesetzes war und ist die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz als zentraler Voraussetzung für die Einlösung des Rechtes eines jeden Kindes und Jugendlichen
auf Erziehung und Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
({0})
In den 13 Jahren der Geltung dieses Gesetzes ist es
mehrfach verbessert worden. Ich erinnere hier nur an die
Einführung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz zum 1. Januar 1996 und an die Verbesserung der
Beratungsangebote der Jugendhilfe im Zusammenhang
mit der Kindschaftsrechtsreform zum 1. Juli 1998.
Dieses Gesetz hat sich in seinen Zielsetzungen bewährt.
({1})
Darin sind sich die Bundesregierung, die fachliche Praxis und der Bundesrat einig. Wir haben damit die Verantwortung, die bewährte Zielsetzung dieses Gesetzes auch
in Zukunft im Auge zu behalten. Ich hoffe, Herr Kollege
Scheuer, dass wir vorrangig eine Sachdebatte führen
werden, die den Kindern und Jugendlichen dient.
({2})
Die Änderungsvorschläge, die der Bundesrat bzw. die
CDU/CSU-Fraktion zum SGB VIII unterbreiten, sollen
vor allem die Kostenentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe stoppen. In der Tat sind die öffentlichen Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland
von 14,3 Milliarden Euro im Jahr 1992 auf 19,2 Milliarden Euro im Jahr 2001 angestiegen.
Ein genauerer Blick in die Statistik zeigt, dass es im
Wesentlichen zwei Aufgabenfelder sind, die zu dieser
Steigerung geführt haben. Zum einen ist es die Umsetzung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz. Die Aufwendungen für diesen Bereich sind in den
alten Bundesländern in diesem Zeitraum um fast
3 Milliarden Euro gestiegen, während sie in den neuen
Bundesländern aufgrund der demographischen Entwicklung um 1 Milliarde Euro gesunken sind. Diese Ausgaben beruhen auf einem klaren Gesetzesauftrag des Deutschen
Bundestages im Zusammenhang mit der Neuordnung
des § 218 und damit dem Schutz des ungeborenen Lebens. Eltern sollen bessere Möglichkeiten haben, ihre Elternschaft und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren.
Die anderen Aufgaben, die im Wesentlichen für die
Kostenentwicklung verantwortlich sind, sind die Hilfen
zur Erziehung und Hilfen für junge Volljährige.
Wenn der Gesetzentwurf des Bundesrates nun darauf
abzielt, eine weitere Kostenbelastung der Kommunen zu
vermeiden oder wenigstens deutlich einzudämmen, so
ist diese Zielsetzung bezogen auf die Haushaltssituation der Kommunen gut zu verstehen und nachzuvollziehen. Zu fragen bleibt aber, welche Folgen mit den
vom Bundesrat beabsichtigten Leistungskürzungen für
junge Menschen und Familien verbunden sind. Bei steigenden Kosten in diesem Feld einfach die Leistungen zu
kürzen wäre etwa so, als wenn wir bei vermehrten Feuerwehreinsätzen das Wasser für die Feuerwehr rationieren würden.
({3})
Deshalb haben wir als Politikerinnen und Politiker die
Pflicht, uns mit den Ursachen für die steigende Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auseinander zu setzen. Wir müssen also weiterhin
die Rahmenbedingungen verändern, damit Eltern Partnerschaft, Elternschaft und ihre beruflichen Verpflichtungen unter den berühmten einen Hut bringen können.
Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist es deshalb, in guter Kooperation mit Verbänden und Initiativen
die Kompetenzen von Eltern zu stärken. Das ist möglich durch die Stärkung der sozialen Netzwerke und der
Infrastruktur der Familien vor Ort. Ein wichtiges Anliegen ist auf den Weg gebracht, der Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder, eng verbunden mit einer Qualitätsoffensive in Bildung und Erziehung.
Die Bundesregierung wird Länder und Gemeinden
beim Ausbau nicht nur der Ganztagsbetreuung, sondern
auch der Betreuung der unter dreijährigen Kinder unterstützen. Gerade Kindern aus Familien, die auf weniger
Ressourcen zurückgreifen können, wird auf diese Weise
bekanntlich die Chance auf gute und gleiche Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Die soziale Herkunft dieser Kinder darf nicht über ihre soziale Zukunft entscheiden.
({4})
Wenn der Bundesrat nun beabsichtigt, Leistungen der
Kinder- und Jugendhilfe an verschiedenen Stellen zu
kürzen bzw. einzuschränken, dann lehnt die Bundesregierung Gespräche darüber grundsätzlich nicht ab. Aber
es muss geprüft werden, ob durch die beabsichtigten
Einsparungen tatsächlich nicht die Folgekosten in anderen Bereichen erhöht werden und ob die Einsparungen
den Kindern und Jugendlichen und jungen Volljährigen,
die auf solche Leistungen angewiesen sind, nicht Chancen der Entwicklung und der Integration in unsere Gesellschaft nehmen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu
dem Gesetzentwurf des Bundesrates, die am 9. Juli im
Kabinett beschlossen werden wird, zu den einzelnen
Vorschlägen dezidiert Stellung genommen. Ich möchte
jetzt hier nur drei Themen kurz herausgreifen.
Erstens geht es um den § 35 a - das sind die Vorschläge zur Einschränkung des Rechtsanspruchs auf Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche -,
der wohl bei allen eine wichtige Rolle spielt. Auch die
Bundesregierung verfolgt die Entwicklung der Ausgaben nach diesem Paragraphen im SGB VIII mit Sorge.
Dabei fällt insbesondere die starke Inanspruchnahme
von Eingliederungshilfen wegen so genannter Teilleistungsstörungen wie Legasthenie oder Dyskalkulie auf.
In letzter Zeit wird auch Eingliederungshilfe für hoch
begabte Kinder gewährt.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scheuer?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich davon ausgehe, dass wir im Ausschuss genügend Zeit haben werden, um hierüber zu diskutieren.
Alle diese Beispiele weisen darauf hin - darin sind wir
uns fast einig -, dass vorrangig zuständige Institutionen
mit Hilfesystemen, allen voran die Schule, hier ihrer Primärverantwortung nicht in ausreichendem Maße gerecht
werden mit der Folge, dass die Kinder- und Jugendhilfe
als nachrangiges Leistungssystem hier in größerem Umfang eintreten muss. Es ist die vordringliche Aufgabe der
Länder, und zwar die aller Bundesländer - da müssen wir
uns nicht gegenseitig etwas vorrechnen -, im Rahmen
der Schule spezifische Förderprogramme für diese
Kinder vorzusehen.
({0})
Die Bundesregierung unterstützt durchaus die Absicht des Bundesrates, § 35 a auf seine Zielgenauigkeit
hin zu überprüfen. Allerdings haben wir zurzeit große
Zweifel daran, dass die angestrebten Ziele mit dem Änderungsvorschlag tatsächlich erreicht werden können.
Zweitens komme ich auf die beabsichtigte Änderung
von § 41 SGB VIII - Hilfe für junge Volljährige - zu
sprechen. Die Verbesserung der Hilfen für junge Volljährige war eines der zentralen Ziele der Neuordnung des
Kinder- und Jugendhilferechts im Jahre 1990/91.
Die individuelle Persönlichkeitsentwicklung richtet
sich nicht immer nach dem juristisch abstrakt bestimmten Zeitpunkt der Volljährigkeit. Das Erwachsenwerden
und der Prozess der Ablösung vom Elternhaus sind häufig mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Der
Übergang in Ausbildung und Arbeit gestaltet sich nicht
immer reibungslos.
In dieser sensiblen Phase werden für viele junge Menschen die Weichen dafür gestellt, ob sie gesellschaftlich
integriert werden oder nicht. Eine Reduzierung der Leistungen für junge Volljährige mag vordergründig die
kommunalen Kassen entlasten, tatsächlich aber würden
damit vielen jungen Menschen in dieser sensiblen Phase
wichtige Leistungen für ihre gesellschaftliche Integration vorenthalten. Die Folge wäre, dass sie den Einstieg
in Beruf und Gesellschaft nicht fänden, sondern ausstiegen. Deshalb ist auch dieser Änderungsvorschlag sehr
genau zu prüfen.
({1})
Drittens möchte ich auf den Vorschlag des Bundesrats
zu sprechen kommen, den Ländern durch einen so genannten Landesrechtsvorbehalt die Möglichkeit zu eröffnen, die Aufsicht über Tageseinrichtungen für Kinder
anderen Behörden als den Landesjugendämtern zuzuweisen. Die Aufgabenwahrnehmung soll auf die Kreisverwaltungsbehörden delegiert und die Aufsicht damit
dezentral angesiedelt werden. Die Aufsicht über Tageseinrichtungen hat eine wichtige Aufgabe zum Schutz
von Kindern. Sie gewährleistet nämlich Mindeststandards für das Wohl der dort betreuten Kinder und Jugendlichen. Eine Kommunalisierung dieser Aufsicht
würde bedeuten, dass Finanzverantwortung und Fachaufsicht in einer Hand liegen, wodurch die große Sorge
entstünde, dass eine so organisierte Aufsicht nicht in erster Linie dem Kindeswohl, sondern vorrangig dem Kassenwohl dient.
({2})
Meine Damen und Herren, der Staat kann nur das
Geld ausgeben, das ihm zur Verfügung steht. Das wissen
wir alle; das ist eine Binsenweisheit. Daher muss auch
die Kinder- und Jugendhilfe kostenbewusst agieren und
alle Möglichkeiten für eine noch bessere Effektivität und
Qualität der Aufgabenwahrnehmung ausschöpfen. Darüber werden wir in den Ausschüssen beraten. Ich hoffe,
dass wir für die Kinder und Jugendlichen gute und verantwortliche Entscheidungen treffen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ein gutes Beispiel für den Stellenwert der Jugendpolitik der damaligen liberal-konservativen Bundesregierung. Es hat sich insgesamt bewährt. Das haben
auch meine Vorredner schon festgestellt. Zwölf Jahre
nach dem In-Kraft-Treten ist eine kritische Überprüfung
jedoch sicherlich sinnvoll.
({0})
Das Ausgabevolumen in der Kinder- und Jugendhilfe von 19,2 Milliarden Euro im Jahre 2001 ist angesichts der Finanzmisere der öffentlichen Haushalte
durchaus kritisch zu analysieren. Generell kann Sparen
ein Beitrag zur Nachhaltigkeit einer politischen Maßnahme sein. Kostendämpfung in der Jugendhilfe kann
man als Maßnahme zur Sicherung des Fortbestandes der
Jugendhilfe verstehen. Das gilt natürlich insbesondere
für die finanziell besonders belasteten Kommunen. Wer
jedoch in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen, dass Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen
Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft sind
und dass falsches Sparen an dieser Stelle schlimme Folgen haben kann.
({1})
Wenn die Jugendarbeit den heute sehr großen Anforderungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganze
Gesellschaft die negativen - auch die finanziellen - Folgen. Außerdem ist im Blick zu behalten, dass die Kinder- und Jugendhilfe im Ausgabenblock des Sozialbudgets unseres Landes im Jahre 1998 ohnehin einen sehr
bescheidenen Anteil von 7 Prozent einnahm und dass
auch der Anteil an den Ausgaben der Kommunalhaushalte mit 9,4 Prozent keineswegs sehr hoch ist. Vor diesem Hintergrund sind Vorschläge für Leistungseinschränkungen in der Jugendhilfe stets kritisch zu prüfen.
Mit dem vorliegenden Entwurf werden vor allem
zwei Ziele verfolgt:
Erstens soll angesichts der katastrophalen Finanzlage
eine finanzielle Entlastung der Kommunen geschaffen
werden.
Zweitens sollen bürokratische Hemmnisse abgebaut
und die Effizienz in der Jugendhilfe durch Deregulierung gesteigert werden.
Beide Ziele teilt die FDP uneingeschränkt. Es wird
aber noch näher zu prüfen sein, ob erstens die in dem
Gesetzentwurf gewählten Maßnahmen uneingeschränkt
geeignet sind, diese Ziele zu erreichen, und ob zweitens
inakzeptable negative Wirkungen für die Kinder- und Jugendhilfe dabei auszuschließen sind.
({2})
Zu den einzelnen Vorschlägen in dem Gesetzentwurf
wird die FDP-Fraktion daher einen konstruktiven Dialog
führen. Wir halten zum Beispiel eine Angleichung der
Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte oder von
einer solchen Behinderung bedrohte junge Menschen an
die Regelungen, die für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche nach dem Sozialhilfegesetz bestehen, grundsätzlich für sinnvoll und diskussionswürdig. Die bisherige Unterscheidung zwischen
geistig und körperlich Behinderten auf der einen und
seelisch Behinderten auf der anderen Seite ist nicht ganz
überzeugend. Deshalb geht auch der Vorschlag, den Unterschied der Leistungszuständigkeit zwischen den Trägern der Jugend- und der Sozialhilfe aufzuheben, in eine
plausible Richtung.
Auch die Einschränkung der Leistungen für junge
Volljährige auf die Fälle, in denen Jugendhilfemaßnahmen vor der Volljährigkeit begonnen wurden, trägt zu einer Klärung der Zuständigkeiten bei. Grundsätzlich
sollte sich die Jugendhilfe auf die Förderung der betroffenen Jugendlichen beschränken; denn dadurch würden
auch hier Reibungsverluste durch Abgrenzungsprobleme
vermieden.
Die FDP begrüßt vor allem den Vorschlag zur Aufwertung der Jugendhilfeplanung im Hinblick auf einen
kontinuierlichen Prozess und einen höheren Gesamtstellenwert. Der Vorschlag, Kollege Scheuer, durch Landesrecht veränderte Zuständigkeiten für die Aufsicht über
Tageseinrichtungen für Kinder zu ermöglichen, kann einen positiven Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung
leisten. Allerdings darf es nicht zu Interessenkollisionen
auf der Ebene der örtlichen Träger der Jugendhilfe kommen.
Ebenso wird die FDP die Vorschläge zu Änderungen
im Datenschutz kritisch beleuchten. Auch hier müssen
wir zwar Kostendämpfung in Verwaltungsverfahren im
Blick haben, doch dürfen mit doppelter Zielsetzung anvertraute Daten nicht einfach aus dem Vertrauensschutz
herausgenommen werden.
({3})
Alles in allem ist die Diskussion um Reformen in der
Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll. Es wird jedoch eine
sehr genaue Prüfung der einzelnen Vorschläge notwendig sein. Daher spricht sich die FDP dafür aus, dass der
federführende Ausschuss zu dem Gesetzentwurf eine
Anhörung mit Experten durchführt, die uns eine Basis
für eine sachgerechte Entscheidung unter Berücksichtigung der Wirkungen für Kinder und Jugendliche sowie
für Länder und Kommunen gibt.
Ich danke.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir lehnen die von CDU/CSU geplanten Änderungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz ab,
({0})
und zwar nicht deshalb, Herr Scheuer, weil wir Zentralismusfans wären, sondern weil damit einschneidende
Leistungseinschränkungen im Bereich der Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche eintreten würden.
Der Antrag beinhaltet außerdem Verschlechterungen bei
den Hilfen für junge Volljährige.
({1})
Im Grunde genommen hat er nur ein einziges Ziel,
nämlich Einsparungen in Höhe von 150 bis 250 Millionen Euro. Das ist der einzige Grund, warum das KJHG
auf den Prüfstand soll - auf Kosten von Kindern und Jugendlichen. Ich bin der Ansicht: So geht das nicht.
({2})
Sie wollen § 10 KJHG dahin gehend ändern, dass
Leistungen für junge Volljährige in den Zuständigkeitsbereich des Bundessozialhilfegesetzes verschoben werden. Damit wäre der Vorrang der Jugendhilfe aufgehoben. Das wäre so ziemlich das Dümmste, was wir
machen könnten. Ganz deutlich: Es geht um Hilfemaßnahmen für junge Menschen, die körperlich behindert
oder von Behinderung bedroht sind. Es geht um Volljährige, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind. Gerade für diese jungen Menschen wäre es fatal, wenn Effekte begonnener
Hilfeleistungen in hohem Maß infrage gestellt würden.
Ich habe mit Interesse im Bundesratsprotokoll vom
23. Mai nachgelesen, dass Bayern der Auffassung ist - ich
zitiere -, die Jugendhilfe könne nicht auf Kosten der Substanz leben und man müsse „ausufernde“ Leistungen
vermeiden. Dazu ist zu sagen - der Kollege Haupt hat es
angesprochen -: Bei einem Wechsel von einem örtlichen
zu einem überörtlichen Träger werden keine nennenswerten Kosten eingespart, sondern nur verschoben. Gerade Bayern ist das Paradebeispiel für die Unsinnigkeit
einer Neuregelung wegen angeblicher Einspareffekte.
Das dortige Landesjugendamt weist in seiner Jugendhilfestatistik von 1999 nämlich nur 36 Fälle von Eingliederungshilfen für 18- bis 21-Jährige und ganze sechs Fälle
von Hilfen für junge Menschen von 21 bis 27 Jahren aus.
Sie wollen § 35 a KJHG neu fassen. In dem Gesetzentwurf ist vorgesehen, dass Kinder und Jugendliche
von einer wesentlichen Behinderung bedroht sein müssen. Dasselbe soll für die Fähigkeit zur Teilhabe an der
Gesellschaft gelten. Dabei wissen Sie genau: Die Widersinnigkeit der Unterscheidung in „wesentliche“ und „unwesentliche“ Behinderung ist hinlänglich und differenziert belegt.
Meine Damen und Herren von der Union, Ihre Vorschläge tragen außerdem zur Unschärfe und Verkomplizierung bei. Entscheidungen der Jugendämter würden
nämlich stärker als bisher im willkürlichen Ermessen getroffen werden müssen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Scheuer?
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. - Das bedeutet, dass die geplante Neuregelung zum Nachteil von betroffenen Kindern und Jugendlichen ausgelegt würde.
Da solche Ermessensentscheidungen aber juristisch sehr
fragwürdig sind, heißt das auch, es würde zu einer Zunahme von Klageverfahren kommen. Das vergeudet sozialpädagogische Ressourcen und verursacht in hohem
Maße Kosten.
Mit der geplanten Neuregelung des § 41 beabsichtigen Sie unter anderem ein generelles Maßnahmeende
mit Vollendung des 21. Lebensjahres. In der Begründung
heißt es, dass sich Jugendhilfeleistungen von der Ausnahme zum Regelfall entwickelt hätten. Ich weiß nicht,
wie Sie zu dieser Annahme kommen. Sie wird in keiner
Weise durch die statistischen Zahlen der Dortmunder
Zentralstelle für Kinder- und Jugendhilfe untermauert.
Was Ihre weiteren Vorschläge angeht, nämlich keine
Ersthilfe mehr ab dem 18. Lebensjahr und Weiterführung von Maßnahmen für über 18-Jährige nur noch als
Kannleistung, sage ich Ihnen: Sie gefährden bedarfsgerechte Hilfeleistung und Sie gefährden damit die berufliche und soziale Integration junger Menschen.
({0})
Ihnen würden nämlich wichtige Unterstützungsleistungen entzogen und sie würden im Zuständigkeitsgerangel - das ist wirklich ein ganz großes Manko - zwischen
Jugendhilfe und Sozialhilfe auf der Strecke bleiben.
({1})
Der von Ihnen geplante Kahlschlag
({2})
in der Jugendhilfe ist unter allen Umständen zu verhindern. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass junge
Menschen mit Benachteiligungen jede Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um sich positiv entwickeln
zu können. Wir alle müssen endlich zu der Einsicht kommen, dass das keine Ausgaben, sondern Investitionen
sind. Wenn wir die nicht tätigen, dann werden wir Kosten haben, und zwar doppelt und dreimal so hohe.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, dass
sowohl die Frau Staatssekretärin als auch die Kollegin
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen keine Zwischenfragen gestatten.
({0})
Das wundert deshalb, weil sie sonst immer gern bereit
sind, selber Fragen zu stellen und auch zu beantworten.
Frau Kollegin Dümpe-Krüger, das Wort „Kahlschlag“
habe ich vor einiger Zeit schon einmal gehört. Das ist ein
paar Jahre her und es ging um die Einführung des demographischen Faktors. Damals war es auch Ihre Seite, die
von einem Kahlschlag gesprochen hat. Heute führen Sie
in ähnlicher Form einen Faktor ein und Sie sprechen
nicht mehr von einem Kahlschlag.
({1})
Wenn wir am Ende der Diskussion über dieses Gesetz
sind, dann werden auch Sie das Wort Kahlschlag aus Ihrem Vokabular gestrichen haben.
({2})
Wir haben heute einen Gesetzentwurf auf der Tagesordnung, der sich mit der Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes beschäftigt. Man muss ganz deutlich
sagen: Es steht außer Frage, dass das KJHG sich bisher
im Großen und Ganzen bewährt hat und dass es richtig
war, seinerzeit diese Entscheidung zu treffen und das
KJHG auf den Weg zu bringen.
Aber die Praxiserfahrungen zeigen auch, dass es gilt,
sich einzelne Bereiche dieses Sozialleistungsgesetzes
anzuschauen und diese auf ihre Wirksamkeit und gerade
in der heutigen Zeit auf ihre Kosten-Nutzen-Relation zu
überprüfen.
Seit dem In-Kraft-Treten des KJHG am 1. Januar 1991
haben sich die Zahlen dramatisch verändert. 1992 - die
Frau Staatssekretärin hat es schon gesagt - betrugen die
Jugendhilfeausgaben 14,3 Milliarden Euro, 2001 19,2
Milliarden Euro. Das ist knapp ein Drittel mehr. Die
Klage der kommunalen Spitzenverbände ist deshalb
durchaus gerechtfertigt, wenn in ihr darauf hingewiesen
wird, dass ein durch ein Bundesgesetz geregelter Rechtsanspruch letztlich einzig und allein im Wirkungskreis
der Kommunen angesiedelt ist und diese die finanziellen
Belastungen haben. Wir sollten mit Blick auf das
Konnexitätsprinzip zukünftig darüber nachdenken, ob
wir nicht dahin kommen müssen, dass derjenige, der Gesetze erlässt, auch die finanziellen Mittel bereitstellen
muss.
({3})
- Das wird kommen. Ich bin gespannt, ob Sie zustimmen, wenn wir das Konnexitätsprinzip hier thematisieren werden.
Insofern sind der Wunsch und die Aufforderung der
Kommunen zu verstehen, das KJHG auf den Prüfstand
zu stellen. Ich sage hier ganz deutlich: Es darf keinen
Kahlschlag geben. Es darf auch keinen Qualitätsverlust
geben.
({4})
Dennoch gilt auch in der Jugendhilfe das Prinzip der
Nachhaltigkeit, das Ihnen bestens bekannt ist. Damit
auch die jungen Menschen von morgen eine Chance auf
positive Entwicklungsbedingungen haben, gilt es stärker
als bisher, die knapper werdenden Ressourcen ziel- und
zweckgerichtet einzusetzen.
In der Vergangenheit traten aber in der Praxis häufig
Abgrenzungs- und Zuständigkeitsprobleme zwischen
der Sozialhilfe und der Jugendhilfe auf, die zum Teil auf
die fehlende rechtliche Definition des Begriffs „seelisch
Behinderte“ zurückgehen. Dadurch wiesen sowohl die
Inanspruchnahme als auch die Bewilligung von Hilfen
nach § 35 a SGB VIII bei genauerer Analyse deutliche
regionale Disparitäten auf.
Ich habe an einer Veranstaltung kommunaler Träger
teilgenommen, Frau Dümpe-Krüger, die deutlich gemacht hat, dass es sehr wohl Disparitäten gibt. Das müssen wir ändern. Es geht nicht an, dass es vom Wohnort abhängt, ob junge Leute bestimmte Leistungen bekommen.
Anhand Ihrer Fallzahlen aus Bayern haben Sie das als unsinnig bezeichnet. Das Land Rheinland-Pfalz, das nicht
im Verdacht steht, der CDU nahe zu stehen, hat im Bundesrat erklärt: Das Land Rheinland-Pfalz unterstützt die
bayerische Initiative zur Änderung des § 35 a SGB VIII.
({5})
Was die Fallzahlen angeht, hat das Land RheinlandPfalz angegeben, dass knapp 25 Prozent des gesamten
Kostenanstiegs bei den Hilfen nach den §§ 27 bis 35 a
sowie nach § 41 SGB VIII auf die Hilfen für seelisch behinderte Kinder zurückgehen. Diese Angaben stammen,
wie gesagt, nicht aus Bayern, sondern aus RheinlandPfalz.
({6})
Nicht nur aus diesem Grunde fordern wir die Angleichung der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte an
die Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Aber auch dabei ist
selbstverständlich sicherzustellen - das ist mir besonders
wichtig -, dass seelisch behinderten jungen Menschen
über die Sozialhilfeträger die erforderlichen Leistungen
zukommen, die im Rahmen der rehabilitativen Maßnahmen zum Wohle der jungen Menschen erforderlich sind.
Aber dazu hat schon mein Kollege Scheuer ausführlich
Stellung genommen.
Ich möchte noch kurz auf einige andere Schwerpunkte des Gesetzentwurfs eingehen, zum Beispiel auf
den Datenschutz. Der Kollege Haupt hat schon darauf
hingewiesen. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen erfordert oft eine zeitnahe Weitergabe der Daten innerhalb
des Jugendamtes. Es geht nicht darum, Daten nach außen zu tragen. Es muss möglich sein, die Daten innerhalb des Jugendamtes zügig weiterzugeben. In diesem
Zusammenhang darf der Datenschutz nicht zu Reibungsverlusten führen bzw. die Zusammenarbeit innerhalb eines Jugendamtes erschweren. Daten, die mitgeteilt worden sind, um Sach- und Geldleistungen zu erhalten, sind
unserer Meinung nach „nicht anvertraut“ und können
deshalb weitergegeben werden. Ich denke, auch in diesem Bereich würde eine Änderung zu einer größeren
Rechtssicherheit und Verwaltungsvereinfachung führen.
Um den jungen Menschen und ihren Familien im Einzelfall rasch und zielgerichtet zu helfen, um Fehlinvestitionen zu vermeiden und Synergieeffekte zu nutzen,
brauchen wir ein kompatibles Netz an JugendhilfeleistunIngrid Fischbach
gen. Dazu muss - auch das hatten Sie schon angesprochen, Herr Haupt - die Jugendhilfeplanung regelmäßig
fortgeschrieben werden. Diese Notwendigkeit wollen wir
mit unserem Antrag gesetzlich klarstellen. Nur so können
die Kontinuität der Jugendhilfeplanung in der Praxis
verbessert, die Aktualität und Prozesshaftigkeit betont
und dem Prinzip der Nachhaltigkeit - wie bereits erwähnt - Rechnung getragen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Punkt
unseres Gesetzentwurfs ist die Rückholung von Länderkompetenzen in Struktur- und Ordnungsfragen. Bereits
seit 1998 wurden länder- und parteiübergreifend - auch
das zu Ihrer Information - Initiativen zur Änderung des
§ 85 SGB VIII bzw. zur Öffnungsklausel eingebracht,
zum Beispiel durch das Land Schleswig-Holstein. Noch
ist Schleswig-Holstein rot, aber auch daran kann sich etwas ändern.
Bisher sind für die Wahrnehmung der Aufgaben zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen
nach § 85 SGB VIII grundsätzlich die überörtlichen Träger der Jugendhilfe zuständig. Die beabsichtigte Neuregelung soll den Ländern die Möglichkeit geben, die
Aufsichtskompetenz für Kindertageseinrichtungen auf
die örtliche Ebene zu übertragen. Allerdings handelt es
sich hierbei um ein Kanngesetz, Frau Dümpe-Krüger.
Der Text der Bestimmung lautet:
Im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder kann
durch Landesrecht die Zuständigkeit abweichend
von Abs. 2 Nr. 2 bis 7 bestimmt werden.
Damit wird den Ländern eine eigene Gestaltungsmöglichkeit gegeben. Wer will, kann davon Gebrauch machen. Wer es nicht will, weil sich die alte Regelung bewährt hat, kann es lassen.
({7})
- Herr Schaaf, ich hoffe nicht, dass Ihr Zuruf, das nach
Kassenlage zu entscheiden, an die Adresse von Schleswig-Holstein gerichtet ist.
({8})
Als Letztes möchte ich auf die Anrechnung des Kindergeldes bei bestimmten Jugendhilfeleistungen eingehen. Es ist nachvollziehbar, dass insbesondere Eltern, die
selbst keine Aufwendungen für ihre Kinder haben, da sie
außerhäuslich in einer Einrichtung oder in Wohnformen
des betreuten Wohnens untergebracht sind und dort auch
betreut werden, nicht mehr das volle Kindergeld beziehen können. In diesen Fällen, wenn also das Jugendamt
den Lebensunterhalt des Kindes sicherstellt, muss es
möglich sein, das Kindergeld anzurechnen. Die bisherige Schlechterstellung der Eltern, die ihre Kinder selbst
betreuen, wird damit beseitigt.
Die gerade von mir dargestellten Änderungsvorschläge haben insgesamt den Sinn, in Zukunft Hilfen
und Finanzen ziel- und zweckgerichteter einsetzen zu
können. Wir alle sind uns sicherlich einig, dass unsere
jungen Menschen ein Recht auf kindgerechte und jugendgemäße Förderung haben. Dafür muss die Politik
die Rahmenbedingungen schaffen. Das bedeutet aber
auch, der jungen Generation nicht weitere Hypotheken
aufzubürden. Nicht nur die jungen Menschen von heute,
sondern auch die von morgen müssen eine Chance auf
gute Entwicklungsbedingungen haben.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von den Koalitionsfraktionen, in diesem Sinne
in die Beratungen zu gehen und mit uns gemeinsam etwas für die jetzige und die zukünftige Jugend zu tun.
Ich danke.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von
der SPD.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Frau
Fischbach, Sie schreiben in der Maiausgabe der Zeitschrift „Jugendpolitik“ des Deutschen Bundesjugendrings:
Investitionen in die junge Generation sind die erfolgreichsten und wirksamsten Zukunftsinvestitionen unserer Gesellschaft.
({0})
Diese Aussage ist richtig. Ich kann sie nur voll und ganz
unterstützen.
Umso überraschter war ich allerdings, meine Herren
und Damen von der Union, als ich Ihren Gesetzentwurf
- er und der Gesetzesantrag, den Bayern in den Bundesrat eingebracht hat, sind wortgleich - gelesen hatte; denn
von der richtigen Erkenntnis, dass wir dringend Investitionen in die junge Generation benötigen, haben Sie sich
offensichtlich bei der Formulierung Ihres Gesetzentwurfs nicht leiten lassen. Sie schlagen nämlich Leistungskürzungen für Kinder und Jugendliche vor. So wollen Sie - das behaupten Sie jedenfalls - die Kommunen
entlasten und für Nachhaltigkeit in der Jugendhilfe sorgen, Frau Fischbach. Wenn man aber genau hinschaut,
dann stellt man fest, dass Sie tatsächlich nur die Verlagerung von Kosten und - das ist entscheidend - die Verschlechterung von Bildungschancen erreichen. Mit
Zukunftspolitik und Nachhaltigkeit haben Ihre Vorschläge nichts zu tun.
({1})
Ich werde Ihnen das an zwei Punkten verdeutlichen,
und zwar an Ihren Vorschlägen zum Umgang mit behinderten Kindern und Jugendlichen und an Ihren Vorschlägen zur Zuständigkeit bei der Aufsicht über die Kindertagesstätten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie wollen die Leistungen für seelisch behinderte Kinder
und Jugendliche einschränken sowie jungen Volljährigen
mit seelischen Behinderungen den Anspruch auf Eingliederungshilfe gänzlich verwehren. Sie unterstellen
damit, dass die Leistungsgewährung für viele dieser jungen Menschen nicht nötig sei.
Wer sind denn diese jungen Menschen mit seelischen
Behinderungen, die Eingliederungshilfen bekommen?
Es sind sehr häufig Kinder und Jugendliche mit so genannten Teilleistungsschwächen, also Kinder und Jugendliche, die große Schwierigkeiten haben, richtig lesen, schreiben oder rechnen zu lernen. Davon können
viele betroffen sein, der Sohn des Arbeiters bei BMW
genauso wie die Tochter des Hochschulprofessors. Das
gebe ich natürlich zu. Aber ich weiß aus meiner Zeit als
Kommunalpolitikerin und Lehrerin, dass für diese
Gruppe Eingliederungshilfen sehr wohl notwendig sind;
denn aufgrund ihrer Lese- und Schreibschwäche werden
die Betroffenen vielfach ausgegrenzt. Herr Scheuer, es
hat nichts mit Sozialromantik zu tun, wenn wir erkennen, dass aus Kindern mit einfachen Lernschwächen Außenseiter der Gesellschaft mit psychischen Problemen
werden können.
({2})
Ich sage Ihnen: Das müsste allerdings nicht so sein.
Herr Scheuer, ich gebe Ihnen vollkommen Recht: Wenn
ein Kind Probleme hat, zu lernen, dann braucht es unsere
Unterstützung; das ist keine Frage. Vor allem müssten
die Schulen - das ist richtig - spezielle Förderangebote
machen, um diese Kinder an das Leistungsniveau ihrer
Mitschüler heranzuführen. So könnte Ausgrenzung unterbunden werden.
({3})
Weil die öffentliche Verantwortung an dieser konkreten Stelle fehlt, steht die Jugendhilfe in der Pflicht. So
wird die Jugendhilfe zum Auffangbecken für Aufgaben
gemacht, die eigentlich von anderen erledigt werden
müssten. Es ist also kein Wunder, dass die Kosten bei
der Jugendhilfe steigen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union,
die Jugendhilfe von diesen Kosten entlasten wollen, haben Sie in Ihren Bundesländern dazu die Möglichkeit.
Hierfür müssen Sie nicht das Kinder- und Jugendhilfegesetz ändern, sondern zum Beispiel von München oder
Wiesbaden aus für mehr Personal an den Schulen sorgen.
({4})
Herr Scheuer, das wäre eine echte Entlastung für die
Kommunen und eine wirkliche Hilfe für die jungen
Menschen.
({5})
Kommen wir nun zu der Gruppe der jungen Erwachsenen mit seelischen Behinderungen. Diesen jungen
Menschen wollen Sie den Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem KJHG gänzlich verwehren. Sie wollen
stattdessen, dass diese jungen Menschen Leistungen aus
der Sozialhilfe beziehen. Wie wollen Sie so Einsparungen für die Kommunen, die Sie so gerne wollen, erreichen, Herr Scheuer? Das ist doch nichts anderes als ein
Verschiebebahnhof.
Ganz abgesehen davon ist zu sagen, dass die Fallzahlen
sehr niedrig sind - in diesem Zusammenhang bin ich Frau
Dümpe-Krüger sehr dankbar - und der Einspareffekt damit bedeutungslos ist. In Bayern gab es ganze 42 Fälle.
Das zeigt, dass wir an der falschen Stelle sparen.
({6})
Ihre vermeintliche Sparpolitik wird die Kommunen
- das ist das Problem - teuer zu stehen kommen; denn
jeder Jugendliche, der heute nicht integriert wird, bekommt morgen keinen Ausbildungsplatz, hat übermorgen keine Arbeit und schließlich keinen eigenen Rentenanspruch. Dies verursacht deutlich höhere Kosten als ein
Eingliederungshilfeanspruch nach dem KJHG. Ihr Vorschlag hat mit Nachhaltigkeit überhaupt nichts zu tun.
({7})
Eine solche Politik können wir nicht zulassen. Herr
Scheuer, bei allem Verständnis für die kommunale Haushaltssituation werden wir sicherstellen, dass bedürftige
Kinder Hilfe erhalten. Es bringt uns nicht weiter, Probleme zu ignorieren, indem man sie als nicht wesentlich
bezeichnet, und Kosten einfach auf andere Träger abzuwälzen. Das führt uns in eine Sackgasse.
({8})
Eltern und Kinder in schwierigen Situationen brauchen oft professionelle Hilfe. Sie bekommen sie von den
örtlichen Jugendämtern. Das ist gut und das ist richtig
so. Das haben wir gewollt; dazu haben wir das KJHG
geschaffen. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir diesen
Familien die Hilfe, die sie brauchen, nehmen. Es bringt
uns aber sehr wohl weiter, wenn wir für die Familien
vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, damit sie gar
nicht erst in schwierige Situationen kommen.
Genau das tut die Bundesregierung: Sie setzt nicht auf
einfallslose Sparpolitik, sondern auf einen investierenden Sozialstaat.
({9})
Sie setzt auf den Ausbau der Infrastruktur für Kinder und
Familien. Unser Schlüsselwort heißt: Bildung, Bildung
und nochmals Bildung. Bildung ist nämlich ein Ticket
für die Zukunft.
({10})
Deshalb bauen wir die Betreuung und die Bildung von
Kindern in Kindertageseinrichtungen und in Ganztagsgrundschulen aus. Kinder früh groß und stark zu machen
heißt, sie zu stabilen Persönlichkeiten heranzubilden, die
später möglichst keine Eingliederungshilfe nach dem
KJHG benötigen. Chancengleichheit in der Bildung
bedeutet aber auch, dass wir - möglichst bundesweit einheitliche Standards entwickeln müssen.
Damit komme ich zu einem weiteren Ihrer Vorschläge: Lockerung von Zuständigkeiten. Sie wollen
erreichen, dass Kindertageseinrichtungen künftig nicht
mehr vom überörtlichen Träger, sondern von der Kommune selbst beaufsichtigt werden. Das heißt, die Kommune, die einen Kindergarten unterhält, könnte künftig
selbst die Qualität dieser Einrichtung kontrollieren. Ich
denke, das ist absurd, vor allen Dingen dann, wenn Standards eingehalten werden sollen.
({11})
Herr Scheuer, Sie fordern, die Kommunen zu entlasten.
Aber dadurch tun Sie es in diesem Bereich nicht: Den
Kommunen werden mehr Kosten aufgebürdet, weil sie
diese Aufsicht durchführen müssen. Also gilt auch hier:
Ziel nicht erreicht!
Wir brauchen keine Leistungskürzungen, Verschiebebahnhöfe und Verschlechterung der Bildungschancen,
wie Sie sie vorschlagen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die § 1 des Kinderjugendhilfegesetzes entsprechen, nämlich Rahmenbedingungen, die gewährleisten,
dass jeder einzelne junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Persönlichkeitsentwicklung erhält.
Die Bundesregierung schafft diese Rahmenbedingungen mit ihren Investitionen in Bildung und Betreuung.
Liebe Frau Fischbach, das sind diejenigen Zukunftsinvestitionen, die Sie selbst in der am Anfang meiner Rede
erwähnten Zeitschrift fordern.
({12})
Wir haben die Weichen richtig gestellt. Ich lade Sie herzlich ein, gemeinsam mit uns auf diesem richtigen Weg
weiterzugehen.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/1114 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. -
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 e auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften
- Drucksache 15/350 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten
- Drucksache 15/29 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 15/1311 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Norbert Röttgen
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexual-
straftäter auf den Prüfstand stellen
- Drucksachen 15/31, 15/1311 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Dr. Norbert Röttgen
Jerzy Montag
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des
Einsatzes der DNA-Analyse bei Straftaten mit
sexuellem Hintergrund
- Drucksache 15/410 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 15/778 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche
Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 15/899 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Bei Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung geht es nicht nur um so spektakuläre
Fälle wie den Fall des kleinen Pascal im Saarland, der
vor einiger Zeit durch die Presse ging. Es geht um viele
Tausend Übergriffe. Im Jahr 1999 waren es rund
20 000 Kinder, die die Polizei als Opfer von sexueller
Gewalt registrierte. Das aber - das wissen wir alle - ist
nur die Spitze des Eisbergs. Im Bereich des sexuellen
Missbrauchs von Kindern ist eine Dunkelziffer von
rund 70 Prozent zu verzeichnen. Kinderschutzexperten
nehmen sogar an, dass die Dunkelziffer noch deutlich
höher ist.
Trotz aller Fortschritte, die wir gemacht haben, ist es
immer noch eine traurige Realität, dass Kinder über Monate und Jahre hinweg gequält werden, ohne dass sich
jemand für sie einsetzt oder ihnen beisteht. Dagegen
sollten wir etwas tun. Das war die einhellige Meinung in
dem Gesetzgebungsverfahren. Nur: Darüber, wie dieses
Tun aussehen soll, sind die Meinungen doch sehr deutlich auseinander gegangen. Im Ergebnis muss ich konstatieren, dass es keine Einigkeit gibt.
Ich hatte mit der Fraktion der SPD und der Fraktion
der Grünen vorgeschlagen, eine Anzeigepflicht einzuführen. Dieser Vorschlag hat sich als der wohl umstrittenste Punkt in dem ganzen Gesetzgebungsverfahren
überhaupt erwiesen. Sie wissen, dass wir uns nun entschlossen haben, auf die Anzeigepflicht zu verzichten.
Das beruht zum Teil auf der Kritik der Opferverbände.
Sie haben bei der Anhörung im Bundesministerium der
Justiz verschiedene Punkte dafür angeführt, dass sie die
Anzeigepflicht nicht mittragen können. Im Ergebnis war
dafür vor allem die Unsicherheit über ihren eigenen
Rechtsstatus in dem Verfahren maßgebend. Insoweit
kann ich einen Teil der Argumente nachvollziehen. In
dem anderen Teil geht es mehr um Fragen des Glaubens
daran, dass eine bestimmte Entwicklung so oder so ihren
Lauf nimmt. Das ist einer empirischen Prüfung nicht so
recht zugänglich. Betroffene Jugendliche haben uns gesagt, dass sie eine Anzeigepflicht für richtig halten und
dafür eintreten würden. Man sieht also: Die Wahrnehmungen können auch in dem Bereich sehr unterschiedlich sein.
Ich kann Ihnen versprechen: Ich werde das Thema
nicht fallen lassen. Ich meine nach wie vor, dass die Anzeigepflicht ein richtiger Weg ist, und werde weiter die
Diskussion zu verschiedenen Punkten führen, um zu sehen, ob sich vielleicht in der öffentlichen Wahrnehmung
und insbesondere in der Wahrnehmung der Verbände etwas ändert. Wir sind uns aber einig darüber, dass es keinen Sinn macht, ein Gesetz zu schaffen, wenn die Betroffenen von vornherein sagen, dass sie damit nicht
arbeiten wollen und nicht arbeiten werden. Deshalb haben wir darauf verzichtet.
Die Frage ist nur, was es für Alternativen gibt. Das
Bedauerliche ist, dass ich weder aus diesem Haus noch
von den Opferverbänden Alternativen gehört habe, die
man umsetzen sollte, um zu einer Verbesserung der Situation zu kommen. Deswegen sollten wir an diesem
Thema gemeinsam weiterarbeiten.
Wir schlagen jetzt zunächst vor, eine Öffentlichkeitskampagne unter dem Motto „Hinschauen statt Wegschauen“ zu starten.
({0})
Dieses Prinzip wollten wir ja auch mit der Anzeigepflicht stärken. Das ist das, was wirklich wichtig ist. Das
Bundesministerium der Justiz wird gemeinsam mit dem
Bundesfamilienministerium Maßnahmen dazu unternehmen. Wir werden uns auch gemeinsam an Bund und
Länder wenden, um zu erreichen, dass in den Schulen insofern für mehr Sensibilität geworben wird. Da gibt es
offenbar noch Erlasse, die Lehrer daran hindern, in einzelnen Bereichen tätig zu werden. Wir werden dafür
werben, dass ehrenamtliche Mitarbeiter besser geschult
werden und vor allen Dingen auch im Bereich von Justiz
und Polizei die Fortbildung weiter ausgebaut wird.
Wir haben von den Opferverbänden gelernt, dass die
Fortbildung gerade bei der Polizei, was den Umgang
mit den Opfern angeht, schon relativ weit gediehen ist,
während bei der Justiz sehr häufig mangelnde Sensibilität beklagt wird.
({1})
Das Thema werde ich mit den Kolleginnen und Kollegen
im Rahmen der Justizministerkonferenz besprechen. Wir
werden auch in den Fortbildungseinrichtungen, die der
Bund mitfinanziert, spezielle Angebote ins Programm
aufnehmen, weil, wie ich meine, diesem Missstand ein
Ende gemacht werden muss. Dazu gehört auch, dass die
Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern, Opferschutzverbänden, Polizei, Gerichten und Staatsanwaltschaften
verbessert werden muss. Wir werden hierzu eine Tagung
veranstalten, auf der wir die jeweils Verantwortlichen
zusammenbringen und gemeinsam überlegen, wo es am
meisten hakt.
Lassen Sie mich noch zu einem weiteren Punkt kommen, der uns sehr wichtig war. Es geht um den Schutz
behinderter Menschen vor sexuellen Übergriffen.
Dieses Thema vermisste man im Entwurf des von der
Opposition eingebrachten Gesetzes zunächst völlig. Im
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sind wir uns auch
da ein wenig näher gekommen. Beim sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen haben wir nun
den Gleichlauf zum strukturell verwandten sexuellen
Missbrauch bei Kindern hergestellt und die Strafrahmen
entsprechend angepasst. Das heißt, es gibt in Zukunft
keine minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs
widerstandsunfähiger Personen mehr.
({2})
Damit wird es auch grundsätzlich keine Geldstrafen für
solche Taten mehr geben, sondern nur noch Freiheitsstrafen von mindestens sechs Monaten. Besonders
schwere Fälle werden mit einer Mindestfreiheitsstrafe
von einem Jahr belegt.
Mit einer anderen Regelung erfüllen wir eine schon
seit Jahren vorgebrachte Forderung der Behindertenverbände. Künftig wird der Beischlaf mit einem widerstandsunfähigen Menschen ebenso wie die Vergewaltigung bestraft, nämlich mit mindestens zwei Jahren
Freiheitsstrafe.
Wir haben bei sehr vielen Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen oder unter Ausnutzung eines spezifischen Machtverhältnisses dafür gesorgt, dass die Verjährung ebenso
wie bei anderen Fällen ruht. Das heißt, künftig wird die
Verjährungsfrist für diese Taten bis zu dem Zeitpunkt, zu
dem das Opfer 18 Jahre alt wird, nicht laufen. Dann tritt
vielmehr die normale Verjährungsfrist ein. Das heißt,
jede Frau und jeder Mann kann, wenn er oder sie erwachsen ist und sich die schweren Folgen von Vergewaltigungen im Kindesalter, wie es häufig der Fall ist, dann
einstellen, noch den Täter zur Anzeige bringen und
Klage einreichen.
({3})
Zugunsten der Opfer haben wir auch geregelt, dass
Opfern, die ihre eigenen Interessen nicht hinreichend
wahrnehmen können, ein kostenloser Opferanwalt beigeordnet wird; sie erhalten insofern eine Unterstützung.
({4})
Zwei weitere Punkte möchte ich gerne noch erwähnen:
Zum einen war es uns ein Anliegen, die Verbreitung
von Kinderpornographie über das Internet wirksamer zu bekämpfen. Sie wissen, dass sich diese über dieses Medium sehr schnell verbreitet. Wir mussten feststellen, dass die diesbezüglichen Strafandrohungen, die
wir im Gesetzbuch hatten, bei weitem nicht mehr ausreichen. Der Handel in den so genannten geschlossenen
Benutzergruppen im Internet war von unserem Strafgesetzbuch nämlich nicht umfasst. Deswegen bedurfte es
einer Änderung. Es können jetzt Freiheitsstrafen von bis
zu fünf Jahren verhängt werden, um dem Handel gerade
in diesen geschlossenen Benutzergruppen Einhalt zu bieten.
({5})
Wir versprechen uns davon nicht nur eine Reduzierung
der Nachfrage nach solchen Bildern, sondern darüber hinaus vor allen Dingen eine Reduzierung der Produktion.
Man muss sich ja eines klar machen: Jedem Bild, das im
Internet gehandelt wird, ist ja vorher ein Missbrauch des
Kindes oder eine Gewalttat vorausgegangen; das ist ja
nötig, damit so etwas fotografiert werden kann. Darauf
zielen wir auch eigentlich hin.
Schließlich - das ist der nächste Punkt - werden wir
mit der vorgeschlagenen Möglichkeit der vorbehaltenden Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden,
die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, eine
Gesetzeslücke schließen. Die Gerichte können sich
künftig auch bei den 18- bis 21-Jährigen, die nach Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden, die Entscheidung über eine Sicherungsverwahrung bis zur Entlassung des Täters vorbehalten. Das setzt voraus, dass der
Heranwachsende schwere Straftaten mit erheblicher
Schädigung seiner Opfer begangen hat und entsprechende Taten von ihm auch in Zukunft zu befürchten
sind.
Mit dieser Regelung tragen wir zum einen dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit Rechnung; wir berücksichtigen zum anderen aber auch - darauf möchte
ich gerne besonders hinweisen - die Besonderheiten dieser Altersgruppe und die besondere Verantwortung des
Staates zur Förderung einer positiven Entwicklung von
jungen Menschen, selbst wenn sie schwere Straftaten begangen haben.
Der Vorschlag eröffnet nicht pauschal - wie der Entwurf der CDU/CSU-Fraktion es vorsieht - die Vorschriften des allgemeinen Strafrechts zur Sicherungsverwahrung, sondern es wird eine spezifische Lösung für diese
Altersgruppe geschaffen, die wir auch angesichts der
wissenschaftlichen Diskussion für erforderlich halten.
Ich meine, dass der Gesetzentwurf mit den vom
Rechtsausschuss empfohlenen Änderungen eine ausgewogene und in sich geschlossene Lösung für die anstehenden Fragen des Sexualstrafrechts darstellt. Die Kinder- und Opferschutzverbände haben das im Übrigen
auch zum Ausdruck gebracht: Sie haben gesagt, dass sie
die vorgesehenen Regelungen sehr gut fänden, dass sie
sich einzig und allein an der Anzeigepflicht gestört hätten.
Die Opposition fordere ich auf: Nehmen Sie den Opferschutz ernst und stimmen Sie mit uns für dieses Gesetz.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen
aus - ({0})
- Von der CDU/CSU-Fraktion. - Ich hätte hinzufügen
können: Aus dem Rhein-Sieg-Kreis.
Es ist eine besondere Ehre, dass mein schöner Wahlkreis hier Erwähnung findet.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts erfordert von uns als Gesetzgeber eine Gratwanderung. Geboten ist sowohl konsequente Entschlossenheit
als auch die Wahrung des rechtsstaatlichen Maßes.
({0})
Emotionale Anteilnahme an Einzelschicksalen ist legitim. Die politische Instrumentalisierung solcher Einzelschicksale, wie wir sie leider erlebt haben, ist nicht legitim, sie ist abstoßend.
({1})
Sagen Sie das Ihrem Bundeskanzler.
Die Erwartung der Bevölkerung an den Staat ist wahrscheinlich höher, als sie der auf Rationalität und Rechtsstaatlichkeit verpflichtete und dadurch begrenzte Staat
erfüllen kann. Rechtsstaatlichkeit und grundrechtlicher
Schutz der Bürger bilden aber nicht nur eine Grenze des
staatlichen Handelns, sondern auch ein Handlungsgebot,
wenn und weil es um den Schutz von Schwachen, den
Schutz von Kindern, von Behinderten und von Frauen,
gegen sexuelle Gewalt geht. Darum ist das rechtsstaatlich Mögliche zugleich das rechtsstaatlich Nötige.
Die Koalition, unter Einschluss des Bundeskanzlers,
ist in den letzten Monaten bei dieser Gratwanderung ein
paar Mal abgerutscht. Frau Zypries, auch Sie haben bei
Ihrem ersten wichtigen Gesetzgebungsvorhaben nicht sicher geführt. Nicht nur der Weg, sondern auch das Ergebnis ist nicht überzeugend. Das möchte ich anhand
von fünf konkreten Punkten nachweisen:
Erstens. Frau Zypries, am Anfang stand Ihre Forderung, sexuellen Missbrauch nicht mehr nur als Vergehen, sondern als Verbrechen zu verfolgen. In einem Interview der „taz“ vom 20. November 2002 haben Sie
dazu erklärt:
Diese Heraufstufung soll deutlich machen, dass der
Kindesmissbrauch zu den abscheulichsten Straftaten überhaupt gehört.
Ich zitiere weiter:
Es geht darum, der Gesellschaft ein Signal zu geben, dass auch die nicht ganz schweren Fälle besonders verwerflich sind … Aber selbstverständlich
müssen die angedrohten Strafen angemessen sein.
Deshalb muss es die Möglichkeit geben, minder
schwere Fälle auch mit weniger als einem Jahr Haft
zu bestrafen.
Diese Aussage der Bundesjustizministerin, die sie
während ihrer Amtszeit machte, entspricht exakt der Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Stimmen Sie
ihr also zu. In der letzten Runde haben Sie bekannt, das
sei ein Irrtum gewesen.
({2})
Vielleicht war es nicht nur ein Irrtum; denn der rechtspolitische Sprecher der Grünen hatte in Reaktion auf
Ihre Ankündigungen sofort erklärt, Frau Zypries habe
dabei nur „für sich“ gesprochen. Politisch hat er leider
Recht behalten, auch wenn er in der Sache nicht Recht
hatte.
Unsere erste Forderung ist es, Kindesmissbrauch
nicht so zu behandeln wie Ladendiebstahl und Sachbeschädigung, sondern deutlich zu machen, dass Kindesmissbrauch die schwerste Einstufung als abscheuliches
Verbrechen verdient.
({3})
Dieses gesellschaftspolitische Signal müssen wir geben.
Alle Ihre Kampagnen nützen nichts, wenn der Gesetzgeber selber diese Wertung nicht ernsthaft ausspricht.
({4})
- Dann richtet sich dieser Vorwurf der reinen Polemik an
Ihre Bundesjustizministerin, die unsere Position vertreten hat.
({5})
Zweitens. „Wer bei Kindesmissbrauch wegschaut,
muss ins Gefängnis.“ Diese Überschrift der „Bild am
Sonntag“ drückte das nunmehr wichtigste Anliegen der
Frau Justizministerin aus. Sie haben für diese Auffassung gekämpft, aber Sie sind mit dieser Auffassung alleine geblieben. Ich finde es bemerkenswert, mit welcher
Offenheit Sie heute eingeräumt haben, dass Sie sich
nicht haben durchsetzen können und dass Sie diesen Gesetzentwurf, der gleich beschlossen werden wird, in diesem für Sie entscheidenden Punkt nicht für richtig halten. Das ist auch das Eingeständnis mangelnder
politischer Durchsetzungsfähigkeit.
({6})
Sie sind die Bundesjustizministerin und nicht nur irgendein Mitglied des Bundestages, das sich auf diese Art
äußern kann.
Sie sind, wie gesagt, mit Ihrer Auffassung allein geblieben. In der Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses haben alle Ihrer Auffassung widersprochen.
Die Rechtspraktiker haben gesagt, diese Vorschrift, die
die Justizministerin immer noch für richtig hält, sei nicht
praktikabel. Die Rechtswissenschaftler haben davon gesprochen, dass sie überflüssig sei. Die Vertreter der Opferverbände waren der Meinung, sie sei kontraproduktiv.
Ich zitiere den Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kinderschutzzentren, der in einem
Gespräche mit „Spiegel Online“ sagte: Wenn das Gesetz
geworden wäre, hätte das einen Sprengsatz in das gesamte System der Jugendhilfe gelegt. - Sie haben Ihre
Meinung nicht geändert und Sie haben sich nicht durchsetzen können.
Für den Verzicht auf Ihr wichtigstes Anliegen wurde Ihnen von den Grünen eine kleine Konzession bei der Sicherungsverwahrung gemacht. Die Sicherungsverwahrung
soll nun bei Heranwachsenden, auf die Erwachsenenstrafrecht angewendet wird, möglich sein. Diese Forderung - das ist auch eine Forderung von uns - hatten Sie
immer vehement abgelehnt, weil das Ganze nach Ihrer
Meinung verfassungsrechtlich nicht möglich sei.
({7})
Ihre Bereitschaft, auf Kommando in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, ist schon beachtlich, meine
Damen und Herren von der SPD und von den Grünen.
Wir halten das, was Sie vorschlagen, immer noch nicht
für ausreichend. Es bleibt noch eine Lücke.
Wir halten es im Hinblick auf die potenziellen Opfer
von Sexualverbrechen für nicht hinnehmbar - ja für
skandalös -, dass der Staat Verbrecher, die wahrscheinlich erneut ein Gewaltverbrechen begehen werden, auf
freien Fuß setzt. Diese gegenwärtige Rechtslage wollen
Sie nicht ändern. Natürlich ist das ein großer Eingriff in
die Freiheit des Straftäters. Darum sind hohe Anforderungen an das Verfahren zu stellen.
({8})
Aber wenn unabhängige Gutachter zu dem Ergebnis
kommen, dass die Wiederholungswahrscheinlichkeit
hoch ist, dann muss die Abwägung zugunsten des Opfers
und nicht zugunsten des Täters ausfallen. Es ist ein
rechtsstaatliches Gebot, Opfer zu schützen.
({9})
Wir können dem Bürger doch nicht vermitteln, dass
der Staat nicht anders handeln kann und den Täter auf
freien Fuß setzen muss, obwohl dieser Mensch mit hoher
Wahrscheinlichkeit erneut ein Verbrechen begehen wird.
Erst wenn er erneut ein Verbrechen begeht, sind Sie bereit, ihn in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Das ist
zynisch und absurd. Diese Verweigerung des Schutzes
von Opfern und der Bevölkerung ist keinem Menschen
zu erklären.
Sie haben zu der nachträglichen Sicherungsverwahrung unterschiedliche Auffassungen. Die Grünen haben
dazu noch im Ausschuss erklärt, sie sei aus materiellverfassungsrechtlichen Gründen nicht haltbar. Herr
Stünker hat ebenfalls erhebliche verfassungsrechtliche
Bedenken geäußert und davon gesprochen, dass die
nachträgliche Sicherungsverwahrung hoch problematisch sei.
({10})
In der Sitzung des Rechtsausschusses war Ihr Ministerium auf mehrere Nachfragen des Kollegen Krings
nicht in der Lage, zu sagen, was denn Ihre verfassungsrechtliche Auffassung zu diesem Punkt ist. Der Parlamentarische Staatssekretär hat sich herausgewunden.
({11})
Sie, Frau Zypries, halten materiell-verfassungsrechtlich
eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für zulässig;
denn Sie haben die Länder aufgefordert, eine entsprechende Vorschrift zu erlassen. Das ist erneut ein offener
Dissens! Was gilt eigentlich in der Koalition auf dem
Gebiet der Rechtspolitik?
({12})
Das bestätigt unsere These von der strukturellen Handlungsunfähigkeit der Koalition auf diesem Gebiet.
({13})
Sie können aus politischen Gründen nicht handeln und
das Notwendige tun.
Ich komme zum genetischen Fingerabdruck. Was
spricht eigentlich dagegen, dieses präventive Instrument
konsequent auszunutzen und den genetischen Fingerabdruck auf alle Straftäter anzuwenden, die eine Straftat
mit sexuellem Hintergrund begangen haben? Das würde
dem Straftäter klar machen, dass er bei der nächsten
Straftat erwischt wird. Sie setzen aus ideologischen
Gründen dieses Instrument nicht ein.
Der letzte Punkt betrifft den sexuellen Missbrauch
von Widerstandsunfähigen. Die betroffenen Behinderten halten es für diskriminierend, dass das Ausnutzen ihrer Widerstandsunfähigkeit nicht in gleicher Weise bestraft wird wie das Brechen des Widerstandes.
({14})
- Nein, das ist falsch. - Der sexuelle Missbrauch von
Widerstandsunfähigen ist kein Verbrechen. Unsere Forderung ist, diese Tat als Verbrechen einzustufen. Warum
weigern Sie sich, dieser Forderung nachzugeben?
Ich zitiere den früheren sozialdemokratischen Kollegen -
Nein, Herr Röttgen, Ihre Redezeit ist schon erheblich
überschritten.
Ich ende mit dem Zitat des früheren sozialdemokratischen Abgeordneten Antretter, der mir in einem Schreiben mitgeteilt hat:
Sowohl Frau Ministerin Däubler-Gmelin als auch
Frau Ministerin Zypries hatten uns zugesagt, sich
für eine entsprechende Änderung des StGB einzusetzen.
Gemeint ist damit die Einstufung des sexuellen Missbrauchs von Widerstandsunfähigen als Verbrechen.
Auch diese Ankündigung ist nicht realisiert worden. Sie
halten die Forderungen nicht ein, die Sie an sich selbst
gestellt haben.
Dieses Gesetz ist eine Kette eingestandener Irrtümer,
erzwungener Korrekturen und fauler Kompromisse. Darum findet es unsere Zustimmung nicht. Wir haben einen
überlegenen Entwurf eingebracht. Wenn Sie ihm zustimmen, tun Sie etwas für den Opferschutz.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was lange
währt, wird endlich gut. So könnte man das Gesetzgebungsverfahren zum Sexualstrafrecht beschreiben. Anhörungen, produktiver Streit und die Lehre, dass das,
was gut gemeint ist, manchmal doch nicht gut ist, haben
jetzt zu einem guten Ergebnis geführt: Der Schutz der
Opfer wird verbessert, die Strafwürdigkeit einer Tat wird
im Strafmaß deutlich gemacht und Strafbarkeitslücken
werden geschlossen.
Leider gehören alle Formen von sexualisierter Gewalt
zu den alltäglichen Verbrechen in Deutschland. Sie wissen, dass viele dieser Straftaten die Opfer an Körper und
Seele verletzen und ihre Persönlichkeit tiefgreifend verändern. Die Zahlen der Kriminalstatistik belegen es:
Die sexualisierte Gewalt an Kindern hat im letzten Jahr
um 6 Prozent zugenommen. Ich benutze den Begriff „sexualisierte Gewalt“ bewusst; denn das Wort „Missbrauch von Kindern“ impliziert, dass es auch einen Gebrauch von Kindern gibt. Dies werden wohl alle in
diesem Hause ablehnen.
({0})
Auch bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung hat
es 2002 eine Erhöhung um bis zu 14 Prozent gegeben.
Ich sehe darin eine erhöhte Bereitschaft, diese Delikte
anzuzeigen. Dies ist sicherlich auch ein Erfolg des 2002
in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetzes, das Frauen in
die Rechtsposition versetzt, sich effektiver gegen Gewalttäter zur Wehr zu setzen. Das ist praktizierter Opferschutz.
Auch mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den
dazu eingebrachten Änderungen verfolgen wir das Ziel,
die Opfer zu stärken. Unsere Leitlinie - sozusagen der
rot-grüne Faden der Reform - ist die Verbesserung des
Opferschutzes. Dabei gilt unser Augenmerk ganz besonders den Kindern und den Menschen mit Behinderung.
Unser Bemühen, zusammen mit der Bundesregierung
dieses Gesetz in allen Punkten optimal auf die Erfordernisse der Praxis abzustimmen, ist auch daran zu erkennen, dass noch im Gesetzgebungsverfahren wesentliche
Verbesserungen erreicht wurden. Den Rat der Fachexpertinnen und -experten aus den Verbänden und der gerichtlichen Praxis haben wir aufgenommen. Herr Kollege Röttgen, es gibt hier überhaupt keinen Anlass für
Häme gegenüber der Ministerin. Für mich ist es ein Zeichen von Stärke, die eigene Position zu verändern, wenn
man damit etwas Besseres bewirken kann.
({1})
Dafür danke ich Ihnen, Frau Ministerin, ausdrücklich.
Meine Damen und Herren, ich gehe zunächst auf die
Änderungen zum Schutz von Kindern vor sexualisierter
Gewalt ein. Gerade diese verabscheuungswürdigen Verbrechen erregen in der Öffentlichkeit immer wieder besonderes Aufsehen. Hier haben wir Strafbarkeitslücken
geschlossen. Bisher waren teilweise schwer wiegende
Gefährdungen von Kindern straffrei, zum Beispiel das
Anbieten von Kindern im Internet. Der Gesetzentwurf
reagiert auf die neuen Entwicklungen bei der Internetkriminalität. So können in Zukunft auch Täter verfolgt werden, die Kinder im Internet anbieten.
Daneben haben wir auch den Strafrahmen für Kinderpornographie angehoben; denn Kinderpornographie
ist für uns keine Bagatelle.
({2})
Ebenso wird es keine bloße Geldstrafe mehr bei sexuellem Missbrauch geben. Stattdessen wird die Mindeststrafe eine Freiheitsstrafe von drei Monaten sein. Dies
macht den Unrechtsgehalt der Tat deutlicher.
Die Möglichkeiten, einen minder schweren Fall anzunehmen, haben wir stark eingeschränkt. Bei sexuellen
Übergriffen empfinden die Opfer die Bezeichnung „minder schwer“ oft als Verharmlosung. Daher wurde diese
Möglichkeit auch nur für den Einzelfall beibehalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
die von Ihnen vorgeschlagene Mindeststrafe von einem
Jahr für jede Form von sexuellem Missbrauch von Kindern ist eine Mogelpackung.
({3})
Auf der einen Seite suggerieren Sie, es handle sich in jedem Fall um einen Verbrechenstatbestand, selbst wenn
es um eine einvernehmliche sexuelle Handlung zwischen einer 13-Jährigen und einem 15-Jährigen geht.
Auf der anderen Seite wollen Sie den minder schweren
Fall beibehalten, der sogar mit einer Geldstrafe geahndet
werden kann.
Frau Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Dies hat sich mit meinem letzten Satz erledigt. - Herr
Röttgen, Sie sollten warten, bis ich fertig bin. Dann stimmen auch Sie mir zu.
({0})
Menschen mit Behinderungen sind besonders gefährdet, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Auch
sie erhalten endlich den gleichen strafrechtlichen Schutz
wie alle anderen.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Herr Kauder möchte
eine Zwischenfrage stellen. Sie genehmigen das?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Kauder.
Frau Kollegin, weil es zum zweiten Mal falsch gesagt
wird, erlaube ich mir eine Zwischenfrage: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass nach § 47 Abs. 2
StGB Freiheitsstrafen von bis zu einem halben Jahr auch
als Geldstrafen verhängt werden können und dass Ihre
Behauptung, die Mindestfreiheitsstrafe von drei Monaten lasse eine Geldstrafe nicht zu, demnach falsch ist?
Diese Mindeststrafe haben wir auf drei Monate festgesetzt. Natürlich besteht die Möglichkeit, in jedem einzelnen Falle eine Geldstrafe zu verhängen; das wissen
wir. Trotzdem ist es wichtig, ein Signal zu geben, dass
ein sexualisierter Missbrauch nicht mit Geld entkräftet
werden kann. Für die Opfer, die Unrecht erlitten haben,
ist es sehr wichtig, zu wissen, dass der Täter möglicherweise auch ins Gefängnis gehen muss. - Vielen Dank.
({0})
Ich möchte jetzt auf die widerstandsunfähigen Personen und damit auch gleich auf die Position der CDU/
CSU eingehen: Auch hier haben Sie gefordert, dass der
Grundtatbestand der Vergewaltigung mit einem Jahr
Strafe belegt wird. Wir haben gesagt: Wir belassen die
jetzige Regelung. Aber die Mindeststrafe haben wir gestrichen. Insofern ist das zwar rechtsdogmatisch etwas
anderes; aber wir kommen zu dem gleichen Ergebnis.
Wir haben mit den Behindertenverbänden sehr intensiv
darüber gesprochen. Die Vergewaltigung einer widerstandsunfähigen Person ist mit zwei Jahren Freiheitsstrafe belegt. In anderen Fällen wird § 177 StGB in Anrechnung gebracht; das wissen Sie genauso wie ich.
({1})
Wir haben weitere Verbesserungen zum Schutz von
Menschen mit Behinderungen erreicht. Ich nenne hier
nur die zwingende Nebenklagevertretung bei Menschen
mit einer geistigen Behinderung, die Gleichstellung im
ambulanten und stationären Bereich und die Strafbarkeit
des sexuellen Missbrauchs in der Therapie bei körperlich
Behinderten, die bisher davon ausgenommen wurden.
Aber alle gesetzlichen Verbesserungen - so nötig sie
sind - haben eine Grenze und die heißt: Strafanzeige.
Denn es lässt sich nur das verfolgen, was vorher zur Anzeige gebracht wurde. Deshalb muss es in unser aller Interesse sein, die Anzeigenbereitschaft zu erhöhen. Die
Absicht, Menschen verstärkt zum Hinschauen zu bewegen, anstatt wegzuschauen, hat die Praxis begrüßt. Ernst
zu nehmende Bedenken haben dazu geführt, die geplante
Anzeigenpflicht wieder zurückzunehmen. Missbrauchsopfer brauchen Zeit. Sie brauchen unterstützende Hilfe
durch Vertrauenspersonen, bevor sie im Strafverfahren
aussagen können. Eine Pflicht zur Anzeige hätte für die
Opfer die Hemmschwelle angehoben, sich jemandem
anzuvertrauen. Erfahrungsgemäß ist das betroffene Kind
dann zu keinerlei Aussage mehr bereit. Möglicherweise
bliebe es dem sexuellen Missbrauch länger ausgeliefert.
Wir brauchen präventive Maßnahmen, Aufklärungsaktionen und ein möglichst breites Angebot an Beratungsmöglichkeiten. Ich stimme mit dem FDP-Antrag
überein. Es tut gut, dass die FDP ihr Rechtsstaatsprofil
schärfen möchte. Denn der Ausfall von Frau Pieper,
Menschen für etwas zu bestrafen, was andere getan haben, hatte mit Rechtsstaatlichkeit und liberalem Denken
nicht sehr viel zu tun.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, wir sind in vielen Punkten auf Sie zugegangen. Wir haben die Möglichkeit der DNA-Analyse auf
alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erweitert, im Einzelfall bei einer geringfügigen Tat. Aber
das ist Ihnen noch immer nicht genug: Sie fordern eine
umfassende Erweiterung auf andere Delikte. Für uns ist
das rechtsstaatlich äußerst bedenklich. Da machen wir
nicht mit.
({2})
Ebenso sieht es mit der Sicherungsverwahrung für
Heranwachsende aus. Sie wollen eine nachträgliche
Anordnung bis zum Tage vor der Entlassung, ohne dass
das Gericht das im Urteil vorgesehen hat. Das halten wir
für verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Stattdessen haben wir uns für einen eng eingegrenzten Bereich entschieden, zum Beispiel wenn jemand zu einer Strafe von
fünf Jahren verurteilt wurde und der Vollzug der Strafe
grundsätzlich in einer sozialtherapeutischen Anstalt erfolgt.
Im vorliegenden Gesetzentwurf und im Entschließungsantrag wird der Fokus auf die strafrechtlichen Aspekte gelegt. Allerdings kann das beste Strafrecht nicht
ersetzen, was wir alle zu verantworten haben: eine sensible und aufmerksame Gesellschaft, die jede Form von
sexualisierter Gewalt ächtet und den Opfern Schutz und
Hilfe bietet.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir bei der Beratung der verschiedenen
Gesetzesinitiativen zum Sexualstrafrecht von einer anfänglich sehr emotionalen Diskussion doch zu einer der
Sache angemessenen Debatte gefunden haben.
({0})
Damit können wir der Ernsthaftigkeit des Themas gerecht werden.
Die Tatsache, dass man nach den umfassenden Reformen der vergangenen Legislaturperioden erneut zu einer
Reform dieses Themenkomplexes kommt, zeigt, wie
sehr dieser Bereich in den Blickpunkt der Öffentlichkeit
gerückt ist. Trotzdem dürfen wir nicht der Versuchung
erliegen, die notwendige juristische Feinarbeit hinter
plakativen Aktionismus zurücktreten zu lassen.
({1})
Hier sind gerade die Aufstufung des Strafrahmens bei
sexuellem Missbrauch von Kindern vom Vergehen zum
Verbrechen sowie der Wegfall des minder schweren Falles zu nennen. Dies mag den Eindruck der Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers bei der Bevölkerung hervorrufen, hat aber den gegenteiligen Effekt, da absehbar ist,
dass in der Praxis die Neigung zur Einstellung von Bagatellfällen steigen wird. Zu Recht sollte aber hier die
Strafbarkeitsschwelle schon früh einsetzen, um einen
möglichst hohen Schutz von Opfern gerade in Anfangsbereichen solcher Straftaten zu erreichen. Im Übrigen
kann man durch die Verschiebung von Strafrahmen keinen Richter veranlassen, diese Strafrahmen tatsächlich
auszuschöpfen. Hier ist die Regierung ebenso wie die
CDU/CSU-Fraktion schlichtweg auf dem Holzweg.
Zu begrüßen sind die Maßnahmen gegen die Verbreitung der Kinderpornographie. Hier sind die Vorschläge
von Rot-Grün geeignet, dem offenbar bestehenden
Handlungsbedarf gerecht zu werden. Der eigenständige
Straftatbestand macht deutlich, dass wir das besondere
Unrecht dieser Handlungen würdigen und der durch die
Entwicklung gerade des Internets stark veränderten Verbreitungssituation ernsthaft Rechnung tragen.
({2})
Ein weiteres Problemfeld, das in der Diskussion immer wieder angeschnitten wurde, ist die nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden. Hier ist grundsätzlich zu sagen, dass die
FDP-Fraktion die Einführung dieses Instruments für
sinnvoll erachtet. Aus rechtsstaatlicher Sicht sind wir
aber für die Vorbehaltslösung, das heißt das Vorsehen
der nachträglichen Anordnung der Sicherheitsverwahrung durch das erkennende Gericht.
In diesem Zusammenhang sind wir auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts gespannt, die uns hoffentlich bei der Frage, ob diese Materie im Rahmen der Gefahrenabwehr bei den Ländern oder als strafprozessuale
Frage in der Kompetenz des Bundes zu regeln ist, Klärung bringen wird. Aus meiner Sicht wäre hier eine bundesweit einheitliche Regelung sehr zu begrüßen, um im
gesamten Bundesgebiet einheitliche Sicherheitsstandards zu gewährleisten. Im Moment haben wir da sozusagen einen Flickenteppich, je nach Regelung auf Landesebene. Das ist letztendlich nicht wirklich überzeugend.
({3})
Die Einführung der DNA-Analyse unabhängig von
der erheblichen Bedeutung der Anlasstat greift eine Forderung auf, die auch aus der FDP stammt. Sie stellt auf
die mittlerweile wissenschaftlich fundierte Erkenntnis
ab, dass ein erheblicher Anteil der zunächst als Exhibitionisten auffällig gewordenen Menschen später Täter
eines gewalttätigen Sexualdelikts wird. Gerade hier kann
nach meiner Auffassung in dem uns allen am Herzen liegenden präventiven Bereich eine Menge getan werden.
Hier liegt auch der Schwachpunkt der vorliegenden
Entwürfe der Regierungskoalition und der CDU/CSUFraktion. Um die Zahl der Missbrauchsfälle zu verringern, ist ein integriertes Maßnahmenpaket erforderlich,
das sich nicht in der Änderung von Strafgesetzen erschöpft. Vielmehr muss die psychosoziale Versorgung
von missbrauchten Kindern - ich greife sehr gerne Ihre
Aussage, Frau Schewe-Gerigk, auf, dass es sich hier um
Opfer von sexualisierter Gewalt handelt, und stelle den
Begriff „Missbrauch“ infrage; das Thema ist sexuelle
Gewalt an Kindern - gewährleistet und die Präventionsarbeit gestärkt werden. Daran müssen wir arbeiten.
Auch eine weitere Stärkung von Opferrechten ist
ein Schritt in die richtige Richtung. Hierzu gehören eine
weitere Stärkung der Nebenklage, die Bereitstellung eines Opferanwalts sowie die Beteiligung des Opfers im
Fall einer Einstellung des Verfahrens, um ihm auch dann
noch eine echte Mitwirkungsmöglichkeit zu geben.
({4})
Vor Gericht muss vermieden werden, dass die Kinder
ein zweites Mal zu Opfern werden.
({5})
Dazu ist es auch erforderlich, besser auf die bereits geschaffenen zahlreichen Möglichkeiten zu ihrem Schutz
im Verfahren hinzuweisen, sodass diese stärker in Anspruch genommen werden. Dies kann auch mit einer gesetzlichen Hinweispflicht auf das Opferentschädigungsgesetz geschehen.
Im präventiven Bereich muss eine verstärkte Aufklärung mit einer erhöhten Sensibilität gegenüber den Anzeichen und Phänomenen der sexualisierten Gewalt an
Kindern einher gehen. Gerade die Stärkung des Selbstbewusstseins der Kinder ist der beste Schutz vor Übergriffen. Es ist für Kinder sehr wichtig zu erleben, dass
ihnen geglaubt wird. Wenn ihre Geschichte aufgrund
falsch verstandener Loyalität mit dem Täter oder dessen
Umfeld, welches häufig dasselbe ist wie das des Kindes,
mit einem Achselzucken abgetan wird, ist es nur noch
leichter Opfer. Es handelt sich hier ganz häufig um Beziehungsstraftaten und selten um die in der Presse wahrgenommenen spektakulären Fälle.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass die
Nichtanzeige von Sexualstraftaten nicht in den Katalog
des § 138 StGB aufgenommen worden ist. Dies würde
zu einer unerträglichen Belastung für potenzielle Zeugen
führen, die dann immer in einer Grauzone stehen und
sich letztendlich häufig auch dem Vorwurf der falschen
Verdächtigung ausgesetzt sehen würden.
({6})
Für sehr wichtig, Frau Ministerin, halte ich Ihren Vorschlag, der mich sehr positiv überrascht hat, die Fortbildung für Richter und Staatsanwälte zu forcieren. Hier
besteht ein großer Nachholbedarf und die Justiz, auch
die Justiz der Länder, muss sich sehr ernsthaft darum
kümmern. Nach meiner Meinung müssen das auch die
Familienrichter - es betrifft nicht nur die Strafjustiz, sondern auch die Ziviljustiz, soweit sie mit dieser Problematik zivilrechtlich befasst ist - tun.
({7})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Den Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, die Therapiemöglichkeiten für Täter einer Evaluierung zu unterziehen und ein Forschungsprojekt in diesem Feld durchführen zu lassen, halten wir für sehr richtig und notwendig.
Sie sehen, meine Damen und Herren, dass alle von
der FDP-Fraktion gemachten Vorschläge im Entschließungsantrag der FDP-Fraktion ihren Niederschlag finden. Wir hoffen, dass damit tatsächlich dem Thema der
Sexualstraftaten fachlich sehr viel besser entsprochen
wird und letztendlich auch für die Opfer eine Entwicklung eintritt, die ihnen hilft und ihnen die Möglichkeit
bietet, sich wieder in der Gesellschaft zurechtzufinden,
nachdem sie Schweres erlebt haben.
Danke schön.
({0})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin
Renate Gradistanac von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sexueller
Missbrauch von Kindern - ich bleibe jetzt bei dem eingeführten Begriff, obwohl ich sehr viel mehr Sympathie
für den Begriff sexualisierte Gewalt habe, den Sie verwendet haben -, Kinderpornographie, Kinderhandel und
Kinderprostitution sind abscheuliche Straftaten und
müssen konsequent verfolgt und bestraft werden. Diesem Ziel kommen wir mit der heutigen Reform des Sexualstrafrechts ein großes Stück näher.
({0})
Gleichzeitig ist die Reform ein wichtiger Beitrag zur
Umsetzung des nationalen Aktionsplans zum Schutz
von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt
und Ausbeutung. Daran möchte ich ausdrücklich erinnern.
({1})
Der Aktionsplan geht zurück auf den Zweiten Weltkongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von
Kindern, der im Dezember 2001 in Yokohama stattgefunden hat. Wir durften mitreisen; Herr Haupt, Sie wissen bestimmt noch - ich erinnere mich besonders gut daran -, dass sich die teilnehmenden Staaten verpflichtet
haben, anhand einer nationalen Gesamtstrategie die sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umfassend
zu bekämpfen.
Der Aktionsplan bündelt ressortübergreifend einen
Katalog von Maßnahmen, die vier Ziele verfolgen: den
strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen
weiterzuentwickeln - darüber diskutieren wir heute -,
Prävention und Opferschutz zu stärken, internationale
Strafverfolgung und Zusammenarbeit sicherzustellen
und die Vernetzung der Hilfs- und Beratungsangebote zu
fördern. Frau Ministerin, Sie haben vorhin einige Beispiele dazu genannt.
Die Reform des Sexualstrafrechts ist eine - ich
möchte herausstellen: eine - zentrale Maßnahme bei der
Umsetzung dieser Ziele. Dabei geht es uns im Gegensatz
zur CDU/CSU-Fraktion nicht um eine grundsätzliche
Verschärfung. Wir wollen Lücken im Gesetz schließen
und eine differenzierte Anpassung vornehmen.
({2})
Das will ich an einigen Beispielen verdeutlichen:
Der strafrechtliche Schutz von Kindern gegen sexuellen Missbrauch wird durch neue Straftatbestände verbessert. So macht sich bei einfachem sexuellen Missbrauch
ohne Körperkontakt künftig auch strafbar, wer durch
Schriften auf ein Kind einwirkt, wer ein Kind zu sexuellem Missbrauch anbietet und wer sich mit einem anderen
zum sexuellen Missbrauch eines Kindes verabredet. Damit wird eine große Lücke im Strafgesetz geschlossen.
({3})
In diesem Zusammenhang möchte ich herausstellen,
dass wir das so genannte elterliche Erzieherprivileg einschränken. Dadurch wollen wir die Verantwortung der
Eltern und Sorgeberechtigten, die zum Beispiel pornographische Schriften zugänglich machen, einfordern.
Die Strafbarkeit der Darstellung von Gewalttätigkeit
wird um das Merkmal „menschenähnliche Wesen“ erweitert. Gemeint sind künstliche Wesen, Außerirdische
oder auch gezeichnete Menschen. Die schockierenden
Ereignisse von Erfurt erfordern die verbesserte Bekämpfung von Gewaltdarstellungen.
Die heutige Reform umfasst auch den wichtigen Bereich des Kinderhandels. Mündel und Pfleglinge werden
in den Kreis der geschützten Personen aufgenommen.
Die Schutzaltersgrenze wird von 14 auf 18 Jahre angehoben.
Wichtig und richtig ist, dass Nebenklageberechtigte,
die aufgrund ihrer psychischen und physischen Situation
nicht in der Lage sind, ihre Interessen ausreichend wahrzunehmen, einen so genannten Opferanwalt bestellen
können.
Im EU-Jahr für Menschen mit Behinderungen - das
wurde heute schon verschiedene Male angesprochen freut es mich, dass wir die Forderungen der Behindertenverbände aufnehmen und erfüllen konnten.
({4})
Angeglichen werden die Strafrahmen des sexuellen
Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen an die
Strafrahmen der sexuellen Nötigung bzw. der Vergewaltigung nach § 177 StGB.
Die Einführung einer Anzeigepflicht bzw. Mitteilungspflicht ist nicht weiter verfolgt worden. Wir haben
die Bedenken der Praktikerinnen und Praktiker ernst genommen; ich bedanke mich an dieser Stelle für die konstruktive Unterstützung. Damit wird deutlich, dass das
Kindeswohl oberste Priorität hat und keine Mechanismen in Gang gesetzt werden, die dem Strafrecht gerade
in diesem hoch sensiblen Bereich einen Vorrang einräumen.
Frau Ministerin Zypries, wir unterstützen ausdrücklich Ihre Auffassung, dass Menschen mehr Zivilcourage
zeigen müssen und „hinschauen statt wegschauen“ sollen.
({5})
Eine breit angelegte Präventionskampagne mit dem
Ziel, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für das drängende Problem des sexuellen Missbrauchs zu schärfen,
begrüßen wir nachdrücklich.
Einen besonderen Handlungsbedarf sehen wir in der
Tourismuswirtschaft, die aufgerufen ist, ihren eigenen
Ehrenkodex endlich einmal ernst zu nehmen und umzusetzen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Justizminister des Landes Hessen,
Christean Wagner.
Dr. Christean Wagner, Staatsminister ({0}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich spreche zu einer Bundesratsinitiative des
Landes Hessen betreffend das Strafvollzugsgesetz.
Nach unseren Vorstellungen soll § 2 dieses Gesetzes
dahin gehend geändert werden, dass der Schutz der
Allgemeinheit als gleichrangiges Vollzugsziel neben der
Resozialisierung Berücksichtigung findet.
Die im Strafvollzugsgesetz genannten Ziele und Aufgaben des Strafvollzugs müssen nach meiner Überzeugung in eine neue Balance gebracht werden. Der jetzige
Gesetzestext erweckt den Eindruck, als müsse der Strafvollzug ausschließlich auf die Resozialisierung des Täters ausgerichtet sein.
Unser Anliegen ist Folgendes: Der Schutz der Allgemeinheit vor dem Straftäter darf keine bloß nachrangige
Aufgabe des Strafvollzugs sein.
({1})
Im Gesetzestext muss eindeutig zum Ausdruck gebracht
werden, dass der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren
Straftaten ebenfalls ein Vollzugsziel ist und dass dieses
gleichrangig neben das Ziel der Resozialisierung tritt.
Die geltende Fassung des § 2 lautet wie folgt:
Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene
fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein
Leben ohne Straftaten zu führen …
Folgendes soll angefügt werden:
Zugleich dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem
Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten
({2}).
Die derzeitige Struktur des § 2 Strafvollzugsgesetz verleitet zu dem Schluss, dass der Schwerpunkt des Vollzugs in der als Vollzugsziel genannten Resozialisierung
liegt und dass der Schutz der Allgemeinheit zwar eine
Aufgabe, jedoch nicht das Ziel des Strafvollzugs sei. In
der Rechtsprechung und der Literatur wird daher konsequenterweise die Auffassung vertreten, dass der Resozialisierung der uneingeschränkte Vorzug gelte.
({3})
Die Resozialisierung sei oberste Richtschnur für die
Gestaltung des Vollzugs im Allgemeinen und im Einzelnen. Alle übrigen Aufgaben, also auch der Schutz der
Allgemeinheit, und die allgemeinen Strafzwecke des
Strafgesetzbuchs, zu denen ich hier auch gern reden
würde, dies aber aus Zeitgründen nicht tun kann, seien
nachrangig. Die damit notwendig verbundene Inkaufnahme von Risiken etwa bei der Gewährung von Ausgang, Freigang, Urlaub aus der Haft und offenem Vollzug sei gerechtfertigt. Dem Prinzip der Eröffnung von
Freiheitsspielräumen zur Einübung sozialer Verantwortung gebühre der Vorrang.
Meine Damen und Herren, diese Auffassung teile ich
ausdrücklich nicht. Ich halte es nicht für akzeptabel, im
Zweifel der Resozialisierung den Vorrang vor der Sicherheit der Allgemeinheit zu geben. Strafvollzug darf
nicht auf dem Rücken potenzieller Opfer stattfinden.
Mit der Fixierung auf die Resozialisierung als einzigem Vollzugsziel wird verkannt, dass Freiheitsstrafe
selbstverständlich auch dann zu vollziehen ist, wenn klar
ist, dass dieses Vollzugsziel nicht erreicht werden kann.
Meine Damen und Herren, im Übrigen möchte ich
noch auf Folgendes hinweisen: Die Gefangenenpopulation mit den Problemgruppen der Ausländer, der
Drogenabhängigen und der Gewalttäter hat sich in den
letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert. Bundesweit ist
der Ausländeranteil von 9 Prozent im Jahre 1977 auf
Staatsminister Dr. Christean Wagner ({4})
30 Prozent im Jahre 2002 gestiegen. Hessen liegt mit einem Ausländeranteil von 44 % an der Gesamtzahl der
Gefangenen bundesweit an der Spitze. In der Untersuchungshaft beträgt dieser Anteil in Hessen sogar etwa
64 Prozent.
Es muss heute auch zur Kenntnis genommen werden,
dass immer mehr Gefangene für Behandlungen ungeeignet sind. Unter den ausländischen Strafgefangenen befindet sich eine steigende Anzahl Gefangener ohne jegliche soziale Wurzel in Deutschland. Das Vollzugsziel der
Resozialisierung läuft hier völlig ins Leere.
Lassen Sie mich deshalb Folgendes feststellen: Im Gesetzentwurf des Bundesrates wird - das will ich zur Vermeidung von Missverständnissen ausdrücklich sagen keine Alternative zum Resozialisierungsauftrag, sondern
die längst überfällige Aufwertung des gleichrangigen
Auftrages des Staates zur Sicherheitsgewährleistung
postuliert.
({5})
Um es noch einmal mit anderen Worten zu sagen: Das
Ziel der Resozialisierung ist parteiübergreifend völlig
unbestritten.
({6})
Es ist ein vernünftiges Ziel, dafür zu kämpfen, dass ein
straffällig gewordener Straftäter nach Verbüßung der
Haft als - ich will es einmal mit meinen Worten sagen rechtstreues Mitglied unserer Rechtsgemeinschaft wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden kann. Dagegen kann doch niemand etwas haben, auch ich nicht.
(Hans-Christian Ströbele ({7}): Fast nichts!
- Nicht „fast“.
Ich sage aber gleichzeitig: Auch die Sicherheitsbelange der Bevölkerung müssen beim Vollzug der Strafe
beachtet werden.
({8})
- Herr Schmidt, so steht es aber nicht im Gesetzentwurf. - Ich füge hinzu: Wenn ich zwischen dem Ziel der
Resozialisierung des Straftäters auf der einen Seite und
dem Ziel des Schutzes der Bevölkerung auf der anderen
Seite abwägen muss - das ist ein schwieriger Vorgang -,
dann muss ich im Zweifel für den Schutz der Bevölkerung votieren. Ich bin sehr gespannt darauf, von Ihnen zu
hören, ob Sie das aufgrund Ihrer Erfahrungen aus der
Praxis anders sehen.
({9})
Ich jedenfalls plädiere dafür, dass § 2 des Strafvollzugsgesetzes in dem vorgetragenen Sinne novelliert
wird.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Röttgen, ich
meine, das Thema, das wir heute am späten Nachmittag
hier behandeln, ist viel zu ernst, als dass man derart polemisch und populistisch damit umgehen kann, wie Sie
es in Ihrer Rede heute wieder getan haben.
({0})
Vor allen Dingen die Vorwürfe, die Sie an die Justizministerin gerichtet haben, wiederholen sich; es perpetuiert
sich langsam.
({1})
Herr Kollege Röttgen, Sie haben jede Woche dieselbe
Melodie drauf. Ich glaube, Sie sollten das in Zukunft ein
wenig zurückfahren. Es würde der Zusammenarbeit dienen.
({2})
Ich möchte mich heute schwerpunktmäßig noch einmal mit dem Thema beschäftigen, das auch bei Ihnen
wieder eine große Rolle gespielt hat, nämlich mit der
Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung. Sie möchten von uns, dass wir das ins - ich
betone - Strafgesetzbuch schreiben; das ist Ihr Begehren.
Ich bin seit 1998 im Bundestag und glaube, dass ich
heute meine siebte Rede zu diesem Thema halte. So
lange schon kommen Sie fortwährend mit dem gleichen
Anliegen. Heute beraten wir den über den Bundesrat uns
zugeleiteten Entwurf aus Baden-Württemberg mit.
({3})
- Nein, Sie wollen den § 66 StGB ändern.
({4})
- Ja, das ist die sich anschließende Geschichte. Das andere ist der Entwurf aus Baden-Württemberg, Herr Kollege. Das ist der Punkt, um den es Ihnen hierbei geht.
Herr Kollege Röttgen hat vorhin ja auch darauf hingewiesen.
Wie sieht die Rechtslage heute aus? Ich glaube, das
müssen wir noch einmal kurz darstellen. Im vorigen Jahr
haben wir hier die Regelung getroffen, nach der sich der
Tatrichter im Urteil eine Sicherungsverwahrung vorbehalten kann. Nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe von
mehreren Jahren wird durch das Tatgericht endgültig geprüft, ob es zu verantworten ist, einen Straftäter aus der
Haft zu entlassen oder ob die Sicherungsverwahrung
vollzogen werden muss.
Sie fordern von uns immer wieder eine Regelung, die
es ermöglicht, auch nachträglich noch eine Sicherungsverwahrung anzuordnen. Dabei denken Sie an Straftäter,
für die das Gericht bei der Verurteilung zwar keine Sicherungsverwahrung angeordnet hat, die aber während
des Vollzugs bei bestimmten Personen den Eindruck erwecken, sie seien so gefährlich, dass sie zukünftig vergleichbare Straftaten begehen werden. Genau darum
geht es. Zu dieser Frage - darum widme ich mich diesem
Thema - verbreiten Ihre Kolleginnen und Kollegen in
der Lokalpresse Polemik, die teilweise wirklich abstrus
ist.
({5})
- Auch Ihr Kollege Grindel ist ein guter Mann, aber von
rechtsstaatlichen Dingen versteht er wenig; das ist richtig.
({6})
Wir haben Ihnen schon von Anfang an gesagt, dass
wir gegen eine solche Regelung schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken haben. Sie sind auch
heute nicht ein einziges Mal bereit gewesen, sich mit
diesen Bedenken auseinander zu setzen. Ich nenne Ihnen
noch einmal die drei wesentlichen Gründe:
Erstens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung,
wie von mir skizziert und von Ihnen gefordert, verstößt
nach Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes gegen das
Rückwirkungsverbot. Sie treffen damit einen Personenkreis, der zu einem Zeitpunkt verurteilt worden ist, als es
eine solche Regelung gar nicht gegeben hat.
Zweitens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung
verstößt nach Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes gegen
das Verbot der Doppelbestrafung. Bei ihrer Anordnung
würden gegen einen Straftäter durch zwei konstitutive
Entscheidungen nacheinander eine Freiheitsstrafe verfügt.
({7})
Drittens - das ist das wesentliche Argument -: Die
nachträgliche Sicherungsverwahrung, die von Ihnen gefordert wird, ist mit Art. 5 Abs. 1 der Europäischen
Menschenrechtskonvention unvereinbar; denn danach ist
nur die in einer strafrechtlichen Verurteilung angeordnete Sicherungsverwahrung zulässig. Sie wollen dies zukünftig durch Beschluss auf der Grundlage einer Gefährdungsprognose zulassen. Ich meine, das ist nicht
tragbar. Die Bedenken, die ich Ihnen eben genannt habe,
sind in mehreren Anhörungen, die wir seit 1998 gemeinsam durchgeführt haben, von den Sachverständigen bestätigt worden.
Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?
Nein, jetzt keine Zwischenfrage.
({0})
Ein weiterer, aus unserer Sicht durchschlagender Einwand ist prozessrechtlicher Natur; auch darauf gehen Sie
nie ein. Stattdessen haben Sie vorhin erklärt, das, was
Sie vorschlagen, sei ein rechtsstaatlich sicheres Verfahren. Die von Ihnen vorgeschlagene Regelung unterläuft
aus unserer Überzeugung die rechtsstaatlichen Garantien
der Strafprozessordnung, wie sie für jeden Beschuldigten zu gelten haben. In Ihren Entwürfen ist vorgesehen,
die schwere Sanktion der Sicherungsverwahrung durch
Beschluss im Wege eines Anhörungsverfahrens vor der
Strafvollstreckungskammer nachträglich zu verhängen.
Durch einen Beschluss soll also im Nachhinein die materielle und formelle Rechtskraft des Strafurteils durchbrochen werden.
({1})
Damit werden dem rechtskräftig Verurteilten im Ergebnis die grundlegenden rechtsstaatlichen Garantien
vorenthalten. Diese gelten für jeden und sind: die mündliche öffentliche Hauptverhandlung, Beteiligung von
Schöffen an der Urteilsfindung, Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision
gesicherte Beweisantragsrecht und die Pflichtverteidigung in der Hauptverhandlung. Ein verurteilter Straftäter
hat diese Garantien nach Ihren Vorschlägen nicht mehr.
Sie schaffen zwei Arten von Strafprozessrecht. Ich frage
mich: Warum gehen Sie, Herr Röttgen, so fahrlässig mit
Rechtsstaatsgarantien unserer Verfassung um? Sie tun
dies,
({2})
um in der Tagespolitik populistisch Stimmung zu machen, wie dies die vorhin gemachten Ausführungen zum
Strafvollzugsgesetz gezeigt haben.
({3})
- Ich sage Ihnen noch einmal: Die Fälle, von denen Sie
meinen, sie würden durch unsere Regelung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung nicht erfasst, sind nach
wie vor Fälle der Prävention, des Polizeirechts. Polizeirecht ist nach unserer Verfassung nun einmal Ländersache. Die Länder müssen diese Regelungen treffen. Das
müssen wir sauber trennen, sonst bewegen wir uns auf
einem sehr schmalen Grat.
Um Ihren Gedankengang zu Ende zu führen und um
Ihnen zu verdeutlichen, wie abstrus es werden kann,
wenn man Ihren Vorstellungen folgen würde, möchte ich
Ihnen dazu einiges sagen. Ich habe Ihnen das schon einJoachim Stünker
mal vorgehalten, aber Sie hören gar nicht zu, Herr Kollege Röttgen. Wenn Sie die Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen wollen, wie Sie es von uns fordern,
dann taucht die Frage auf, warum die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht auch für bereits entlassene
Straftäter gelten soll,
({4})
die fünf Jahre Führungsaufsicht haben, wenn innerhalb
der fünf Jahre Führungsaufsicht festgestellt wird, dass
die Gefährlichkeit besteht. Wollen Sie auch dann durch
Beschluss einer Kammer diesen Weg gehen? Mit Sicherheit nicht. Polizeirecht ist hier die richtige Lösung.
Ich kann das auf die Spitze treiben, um Ihnen zu verdeutlichen, wie gefährlich das für den Rechtsstaat ist,
was Sie machen, und wie Sie mit diesen Überlegungen
am Rechtsstaat zündeln. Wie verhält es sich denn mit der
Sicherungsverwahrung ohne Straftat? Wie ist es, wenn
wir feststellen, dass ein Mensch herumläuft, von dem
zwei Sachverständige sagen, dass er so gefährlich sei,
dass er möglicherweise erhebliche Straftaten begehen
kann? Auch das ist ein Fall des Polizeirechts. Das ist
überhaupt keine Frage. Das ist eine Sache, die die Länder regeln müssen.
Ich habe versucht, Ihnen heute noch einmal deutlich
zu machen, dass Sie mit diesen Vorschlägen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auf dem Irrweg sind.
Wir werden Ihnen nicht folgen. Was Sie nach wie vor
vorschlagen, ist aus unserer Sicht rechtsstaatlich äußerst
bedenklich.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Raab von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erneut diskutieren wir heute über das Sexualstrafrecht. Meine Kollegen haben dazu nicht nur heute,
sondern auch in anderen Debatten genauestens und zum
Teil verständlicherweise hoch emotional Stellung genommen und Fakten und Fälle aufgezeigt, die verdeutlicht haben, dass eine strikte Verschärfung des Sexualstrafrechts dringend notwendig ist.
Ich möchte zunächst auf die DNA-Analyse eingehen.
Es freut uns zu hören, dass Sie die Möglichkeiten der
DNA-Analyse nun doch ausweiten wollen. Denn eines
ist nun offenbar auch Ihnen klar geworden: Die DNAAnalyse ist inzwischen zu einem der wichtigsten rechtsmedizinischen Erkenntnismittel geworden, einem Mittel,
das man sich nicht mehr wegdenken kann und dessen
Möglichkeiten man deshalb voll ausschöpfen muss.
({0})
Zurzeit enthält die Datenbank des BKA 265 000 Datensätze. Allein 2002 hat die Datenbank geholfen, dass
66 Fälle von Mord und Totschlag, 135 Sexualverbrechen, 250 Raubüberfälle, Erpressungen und mehr als
3 000 Eigentumsdelikte aufgeklärt werden konnten. Otto
Schily wird es gefreut haben.
({1})
Bei solchen Ergebnissen, meine Damen und Herren
von der Regierung, müssten Sie doch eigentlich bemüht
sein, das geltende, unserer Meinung nach zu enge Recht
zu erweitern und neue Voraussetzungen zu schaffen, um
wirklich effektiv vorbeugen zu können.
Wie erklären Sie sonst einem Opfer, dass es leider nur
möglich ist, gegen den Willen eines Betroffenen DNA
zu entnehmen, wenn seine Straftat erhebliche Bedeutung
hatte oder wenn vorhersehbar ist, dass künftig Strafverfahren von erheblicher Bedeutung gegen den Betroffenen geführt werden?
Es ist unerlässlich - das steht deutlich in unserem
Gesetzentwurf -: Der Katalog der Anlasstaten muss erweitert werden, und zwar auf alle Taten mit sexuellem
Hintergrund.
({2})
Es ist genau dieser sexuelle Hintergrund, auf den es uns
ankommt. Denken Sie zum Beispiel an sexualbezogene
Straftaten wie Beleidigung mit sexuellem Hintergrund,
denken Sie an sexuell motivierte Drohanrufe. Hier handelt es sich natürlich nicht um Straftaten von erheblicher
Bedeutung. Jedoch hat eine Studie der Universität Göttingen vom April 2002 ergeben, dass bei exhibitionistischen Straftätern mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin rund 2 Prozent mit der späteren Begehung eines
sexuellen Gewaltdelikts zu rechnen ist. Eine schwere
Straftat ist in diesem Bereich oft der traurige Höhepunkt
einer sexuell geprägten Straftatenserie.
Dieser Erkenntnis hat sich die Bundesregierung zwar
angeschlossen, die notwendigen Konsequenzen aber leider nicht gezogen. Der sexuelle Hintergrund vieler Taten
wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht gebührend gewürdigt. Es geht hier - da sollten wir uns alle einig sein um das Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger und die
Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung. Dem muss dringend Rechnung getragen werden.
Gerade vor dem Hintergrund, dass 56 Prozent der verurteilten Exhibitionisten innerhalb der nächsten zehn
Jahre wieder ein Sexualdelikt begehen, ist ein Eingriff
in das informationelle Selbstbestimmungsrecht unserer Meinung nach klar gerechtfertigt und auch sachlich
begründet.
({3})
Aus diesem Grund plädieren wir dafür, Straftaten mit sexuellem Hintergrund in den Anlasstatenkatalog mit aufzunehmen. Diese Lösung ist sachgerecht und prägnant.
Schließen Sie sich unserer Forderung an!
Die DNA-Analyse ist ein Weg der Strafverfolgung,
bei dem wir scheinbar einen gemeinsamen Ansatz gefunden haben. Wir fordern Sie aber in einem weiteren
Punkt auf, unserer Forderung zu folgen, und zwar hinsichtlich der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
Wir fordern konsequente Maßnahmen, die Wiederholungstäter daran hindern, erneut Kinder, Frauen und Behinderte zu überfallen und zu vergewaltigen. Eine Lösung
in solchen Fällen ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung, deren Notwendigkeit ich Ihnen in der Hoffnung,
Sie überzeugen zu können, gerne näher bringen möchte.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung gibt es im
geltenden Recht bereits, jedoch nur in den Fällen, in denen das erkennende Gericht im Urteil einen entsprechenden
Anordnungsvorbehalt ausgesprochen hat. Nicht erfasst
werden die Fälle, in denen während des Strafvollzugs erkannt wird, dass es sich um einen gemeingefährlichen
Täter handelt.
({4})
Es geht uns auch in diesem Zusammenhang - ich wiederhole mich an dieser Stelle gerne - um den Schutz
möglicher Opfer und damit um den Schutz unserer Bevölkerung.
({5})
Der Justiz sind gegenwärtig die Hände gebunden, wenn
sich während des Strafvollzugs herausstellt, dass ein Täter nicht therapierbar ist. Darf das sein? Entspricht das
Ihrem Rechtsgefühl? Ich frage Sie vor allem: Wird das
dem Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger gerecht? Ich
beantworte diese Frage eindeutig mit Nein.
({6})
„Wegsperren - und zwar für immer“ hat sogar Ihr
Kanzler gefordert. Im Nachhinein stellt sich aber heraus,
dass sich diese Forderung im Gesetzentwurf nicht wiederfindet. Es war wohl nur Wahlkampfgetöse. Er hat im
Juli 2001 sogar noch einen draufgesetzt, indem er sagte,
ein Sexualstraftäter müsse komplett weggesperrt werden, wenn sich während der Haft herausstellt, dass er
weiter gefährlich ist.
Einige Bundesländer - darunter Bayern - haben sich
dieser Auffassung angeschlossen und entsprechende
Landesgesetze geschaffen. Wir können nicht damit rechnen, dass sich weitere Länder anschließen. Deswegen
fordere ich Sie auf - es ist Aufgabe des Bundes, in diesem Bereich tätig zu werden -: Tun Sie etwas! Schützen
Sie unsere Bürger und die potenziellen Opfer! Führen
Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch ohne
Anordnungsvorbehalt ein! Wenn Sie sich dazu durchringen können, haben Sie uns selbstverständlich auf Ihrer
Seite.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe heute Nachmittag das Wort Opferschutz zu oft gehört. Opferschutz muss man von Herzen wollen, aber
man muss ihn auch umsetzen können. Als ich die Beiträge gehört habe, hat sich mein Verdacht verstärkt, dass
Sie nicht etwa den perfekten Opferschutz nicht wollen,
sondern dass Sie ihn nicht perfektionieren können.
Herr Kollege Stünker hat über die Sicherungsverwahrung räsoniert und den Eindruck erweckt, es sei ein
Verbot der Doppelbestrafung zu diskutieren. Die Sicherungsverwahrung ist eine Maßregel der Besserung und
Sicherung. Deswegen ist die Doppelbestrafung in diesem Zusammenhang kein Thema.
({0})
Da laboriert man fachunkundig am Grunddelikt des sexuellen Missbrauchs von Kindern herum, weil man es
nicht fachkundig kann.
({1})
Dass die Kollegin Schewe-Gerigk feststellt, deshalb,
weil die Mindeststrafe in einigen Fallvarianten auf drei
Monate erhöht worden sei, sei eine Geldstrafe nicht
mehr möglich, sehe ich ihr nach.
({2})
Aber von einer Justizministerin darf ich erwarten, dass
sie § 47 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs kennt; den kennt jeder Jurastudent im zweiten Semester. Danach ist bei
einer Mindeststrafe bis zu sechs Monaten eine Geldstrafe möglich und auch weitgehend üblich.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie ändern den Grundtatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern und
schaffen den minder schweren Fall ab. Dafür führen Sie
den besonders schweren Fall ein und dienen damit niemandem.
({4})
Das ist nicht die Botschaft, die Eltern, die Angst um die
Entwicklung ihrer Kinder haben, hören wollen.
({5})
Siegfried Kauder ({6})
Die richtige Botschaft wäre gewesen, § 176 StGB so zu
ändern, dass der sexuelle Missbrauch eines Kindes als
Verbrechen angesehen wird, so wie wir es verlangen. Sexueller Missbrauch eines Kindes ist nämlich - das habe
ich in diesem Hohen Haus schon einmal gesagt - Mord an
einer kleinen Seele. Die Antwort kann nur heißen: Mindeststrafe ein Jahr. Aber es sollte die Möglichkeit des
minder schweren Falls geben, damit sich der Täter, der
ein Geständnis ablegt und damit dem missbrauchten
Kind das Auftreten in der Hauptverhandlung erspart,
eine Strafmilderung erarbeiten kann.
Rückfalltäter - darauf haben wir Sie bereits aufmerksam gemacht - müssen ebenfalls als Verbrecher behandelt werden. Auch hier kannten Sie das Gesetz nicht;
denn Sie haben zuerst § 12 StGB übersehen. Sie hätten
beinahe aus Nachlässigkeit ein Verbrechen zu einem
Vergehen herabgestuft. Ich danke Ihnen, dass Sie das
korrigiert haben.
Aber nun haben Sie den nächsten Fehler eingebaut.
Wenn ein Straftäter ein Kind sexuell missbraucht und
das Ergebnis für pornographische Zwecke verwenden
will, dann ist das ein Verbrechen. Bisher gab es die
Möglichkeit des minder schweren Falls. Und das war
auch gut so. Es handelt sich hier um ein so genanntes unechtes Unternehmensdelikt mit weit vorverlagerter
Strafbarkeit, bei dem außerdem der Gehilfe die gleiche
Strafe wie der Täter bekommt und die Strafmilderungsmöglichkeit nach § 27 Abs. 2 StGB nicht nutzen kann.
Der Gesetzgeber sagt, dass man die Möglichkeit des
minder schweren Falls braucht, damit der Gehilfe, der
nur die Videokamera besorgt, die Möglichkeit hat, sich
Strafmilderung mit einem Geständnis zu verdienen.
({7})
Ich empfehle Ihnen, hierzu im gängigen Praktikerkommentar Tröndle/Fischer Anmerkung 13 zu § 176 a StGB
zu lesen. Dann kennen Sie die Gründe. Auch hier ist Ihnen ein gesetzgeberischer Fehler unterlaufen.
({8})
Wir haben über den Opferschutz zuletzt am 8. Juni
dieses Jahres diskutiert. Ich habe damals erklärt, dass
beim Opferschutz nie ein großer Wurf gelungen ist. Dankenswerterweise war es der Kollege Ströbele, der eingeworfen hat, dass das Flickschusterei sei und dass man
das einmal richtig machen müsse. Heute hätten Sie Gelegenheit. Sie wollen § 387 a StPO so ändern, dass Menschen, die nicht allein in der Lage sind, ihre Rechte
wahrzunehmen, einen Opferanwalt auf Staatskosten
erhalten. Hier haben Sie meine Sympathie. Wir haben
aber am 8. Juni 2003 auch darüber gesprochen, dass die
Hinterbliebenen von Mordopfern ebenfalls einen Opferanwalt benötigen. Das haben Sie nicht berücksichtigt.
Das ist Flickschusterei. Warum haben Sie nicht auch das
geregelt? Heute wäre die Zeit dafür gewesen.
({9})
- Es hat schon etwas damit zu tun; denn der Opferanwalt
hat - jedenfalls nach Ihrem Vorschlag - auch Bedeutung
für das Sexualstrafrecht.
({10})
Man sieht, dass Sie nicht bereit sind, den Opferschutz
und das Sexualstrafrecht unter dem Blickwinkel eines
Tatopfers, eines Kindes, zu betrachten. Sonst würden Sie
eine solche Flickschusterei nicht machen!
({11})
Wenn es um Opferschutz und Opferentschädigung
und insbesondere wenn es um den Schutz von Kindern
gegen sexuelle Übergriffe geht, dann ist auf eines immer
Verlass: Sie sitzen im Bremserhäuschen.
({12})
Das werden wir nicht zulassen. Wir werden Sie jagen. Es
gibt noch zwei offene Baustellen: den Opferschutz und
die Opferentschädigung. Auch hier haben Sie sich als
Bedenkenträger profiliert. Das steht Ihnen aber nicht zu.
Sie sollten lieber an die Opfer denken, anstatt grundrechtliche Bedenken vorzutragen, deren Tragweite Sie
überhaupt nicht abschätzen können.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der
Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften, Drucksache 15/350. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/1311, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Lesung angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1344. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der
CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt.
Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des
Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten, Drucksache 15/29. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1311, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 9 b: Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 15/1311 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexualstraftäter auf den
Prüfstand stellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf
Drucksache 15/31 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkte 9 c bis 9 e: Interfraktionell
wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den
Drucksachen 15/410, 15/778 und 15/899 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann ({0}), Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur
Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses
- Drucksache 15/1094 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Günter Nooke das Wort.
({2})
Herr Kollege Nooke, warten Sie bitte noch einen Moment, damit diejenigen, die der Beratung dieses Tagesordnungspunktes nicht beiwohnen wollen, den Saal verlassen können.
Herr Präsident, ich danke für die Aufmerksamkeit,
die Sie dem wichtigen Thema „Berliner Stadtschloss“
durch Ihren Hinweis beigemessen haben. Das freut uns
ganz besonders.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Morgen ist es genau ein Jahr her, dass der Deutsche
Bundestag die Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses unter Berücksichtigung der historischen Fassaden mit großer und fraktionsübergreifender Mehrheit beschlossen hat. Das ist die positive Botschaft.
Sehr geehrter Herr Kollege Barthel, Sie haben sich in
der letzten kulturpolitischen Debatte darüber beklagt,
dass ich das Positive nicht angemessen in den Vordergrund stelle.
({0})
Ich wiederhole: Dass wir vor einem Jahr - fraktionsübergreifend und mit Zweidrittelmehrheit - den Beschluss
zur Wiedererrichtung dieses Schlosses gefasst haben, ist
ein gutes Zeichen gelungener parlamentarischer Zusammenarbeit: orientiert an der Sache, einig im politischen
Willen, entschlossen im Weg. Ich wiederhole gern: Das
ist die positive Botschaft.
Wie Sie wissen, hat die Unionsfraktion diesen Jahrestag zum Anlass genommen, mit einem Antrag an den damaligen Beschluss zu erinnern. Das ist für parlamentarische Beratungen zwar nicht ganz üblich; in diesem Falle
erscheint es uns aber notwendig. Wir müssen leider feststellen, dass es bisher wenig konkrete Schritte zur Umsetzung dieses - eben zitierten - Beschlusses gegeben
hat. Das ist die schlechte Nachricht.
Da unser Antrag bewusst kurz gehalten ist, erlauben
Sie mir, dass ich die zentralen Forderungen hier noch
einmal mündlich vortrage:
Erstens. Wir sehen es als erforderlich an, dass die
Bundesregierung das für das Frühjahr 2003 angekündigte Nutzungs- und Finanzierungskonzept der Arbeitsgruppe, die von der Beauftragten für Kultur und
Medien geleitet wurde, nunmehr vorlegt. Es ist schlicht
unverständlich, warum der Bundestagsbeschluss so
stiefmütterlich behandelt wird. Es ist ein Papier, das für
das Frühjahr angekündigt war. Wir stehen kurz vor der
Sommerpause. Zumindest jetzt sollte es vorgelegt werden.
({1})
Es liegt mir fern, Mutmaßungen darüber anzustellen,
warum man da in Verzug ist. Aber wir müssen unsere
Sorge darüber zum Ausdruck bringen, dass dieser gemeinsame Beschluss nicht die angemessene Würdigung
und Umsetzung erfährt. - Zumindest das wollte ich zu
Protokoll gegeben haben.
Zweitens. Aus dem eben Gesagten ergibt sich folgerichtig, dass wir die Bundesregierung hiermit auffordern,
die für die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen
Bundestages von vor einem Jahr erforderlichen Maßnahmen unverzüglich zu ergreifen. Verbunden damit ist die
Forderung nach Vorlage eines Zeitplans für die Umsetzung des Beschlusses.
Drittens. Wir wünschen uns darüber hinaus, dass an
der Ecke Schlossfreiheit/Unter den Linden ein Areal als
Ort für die in dem Bericht der Expertenkommission vorgesehene Einwerbung von privaten Mitteln zur Verfügung gestellt wird. Für die Realisierung einer Infobox
laufen Gespräche mit Sponsoren. Wir sollten uns durchaus bewusst machen, dass es wichtige private Initiativen
gibt, die es voranzutreiben und nicht zu behindern gilt.
Der Schlossaufbau ist auf private Initiative angewiesen.
Es wäre leichtfertig und fahrlässig, die privaten Initiativen nicht nach Kräften zu unterstützen.
Ich will viertens deutlich sagen: Eine finanzielle wie
ideelle, direkte oder indirekte Unterstützung einer Nutzung des Palastes der Republik durch den Bund lehnen
wir ab.
({2})
Auch in Bezug darauf ist die Einigkeit in der Sache groß.
Erst kürzlich hat sich der Regierende Bürgermeister Berlins bei der Eröffnung der Ausstellung des Werkes von
Paul Kleihues für den schnellen Abriss des Gebäudes
ausgesprochen. Folgendes geht sicherlich nicht: Man
kann nicht beteuern, dass die Nutzung des Palastes nur
ohne öffentliches Geld möglich ist, und gleichzeitig Mittel aus dem Hauptstadtkulturfonds für Projekte im Palast
mobilisieren.
({3})
Einige mögen das als trickreich ansehen. Ich finde: Das
ist ein Versuch der Täuschung, zumindest ist es grober
Unfug. Dass im Hauptstadtkulturfonds zu 100 Prozent
Bundesmittel sind, haben zumindest wir nicht vergessen.
Wir müssen uns heute, ein Jahr nach dem Beschluss,
fragen: Was wollen wir eigentlich und was brauchen wir
jetzt? Wir brauchen keine Bekräftigung des Beschlusses,
sondern wir brauchen deutliche Signale, dass der Bund
und damit die Staatsministerin für Kultur und Medien zu
diesem Beschluss steht.
Herr Kollege Nooke, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gesine Lötzsch?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Nooke,
Sie haben gerade zutreffend festgestellt, dass im Hauptstadtkulturfonds zu 100 Prozent Bundesmittel sind.
Würden Sie mir darin zustimmen, dass der Beschluss
des Deutschen Bundestages zum Wiederaufbau des
Stadtschlosses eigentlich gar nicht rechtmäßig gefasst
wurde, da das Areal Schlossplatz nicht dem Bund allein,
sondern dem Bund und dem Land Berlin gemeinsam gehört? Hätte also nicht zumindest ein gemeinsamer Beschluss Voraussetzung für die Forderung sein müssen,
das Stadtschloss wieder aufzubauen?
Wir als Verfassungsorgan sind sehr darauf bedacht,
hier auch rechtmäßige Beschlüsse zu fassen. Da wir öffentlich tagen, hat der Regierende Bürgermeister in Berlin diesen Beschluss auch mitbekommen. Ich habe nie
den Eindruck gehabt, dass er das Grundstück nicht zur
Verfügung stellen will, wenn wir den Schlossbau beschließen.
({0})
Es könnte ein Signal sein, auch für Berlin, wenn wir
mit dem finanzpolitischen Gezerre aufhören. Es könnte
natürlich auch ein Signal sein, wenn der Bund klar sagte,
womit denn zu rechnen ist. Es wäre sicherlich ein Signal,
wenn auch ein schlechtes, wenn der Bund sagte: Das beschlossene Verhältnis von kultureller zu kommerzieller
Nutzung von 80 : 20 wird umgekehrt.
({1})
Ich möchte das nicht, aber selbst das wäre besser, als
wenn gar nichts passiert und nur die Zwischennutzung
vorangetrieben wird. Wir müssen jetzt die Grundlagen
für eine Entscheidung schaffen und müssen unser gemeinsames Anliegen meines Erachtens gemeinsam weiter vorantreiben.
Wir haben keine Zeit zu verlieren, sondern uns konsequent für die Umsetzung des vor einem Jahr gefassten
Beschlusses zu engagieren. Das Argument, dass in der
jetzigen Situation die Realisierung des Schlossbaus ein
zu vernachlässigendes Thema ist, über das man besser
nicht redet, lasse ich nicht gelten. Wir haben uns nie vorgemacht, dass der Bau in zwei Jahren fertig sein wird.
Wir sollten uns in ein paar Jahren aber auch nicht nachsagen lassen müssen, wir hätten unseren Beschluss von
vor einem Jahr nicht ernst genommen. Dafür brauchen
wir keine weiteren Beschlüsse im Bundestag zu fassen.
Eine neue Phase für den Schlossbau muss jetzt beginnen. Das meine ich auch aus Prinzip. Wir müssen das,
was wir vor einem Jahr beschlossen haben, ernst nehmen. Der Beginn der neuen Phase könnte, ganz pragmatisch, wie folgt aussehen: Für die Vorbereitung und
Durchführung des Wettbewerbs sind zwei Jahre zu veranschlagen. Jetzt ist es erforderlich, dass diese zwei
Jahre genutzt werden. Dafür ist die Unterstützung durch
eine Projektierungsgesellschaft nötig, die mit einer
überschaubaren Vorfinanzierung von 2,5 Millionen Euro
arbeiten kann.
Die 2,5 Millionen Euro sind jetzt erforderlich und wären gut angelegt, weil so keine Zeit verloren geht. Unser
Beschluss bekäme damit eine realistische Grundlage.
Ohnehin wird die Summe zurückgezahlt, da sie in den
Baunebenkosten enthalten ist. Mit dem Vorliegen der
Wettbewerbsergebnisse ist, wenn alles gut läuft, in
frühestens zwei Jahren zu rechnen. Dann hat unser Beschluss eine anschauliche Grundlage. An Anschaulichkeit mangelt es dem Projekt „Stadtschloss Berlin“ ja
jetzt noch etwas. Mit Worten allein ist das Projekt offensichtlich nicht so leicht zu beflügeln.
Ich komme zum Schluss: Dass es weitergeht, muss
unser vordringliches gemeinsames Interesse sein. Unser
Antrag bietet dazu die notwendigen Ansatzpunkte und
ermöglicht es, eine breite, fraktionsübergreifende, bisher
in der Sache positive Zusammenarbeit im Deutschen
Bundestag fortzuführen.
({2})
Ich wiederhole für den Kollegen Barthel meine Botschaft: Die positive Zusammenarbeit wünsche ich mir
weiter. Wir sollten uns die Situation ersparen, im Jahre
2004 - vielleicht wieder am 3. oder 4. Juli - hier sagen
zu müssen: Wir haben auch im vergangenen Jahr nichts
erreicht; wir stehen mit leeren Händen da. Vielmehr sollten wir die Zeit nutzen. Das ist das Anliegen unseres Antrages.
Danke schön.
({3})
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Staatsministerin Christina Weiss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig, auf den Tag genau vor einem Jahr hat die Bundesregierung mein Haus gebeten, gemeinsam mit den
Bundesministerien für Finanzen sowie für Verkehr, Bauund Wohnungswesen, dem Berliner Senat und den zukünftigen Trägern eines Humboldt-Forums ein Nutzungs- und Finanzierungskonzept für den Berliner
Schlossplatz zu erarbeiten.
Die Arbeitsgruppe hat intensiv gearbeitet und ein
praktikables Raumkonzept und mehrere Finanzierungskonzepte vorgelegt.
Die Finanzierungsoptionen - Sie haben schon Recht,
dass sich darin das Problem verbirgt - werden derzeit
gewertet und gewichtet. Wir werden sie Ihnen, meine
verehrten Damen und Herren, nach der Sommerpause
als Teil unseres Abschlussberichtes vorstellen. Niemand
sollte doch meinen, man könne einen 600 Millionen
Euro teuren Stadtmittelpunkt einfach so über Nacht planen. Wer es mit einem Projekt, das Generationen überdauern soll, eilig hat, der meint es mit ihm schlicht nicht
ernst.
({0})
Mit einem wolkigen Luftschloss ist auch niemandem gedient.
Wenn ich die Ernsthaftigkeit betrachte, mit der in der
Arbeitsgruppe und in den entsprechenden Institutionen
an der Zukunft des Berliner Stadtzentrums gearbeitet
wurde und noch weiter gearbeitet werden wird, überrascht mich immer wieder der Argwohn der Opposition.
Ganz offensichtlich nimmt man dort noch immer an, die
Bundesregierung werde den Beschluss des Hohen Hauses zur Neugestaltung des Schlossplatzes torpedieren.
Doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie irren
sich. Die Neugestaltung der Berliner Mitte ist und bleibt
ein zentrales Ziel auf der baupolitischen Agenda der
Bundesregierung. Es handelt sich für uns auch um ein
kulturpolitisches Bekenntnis, das unumstößlich ist.
({1})
Es zwingt uns schlicht und ergreifend die Finanzdisziplin dazu, alle verfügbaren Kräfte zunächst und zumindest parallel auf die Sanierung der Berliner Museumsinsel zu konzentrieren. Als Teil des UNESCOWeltkulturerbes genießt die Museumsinsel zu Recht
oberste Priorität. Sie dürfen auch nicht vergessen, meine
sehr verehrten Damen und Herren, dass es gerade diese
Museumslandschaft ist, die wir durch die Neugestaltung
des Schlossplatzes inhaltlich wie architektonisch vollenden wollen. Am Ort des zerstörten Hohenzollern-Schlosses soll das so oft beschriebene und klug konzipierte
Humboldt-Forum entstehen, zu dem es keine ernsthafte
Alternative gibt;
({2})
es sei denn, man provoziert einen Schlossbau um seiner
selbst willen. Das allerdings hat für mich mit einer nachhaltigen und wirkungsvollen Kulturpolitik, die Verantwortung auch für nachfolgende Generationen trägt,
nichts zu tun.
({3})
Erlauben Sie mir noch ein Wort zum Thema Verantwortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit, mit denen
sich die Bundesregierung der Wiedergewinnung der historischen Mitte Berlins stellt. Verantwortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit sind nämlich die Tugenden einer modernen Kulturpolitik, die der Opposition
inzwischen wohl abhanden gekommen sind. Das merkt
man, wenn der Kollege Nooke regelmäßig kommunistische Morgenluft wittert, nur weil wir nicht sofort mit
dem Schleifen des Palastes der Republik beginnen.
({4})
Sie schlottern regelrecht vor diesem Skelett, das doch eigentlich so harmlos ist. Aber auch Ihnen, Herr Nooke,
kann geholfen werden.
({5})
Der Abschlussbericht, den Sie nach der Sommerpause
lesen können, wird nämlich - ganz gerecht - auch auf
die Möglichkeiten eingehen, wie der Palast der Republik
beseitigt werden kann.
({6})
Allen Unkenrufen zum Trotz wird die Zukunft dieses
geschundenen Ortes im Herzen unserer Hauptstadt nicht
durch die Bundesregierung bedroht, sondern eher durch
den Aktionismus von Grabenkämpfern. Ich glaube, wir
sollten diesen Aktionismus beenden und gemeinsam auf
die Zukunft des Schlossplatzes schauen und gemeinsam
darum ringen, wie wir ihn für nachfolgende Generationen am besten gestalten können.
({7})
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Günter Rexrodt für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Staatsministerin, auch ich bin damit einverstanden, dass
wir hier keine Grabenkämpfe führen und nicht in Aktionismus verfallen. Sie haben allerdings für spätestens
Juni einen Bericht angekündigt, diesen dann aber nicht
vorgelegt und als Begründung angegeben, die Arbeitsgruppe arbeite ernsthaft. Obwohl Sie nicht zu Potte gekommen sind, darf man Ihnen nun nicht einmal vorwerfen, dass es später wird. Das ist nicht zielführend.
({0})
Sie sprechen davon, dass bezogen auf den Wiederaufbau des Schlosses und den Abriss des Parlaments Aktionismus festzustellen sei.
({1})
Nachdem ich mir Ihre Formulierungen, die Sie sehr feinsinnig vorgetragen haben, angehört habe, habe ich den
starken Eindruck gewonnen, dass eine unheilige Allianz
noch nicht aufgegeben wurde.
Herr Rexrodt, es ist gerade eine gewisse Unruhe entstanden, da aufgrund eines Versprechers der Eindruck
entstanden ist, die FDP wolle das Parlament abreißen.
Ich nehme an, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handelt, welches wir so nicht im Protokoll erscheinen
lassen sollten.
({0})
Herr Präsident, so weit sind wir noch nicht. Es geht
um den Palast.
Es gibt eine unheilige Allianz zwischen denen, die
sich selbst zur kulturpolitischen Elite befördert haben,
und jenen, die aus verschiedenen politischen, antiroyalistischen Überlegungen heraus den Aufbau eines Kubus
mit der Fassade eines Schlosses nicht wollen.
({0})
- Dieser Umkehrschluss ist nicht zulässig. Dagegen
brauche ich aber auch keine Verteidigung.
Diese unheilige Allianz hat noch nicht aufgegeben;
deshalb geht die Sache nicht voran. Ich bin äußerst betrübt darüber, dass es erst des Antrages der CDU/CSU
bedurfte, um überhaupt einmal etwas über den Fortgang
zu erfahren.
({1})
Ich wünsche mir dringend, dass der Bundestag in den
Haushalt für 2004 2 oder 2,5 Millionen Euro einstellt,
die es möglich machen, die Planung dieses Kubus in
Angriff zu nehmen. Mit der Planung muss eine private
Planungsgesellschaft beauftragt werden können. Ich
wünsche mir die Beauftragung einer privaten Planungsgesellschaft mehr als die Einschaltung der Bundesbaudirektion.
({2})
Ich wünsche mir auch, dass der Bundestag in den
Haushalt 2004 Geld für den Abriss des Palastes der
Republik einstellt, um endlich deutlich zu machen, dass
er abgerissen wird. Der Palast der Republik - Frau
Staatsministerin, niemand schlottert hier vor einem, wie
Sie sagen, harmlosen Gerüst oder Gestell - ist über alle
Maßen unansehnlich,
({3})
er ist ein häßliches Relikt aus den Zeiten der DDR. Es ist
ein Ausdruck der Unfähigkeit unseres Staates, dass man
immer noch nicht mit diesem Relikt fertig geworden ist
und es beseitigt hat.
Ich würde mir wünschen, dass wir die hohen Zuwendungen, die die Bundesregierung dem Land Berlin, dem
Senat macht, mit der Auflage verbinden, dass das Land
Berlin - Frau Kollegin, Sie haben das eben angesprochen - endlich zu einer eindeutigen Aussage, was das
Stadtschloss angeht, kommt.
({4})
Das Herummogeln des Berliner Senats um dieses Problem ist nicht mehr erträglich. Es ist im Übrigen auch
ein Alibi dafür, dass sich die „unheilige Allianz“, die ich
hier eben zitiert habe, immer wieder auf den Weg macht,
um am Ende doch noch eine Entwicklung zu verhindern,
die der Bundestag vor einem Jahr dankenswerterweise
mit überzeugender Mehrheit beschlossen hat.
Ich wünsche mir sehr - als Parlamentarier sind wir
aufgefordert, dies zu tun; ich tue es aber auch aus vollem
Herzen -, dass nicht mehr nur lange diskutiert wird, sondern dass endlich Taten zu sehen sind. Das ist wichtig,
um mit diesem Platz, mit der Mitte Berlins Schritte nach
vorne zu tun, die die Menschen in diesem Lande wünschen und die dieses Land braucht.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der CDU/CSU scheint
mir eine fürsorgliche Belagerung der Bundesregierung
an den Punkten, an denen sie schon längst katholisch ist
zu sein.
({0})
Wenigstens die wunderbare Opern-Entscheidung am
gestrigen Tage sollte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, doch überzeugt haben, dass die
nachhaltigsten und entschlossensten Kämpfer für die
Mitte Berlins und für die Kulturpolitik Berlins gerade in
der Bundesregierung sitzen. In diesem Zusammenhang:
Herzlichen Glückwunsch, Christina Weiss!
({1})
Der Beschluss - über den auch ich mich sehr gefreut
habe -, der im letzten Jahr in freier Abstimmung der Abgeordneten mit großer Mehrheit gefasst wurde, war von
so eindeutiger Klarheit, dass niemand auch nur wagen
kann, an diesem Beschluss zu rühren. Er wurde von der
Mehrheit dieses Parlamentes gefasst und ist damit bindend für jede Bundesregierung.
Wichtig ist auch, dass man mit diesem Beschluss so
sorgfältig umgeht, dass die richtigen Signale an die Zivilgesellschaft ausgesendet werden, sodass zum Beispiel
die Bereitschaft besteht, dafür auch Geld zu spenden.
Darum finde ich es richtig, dass wir sofort nach der
Sommerpause den Bericht bekommen, in dem genau
aufgezeigt werden soll, wie das Stadtschloss genutzt und
wie es finanziert werden soll. Ich möchte ausdrücklich
meinen Wunsch unterstreichen, dass es öffentlich genutzt wird. Wenn man eine so große Anstrengung
unternimmt - in diesem Parlament und mit der Mobilisierung von Geldern -, dann muss das einfach sein; etwas anderes fände ich der Würde des Platzes nicht entsprechend.
({2})
Der Zwischenbericht der Arbeitsgruppe Schlossareal,
der uns im Februar dieses Jahres gegeben wurde, hat
dies zum Teil schon erfüllt - auch deswegen verstehe ich
den CDU/CSU-Antrag nicht -; es heißt nämlich in dem
Bericht, dass durch die temporäre Nutzung keine Risiken oder Kosten für die öffentliche Hand entstehen dürfen, dass es zu keinen Verzögerungen bei der weiteren
Planung kommen darf und dass der Abriss des Palastes,
etwa durch eine Verfestigung der Nutzung, nicht infrage
gestellt werden darf. Ich unterstreiche das; das ist auch
meine Absicht.
Ich finde aber auch, dass man die Kirche im Dorf lassen muss. Ich selbst lese mit großem Interesse die Berichte in den Zeitungen über die ersten Besichtigungen
des Palastes der Republik und achte dabei auch auf die
Tonlage. Ich sage Ihnen meine ganz persönliche Meinung: Ich empfinde dies als richtig deutsch. Die Deutschen mögen offensichtlich Stätten, die als leicht gruselig gelten. So gibt es auch schon alle möglichen
Nutzungsvorschläge von der Hochzeit bis zur Wagneroper.
({3})
Dies erinnert mich an das Wort des französischen Philosophen Alain Badiou, man habe stets den Eindruck, das
Sein an sich spreche noch Deutsch. Er meint damit, dass
alles, was einen besonders tiefen Sinn hat, unserer Seele
besonders nahe stehe. Wenn dies so ist, dann bin jedenfalls ich bereit, das mit einiger Ironie und Großzügigkeit
zu ertragen, allerdings nur, solange die französische
Klarheit herrscht, die besagt, dass ein einmal gefasster
Beschluss nicht mehr geändert wird.
Geld, das in der Berliner Kulturszene so knapp ist,
soll nicht an falscher Stelle ausgegeben werden. Die Öffentlichkeit braucht ein Signal, in welche Richtung es
geht, und Gewissheit, dass wir diesen Platz vor allen
Dingen für kulturelle und öffentliche Zwecke nutzen
wollen. Auch muss möglichst bald angefangen werden
können, für den Wiederaufbau des Stadtschlosses Geld
zu sammeln. Wir werden sehr bald nach der Sommerpause aktiv werden. Insoweit sind die Dinge diesmal
wirklich auf dem richtigen Weg und in den richtigen
Händen.
Danke.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Vera Lengsfeld,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Von der Gestaltung eines offenen Bürgerforums in
der Mitte der Spreeinsel war in einem PDS-Antrag von
vor etwa einem Jahr die Rede. Dies war der klar erkennbare Versuch, den Beschluss des Bundestages zum Wiederaufbau des zerstörten Berliner Stadtschlosses polemisch zu unterlaufen. Bekanntlich unterlag die PDS
damit; der Beschluss zur Wiedererrichtung des StadtVera Lengsfeld
schlosses ist in diesem Hause mit überwältigender Mehrheit getroffen worden.
Trotzdem geht der Kampf weiter; denn bis heute gibt
es keine konkreten Schritte zur Umsetzung dieses Beschlusses. Mittlerweile wird mehr davon geredet, was
man mit der Ruine des Palastes der Republik anfangen
könnte, als davon, wie man sie los wird, obwohl jede
Nutzung der Palastruine indirekt ein Unterlaufen der
Umsetzung des Bundestagsbeschlusses bedeutet. Zudem
kostet diese Zwischennutzung sehr viel Geld. Manche
Schätzungen sprechen von 10 bis 16 Millionen Euro.
Der Verein für die Zwischennutzung des Palastes, der
sich im Mai dieses Jahres gegründet hat, nennt selbst
schamhaft 1,5 Millionen Euro, die nötig seien, um die
Ruine wieder in einen begehbaren Zustand zu versetzen.
Nach einer Pressemitteilung des Vereins sollen diese
1,5 Millionen Euro zunächst - ich betone das Wörtchen
„zunächst“ - aus privaten Mitteln aufgebracht werden.
Hier stellt sich sofort die Frage, was geschehen wird,
wenn die Mittel nur zur Hälfte oder zu drei Vierteln privat aufgebracht werden können. Sicherlich wird dann
wieder nach Bundesmitteln gerufen werden.
Immer wieder ist zu lesen, der so genannte Palast verdiene eine Gnadenfrist. Was heißt denn Gnadenfrist,
liebe Kolleginnen und Kollegen? Es ist unstreitig, dass
das Stadtschloss vor allen Dingen durch seine barocke
Erweiterung zu einer der kulturhistorisch bedeutendsten
Residenzen Europas wurde. Der Palast der Republik, der
in den 70er-Jahren auf dem Grund des abgerissenen
Stadtschlosses errichtet worden war, war niemals ein Palast des Volkes. Er war beim Volk in etwa so beliebt wie
die DDR-Regierung. Er wurde allerdings zum Symbol
für all jene, die sich mit dem ruhmlosen Verschwinden
der DDR niemals abfinden konnten und mithilfe des Palastes der Republik ihre ewig gestrigen Grabenkämpfe
weiterführen wollen.
Frau Staatsministerin Weiss, Sie haben vorhin die
Grabenkämpfe beklagt. Ich weise Sie auf eine Presseerklärung des Vereins „Zwischennutzung“ hin, dem Sie
laut Internet ebenfalls angehören sollen. Ich persönlich
empfinde es als sehr problematisch, wenn Sie einen Parlamentsbeschluss durchsetzen sollen und gleichzeitig einer Bürgerinitiative angehören, die sich für eine Zwischennutzung stark macht. Das ist ein Interessenkonflikt,
dem ich mich, wenn ich Kulturstaatsministerin wäre,
nicht aussetzen würde.
({0})
- Ich hätte mich auch unhöflicher ausdrücken können.
Ich wollte einfach nett sein
({1})
und nett das rüberbringen, was eigentlich eine skandalöse Tatsache ist.
In dieser Pressemitteilung des Vereins „Zwischennutzung“ steht zu lesen, dass eine Zwischennutzung nicht
notwendigerweise den Erhalt des Palastes der Republik
zum Ziele habe. Was heißt denn „nicht notwendigerweise“? Das heißt, ein Erhalt des Palastes der Republik
wäre das eigentliche Ziel des Vereins - zu erreichen über
die Zwischennutzung -, das er aber aus politischen
Gründen jetzt nicht so deutlich nennen will.
({2})
Die Zwischennutzung wird also von diesem gleichnamigen Verein als Chance begriffen, um - ich zitiere - bewusst Abschied zu nehmen von einem Gebäude, das wie
kein anderes für die DDR-Gesellschaft von zentraler Bedeutung war und dessen unvermeidbare Asbestsanierung
von vielen als symbolischer Akt eines kalten Abrisses
angesehen wurde. - Das, liebe Frau Weiss, sind nun
wirklich Grabenkämpfe. Die werden nicht im Antrag der
CDU/CSU geführt, sondern in Presseerklärungen wie
dieser.
Deshalb ist es nicht vermessen, den Initiatoren zu unterstellen, dass es ihnen um Ostalgie geht, um eine Werbung für die Wiederherstellung des Palastes, um ihr
ewiggestriges Anliegen, die DDR nicht vergehen zu lassen.
({3})
Deshalb erwarte ich eine ganz klare Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung des Beschlusses des Parlamentes. Ich denke, es wäre eine tolle Sache, wenn wir
am 3. Oktober 2010 - passend zur Agenda des Kanzlers - gemeinsam die Schlosseröffnung feiern könnten.
({4})
- 2010. Ich sagte: Passend zur Agenda Ihres Kanzlers
sollten wir gemeinsam die Schlosseröffnung feiern und
damit einen symbolischen Schlussstrich unter die DDRNostalgie setzen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Eckardt Barthel, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
würde gern höflich sein. Aber bei dem letzten Beitrag
hatte ich das Gefühl: Ich bin im falschen Film.
({0})
Denn es geht hier nicht darum, den Palast der Republik
wieder aufzubauen. Soviel ich weiß, geht die Debatte darum, was mit dem Schloss geschehen soll bzw. wann es
wieder aufgebaut werden soll.
({1})
Eckhardt Barthel ({2})
Es ist inzwischen eine wirklich nervende Geisterdiskussion darüber im Gange, ob eine Zwischennutzung
richtig oder falsch ist. Eine solche wird es kaum geben.
Denn das kann keiner bezahlen; so simpel ist die Geschichte. Im vorliegenden Antrag wird gefordert, dass es
keine ideelle Unterstützung seitens der Bundesregierung
geben soll. Ich stelle mir einmal vor, im Palast der Republik fände eine Veranstaltung statt und Frau Weiss würde
sich eine Eintrittskarte kaufen und in den Palast hineingehen. Ist das dann eine ideelle oder gar materielle Unterstützung der Bundesregierung im Hinblick auf eine
Zwischennutzung?
({3})
Ich finde das alles sehr merkwürdig. Diejenigen, die
sich immer auf die Expertenkommission berufen, vergessen an diesem Punkt die Aussage der Expertenkommission. Denn gerade die Expertenkommission hatte den
Vorschlag einer Zwischennutzung gemacht, und zwar
mit der Bedingung - die Bundesregierung hat sie aufgenommen -, dass es keine Verfestigung der Nutzung geben darf und dass keine Mittel hineingesteckt werden
dürfen. Trotzdem immer wieder diese Mühle der Zwischennutzung! Ich begreife es nicht. Aber vielleicht ist
das auch der leichteste Teil des gesamten Problems.
({4})
Was ist eigentlich der Kern dessen, worüber wir sprechen?
({5})
- Danke! - Sie fordern ja einen zügigen Wiederaufbau
des Stadtschlosses. Ich nenne drei Punkte, die den Rahmen dieser Diskussion bilden, und zwar zunächst unseren Beschluss. Ich wiederhole ihn nicht; ich lege nur
Wert darauf, ihn im Rahmen dessen, was ich vorschlagen möchte, zu erwähnen.
Herr Kollege Barthel, darf der Kollege Rexrodt eine
Zwischenfrage stellen?
Natürlich.
Herr Kollege Barthel, Ihre Ausführungen zur Zwischennutzung veranlassen mich zu der Frage an Sie als
Mitglied einer Fraktion, die die Regierungskoalition
trägt, ob Sie bestätigen können, was die Kollegin
Lengsfeld eben geäußert hat: dass die Staatsministerin
Weiss Mitglied einer Initiative sei, die sich für die Zwischennutzung des Palastes der Republik einsetzt. Dies
möchte ich gerne von Ihnen bestätigt oder dementiert haben, wenn Sie das können.
({0})
Herr Rexrodt, ich gestehe, dass ich gar nicht alle Vereine kenne, denen ich angehöre. Erst recht weiß ich
nicht, in welchen Vereinen die Staatsministerin ist. Ich
mache Ihnen einen einfachen Vorschlag: Fragen Sie sie
nachher selbst.
({0})
Wir sind ja gleich fertig. Vielleicht kriegen wir das dann
noch heraus.
({1})
- Ich finde das jetzt wirklich ein bisschen kleinkariert.
({2})
Wir reden über ein Projekt, das vielleicht 700 oder
800 Millionen Euro kosten wird, und Sie fragen nach der
Mitgliedschaft der Staatsministerin in einer Initiative.
({3})
- Wenn Sie mir jetzt die Chance gäben, weiterzureden,
wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Um die augenblickliche Situation richtig ermessen zu
können, sollte man sich noch einmal die Eckpunkte vor
Augen halten.
Der erste Eckpunkt ist unser Beschluss. Er steht. Das
sage ich ganz bewusst, auch angesichts dessen, was ich
noch sagen werde.
Zweitens. Der Schlossplatz ist potthässlich. Er schreit
nach Veränderung und nach Gestaltung.
({4})
Drittens. Nach meiner Wertung - ich bin sicher, Sie
teilen diese Meinung - haben wir ein grandioses Nutzungskonzept für dieses Schloss.
({5})
Jetzt beginnt mein Problem, Herr Nooke. Das Konzept
geht von 80 Prozent öffentlicher Nutzung aus. Sie sagen
jetzt leichtfertig, Sie wollten es zwar nicht, aber es könnten auch 20 Prozent öffentliche Nutzung sein.
({6})
Um Gottes willen! Dann lieber nichts dorthin bauen.
Was gehört zum Nutzungskonzept? Die außereuropäische Sammlung aus Dahlem, die wissenschaftliche
Eckhardt Barthel ({7})
Sammlung Humboldt und Teile der Stadtbibliothek sollten dort hinein. Das ist eine sinnvolle Nutzung.
({8})
Das ist nur möglich, wenn mindestens 80 Prozent des
Gebäudes öffentlich genutzt werden.
Ich glaube, wir müssen einen vierten Eckpunkt formulieren. Wir haben heute Morgen alle die Regierungserklärung und die Debatte zur finanziellen Situation unseres Landes gehört. Jetzt erlaube ich mir, einen ganz
persönlichen Vorschlag zu machen. In Anbetracht der finanziellen Situation dieses Landes und dieser Stadt sollten wir - obwohl der Bau des Schlosses zulasten des
Bundes gehen wird - ehrlich sagen: Wir verschieben
dieses Projekt,
({9})
bis wir ein Finanzierungskonzept entwickeln können,
({10})
das dem Nutzungskonzept entspricht.
({11})
- Das ist meine persönliche Meinung. Das wäre Ehrlichkeit. Das wäre Klarheit. Sie können dagegen sein. Gestatten Sie mir eine eigene Meinung! Vielleicht ist Ihnen
so etwas fremd.
({12})
Ich bitte Sie wirklich, sich zu überlegen, ob das nicht
eine Möglichkeit wäre.
({13})
Aber auch dazu gehörte erstens eine Schleifung des Palastes der Republik - so schnell wie möglich - und zweitens eine Gestaltung dieses Areals; ich könnte mir eine
gärtnerische Gestaltung gut vorstellen.
({14})
Dann können wir - ohne unseren Beschluss infrage zu
stellen - die Zeit nutzen.
Wir sollten der nächsten Generation vielleicht nicht
nur - das betonen Sie ja immer - große Schulden, sondern auch eine Aufgabe übertragen, die zu lösen wir zurzeit aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind.
Ich danke Ihnen.
({15})
Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig: Vor Jahresfrist hat der Bundestag beschlossen, den Berliner Schlossplatz neu zu gestalten, den Palast der Republik abzureißen und eine Schlossattrappe
aufzubauen. Die PDS war dagegen; das wurde heute
schon gewürdigt. Ich hatte für mein Nein politische,
städtebauliche, historische, ökonomische und demokratische Gründe und ich habe sie mehr denn je. Die Debatte
vom Vorjahr ist nachlesbar, wir müssen sie heute hier
nicht wiederholen.
({0})
Als Berlinerin wiederhole ich: Der Schlossplatz ist alles
andere als ein werbendes Kleinod unserer Stadt. Er ist ein
totes Areal, und das schon seit 13 Jahren. Deshalb hat die
PDS vorgeschlagen, den Platz mit Zwischennutzungen zu
beleben, die anziehend und gefragt sind. Vor einer Woche zog Beachvolleyball Tausende auf den Platz. In den
nächsten Tagen wird die Aktion „Schaustelle Berlin“
wiederum Tausende anziehen. Der asbestsanierte Palast
kann von innen besichtigt werden. Das ist gut und das
klappt nur, weil es Ideen und Initiativen gibt.
({1})
Damit Sie nicht noch eine Zwischenfrage stellen, gestehe ich: Ich habe für ganze 5 Euro schon eine Eintrittskarte erworben und werde mir morgen um 16 Uhr den
Palast ansehen. Die erste Führung ist schon seit drei Wochen ausverkauft.
({2})
Damit bin ich beim Antrag der CDU/CSU. In diesem
Antrag wird gefordert, jede finanzielle wie ideelle direkte und indirekte Unterstützung einer Nutzung des Palastes der Republik abzulehnen.
({3})
Im Klartext: Sie fordern, dass der Bundestag jedwede
Initiative ablehnen soll, die dazu führen könnte, dass der
Palast zwischengenutzt und der Platz belebt wird. Frau
Merkel, Herr Nooke, Frau Lengsfeld, ich finde, so viel
Kalk und Berlin-Ferne wurden selten zu Papier gebracht.
({4})
Deshalb verspreche ich Ihnen in Anlehnung an eine ostbekannte Satire: Am Ende des Sommers wird es heißen:
„Die Berliner lächelten sehr finster“, zumal es inzwischen über 200 Ideen und Anträge gibt, den Palastrohbau zu nutzen.
({5})
Dass garantiert nicht nur DDR-Nostalgiker an einer Zwischennutzung interessiert sind, zeigt mir meine Postmappe, denn merkwürdigerweise kommen die Interessenten aus den westlichen Bundesländern und aus der
Architektenkammer, ehemals Westberlin.
Zum Schluss noch zum großen Thema Geld. Die
Schlossfans haben immer wieder behauptet, das Finanzproblem sei ihr kleinstes Problem. Warum also belästigen Sie heute den Bundestag mit Kleinkram, anstatt sich
dafür zu engagieren, dass nicht noch mehr Kultureinrichtungen gefährdet werden,
({6})
weil den Ländern und Kommunen bundesweit immer
mehr Gelder entzogen werden? Sagen Sie mir bitte
nicht, die allgemeine Finanznot hätte allein Rot-Grün
verschuldet. Vor einem Jahr zog die CDU/CSU durchs
Land und forderte: Die Steuern müssen runter. - SPD
und Grüne sagten „Aber“ und fragten besorgt, wodurch
denn die Ausfälle im Staatssäckel kompensiert werden
sollen. Nun hat Rot-Grün das Gleiche beschlossen und
Sie fragen, wie es kompensiert werden soll. Dieses Wirrwarr herrscht also bei Rot-Grün genauso wie bei Ihnen.
Und unisono weichen Sie unserer Frage aus, nämlich der
Frage nach gerechten Steuern - ganz wie Kaiser
Wilhelm weiland im Stadtschloss.
({7})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich
der Staatsministerin das Wort zu einer Erklärung zur
Aussprache.
({0})
Herr Nooke! Frau Lengsfeld! Meine Damen und Herren! Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich außer in einem
einzigen Kunstverein und in einem einzigen Literaturhausverein in keinem anderen Verein Mitglied bin. Vielleicht beruhigt Sie das in Bezug auf die politische Sauberkeit.
({0})
Ich erlaube mir allerdings, die Vorschläge der Kommission sehr ernst zu nehmen, und ich habe immer die Position vertreten: Wenn in der Zwischenzeit eine gute privat
finanzierte Zwischennutzung des Palastes möglich ist,
werde ich sie unterstützen. Wenn es diese Möglichkeit
nicht gibt, richte ich mich nach der Realität.
Vielen Dank.
({1})
Frau Staatsministerin, ich vermute, dass die Offenlegung Ihrer für Parlamentarier völlig untypisch niedrigen
Zahl von Vereinsmitgliedschaften Ihnen eine Flut von
Zuschriften mit entsprechenden Angeboten einbringen
wird.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1094 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 d sowie
die Zusatzpunkte 4 und 5 auf:
11 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Doris Barnett, Uwe
Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele
Hustedt, Volker Beck ({1}), Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung eines fairen und nachhaltigen Han-
dels durch eine umfassende entwicklungsori-
entierte Welthandelsrunde
- Drucksache 15/1317 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordnten Erich G.
Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim
Welthandel mit Dienstleistungen - GATS-Verhandlungen zügig voranbringen
- Drucksache 15/1008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Günter
Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Qualitätssicherung im Bildungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garantieren
- Drucksache 15/1095 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Internationale Rechtssicherheit und transparente Regeln für den Dienstleistungshandel GATS-Verhandlungen voranbringen
- Drucksache 15/1010 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G.
Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche
WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico
- Drucksache 15/1323 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Wohlstand für alle durch mutige Marktöffnung
- Drucksache 15/1333 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen geben wir
Bundesregierung und EU-Kommission klare Richtlinien
für die laufende Welthandelsrunde und die GATS-Verhandlungen an die Hand.
Dies ist umso wichtiger, weil sich die Weltwirtschaft
und das Welthandelssystem in einer kritischen Situation
befinden: Seit der deutlichen Abschwächung der Weltwirtschaft vor drei Jahren ist es immer noch nicht zu einer dauerhaften Erholung gekommen; auch der Ausblick
auf das kommende Jahr ist nicht sonderlich rosig. Eine
stagnierende Weltwirtschaft mit schwachem Wachstum
und steigenden Arbeitslosenzahlen in der Europäischen
Union und den USA macht es den Industrienationen
schwer, substanzielle und schnell wirksame Handelszugeständnisse zu machen und zügig umzusetzen. Damit
entwickelt sich eine Vertrauenskrise zwischen den großen WTO-Mitgliedern und den Entwicklungsländern,
die auf die Erfüllung des Versprechens von Doha pochen, eine Entwicklungsrunde zu machen.
Zur gleichen Zeit wird die Glaubwürdigkeit und Legitimität des Welthandelssystems in Zweifel gestellt. Für große
Teile der Öffentlichkeit bleibt fraglich, ob das derzeitige
System tatsächlich zu mehr nachhaltigem Wachstum, höherem Lebensstandard, besseren Arbeitsbedingungen, besserem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und einer
entscheidenden Reduzierung der Armut führt.
Für Deutschlands Wirtschaft und seine Arbeitsplätze
ist die Entwicklung des Welthandels von zentraler Bedeutung; schließlich sind wir Vizeweltmeister im Export. Wir müssen aber auch erkennen, dass eine befriedigende und stabile Aufwärtsentwicklung nicht allein in
der Zunahme des Handelsvolumens, sondern auch in
dessen gleichgewichtiger Entwicklung besteht. Gerade
im Kontext eines sich stets verlangsamenden weltweiten
Wachstums müssen wir erkennen, dass lange Zeit bestehende hohe Handelsbilanzdefizite, aber auch -überschüsse früher oder später auf den weltweiten Währungs- und Finanzmärkten Ungleichgewichte und zum
Teil nicht unerhebliche Finanzkrisen hervorrufen.
({0})
Diese Finanzkrisen haben häufig nicht nur negative
ökonomische Auswirkungen in den betroffenen Staaten
und Regionen, sondern führen zunehmend zu mehr
Armut und Verelendung von Hunderten von Millionen
Menschen. Der Handel und seine Liberalisierung bringt
gewiss Wohlstandsgewinne, dies aber, wie UNCTADStudien zeigen, nicht automatisch und nicht in allen Ländern. Es bedarf mehr, damit der Handel eine Erfolgsstory für viele wird.
({1})
Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in
Johannesburg wurde überzeugend aufgezeigt, dass Handel ohne Zweifel eine wichtige Säule der Entwicklung
ist, aber nur dann, wenn gleichzeitig und gleichrangig
ein umfassender Schuldenerlass, die Sicherung angemessener Beschäftigung einschließlich der grundlegenden Arbeits- und Sozialrechte, die Verwirklichung von
Demokratie und Menschenrechten, die Armutsbekämpfung und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen angestrebt und schrittweise erreicht werden.
({2})
Wer diese Zusammenhänge nicht sieht, wird mit Handelspolitik pur scheitern.
Das Welthandelssystem ist verwundbarer, als wir häufig glauben. Das haben uns nicht nur die Ereignisse vom
11. September und der Irakkrieg gezeigt, sondern auch
die schädlichen Auswirkungen von letztlich kleinen Epidemien wie SARS. Deswegen müssen wir, wenn wir vor,
während und nach der Konferenz in Cancun verhandeln,
unsere Prioritäten für eine erfolgreiche Handels- und
Entwicklungspolitik deutlich machen:
Erstens. Jede Maßnahme in der WTO muss zu mehr
nachhaltigem Wachstum, weniger Armut, mehr Wohlstand und vor allem zu mehr Arbeitsplätzen, möglichst
regional gleichgewichtig verteilt, führen.
({3})
Zweitens. Jede Ausweitung des multilateralen Welthandelssystems muss sich als Bestandteil einer kohärenten Politik verstehen, die internationale Konventionen
und Verträge, die Ziele der UN-Organisationen wie
UNEP, UNCTAD oder ILO - zum Beispiel beim Klimaund Umweltschutz, bei den Menschenrechten sowie bei
Arbeits- und Sozialrechten - nicht nur selbstverständlich
akzeptiert, sondern diese in ihren Streitschlichtungsverfahren auch respektiert.
({4})
Drittens. Die WTO muss wirklich multilateral sein
und von den kleineren und ärmeren Ländern auch als
Schutzschild gegenüber der Übermacht und - auch das
sage ich - dem politischen Übermut großer Handelsmächte dienen.
({5})
Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall.
Wenn wir ein faires und für kleinere und ärmere Länder umsetzbares Handelssystem wollen, dann müssen
wir auch darauf achten, dass administrative Vorschriften für sie tragbar und umsetzbar sind. Wenn wir in unseren Ländern von einem „small business act“ sprechen,
dann müssen wir uns auch überlegen, ob wir in der Welthandelsorganisation nicht so etwas wie eine „small and
poor countries clause“ brauchen, sozusagen eine „WTO
light“, damit diese Länder die Vorschriften auch wirklich
handhaben können.
({6})
Viertens. Wir brauchen eine WTO-Reform an Haupt
und Gliedern, um die Organisation wieder politisch und
sozial hoffähig zu machen. Wenn die WTO in ihrem Verhandlungsprozess nicht möglichst offen, transparent und
partizipativ agiert und mit den anderen UNO-Organisationen kooperiert, dann wird sie nicht erfolgreich sein
können.
({7})
Was wir im Vorfeld bei den letzten Verhandlungen auch
im Zusammenhang mit GATS als Parlamente erlebt haben, von den Gewerkschaften, den Nichtregierungsorganisationen und der breiten Öffentlichkeit einmal ganz zu
schweigen, das geht auf keine Kuhhaut. Geheimdiplomatie des 19. Jahrhunderts ist in einer modernen Massendemokratie des 21. Jahrhunderts fehl am Platze. Das
müssen sich die WTO, die EU-Kommission und unsere
Beamten endlich einmal hinter die Ohren schreiben.
({8})
- Das Parlament muss sich das nicht hinter die Ohren
schreiben.
({9})
Wir haben versucht, diesen Prozess klarzustellen und
durchzusetzen und wir haben zum ersten Mal in der Parlamentsgeschichte einen Parlamentsvorbehalt zu Außenwirtschaftsverhandlungen eingelegt, um genau dies zu
sichern.
({10})
Fünftens. Wir wollen bei GATS volle Flexibilität gesichert wissen, weil es hierbei nicht nur um wirtschaftsnahe Dienstleistungen geht, sondern um den ganzen Bereich von Bildung, Kultur, Gesundheitswesen und um
viele andere Dinge, über die unsere Kolleginnen und
Kollegen noch sprechen werden.
({11})
Wir wollen, dass künftige deutsche Parlamente Entscheidungen auch wieder rückgängig machen können, weil
ein demokratisch beschlossener Sozialvertrag auf Zeit,
wie nationale Gesetze nun einmal sind, nicht durch einen
faktisch nicht mehr revidierbaren internationalen VerDr. Sigrid Skarpelis-Sperk
trag, wie es GATS ist, abgelöst werden soll. Ich sage
nachdrücklich: Wir dürfen künftige Parlamente nicht
politisch entmündigen und in ihrer Souveränität begrenzen. Das ist unsere Aufgabe. Darauf müssen wir
achten, und zwar auch beim GATS und auch gegenüber
der EU-Kommission.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Der heutigen Debatte liegen vier Anträge zugrunde, davon drei von der Opposition. Daran sehen Sie,
wie fleißig wir sind. In allen Anträgen geht es darum,
dass wir an dem globalen Welthandel weiterarbeiten,
dass wir die Welthandelsrunden endlich zum Abschluss
bringen.
Dabei ärgert es mich, dass durch falsche Behauptungen, durch falsche Darstellungen von Fakten immer wieder Ängste geschürt werden.
({0})
Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben gerade ein Beispiel dafür gegeben, wie man das tun kann.
({1})
- Herr Tauss, ich erkläre es Ihnen ja. Wenn Sie zuhören,
dann werden Sie einiges lernen.
({2})
Bei der ganzen Debatte wird immer wieder behauptet,
dass die öffentliche Daseinsvorsorge liberalisiert werden soll. Das aber ist, wie wir wissen, überhaupt kein
Thema und davon steht auch in den gesamten Papieren
nichts.
({3})
Wenn wir bei GATS diesen Bereich ausklammern - er ist
sauber ausgeklammert -, dann haben wir den NGOs im
Prinzip den Wind aus den Segeln genommen. Wir sollten
hier in diesem Hohen Hause nicht ständig darüber diskutieren, weil wir die Leute dadurch nur verunsichern.
({4})
Wir alle sind aufgefordert - das ist auch meine Bitte an
Sie -, das Geschäft mit der Angst, welches Gruppen wie
VENRO, Attac und leider auch der DGB immer wieder
betreiben, zu ignorieren und eine intensive Öffentlichkeitsarbeit dafür zu betreiben, dass genau das zukünftig
nicht mehr läuft.
({5})
Leider gibt es in Ihrem wunderschönen weitschweifenden Antrag eine Reihe von Formulierungen, die genau
dieses Geschäft mit betreiben bzw. nach vorne bringen.
In Cancun soll beispielsweise eine Entscheidung über
zukünftige WTO-Themen von vornherein verhindert
werden. Wir halten das für grundsätzlich falsch.
Wir müssen nicht nur die Dienstleistungsmärkte öffnen. Natürlich müssen wir auch die Agrarverhandlungen
weiterbringen und bei den Zöllen weiterkommen. Es
müssen aber auch neue Themen her. Ich nenne nur Handel und Investitionen sowie Handelsvereinfachungen.
Wir können nicht einfach darüber hinweggehen; denn
diese Themen werden uns in der Zukunft beschäftigen.
Im Wesentlichen geht es dabei auch um Entbürokratisierung und Deregulierung. Das jedoch sind Felder, auf denen Rot-Grün sowohl national als auch international
keine besonders gute Rolle spielt.
({6})
Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Regierung auf,
die europäische Verhandlungsposition bezüglich einer
Abstimmung über neue Themen zu verändern. Wir wollen diese neuen Themen und wir wollen nicht erst warten, bis die nächsten Runden vorbei sind.
({7})
Die EU befindet sich nach dem Agrarkompromiss
von Luxemburg endlich auf einem besseren - wenn auch
noch nicht immer richtigen - Weg. Trotz der französischen Totalverweigerung gab es in Luxemburg einen
Kompromiss, den wir begrüßen. Es ist notwendig, dass
den Entwicklungsländern gerade auf diesem Sektor geholfen wird. Ich hoffe - hier sind wir sicherlich einer
Meinung -, dass wir das gemeinsam so sehen.
Lassen Sie mich zum Inhalt der GATS-Liberalisierung nur ganz kurz das Wichtigste sagen. Cancun muss
in dieser Welthandelsrunde in allen Bereichen, ob das
GATS, TRIPS oder GATT ist, so zügig wie möglich weitergeführt werden. Es darf keine Handelsbehinderungen
geben. Ich erinnere noch einmal an den Krimi von Luxemburg.
({8})
Der internationale Dienstleistungshandel besitzt
eine immense Bedeutung für die WTO. Zugleich ist dies
auch der Bereich, der zu Unrecht die größten Sorgen in
der Bevölkerung hervorruft.
({9})
Dagegen sollten wir gemeinsam vorgehen. Hier besteht
ein Bedarf an Aufklärung.
({10})
Für die Konsumenten bringt die Liberalisierung der
Dienstleistungen nämlich jede Menge: mehr Wahlmöglichkeiten, bessere Preise und höhere Qualität.
({11})
- Frau Skarpelis-Sperk, die Dienstleistungen sind zudem
ausgesprochen arbeitsintensiv und eine wichtige Quelle
für zukünftige Arbeitsplätze.
({12})
Dass wir in Deutschland durch Ihre falsche Politik diesbezüglich einen erheblichen Bedarf haben, weiß ja wohl
eigentlich jeder.
({13})
Mehr als 60 Prozent der Arbeitsplätze in der EU befinden sich im Dienstleistungssektor. Über 70 Prozent
unseres BIP werden dort erwirtschaftet. Die EU ist sowohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur
von Dienstleistungen. Deswegen besitzen Dienstleistungen eine gewaltige Bedeutung für das Wachstum und die
Beschäftigung. Seit den 90er-Jahren ist der Handel mit
Dienstleistungen im Schnitt immer etwa 10 Prozent
schneller gewachsen als der Exporthandel mit Waren.
Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
Ich habe es befürchtet. Bitte schön.
Er wird das auch mit der Zusage der Reduzierung seiner Zwischenrufe verbinden.
Lieber Herr Kollege Fuchs, es war ja unvermeidlich,
nachdem Sie mir versprochen hatten, ich könnte etwas
lernen. Bisher konnte ich nämlich noch nichts lernen.
({0})
Sie haben viele Dinge gesagt, die natürlich zu unterstreichen sind. Ich habe nur die Bitte, ob Sie freundlicherweise konkret werden können. Sie haben mehrfach
davon geredet, dass Dienstleistungen liberalisiert werden sollten. Welche Dienstleistungen meinen Sie? Gehört für Sie die Bildung - hier könnte man differenzieren: die öffentliche Bildung, die der Universitäten, die
Weiterbildung - dazu? Gehören für Sie auch die Kultur
und das Wasser dazu? Was gehört an Daseinsvorsorge
für Sie dazu? Haben Sie meine Frage verstanden? Dann habe ich einfach die Bitte, dass Sie mir antworten,
damit das allen klar wird.
Unterscheiden Sie bitte zwischen Daseinsvorsorge
und Dienstleistung, Herr Tauss. Das hatte ich eben schon
einmal gesagt; Sie geben mir aber die Gelegenheit, das
zu wiederholen, weil Sie eben anscheinend nicht zugehört haben.
Die öffentliche Daseinsvorsorge
({0})
wird bei GATS ausdrücklich ausgeklammert und liegt
nach wie vor in der nationalen Hoheit der Parlamente.
Fragen Sie Ihre Kollegin Frau Skarpelis-Sperk! Sie wird
es Ihnen erklären.
Insofern stehen diese Fragen überhaupt nicht zur Diskussion. Es wird immer genau das falsch gemacht, was
auch Sie gerade falsch machen, nämlich dass dieser
Punkt in die Debatte über Dienstleistungen aufgenommen wird. Das ist nach wie vor national zu regeln. Jedes
Parlament hat weiter die Möglichkeit, dies zu tun.
({1})
- Sie haben gerade nach der Daseinsvorsorge gefragt.
Zur Frage der Dienstleistungen sage ich Ihnen klar, dass
auch bei Dienstleistungen über Deregulierung nachgedacht werden kann. Die französische Position zur Kultur
- sprich: die Beschränkung beim Einkauf amerikanischer Filme, die jeder sehen will - kann ich nicht nachvollziehen.
({2})
Eine zügige Liberalisierung bedeutet auch den
Abbau von Handelshemmnissen. Hier ist die Regierung in der Handlungsverantwortung. Ich fordere Sie
auf: Schließen Sie dauerhaft nationale Regelungen aus.
Dadurch werden nämlich Anbieter und Investoren im
Dienstleistungsbereich benachteiligt. Ich denke vor allen
Dingen an die Entwicklungsländer; sie sind mir besonders wichtig. Frau Skarpelis-Sperk, für mich ist die beste
Formel für die Entwicklungsländer: Trade is better than
aid.
({3})
Wir müssen den Entwicklungsländern die Chance geben,
die Produkte, die sie herstellen können, zu exportieren.
Das gilt natürlich auch für den Agrar- und Textilbereich,
in dem in jedem Fall Hilfen vereinbart werden müssen.
({4})
Der Antrag der Regierungskoalition konzentriert sich
nicht auf das Wesentliche. Es gibt darin eine Menge an
Sozialschwärmerei. Dies stellt man fest, wenn man die
Ausführungen zu Geschlechtergleichbehandlung, Tierund Umweltschutz und vielen anderen Bereichen liest.
Sie wollen die WTO mit allen erdenklichen Politikfeldern zuschütten. Davon halte ich nichts. Wir brauchen
eine World Trade Organization und keine World Social
Organization.
({5})
Die Bundesregierung praktiziert dies schon in Deutschland zur Genüge. Ich glaube, die Ergebnisse sind nicht
so gut, als dass wir die dirigistischen Einflüsse, die wir
in diesem Land durch Ihre Regulierungswut haben, exportieren sollten.
({6})
Handel braucht einen Rahmen, in dem sich Unternehmer ihrer Handels- und Handlungsfreiheit erfreuen können. Vertreten Sie uns in Cancun mit dem Motto: Weniger ist mehr!
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welthandelsrunde in Cancun ist eine Zwischenetappe, aber
eine sehr bedeutsame. Aus unserer Sicht besteht spätestens nach dem Golfkrieg die Gefahr einer Krise des Multilateralismus. Die Frage ist berechtigt, ob von der WTO
wie auch von anderen multilateralen Institutionen ein
konstruktives Signal ausgeht, dass das multilaterale System eine Zukunft hat. Ob dies gelingt, ist allerdings offen. Multilaterale Spielregeln im Handel sind nicht nur
für eine Exportnation wie Deutschland wichtig, sondern
insbesondere ärmere und kleinere Länder sind bei der
zunehmenden Tendenz, bilaterale Verträge zu schließen,
deutlich benachteiligt, da sie keine Möglichkeiten haben,
strategische Allianzen zu bilden und so ihre Verhandlungsposition zu stärken.
Worum geht es bei der Doha-Runde? Gerade nach
den Ereignissen des 11. September hat die Staatengemeinschaft beschlossen, dass dies eine Runde für die
Entwicklungsländer werden muss, aus der sie einen Benefit vom internationalen Welthandel ziehen sollen. Das
hat einen guten Grund. Bisher - so war die Analyse der
Staatengemeinschaft - waren es die Industrienationen,
die von der WTO-Runde profitiert haben. Vielleicht waren es auch einige Schwellenländer. Aber die große
Masse der Entwicklungsländer, insbesondere die ärmsten Länder, haben nur draufgezahlt und eben keinen Benefit vom internationalen Welthandel gehabt.
Nun ist es so, dass gerade die Entwicklungs- und
Schwellenländer - das stimmt mich optimistisch - durchaus keine schwachen und hilflosen Länder mehr sind,
sondern die Schwellenländer werden zunehmend zu starken Verhandlungspartnern. Auch die ärmeren Länder bilden Allianzen, wodurch sie sich Gehör verschaffen können. Die Zeit, in der die Industrienationen einseitig ihre
Interessen durchsetzen konnten, ist vorbei. Hier liegt
auch ein entscheidender Unterschied zur UruguayRunde. Es ist völlig klar: Wenn die Entwicklungsländer
in dieser Runde keinen Benefit mit nach Hause nehmen
können, dann droht die Blockade der gesamten Verhandlung. Das wäre für uns als Exportnation fatal. Deswegen
liegt es in unserem ureigenen, auch wirtschaftlichen Interesse, dass bei dieser Runde ein Fortschritt für die Entwicklungs- und Schwellenländer herausspringt.
({0})
Im Übrigen ist mehr globale Gerechtigkeit auch aus
anderen Gründen von Interesse. Denn wenn wir über
Terrorismusbekämpfung und Friedenssicherung in der
Welt sprechen, dann bedeutet das auch, dass wir Entwicklungs- und Schwellenländern eine Chance zur Entwicklung geben, damit auch sie eine Perspektive haben.
Dazu gehört sicher - das wurde schon angesprochen -, dass die WTO demokratischer und transparenter
wird und es keine informellen Absprachen zwischen den
Industrienationen und den größeren Schwellenländern
gibt. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir abgehen von gleichen Regeln für alle und hinkommen zu Regeln, die dem
Entwicklungsstand der Länder angepasst sind.
({1})
Das heißt, dass die Schwächeren die Chance auf eine
spezielle und differenzierte Behandlung haben. Das gilt
für die Streitschlichtung genauso wie für die Umsetzung
der Verpflichtung und die Regeln für die Öffnung des
Marktzugangs.
Weil der Kernpunkt ist, Herr Fuchs, dass wir der
WTO-Runde zum Erfolg verhelfen, halten wir es für
falsch, die WTO-Runde mit den so genannten SingapurThemen zu überfordern.
({2})
Wir glauben, dass es ein Problem wird, wenn wir immer
noch etwas obendrauf packen, und dass das Ergebnis
nicht Fortschritt, sondern Blockade ist.
Die Parlamente müssen aus meiner Sicht - deswegen
hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal diese Frage zu einer zentraleren Zeit debattieren - eine größere Rolle
übernehmen. Ich finde es gut, dass wir uns vorgenommen haben, mit regelmäßigen weltweiten Parlamentskonferenzen diesen Prozess zu begleiten.
Ich wiederhole: Der Erfolg der WTO-Runde muss
substanzielle Zugeständnisse an die Entwicklungsländer
bedeuten. Das steht im Zentrum. Wichtig ist ein besserer
Marktzugang für die Entwicklungsländer, besonders in
den Bereichen, in denen sie exportfähig sind, das heißt
Landwirtschaft und Textilien.
Bedeutsam ist auch ein Abbau der Exportsubventionen. Herr Fuchs, Sie haben die Ergebnisse der Agrarverhandlungen gelobt. Mein Kollege aus dem Agrarausschuss hat mir gesagt, dass Ihre Kollegen im Ausschuss
heute genau das Gegenteil gesagt haben und kein einziges Lob, sondern nur Kritik über die Verhandlungsergebnisse geäußert haben.
({3})
In Europa subventionieren wir jede Kuh mit 2,50 Dollar
pro Tag.
({4})
Das ist mehr, als die Hälfte der Weltbevölkerung zum
Leben hat. Mit diesen hoch subventionierten Produkten
gehen wir in die Entwicklungsländer und zerstören dort
die heimischen Märkte. Das ist ein untragbarer Zustand,
der sofort beendet werden muss.
({5})
In einem Punkt bin ich besonders stolz auf unseren Antrag: Wir wollen zumindest einen Teil der frei werdenden Gelder als Wiedergutmachung den Entwicklungsländern zur Verfügung stellen. Das ist eine sehr gute
Position.
({6})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der die Entwicklungsländer betrifft. Ich finde, es ist ein Skandal,
dass wir die Einigung, die wir beim TRIPS-Abkommen
und beim Zugang der ärmeren Länder zu Medikamenten
in Doha erzielt haben, jetzt nachträglich von den USA
infrage gestellt wird. Ich erwarte und hoffe, dass nicht
weitere Zugeständnisse von den Entwicklungsländern
verlangt werden, sondern dass wir eine akzeptable Lösung finden.
({7})
Abschließend möchte ich etwas zu den GATS-Verhandlungen sagen. Die Thematik hier betrifft weniger
die europäischen Märkte. Aber ich finde es absolut unverständlich, dass die Europäische Union die Entwicklungsländer auffordert, ihre Wassermärkte und Finanzmärkte zu liberalisieren. Das ist erstens unglaubwürdig,
weil wir die Wassermärkte im eigenen Land nicht öffnen
wollen. Zweitens glaube ich, dass Wassermärkte nicht
pauschal liberalisiert werden sollten.
({8})
Wenn man zum Beispiel Chile und Argentinien vergleicht, dann stellt man fest, dass es besser ist, wenn sich
Entwicklungsländer punktuell gegen Krisen schützen
können und nicht eine pauschale Liberalisierung der Finanzmärkte vollzogen wird.
({9})
Ich erteile der Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die
Öffnung der Märkte für eine sehr wichtige Voraussetzung für den Wohlstand gerade auch der Entwicklungsländer halte, die einen Impuls für die Verbesserung der
Lebensverhältnisse und Chancen auf Bildung, Gesundheit und Rechtsstaatlichkeit bieten kann. Die Öffnung
der Märkte ist deshalb nicht zu verteufeln. Ich hebe das
noch einmal besonders hervor, weil dies in diesem Haus
offenbar auch nach der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“, in der wir uns schon sehr
mühsam mit diesen Binsenweisheiten herumschlagen
mussten, immer noch nicht klar geworden ist.
({0})
Ich möchte wegen der knappen Redezeit, die mir
noch bleibt, nur kurz auf zwei Punkte eingehen. Es geht
nicht darum, weitere Themen zu verhindern oder die
WTO-Konferenz zu überfrachten. Zunächst muss - das
ist völlig klar - die bestehende Agenda abgearbeitet werden. Danach aber müssen wir sie weiterentwickeln und
weitere Themen auf die Tagesordnung setzen - das
finde ich sehr wichtig, Herr Kollege Fuchs -; denn es
geht darum, die WTO erfolgreich zu gestalten. Insofern
geht es nicht um Stillstand und Blockade, sondern um
den Fortschritt.
({1})
Als exportorientierte Nation eröffnen sich bei einem
erfolgreichen Abschluss der GATS-Verhandlungen für
Deutschland enorme Chancen durch mehr Transparenz
und internationale Rechtssicherheit. Die FDP wendet
sich deshalb strikt gegen alle Versuche - diese werden
im rot-grünen Antrag an mehreren Stellen deutlich -, die
Bemühungen um mehr Rechtssicherheit auf internationaler Ebene beim Dienstleistungshandel zu blockieren
und sich von der übrigen Welt abzuschotten. Auch bei
den GATS-Verhandlungen erleben wir diese Zurückhaltung.
({2})
Gemäß der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen
Bundesbank standen im Jahre 2002 - diese wichtigen
Zahlen möchte ich an dieser Stelle nennen - den Erlösen
aus dem Dienstleistungsexport in Höhe von 110 Milliarden Euro Ausgaben für Dienstleistungsimporte nach
Deutschland in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenüber. Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbestände im Ausland entfallen auf die Dienstleistungsbranchen. In dieser Branche sind 1,6 Millionen
Menschen für deutsche Firmen im Ausland tätig. Es handelt sich dabei um einen Markt mit einem Umsatz von
640 Milliarden Euro. Man muss sich einmal vor Augen
führen, worüber wir eigentlich sprechen.
({3})
Deutschland ist eine führende Exportnation. Wir dürfen aber nicht zögerlich handeln - das gilt auch für die
Behandlung der vorliegenden Anträge -, sondern müssen dazu beitragen, dass die Verhandlungen vorankommen, um den Entwicklungsländern auf diese Weise mehr
Chancen zu bieten.
Wir als FDP sind entschlossen dagegen - und werden
entsprechende Versuche durchweg abwehren -, dass immer neue Bereiche zur so genannten Daseinsvorsorge
erklärt werden, nur um sie auf diese Weise einer LiberaGudrun Kopp
lisierung zu entziehen. Auch diese Tendenz war heute
wieder festzustellen.
({4})
Eines steht fest: Die WTO-Ministerkonferenz muss
besonders für die Entwicklungsländer ein Erfolg werden. Sie ist schließlich als Entwicklungsrunde vorgesehen. Wir als FDP bekennen uns auch ausdrücklich dazu.
Mein Kollege Michael Goldmann hat heute im Laufe des
Tages schon einmal zur Agrarpolitik, die ein sehr wichtiger Punkt auf der Agenda sein wird, Stellung genommen. Wir halten das Ergebnis des Agrarrates für einen
Schritt in die richtige Richtung. Aber dieser Weg ist
längst noch nicht so konsequent beschritten worden, wie
wir uns das vorstellen. Wir haben schon im Jahr 2000
mit der Kulturlandschaftsprämie ein Modell entwickelt,
das weitaus zukunftsfähiger ist.
({5})
Wir hätten uns gewünscht, dass wir uns damit stärker
hätten durchsetzen können. Von der rot-grünen Regierung wünschen wir uns, dass sie ihre Abschottungspolitik nicht länger fortsetzt.
Herr Kollege Fuchs, bitte reden Sie noch einmal mit
den Agrariern, damit Sie auf einen gemeinsamen Nenner
kommen.
({6})
Im Antrag von Rot-Grün - da ich das sehr bemerkenswert finde, möchte ich Ihnen das kurz zitieren - befinden sich Formulierungen, die den Geist des Rückwärtsgewandten ganz hervorragend zum Ausdruck
bringen. Hier ist die Rede von einer „gerechten Verteilung der Handelsgewinne“ - wer will die denn verteilen? - und von einer „Überprüfung aller Liberalisierungsmaßnahmen auf ihre Kulturverträglichkeit“.
(Michaele Hustedt ({7}): Was ist an einer gerechten Verteilung
rückwärts gewandt?
Des Weiteren heißt es - auch das halte ich für ein hervorragendes Beispiel Ihrer Politik -:
Vor Unterzeichnung von Handelsabkommen sollen
geschlechtsspezifische Folgenabschätzungen durchgeführt werden;
({8})
Ich empfehle, einmal über die Folgenabschätzungen Ihrer Politik zu diskutieren,
({9})
insbesondere über die Bremswirkung Ihrer Politik auf
Verhandlungen über notwendige internationale Abkommen.
({10})
Liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, das, was Sie vorschlagen, ist nach wie vor dazu geeignet, Reformen zu
verhindern.
({11})
Ich hoffe, dass wir diesen Duktus der 70er-Jahre bald
alle überwunden haben und wirklich nach vorne blicken
können. Wir dürfen nicht länger in den Dimensionen des
Protektionismus und in kleinen Schritten denken.
Ich bitte Sie alle, mitzuhelfen, damit die WTO-Verhandlungen ein Erfolg werden.
Vielen Dank.
({12})
Frau Kollegin Hustedt, ich bitte um Nachsicht, dass
ich nach deutlich überschrittener Redezeit nicht zur Verlängerung derselben auch noch Zusatzfragen zugelassen
habe.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Raabe für die SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geehrten Damen
und Herren! „Gerechtigkeit jetzt!“ - das ist das Motto
der Welthandelskampagne verschiedener Nichtregierungsorganisationen mit Blick auf die kommende WTORunde im September in Cancun. In der Tat geht es nicht
darum, den Entwicklungsländern irgendwelche handelspolitischen Geschenke zu machen, sondern endlich für
Gerechtigkeit im internationalen Handelssystem zu
sorgen. Deswegen muss ich erstaunt feststellen, dass in
einer Debatte, in der es um Strukturpolitik und nicht, wie
es oft dargestellt wird, um Almosen für die Entwicklungsländer geht, kein Entwicklungspolitiker von Union
und FDP anwesend ist. Das zeigt mir, dass Sie überhaupt
nicht begriffen haben, worum es in der Debatte am heutigen Abend geht,
({0})
und dass in Ihren Parteien noch immer von einem Entwicklungsverständnis ausgegangen wird, das den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Das merkt
man auch an solch platten Sprüchen wie von Ihnen, Herr
Dr. Fuchs, dass die WTO keine Weltsozialorganisation
sein solle. Ich sage Ihnen: Doha ist als Entwicklungsrunde definiert und das muss sie auch werden. Es geht
darum, den Entwicklungsländern faire Handelschancen
zu geben. Wir wollen mit unserem Antrag das Ziel erreichen, die Globalisierung sozial, ökologisch, nachhaltig
und gerecht zu gestalten. Dazu sollten Sie endlich Ihren
Teil beitragen, anstatt auf diese Weise die ärmsten Menschen zu diffamieren.
({1})
Da das Kräfteverhältnis zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden extrem ungleich ist, können
die WTO-Verhandlungen in Cancun nur dann zu einem
gerechten Ergebnis führen, wenn den Entwicklungsländern bei den geplanten Liberalisierungen eine Sonderund Vorzugsbehandlung, ein „special and differential
treatment“, eingeräumt wird. Dies gilt besonders für den
Agrarbereich; denn im ländlichen Raum leben drei Viertel der Hungernden dieser Welt.
Das Millenniumsziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu
halbieren, kann deshalb nur über eine Stärkung der
Landwirtschaft und insbesondere der Kleinbauern in
den Entwicklungsländern erreicht werden. Dies soll unter anderem durch die Aufnahme einer klar definierten
Development Box im WTO-Agrarabkommen geschehen. Dabei soll den Entwicklungsländern das Recht zugestanden werden, ihren eigenen Agrarsektor durch Außenschutz und interne Stützung schützen und fördern zu
können. Allerdings nutzt das Recht der Subventionierung den meisten Entwicklungsländern wenig, weil ihnen hierfür das Geld fehlt. Umso verwerflicher sind die
enormen Subventionen der Industrieländer für ihre
Agrarprodukte, die mit Billigstpreisen die lokalen
Märkte in den Entwicklungsländern zerstören.
({2})
Im vergangenen Jahr sind die Agrarsubventionen
der OECD-Länder nochmals gestiegen: um fast 13 Milliarden US-Dollar auf 318 Milliarden US-Dollar. Das
ist das Sechsfache dessen, was sie für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufbringen. Deshalb fordern
wir den vollständigen Abbau aller Exportsubventionen
und derjenigen Direktzuschüsse, die handelsverzerrend
wirken.
Frei werdende Mittel sollten - die Kollegin hat es
bereits gesagt - quasi als doppelte Dividende in die Förderung des ländlichen Raumes in Entwicklungsländern
gesteckt werden, auch um die Kapazitäten für die Weiterverarbeitung von Agrarprodukten auf- und auszubauen. Der von den europäischen Landwirtschaftsministern in Luxemburg erzielte Kompromiss, der vorsieht,
dass die europäischen Agrarsubventionen von der Produktion größtenteils abgekoppelt werden, ist sicherlich
begrüßenswert. Er wurde insbesondere auf Druck der
deutschen Bundesregierung erzielt. Er ist aber nur ein
Schritt in die richtige Richtung. Es müssen weitere
Schritte folgen - je schneller, desto besser!
({3})
Gleichzeitig muss der Zugang der Produkte der Entwicklungsländer zum Markt verbessert werden. Für Produkte
aus fairem Handel sollte dies sofort und in bevorzugter
Weise geschehen.
Der Abbau von Zöllen und nicht tarifären Handelshemmnissen, insbesondere auf weiterverarbeitete Produkte, ist nicht nur für den Agrarbereich, sondern für alle
Erzeugnisse der Entwicklungsländer wichtig, nicht zuletzt für den Textilsektor.
Nach Schätzungen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung könnte ein entsprechender Zugang zu den Märkten der Industrieländer
den Entwicklungsländern bis 2005 zu zusätzlichen Einnahmen von jährlich 700 Milliarden US-Dollar verhelfen. Dies entspricht 35 Prozent ihrer jährlichen Einnahmen bzw. 65 Prozent ihrer derzeitigen Einnahmen aus
Warenexporten. Herr Dr. Fuchs, ich sage es noch einmal:
Es geht in dieser Debatte nicht darum, soziale Wohltaten
zu verteilen, sondern diese schreiende Ungerechtigkeit
endlich zu überwinden und den Entwicklungsländern
das Recht einzuräumen, das wir, die Industrienationen,
uns schon seit Jahrzehnten herausnehmen.
({4})
In der globalisierten Welt sind für die Entwicklungsländer natürlich auch andere Bereiche der WTO-Verhandlungen von großer Bedeutung. Das Abkommen zum
Schutz der geistigen Eigentumsrechte, TRIPS, wurde
schon genannt. Die Gewinninteressen der Pharmaindustrie müssen hierbei eindeutig hinter das Lebensrecht der
ärmsten Menschen zurücktreten. Es muss erlaubt werden, dass diese Medikamente auch als Generika produziert werden. Wir dürfen dabei keine Kompromisse eingehen.
({5})
Was die GATS-Verhandlungen über die Liberalisierung von Dienstleistungen angeht, ist es keineswegs so,
wie es die Union hier dargestellt hat: dass überhaupt
nichts, was in den Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge fällt, zur Disposition steht. Das Menschenrecht auf
Trinkwasser gehört für mich zu den unverhandelbaren
Rechten; denn Trinkwasser ist kein beliebiges Handelsgut und darf deshalb nicht einfach dem freien Markt
überlassen werden.
({6})
Herr Dr. Fuchs, Sie sollten sich nicht nur mit dem Angebotskatalog der Europäischen Union beschäftigen. In
diesem Katalog kommt in der Tat zum Ausdruck, dass
die Europäische Union nicht möchte, dass die Verfügung
über das Trinkwasser zur Verbesserung unserer kommunalen Strukturen liberalisiert wird. Es ist unglaublich,
dass die EU eine entsprechende Forderung gleichzeitig
an 72 Entwicklungsländer stellt. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Forderung nicht mehr erhoben wird. Dies
ist ein Ziel unseres Antrages.
({7})
- Die Bundesregierung wird mit diesem Antrag von den
Regierungsfraktionen dazu aufgefordert, sich dafür einzusetzen. Wir gehen fest davon aus, dass sie entsprechend agieren wird.
({8})
Bei aller Kritik an bestehenden Ungerechtigkeiten im
Welthandelssystem - das möchte ich zum Abschluss sagen - dürfen wir aber zwei wichtige Punkte nicht aus
den Augen verlieren:
Erstens. In einer Stärkung der WTO mit ihren international verbindlichen Regelungen liegt eine große
Chance, gerade für die schwächeren Handelsnationen.
Zweitens. Die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre
zeigen uns, dass eine graduelle und selektive Liberalisierung auch eine echte Chance zur Bekämpfung von Armut
und Unterentwicklung sein kann. Es kommt aber darauf
an - wir haben es in unserem Antrag ausgeführt -, dass
die Länder selbst ohne Druck entscheiden können, welchen Schritt sie zu welchem Zeitpunkt gehen.
Ich komme zum Schluss.
Herr Kollege, es wäre schön, wenn der angekündigte
Abschluss auch stattfindet.
Weltweite Gerechtigkeit ist kein Luxus und kein Hindernis für mehr Wachstum; sie liegt vielmehr in unserem
wohl verstandenen eigenen Interesse; denn wir wollen in
einer friedlichen und gerechten Welt leben. Ich bin auch
unserer Ministerin dankbar, dass sie immer wieder darauf hinweist, dass Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, auch solche zur Armutsbekämpfung, befolgt werden müssen.
Herr Kollege, Dankesadressen an die Bundesregierung gehen nun wirklich entschieden zu weit.
Die WTO-Runde in Doha muss eine Entwicklungsrunde werden. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Im
wahrsten Sinne des Wortes: Gerechtigkeit jetzt!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. - Danke, Herr
Präsident.
({0})
Sie waren kurz vor dem Punkt, dass Sie für Wiederholungsfälle in besonderer Erinnerung geblieben wären.
Nun erteile ich dem Kollegen Erich Fritz für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich lege das, was ich mir aufgeschrieben hatte,
beiseite, weil ich bei sechs Minuten Redezeit nicht auf
die Beiträge eingehen und meine Rede halten kann.
Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben eine Rede gehalten,
({0})
die von manchen vielleicht als hervorragend eingeschätzt wird, die aber nichts anders beinhaltet hat als die
ganz normale Forderung: Wir wollen alles, und zwar
jetzt.
({1})
Über die Frage „Wo stehen wir jetzt und was ist machbar?“ haben Sie überhaupt keine Auskunft gegeben. Es
war ein Pauschalkatalog von Forderungen, die man sich
überhaupt nur ausdenken kann.
({2})
Das hilft im Augenblick natürlich überhaupt nicht weiter.
Wegen der Art und Weise, in der Sie das hier zusammengestellt haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen:
Vor wenigen Tagen fand in Genf ein Symposium bei
der WTO statt. Da waren NGOs aus der ganzen Welt
zusammen. Die Diskussion dort hat sich wesentlich enger an den Problemen und an der Praxis orientiert, als
das in dem Antrag der Fall ist, den die Koalition vorgelegt hat.
({3})
Sie waren viel näher an der Praxis und viel näher an
dem, um das es im Augenblick wirklich geht.
Sie haben gesagt, wir bräuchten eine Reform der
WTO. Haben Sie denn gar nicht mitbekommen, was sich
in der WTO geändert hat? NGOs sind bei der WTO akkreditiert.
({4})
Es gibt eine Transparenz, wie sie früher wahrscheinlich
weder von den Mitgliedstaaten gewünscht noch üblich
war.
({5})
- Richtig! Der Prozess einer parlamentarischen Begleitung beginnt. - Von Supachai, der das Konzept jetzt entwickelt, gibt es das Dialogangebot an die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen.
({6})
In der Vorbereitung wird alles auf den Tisch gelegt, wie
das vorher überhaupt nicht üblich war. Das heißt: Von
Geheimniskrämerei können wir vielleicht bei uns, vielleicht noch in Europa reden, aber sicherlich nicht bei der
WTO. Dort gibt es einige Elemente, die den Prozess
auch für Entwicklungsländer wesentlich transparenter
machen. Ich weiß nicht, ob Sie mitbekommen haben,
was hinsichtlich der technischen Unterstützung und der
Kapazitätsbildung von dem kleinen Apparat der WTO
geleistet wird.
({7})
- Das ist gut so. Wir tun mehr als andere. Das ist sehr erfreulich.
Das Ergebnis ist: Die Entwicklungsländer - nicht alle;
das ist klar - sind mittlerweile viel besser in der Lage
- da hat Frau Hustedt Recht -, an diesem Prozess teilzunehmen. Sie organisieren sich zunehmend. Das Ergebnis
dieser Organisation ist, dass sie vieles von dem, was in
Ihrem Antrag steht, nicht auf der Tagesordnung haben
wollen,
({8})
weil sie sich damit völlig überfordert fühlen und weil sie
nicht daran glauben, dass die Art und Weise, wie Sie die
Dinge miteinander verknüpfen, ihrer Realität wirklich
gerecht wird.
Sie wollen natürlich einen langsameren Fortschritt.
Sie wollen, dass bestimmte Themen nicht weiterverfolgt
werden. Sie wollen, dass die Singapur-Themen erst einmal zurückgestellt werden. Wir haben uns ja auch entschieden, dass in Cancun erst einmal darüber gesprochen
werden soll, ob zu den Themen Investment und Wettbewerb überhaupt verhandelt werden soll. Das heißt, da
gibt es Spielraum.
Die Europäer haben immer gedacht, mit der Agrarpolitik könne man sich Spielraum einhandeln. Das ist
ein großer Irrtum. Vertreter der Entwicklungsländer sagen: Ihr handelt euch mit Agrarpolitik gar nichts mehr
ein. Ihr seid ohnehin gezwungen, da etwas zu tun. Ihr
haltet das selbst nicht durch. Ihr habt in Europa einen Erweiterungsprozess, der Änderungen verlangt. Wir sehen
es als unser einfaches Recht an, dass wir jetzt Marktzugang bekommen.
({9})
So hat sich die Situation verändert.
Ich sage Ihnen eines, Frau Hustedt: Mit der Formulierung, die Sie gewählt haben, kommen Sie nicht weit.
({10})
Denken Sie nur einmal an das Beispiel Zucker. Wenn
wir den Zuckermarkt aufmachen, wie in „everything but
arms“ angeregt, dann müssen die Zucker produzierenden
AKP-Länder zunächst einmal einen drastischen Preisverfall hinnehmen. Daran muss man auch einmal denken.
({11})
Wer hat den Nutzen, wenn wir uns tatsächlich auf die
von den Cairns-Ländern vorgeschlagene Liberalisierung
des Agrarmarkts einlassen? Was sind die Präferenzsysteme dann eigentlich noch wert, die heute gegenüber den
AKP-Ländern und in Zukunft, wenn es möglich ist, darüber hinaus gegenüber noch mehr Entwicklungsländern
bestehen? Ist das wirklich miteinander vereinbar oder ist
es nicht eigentlich von noch größerem Nachteil, wenn
sie in kürzester Zeit der Konkurrenz der Cairns-Länder
ausgesetzt werden? Das sind Fragen, mit denen wir uns
beschäftigen müssen, um hier nicht falsche Eindrücke zu
bekommen.
Bei Public Health raschelt es, Frau Hustedt, hinter
den Kulissen. Der größte Blockierer sind im Augenblick
nicht mehr die USA, sondern ein kleines Land in der
Nähe: Die Interessen der Schweiz sind mittlerweile viel
hinderlicher als die USA.
Lassen Sie mich abschließend, Herr Präsident, etwas
zur parlamentarischen Beteiligung sagen. Wir haben es
geschafft, bei der WTO einen solchen Prozess in Gang
zu bringen. Hier sitzt heute kein Vertreter des Wirtschaftsministers; der Wirtschaftsminister selbst ist auch
nicht da. Das ist symptomatisch dafür, dass diesem Parlament die Informationen und Beteiligungsmöglichkeiten, auf die es im Vorfeld multilateraler Verhandlungen
Anspruch hat, nach wie vor nicht gewährt werden. Wir
haben uns alle darum bemüht, aber es ist nach wie vor
nur dem Zufall und dem Einzelengagement von Abgeordneten oder solchen Debatten zu verdanken, dass wir
überhaupt Gelegenheit haben, über diese Dinge vor Cancun zu diskutieren.
({12})
Es gibt aber eine Bringschuld der Bundesregierung. Sie
muss eingefordert werden und demnächst auch einmal
formal geregelt werden.
So, wie es abläuft, geht es nicht, verehrter Kollege
von der SPD, der Sie hier zur Entwicklungspolitik gesprochen haben. Wann haben Sie denn erfahren, dass es
Forderungen der EU an 65 Entwicklungsländer in Sachen Wasser gibt?
({13})
- Es sind 65, aber das ist egal, darum müssen wir uns
nicht streiten; es sind jedenfalls viele. - Wann haben Sie
es denn als Mitglied der Regierungspartei erfahren? Sie
haben es auch erst erfahren, als es Ihnen die entsprechenden Initiativen mitgeteilt haben und nachdem Ihnen
auch endlich der Vorschlag der Bundesregierung zugestellt wurde. Das muss sich ändern, denn wir werden nie
Akzeptanz in der Bevölkerung für diese Prozesse bekommen, wenn wir das Verfahren nicht ändern und es
nicht transparenter gestalten.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun die Kollegin Monika Griefahn,
SPD-Fraktion.
Ich weiß, dass die Zeit rennt, aber eine Sache muss
ich doch noch einmal klarstellen, Frau Kopp. Wenn man
darüber spricht, dass Frauen Zugang zu Bildung erhalten
und eine eigene wirtschaftliche Existenz aufbauen können sollen, führt man keine grüne oder sozialdemokratische Quotendebatte, sondern es geht um die existenzielle
Frage von Entwicklung.
({0})
Damit lassen sich wirklich viele Probleme lösen. Das sehen Sie in allen Ländern, in denen beispielsweise Mikrokredite für diese Belange eingesetzt werden. Ich möchte
Sie wirklich bitten, sich darüber noch einmal zu informieren.
({1})
Damit sind wir schon beim Thema, denn Bildung und
Kultur sind endlich auch einmal Gegenstand dieser
GATS-Verhandlungen. Das haben wir Präsident Chirac
zu verdanken, der bei der Konferenz in Johannesburg zu
der Frage von Umwelt und Entwicklung gesagt hat: Wir
brauchen die kulturelle Identität; das ist ein wichtiger
Punkt. Das sehen wir auch an den Auseinandersetzungen
bei den Welthandelskonferenzen. Vor Ort treten Konflikte, auch mit NGOs, auf, weil viele Länder denken, sie
würden über den Tisch gezogen, ihre kulturelle Identität
würde von einer McDonald’s- und Britney-Spears-Kultur überlagert, sodass sie sie verlieren, und dagegen protestieren.
Deswegen müssen wir bei all den Verhandlungen
auch die Identitäten der Völker, die jetzt von uns beglückt werden sollen, mit bedenken. Deswegen müssen
die Maßnahmen und Regeln des WTO-Regimes endlich
auch einmal dahin gehend überprüft werden, wie die
kulturelle Identität mit eingebunden werden könnte.
Deshalb fordern wir Kulturverträglichkeit. Das ist keine
antiquierte, sondern eine vorwärts gerichtete Strategie.
({2})
Ähnliches gilt auch für das GATS-Abkommen. Demzufolge sollen Bildung, Kultur und audiovisuelle Dienstleistungen möglichst liberalisiert werden. Okay, die EU
hat hierzu keine einheitliche Position und konnte deswegen auch nicht bestimmte Vorgaben durchsetzen. Wir
wissen aber doch, was passiert, wenn es zu Verhandlungen in einer großen Runde kommt. Hier herrscht tatsächlich Basarmentalität: Gibst du mir dies, gebe ich dir das.
Es gibt nun Gruppen, die ein großes Interesse daran haben, genau diese Bereiche zu liberalisieren und in einen
solchen Tauschhandel einzubeziehen. Ich glaube, vielen
ist nicht klar, was die Konsequenzen wären, wenn es so
kommen wird. Das ist keine Schwarzmalerei. Das sagen
ganz seriöse Anstalten.
Vertreter der ARD haben uns bei Gesprächen in Brüssel ganz deutlich gemacht, was zum Beispiel passieren
würde, wenn wir die audiovisuellen Medien doch liberalisieren würden: Die Zulässigkeit unseres öffentlichrechtlichen Systems mit den Rundfunkgebühren, welches die Sicherstellung einer Grundversorgung für die
Öffentlichkeit ermöglicht, würde dann durch WTO-Regeln bestimmt. Wenn sich ein Staat über unsere Gebühren
beschwert, würde ein Expertenpanel der WTO, das aus
drei Handelsexperten - ich betone: Handelsexperten - besteht, darüber befinden, ob unsere Gebühren dem internationalen Handelsrecht entsprechen oder nicht. Würde
ein Verstoß festgestellt, wir aber auf unseren Gebühren
bestünden, weil wir glaubten, dass dadurch die öffentlich-rechtliche Versorgung gesichert werden kann, so
könnte der Beschwerdeführer gegen uns Handelssanktionen, und zwar in jedem Bereich, verhängen. Man
muss sich einmal vor Augen halten, was das in der Konsequenz bedeutet. Ich will gar nicht die Länder aufführen, die ein Interesse an einem solchen Verfahren haben
könnten. Wir können uns aber, glaube ich, ganz gut vorstellen, welche Länder das sein könnten.
Das könnte auch die Deutsche Welle betreffen, die
vollständig vom Staat finanziert wird. Sie ist ein wichtiges Medium, auch zur Krisenprävention in der Welt.
Einzelne Länder könnten fordern, dass die Deutsche
Welle dort nicht mehr sendet, dass sie nicht mehr mit öffentlichen Geldern unterstützt wird. Sie könnten sagen,
dass sie nur weiter senden darf, wenn sie privat finanziert wird und gegenüber den anderen Sendern, die vielleicht von einem Millionär privat finanziert werden,
gleichberechtigt ist.
Ich kann nur sagen: Dagegen müssen wir uns wappnen. Das dürfen wir auch nicht im Rahmen eines
Tauschhandels irgendwann wieder freigeben. Wir müssen sehr wachsam sein. Viele, die sich mit der Materie
WTO und GATS beschäftigen, haben das nicht auf der
Platte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir über dieses
Thema heute hier diskutieren können.
({3})
Die UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen
Vielfalt ist auch für die Entwicklung der Länder wichtig.
Ich bin froh, dass die Verhandlungen darüber bald beginnen. Die WTO-Regime müssen Überlegungen zur Kulturverträglichkeit und die verschiedenen Identitäten berücksichtigen. In verschiedenen islamischen Ländern
sehen wir, dass es, wenn wir die kulturellen Identitäten
nicht anerkennen, dazu kommt, dass diese Länder mit ihrer kulturellen Identität Verstöße gegen Menschenrechte
und das Gleichheitsprinzip rechtfertigen.
({4})
Dann erfolgt eine Radikalisierung.
Darauf müssen wir auch beim Handel achten; denn
auch der Handel miteinander ist eine Form des kulturellen Umgangs.
Herzlichen Dank.
({5})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
die Verhandlungen über das GATS-Handelsabkommen
sind auch die Bildungsdienstleistungen einbezogen.
Hierbei stehen wir vor der Situation, dass Bildung zum
einen ein überwiegend öffentliches Gut ist, das mit einem gewöhnlichen Handelsgut nicht gleichgesetzt werden kann. Zum anderen ist Bildung aber auch ein Wirtschaftsfaktor, dessen Bedeutung im internationalen
Handel rasant wächst. In den USA werden allein von
ausländischen Studenten jährlich rund 10 Milliarden
Dollar durch Gebühren und täglichen Konsum umgesetzt.
Grundsätzlich begrüßt die CDU/CSU, dass die Liberalisierung des Welthandels mit Dienstleistungen konkrete Formen annimmt. Im Bildungsbereich trägt sie zu
mehr Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern, und
damit zu mehr Leistungsorientierung und Qualitätssteigerung, bei.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort
zur besonderen Rolle der Kultur sagen. Wir haben sie in
unseren Antrag aufgenommen; denn Kultur entzieht sich
der reinen Lehre des Handels mit Dienstleistungen; zum
einen, weil die Grenzziehung zwischen Ware und Kultur
ein schwieriges Unterfangen ist. Sie ist eine Kernaufgabe in einer demokratischen Gemeinschaft. Sie ist identitätsstiftend und lässt sich nicht ausschließlich wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterordnen. Carl
Christian von Weizsäcker hat folgerichtig betont, dass in
der Kultur andere Regeln gelten.
Zum anderen darf die öffentliche Unterstützung und
Subventionierung der Kultur in Deutschland nicht generell zur Disposition gestellt werden. In Deutschland gibt
es im Gegensatz zu Amerika eine 350-jährige Operntradition. Die Opernhäuser werden weitgehend aus öffentlichen Mitteln finanziert. Diese Unterstützung der deutschen Kultureinrichtungen kann nicht in gleichem Maße
von ausländischen Produzenten in Anspruch genommen
werden. Darauf werden wir achten müssen.
Während die Europäische Union in vielen Sektoren
Angebote zur Liberalisierung gemacht hat, hat sie im
Bildungsbereich kein Angebot zur Liberalisierung gemacht und auch keine Forderungen an die Länder gestellt. Nach den Worten des EU-Handelskommissars
Lamy soll es bei der Bildung keine Veränderungen geben. Im Beschluss der EU-Kommission heißt es wörtlich:
Die Kommission schlägt keine Verpflichtung im
Bildungssektor vor. Demzufolge behalten alle Mitgliedstaaten vollständig das Recht, über die geeignete Organisation ihres Bildungssystems zu entscheiden.
Somit stehen wir vor der Frage: Wie viel Markt verträgt die Bildung? Im Bildungsbereich ist die Verantwortung des Staates besonders groß. Deswegen sind einige
klare Regeln einzuhalten. Die Struktur des öffentlich finanzierten Bildungswesens in Deutschland darf nicht generell zur Disposition gestellt werden. Die öffentliche
Aufsicht über das Bildungswesen hat sich in Deutschland bewährt und muss aufrecht erhalten werden.
Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehr
wohl willkommen, wenn sie die vom Staat oder von Akkreditierungseinrichtungen gestellten hohen Qualitätsstandards erfüllen. Außerdem dürfen aus dem GATSAbkommen keinesfalls Subventionsansprüche ausländischer privater Bildungsanbieter abgeleitet werden. Der
so genannte Subventionsvorbehalt des Staates darf nicht
fallen.
({0})
Wir sagen deshalb Ja zur Liberalisierung, wenn sie
gleichzeitig und in gleicher Intensität in anderen Ländern eingeführt wird und wenn diese Länder in der gleichen Form, wie wir das tun, ihren eigenen Bildungsmarkt öffnen.
Dabei gibt es eigentlich keinen Grund für großen Pessimismus. Unlängst hat eine Delegation des Bildungsund Forschungsausschusses des Bundestages mit Verantwortlichen für die GATS-Verhandlungen im amerikanischen Department of Commerce gesprochen. Zunächst
lässt sich positiv aus den Gesprächen vermerken, dass
die USA beschlossen haben, sehr bald der UNESCO
wieder beizutreten.
({1})
Dies sehe ich als klares Zeichen der Amerikaner, sich
wieder verstärkt der internationalen Zusammenarbeit im
Bildungsbereich zu stellen.
Interessant ist auch, dass die USA keine vollständige
Liberalisierung wollen, sondern sehr wohl eigene nationale Anliegen formulieren. So sollen auch künftig USStudenten geringere Studiengebühren zahlen müssen als
ausländische Studierende. Außerdem sollen auch in Zukunft ausländische Universitäten, die ein Bildungsangebot in den USA offerieren, nicht die gleichen Subventionen und Steuermittel zur Unterstützung bekommen wie
die US-amerikanischen Universitäten. Auch nach einer
Liberalisierung sollen die US-Universitäten künftig ihre
Lehrpläne, Standards und Zulassungen selber regeln
können.
Was sagen uns diese amerikanischen Vorstellungen?
Es zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass die Auffassungen der USA auf der einen Seite und Deutschlands
und Europas auf der anderen Seite eigentlich nicht so
weit auseinander liegen. Es wird auch künftig möglich
sein, dass deutsche Universitäten bzw. die staatlichen
Einrichtungen in den Bundesländern Qualitätsstandards
setzen und Hochschulabschlüsse anerkennen. Auch werden die deutschen Bundesländer in Zukunft die eigenen
staatlichen Hochschulen mit Steuergeldern besonders
finanzieren und unterstützen können. Umgekehrt werden
ausländische Bildungsanbieter nicht automatisch die
gleiche Form der finanziellen Unterstützung bzw. Subvention durch den Staat beanspruchen können. Es ist
also das gemeinsame Anliegen der USA und Deutschlands, dass eine staatliche Finanzierung von Bildungseinrichtungen im eigenen Land keine Subventionsansprüche etwaiger ausländischer privater
Bildungsanbieter auslöst.
Insgesamt zeigt sich somit, dass es sehr wohl eine
ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den USA
und Deutschland bzw. der EU gibt. Ich denke, dies sollte
eine gute Grundlage dafür sein, dass die GATS-Verhandlungen auch im Bildungsbereich sachgerecht und konsequent zu einem für alle Beteiligten fruchtbaren Ergebnis
geführt werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zur Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels
durch eine umfassende entwicklungsorientierte Welthandelsrunde, Drucksache 15/1317. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkte 11 b bis 11 d: Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
15/1008, 15/1095 und 15/1010 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 4: Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/1323 mit dem Titel „WTO-Doha-Runde zum Erfolg
führen - Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche
WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexiko“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Zum Zusatzpunkt 5 wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1333 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
- Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
- Drucksache 15/1308 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün
hatte in der Koalitionsvereinbarung als Ziel formuliert,
eine Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen. Wir haben uns nun sehr bemüht, dies noch vor
der Sommerpause zu erreichen. Dass dies gelungen ist,
darüber darf man sich freuen. Auch freue ich mich, Herr
Nooke, dass sich alle vier Fraktionen auf eine gemeinsame Aufgabenbeschreibung einigen konnten. Das ist
nicht nur wegen der Atmosphäre, sondern auch im Hinblick auf die spätere Arbeit wichtig. Herr Nooke, Herr
Otto, ich bedanke mich bei Ihnen auch dafür, dass wir
dies so kollegial geregelt haben.
({0})
Dies ist ein gutes Zeichen für die Arbeit in den nächsten
beiden Jahren. - Herr Nooke, so viel zur Frage, wo denn
das Positive bleibe.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben uns in doppelter
Hinsicht begrenzt: Erstens haben wir die Dauer der Enquete-Kommission auf zwei Jahre festgelegt. Dies halte
ich insofern für sinnvoll, als am Ende dieser zwei Jahre
die Chance besteht, noch in dieser Legislaturperiode das
eine oder andere Ergebnis aus der Enquete-Kommission
in die parlamentarische Arbeit hineinzubekommen. Daher ist es gut, dass wir nicht in einer Endlosschleife landen; das soll es ja auch schon gegeben haben.
Zweitens haben wir uns bei der Festlegung der
Themen begrenzt, die wir behandeln wollen. Mir tut es
zwar ein bisschen Leid um meine lieben Kolleginnen
und Kollegen - ich sehe gerade Frau Griefahn -: Auswärtige Kulturpolitik und der Medienbereich einschließlich der neuen Medien sind nicht dabei. Aber es war angesichts der Begrenzung auf zwei Jahre notwendig, Mut
zur Lücke zu haben; anderenfalls hätte die Gefahr bestanden, in die Oberflächlichkeit abzudriften.
Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission
soll nicht nur eine Bestandsaufnahme der Situation der
Kultur in Deutschland vornehmen, sondern auch Handlungsempfehlungen erarbeiten. Wir alle wissen, dass es
mit unserer Kulturlandschaft nicht gerade zum Besten
bestellt ist.
Nun neige ich nicht dazu, die Arbeit einer EnqueteKommission überzubewerten und zu glauben, nach Abschluss ihrer Arbeit sehe die Welt anders aus. Wir sollten
sie aber auch nicht unterbewerten. Wenn wir dies geglaubt hätten, hätten wir uns allerdings auch nicht so
stark dafür engagiert.
Eckhardt Barthel ({2})
Was Aufgaben, Sinn und Kompetenz der EnqueteKommission angeht, zitiere ich eine Stimme von außen,
nämlich aus der „Welt“ von gestern, sofern es mir der
Präsident erlaubt.
({3})
- Dieser Präsident tut das.
Der Präsident weist gern darauf hin, dass der Modernitätsgrad dieses Parlaments schon so weit gediehen ist,
dass jederzeit Zitate ohne Genehmigung des Präsidenten
vorgetragen werden dürfen,
({0})
es sei denn, Herr Kollege, sie seien unflätig. Dann
müsste eingegriffen werden.
Da dieses Zitat aus der „Welt“ stammt, vermute ich,
dass das nicht zu erwarten ist.
Ich finde diesen Artikel ganz spannend; denn es wird
die Frage gestellt:
Wozu dieser ganze Aufwand im nationalen Parlament, das doch nach streng föderalistischer Lesart
für Kultur gar nicht zuständig ist?
Die Antwort darauf ist sehr faszinierend; ich möchte sie
Ihnen mitgeben:
Es geht darum, dass der Bundestag als demokratischer Souverän den politischen Willen der Kulturnation Deutschland zum Ausdruck bringt. Dazu
muss diese Kulturnation sich über sich selbst aufklären. Sie muss eine Vorstellung von ihrem Reichtum gewinnen und sich des Prozesses der schleichenden Verödung der Kulturlandschaft bewusst
werden. Wenn in finanziell strangulierten Kommunen die Stadttheater, die Bibliotheken, die Musikschulen sterben, dann geht das die ganze Nation an.
({0})
- Sie hat einen Rahmen. Wir sollten uns nicht überschätzen. Ich glaube aber, es ist wichtig, nicht nur darauf hinzuweisen, wie wir die Enquete-Kommission sehen, sondern auch darauf, wie sie von außen gesehen wird.
Zu diesen Aufgaben gehört natürlich - ich will nur einige nennen -: die Frage der Strukturreformen, die überall notwendig sind, die Frage, wie wir das bürgerschaftliche Engagement, das ja vorhanden ist und das durch
unser Stiftungsrecht - wenn ich das hier einmal sagen
darf - erhöht wurde, stärker in den Kulturbereich lenken,
die Frage der kulturellen Bildung und nicht zuletzt die
Aufgabe, die wirtschaftliche und soziale Situation der
Menschen in unserem Lande, die Kunst machen, aufzuarbeiten.
Das öffentliche Interesse an der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ ist schon im Vorfeld riesengroß.
({1})
- Da schauen wir nicht; das erleben wir permanent.
Wenn Sie einmal die Presse im Kulturteil verfolgen - die
FDP verfolgt anscheinend nur den Wirtschaftsteil -,
({2})
dann werden Sie feststellen, wie häufig darüber geschrieben wird, manchmal auch mit Häme - das gebe ich
gerne zu - unter der Überschrift „Noch eine Kommission“, wobei die dann mit der Rürup-Kommission usw.
gleichgesetzt wird;
({3})
aber das ist ein anderes Thema.
Die Enquete-Kommission stößt also auf ein sehr großes Interesse, vor allen Dingen - das ist für uns besonders wichtig - auf das große Interesse von Kulturinstituten sowie von Künstlerinnen und Künstlern an der
Arbeit, die wir leisten wollen. Man merkt es erstaunlicherweise - ich weiß, wovon ich rede - an den vielen
Angeboten von Einzelpersonen aus der Kulturszene und
auch von Kulturinstituten, mitzuarbeiten.
({4})
- Herr Otto, ich finde es ganz toll, dass diese Bereitschaft vorhanden ist.
Über etwas anderes bin ich ein bisschen traurig: Da
wir nur eine begrenzte Zahl von Sachverständigen haben
werden, werden viele, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, enttäuscht sein. Das tut mir schon jetzt
Leid.
Wir werden heute gemeinsam den vorliegenden Antrag beschließen. Ich bin sicher: Angesichts der gemeinsamen Vorbereitungen und der kooperativen Zusammenarbeit im Vorfeld wird auch die Arbeit in dieser EnqueteKommission sicher sehr erfolgreich werden - und dies
nicht, weil es uns Spaß macht, sondern weil hoffentlich
ein gutes Ergebnis herauskommt, was für unsere Kulturlandschaft in Deutschland nur positiv sein kann.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Gitta Connemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland hat eine einzigartige Kulturlandschaft. Unser
Land bietet eine beispiellose kulturelle Vielfalt, die über
viele Generationen gestaltet worden ist. Der frühere
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat dies treffend beschrieben. Er hat gesagt:
Unsere Kultur ist gewachsen wie ein kräftiger und
viel gestalteter Mischwald. Er leistet seinen Beitrag
zur lebensnotwendigen Frischluft.
Die Menschen in unserem Land - also wir - brauchen
Kultur. Stellen Sie sich ein Leben ohne Theater - sei es
Staatsbühne oder Volkstheater -, ohne Musik - sei es Philharmonie oder Kirchenchor -, ohne Tanz - sei es Ballett
oder Volkstanzgruppe -, ohne Literatur - sei es Roman
oder Kinderbuch -, ohne bildende Kunst - sei es im Museum oder zu Hause - vor.
Wir brauchen Kultur wie die Luft zum Atmen. Doch
diese Luft wird zunehmend dünner. Grund hierfür ist die
Not der öffentlichen Haushalte. Versiegende Finanzen
führen zur Schließung von Theatern, Museen oder Musikschulen. Die meisten dieser Einrichtungen verschwinden unwiederbringlich. Was jetzt verloren geht, wird
wohl verloren bleiben, selbst wenn sich die Haushaltslagen entspannen.
Meine Damen und Herren, wenn diese Entwicklung
nicht beendet wird, werden wir über kurz oder lang vor
den Ruinen dessen stehen, was einmal eine einzigartige
Kulturlandschaft war.
({0})
Dieser drohenden Gefahr sind sich alle Fraktionen in
diesem Hause bewusst. Mit dem vorliegenden interfraktionellen Antrag wollen wir deshalb eine Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einsetzen. Sie hat die
Aufgabe, eine umfassende Beschreibung des Kulturlebens in Deutschland zu liefern und folgende Fragen zu
beantworten: Was macht heute Kultur in Deutschland
aus? Was müssen wir schützen, was weiterentwickeln?
Es geht aber nicht nur um eine Bestandsaufnahme.
Ziel der Enquete-Kommission wird auch sein, dem Parlament auf dieser Basis konkrete, umsetzbare Vorschläge
für eine Bestandssicherung und für eine Stärkung von
Kunst und Kultur in Deutschland zu unterbreiten.
({1})
Um eine Grundlage für gesetzgeberische und ordnungspolitische Initiativen zu schaffen, bedarf es Fakten.
Da fehlen uns zum Teil aktuelle Daten, zum Beispiel für
den Bereich der Kulturförderung. Wie ist die Lage der
öffentlichen und der freien Kultureinrichtungen? Welche
Strukturen haben eine Perspektive, welche sind veraltet?
Wir wissen, dass die meisten kulturellen Einrichtungen in Deutschland öffentlich finanziert werden. Aber
Kultur ist eine freiwillige Aufgabe, keine Pflichtaufgabe.
Gerade in Zeiten von Verteilungskämpfen wie heute ist
dies häufig der einzige Bereich, an den Hand angelegt
werden kann. Hieraus folgt die Kernfrage: Gibt es einen
Anspruch auf eine kulturelle Grundversorgung? Was gehört zum notwendigen kulturellen Fundament einer Nation? Wie viel Kultur gehört zur Bildung? Wie viel Bildung setzt Kultur voraus?
Meine Damen und Herren, wenn über eine Verpflichtung des Staates - auf welcher Ebene auch immer nachgedacht wird, wird auf der anderen Seite über eine
stärkere Beteiligung des Nutzers zu diskutieren sein.
Wie viel Kultur muss aus öffentlichen Mitteln finanziert
werden? Es steht sicherlich außer Frage, dass der Staat
sich nicht gänzlich aus der Kulturförderung zurückziehen darf. Aber ohne private Kulturförderung wird es
dauerhaft nicht gehen, und zwar unabhängig von der
Kassenlage.
({2})
Denn im privaten Engagement liegt auch immer eine
Ressource, die finanziell nicht messbar ist. Wie können
wir in diesem Bereich bürgerschaftliches Engagement
stärken, wie können wir es attraktiver machen?
Auch bei uns gibt es Mäzenatentum. Denken Sie nur an
Männer in unserer Tradition wie Solomon Guggenheim
oder Heinz Berggruen! Privatleute wie zum Beispiel
Henri Nannen errichten Stiftungen. Schenkungen sind
keine Seltenheit. Sie sind aber nicht wie in angloamerikanischen Ländern die Regel. Kann dies durch flankierende Maßnahmen attraktiver gemacht werden? Bedarf
es anderer Regelungen im Bereich des Steuerrechts und
des Stiftungsrechts? Welche weiteren Möglichkeiten,
wie zum Beispiel Sponsoring, gibt es?
Kultur ist selbst ein wichtiger ökonomischer Faktor.
Mit Kultur lässt sich Geld verdienen. Kultur bietet Arbeitsplätze. Kultur wertet jeden Standort auf. Heute will
kaum jemand an einem Ort leben oder arbeiten, in dem
es kein kulturelles Angebot gibt. Kein Tourist besucht
gerne einen solchen Ort. Welche ökonomischen Chancen
bietet also Kultur? Welche Möglichkeiten gibt es für die
in diesem Bereich Tätigen? Kultur ist immer nur das,
was Menschen schaffen.
Die wirtschaftliche und soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler wird ein weiteres wichtiges
Thema sein. Ist ihre Situation befriedigend? Wie kann
sie gegebenenfalls verbessert werden, zum Beispiel im
Bereich der Künstlersozialversicherung? Wie steht es
mit dem Urheberrecht, dem Folgerecht im Kunsthandel?
In der derzeitigen Diskussion wird unter anderem die
Frage gestellt, ob wir das öffentliche Dienstrecht im
Kulturbereich brauchen.
Fragen über Fragen. Wir brauchen diese EnqueteKommission, um festzustellen, welche Fragen berechtigt
sind und wie sie beantwortet werden können. Die zukünftige Kommission trägt deshalb eine große Verantwortung; ihre Arbeit bietet aber auch eine große Chance.
Bitte erinnern Sie sich an die Worte von Richard von
Weizsäcker. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ gibt uns die Chance, nicht nur
den Kahlschlag in dem von ihm beschriebenen Wald zu
verhindern, sondern den Wald auch wieder aufzuforsten.
Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam nutzen!
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ursula Sowa,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ sorgt bereits für Schlagzeilen.
({0})
Die „Welt“ wurde schon zitiert; ich zitiere sehr gern die
„Süddeutsche Zeitung“, weil ich von dort komme. Dort
wird heute in einem ausgezeichneten Artikel über dieses
noch ungeborene Leben berichtet. Ulrich Raulff unkt:
Zu fürchten ist, dass die Enquete nur das jüngste
Bild vom Staat als Spielführer in der Kultur befestigen wird. … die neue Enquete nur das Relief der
bedrohten Kulturlandschaft ausleuchten soll.
Am Ende kriegt dann noch einmal der Staat so richtig
sein Fett ab, wenn er schreibt:
Wer für den Erhalt von kulturellen Einrichtungen
plädiert, sagt: Staat. Und wer für ihre Schließung
ist, sagt wieder: Staat. Es ist die alte deutsche Lieblingsvokabel.
Leider steht in dem Beitrag nicht, was denn seine Lieblingsvokabel ist. Danach muss man wohl noch woanders
suchen.
Die Medien lieben es, immer wieder Schreckensnachrichten im Kulturbereich zu verbreiten. In letzter
Zeit ist es Usus, über die drohende Schließung von Häusern zu berichten, angefangen von Stadtteilbibliotheken
bis hin zur Oper. In manchen Städten sind sogar drei
Opern gleichzeitig bedroht.
({1})
- Das stimmt.
Ich möchte zwei Beispiele, stellvertretend für sehr
viele Bedrohungen in unserer Kulturlandschaft, herausgreifen. Über das eine Beispiel war erst Mitte Juni in der
„Thüringer Allgemeinen Zeitung“ zu lesen: „Noch ist
Polen nicht verloren“. So heißt auch das Stück, mit dem
das Ensemble in Erfurt heute seine letzte Vorstellung
gibt. Ab morgen ist Erfurt die einzige deutsche Landeshauptstadt ohne Schauspiel. Das Stück erzählt, wie sich
ein Theater in schwerer Zeit behauptet. Die Thüringer
Kulturpolitik gleicht eher dem Hamlet: Zaudern und
warten, bis jemand die Leichen zählt.
Ein Blick nach München zeigt, dass auch in einer der
reichsten Städte heftige Debatten darüber geführt werden, ob das zur Sanierung anstehende traditionsreiche
Deutsche Theater erhalten werden kann; denn die geschätzten Kosten für das zumindest hinter den Kulissen
marode Bauwerk belaufen sich auf stattliche 140 Millionen Euro. Bei der Stadt selbst war bis vor kurzem die
Schließung fast beschlossene Sache.
Im Fall Erfurt zeigt sich, welche Auswirkungen die
Neustrukturierung der Theaterlandschaft in einem
ganzen Bundesland haben kann. Erfurt bekommt nämlich im Herbst statt des Theaters eine Oper. In München
hat sich Professor Wickenhäuser mit einer Studentengruppe an das Projekt „Bedeutung und Zukunft des
Deutschen Theaters für München und Bayern“ gewagt.
Man will nicht nur Daten und Fakten erarbeiten, sondern
zugleich Perspektiven zur Rettung des Deutschen Theaters aufzeigen. Dabei werde, so Wickenhäuser, nicht nur
nach Sponsoren geschielt, sondern die Rettung müsse so
gestaltet werden, dass die Münchner Bürger und Bürgerinnen, aber auch Firmen gerne an einer Rettungsaktion
mitwirken.
Diese beiden Beispiele sind so genannte Länderbeispiele; denn es sind so genannte Staatstheater betroffen,
die natürlich für die jeweilige Stadt - sei es Erfurt, sei es
München - von großer Bedeutung sind. Natürlich geht
es hier um die Finanzierung. Seit dem Jahr 2002 hat sich
die Situation bei der Kulturfinanzierung verschlechtert. Die öffentlichen Ausgaben von Bund, Ländern und
Gemeinden für Kultur hatten im letzten Jahr einen Umfang von 8,28 Milliarden Euro. Diese Zahl ist kaum bekannt, wie eine Umfrage zeigen würde. Von diesen
8,28 Milliarden Euro trägt der Bund etwa 10 Prozent,
nämlich 834 Millionen Euro. Daneben bringt der Bund eine weitere überraschende Zahl - noch einmal etwa die
Hälfte, nämlich 480 Millionen Euro, für die Pflege kultureller Beziehungen im Ausland auf.
Wenn wir auf Bundesebene nun die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einrichten, sollten wir
uns dieser Zahlen bewusst sein. In der Tat wird der Löwenanteil der Kulturpolitik - etwa 90 Prozent - von den
Gemeinden und Ländern finanziert, aber die Bedrohung
der Kulturlandschaft in Deutschland geht meiner Meinung nach uns alle an. Umso erfreulicher ist in diesem
Zusammenhang, dass der Antrag zur Einsetzung der Enquete-Kommission von allen Bundestagsfraktionen gemeinsam eingebracht wird. Der Bundestag macht damit
deutlich, welchen Stellenwert Kulturpolitik in diesem
Hause hat.
({2})
Ich bin davon überzeugt, dass die gemeinsame Suche
nach Lösungen für die drängenden ökonomischen Probleme unserer Kulturlandschaft und ihrer Institutionen
ein politischer Beitrag per se werden kann. Auch in der
Politik ist es nie verkehrt, neue Wege des Umgangs miteinander zu probieren, sozusagen die politische Kultur
zu pflegen.
Lassen Sie uns also in eine gemeinsame Beratung eintreten! Lassen Sie uns gemeinsam nach Lösungen suchen! Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ soll ein Angebot an all diejenigen auf Bundes-,
Länder- und kommunaler Ebene werden, die sich dafür
einsetzen wollen, dass unsere bedrohte Kulturlandschaft
weder vertrocknet noch mutiert, sondern weiterhin in ihrer Vielfalt blühen wird. Ich wünsche dieser EnqueteKommission möglichst viel Esprit, der dazu führen soll,
Bürger und Bürgerinnen am besten von klein auf zu ermuntern, diese Kulturlandschaft aktiv mitzugestalten.
Ich möchte im Sinne von Jean-François Lyotard
schließen, der die Stärkung von Kunst und Kultur forderte, um das „sonst Unbegreifliche fühlbar“ zu machen
und uns dazu zu bringen, „unser Bewusstsein zu erweitern“.
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Daub, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute in einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen die Einsetzung der Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“. Obwohl das Wort „Kommission“ gewisse Abnutzungserscheinungen erfahren hat - siehe
Hartz und Rürup -, obwohl wir gerne die Länder mit im
Boot sähen, werden wir engagiert mitarbeiten, weil uns
das Thema Kultur wichtig ist.
Wir sind ein Land mit bedeutender Kultur. Ja, es
stimmt: Unsere Theater- und Museenlandschaft ist weltweit einzigartig. Das gilt es, zu erhalten, für uns und für
unsere Kinder.
({0})
Der Zeitpunkt der Einsetzung dieser Enquete-Kommission könnte passender nicht sein. Die Haushaltssituation von Bund, Ländern und Gemeinden ist bedrohlich für unsere kulturellen Aktivitäten. Die weit
verbreitete Ignoranz der eigenen Kultur gegenüber führt
in der Politik nur allzu leicht zu der Neigung, Kultur
nach Kassenlage zu machen, also zu sparen. Am Ende
bleibt von der Kultur nur noch der Kulturbeutel übrig.
({1})
Der Umgang des rot-roten Berliner Senats mit seinen
Opern ist eines der traurigen und zugleich erschreckenden Beispiele dafür.
Die FDP begrüßt, dass sich endlich eine Kommission
mit den Auswirkungen der finanziellen Lage der Kommunen auf den Kulturbereich und mit dem Besucherinteresse an den jeweiligen Kultureinrichtungen befasst. Ich
fordere Sie deswegen auf, das Verlangen der FDP nach
einer gemeinsamen Bund-Länder-Enquete nicht mehr zu
blockieren.
Wie wichtig die Einbeziehung der Länder ist, zeigt
das Scheitern der Verhandlungen zur Fusion der Kulturstiftung des Bundes mit der Kulturstiftung der Länder in
der letzten Woche. Obwohl die Frau Staatsministerin
dieses Scheitern miterlebt hat, widersetzt sie sich unserer
Forderung.
({2})
- Sie hat es vertreten müssen. - Dabei ist es Aufgabe der
Enquete-Kommission, die Rolle des Staates für eine kulturelle Grundversorgung zu definieren. Wir wollen
ohne Denkverbote über eine moderne Finanzierung,
über geeignete Rechtsformen und über zukunftssichernde Strukturen diskutieren.
Es ist schön, dass die Koalitionsfraktionen nun endlich über ihren Schatten springen und sich FDP-Positionen zu Eigen machen.
({3})
- Nun hören Sie doch einfach bis zum Ende zu. - In dem
Sinne fördern wir bürgerschaftliches Engagement. Sponsoring, die Arbeit von Stiftungen und das Engagement
von Mäzenen brauchen Strukturen, über die wir vorbehaltlos diskutieren müssen.
Es sind Menschen, die Kunst machen; sie entsteht nicht
von allein. Deshalb gehört natürlich auch die Situation der
Künstler in die Kommission. Eine klare Analyse darüber
soll uns später in die Lage versetzen, rechtliche Rahmenbedingungen - ich betone: Rahmenbedingungen - zu erstellen, die der Arbeitswirklichkeit der Künstler entsprechen.
({4})
Um diese Arbeit zu unterstützen und zu fördern, haben wir zusammen mit der Union eine Große Anfrage
eingebracht. Die Künstler brauchen auch Kunstverwerter wie beispielsweise Galeristen und Konzertmanager.
Auch damit werden wir uns befassen.
Wir reden viel von Bildung. Dazu gehört auch die
musisch-kulturelle Bildung.
({5})
Eine langfristig angelegte Kulturpolitik muss die Folgen
der Schließung von Musikschulen, die Folgen der Kürzung der Kulturetats oder die Folgen des Ausfalls von
Musik- und Kunstunterricht an den Schulen kennen.
Hier wird der Grundstein zum Verständnis unserer Kultur gelegt.
({6})
Hier werden Neigung und Interesse von Kindern geweckt. Die Schulen haben hier eine große Verantwortung. Deshalb müssen wir klären, wie die Schulen durch
Kooperation mit anderen Kultureinrichtungen in dieser
Arbeit unterstützt werden können.
({7})
Es ist eine kluge Entscheidung, den Zeitrahmen für
die Kommissionsarbeit auf zwei Jahre festzulegen. Gerade im Hinblick auf die notwendige Strukturerneuerung
und gleichzeitig sinkende Kulturetats dürfen wir keine
Zeit verlieren. Zudem schlagen wir vor, dass die Enquete-Kommission in regelmäßigen Abständen die Öffentlichkeit über Teilergebnisse unterrichtet. Die Ergebnisse der Kommission sind eine Bestandsaufnahme und
Handlungsempfehlungen. Die eigentliche Kulturpolitik
findet aber natürlich im Ausschuss für Kultur und Medien sowie bei den Menschen statt.
Ich bitte Sie darum, dass wir in diesem Sinne in der
Kommission effektiv miteinander arbeiten. Dann wird
auch etwas Gutes daraus.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias
Sehling, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Einsetzung der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ wird von der CDU/CSU-Fraktion nicht
aus Nächstenliebe gegenüber den Koalitionsfraktionen
unterstützt, nur weil diese das in ihrem Koalitionsvertrag
vorgesehen haben.
({0})
Vielmehr halten wir die damit beabsichtigte genauere
Untersuchung der Situation und des Strukturwandels öffentlicher Kulturpolitik zur Sicherung der Kulturarbeit
angesichts der aktuellen Finanzmisere in den öffentlichen Haushalten für dringend erforderlich.
({1})
Der frühere bayerische Staatsintendant August
Everding hat es treffend formuliert: „Kultur ist keine Zutat, Kultur ist der Sauerstoff einer Nation.“ Kultur hat einen Wert an sich. Wenn sie einer Rechtfertigung bedarf,
dann der, dass der Staat ohne sie verkümmert und der
Einzelne erstickt. Deswegen muss jede Generation die
Chance haben, mit Kultur aufzuwachsen. Kulturpolitik
ist somit nicht nur die Aufgabe des Staates und der Kommunen, sondern gar ihre Pflicht.
({2})
Ungeachtet der konkreten Ausgestaltung der Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wird im Grundgesetz ungeschrieben von der Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik ausgegangen. Das
Bundesverfassungsgericht hat daraus auch die Legitimität staatlicher Mittel für die Kultur abgeleitet.
Der Staat hat sich jedoch auch Grenzen auferlegt. In
der Kulturpolitik gilt das Subsidiaritätsprinzip. Das bedeutet nicht nur, dass die Länder und Kommunen und
nicht der Bund Hauptträger der Kulturpolitik sind. Subsidiarität bedeutet vor allem, dass der Staat die kulturelle
Entfaltung nur unterstützt, und zwar mit erheblichen
Geldmitteln und fachlicher Kompetenz. Kaum eine größere kulturelle Einrichtung könnte heute ohne öffentliche Förderung überleben.
({3})
Der Trachtenverein, der seine kostspieligen Trachten zu
erhalten hat, erwartet vom Staat ebenso Unterstützung
wie der Mühlenbesitzer, der seine denkmalgeschützte
Mühle unterhalten muss.
({4})
Bund, Länder und Gemeinden geben jährlich insgesamt - wir haben die Größenordnung vorhin schon gehört - über 8 Milliarden Euro für Kunst und Kultur aus.
Von privater Seite werden dagegen bisher nur rund
255 Millionen Euro an Sponsorenmittel investiert. Dieses Dreißigstel der Privaten ist selbstverständlich noch
viel zu wenig.
({5})
Städte und Gemeinde sind aufgrund der sinkenden
Gewerbesteuereinnahmen hier zunehmend überfordert.
Die öffentliche Kulturförderung muss deshalb stärker als
bisher - wer wüsste es nicht - durch privates Sponsoring ergänzt werden. Wir brauchen die Privaten, die
Wirtschaft, die Mäzene und die Stiftungen, und zwar
nicht nur, um dem Staat und den Kommunen Geld zu
sparen, sondern vielmehr auch, um möglichst zahlreiche
zusätzliche Projekte zu verwirklichen. Es wurde vorhin
schon angesprochen: Selbst das kürzlich reformierte
Stiftungswesen muss offenbar noch attraktiver gestaltet
und ausgebaut werden.
({6})
Angesichts der Vererbungswelle in den nächsten Jahren
darf der Staat nichts unversucht lassen, Anreize für Stiftungen und Sponsoring zu schaffen, und zwar nicht nur
für den Sport.
({7})
Ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Kulturförderung, der im Einsetzungsantrag nicht erwähnt wird,
ist die Bewahrung und die Pflege des Kulturgutes der
deutschen Vertreibungsgebiete. Die Geisteswerke
Immanuel Kants aus Ostpreußen und Gerhart Hauptmanns aus Schlesien gehören ebenso zur deutschen
Kultur wie die Leistungen des aus Eger stammenden
Balthasar Neumann oder des Böhmerwald-Dichters
Adalbert Stifter. Dieser Auftrag zur Bewahrung ist im
Übrigen eine der wenigen Aufgaben im kulturellen Bereich, die dem Bund ausdrücklich übertragen worden
sind. Sie wurde sogar eigens im deutschen Einigungsvertrag festgezurrt.
({8})
Durch die Verankerung in § 96 Bundesvertriebenengesetz verfügen Bund und Länder hier über einen zeitlosen Gestaltungsauftrag. In der gesamten deutschen Bevölkerung und übrigens auch im Ausland soll das
Bewusstsein um das Kulturgut der Vertreibungsgebiete
wach gehalten werden. Dieser Auftrag und die mit ihm
verbundenen Möglichkeiten werden, um es vorsichtig zu
sagen, bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Im Einsetzungsantrag der Enquete-Kommission wird
das Ziel genannt, zu zeigen, was Kultur in Deutschland
heute ausmacht. Gleichzeitig wird zu Recht betont, dass
die Pflege von Kunst und Kultur vorrangig Aufgabe der
Länder und Kommunen ist. Deswegen schlage ich, ähnlich wie bei der PISA-Studie, ein gezieltes Benchmarking vor. So könnte unsere Bestandsaufnahme der Kulturförderung und Kulturarbeit in Deutschland eine
Benchmarking-Bilanz der Kulturpolitiken der Länder
und des Bundes ergeben - sozusagen eine PISA-Studie
der Kulturförderung. In zwei Jahren werden wir dann
eine Datengrundlage haben, um zu erkennen, wo wir im
Kulturstaat Deutschland heute stehen, wo es Defizite
gibt und wie wir den Kulturstaat Deutschland trotz knapper Mittel nachhaltig sichern und ausbauen sollten.
Danke schön.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Siegmund Ehrmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sehling, ich
darf Sie direkt ansprechen: Sie haben beachtliche Gedanken vorgetragen und besonders herausgearbeitet,
dass in die Überlegungen unseres kulturellen Erbes sicherlich auch das einzubeziehen ist, was in den Vertreibungsgebieten erschaffen wurde und was uns auch kulturell bindet. Da Sie das hervorgehoben haben, will ich
auf Folgendes aufmerksam machen: Wir haben ungeheuer viel Kulturgut dadurch verloren, dass Emigrantinnen und Emigranten in der Zeit von 1933 bis 1945 das
Land verlassen haben.
({0})
Dieser Aderlass lastet schwer auf uns. Auch das gehört
dazu und ergänzt sich. Das ist kein Widerspruch.
Die Aufgaben der Enquete-Kommission sind von
meinen Kollegen Vorrednerinnen und Vorrednern beschrieben worden. Bevor ich auf einzelne Aspekte eingehe, erlauben Sie mir eine Anmerkung. Wir erleben
zurzeit eine sehr grundsätzliche und verfassungspolitische Debatte - das haben wir in dieser Woche im Ausschuss für Kultur und Medien erlebt; die Frage der Fusion der Kulturstiftung ist dafür ein lebendiges Beispiel - über die Aufgaben des Staates, die Zuordnung
der Verantwortlichkeiten auf Bund oder Länder sowie
die Finanzierung der Aufgaben.
Bei allen kooperativen Ausprägungen, die sich in der
Staatspraxis herauskristallisiert haben, ist klar - das ist
unstreitig -, dass die Kulturhoheit prinzipiell bei den
Ländern liegt. In den Debatten des Deutschen Bundestages aber wird die Kulturarbeit in den Städten und Kommunen selten bedacht. Dabei ist dies die Ebene, die im
Wesentlichen kulturelle Aktivitäten entwickelt und verantwortet.
({1})
Die Kommunen selbst und die Menschen dort sind
die Hauptakteure; denn die Kommunen klären vor Ort
eigenverantwortlich und in aller Regel ohne Rechtspflicht, welche Angebote vorgehalten werden. Hier beobachten wir seit Jahren, dass die kommunale Finanznot
auf der Kulturarbeit vor Ort lastet. Vieles ist infrage gestellt. Manche Angebote wurden bereits aufgegeben.
Wenn sich diese Enquete-Kommission in einem besonderen Schwerpunkt den Bedingungen der Kulturarbeit
vor Ort zuwendet, geschieht dies ausdrücklich nicht in
der Absicht, die kommunale Eigenverantwortlichkeit zu
unterlaufen. Vielmehr geht es nach meiner Überzeugung
darum, die grundsätzlichen Entwicklungen aufzuspüren,
dabei ihre Risiken und Chancen auszuloten und sich zentralinhaltlich selbst zu vergewissern, was wir zukünftig
auf Dauer brauchen.
({2})
Einige Themenfelder sind von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern angesprochen worden. Ich möchte
einige Akzente unter einem speziellen Blickwinkel herausarbeiten.
Der erste Punkt ist der Strukturwandel. Bei aller
Kritik an Krise und Finanznot liegt in Krisen - ich weiß,
das ist ein flacher Spruch - auch eine Chance. Konkret
ist zu beobachten, dass der Druck in den Kommunen und
unter den Kultur Schaffenden deutlich diskursive Prozesse über kommunale Kulturentwicklung in Gang gesetzt hat. Deutlich zu beobachten ist, dass sich der Dialog zwischen den Kulturverantwortlichen einzelner
Institutionen und ihre Kooperationsfähigkeit deutlich
verbessert haben. Die Kulturverwaltungsreform zeitigte beachtliche Erfolge. Bedeutende Organisationsmodelle sind entwickelt worden, die Effizienzgewinne erzielten.
Das zweite Stichwort lautet Selbstorganisation und
ehrenamtliches Engagement. Deutlich ist: Nicht nur die
kommunalen Institutionen prägen das Klima in den
Städten. Jeder hat aus seinem Umfeld Beispiele deutlich
vor Augen.
Bildende Künstlerinnen und Künstler etablieren sich
autonom in Ateliergemeinschaften und öffnen ihre Arbeitsstätten. Bürgerinitiativen koordinieren kulturelle
Aktivitäten in ihren Stadtteilen, profilieren sie, lassen
aufhorchen und heben bewusst die kulturellen Schätze
ihrer Quartiere.
Breites bürgerschaftliches Engagement ist gerade
in Zeiten der Krise insofern zu beobachten, als sich eine
Fülle von Fördervereinen und Initiativen um Institutionen herum bilden. Das sind lebhafte Beispiele konkreten
ehrenamtlichen Engagements. Wenn sich eine Bürgerstiftung bildet, um eine aufgegebene städtische Galerie
zu retten, zeigt dies, dass auch moderne Formen, die wir
zum Teil gesetzgeberisch eröffnet haben, greifen und vor
Ort einen kulturellen Mehrwert organisieren.
({3})
Es sind die Stichworte kulturelle Grundversorgung und
kulturelle Grundbildung genannt worden. Aus einer
ganz anderen Ecke, nämlich dem Ausbau der Ganztagsbetreuung, wird eine engere Kooperation zwischen schulischen Aktivitäten und den kulturellen Aktivitäten vor
Ort nahezu provoziert. Bei der Kooperation zwischen
Grundschulen und Institutionen wie Musikschulen, Kinder- und Jugendtheatern und Bibliotheken gibt es erfreuliche Beispiele von Pilotprojekten.
Zugleich stellt sich in diesem Kontext aber auch die
Frage, wie sich das Verhältnis von Zentralität und Dezentralität von Grundbildungsangeboten gestaltet. Es ist
ein Aberwitz, Stadtteilbibliotheken zu schließen, wenn
stadtteilnahe Grundschulen mit Bibliotheken zur Leseförderung kooperieren sollen. Da stellen sich Fragen.
({4})
Das ist aber letztendlich eine kommentierende Anmerkung. Ich weiß, es geht hier um kommunale Selbstverwaltungsrechte, die ich angesichts unserer Kompetenz
abschließend nicht bewerten will. Aber es geht um inhaltliche Entwicklungen, die aufzuzeigen sind. Da sollten wir nicht wegtauchen.
Ich möchte schließlich das Augenmerk noch auf eine
weitere Aufgabe der Enquete-Kommission richten: die
Kulturwirtschaft. Wir reden immer von dem „weichen“
Standortfaktor.
({5})
Wer das ausschließlich darauf verkürzt, der hat die Realität nicht richtig wahrgenommen.
({6})
Kultur ist ein ausgesprochen harter Standortfaktor und
hat ökonomisch enorme Entwicklungspotenziale. Wer
daran Zweifel hat, der möge sich die Kulturwirtschaftsberichte in Nordrhein-Westfalen, die schon in vierter
Edition herausgegeben werden, anschauen. Es gibt dort
sehr konkrete Beispiele, die die Umwegrentabilität
deutlich belegen. Da sollten wir alle nachdenklich werden. Auch unter ökonomischen Aspekten ist die Kulturwirtschaft ein wichtiger Faktor. Damit wird existenziell
auch die Beschäftigungssituation der dort Schaffenden
angesprochen. Auch das ist ein Aspekt unserer EnqueteKommission. Insofern ist ihre Arbeit sehr breit angelegt.
Wenn wir Kultur als Treibsatz, als Ferment vielfältiger Facetten des gesellschaftlichen Zusammenlebens begreifen, dann wird deutlich, dass diese Enquete-Kommission eine sehr wichtige Aufgabe hat. Ich freue mich,
dass es in diesem Parlament möglich ist, die EnqueteKommission gemeinsam auf den Weg zu bringen. Ich erhoffe mir eine gute Zusammenarbeit, gute Ergebnisse
und eine Plattform, die weiteres und konkretes, vielleicht
sogar gesetzgeberisches Handeln in diesem Haus eröffnet.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
wurde von den Vorrednern schon darauf hingewiesen,
auch von den Vorrednern meiner Fraktion, nämlich der
designierten Vorsitzenden und dem Kollegen von der
CSU, dass wir einen gemeinsamen Einsetzungsbeschluss dazu benutzen wollen, gemeinsame und für die
Kulturförderung in Deutschland ergebnisreiche Arbeit
zu leisten.
Die Anfangsbedingungen in dieser Debatte sind gut.
Unser Ziel ist es, das Thema Kultur nicht nur zu untersuchen und darzustellen, sondern auch konkrete Maßnahmen zu entwickeln und zu empfehlen, um Kulturförderung in Deutschland zu stärken.
Ich will in diesem Zusammenhang an die Diskussion
erinnern, dass wir uns den Titel „Kulturförderung in
Deutschland“ als noch treffender für den Kernbereich
unserer Aufgaben hätten vorstellen können.
({0})
Was wir mit der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ vielleicht nicht vollständig schaffen werden, ist - das kam in dieser Debatte auch schon zur Sprache - die Selbstfindung der Kulturnation Deutschland.
Ich glaube, daran müssten sich noch einige andere beteiligen. Wenn sich im Zusammenhang mit der EnqueteKommission einige in diesem Hause wie auch außerhalb
dieses Hauses und außerhalb der Politik darüber Gedanken machen würden, worum es dabei eigentlich geht,
dann hätte die Kommission sicherlich schon eine wesentliche Debatte angestoßen.
Aus der Feststellung, dass das Untersuchen nicht das
einzige Anliegen der Kommission ist, sondern dass wir
auch umsetzbare Handlungsempfehlungen entwickeln
wollen, die auf verlässlichen Bestandsaufnahmen basieren, ergibt sich auch die Notwendigkeit, dass wir die entsprechenden Daten möglichst bald bekommen. Wir haben - zugegebenermaßen etwas streberhaft - schon
darauf hingearbeitet. Frau Daub hat bereits darauf hingewiesen. In dieser Woche haben wir gemeinsam mit der
FDP eine Große Anfrage eingebracht, die sich mit der
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstleriGünter Nooke
schen Berufe und des Kulturbetriebs in Deutschland beschäftigt.
({1})
Damit wird die geplante Bestandsaufnahme der Enquete-Kommission zur sozialen Lage der Künstlerinnen
und Künstler präzisiert und ergänzt. Darüber hinaus wird
der Kunstmarkt mit einbezogen. Die Künstlerinnen und
Künstler stehen als Akteure schließlich nicht allein. Uns
ist es wichtig, den Zusammenhang mit den Vermittlern
und den Verwertern von kultureller Produktion darzustellen und näher zu untersuchen.
Auch wir wissen, dass nicht alle Künstlerinnen und
Künstler reiche Leute sind. Aber das gilt ebenso für andere Berufsgruppen. Wir wollen für einen größeren
Blickwinkel sorgen und die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage derer näher betrachten, die
„nur“ Kultur vermitteln.
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage kann uns gerade am Beginn der intensiven Beratungen der Kommission eine große Unterstützung sein.
Damit würde ein wichtiger Beitrag zum Erfolg der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ geleistet.
Wir haben uns im Vorfeld auf den Text des Einsetzungsbeschlusses und damit auch auf die Aufgaben geeinigt. Sprachlich weist er noch nicht ganz die Qualität
auf, die wir uns für die Arbeit der Kommission und den
Abschlussbericht wünschen, aber es sind durchaus Verbesserungen möglich.
({2})
Wir haben mit diesem Beschluss die Dauer der Kommission notwendigerweise auf zwei Jahre beschränkt.
({3})
Ich halte das für einen weisen Beschluss. Herr Barthel
hat bereits darauf hingewiesen, welche Aufgaben der
Beschluss nicht umfasst. Ich meine aber, wir müssen
zum Beispiel - Herr Sehling und auch Sie haben das bereits angesprochen - auch die Kultur berücksichtigen,
die aus Gebieten, die nicht mehr zu Deutschland gehören, hierher zurückgekommen ist oder die in Berlin
durch die Vernichtung der Juden verloren gegangen ist.
Trotzdem müssen wir im Zusammenhang mit der
Enquete-Kommission noch einen wichtigen Gesichtspunkt beachten. Wir wären gut beraten, wenn wir uns bei
den Themen, die wir in der Kommission behandeln, mit
der Materie beschäftigen, für die der Bundestag eine originäre Zuständigkeit hat. Das bewahrt uns nämlich davor, falsche und auch nicht zu erfüllende Erwartungen an
die Enquete-Kommission zu wecken.
({4})
Wir hätten es aufgrund der Kompetenzverteilung vorgezogen, die originären Zuständigkeiten des Bundes
noch stärker in den Vordergrund des Einsetzungsbeschlusses zu stellen, allein deshalb, um von Anfang an
den Eindruck zu vermeiden, wir führten anderes im
Schilde als die Förderung der Kultur im verfassungsmäßigen Rahmen.
Wir sollten uns bei der zukünftigen Arbeit der Kommission auch darauf verständigen, dass die Aufgaben der
Länder und Gemeinden nicht zum Hauptgegenstand der
Beratungen werden. Trotzdem werden wir uns damit befassen müssen, um zum Beispiel die von meinen Vorrednern angesprochene Analyse zu erstellen. Wenn wir über
die Situation der Theater in Deutschland sprechen,
werden wir uns mit den tariflichen Rahmenbedingungen
beschäftigen müssen. Wenn wir über Gastspiele von
Künstlern in Deutschland sprechen, werden wir über das
Steuerrecht sprechen müssen. Wenn wir darüber reden,
wie Privatleute besser eingebunden werden können,
müssen wir über das Gemeinnützigkeitsrecht diskutieren.
({5})
Ich bin ebenso wie Herr Ehrmann der Meinung, dass es
um die harten Fakten der Kulturwirtschaft geht, über die
wir zu sprechen haben.
Wenn wir uns um die musisch-kulturelle Bildung
kümmern - auch das ist im Einsetzungsbeschluss aufgeführt -, geht es um die Frage, wie wir in Deutschland ein
Klima erzeugen können, in dem es zur Selbstverständlichkeit wird, dass Eltern ihren Kindern den Besuch von
Musik- und Kunstschulen ermöglichen und dass umgekehrt die Städte und Gemeinden attraktive Angebote machen können.
Bei dieser Enquete-Kommission geht es auch darum,
gute Stimmung für die Kultur in Deutschland zu machen. Ein günstiges Klima für die Kultur im Land hätte
zum Beispiel nicht zugelassen - wenn ich das als Berliner einmal sagen darf -, dass ein Finanzsenator dadurch
Stimmung macht, dass er vorgibt, mit der Schließung einer Oper könne er den Etat der größten Stadt Deutschlands sanieren.
({6})
Wir sollten jedenfalls den Blick für die Größenverhältnisse behalten. Kulturförderung in Deutschland bedeutet auch - darauf ist schon hingewiesen worden -,
dass Bund, Länder und Gemeinden in umgekehrter Reihenfolge Beiträge leisten, gerade wenn es um das finanzielle Engagement geht. Wenn es allerdings um die Rahmenbedingungen geht, ist die Förderung der Kultur in
Deutschland schon wesentlich von dem abhängig, was
wir als Bundesgesetzgeber tun. Dafür sind wir auch unzweifelhaft zuständig. Hier sehe ich den Schwerpunkt
unserer zukünftigen Arbeit.
Wir verbinden mit dem Einsetzungsbeschluss also
durchaus ehrgeizige Pläne. Einig sollten wir uns alle darin sein, dass am Ende der Bemühungen mehr für die
Kulturförderung in Deutschland herauskommen muss.
Wenn am Schluss sogar der Satz stünde, dass Kultur
nicht nur Kernaufgabe, sondern Pflichtaufgabe des Staates ist, dann hätten wir zumindest einen Arbeitsauftrag
und ein Ergebnis formuliert. Ich denke, es wird ein
schwerer, aber auch ein lohnender Weg.
Insofern wünsche ich uns gute Zusammenarbeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Drucksache 15/1308. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen. Die Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“ ist damit eingesetzt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Kranz,
Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Volker Beck ({1}), Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg
- zu dem Antrag der Abgeordneten Henry
Nitzsche, Dirk Fischer ({2}), Arnold
Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Stadtentwicklung Ost - Mehr Effizienz und
Flexibilität, weniger Regulierung und Bürokratie
- zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim
Günther ({3}), Horst Friedrich ({4}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Stadtumbau Ost - ein wichtiger Beitrag zum
Aufbau Ost
- Drucksachen 15/1091, 15/352, 15/750, 15/1331 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Kranz
Peter Hettlich
Joachim Günther ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Kranz, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und
Kolleginnen! Beginnen möchte ich meine Ausführungen
mit einer Aussage, die Lutz Freitag, der Präsident des
GdW, am 21. Mai dieses Jahres im Rahmen eines Expertengesprächs über den Stadtumbau Ost im Ausschuss für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gemacht hat. Er hob
hervor, der Zusammenhang zwischen dem Programm
„Stadtumbau Ost“ und dem Aufbau im Osten sei von
entscheidender Bedeutung und dürfe in der öffentlichen
Diskussion nicht vernachlässigt werden. Das Programm
sei eine notwendige Bedingung für den Aufbau Ost. Andererseits sei auch die Wirkung des Programms „Stadtumbau Ost“ sehr begrenzt, wenn der Aufbau Ost nicht
gelinge.
Dieser Gedanke zog sich letztendlich wie ein roter
Faden durch das gesamte Expertengespräch im Ausschuss. Ich finde es auch gut, dass die Opposition die in
ihren Anträgen formulierte Unterstellung, das Programm
„Stadtumbau Ost“ wirke nicht bzw. es könne die Probleme nicht lösen, in den sachlich geführten Diskussionen nicht wiederholt hat.
({0})
Wenn ich schon am 3. April dieses Jahres darauf verweisen konnte, dass Minister Stolpe bereits zum Dritten
Leerstandskongress des GdW die Lösungen der von Ihnen angesprochenen Probleme präsentieren konnte, so
können wir heute feststellen, dass im Rahmen der Verwaltungsvereinbarung 2003 bereits ein wesentlicher
Teil auch Ihrer Vorschläge von der Bundesregierung auf
den Weg gebracht wurde.
({1})
- Genau das habe ich gesagt. - Ein wichtiger Punkt ist,
dass die Länder mehr Gestaltungsspielraum bei dem
Einsatz der Kassenmittel des Bundes haben. Sie können
mehr als die bisher vereinbarten 50 Prozent zugunsten
von Rückbaumaßnahmen einsetzen.
Weiterhin werden die Altschuldenhilfe und das Programm „Stadtumbau Ost“ stärker aufeinander abgestimmt. Die Mittel für den Rückbau im Programm
„Stadtumbau Ost“ werden als Landesbeitrag nach § 6 a
des Altschuldenhilfe-Gesetzes anerkannt. Das ist ganz
wichtig; denn damit werden die Handlungsspielräume
der Länder zur Unterstützung existenzgefährdeter Wohnungsunternehmen erheblich erweitert.
Die Regierung hat Regelungen für den Programmbaustein Wohneigentumsbildung geschaffen,
({2})
derentwegen Pauschalierungen einfacher und flexibler
gestaltet und die bisher strikte Gebietstrennung gelockert
wurden.
Auch sind die Mittel des Programms „Stadtumbau
Ost“ künftig mit dem neuen Infrastrukturprogramm und
dem Wohnraummodernisierungsprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau kombinierbar. Damit stehen
den Trägern der technischen Infrastruktur zinsgünstige
Darlehen für den erforderlichen Infrastrukturumbau zur
Verfügung. Zur Beschleunigung des Rückbaus wird bei
gegebenen Verpflichtungsrahmen die jeweils erste der
fünf Jahresraten der Kassenmittel, über die jedes Programmjahr abgewickelt wird, von 5 Prozent auf 15 Prozent angehoben. Der Ausgleich erfolgt durch eine entsprechende Minderung der letzten Raten.
Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist ein Paradebeispiel
für eine zügige Umsetzung von aktuellem Änderungsbedarf. Die lange Laufzeit dieses Programms, von 2002 bis
2009, verlangt eine ständige Überprüfung und Anpassung an die veränderten Gegebenheiten. Aus diesem
Grund haben die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen in ihrem Antrag „Stadtumbau Ost auf
dem richtigen Weg“ entsprechende Forderungen an die
Bundesregierung formuliert.
Den Kernpunkt bildet dabei die regelmäßige Information des Bundestages über den Stand der Umsetzung des
Programms. Dabei sollen Auswertungen der erzielten
Erfolge bei unterschiedlichen städtebaulichen Konzepten vorgenommen werden sowie auf Probleme bei der
Umsetzung auf den verschiedenen Ebenen und bei den
verschiedenen Beteiligten eingegangen werden.
Weiterhin wird an die Bundesregierung appelliert, die
geplante Wirkungsanalyse der Investitionszulage für
Maßnahmen der Modernisierung von Wohngebäuden
rechtzeitig vorzulegen, sodass eine zeitnahe Entscheidung über eine Verlängerung der Investitionszulage getroffen werden kann.
Der Deutsche Bundestag appelliert gleichzeitig an die
ostdeutschen Bundesländer, zur Erleichterung der Vorfinanzierung abtretungsfähige Bewilligungsbescheide
auszustellen. Dieser Punkt taucht in der aktuellen Diskussion über die Gegenzeichnung der Verwaltungsvereinbarung 2003 durch die Bundesländer auf.
Im Mai wurde die Verwaltungsvereinbarung 2003 an
die Länder überwiesen. Bis zum heutigen Tag haben genau fünf Bundesländer - Bremen, Hamburg, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein - unterzeichnet. Wie Sie wissen, sind die Mittel für das
laufende Jahr erst dann abrufbar, wenn die Verwaltungsvereinbarung unterzeichnet wurde. Die immer wieder
geäußerte Kritik, die Bundesregierung verschleppe das
Wirksamwerden der Verwaltungsvereinbarung,
({3})
muss ich deshalb klar und deutlich zurückweisen.
Ein schnelles Wirksamwerden der Verwaltungsvereinbarung ist allein Sache der Länder. Zudem haben die
Länder ihre Kassenmittel des Jahres 2002 bisher in sehr
unterschiedlichem Maße abgerufen. Auch das zeigt: Es
liegt an den Ländern, die vom Bund bereitgestellten Mittel zeitnah zu verbrauchen.
Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost
verlangt auch in Zukunft von uns allen wichtige politische Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen
und fortführen. Ich bin mir sicher, dass uns auch in der
zukünftigen Diskussion die Investitionszulage Ost und
die Frage der Altschulden bei Abrissflächen beschäftigen werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Henry Nitzsche,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die
Lage der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern habe ich bereits bei der Einführung unseres Antrags
geredet. Damit war ich offensichtlich erfolgreich, wie
ich heute feststellen kann; denn es hat Ihnen, Frau
Staatssekretärin, und auch der SPD-Fraktion bei der Einschätzung der Situation der Wohnungswirtschaft in den
neuen Bundesländern genützt.
Ihr Antrag lag schon nach vier Monaten vor. Herr
Kranz, in Ihrem Antrag wird so lange abstrahiert, bis die
Sachverhalte nur noch positiv erscheinen. Ich dachte, Sie
seien Bürgermeister und nicht Lyriker oder Soziologe.
Sie wissen ja: Soziologen sind diejenigen Menschen, die
zu einer guten Lösung noch das passende Problem suchen.
Ich möchte als Erstes auf den Freizug der Wohnungen eingehen. Es stimmt natürlich, dass die betroffenen
Mieter die Umsetzung in den meisten Fällen konstruktiv
und verständnisvoll mittragen. Auch erste Urteile stärken die Position der Wohnungswirtschaft, wenn es darum geht, die letzten Mietverhältnisse in einem Abbruchhaus aufzulösen.
Dennoch bleibt eine generelle Frage offen, nämlich
wie beim Stadtumbau mit dem Aufheben von Mietverhältnissen umzugehen ist. Mein Kollege Wanderwitz
wird darauf noch näher eingehen.
Natürlich muss die unter Punkt II in Ihrem Antrag
vorgenommene Wertung der Maßnahmen der Bundesregierung etwas relativiert werden. Es stimmt schon, dass
die Länder jetzt mehr als 50 Prozent der Stadtumbaumittel für den Rückbau einsetzen können. Nicht gesagt
wird aber, Kollege Kranz, was als Fußnote in der Verwaltungsvereinbarung steht: Der Bund behält sich vor,
zu überprüfen, ob in späteren Jahren ein Ausgleich zugunsten der Aufwertung erfolgt.
({0})
- Wir brauchen aber zunächst einmal den Rückbau, liebe
Frau Kollegin.
({1})
Der Rückbau muss beschleunigt werden; denn sonst
bleibt es hinsichtlich der Finanzierung nur ein Nullsummenspiel.
Ähnlich verhält es sich mit der Aufstockung der
zusätzlichen Altschuldenhilfe. 658 Millionen Euro
ermöglichen in der Tat mehr Hilfe für existenzgefährdete Unternehmen. Dennoch ist schon jetzt erkennbar,
dass die Anträge bei der KfW nicht komplett bedient
werden können. Existenzgefährdete Unternehmen können nicht Wohnungen abbrechen und gleichzeitig Altschulden zurückzahlen. So wird der Stadtumbau nicht
funktionieren.
({2})
Die Möglichkeit der Kommunen, im Einzelfall den
Rückbau auch außerhalb der festgelegten Gebiete zu fördern, muss unterstützt werden. Dass jedoch im Vollzug
dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen die objektkonkrete Benennung vorzulegen ist, lässt die Bürokratie ausufern. Eine Entscheidung
der Einzelfälle durch die Länder oder - noch besser - sogar durch die Wohnungsunternehmen wäre wesentlich
angemessener.
Frau Staatssekretärin, ich habe mir die Mühe gemacht, einmal zusammenzustellen, was alles zu beachten ist, wenn ein Abriss ansteht. Sie wissen das vielleicht
noch nicht. Also: Abrissgenehmigung, Denkmalschutzmit Sicherheitskonzept, Rückbauvereinbarung mit der
Kommune, öffentliche Ausschreibung - obwohl es noch
gar kein Regelwerk für den Abbruch gibt -, Finanzierungskonzept, von der Bank bestätigt, Antragsteller
muss die Gemeinde sein, Fristen sind einzuhalten,
INSEK muss da sein und diskutiert sein,
({3})
Altschuldenhilfe-Gesetz, Testat, Bankunterschrift, Unterschrift des Freistaats, Beschluss des Aufsichtsrats,
Kommunikation mit den Bewohnern, Umzugsmanagement, Ersatzwohnraum, Kündigung, Vertragsfristen der
Ver- und Entsorger, Kosten der Aufwertung. Das ist eine
ganz kleine Aufstellung dessen, was alles zu beachten
ist, wenn ein Objekt abgerissen werden soll. Und da
kommen Sie mit der Forderung nach objektkonkreter
Benennung!
({4})
- Katastrophe hoch drei! Genau!
Auch mit der Anhebung der Kassenmittel der ersten
Jahresscheibe auf 15 Prozent ist der Bund unserer Forderung nach einer verbesserten Mittelausstattung zum Beginn der Programmjahre gefolgt. Die Forderung von
Rot-Grün an die Länder, abtretungsfähige Bewilligungsbescheide auszustellen, ist allerdings - das wissen Sie,
Kollege Kranz, am besten - nur eine Notlösung für notwendige Vorfinanzierungen. Vielmehr muss nach Wegen
gesucht werden, wie das tatsächlich benötigte Finanzvolumen fristgerecht bereitgestellt werden kann.
Dass auch finanzschwache Kommunen am Stadtumbau Ost teilhaben, kann nur erreicht werden, wenn die
Kommunen entweder auf die Aufwertung verzichten
- das ist für das Gelingen des Stadtumbaus Ost sicherlich nicht hilfreich - oder wenn wir wie beim Rückbau
auf die Drittelung - Drittel Gemeinde, Drittel Land,
Drittel Bund - verzichten. Etwas mehr Klarheit hinsichtlich dieses Punktes in der Verwaltungsvereinbarung
wäre schon erforderlich.
Besonders skeptisch stehe ich natürlich dem Typisierungsgedanken bei der Auswertung der kommunalen
Konzepte gegenüber. Hier ist nicht viel zu holen. Jede
Kommune muss ihren Weg für den Stadtumbau finden
und dabei eine Vielzahl von Randbedingungen beachten.
Ein Allheilmittel ist schlecht zu finden.
Positiv sind die von Ihnen aus unserem Antrag übernommenen Aussagen zur Grunderwerbsteuerbefreiung
bei Fusionen und zur Investitionszulage zu werten. Alles
in allem haben Sie wichtige Punkte unseres Antrags erneut formuliert. Wenn Sie auch gewillt gewesen wären,
den notwendigen Sprung zu wagen, was das Sonderkündigungsrecht angeht, wäre es für Sie einfacher gewesen.
({5})
Es hätte damit sein Bewenden haben können, wenn Sie
sich schlicht unserem Antrag angeschlossen hätten.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollege Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Leerstand im Osten ist wirklich ein großes Problem,
aber es handelt sich hier, Herr Nitzsche, nicht um ein
strittiges Thema; das wissen Sie auch. Bisher haben sich
alle Fraktionen immer darum bemüht, das Thema konstruktiv voranzubringen. Ich war eben nicht ganz sicher,
ob Sie einen Beitrag dazu leisten wollten, dass wir das in
diesem Sinne fortführen. Mir wäre das sehr wichtig.
Rot-Grün hat sich in der letzten Legislaturperiode jedenfalls sowohl mit der §-6-a-Regelung im Altschuldenhilfe-Gesetz als auch mit dem Stadtumbauprogramm Ost
konstruktiv und zügig diesem Thema gestellt und hat die
Initiative zur Lösung dieses Problems ergriffen. Wir alle
sollten darüber sehr froh sein. Das Erstaunliche ist, dass
dieses schwierige Thema auch in den ostdeutschen Ländern, Städten und Kommunen sowie von der Wohnungswirtschaft rundherum konstruktiv angegangen wird.
Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir in dem
Stadtumbauprogramm Ost ein lernendes System sehen. Alle Beteiligten müssen step by step versuchen, dieses System zu optimieren und die anstehenden Aufgaben
so vernünftig und konstruktiv wie möglich zu lösen. Obwohl ich nie und nimmer gerne Bürgermeister einer
Stadt sein würde, der den Leuten sagen muss, dass er einen halben Stadtteil abreißen wird, finde ich es trotzdem
großartig, wie konstruktiv alle Beteiligten, die Wohnungswirtschaft, die Kommunen und die Länder - zwar
manchmal nicht ganz so toll, wie wir es uns wünschen und insbesondere die Mieter, an diese Frage herangehen.
Der erste Punkt, wo ein deutlicher Dissens zwischen
uns besteht, ist der Umgang mit den Mietern. Wir haben
es schon intensiv bei der Mietrechtsnovelle diskutiert:
Rot-Grün hält es nicht für notwendig, neue mietrechtliche Regelungen in diesem Bereich zu erlassen. Inzwischen haben mehrere Gerichte, in Jena, in Hoyerswerda
und in Halle, wie ich glaube, in ihren Urteilen gesagt,
dass der Passus im BGB, demzufolge der Vermieter bei
berechtigtem Interesse kündigen kann, für den Abriss
ausreicht. Nach dieser Regelung geht man vor; das funktioniert auch, im Übrigen sehr konstruktiv. Auch die
Mietervereinigungen arbeiten ihrerseits konstruktiv daran mit. Ich werbe noch einmal inständig dafür, niemandem einzureden, wir benötigten ein neues Mietrecht. Das
würde nur Streit zwischen der Eigentümer- und der Mieterseite provozieren. Das wäre nicht gut.
({0})
Zweiter Punkt: Die Koalition hat die Verwaltungsvereinbarung sehr gut weiterentwickelt. Ich bedanke
mich dafür, Frau Gleicke. Ich wünsche mir, dass die
Länder - ich halte es schon für ein Problem, dass diese
Vereinbarung von einer Reihe von ostdeutschen Ländern
noch nicht unterschrieben wurde - ihre eigene Bürokratie überwinden und möglichst zügig die Verwaltungsvereinbarung unterschreiben, damit das Geld auch wirklich
fließen kann. Auf weitere wichtige Veränderungen ist
der Kollege Kranz eben schon eingegangen.
({1})
Ich möchte sie aufgrund meiner begrenzten Redezeit
nicht noch einmal wiederholen. Es handelt sich durchweg um gute Veränderungen, womit wir in diesem Punkt
weiterkommen.
Ein Satz wenigstens noch zur Frage von Abriss und
Aufwertung: Wir brauchen beides, aber wir wissen,
dass es jetzt erst einmal um zügigen Abriss geht.
({2})
Wir wollen aber diese Gebiete nicht wie offene Wunden
liegen lassen, sondern die Bevölkerung in den jeweiligen
Stadtteilen soll auch sehen, dass es wieder vorangeht.
Deswegen ist Aufwertung genauso notwendig. Wir können nicht sagen: „Jetzt wird erst einmal nur abgerissen“,
und dann bleiben die Stadtteile einfach so liegen. Das
wollen wir nicht. Wir engagieren uns genauso auch für
die notwendige Aufwertung.
({3})
Lassen Sie mich bei allem Erfolg, den wir bei diesem
Programm bisher verzeichneten, und trotz all der Mühen
und der konkreten Arbeit auf den verschiedenen Ebenen,
besonders in den Kommunen, doch noch ein paar Punkte
ansprechen, über die wir zu diskutieren haben und wo
wir weiterkommen müssen.
Ich will darauf aufgrund meiner begrenzten Redezeit
nur stichpunktartig eingehen: Als Erstes haben wir noch
im ländlichen Raum große Probleme. Der zweite Bereich betrifft die Infrastruktur; diese Frage hat der Kollege Kranz eben auch angesprochen. Der dritte Punkt betrifft die privaten Eigentümer. Auch wenn die privaten
Eigentümer im Endeffekt Nutznießer mutiger Abrissvorhaben der städtischen und genossenschaftlichen Wohnungswirtschaft sind, bekommen wir doch in vielen
Städten Probleme mit privaten Eigentümern.
({4})
Ich möchte als Letztes auf drei Punkte hinweisen, wo
wir schon weitergekommen sind. Ein ganz wichtiger
Schritt ist, dass die Grunderwerbsteuerbefreiung bei der
Zusammenführung von Wohnungsunternehmen gewährt wird. Die Regierung hat zugesagt, die Bundesratsinitiative wohlwollend zu begleiten. Wir müssen dann
sehen, ob die EU das mit trägt. Ich hoffe und werbe dafür, dass wir auf diesem Weg einen Schritt vorankommen. Ich bitte darum, dass wir diesbezüglich alle zusammenarbeiten.
Der nächste Punkt ist die Investitionszulage im Baubereich. Hinsichtlich der Aufwertung ist auch das sehr
wichtig.
Der letzte Punkt - ich komme gleich zum Schluss -:
Die Art und Weise, wie die Koalition das Thema Eigenheimzulage im Haushalt angegangen ist, halte ich für
sehr gut. Was der Osten wirklich braucht, ist: Schluss
mit der Eigenheimzulage und Schluss mit der Zersiedlung. Stattdessen braucht der Osten ein solides Programm für Stadterneuerung, familiengerechte Eigentumsbildung in den Städten und eine Stärkung des
Stadtumbauprogramms Ost.
({5})
In diesem Sinne hoffe ich, dass das auch die Opposition
im Zuge der Beratungen unterstützen wird.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist fraglich, ob die Wohnungspolitik und die Wohnungswirtschaft es verdient haben, dass wir zu so später
Stunde diese Debatte führen. Ich bin der Meinung der
Stadtumbau Ost ist ein Thema, das nicht nur für den Osten relevant ist. Dieses Thema sollten wir generell einmal auf die Tagesordnung stellen;
({0})
Joachim Günther ({1})
denn die Regionalisierung ist in jeder Situation unterschiedlich. Darauf sollte man reagieren.
Kollege Kranz, Sie haben gesagt, dass die Opposition
von der Auffassung abgerückt ist, dass das Stadtumbauprogramm Ost nicht wirkt. Das ist nicht ganz richtig.
Das Stadtumbauprogramm Ost - das sage ich in Richtung Bundesregierung - hat etwas auf den Weg gebracht,
das aus meiner Sicht optimal ist: In den Städten hat überhaupt erst einmal eine Planung stattgefunden; man hat
sich mittelfristige Ziele gesteckt, die vieles voranbringen. Dieser Effekt ist absolut positiv.
Das Problem ist aus heutiger Sicht aber nach wie vor
die Bevölkerungswanderung in Deutschland und die Situation in den Städten, in den Stadtkernen selbst. Es gibt
eine Bevölkerungswanderung. Ein Bürgermeister oder
ein Baudezernent einer betroffenen Stadt - ich will nicht
das Superbeispiel Hoyerswerda nennen; es gibt im Osten
Deutschlands andere Städte, die ähnliche Probleme haben - sagt Ihnen: Wie soll ich denn für die nächsten zehn
Jahre planen, wenn aus meiner Stadt jährlich 2 000 bis
2 500 Menschen wegziehen? Das ist das Hauptproblem.
Deshalb kann das Wohnungsbauprogramm nicht der
Ansatz sein. Wir müssen vielmehr einen Ansatz in der
Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie in der Arbeitsmarktpolitik insgesamt finden. Nur wenn es uns gelingt,
die Bevölkerungsströme zumindest einigermaßen in
Grenzen und damit kalkulierbar zu halten, können wir auf
den Stadtumbau direkt eingehen; denn ein Bürgermeister,
der nicht weiß, wie viele Einwohner seine Stadt in zehn
oder 20 Jahren haben wird, sieht sich einer komplizierten
Planung gegenüber. Deshalb brauchen wir - das ist richtig - einige Reformen, die in diese Richtung gehen.
In Bezug auf den Leerstand brauchen wir aber auch einiges, was in Ihren Vorschlägen bisher noch nicht enthalten ist: Frau Eichstädt-Bohlig, was den Freizug im Wohnungswesen anbetrifft, ist es zwar richtig, dass es kaum
Mieterdiskussionen gibt; das Problem bei einem Einzelabriss ist aber immer der letzte Mieter, dessentwegen es
Streit sowie wochen- und monatelange Verzögerungen
gibt. Solche Probleme unbürokratischer und schneller zu
lösen muss ein Ziel sein. Für solche Einzelfälle müssen
wir in den nächsten Monaten eine Regelung finden.
({2})
Das zweite Hauptproblem beim Abriss - jeder weiß
das; wir brauchen das nicht genauer auszuführen - sind
die Altschulden. Dieses Thema betrifft die Wohnungsgesellschaften und die Genossenschaften. Aber auch die
Privateigentümer - der Begriff wurde schon genannt bilden ein großes Potenzial. Die privaten Haus- und
Grundeigentümer im Osten Deutschlands sind von diesem Problem ebenfalls stark betroffen. Ich möchte nicht,
dass sie immer nur neben oder nach den Genossenschaften eingeordnet werden. Ihre persönliche Situation ist oft
viel härter als die mancher Genossenschaften.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Iris Gleicke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu den wichtigsten Aufgaben in Ostdeutschland gehört
der Stadtumbau Ost. Das wird auch daran deutlich, dass
alle Fraktionen dieses Hohen Hauses hierzu Anträge eingebracht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition - Herr Günther, bei Ihnen bedanke ich mich ganz
ausdrücklich für den konstruktiven Beitrag -, bei allen
Problemen und Unterschieden, die wir im Detail sehen,
eint uns das Wissen darum, dass diese Aufgabe zu erfüllen ist. Ich glaube, Sie tragen auch insgesamt das Programm „Stadtumbau Ost“ mit. Wir sind uns darüber einig, dass dieses Programm zügig weiterlaufen und zügig
abgearbeitet werden muss.
Zu der Kritik, die in Ihrem Antrag geäußert wird,
Herr Nitzsche: Das sehe ich anders; denn vieles ist bereits erreicht. Das Programm läuft seit einem Jahr. Vor
einem Jahr hatten wir den Wettbewerb zum Stadtumbauprogramm, für den die Kommunen Stadtentwicklungskonzepte erarbeitet haben. Einige dieser Konzepte
sind auch ausgezeichnet worden. Herr Kollege Kranz,
wir haben dieser Tage eine Broschüre herausgebracht, in
der diese unterschiedlichen Konzepte veröffentlicht werden, damit sich andere beteiligen und auch voneinander
lernen können.
({0})
An dem ersten Programm, das wir aufgelegt haben,
beteiligen sich 179 Gemeinden. Wir hatten die Absicht
- das habe ich auch in der letzten Debatte gesagt -, mit
dem Programm „Stadtumbau Ost“ ein lernendes Programm aufzustellen. Wir haben immer gesagt: Wir betreten an dieser Stelle Neuland.
({1})
Wir haben etwas in Gang gesetzt, das es in dieser Republik vorher nicht gegeben hat. Aus diesem Grunde werden wir uns natürlich immer wieder damit zu beschäftigen haben, welche Veränderungen es geben muss. Ich
will die Veränderungen, die wir jetzt mit der Verwaltungsvereinbarung für 2003 vorgenommen haben, einfach noch einmal benennen.
Wir ermächtigen die Länder, auch mehr als
50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen. Die
Entscheidung muss aber vor Ort getroffen werden, dort
wo diejenigen sitzen, die am Besten wissen: Brauchen
wir mehr Geld für den Rückbau, oder müssen wir das
Geld in die Aufwertung stecken, um auch Zielwohnungen zu erhalten? Diese Entscheidung können wir den
Trägern vor Ort nicht abnehmen. Das sollten wir auch
tunlichst lassen.
({2})
Wir verzahnen den Stadtumbau Ost stärker mit unserer Altschuldenhilfe-Regelung. Wir wollen, dass hier
stärker Hand in Hand gearbeitet wird. Wir wollen, dass
die Unternehmen, die am stärksten betroffen sind und
deshalb gemäß § 6 a Hilfe bekommen, mehr und schneller abreißen können. Auch dies ist aber vor Ort zu entscheiden. Wir können hier niemanden aus der Verantwortung nehmen. Wir machen möglich, dass die Mittel
für den Rückbau im Programm „Stadtumbau Ost“ auch
als Landesbeitrag zur Altschuldenentlastung anerkannt
werden. Ich bedanke mich ausdrücklich beim Bundesfinanzminister, dass solche Dinge möglich sind, damit wir
zügig vorankommen.
({3})
Wir haben auch die Regelung für die Wohneigentumsbildung vereinfacht und großzügiger gestaltet. Die
Ursache für den Wegzug aus der Stadt ist ganz oft das
Fördern des Bauens auf der grünen Wiese. Deshalb müssen wir uns an dieser Stelle doch der Diskussion über die
Wohneigentumsförderung stellen.
({4})
Damit verstärken wir auch unser eigenes Stadtumbauprogramm.
({5})
Wir wollen, dass das Bauen auf der grünen Wiese angesichts der Leerstände in den Städten nicht weiter betrieben wird. Wir wollen vielmehr, dass in den Städten auch
wieder Familien leben können, indem familienfreundliche Wohnungen und auch die Wohneigentumsbildung
im Bestand ermöglicht wird.
Ich darf Ihnen noch etwas Erfreuliches vermelden: In
dem gestern beschlossenen Bundeshaushaltsplan haben
wir festgelegt, dass die Kassenmittelrate im Jahre 2004
auf 20 Prozent erhöht wird. Damit steht mehr Geld zur
Verfügung. Ich glaube, dass wir damit eine gute Voraussetzung geschaffen haben, den Stadtumbau zu beschleunigen.
({6})
Zu den 45 000 bewilligten Abrissen aus dem vergangenen Jahr werden noch einmal 50 000 hinzukommen.
Auch das macht deutlich, dass wir vorankommen und
dass wir auf einem guten Wege sind. Wir werden uns
weiter austauschen.
Übrigens ist unser Bundesminister dieser Tage unterwegs; heute ist er in Halle-Neustadt. Er wird eine Sommerreise machen und wird sich stark mit dem Stadtumbau Ost auseinander setzen.
Herr Kollege Nitzsche, ich musste vorhin bei der Aufzählung der Litanei von Genehmigungen, die man so
braucht, etwas schmunzeln; wir haben schließlich nicht
all diese Genehmigungen erfunden.
({7})
Außerdem finde ich es schon ein bisschen witzig, wie
Sie beispielsweise angesichts der Silberhöhe in Halle auf
den Denkmalschutz kommen.
Wir sind uns doch einig, dass wir etwas tun müssen.
Lassen Sie uns doch bitte konstruktiv weiter diskutieren.
Die neuen Bundesländer brauchen den Stadtumbau Ost.
Wir sind auf gutem Wege und sind, denke ich, auch stolz
auf das, was bisher erreicht wurde. Wir müssen auch die
Arbeit derer loben, die sich vor Ort engagieren. Dann gehört es auch dazu, dass man keine unsachgemäße Kritik
anbringt, sondern sich sachlich auseinander setzt. Wir
werden immer wieder Gespräche führen, um herauszufinden, worauf wir reagieren müssen und wie wir das
Programm noch besser machen können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Marco Wanderwitz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir alle sind nicht vor Fehleinschätzungen gefeit. Gerade die Wiedervereinigung war ein riesiger
Kraftakt für den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber.
In guter Absicht wurde auch ein Teilaspekt der heutigen
Debatte geregelt, die Problematik des Verbots so genannter Verwertungskündigungen in den neuen Ländern,
wie von meinem sächsischen Kollegen Henry Nitzsche
schon angesprochen wurde.
Unser Ihnen heute vorliegender Antrag fordert ein
Sonderkündigungsrecht für Rückbauvorhaben, diese
Forderung enthält auch der Antrag der FDP. Die Staatsregierung des Freistaates Sachsen hat am 27. Mai 2003
beschlossen, einen weiter gehenden Gesetzesantrag für
die Aufhebung des Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum BGB in den Bundesrat einzubringen.
Vor dem 3. Oktober 1990 begründete Mietverhältnisse in den neuen Ländern sind nach geltendem Recht
bis auf wenige Ausnahmen, auf die ich später noch zu
sprechen komme, für den Vermieter quasi unkündbar.
({0})
- Es ist noch ein bisschen von Herrn Nitzsches Redezeit
übrig; insofern werde ich schon hinkommen.
Dies gilt selbst und gerade dann, wenn der Vermieter
dadurch an einer anderen wirtschaftlicheren Verwertung
der Immobilie gehindert wird. Eine solche Verwertungsmöglichkeit ist der Rückbau.
Der Wille des Gesetzgebers war 1990 der Schutz von
Mietern preiswerten Wohnraums in den neuen Ländern
unter dem Gesichtspunkt der Wohnungsknappheit zu
diesem Zeitpunkt. Der Verfall ganzer Stadtteile war
keine Seltenheit. Andererseits konnten die Plattenbausiedlungen nie den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden. Zwischenzeitlich stehen rund
1,3 Millionen Wohnungen zwischen Chemnitz und
Greifswald leer. Neuerlicher Verfall setzt ein; die Silberhöhe wurde gerade genannt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Um nur einige zu nennen: Abwanderungswellen
in ungeahntem Ausmaß, demographische Entwicklung,
aber auch die Sanierung vorrangig von Altbauten und
der Neubau von Wohnungen. Aus meiner Sicht ist damit
der Normzweck entfallen.
Die derzeitige gesetzliche Regelung erweist sich sogar als Hemmnis für die Entwicklung in den neuen Ländern.
({1})
Wer soll denn eine Immobilie mit einem verbliebenen
Mieter, der sich nicht am Verfall stört, einer neuen Nutzung zuführen? An dieser Stelle sage ich ganz deutlich,
dass nicht nur Sanierung die neue Nutzung sein kann.
Wir brauchen die gezielte Wegnahme von Wohnungen
vom Markt in erheblichen Größenordnungen, um das
Gefüge zu retten. Aber selbstverständlich sollen die Sanierung und die Umnutzung genauso erfasst werden, daher greift eine reine Abrisskündigung zu kurz.
Die Situation wird nicht wesentlich dadurch verbessert, dass die Rechtsprechung mittlerweile in Einzelfällen trotz des Ausschlusses der Verwertungskündigung
die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung unter
den Bedingungen des § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB angenommen hat. Dies betrifft einerseits bisher nur besonders
gravierende Fälle, etwa den Fall des über Jahre ausharrenden letzten verbliebenen Mieters in einem elfstöckigen Wohnhaus. Die Mietzahlungen deckten in diesem
Fall nicht einmal mehr die Betriebskosten für den Wohnkomplex. Zum anderen ist aufgrund der uneinheitlichen
Entscheidungspraxis der Gerichte erhebliche Rechtsunsicherheit gegeben. Jeder einzelne Fall bedarf derzeit der
gerichtlichen Entscheidung, gegebenenfalls durch mehrere Instanzen. Bereits der Zeitfaktor ist dabei absolut inakzeptabel.
({2})
Das Teilaufheben des Art. 232 des Einführungsgesetzes zum BGB würde den Mieter ja auch nicht schutzlos
machen. Die erwähnte Regelung, die Kündigungsmöglichkeit bei berechtigtem Interesse an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks,
würde dann auch in den neuen Ländern alleinige Anwendung für derartige Fälle finden. Für das dort normierte berechtigte Interesse setzt die Rechtsprechung bereits jetzt sehr enge Kriterien.
({3})
Der Antrag der Regierungsfraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Thema blendet leider
den von mir aufgezeigten Aspekt aus.
({4})
Das Programm Stadtumbau Ost und all die schönen
Stadtentwicklungskonzepte werden aber ohne Beachtung dieses Problems ins Leere laufen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
Rot-Grün, Ihr Antrag ist leider so falsch wie manche Initiative aus Ihrer Feder. Er ist in der Sache falsch, weil
schon die Analyse falsch ist.
({5})
Sie schreiben von den bereits bestehenden Möglichkeiten und Ausnahmefällen. Da fragt man sich schon, ob
Sie die Lage vor Ort wirklich kennen.
Lassen Sie uns die Verantwortung für die Entwicklung der Städte und Gemeinden in den neuen Ländern
übernehmen! Stimmen Sie für unseren Antrag und geben
Sie der Bundesratsinitiative des Freistaates Sachsen Ihre
Unterstützung!
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/1331. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 15/1091 mit dem Titel „Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/352 mit dem Titel „Stadtentwicklung Ost Mehr Effizienz und Flexibilität, weniger Regulierung
und Bürokratie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmenverhältnis
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages
der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/750 mit dem
Titel „Stadtumbau Ost - ein wichtiger Beitrag zum Aufbau Ost“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmenergebnis wie die beiden vorherigen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Dr. Jürgen Gehb, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gesetzbuches ({0})
- Drucksache 15/1096 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Beim Tagesordnungspunkt 12 sind von den Rednerin-
nen und Rednern aller Fraktionen die Reden zu Protokoll
gegeben worden.1)
Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf
Drucksache 15/1096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({3}),
Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Vorrang für die Ostseesicherheit
- Drucksachen 15/465, 15/1194 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Beim Tagesordnungspunkt 14 haben ebenfalls alle Red-
nerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen auf Drucksache 15/1194 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Vorrang
für die Ostseesicherheit“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 15/465 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/
CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und
Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der
Streikräftepotenziale ({5})
- Drucksache 15/1104 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
1) Anlage 12
2) Anlage 13
Hierzu haben ebenfalls alle Rednerinnen und Redner
ihre Reden zu Protokoll gegeben.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1104 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Vewaltungsvorschriften
der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit
KOM ({8}) 433 endg.; Ratsdok. 12138/02
- Drucksachen 15/457 Nr. 2.2, 15/1288 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Dirk Manzewski
Michael Grosse-Brömer
Jerzy Montag
Auch hierzu haben alle Rednerinnen und Redner ihre
Reden zu Protokoll gegeben.4)
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung über einen Vorschlag für eine Richtlinie
des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmo-
nisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der
Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, Druck-
sache 15/1288. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der
Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Für eine Verbesserung der privaten Vermitt-
lung im Aupairbereich zur wirksamen Verhin-
derung von Ausbeutung und Missbrauch
- Drucksache 15/1315 -
Auch hierzu haben alle Rednerinnen und Redner ih-
ren Reden zu Protokoll gegeben.5)
3) Anlage 14
4) Anlage 15
5) Anlage 16
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag mit dem Titel „Für eine Verbesserung der privaten Vermittlung im Aupairbereich zur
wirksamen Verhinderung von Ausbeutung und Missbrauch“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/1315? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 4. Juli 2003, um 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.