Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/27/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Die frühere Kollegin Angelika Volquartz hat am 16. Juni 2003 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Der Abgeordnete Helmut Lamp hat als ihr Nachfolger am 18. Juni 2003 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns bereits aus der 14. Wahlperiode bekannten Kollegen. Herzlich willkommen! ({0}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 14 auf: 17 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen - Drucksache 15/1089 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) - Drucksache 15/1224 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange ({3}) ZP 14 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1206 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort. ({5})

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn dieses Monats haben wir ein Gesetz für Erleichterungen von Existenzgründungen und zur Förderung von Kleinunternehmen erörtert. Heute steht eine große Reform des Handwerksrechts auf der Tagesordnung. In der Tat: Seit dem In-Kraft-Treten der Handwerksordnung im Jahre 1953 gab es in diesem Land keine vergleichbare Reform des Handwerksrechts, wie wir sie heute anstreben. Mit dieser Novelle wollen wir das Handwerksrecht zukunftssicher und europafest machen. Wer sich die Situation beim Handwerk anschaut, der sieht, dass daran kein Weg vorbeiführt. ({0}) Seit Jahren verzeichnen wir einen Rückgang der Zahl der Betriebe im Handwerk und einen Abbau von Beschäftigungsverhältnissen und vielen Ausbildungsplätzen. Seit Jahren gehen die Umsätze zurück. ({1}) Redetext - Wenn Sie einmal zurückrechnen, Herr Kollege, dann stellen Sie fest, dass Sie Anteil daran haben. - Notwendig ist deshalb ein deutlicher Impuls für mehr Existenzgründungen im Handwerk und für mehr Beschäftigung und Wachstum. ({2}) Bei dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, geht es um eine Änderung der Strukturen. Wir wollen weder den großen Befähigungsnachweis abschaffen, ({3}) noch haben wir vor - das wird gelegentlich behauptet -, einem der wichtigsten Bereiche unserer Wirtschaft, nämlich dem Handwerk, den Garaus zu machen. ({4}) Solche Behauptungen entbehren jeder Grundlage; sie sind Unsinn. Das Gegenteil ist richtig. ({5}) Wer sich die Situation einigermaßen unbefangen ansieht, der erkennt, dass das Handwerk große strukturelle Probleme hat. Damit es in seinen Grundstrukturen erhalten bleiben und vor den heutigen und künftigen Herausforderungen bestehen kann, muss es Veränderungen geben. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, haben ein Konzept mit dem Titel „Handwerk mit Zukunft“ vorgelegt. Mit dem Titel stimmen wir überein. Um dieses Ziel aber zu erreichen, bedarf es zielführender Reformen. Ihr Zwölfpunkteplan ist dagegen in Teilbereichen, zum Beispiel bei den Kriterien für den Vorbehaltsbereich, unpräzise und rechtlich bedenklich. Es handelt sich aus meiner Sicht insgesamt eher um ein Dokument des Stillstandes - um nicht zu sagen: der Rückwärtsgewandtheit - und sicher nicht um ein Konzept für Modernisierung, die Zukunft hat. ({6}) Das Seminar für Handwerkswesen der Universität Göttingen, eines unserer Handwerksinstitute, hat kürzlich in einer Studie - lassen Sie mich das deutlich sagen beim Vollhandwerk einen Rückgang der Zahl der Betriebe von über 100 000 bis zum Jahr 2010 prognostiziert, und zwar auf der Grundlage des heute geltenden Handwerksrechts. Es ist uns wie Ihnen doch klar, was das für die Beschäftigung und für die Ausbildung im Handwerk praktisch bedeuten würde. Deshalb meine ich: Es sollte klar sein, dass wir dem nicht tatenlos zusehen können und keine Beschlüsse fassen können, die den Status quo festschreiben. Wir brauchen weit reichende Änderungen, wie wir sie jetzt vorschlagen. Meine Damen und Herren, weil es immer wieder in den Hintergrund gedrängt wird, will ich noch einmal betonen: Auch mit diesen Reformen, die wir vorschlagen, bleibt der Meisterbrief als Qualitätssiegel bestehen, und zwar sowohl in den Vorbehaltsbereichen der Anlage A der Handwerksordnung als auch in den nunmehr freien Tätigkeitsfeldern der Anlage B. Der Meisterbrief steht für Qualität. Er steht für Zuverlässigkeit und Können. Daran will selbstverständlich niemand etwas ändern. ({7}) Der Meisterbrief bleibt Bestandteil und Ausdruck unseres bewährten Systems der beruflichen Aus- und Fortbildung. Aber wir kommen auch in der Aus- und Fortbildung nicht umhin, die Dinge zu modernisieren und den neuen Erfordernissen zugunsten von mehr Wachstum und Innovation und für mehr Beschäftigung und Ausbildung anzupassen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Ich habe bereits gesagt, dass die Umsätze, die Betriebszahlen sowie die Zahl der Arbeits- und Ausbildungsplätze unentwegt zurückgehen. Seit 1995 befindet sich das Handwerk in einer strukturellen Krise. ({8}) Das bedeutet sieben Jahre Schrumpfung. Das sind sieben Jahre zu viel. ({9}) Deshalb müssen wir reagieren, und zwar strukturell, nämlich mit den vorgeschlagenen Änderungen im Handwerksrecht. Die Entwicklung der Gesamtwirtschaft in den letzten Jahren gibt den Rahmen dafür vor, was möglich ist, wenn das Angebot flexibler wird, wenn Existenzgründungen erleichtert werden, wenn das Handwerk gewerkeübergreifend tätig sein kann und wenn neue Tätigkeitsbereiche ohne berufliche Restriktionen akquiriert werden können. Meine Damen und Herren und insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich empfehle Ihnen einen vertiefenden Blick in eine Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Es ist wirklich interessant, sich diese durchzulesen. Sie ist vor zwei Wochen unter dem Titel „Die Reform der Handwerksordnung: ein notwendiger Schritt in die richtige Richtung“ erschienen. In dieser Studie des Kieler Instituts wird der interessante Versuch unternommen, wichtige zu erwartende Auswirkungen unserer Gesetzentwürfe vorherzusagen. Ich empfinde die Lektüre jedenfalls als ziemlich aufschlussreich. Ich will nur darauf hinweisen, dass das Kieler Institut für Weltwirtschaft unsere Novellierung befürwortet. Es bestätigt unsere ökonomische Argumentation mit Blick auf ein mögliches Anwachsen der Betriebszahlen. Wir werden mehr Betriebe, mehr Beschäftigung und auch mehr Handwerksleistungen am Markt haben. ({10}) - Das steht alles in dem Bericht des Kieler Instituts. Ich habe nichts versprochen. Dem Kieler Institut werden Sie doch glauben, Herr Kollege. Ich würde es Ihnen jedenfalls empfehlen. Wir werden sinkende Handwerkspreise haben. Vor allen Dingen ist ein Rückgang der Schwarzarbeit zu erwarten und darauf kommt es an. ({11}) All das ist genau das, was das Handwerk in unserem Land dringend braucht. Genau das wollen wir und werden wir erreichen. Lesen Sie nach, was das Kieler Institut ermittelt hat! Meine Damen und Herren, um es klar zu sagen: Der Staat kann strenge Berufszugangsregelungen wie das Handwerksrecht nur bei einem übergeordneten öffentlichen Interesse vorsehen. Das ist zum Beispiel dann gegeben, wenn durch mangelnde Produktsicherheit eine Gefahr für Leben und Gesundheit entstehen kann. Aus diesem Grunde haben wir die Anlage A auf gefahrgeneigte Handwerke beschränkt. Die zukünftig zulassungsfreien Handwerke wollen wir demgegenüber in Anlage B der Handwerksordnung aufführen. So bleibt zwar nur ein Drittel der Gewerke in der Anlage A, aber - das kann niemand übersehen - das entspricht knapp zwei Dritteln - immerhin 62 Prozent - aller Handwerksbetriebe in unserem Land. Das muss man sich auch angesichts mancher Diskussionsbeiträge, die gelegentlich zu hören sind, vergegenwärtigen. ({12}) Auch für die Gewerke, die künftig in die Anlage B wandern, bleibt das Qualitätssiegel des Meisterbriefs erhalten. Für den Berufsnachwuchs bleibt die Meisterprüfung eine wichtige und besondere Qualifikation, allerdings nunmehr auf freiwilliger Basis. Ich bin zutiefst überzeugt, dass der Meisterbrief ein Qualitätssiegel bleibt und die Meister von der Konkurrenz abhebt. Wir werden sehen, dass viele Kunden sich weiterhin für Meisterbetriebe entscheiden werden, allerdings freiwillig und nicht weil der Staat sie dazu zwingt. Auch bei den gefahrgeneigten Gewerken des Handwerks in der Anlage A müssen die Marktzutrittsbarrieren verhältnismäßig sein. Dazu gehört, dass die Meisterprüfung zukünftig zeitnah nach der abgeschlossenen Berufsausbildung, das heißt nach der Gesellenprüfung, möglich werden muss. Es ist eine Tatsache, dass überproportional viele erfolgreiche Existenzgründungen in der gewerblichen Wirtschaft außerhalb des Handwerks gerade von ganz jungen Menschen erfolgen. Diese Chancen müssen auch die Jungmeister bekommen. Gesellen mit jahrelanger Berufserfahrung bringen in der Regel ebenfalls die erforderliche Qualifikation für einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Technik und dem Material mit. Ich denke, drei bis vier Jahre Ausbildung, eine Gesellenprüfung und zehn Jahre Berufserfahrung - davon fünf Jahre in herausgehobener, verantwortlicher oder leitender Stellung - sollten als Nachweis genügen. Durch diese Neuerung entsteht zusätzliches Potenzial für Existenzgründungen im Handwerk. Wir wollen das Inhaberprinzip aufheben. Damit wird es auch für Personenunternehmen nicht mehr erforderlich sein, dass der Inhaber oder die Inhaberin selbst die handwerkliche Befähigung besitzt. Damit wird die bisherige, nicht gerechtfertigte Privilegierung von Kapitalgesellschaften gegenüber Personengesellschaften und Einzelunternehmen abgeschafft. Mit all diesen Maßnahmen erleichtern wir Existenzgründungen und Betriebsübernahmen. Nach Schätzungen gibt es in den nächsten zehn Jahren 80 000 bis 120 000 wirtschaftlich sinnvolle Betriebsübergaben im derzeitigen Vollhandwerk. Wem sollen die Betriebe angesichts der drastisch zurückgehenden Jungmeisterzahlen eigentlich übergeben werden? Ich habe kürzlich in Düsseldorf an einer Jungmeisterfeier und an einer wunderbaren Diskussion teilgenommen. Dort gab es den seit 50 Jahren absolut kleinsten Jungmeisterjahrgang; dies ist in vielen anderen Bereichen unseres Landes genauso. Das hat Ursachen. Diesen Ursachen müssen wir nicht nur nachgehen, sondern wir müssen diese Ursachen überwinden. ({13}) - Herr Kollege, machen Sie sich nicht lächerlich. Wir geben dem Handwerk nach einer langen Phase des Rückgangs eine neue Chance für die Zukunft, weil wir Gründungen erleichtern, notwendige Impulse für mehr Beschäftigung und Ausbildung schaffen, die Innovationsfähigkeit erhöhen, das Dienstleistungspotenzial erweitern und weil wir - nicht zuletzt, sondern zuallererst - einen Beitrag zum Abbau der Schwarzarbeit leisten. Auch die Ausbildungsleistung des Handwerks wird weder bei der Zahl der Auszubildenden noch in der Breite der Ausbildung beeinträchtigt. In den Gewerken der Anlage A werden wie bisher die Meister die praktische Ausbildung durchführen. In den Unternehmen der Anlage B werden viele freiwillig ihren Meister machen. Für Ausbilder in Nichtmeisterbetrieben wird die gleiche persönliche und fachliche Eignung nach dem Berufsbildungsgesetz verlangt wie in der übrigen gewerblichen Wirtschaft. Das sollte niemand übersehen. Es wird auch niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Ausbildungsqualität im Handwerk aufgrund seiner Vorbehaltsbereiche besser sei als die Berufsausbildung in der übrigen gewerblichen Wirtschaft. Dort werden immerhin zwei Drittel aller Lehrlinge in Deutschland ausgebildet. ({14}) Es gibt ja zurzeit viele Diskussionen und Beiträge darüber, die oftmals von vielen Emotionen getragen sind. Ich habe mit dem Handwerk viele Gespräche geführt, übrigens auch mit der Spitze des Handwerksverbandes. Leider waren diese nicht von Erfolg, das heißt von einer Einigung, gekrönt. Deshalb sage ich hier klar: Ich sehe nicht, dass die Motivation des Handwerks, weiter auszubilden - wie es oft behauptet wird -, zurückgehen wird. ({15}) Dagegen stehen schon rein ökonomische Interessen, Herr Kollege. Der Auszubildende beginnt sich - wie wir alle wissen - bereits nach dem zweiten Ausbildungsjahr - wie man so schön sagt - zu rentieren. Das Verhältnis von Kosten und Nutzen ist im Handwerk viel besser und schneller spürbar als in Industrie und Handel. ({16}) - Die Beiträge vonseiten der Liberalen finde ich besonders beeindruckend, weil Sie sonst immer gegen Regulierung und für Freiheit und Spielräume im Handwerk eintreten. Wenn Sie jetzt als die Verteidiger der letzten Regularien auftreten, ist das wirklich nicht sehr überzeugend. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Aber mit großem Vergnügen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister Clement, mit meinem Zwischenruf wollte ich darauf hinweisen, dass Ihre Behauptung, dass man mit Ausbildung im Handwerk Geld verdienen könnte, einfach falsch ist. Es ist vielmehr so, dass Ausbildung Geld kostet. Von daher ist es anerkennenswert und eine besondere Leistung, dass das Handwerk in Deutschland über den eigenen Bedarf hinaus ausbildet. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen? ({0})

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005301

Ich bin nicht erst jetzt bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen, sondern ich tue das schon ziemlich lange. Ich bin Ihnen für diesen Hinweis aber sehr dankbar; er ist richtig. Setzen! ({0}) Jeder Handwerker weiß, dass der Berufsnachwuchs für die Zukunft des eigenen Betriebes unerlässlich ist. Alle wissen es: Die Auszubildenden von heute sind die Fachkräfte von morgen. Die Handwerksbetriebe schätzen natürlich ihren talentierten Nachwuchs und sie kennen seinen Wert. Meine Damen und Herren, wir debattieren heute auch über eine bedeutsame Klarstellung im Handwerksrecht, nämlich über das Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen. Dabei geht es auch um die Erleichterung von Existenzgründungen. Wir wollen die Möglichkeit zur Existenzgründung auch für arbeitslose Männer und Frauen erleichtern. Mit dem Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden dafür bereits neue Anreize geschaffen. Schon jetzt zeigt sich - darauf habe ich bereits gestern hingewiesen -, dass viele diese Chance durch die IchAG oder das Überbrückungsgeld ergreifen. In diesem Jahr haben bereits etwa 100 000 Menschen den Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit gewählt. Ich habe gestern darzustellen versucht, dass dieser Weg für viele mit Erfolgsaussichten verbunden ist. ({1}) Deshalb kann ich nur dazu ermutigen, diesen zu wählen. Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz werden außerdem die Steuer- und Buchführungsvorschriften gerade für Existenzgründer erleichtert. In diesem Zusammenhang steht auch der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt. Eine Klarstellung besagt, dass so genannte einfache Tätigkeiten außerhalb der Handwerksordnung und des Vorbehaltsbereichs von Handwerken mit Meisterpflicht stehen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland warten darauf, dass einfache Tätigkeiten, zum Beispiel bei den Hausmeisterdiensten, auch von Dienstleistern wahrgenommen werden dürfen. ({2}) Bei der hohen Arbeitslosigkeit in unserem Land wäre es nicht hinnehmbar, dass unternehmerische Initiativen und Engagements untersagt, eingeengt oder gar verhindert werden. Im Gegenteil: Wir müssen dazu anregen und motivieren. ({3}) Um auch klar anzusprechen, wie es in der Praxis aussieht, wenn Existenzgründer den Schritt in die Selbstständigkeit wagen und eine Nischentätigkeit zur tragenden Geschäftsidee für eine gewerbliche Tätigkeit machen wollen: Handwerkskammern und Behörden gehen heute vielfach mit Abmahnverfahren und Betriebsschließungen gegen Unternehmen vor, die nicht in die Handwerksrolle eingetragen sind und einfache Tätigkeiten ausüben. Es werden Betriebe geschlossen, die teilweise schon zehn bis 15 Jahre am Markt sind. Im wahrsten Sinne des Wortes sind davon nicht nur Existenzgründer betroffen, sondern auch bestehende Unternehmen, die neue Tätigkeitsfelder akquirieren. Selbst Handwerksunternehmen, die über das eigene Gewerk hinaus tätig werden, bleiben nicht verschont. Wir müssen uns doch fragen, ob dies so sein und bleiben kann. Kann es sein, dass wir arbeitswillige Unternehmer daran hindern, bestehende Aufträge auszuführen? Ich bin davon überzeugt, dass das sicherlich nicht sein kann. ({4}) Wir können und wir werden mit dem, was wir hier vorlegen, einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft tun; dieser Schritt muss sein. Auch hier wird nicht an den Grundfesten des großen Befähigungsnachweises gerüttelt. Er wird auch nicht zugunsten von Teiltätigkeiten, die dem Vorbehaltsbereich der Meister unterliegen, aufgebohrt, wie man es gelegentlich lesen kann. Das Gesetz beinhaltet keine Neuregelung, die wir gewissermaßen aus dem Hut zaubern. Es enthält eine Klarstellung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach einfache Tätigkeiten nicht den Regelungen zum Handwerk unterliegen, sondern von jedem ausgeübt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat am 7. April dieses Jahres in einer Handwerksangelegenheit entschieden, dass es keinem Handwerker zugemutet werden kann, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen gewissermaßen auf der Anklagebank erleben zu müssen. Das kann ich nur dick unterstreichen. Deshalb greifen wir das auf und sorgen wir für mehr Rechtsklarheit bei unberechtigten Vorwürfen bezüglich der Schwarzarbeit. Meine Damen und Herren, es geht hierbei um ganz einfache handwerkliche Tätigkeiten, die binnen eines Vierteljahres erlernt werden können, und auch darum, dass wir die effektive Beachtung des Grundrechts der Berufsfreiheit nach Art. 12 des Grundgesetzes gewährleisten. Dazu gehören auch diese einfachen Tätigkeiten. Ich wundere mich über manches, was dazu zu lesen und zu hören ist, nicht zuletzt auch über das, was gestern im Bundesrat dazu gesagt worden ist. Meines Erachtens ist es völlig klar: Es muss endlich damit Schluss sein, dass für einfache und einfachste Tätigkeiten in Deutschland die Meisterprüfung deshalb verlangt wird, weil auch Meisterbetriebe diese Tätigkeiten anbieten. Das kann nicht richtig sein. Das müsste eigentlich jeder begreifen. ({5}) Jeder Selbstständige fängt einmal klein an. Wir sollten nicht die Motivation des Einzelnen unterschätzen. Die Existenzgründerinnen und Existenzgründer streben nach Gewinn und mehr Umsatz. Daraus entstehen mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze. Genau das wollen und brauchen wir in Deutschland. Deshalb ist diese Reform des Handwerksrechts notwendig. Es ist eben nicht mehr nur mit oberflächlichen Korrekturen und ein paar Veränderungen bei Anlage A und Anlage B getan. Wir müssen schon an die Substanz dessen gehen, was heute gilt. Dies gilt übrigens nicht nur für das Handwerk, sondern für viele Berufsstände. Viele Berufsstände bei uns haben sich Schutzmauern verschafft, die für sie selbst ein Vorteil sein können, die aber verhindern, dass andere von außen in diese Berufsstände hinein können: durch die Gründung eines kleinen Unternehmens, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, also von unten, oder durch Unternehmer aus den Nachbarstaaten, die sich hier in Deutschland eine Existenz aufbauen wollen, also von der Seite. Dies ist dann möglich, wenn sie fünf bis sechs Jahre gemäß den dort geltenden Regelungen gearbeitet haben. Wer in Holland, Belgien, Frankreich oder anderen Staaten unter den dortigen Rechtsbedingungen fünf bis sechs Jahre ein Handwerk betrieben hat, kann in Deutschland jederzeit ein Unternehmen aufbauen und hier praktizieren, und zwar ohne die strengen Auflagen des Handwerksrechts erfüllen zu müssen. Deutsche Gesellen dürfen dies nicht. Es muss klar sein, dass dies kein Weg in die Zukunft sein kann. Das ist auch in den meisten Ländern anders geregelt. Insbesondere in den Grenzregionen unseres Staates findet zwischen den einzelnen Gewerken und Handwerken ein Austausch unter unterschiedlichen rechtlichen Bedingungen statt. Daher haben wir meines Erachtens die Pflicht und Schuldigkeit, hier für die notwendigen Veränderungen zu sorgen. Die Vorschläge dazu liegen vor Ihnen auf dem Tisch. Ich hoffe, dass wir uns nach einigen emotionalen Diskussionen über den richtigen Weg einigen. Er ist mit diesem Entwurf vorgezeichnet. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass in diesem Hause Minister und Abgeordnete gleichrangige Partner sind. Das sollte sich auch sprachlich niederschlagen. Es ist jedenfalls kein Lehrer-Schüler-Verhältnis. ({0}) Präsident Wolfgang Thierse Ich erteile nunmehr dem Kollegen Ernst Hinsken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich zunächst herzlich, Herr Präsident, dass Sie dem Minister eine meisterliche Weisung erteilt haben. Dies ist erforderlich, wenn man nicht weiß, wie man sich zu verhalten und mit Kollegen umzugehen hat. ({0}) Herr Minister Clement, es ist eine infame Behauptung, uns zu unterstellen, dass wir am Status quo festhalten wollen. ({1}) - Nein, ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen. Ich werde nachdrücklich herauszuarbeiten versuchen, ({2}) wo unsere Schwerpunkte liegen. Wir wollen dem Handwerk Zukunftsperspektiven geben und es europatauglich machen. Den Meistern muss die Möglichkeit eröffnet werden - dazu sind auch viele bereit -, den Weg in die Selbstständigkeit zu gehen. Zunächst möchte ich die vielen anwesenden Handwerksmeister auf der Tribüne herzlich willkommen heißen. Ich bedanke mich dafür, dass Sie so zahlreich erschienen sind. ({3}) Ihnen brennt dieses Thema auf den Nägeln. Sie sind hierher gekommen, um zu erfahren, wie die einzelnen Fraktionen das anstehende Problem bewältigen wollen. ({4}) Ich möchte mich gerade auch bei denen bedanken, die auf Einladung der Fraktionsvorsitzenden der CDU, Frau Angela Merkel, vor vier Wochen zu Tausenden an der Zahl zu uns nach Berlin gekommen sind, um deutlich zu machen, dass sie mit dem, was Sie hier vorhaben, nicht einverstanden sind. ({5}) Das ist für mich das Zeichen eines lebendigen Handwerks. Eine Novelle, die mit heißer Nadel gestrickt wird, wie das hier der Fall ist, wird nie zu einem vernünftigen und guten Ergebnis führen. Das hat sich in der Vergangenheit immer gezeigt und wird sich auch in der Gegenwart bewahrheiten. Es ist mir auch wichtig, darauf zu verweisen, dass offenbar nicht alle Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen der Meinung der Fraktionen der SPD und der Grünen hier im Bundestag sind. Wie sonst könnte es kommen, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag einstimmig beschlossen hat, an der Meisterprüfung festhalten zu wollen? ({6}) Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Kolleginnen und Kollegen im hohen Norden. Auch wenn nicht alles richtig ist, was von dort kommt, aber da haben sie Recht. Und wo sie Recht haben, sollen sie auch Recht behalten. ({7}) Heute beraten wir die Vorschläge der Bundesregierung und der Regierungsfraktionen zur Novellierung der Handwerksordnung, zum einen das Gesetz zu den IchAGs, über das heute hier abschließend abgestimmt werden soll, zum anderen die große Novelle zur Handwerksordnung, die von der Bundesregierung eingebracht wird. Beide Gesetze müssen in einem engen Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Ich stelle fest, dass dies auch die Regierungsfraktionen so sehen, denn sonst würden wir jetzt nicht innerhalb eines Tagesordnungspunktes darüber sprechen. Man muss sehen, dass sich im Handwerk große Sorge breit macht. Denn die Zielrichtung der Ich-AGs ist klar: Gewachsene mittelständische und handwerkliche Strukturen, die die Grundlage für das Wirtschaftswunder Ludwig Erhards waren, sollen zerschlagen werden. Dagegen werden wir mit aller Entschiedenheit kämpfen. ({8}) Denn dies kommt einer Veränderung der Gesellschaft gleich. Anstatt mit vernünftigen Konzepten um die Zustimmung des Handwerks zu werben, soll es mit der Brechstange und dem Vorschlaghammer zerschlagen werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Helias von der CDU/CSU-Fraktion?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, bitte schön. ({0})

Siegfried Helias (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003144, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hinsken, Sie haben den einstimmigen Beschluss des Landtages von Schleswig-Holstein erwähnt. Sind Sie mit mir der Meinung, ({0}) dass auch die schriftlich vorliegende Auffassung des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr des Landes Schleswig-Holstein richtig ist, dass der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung eine Fülle weiterer Probleme schafft, die Zweifel auslösen, ob ein geordneter Vollzug überhaupt möglich sein wird, und dass dieses Gesetz ohne eine grundlegende Überarbeitung weder durchführbar noch zielführend ist? Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass dieser Gesetzentwurf gesellschaftspolitisch verfehlt ist, den Selbstständigen die Zukunft raubt, den Jugendlichen die Perspektive nimmt und diese Regierung ihr Handwerk nicht versteht? ({1})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Helias, ich bedanke mich für diese Frage, ({0}) und zwar deshalb, weil Sie verschiedene SPD-Institutionen zum Beleg für die Bewahrheitung vieler Befürchtungen herangezogen haben. ({1}) Deshalb müssen wir alle zusammen eine Konzeption erarbeiten, die die Grundlage für eine weitere Fortentwicklung des Handwerks im Hinblick auf ein gemeinsames Europa und im Hinblick auf offene Grenzen bilden kann. Ich kann die Befürchtungen, die in Ihrer Frage zum Ausdruck kamen, voll und ganz teilen. ({2}) Unsere Devise lautet wie immer: Nicht gegen das Handwerk, sondern mit dem Handwerk wollen wir den modernen, dynamischen, zukunftstauglichen und europafesten Meister schaffen. Sie von Rot-Grün setzen die Axt an der Wurzel des Handwerks an und höhlen das Handwerksrecht aus. Das geht uns entschieden zu weit. Sie sprechen momentan laufend von der Agenda 2010. Das Handwerk braucht aber eine Agenda 2003, damit der Aderlass bei den Betrieben, Mitarbeitern und Ausbildungsplätzen endlich gestoppt werden kann. Herr Bundesminister, Sie behaupten, mit Ihrer Novelle werde das Existenzgründungsklima verbessert. Ich sage Ihnen: Darum geht es in der Tat. Sie betreiben aber nur Augenwischerei und setzen mit Ihrer überzogenen Novelle den Hebel falsch an. Sie wollen den Leuten weismachen, dass das Handwerk schuld an der Wirtschaftsmisere Deutschlands ist. ({3}) Sie machen damit die Opfer zu Tätern! ({4}) Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Denn die Ursache ist an anderer Stelle zu suchen: Sie haben eine falsche Wirtschaftspolitik betrieben, die dazu geführt hat, dass sich Handwerk und Mittelstand gegenwärtig in dieser schwierigen Situation befinden. Rot-Grün hat 1998 eine wahre Reformorgie begonnen. Seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte 1998 hat Rot-Grün alles unternommen, um dem Handwerk das Leben schwer zu machen. ({5}) Ich nenne als Beispiele die Reform des Kündigungsschutzgesetzes, mit der der Schwellenwert von zehn auf fünf Beschäftigte reduziert wurde, die Rücknahme der Änderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Gesetz zur Bekämpfung der so genannten Scheinselbstständigkeit, die Neuregelungen zum Abschluss befristeter Arbeitsverhältnisse oder die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung auf Kleinbetriebe. ({6}) Eine wirkliche Veränderung des wirtschaftlichen Klimas ist aber nur dann möglich, wenn Sie von Rot-Grün endlich die notwendigen Strukturreformen in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Finanz- und Sozialpolitik umsetzen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hinsken, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Rossmann von der SPD-Fraktion?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, wenn Sie schon feststellen, dass alles schlecht gelaufen sei, könnten Sie dann auch erläutern, wie Sie aus heutiger Sicht Ihre seinerzeit geäußerte positive Beurteilung des Meister-BAföGs als wesentliche Förderung des Handwerks durch die jetzige Bundesregierung bewerten? ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rossmann, ich meine, dass gerade die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Meister-BAföG ein Schritt in die richtige Richtung waren. Wenn Sie uns einen vernünftigen Vorschlag unterbreiten, unterstützen wir Sie immer wieder gerne, damit solche Vorschläge auch umgesetzt werden können. Das war beim MeisterBAföG so und das wird auch in Zukunft so bleiben. ({0}) Angesichts der notwendigen Veränderung des wirtschaftlichen Klimas halte ich die erwähnten Strukturreformen für den richtigen Weg, um der boomenden Schwarzarbeit, die mit einem Finanzvolumen in Höhe von 350 Milliarden Euro der größte prosperierende Wirtschaftsbereich ist, das Wasser abzugraben. Denn es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Handwerker dem Auftraggeber für eine Arbeitsstunde viermal so viel berechnen muss wie jemand, der den Auftrag in Schwarzarbeit ausführt. Bei uns in Deutschland sind die Bruttolöhne zu hoch und die Nettolöhne zu niedrig. Dabei müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen, unabhängig davon, auf welcher Seite wir sitzen. ({1}) Wenn wir die bestehende Ordnung entkrusten würden, könnten unzählige - vielleicht sogar einige Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich meine aber, dass das mit den Ich-AGs nicht möglich sein wird. Herr Minister Clement, Sie vergessen offenbar, dass derzeit 130 000 Meister sozusagen in Reserve stehen. Wenn das Konzept der Ich-AGs so umgesetzt wird wie vorgesehen, hätten sie ihre Meisterprüfung vergeblich gemacht. Das geht doch nicht an! Ich meine, dass die heutige Debatte - unabhängig davon, was uns von der Bundesregierung unterscheidet die Möglichkeit bietet, die Zukunftspotenziale des Handwerks hervorzuheben. Denn für uns bedeutet das Handwerk etwas Positives, während Sie es vielfach schlechtreden. ({2}) Unser Handwerk steht für innovative Unternehmen und kompetente Dienstleistungen. Es steht für Berufsvielfalt und Ausbildungskompetenz, ({3}) Flexibilität, Innovation und Anpassungsfähigkeit. Wir wollen, dass das Handwerk ein wichtiger wirtschaftsund gesellschaftspolitischer Faktor bleibt, auch wenn viele Mitbürger - wahrscheinlich weil sie sich schon einmal über einen Handwerker geärgert haben - der Meinung sind, man könnte auf alle Standards verzichten. Das Handwerk ist unbestritten ein Faktor, den wir in unserer Gesellschaft brauchen. In rund 580 000 Betrieben arbeiten fast 5,3 Millionen Menschen. Mehr als 520 000 Lehrlinge erhalten in diesen Betrieben eine qualifizierte Ausbildung. Damit sind nahezu 15 Prozent aller Erwerbstätigen und circa 34 Prozent aller Lehrlinge in Deutschland im Handwerk tätig. ({4}) - Herr Kollege Lange, ich sage das deshalb, damit Sie endlich kapieren, was sich hinter dem Handwerk verbirgt. Das haben Sie nämlich noch nicht geschnallt, sonst würden Sie sich nicht in dieser Weise äußern. ({5}) Der Meister ist geradezu der Inbegriff der Selbstständigkeit. Etwa 80 Prozent der Handwerksbetriebe sind Personenunternehmen. Das Handwerk sichert wie kein anderer Bereich der Wirtschaft Ausbildung und Beschäftigung in den Ballungszentren und in der Fläche. ({6}) Das Handwerk bietet Ausbildung und Qualifizierung und es bereitet auf Existenzgründungen und Existenzübernahmen vor. Warum sind wir gegen den Gesetzentwurf von Rot-Grün in der vorliegenden Fassung? Erstens. Wir wollen nicht, dass der große Befähigungsnachweis, also die Meisterprüfung, praktisch wertlos gemacht wird. Die Meisterprüfung als Qualitätssiegel ist uns etwas wert. ({7}) Zweitens. Wir wollen nicht, dass die Ausbildungslokomotive Handwerk zum Stilltand gebracht und damit der Weiterbestand des dualen Systems gefährdet wird. ({8}) Drittens. Wir wollen nicht, dass nicht mehr gewährleistet ist, dass das Handwerk Qualitätsarbeit abliefert. Viertens. Wir wollen nicht, dass unsere Handwerksbetriebe nicht mehr zu den stabilsten Betrieben gehören, die es in Deutschland gibt. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Müller hat vorgestern ausgeführt - lassen Sie sich das gesagt sein! -: „Es ist nicht alles modern, was modern scheint.“ ({9}) Wie Recht er hat, wenn er das Handwerk in höchsten Tönen lobt und auf es setzt! Herr Minister Clement, Ihr Vorgänger hat für das Handwerk mehr übrig gehabt als Sie. ({10}) Auch wenn ich nicht alles gut finde, was er gemacht hat: Da hat er Recht gehabt. Zweifellos müssen in allernächster Zeit viele Probleme bewältigt werden. Früher hing das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit vor allem über den älteren Arbeitnehmern; mittlerweile sind immer mehr Jugendliche davon bedroht. Es wird aber noch schlimmer werden, wenn Sie durch die Abschaffung des Meisterbriefes dem Handwerk, der Ausbildungslokomotive in Deutschland, den Boden unter den Füßen wegziehen. Die Zahl der Betriebe mag kurzfristig steigen, weil ihre Gründung und Führung auch für Nichtmeister möglich wird, Herr Minister Clement. Die Bestandsfestigkeit der Betriebe dürfte dagegen abnehmen, sodass unter dem Strich zwar nichts gewonnen wird, aber möglicherweise viele Existenzen zerstört werden. ({11}) Immerhin sind rund drei Viertel aller Meisterbetriebe fünf Jahre nach der Existenzgründung noch am Markt, während die Quote der übrigen Wirtschaft bei knapp über der Hälfte liegt. ({12}) Werte Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das deutsche Handwerk weiterhin die Reife hat, in der Champions League zu spielen. Wenn unsere Vorschläge umgesetzt werden, wird das Handwerk sein enormes Zukunftspotenzial nutzen können. Wir wollen es unseren Handwerksmeistern ermöglichen, den Weg in ein erweitertes Europa zu gehen. Herr Clement, das Handwerk kann sich mit Ihren so genannten Reformen nicht weiter herumschlagen. Das Handwerk will unseren Jugendlichen durch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen eine Zukunft bieten. Dem Handwerk ist für die millionenfachen Ausbildungsleistungen, die bisher erbracht worden sind, zu danken. ({13}) Die Zeit, in der es „Handwerk hat goldenen Boden“ hieß, ist vorbei. Aber entgegen allen Untergangsvoraussagen, die im letzten Jahrhundert gemacht wurden, ist es quicklebendig. Die Situation des Handwerks wäre noch besser, wenn die Rahmenbedingungen stimmten. Das Handwerk ist der Garant des dualen Ausbildungssystems - des besten Ausbildungssytems der Welt. Überall werden wir darum beneidet. Aus unserer Sicht ist es fraglich, ob das nach der Verabschiedung dieses Gesetzes noch so sein wird. Ich begrüße es nachträglich, dass Bayern einen eigenen Gesetzesantrag zur Novellierung der Handwerksordnung in den Bundesrat einbringen wird. ({14}) Dies wird noch vor der Sommerpause geschehen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihre Absichten für ein modernes und europafestes Handwerk in zwölf Punkten festgelegt. Die wichtigsten sind dabei: Wir sagen Nein zu dem von der Bundesregierung beabsichtigten Kahlschlag der Meisterberufe. „Gefahrengeneigtheit“ als einziges Kriterium ist uns zu wenig. CDU/CSU haben für die Festlegung der Gewerbe in Anlage A drei Kriterien aufgestellt: Ausbildungsleistung, Gefahrengeneigtheit und Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter. Das ist der richtige Ansatz. ({15}) Wir lehnen die von Ihnen, Herr Clement, geplante Sonderregelung strikt ab, wonach sich Altgesellen nach zehnjähriger Berufserfahrung und fünfjähriger Tätigkeit in herausgehobener, verantwortlicher oder leitender Stellung auch ohne Meisterbrief in der Anlage A der Handwerksordnung selbstständig machen dürfen. Übrigens, Herr Minister, ich habe eine Frage an Sie: Meine Enkelin ist jetzt sechs Jahre alt. Wenn sie acht Jahre alt ist, werde ich sie zehn Jahre lang bei Volksfesten dauernd Autoskooter fahren lassen. Wenn sie 18 wird, bräuchte sie dann nach Ihren Vorschlägen keinen Führerschein mehr zu machen, da sie bereits zehn Jahre Fahrpraxis vorweisen kann. ({16}) Ist das richtig? - Ich habe dieses Beispiel genannt, weil ich von einem Handwerksmeister diesbezüglich gefragt worden bin. Ich habe ihm versprochen, dass ich die Frage gerne an Sie weitergeben werde. Wir, die CDU/CSU, sind jedenfalls für Einzelfallentscheidung. Dabei muss der Betriebsinhaber etwas von Ausbildung und Betriebsführung verstehen. Klar und deutlich sagen wir deshalb Nein zur „Existenzgründung light“. Wir wollen des Weiteren die Handwerksordnung öffnen. Künftig soll zur Existenzgründung im Handwerk auch die Qualifikation von Technikern, Ingenieuren und Industriemeistern berechtigen. Zudem soll die Meisterprüfung die Tür zu einem Hochschulstudium öffnen. Wir wissen, dass dies alles in erster Linie von den Ländern geregelt werden muss. Aber wir sollten das Ganze seitens des Deutschen Bundestages positiv begleiten. Wir wollen außerdem, dass als Voraussetzung für die Zulassung zur Meisterprüfung keine Gesellenjahre mehr erforderlich sind. Wir wollen das Inhaberprinzip ändern und Personengesellschaften gegenüber Kapitalgesellschaften nicht mehr benachteiligen. Als Meister sollte man aber höchstens in zwei Betrieben fungieren können. Dadurch verhindern wir einen Betriebsleitertourismus. Eine Reform der Kammern und deren Beitragswesen wollen wir nicht innerhalb der Novellierung der Handwerksordnung, sondern in Abfolge vornehmen. Dabei werden wir auch der Bürokratie nachhaltig zu Leibe rücken. Der heute zu verabschiedende Entwurf eines Gesetzes über die Ich-AGs muss, wie ich bereits gesagt habe, als Teil der Gesamtnovelle gesehen werden und dem Bundesrat zugeleitet werden. Der Zusammenhang kann nicht bestritten werden. Ich hoffe, dass das Ganze in einem Paket verabschiedet wird. Die Betätigungsfelder der so genannten Ich-AGs müssen unserer Meinung nach auf den Bereich der jetzigen Anlage B - handwerksähnlicher Bereich - beschränkt werden; denn wir wollen nicht, dass ein Meister, der ausbildet, zu guter Letzt der Dumme ist. ({17}) Eines muss bei der Novellierung der Handwerksordnung klar sein: Der Standort Deutschland braucht eine hohe Qualifikation. Nur Unternehmen mit Qualität - das sind nun einmal die Meisterbetriebe - können unser Land wieder nach vorne bringen. Voraussetzung ist aber, dass Sie von Rot-Grün das auch zulassen. Das Handwerk in Deutschland braucht mehr Arbeit und Aufträge, mehr Meister statt Ich-AGler, verehrter Herr Bundesminister Clement. ({18}) Wie hieß es in der Vergangenheit immer - das gilt auch für die Gegenwart -: „Lehrling ist jedermann. Geselle ist, der was kann. Meister ist, der was ersann.“ Was für den Arzt der Doktortitel ist, ist für Betriebsinhaber und Handwerker der Meisterbrief. Wir meinen, dass dieses Prädikat bestehen bleiben soll. Das wollte ich für die CDU/CSU-Fraktion besonders einfordern; denn Deutschland braucht weiter den Meister. Er ist schließlich Fachmann, Kaufmann und Techniker in einer Person. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDPFraktion, ich freue mich, dass uns in diesem Bereich fast nichts trennt ({19}) und dass wir an einem Strang ziehen, um dem Meister eine Zukunft zu geben. Ich hoffe, dass der Bundesrat in der Lage sein wird, die Korrekturen vorzunehmen, die vorgenommen werden müssen, um die Grundlagen für einen modernen Meister für die nächsten Jahre und Jahrzehnte in einem freien und zusammenwachsenden Europa zu schaffen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass zumindest auf einigen Seiten die Bereitschaft dazu vorhanden ist. Herr Müntefering, Sie sind ja genauso wie wir oftmals in Lernprozessen begriffen. Wenn Sie diesen Lernprozess abgeschlossen haben, dann ist die Hoffnung gegeben - das ist mein letzter Satz -, dass Sie zur Einsicht kommen und das, was Sie vorhaben, nicht umsetzen, sondern dem Handwerk eine Zukunftsperspektive geben, die es dringend braucht, um auch künftig tief und gut atmen zu können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Hinsken, Ihre Lebkuchen haben mich bei Gelegenheit schon überzeugt, ({0}) aber Ihre Argumente noch nicht. Ich will Ihnen darstellen, warum. Wenn man über die Handwerksordnung redet, dann muss man über Grundsätze der Marktwirtschaft reden. Marktwirtschaftliche Systeme sind anderen deswegen überlegen, weil sie auf freiem Wettbewerb beruhen, auf freiem und uneingeschränktem Zugang der Marktteilnehmer zum Markt, übrigens auch auf der Souveränität der Verbraucher, auswählen zu können, bei wem sie Arbeiten in Auftrag geben und bei wem nicht. Deswegen müssen wir als Staat dann, wenn wir Zugangsbeschränkungen zulassen, diese ganz besonders begründen. Wir müssen da sehr vorsichtig sein und überlegen, ob sie nicht zu weit gehen, und sie bei Gelegenheit auch überprüfen. Genau dies tun wir. Ich will zwei Zitate von Personen anführen, auf die Sie sonst hören, und zwar dazu, wie sie in Bezug auf die Ordnungspolitik in unserer Marktwirtschaft die gegenwärtige Handwerksordnung sehen. Professor Norbert Berthold von der Universität Würzburg sagt: „Der Meisterbrief ist eine lupenreine Marktzutrittsbeschränkung.“ Ganz klare Aussage also: Hier wird der Marktzutritt durch den Staat beschränkt und damit werden Wettbewerb und Marktwirtschaft eingeschränkt. Im Jahresgutachten 2002/03 des Sachverständigenrats - Zitate daraus halten Sie der Bundesregierung ja gern vor - heißt es: In einem wichtigen Teilbereich des Mittelstands, nämlich dem Handwerk, wird der Wettbewerb durch Zugangsbeschränkungen erschwert. Das ist der Sachverhalt. Was die Bundesregierung hier macht - das ist ja alles auch im Rahmen der Agenda 2010 zu sehen -, ist nichts anderes als ({1}) die Überprüfung, in welchem Bereich diese Zugangsbeschränkung aufrechterhalten werden kann und in welchem Bereich sie abgeschafft werden muss. Klare Antwort: Bei gefahrengeneigten Berufen wird der Meisterbrief weiterhin obligatorisch sein. Überall sonst gilt: Der Wettbewerb, die Kundensouveränität werden es richten, übrigens auch zugunsten des Handwerks. Ich würde mir an Ihrer Stelle nicht die Sorge machen, dass gutes Handwerk dabei untergehen wird. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Türk?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kuhn, Sie wollen durch die Novellierung der Handwerksordnung Marktzutrittsbeschränkungen beseitigen und damit Arbeitsplätze schaffen. In dem Ziel sind wir uns noch einig. Meinen Sie aber nicht auch, dass es daran liegt, dass wir zu wenig Aufträge haben - und nicht, wie Sie sagen, zu viele Handwerksbetriebe - und dass der Umfang der Bürokratie und die Höhe der Kostenlast die eigentlichen Marktzutrittsbeschränkungen sind?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt vieles, was wir ändern müssen. Selbstverständlich hat das Handwerk auch deswegen Probleme, weil die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Sie können im Rahmen der Agenda 2010 und der Reformen bei Rente und Gesundheit mitmachen und so mit dazu beitragen, dass die Lohnnebenkosten sinken. ({0}) Dann wird die Handwerkerstunde für die Verbraucherinnen und Verbraucher günstiger und wird es dem Handwerk besser gehen. Die ganze Veranstaltung, die wir jetzt gerade durchführen, die Agenda 2010, hat den Sinn, den Laden an verschiedenen Stellen aufzufrischen. Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie bei der Kostensenkung mit, ({1}) machen Sie mit bei der Finanzierung des Vorziehens der nächsten Steuerreformstufe! Dabei geht es nämlich auch um die Personengesellschaften, um die mittelständischen Betriebe: Wenn die Steuersätze für diese Betriebe schneller sinken können, dann ist deren Bereitschaft, in Investitionen einzusteigen, größer. ({2}) Sie haben hier eine Verantwortung für das Gesamtpaket. Ihre politische Vorgehensweise, Herr Hinsken, ist ja ganz eindeutig: Bei den Vorhaben, die Ihnen recht sind, machen Sie mit, aber sobald starke Lobbys wie Apotheker- und Handwerksverbände auftreten, sagen Sie: Nein, diese Vorhaben sind vom Teufel, die tragen wir nicht mit. Das ist nicht in Ordnung. ({3}) Ich möchte jetzt einmal die zentralen Argumente für die Änderung der Handwerksordnung, die wir vorhaben, nennen: Erstens. Wir sind für mehr Wettbewerb. Ich möchte noch einmal festhalten: Wettbewerb ist das konstitutive Element einer Marktwirtschaft. Wenn man feststellt, dass es Elemente gibt, die den Wettbewerb untergraben und verhindern, muss man sie beseitigen. So einfach ist Marktwirtschaft. Ihr ganzes Gerede nützt da überhaupt nichts. ({4}) Wir sind für sinkende Preise. Es ist ja bekannt, dass funktionierender Wettbewerb - übrigens: Wettbewerb um Preise und Qualität - auch zu Preissenkungen führen kann. Bei den einfachen Tätigkeiten, deren Liberalisierung Sie so bekämpfen, findet gar kein Wettbewerb statt. Ich sage es klipp und klar: Verbraucherinnen und Verbraucher haben große Probleme, für viele einfache handwerkliche Tätigkeiten einen Handwerksbetrieb zu finden, der sie zeitnah, schnell und unkompliziert ausführt. Ehe Sie das bestreiten und die Handwerksbetriebe verteidigen, fragen Sie sich doch einmal, warum die vielen Allroundfirmen, die einfache Tätigkeiten schnell und unkompliziert ausführen, so einen extremen Zulauf haben. Ich kann nur sagen: Da haben Teile des Handwerks - ich betone: Teile - wirklich gepennt, was diesen Markt angeht. Das werden wir verändern. Warum soll denn jemand, der eine Tapete anstreicht, unbedingt aus einem Meisterbetrieb kommen? Dafür gibt es kein vernünftiges Argument; es geht doch auch so. In diesem Zusammenhang möchte ich Ludwig Erhard zitieren, der gesagt hat: Beim Wettbewerb kommt es darauf an, was den Verbrauchern nützt. Das ist der Sinn der Marktwirtschaft. Hierzu braucht man keine Kartelle oder sonstige Lobbys. Wir beschließen jetzt unser Gesetz; der sich daraus ergebende Wettbewerb wird zu Preissenkungen und mehr Qualität führen. ({5}) Ihre Rede, Herr Hinsken, beinhaltete einen Widerspruch, auf den ich Sie hinweisen möchte: Wenn das Handwerk Arbeiten so qualifiziert und gut ausführt, wie Sie sagen - ich glaube übrigens, dass wir sehr gute Handwerker in der Bundesrepublik Deutschland haben, die etwas gelernt haben und ihren Job gut ausführen -, dann braucht es doch den Wettbewerb nicht zu fürchten, Herr Hinsken. ({6}) Sie sagen: Schützt unser Handwerk! - Aber warum denn, wenn Sie es gleichzeitig so loben? Das ist ein Widerspruch in Ihrer Argumentation. Im Handwerk arbeiten Hochqualifizierte. Die, die gut sind, werden Wettbewerb nicht zu fürchten haben. Ihre Argumentation ist ängstlich und drückt eigentlich Misstrauen gegenüber der Qualität des Handwerks aus. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie diesen Punkt noch einmal überdenken sollten. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhn, ist es Ihrer Meinung nach lauterer Wettbewerb, wenn der Meisterbetrieb Sozialabgaben und Steuern zu zahlen und die ganze Bürokratie zu tragen hat, während der Inhaber einer so genannten Ich-AG weder Steuern noch Sozialabgaben zu zahlen hat, bürokratisch nicht belastet ist usw. und zu guter Letzt noch einen Zuschuss vom Staat bekommt, also subventioniert wird? Ich kann Ihre Argumentation nicht nachvollziehen. Für mich bricht hier eine Welt zusammen. ({0})

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben die Ich-AGs ja als Einstieg von Arbeitslosen in die Erwerbsarbeit vorgesehen. Das Ziel der ganzen Maßnahme ist, dass sich aus diesen Ich-AGs nach einer gewissen Zeit - Sie kennen die zeitlichen Beschränkungen - Betriebe entwickeln, die sich ohne jede Unterstützung am Markt halten können. ({0}) Wir sehen am Markt einen Bedarf für einfache Tätigkeiten, der heute in der Regel durch Schwarzarbeit befriedigt wird. Wir haben mit diesem Gesetz eine Regelung gemacht, mit der einfache Tätigkeiten leichter in die normale und damit sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit überführt werden. Genau das ist unser Ziel. Dabei liegen wir ja nicht so weit auseinander. Nur, Sie haben bisher kein Instrument genannt, wie man solche Tätigkeiten aus dem Bereich der Schwarzarbeit herausholen kann. Wir sind alle gespannt auf den Gesetzentwurf aus Bayern. Ich bin ganz sicher, dass da dann die entsprechenden Regelungen enthalten sind. ({1}) Ich komme jetzt zu meinem zweiten Punkt, Herr Hinsken: Wir sind für Kundensouveränität. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland können selber einen Betrieb für die handwerklichen Leistungen, die sie erbracht haben wollen, aussuchen. Sie können in Zukunft souverän entscheiden, ob sie jemanden haben wollen, der das Verbrauchergütesiegel Meisterbrief hat, oder ob sie einen Betrieb beauftragen, der es nicht hat. Sie werden es in der Qualität beurteilen. Sie werden es im Preis beurteilen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wie die Union als eine Partei, die sagt, sie sei für Marktwirtschaft, auf den Gedanken kommt, dies verhindern zu wollen, kann ich bis heute nicht nachvollziehen. ({2}) Wir wollen mehr Existenzgründungen. Wir wollen mehr Arbeitsplätze schaffen. Und wir wollen mit dem, was heute zu beraten ist, einen Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit leisten. Schwarzarbeit hat viele Ursachen. Eine davon sind die hohen Lohnnebenkosten; ich glaube, da sind wir uns vom Grundsatz her einig. Eine weitere Ursache dafür sind aber natürlich auch die Zugangsbeschränkungen bei handwerklichen Berufen. Wir wissen nicht genau, wie viele Leute in diesem Bereich in der Schwarzarbeit sind; es ist auch klar, dass das schwer zu erfahren ist. Aber es ist doch logisch, dass viele, die diesen langen Weg über die Meisterprüfung nicht gehen wollen oder können, die Fähigkeiten, die sie haben, einfach auf dem Schwarzmarkt anbieten. Unser Vorhaben ist also ein weiterer Baustein zur Bekämpfung der Schwarzarbeit; so haben wir es auch bei den Minijobs im Haushaltsbereich gemacht. Wenn Sie sich die Sache im Überblick vergegenwärtigen, dann erkennen Sie, dass diese Regierung an vielen verschiedenen Stellen dagegen kämpft, dass sich die Schwarzarbeit weiter ausbreitet. Mein nächstes Argument: Wir sind dagegen, dass Inländer in der Bundesrepublik durch die Handwerksordnung diskriminiert werden. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Zum Argument Europa ist Ihnen in diesem Zusammenhang bisher nichts Gescheites eingefallen. ({3}) Es geht doch nicht, dass jemand in Deutschland, wenn er einen Handwerksbetrieb aufmachen will, Beschränkungen unterliegt, die für den Kollegen zum Beispiel aus Frankreich nicht gelten. ({4}) Da muss man etwas tun. ({5}) Deswegen ist unsere Reaktion vernünftig. ({6}) Ich verstehe die ordnungspolitische Konzeption der CDU/CSU nicht. Ich will Ihnen noch einmal vergegenwärtigen, Frau Merkel, was Sie im Wahlkampf in Ihrem Sofortprogramm dargestellt haben. Dort heißt es: Schritt für Schritt werden wir die notwendigen Reformen einleiten, den überbürokratisierten Arbeitsmarkt entriegeln … Ich sage klipp und klar: Wenn Sie den Arbeitsmarkt entriegeln wollen, dann ist es doch nicht damit getan, die Zugangsbeschränkungen in der Handwerksordnung, die nicht notwendig sind, hier im Bundestag zu verteidigen. Vielmehr müssen Sie einen substanziellen Vorschlag machen, wie man entriegeln und entbürokratisieren soll. Frau Merkel, mit „neuer sozialer Marktwirtschaft“ hat die Verriegelung des Arbeitsmarktes und haben Zugangsbeschränkungen überhaupt nichts zu tun. Dieses Konzept, das Sie in der Öffentlichkeit immer darstellen, können Sie vergessen. ({7}) Auf einen Widerspruch möchte ich die Union hinweisen. Sie sagen: Um die Anzahl der Gewerke in der Anlage A der Handwerksordnung zu erhalten, sollte nicht nur das Kriterium der Gefahrengeneigtheit, sondern sollten auch andere Kriterien herangezogen werden, zum Beispiel die Ausbildungsintensität und der Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter. Wenn Sie ernst meinen, was Sie da sagen, dann müssen Sie viele der Gewerke, die heute in der Anlage B sind, in die Anlage A nehmen, weil sie sowohl viel ausbilden als auch wichtige Gemeinschaftsgüter zur Verfügung stellen. Was die Union da will, ist: mehr aus der Rolle B in die Rolle A. Damit würden Sie das Handwerk noch weiter verriegeln. Ich glaube, Sie haben sich diese Geschichte nicht konsequent überlegt. Nach dem, was Sie uns hier erzählen, sind Sie für noch mehr Bürokratie und noch mehr Zugangsbeschränkungen. ({8}) Meine Fraktion unterstützt den Gesetzentwurf der Bundesregierung, hat aber an zwei Stellen noch Anfragen, Herr Minister. Wir werden im Verfahren im Bundestag noch stärker darauf achten, ob wirklich alle Berufe, die jetzt nach Ihrem Vorschlag in der Handwerksrolle A stehen, in dem Sinne gefahrengeneigt sind, wie wir es in unserer gemeinsamen Definition festgelegt haben. Ich glaube, dass es eine ganze Reihe von Berufen gibt, die noch in die Rolle B überführt werden können. Dafür werden wir uns einsetzen, ebenso wie für die Beantwortung der Frage, ob man eigentlich wirklich zehn Jahre braucht, bis Gesellen in der Handwerksrolle A einen Betrieb übernehmen können, oder ob dies nicht in kürzerer Zeit geht. Ich will noch zu einem weiteren Punkt etwas sagen, nämlich zu dem Ausbildungsargument. Ein zentrales Argument der Union ist: Wer jetzt weniger Betriebe in der Meisterpflicht hält, schadet der Ausbildung. ({9}) Ich kann Ihnen nur sagen: Die tatsächliche Entwicklung, wie viele Betriebe wir von A nach B verschieben, gibt Ihrem Argument nicht Recht. Die entsprechenden Zahlen sind bekannt: Nach dem Entwurf der Bundesregierung gibt es 455 000 Betriebe mit Gewerben in der Anlage A und 214 000 Betriebe mit Gewerben in der Anlage B. Aus diesen Zahlen kann man Ihr Argument also nicht ableiten. Wir reden über ein Drittel der Betriebe und ein Viertel der Auszubildenden. Wenn man sich anschaut, dass die Ausbildungsleistung des Handwerks zurückgegangen ist - das liegt auch an der Krise, in der sich das Handwerk befindet; das darf man dem Handwerk nicht vorwerfen -, dann wird doch offensichtlich, dass der Bedarf des Handwerks an Jungmeistern - aus demographischen Gründen wird dieser Bedarf ab 2005 noch größer sein als heute allein über die Regelungen der Handwerksordnung gar nicht mehr bedient werden kann. Deswegen ist es völlig absurd, wenn Sie noch mehr Betriebe von der Anlage B in die Anlage A bringen wollen. Das können Sie letzten Endes auch nicht durchsetzen. ({10}) Es gibt noch ein weiteres Argument und dieses Argument ist perfide. Es wird nämlich behauptet, Betriebe, die nicht mehr meisterpflichtig sind und in denen nur einfache Tätigkeiten ausgeführt werden, würden nicht mehr ausbilden. ({11}) Diese Behauptung ist empirisch nicht bewiesen. Sie wissen, dass in Betrieben der Anlage B sehr intensiv ausgebildet wird. Wenn Handwerksfunktionäre, wie in den Medien dargestellt, zum Teil jetzt davon sprechen, dass sie nicht mehr ausbilden, wenn diese Novelle in Kraft tritt, dann muss ich sagen: Das ist eine politische Erpressung. Diejenigen, die so reden, sägen selber den Ast ab, auf dem sie sitzen, weil qualifiziertes Handwerk auch qualifizierte Ausbildung braucht. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhn, ich frage Sie, ob Sie jemals in einem Betrieb ausgebildet haben. Wahrscheinlich haben Sie das nicht getan. Für meinen Betrieb stelle ich jedenfalls fest, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Größe und der Leistungsfähigkeit eines Betriebs auf der einen Seite und der Ausbildungsfähigkeit auf der anderen Seite gibt. Es gibt also einen Unterschied zu demjenigen, der als Einzelperson mit meinem Betrieb im Wettbewerb steht. Wenn Sie die Ich-AGs in dieser Form weiter begünstigen, was für das Handwerk wettbewerbsverzerrend ist, dann wird diese Wettbewerbsverzerrung selbstverständlich automatisch zu einer geringeren Ausbildungsleistung führen. Es handelt sich also sozusagen nicht um eine künstliche Geiselhaft, die Sie anprangern, sondern es ist eindeutig die Folge Ihrer Politik und Ihres Gesetzes. Diesen Punkt muss man ganz klar ins Auge fassen. ({0})

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege, ich teile Ihr Argument überhaupt nicht. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Es gibt kein stichhaltiges Argument, warum sich die Größe eines Betriebs, dessen Gewerbe heute in der Anlage A aufgelistet wird und nach dem Vorschlag der Regierung in die Anlage B wechseln soll, verändern soll. Das Argument „Je kleiner der Betrieb ist, desto weniger wird ausgebildet“ trifft nicht zu. Noch eine Bemerkung zu den einfachen Tätigkeiten. Wer sagt Ihnen denn, dass aus den Ich-AGs, die logischerweise nur wenige Beschäftigte haben, durch den Wettbewerb, den wir anstoßen, nicht eines Tages größere Betriebe werden können? Es gibt kein stichhaltiges Argument dafür, dass das nicht möglich sein soll. Sie wollen etwas anderes. Sie wollen diejenigen, die keinen Meisterbrief haben, schon heute präventiv die Bereitschaft und den Willen absprechen, auszubilden. Das ist reine Ideologie. Dafür können Sie uns kein vernünftiges Argument nennen. So können wir nicht verfahren. ({0}) Schauen wir einmal ins Ausland - das soll gelegentlich helfen -, zum Beispiel nach Österreich. ({1}) Der Untergang eines Berufsstandes - das ist doch Ihr Argument - hat in den Ländern, die die Regelungen gelockert haben, nicht stattgefunden. Dort sind viele neue Betriebe entstanden; dort ist das Handwerk nicht ruiniert worden. Ein empirischer Blick auf die tatsächliche Situation in anderen Ländern würde Ihnen zeigen, dass es gelegentlich klug ist, in Marktwirtschaften auch nach 50 Jahren - so lange geht die Diskussion schon -, zu überprüfen, ob die ordnungspolitischen Instrumente noch stimmen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kuhn, Sie können Ihre bereits abgelaufene Redezeit noch verlängern, indem Sie auf eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte eingehen. ({0})

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön, Herr Schauerte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Kollege. - Ich denke, die Ausbildungsdichte ist das zentrale Argument, um das wir politisch ringen sollten. Deswegen lohnt es, sich im Rahmen einer Frage damit noch einmal zu beschäftigen. Können Sie nicht bestätigen, dass erstens das Handwerk, so wie es heute verfasst ist, 3,5-mal mehr ausbildet als die übrige Wirtschaft ({0}) und dass zweitens zum Beispiel der Handel oder die freien Berufe bei 710 000 Existenzen 160 000 Auszubildende haben und das Handwerk bei 540 000 Existenzen etwa 560 000? Können Sie, bezogen auf Arbeitsplätze und Betriebszahlen, bestätigen, dass Handwerker, nach Anlage B deutlich weniger ausbilden als die Handwerker nach Anlage A? Können Sie angesichts dessen, dass das so ist, nicht nachvollziehen, dass wir aufgrund der Situation, dass wir schon jetzt 80 000 Ausbildungsplätze zu wenig haben und möglicherweise eine psychologische Verärgerung der Handwerksmeister, die so intensiv ausbilden, hinzukommt, mit Ihrer rabiaten Vorgehensweise die Zahl der fehlenden Ausbildungsplätze leicht um weitere 100 000 vergrößern können? Das ist unsere Sorge. ({1})

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Schauerte, selbstverständlich gibt es unter uns - ich bin dankbar für Ihre Frage - keinen Streit darüber, dass das Handwerk in Deutschland hervorragende Ausbildungsleistungen erbracht hat und erbringt; das ist doch nicht strittig. ({0}) Das entscheidende Argument ist aber, dass die Zugangsbeschränkung, die wir heute haben, ein Wettbewerbshindernis ist und dass es kein systematisches Argument dafür gibt, warum Betriebe, deren Gewerbe nicht mehr in der Anlage A, sondern in Anlage B aufgelistet sind, oder auch die neuen Betriebe der einfachen Tätigkeiten weniger ausbilden. ({1}) Ich will auf Ihre Frage eingehen. Sie haben Recht: Die Ausbildungsdichte ist heute bei Betrieben nach Anlage A größer als bei solchen nach Anlage B. Den Grund dafür haben Sie aber unterschlagen. Der Grund dafür ist, dass Betriebe nach Anlage B gegenwärtig in der Regel kleinere Betriebe sind. Das liegt am Zuschnitt der Gewerbe. Angesichts der Tatsache, dass Gewerbe von Anlage A in die Anlage B kommen, können Sie doch niemandem erzählen, dass diese Betriebe deswegen schrumpfen. Ich will Ihre Frage zum Anlass nehmen, an die Demographie zu erinnern. Diese Diskussion ist ein wenig eine Gespensterdiskussion. Ab 2005 werden die Jahrgänge, die die Schule verlassen, in ihrer Zahl schwächer. Das heißt, wir werden überall das Problem bekommen, qualifizierte junge Leute für die Ausbildung zu gewinnen. Das Beste, was wir tun können, ist, durch mehr Wettbewerb viele Betriebe neu auf den Markt zu bringen, sodass Ausbildungschancen für alle bestehen werden. ({2}) Herr Schauerte, Sie haben die Frage angesprochen, ob die Betriebe nicht durch die Diskussion über diese Veränderungen demotiviert werden. Dazu will ich Ihnen klipp und klar sagen: So wie Sie die Diskussion führen, kann das passieren. Denn Sie bringen die Handwerker vor Ort - wir bekommen ja mit, was da vorgeht - zum Teil gegen die Bundesregierung in Stellung - und das nicht aus Leidenschaft in der Sache, sondern deswegen, weil Sie sich erhoffen, daraus politisches Kapital schlagen zu können. Sie sind verantwortlich dafür, wenn Demotivation entsteht. Sie glauben, Sie könnten die Leute verrückt machen und aufhetzen. ({3}) Zum Abschluss möchte ich feststellen: Wenn wir eine mutige, nach vorn gewandte Wirtschaftspolitik machen wollen, kommt es sehr darauf an, dass wir uns den gut organisierten Lobbys entgegenstellen. ({4}) Der CDU/CSU muss ich sagen: Sie zeigen immer mit ausgestrecktem Finger auf die SPD und die Gewerkschaften. Sie jedoch sind in einem Lobbydenken gefangen. Sie sind vor den Handwerksorganisationen in die Knie gegangen und haben eine eigenständige wirtschaftspolitische und ordnungspolitische Konzeption aufgegeben. Ich glaube, dass sich das rächt, auch wenn Sie es geschafft haben, 1 000 Personen zu diesem Thema hier zu versammeln. Wenn 1 000 Leute auf eine Einladung von Frau Merkel kommen, dann ist das schon ein besonderes Ereignis. Aber der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung wird das nicht gut tun. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundesarbeitsminister Clement hat heute ebenso wie gestern den Zustand, in dem wir uns befinden, ganz richtig beschrieben. Das Handwerk hat schwere strukturelle Probleme. Die Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Wirtschaft insgesamt haben Probleme. Wir haben seit der Wiedervereinigung die höchste Arbeitslosigkeit, und das nicht nur in einem Monat, sondern drei Monate in Folge. Wir haben im letzten Jahr seit der Wiedervereinigung die höchste Zahl an Insolvenzen - übrigens noch die wenigsten im Handwerksbereich - in der Geschichte der Bundesrepublik gehabt. ({0}) Der Bundeswirtschaftsminister hat diesen Zustand völlig richtig beschrieben. Aber schuld daran ist doch nicht der Meisterbrief, schuld daran ist die verkorkste Politik von Rot-Grün im Bereich Wirtschaft, Arbeit und Finanzen. ({1}) Wir haben die Situation, dass ungefähr 14 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland im Handwerk beschäftigt sind, aber 32 Prozent aller Auszubildenden im Handwerk ausgebildet werden. Wenn jetzt die durchaus notwendige Modernisierung der Handwerksordnung in der Art und Weise, wie Sie das vorhaben, betrieben wird, dann werden diejenigen verprellt, die das Rückgrat der Ausbildung und der Arbeitsplätze in Deutschland sind. ({2}) Herr Clement, Sie haben bei den Verhandlungen über die Ergebnisse der Hartz-Kommission im Vermittlungsverfahren, als die Ich-AG herausgelöst worden ist, uns, die wir in kleiner Runde zusammengesessen haben, versprochen, dass Sie gemeinsam mit der Opposition, dem Bundesrat und den Betroffenen beraten, wie die Handwerksordnung modernisiert, zukunftsfähig und europafest gemacht wird. Dieses Versprechen haben Sie nicht eingehalten. ({3}) Es gab kein gemeinsames Gespräch mit der Opposition und den Handwerksvertretern, es gab noch nicht einmal ein Gesprächsangebot. Sie haben Ihr Versprechen schlichtweg gebrochen, haben eine Handwerksordnungsnovelle mit der Herauslösung von 65 Berufen auf den Weg gebracht und sie den Handwerkern vors Hirn geknallt, ohne diejenigen, denen Sie es vorher fest zugesagt haben, daran zu beteiligen. ({4}) Wenn das nicht zu Vertrauensverlust führt, dann möchte ich wissen, was die Politik sich sonst noch erlauben kann. ({5}) Vor einiger Zeit war einer der größten Arbeitgeber die Firma Wayss & Freytag. Heute ist der größte Arbeitgeber in Deutschland die Firma Schwarz & Samstag. Daran ist nicht das Handwerk schuld, daran ist schuld, dass die Steuern und Abgaben zu hoch sind, dass die sozialen Sicherungssysteme überbordet sind, dass die Betriebe und die Privaten zu wenig Geld in der Tasche haben, um investieren und konsumieren zu können, dass sie andere Wege suchen, weil es sich in der Schattenwirtschaft und im Graubereich einfach mehr lohnt. Daran ist unter anderem Ihre Regierungspolitik schuld, ({6}) weil Sie mit der Arbeitsmarktüberregulierung, die Sie in den ersten vier Jahren Ihrer Regierungszeit betrieben haben, den Menschen die Lust genommen haben, im regulären Arbeitsmarkt tätig zu werden. Wir haben mit der Ich-AG ein neues Instrument bekommen, eine weitere Pflanze im unüberschaubaren Dschungel der Förderinstrumentarien der Bundesanstalt für Arbeit. Statt das vorhandene Instrumentarium zu stärken, zum Beispiel das Überbrückungsgeld, das Arbeitslose in die Selbstständigkeit führen soll und das außerordentlich gut angenommen wird, wie auch Sie richtigerweise festgestellt haben, führen Sie ein neues Instrument ein, das im Endeffekt doch nur dazu führt, dass Einzelunternehmen gegründet werden, die nicht viel verdienen können, die auf jeden Fall niemanden einstellen dürfen, weil sie dann nämlich keine Ich-AG mehr sind, und die deswegen garantiert, von Gesetzes wegen, niemanden ausbilden. Das ist eindeutig der falsche Weg. ({7}) Wir brauchen eine Regierungspolitik, die die Menschen mitnimmt. Sie haben auch beim Handwerkertag gesagt, Sie wollen die Novelle der Handwerksordnung gemeinsam mit dem Handwerk auf den Weg bringen, damit diejenigen, die sie hinterher auszubaden haben - in diesem Fall muss man das so sagen -, damit leben können. Wir wissen doch, dass die Handwerksvertreter mittlerweile einsehen, dass hinsichtlich der Handwerksordnung Modernisierungsbedarf besteht, der über die Novelle von 1998 hinausgeht. Sie könnten die bestehende Bereitschaft nutzen und die Menschen auf dem Weg zur Schaffung von neuen Chancen und neuen Arbeitsplätzen mitnehmen, statt sie so zu verprellen, wie das jetzt geschieht. ({8}) Die FDP hat schon bei der Beratung der kleinen Novelle der Handwerksordnung Vorschläge für eine große Novelle eingebracht, die heute nicht Thema sind, aber in der Anhörung Thema sein werden. Wir haben Vorschläge gemacht, wie das Handwerk zukunfts- und europafest gestaltet werden kann. Ich denke, dass diese Vorschläge, die mit vielen Handwerkerinnen und Handwerkern abgestimmt sind, zielführend sind, was die notwendigen Modernisierungsschritte betrifft, dass sie aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und nicht einen der wichtigsten Wirtschaftszweige in der Bundesrepublik Deutschland weiter schwächen. Ich biete Ihnen an, auf diesem Wege zusammenzuarbeiten. Nehmen Sie unsere Vorschläge an. Gestalten Sie die Novelle nicht so, wie Sie es jetzt vorhaben. Werden Sie erst einmal Lehrling, ({9}) lernen Sie die Grundlagen des politischen Zusammenarbeitens und werden Sie dann Geselle! Vom Meister sind Sie noch ziemlich weit entfernt. Diese Regierung ist allenfalls ein Meister des Dilettantismus. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPDFraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Neulich hat mich eine junge Frau angerufen ({0}) - übrigens eine interessante Frau -, sie ist gelernte Friseuse und seit Monaten arbeitslos. Ihr Arbeitslosengeld hat sie hier und da durch etwas Schwarzarbeit aufgebessert. Schwarzarbeit insgesamt findet sie aber nicht gut und will gerne offiziell in ihrem Beruf arbeiten. Sie hatte von der Ich-AG gehört und vom Existenzgründungszuschuss des Arbeitsamtes. Darin sah sie die Chance, endlich legal tätig werden zu können. Sie meldete sich beim Arbeitsamt, gab ihren Berufswunsch an, sagte, dass sie sich selbstständig machen wolle und bekam die Antwort, sie solle zur Handwerkskammer gehen. Gesagt, getan. Bei der Handwerkskammer hat man ihr gesagt, es täte ihnen Leid, dass sie nichts für sie tun könnten, aber sie müsse in die Handwerksrolle eingetragen werden. Da sie keine Meisterprüfung habe, drohe ihr, wenn sie sich selbstständig mache, ein Bußgeld. Aus der Traum von der Selbstständigkeit, eine Chance vertan. Das muss man sich einmal vorstellen: Da will sich jemand aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen und etwas riskieren. Wir aber sagen, das geht nicht, da Bestimmungen, Regulierungen, Bürokratie und Paragraphen das nicht zulassen. Diese würden wir in diesem Hause bei nüchterner Betrachtung, wie ich glaube, allesamt als unsinnig ansehen. ({1}) Was haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, eigentlich gegen Bürokratieabbau? ({2}) Wir wollen, dass dieser absurde Zustand in unserem Lande - er ist leider Realität - endlich beendet wird. Wir reden hier nicht nur über Friseurinnen und Friseure, wir reden auch über Fliesen- und Mosaikleger, Maler und Lackierer, Stuckateure, Parkettleger, Korbmacher, Damen- und Herrenschneider, Schuhmacher, wir reden über Gebäudereiniger, Fotografen und Buchbinder, ja wir reden über Geigenbauer und Bogenmacher. ({3}) Das ist nur eine kleine Auswahl der Handwerke, die wir jetzt von alten Regelungen, wie dem großen Befähigungsnachweis, befreien wollen, damit es mehr Selbstständigkeit und mehr Möglichkeiten der Existenz in diesem Lande gibt. ({4}) Ich kann die Gesellen, die vielen arbeitslosen Handwerker und Techniker nur auffordern: Trauen Sie sich etwas zu! Wir sorgen dafür, dass es ein zustimmungsfreies Handwerk gibt, in dem Sie die Möglichkeit haben, eine Existenz zu gründen. ({5}) Versuchen Sie sich als Unternehmer! Wir sind bereit, Ihnen dabei zu helfen, Ihnen Unterstützung zukommen zu lassen. Wir wollen die Behinderungen, die mehr Existenzgründungen in diesem Lande verhindern, endlich abschaffen. ({6}) Wir werden dafür sorgen, dass sich in diesem Lande viel mehr Menschen selbstständig machen können, als das jetzt möglich ist. Wir werden dafür sorgen, dass die Einschränkung der Berufsfreiheit und die Reglementierung der Gewerbefreiheit auf das absolut notwendige Maß begrenzt wird. Wir werden dafür sorgen, dass in der Europäischen Union und vor allem auch hier in Deutschland gleiche Wettbewerbsbedingungen auf den Handwerksmärkten geschaffen werden. Wir werden dafür sorgen, dass Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft drastisch reduziert werden. ({7}) Das ist ein ganz wichtiges Ziel unserer Handwerksnovellen. Nichts wächst in unserer Volkswirtschaft so stetig und so schnell wie der Bereich der Schwarzarbeit und der Schattenwirtschaft. ({8}) Auch wenn keine gesicherten Kenntnisse über Umfang und Art der Schwarzarbeit vorliegen, weiß jeder, dass insbesondere das Baugewerbe, der Gartenbau, das Hotel- und Gaststättengewerbe und die haushaltsbezogenen Dienstleistungen besonders davon betroffen sind. Professor Schneider von der Universität Linz, dessen Analysen in der Öffentlichkeit breite Resonanz finden, hat ausgerechnet, dass allein im Baugewerbe und in den Handwerksbetrieben die Schwarzarbeit eine Wertschöpfung von 133 Milliarden Euro ausmacht. Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Vollzeitschwarzarbeitern sind in unserem Lande tätig. ({9}) Wir wollen durch Veränderung der Handwerksordnung mit dafür sorgen, dass es weniger Schwarzarbeit und mehr legale Existenz in diesem Lande gibt. ({10}) Wir wollen dafür sorgen, dass die Handwerksordnung europatauglich wird. Wir stärken die Berufsfreiheit. Die Opposition, die landein, landaus Tag für Tag das Wort „Freiheit“ im Munde führt, geht in diesem Punkt mit der Freiheit aber äußerst zwiespältig um. Von Berufsfreiheit wollen Sie anscheinend nichts wissen. Sie gehen bei diesem Thema zu einer einfachen Klientelpolitik zurück. ({11}) Meine Kollege Kuhn hat eben sehr deutlich gesagt, wie das bei Ihnen bei den Arbeitnehmern aussieht. Die Abgeordneten der CDU/CSU und FDP sprechen Bürokratieabbau in jeder Rede an. Kein Redebeitrag ohne Forderung nach Bürokratieabbau. Dafür machen Sie sich normalerweise stark. ({12}) Hier haben Sie die Möglichkeit, mitzuhelfen, ({13}) durch Bürokratieabbau dafür zu sorgen, dass in diesem Land mehr Bewegung, mehr Flexibilität und mehr Existenzmöglichkeiten entstehen. ({14}) Sie haben scheinbar ein fast erotisches Verhältnis zu dem Wort „Deregulierung“. Sie rufen jeden Tag danach. Hier - nicht nur wenn es um Arbeitnehmerrechte geht haben Sie die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass die notwendige Dynamik im wirtschaftlichen Prozess in diesem Lande eintritt. Meine Damen und Herren von der Opposition, es fehlt Ihnen an diesem Punkt wirklich an Wahrhaftigkeit. Wir stehen zum Meister. Wir haben nicht umsonst das Meister-BAföG deutlich verbessert. Wir stehen für Qualifizierung in diesem Land. Wir wissen, dass die Menschen ohne gute Qualifizierung keine berufliche Perspektive haben. Deshalb sagen wir Ja zum Meisterbrief. Aber wir sagen Nein dazu, dass der Meisterbrief alleinige Voraussetzung für die Existenzgründung in vielen Handwerksbereichen sein soll. Das ist überholt und veraltet. Deshalb werden wir die Reform durchführen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fritz Kuhn ({15}) Meine Damen und Herren, mit der Verabschiedung der kleinen Handwerksnovelle heute wird das erste Gesetzesvorhaben aus der Agenda 2010 ins Gesetzblatt kommen. Es hat, wie wir wissen, bis zum Schluss erhebliches Sperrfeuer von allen Seiten gegen dieses Gesetz gegeben. Doch wer für einfache Tätigkeiten die Meisterprüfung verlangt, hat den großen Befähigungsnachweis nicht verstanden, der verstößt gegen die Verfassung und gefährdet den großen Befähigungsnachweis. Dieser gilt bekanntlich nur für das Handwerk prägende Tätigkeiten. Da dies gerade nicht für einfache Tätigkeiten gilt, gleichwohl in der behördlichen Praxis bei Kammern und Gerichten seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1992 permanent dagegen verstoßen wird, muss der Gesetzgeber diese Regelung klarstellen, damit wir Rechtsklarheit in diesem Land haben. Das sind wir jungen Existenzgründern schuldig. Wir halten Kurs und werden uns nicht beirren lasen. ({16}) Wir haben unseren Fahrplan eingehalten. Meine Damen und Herren von der Opposition, das wird auch so bleiben. Wir werden auch die große Handwerksnovelle zügig beraten und beschließen. Da das Gesetzesvorhaben diesmal zustimmungspflichtig ist, können Sie es zwar verzögern; aber wir werden nicht um jeden Preis kompromissbereit sein. Wenn wir den Eindruck haben, dass Sie kein wirkliches Interesse an einer sinnvollen Veränderung haben, dann werden wir es auch alleine machen. ({17}) Wir sind aber sachgerechten Vorschlägen zugeneigt. Deshalb erwarten wir einen Kompromiss bei der großen Novellierung der Handwerksordnung. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Fakt ist, dass die Handwerksordnung modernisiert werden muss. Dem stimmt auch das deutsche Handwerk zu. In Zeiten eines zusammenwachsenden Europas mag man sich die Frage stellen, ob es gerecht ist, dass Handwerker aus den EU-Nachbarländern hier ohne Meisterbrief tätig werden können, während von den deutschen Handwerkern die Meisterprüfung verlangt wird. Vielfach wird dies als eine unzulässige Inländerdiskriminierung angesehen. Die Lösung kann nun doch aber nicht darin liegen, dass man den Meisterbrief für viele traditionelle Handwerksberufe - nämlich in 65 von insgesamt 94 Berufsbildern - faktisch abschafft. Dies ist nicht nur fantasielos, sondern auch in hohem Maße gefährlich. ({0}) Eine Reform ist nur so gut, wie sie die Menschen abholt und mitnimmt. Springen die Menschen von diesem Reformzug ab, dann mag dieser Zug vielleicht sein Ziel erreichen, aber ohne Passagiere. Seit Jahrzehnten ist das Handwerk bei uns in Deutschland ein solider Garant für die Ausbildung Hunderttausender junger Menschen, Jahr für Jahr. Fast 530 000 Lehrlinge erhalten zurzeit eine qualifizierte Ausbildung. Vor gerade einmal zwei Tagen, am Tag der Ausbildung, hat die Bundesregierung an Unternehmen und damit auch an kleine und mittelständische Handwerksbetriebe appelliert, mehr Lehrlinge einzustellen und Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Den Handwerksbetrieben muss dies wie Hohn geklungen haben. Sie haben ohnehin am meisten unter dem wirtschaftlichen Stillstand in Deutschland zu leiden. Ausbleibende Aufträge haben viele Handwerksbetriebe in die Insolvenz getrieben, sodass hoch qualifizierte Arbeitskräfte auf der Straße stehen. Sofern Ihre Reform beabsichtigt, neue Arbeitsplätze zu schaffen, geht sie am Ziel vorbei. ({1}) Das Problem liegt doch nicht in der Anzahl fehlender Arbeitskräfte, ({2}) sondern in den viel zu hohen Lohnnebenkosten für die vorhandenen Arbeitskräfte. ({3}) Kommt es deshalb vor allem in grenznahen Regionen zur Beauftragung eines Handwerkers aus einem EUNachbarland, dann hat dies seine Ursache darin, dass dieser seine Arbeitsleistung wegen geringerer Steuern und Lohnnebenkosten günstiger anbieten kann als sein deutscher Kollege. Diesen Umstand zum Anlass zu nehmen, den Meisterbrief und damit den qualitativen Standard insgesamt infrage zu stellen, ist neben der Sache. Nein, die von Ihnen vorgeschlagene Reform löst das Problem nicht, sie ist Teil des Problems. ({4}) Welcher Handwerker fühlt sich denn unter den heutigen Umständen noch motiviert, zu investieren und sein Geschäft auszubauen? Nur wenn er für sich und seinen Betrieb eine Perspektive sieht, wird er Neueinstellungen vornehmen und junge Leute ausbilden. ({5}) Sie müssen endlich erkennen, dass es genau die von Ihnen heute vorgeschlagenen Maßnahmen sind, die unserem Standortklima nicht nutzen, sondern schaden. Wenn im Handwerk weniger ausgebildet wird, fehlen heute die Lehrstellen, morgen die Meister und übermorgen die Unternehmensnachfolger, die diese Betriebe mit ihren Angestellten weiterführen sollen. ({6}) Ich spreche Ihnen nicht ab, dass Sie erkennen, was sich gegenwärtig im Ausbildungssektor abzeichnet. Das einzige, was Ihnen dabei jedoch als Lösung in den Sinn kommt, ist eine Ausbildungsplatzabgabe als Zwangsabgabe, frei nach dem Motto: Und bist zu nicht willig, so brauch’ ich Gewalt. Nein, mit Ihrer Reform demotivieren Sie einen ganzen Berufsstand und nehmen damit im Ergebnis vielen jungen Menschen die Perspektive eines soliden Ausbildungsplatzes. Es ist schon auffällig, dass alle Ihre Maßnahmen unter dem Deckmäntelchen des Bürokratieabbaus in Wirklichkeit auf die Handwerker und freien Berufe abzielen. So sollen beispielsweise die Vergütungssysteme der Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte und anderer zerschlagen werden. Damit schaden Sie den Freiberuflern und Selbstständigen massiv. Langsam gewinne ich aber auch den Eindruck, dass dies beabsichtigt ist. ({7}) Unser Reformvorschlag sichert den Meisterbrief als Qualitätssiegel des deutschen Handwerks und ist damit praktizierter Verbraucherschutz. So sind wir im Gegensatz zu Ihnen auf das Handwerk zugegangen und haben gemeinsam mit dem Handwerk klare Linien entwickelt, wie eine tragfähige Reform auszusehen hat. Wenn eines der drei Kernelemente - Gefahrengeneigtheit, überdurchschnittliche Ausbildungsleistung und Schutz wichtiger Gemeinschaftswerte wie Umwelt und Gesundheit - verwirklicht ist, wollen wir auch, dass es im Interesse aller beim obligatorischen Meisterbrief bleibt. ({8}) Das Haus „Deutsches Handwerk“ werden Sie nicht dadurch modernisieren, dass Sie es abreißen, die Fundamente herausnehmen und anschließend wieder neu hinstellen. Dieses Haus wird nicht lange stehen. Ziel einer Reform muss es sein, eine beschäftigungsfördernde Politik einzuleiten, aber auch eine beschäftigungssichernde Politik zu betreiben. Diesen Zielvorstellungen wird Ihr Entwurf nicht gerecht. Handwerk hat goldenen Boden - so war es in der Vergangenheit. Wir von der Union wollen, dass es auch in Zukunft dabei bleibt bzw. wieder so wird. Der Kurs von Rot-Grün bedeutet den Konkurs für viele Handwerksbetriebe. Dabei werden wir von der Union nicht mitmachen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Krichbaum, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation! ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Lange, SPD-Fraktion.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, wo wir in den vielen Verhandlungen mit dem deutschen Handwerk Einigkeit erzielt haben, um auch der Legende entgegenzutreten, nach der keine Gespräche mit dem Handwerk geführt worden seien: ({0}) Aufhebung des Inhaberprinzips - Einigkeit mit dem deutschen Handwerk; Wegfall der Gesellenjahre für die Zulassung zur Meisterprüfung - Einigkeit mit dem deutschen Handwerk; ({1}) Wegfall von Doppelprüfungen und Erleichterung für Ingenieure und staatlich geprüfte Techniker - Einigkeit mit dem deutschen Handwerk. ({2}) Hören Sie endlich mit der Legende auf, wir würden mit dem deutschen Handwerk nicht sprechen. Das Gegenteil ist der Fall. ({3}) Eine zweite Bemerkung. Ich bin erstaunt darüber, mit welchen verdrehten Rollen wir hier argumentieren. Diejenigen, die sich im Deutschen Bundestag für die Gewerbefreiheit einsetzen, die immerhin im Grundgesetz unserer Bundesrepublik Deutschland steht und die Deutschland stark gemacht hat, müssen sich dafür rechtfertigen, während diejenigen, die an Regulierungen festhalten wollen, glauben, sie könnten das per ordre du mufti hier durchsetzen. So funktionieren das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und die soziale Marktwirtschaft nicht. ({4}) Die Handwerksordnung ist aus dem Jahre 1953 und sie bedarf der Veränderung, um die Eingriffe in die selbstständige Berufsausübung rechtfertigen zu können. ({5}) Lassen Sie mich jetzt einige Beispiele nennen, anhand deren man das beweisen kann. Während im Jahre 1970 noch etwa 632 000 Unternehmer in der Anlage A registriert waren, sind es heute trotz der deutschen Einheit nur noch etwa 560 000. ({6}) Christian Lange ({7}) - Moment. - Vergleichen wir das einmal mit der Anlage B. In der Anlage B waren 1970 nur 29 400 Unternehmen registriert. Heute verzeichnet diese Liste 176 270 Unternehmen. ({8}) Dies entspricht einem durchschnittlichen Zuwachs von 6 Prozent. Das belegt, dass gerade in den Bereichen eine Dynamik zu verzeichnen ist, in denen es den Meisterbrief als Marktzugangsregelung nicht gibt. Ich bitte Sie, dies entsprechend zur Kenntnis zu nehmen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Lange, stimmen Sie mir zu, dass die von Ihnen genannten Veränderungen bezüglich der Berufe in den Anlagen A und B der Handwerksordnung zu einem überwiegenden Teil durch die Handwerksnovelle von 1998 zustande gekommen sind?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das will ich gerne. ({0}) Dazu will ich das nächste Beispiel nennen, Herr Kollege Niebel. 1998 haben wir die Gerüstbauer von der Anlage B in die Anlage A heraufgestuft. Schauen Sie sich dort die entsprechenden Zahlen an. Von 1970 bis 1998 konnte die Zahl der Gerüstbauer in der Anlage B aufgrund des freien Marktzugangs eine ganz besondere Dynamik nehmen und expandieren. Nach der 1998 erfolgten Überführung in die Anlage A schrumpfte die Zahl der Betriebe aufgrund der Marktzugangsregelung, die wir alle gemeinsam hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben, ({1}) innerhalb von vier Jahren von 7 138 auf 4 934, das heißt um 35 Prozent. Das ist der schlagende Beweis dafür, dass eine Marktzugangsregelung ein strukturelles Element ist. Wir müssen es lockern, damit in Deutschland eine stärkere Gründungsdynamik Platz greifen kann. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Lange, wenn es so ist, wie Sie es beschrieben haben, stellt sich mir die Frage: Warum ist der Gerüstbau auch in Ihrem Entwurf der überarbeiteten Anlage A weiterhin in dieser Anlage A aufgeführt?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolb, die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben Ihnen doch dargestellt, dass wir am Meisterbrief als Marktzugangsregelung in den Bereichen, wo es eine Gefahrengeneigtheit gibt, festhalten wollen, weil wir meinen, dass wir einen entsprechenden Schutz sicherstellen müssen. ({0}) Dass es eine entsprechende Dynamik durch die Veränderung der Marktzugangsregelung gibt, muss man zumindest einmal zur Kenntnis nehmen. Ihr zentrales Argument lautet doch, dass die Marktzugangsregelung keinerlei Einfluss auf die Gründungsdynamik in Deutschland hat. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Zahlen belegen das. Auch ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland belegt das. ({1}) Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, nachzuschauen. In den Jahren 1949 bis 1953 gab es in Deutschland keinen Meisterzwang. Es ist interessant, sich hier einmal die Entwicklung anzuschauen. Ein Verlust der traditionellen Ausbildung zum Meister ist durch die Marktöffnung aufgrund des Wegfalls des Meisterzwangs nicht zu befürchten. Gab es 1949 in den damals zehn westlichen Bundesländern - ohne das Saarland und ohne Westberlin - 39 011 bestandene Meisterprüfungen, so sind es heute, nach der deutschen Einheit, bei einer höheren Bevölkerungszahl bundesweit 30 146, wie der Minister kürzlich vor dem Deutschen Bundestag ausgeführt hat. ({2}) Auch das macht deutlich, dass Ihre Befürchtung, unser Gesetzentwurf könnte negative Auswirkungen haben, nicht der Wirklichkeit entspricht. Nehmen Sie diese schlichten Zahlen einfach zur Kenntnis. Entfernen Sie sich an dieser Stelle von der bloßen Polemik. ({3}) Versuchen Sie doch, Ihre Einwände rational zu begründen. Christian Lange ({4}) Auch das geltende EU-Recht zwingt uns zur Novellierung. Wir alle wissen: Nur noch Luxemburg hat eine entsprechende Berufszugangsschranke, die dem deutschen Meisterbrief ähnelt. Andere Staaten, etwa die Niederlande, haben ihre Bestimmungen auf gefahrengeneigte Tätigkeiten konzentriert. Österreich hat aufgrund eines Urteils des österreichischen Verfassungsgerichtshofs Inländer bei der Zulassung zur Handwerksausübung Angehörigen der übrigen EU-Staaten gleichgestellt. ({5}) Handlungsbedarf besteht also unabweisbar. In der gesamten Europäischen Union gelten ähnliche Regelungen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Meisterbrief auch in Zukunft europafest ist. Das ist das Ziel der Novelle. Ich bitte darum, dies zur Kenntnis zu nehmen. ({6}) Durch die Aufhebung der Beschränkungen werden Existenzgründungen ebenso wie Unternehmensnachfolgen sowie die Schaffung und der Erhalt von Arbeitsplätzen und Lehrstellen wesentlich erleichtert. Den zulassungspflichtigen und zulassungsfreien Handwerken wird es nämlich ermöglicht, umfassende branchenübergreifende Leistungen anzubieten sowie auf Kundenwünsche flexibel zu reagieren. Außerdem werden vermehrt Angebote aus einer Hand möglich. Neue, bisher unter Meistervorbehalt stehende Tätigkeitsfelder können ausgenutzt werden. So können zum Beispiel Kosmetikerinnen künftig auch Friseurleistungen anbieten. Dadurch wird die Erschließung neuer Absatzmärkte möglich. Innovationen können stärker als bisher für das Handwerk genutzt werden. Außerdem werden die bisher so häufigen Abgrenzungsprobleme zwischen den in der Anlage A verbliebenen Handwerken und den in die Anlage B überführten Handwerken beseitigt. Ich möchte dazu ein Beispiel aus meinem eigenen Wahlkreis nennen. Eine Friseurmeisterin mit einem Betrieb in meiner Stadt wollte in der Nachbargemeinde eine Filiale eröffnen. Die entsprechende Kammer untersagte ihr dies, obwohl sie dadurch zwei Arbeitsplätze schaffen würde, mit der Begründung: Dies wäre mit der heute geltenden Handwerksordnung unvereinbar. ({7}) Das darf eigentlich nicht wahr sein, ist aber leider Wirklichkeit in Deutschland. Erst als der Fall publik gemacht wurde, hat die Kammer reagiert: Sie wartet mit einer Entscheidung so lange, bis diese Gesetzesnovelle beschlossen ist. ({8}) Ohne diese Novelle werden in Deutschland immer mehr Existenzen gefährdet. Damit muss Schluss sein. Auch das ist ein Grund, warum wir diese Novelle endlich umsetzen müssen. ({9}) Die Gesetzesnovelle liegt nicht nur im Interesse der Gesellinnen und Gesellen und der Dynamik des Wirtschaftsstandorts Deutschland; sie liegt auch im Interesse der expansiven Meisterinnen und Meister, die schon heute eine entsprechende Qualifikation haben und ihren Betrieb voranbringen wollen. Deshalb bitte ich Sie herzlich: Hören Sie mit dieser ideologischen Diskussion auf! ({10}) Hören Sie damit auf, das Thema zu einem Kulturkampf hoch zu stilisieren! Konzentrieren Sie sich auf den Kern. Wir brauchen in Deutschland mehr Existenzgründungen und im Handwerk mehr Dynamik. Dem dient diese Novelle. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorgeschlagene Änderung der Handwerksordnung - Herr Minister Clement, auch Sie haben das eingeräumt - darf nicht isoliert gesehen werden, sondern sie steht im Zusammenhang mit anderen, derzeit laufenden oder unlängst abgeschlossenen Gesetzgebungsvorhaben. Um es auf den Punkt zu bringen: Es geht Rot-Grün um einen Angriff auf die Bürgergesellschaft, ({0}) weil neben den Handwerksmeistern auch die Apotheker, Ärzte, Architekten und Rechtsanwälte auf der Liste der durch die Bundesregierung gefährdeten Arten stehen. Wir von der FDP wollen die bewährten freiberuflichen Strukturen ebenso wie die bewährten handwerklichen Strukturen erhalten. Das schließt - das sage ich ausdrücklich - die Weiterentwicklung geltender Vorschriften nicht aus. 1994 und 1998 - Herr Lange, Sie waren 1998 doch dabei - haben wir die Handwerksordnung zunächst innerhalb des Handwerks geöffnet und weiterentwickelt. ({1}) Weitere Schritte müssen folgen: die Abschaffung des Inhaberprinzips und ein verbesserter Zugang durch § 8 der Handwerksordnung. Dazu sind wir bereit. Aber diese Anpassungsmaßnahmen müssen so erfolgen, dass das Handwerk die Chance hat, auf diese Anpassungen zu reagieren. ({2}) Ich befürchte, dass mit der Reform, wie Sie sie vorgeschlagen haben, ganze Handwerksbereiche platt gemacht werden. ({3}) Wenn man sich die Begründung Ihres Gesetzentwurfes durchliest, dann kommt man zu dem Verdacht, das Opfer solle zum Täter gemacht werden, weil die Novelle damit begründet wird, es gebe eine anhaltend schlechte wirtschaftliche Entwicklung. Aber kein Wort von verfehlten rot-grünen Reformen, die gerade das Handwerk belasten, kein Wort von zu hohen Steuern, von steigenden Abgaben, die es für junge Meisterinnen und Meister - davon gibt es immerhin noch eine Reserve von 120 000 - unattraktiv erscheinen lassen, sich im Handwerk zu betätigen. Kein Wort schließlich über fehlende Investitionen von Bund, Ländern und vor allen Dingen Kommunen, was letztendlich das Ergebnis einer schlecht gemachten Steuerreform ist. ({4}) Es ist ein Hohn - Herr Minister Clement, es ist mehr als das; es ist böswillig -, wenn in der Begründung des Entwurfes darauf hingewiesen wird, dass es im Handwerk bei der Ausbildung eine Abbrecherquote von 30 Prozent gebe, aber kein Wort darüber verloren wird, dass die Ausbildungsquote des Handwerks mit 9,8 Prozent fast dreimal so hoch ist wie im Durchschnitt der übrigen Wirtschaft. Das zeigt mir, Herr Minister Clement, dass Rot-Grün wirklich keine Ahnung davon hat, wie es im Handwerk aussieht und vor allen Dingen wie die aktuelle wirtschaftliche Situation im Handwerk ist. ({5}) Der große Befähigungsnachweis ist im Übrigen auch kein Berufsverbot, wie es in der Begründung Ihres Gesetzentwurfes heißt, sondern er ist ein Qualifizierungsgebot und mithin die einzige Ausbildung zum Unternehmer, die wir in Deutschland haben. Das führt im Ergebnis zu der im Vergleich sehr niedrigen Insolvenzquote und zu der Bestandsfestigkeit der Handwerksbetriebe. ({6}) Herr Kollege Kuhn, ich sage Ihnen voraus und gebe zu Protokoll, damit Sie später nicht sagen, das habe man nicht voraussehen können: ({7}) Der vorliegende Gesetzentwurf wird, wenn die Novelle so umgesetzt wird, wie Sie es vorschlagen, dazu führen, dass wir im Herbst nicht nur über 70 000, sondern über 140 000 fehlende Ausbildungsplätze reden müssen, weil es absehbar und durch aktuelle Umfragen beim Handwerk belegt ist, dass die dann von A nach B zu überführenden, künftig zulassungsfreien Handwerke ihre Ausbildungsleistung deutlich auf das Niveau des Durchschnitts der Gesamtwirtschaft zurückführen werden. Das führt zu Ausbildungsplatzverlusten in dieser Größenordnung. Man greift sich an den Kopf. Dieselbe Koalition, die zu Beginn ihrer Amtszeit mit dem Gesetz zur Bekämpfung der so genannten Scheinselbstständigkeit die Existenzgründungen in Deutschland nachträglich beeinträchtigt hat, glaubt jetzt, ein Patentrezept gefunden zu haben, mit der Ich-AG Arbeitslose zu Unternehmern zu machen. So lautet das Motto. Wenn es so einfach wäre - Ich sage Ihnen voraus: Mit der Ich-AG als Anbieter handwerklicher Leistungen entfachen Sie vielleicht ein Strohfeuer um den Preis einer Atomisierung des Handwerks in kleinste Einheiten ohne nachhaltige Beschäftigungswirkung. Aber die Ich-AG als Nischenanbieter wird am Markt jämmerlich scheitern, weil der Trend dort zu kompletten, immer umfassenderen Leistungsangeboten geht. Deswegen trifft Ihre Vorstellung auch nicht den Nerv der Zeit. ({8}) Insgesamt sehe ich die Gefahr, dass die jetzige Begründung, die allein auf die Abwehr von Gefahren abstellt, nicht ausreichen wird, um die Anlage A auf Dauer zu erhalten. Wenn es so kommt, wie von Ihnen vorgeschlagen, werden Gerichte den großen Befähigungsnachweis in absehbarer Zeit zu Fall bringen. Wir müssen mit mehr Sorgfalt zu Werke gehen. Nachhaltigkeit und Ausbildungsleistung sind Kriterien, die unbedingt herangezogen werden müssen, um die Anlage A und den großen Befähigungsnachweis zu begründen. Nehmen Sie Vernunft an! Lassen Sie uns gemeinsam mit dem Handwerk überlegen, welche nächsten Liberalisierungsschritte nach den Novellen von 1994 und 1998 jetzt gegangen werden können! Ich habe Beispiele genannt. Das Handwerk hat die Hand ausgestreckt. Sie sollten nicht danach schlagen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Hans-Werner Bertl, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat hier ein Mitglied meiner Fraktion einen Ausspruch des stellvertretenden Vorsitzenden Ihrer Fraktion, Herrn Merz, vom März im „Spiegel“ zitiert. Ich sehe noch den heftigen Zuspruch des Abgeordneten Hinsken. Ich bringe das Zitat noch einmal, benutze aber das Wort, das er benutzt hat, nicht: Wenn man einen Teich trocken legen will, dann darf man nicht die Frösche fragen. ({0}) Dazu haben Sie kräftig genickt. Ich kann Ihnen eines sagen, Herr Kollege Hinsken: Wenn wir so handelten und so mit der Organisation des Handwerks umgingen, wie Ihre Fraktionsoberen es Ihnen in Bezug auf andere Organisationen empfehlen, dann wären Sie heute hier der Frosch und ich sehe keine Prinzessin, die Sie küssen würde. ({1}) Ihre Position zur Handwerksordnung kann ich nur unter oppositionsstrategischem Gesichtspunkt verstehen. Ehrlich sind Sie dem Handwerk gegenüber nicht. Die dubiose Haltung der Liberalen, denen sonst jede Form von Regulierung in der Wirtschaft ein Gräuel ist, das sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser, können sie selbst einem Handwerker nicht mehr vernünftig erklären. Ich glaube, dieses Thema ist es wert, in aller Ruhe erörtert zu werden. Wir sollten die Wirklichkeit der Erfahrungen eines deutschen Verbrauchers mit dem Handwerk und die Lebenswirklichkeit eines deutschen Handwerksmeisters im Zusammenhang mit dem Verbraucher nicht ausblenden. Es ist doch schon alles beschrieben worden. Ich nenne als Beispiel den verzweifelten Versuch eines ordentlichen, gesetzestreuen Verbrauchers, die abgeplatzte Fliese von einem fachkundigen Handwerksmeister ersetzt zu bekommen. Bei einem solchen Versuch ist doch ein Scheitern bereits vorprogrammiert. Eine reale Chance, eine solche Bagatellreparatur ausführen zu lassen, besteht in den frühen Abendstunden oder am Samstag, wenn zwar der Verbraucher verschämt die Umsatzsteuer einbehalten muss, letztlich aber glücklich ist, dass der Schaden von fachkundiger Hand behoben wird. Wie sieht die Situation aus der Sicht des Handwerksmeisters aus? So mancher Handwerksmeister macht sich beklommen an die Behebung eines Schadens, der nicht zu seinem Gewerk gehört, der ihn aber fachlich nicht überfordert. Er ist vielleicht gerade im Hause und kann sich dem bettelnden Blick der Verbraucherin irgendwann auch mit dem besten Argument nicht mehr entziehen. Es treibt ihn in den Gesetzesbruch. ({2}) - Das ist die Wirklichkeit! ({3}) Das hört sich vielleicht lustig an, macht aber das System eines geschlossenen Marktes deutlich, das weit von der Wirklichkeit unserer Wirtschaft entfernt ist. Wir brauchen hingegen ein System, das Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ermöglicht. ({4}) Ich will ein Zitat aus der Schlussarie des Hans Sachs aus den „Meistersingern von Nürnberg“ anführen, das vom Handwerk sehr geliebt wird: Verachtet mir die Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst! - Hans Sachs singt von Kunst, aber nicht von Zunft. Genau das wollen wir auch: Wir wollen die Kunst und die Qualität des Meisters nicht in Zweifel ziehen. Vielmehr wollen wir seine Markt- und Wettbewerbsfähigkeit und sein Können durch die Novellierung der Handwerksordnung stärken. ({5}) Im Bereich der Handwerksberufe der Anlage A soll mit dem Primat des besonderen Schutzes des Verbrauchers und in der Anlage B mit der freiwilligen Möglichkeit der Meisterprüfung in den Wettbewerb eingebracht werden, was im Handwerk einen Wert an sich darstellt, nämlich Qualität und hohe fachliche Kompetenz. Kann man bestreiten, dass es in vielen Bereichen des Handwerks durchaus zu verantworten ist, sich dem Geschick und der Fachkunde eines Gesellen anzuvertrauen und ihm die Möglichkeit einzuräumen, sich nach zehn langen Jahren verantwortlichen Arbeitens ein eigenes Geschäft aufzubauen und sogar auszubilden, wenn er die Bedingungen der Ausbildungsverordnung erfüllt? - Ich glaube nicht. ({6}) Ist es in einem System der Nischenwirtschaft nicht besser, diejenigen, die in Fachgebieten, in denen heutzutage fast jeder in wenigen Wochen die notwendigen Kenntnisse erwerben kann, heimlich ungesetzliche Tätigkeiten ausüben, mit einzubeziehen? Glauben Sie wirklich, die Behauptung aufrecht erhalten zu können, nur der Meister sei ein Garant für die fachgerechte Ausbildung und nur er sei durch seinen Prüfungsteil in Betriebswirtschaft in der Lage, in unserem sicherlich komplizierten Land erfolgreich zu wirtschaften? Was machen eigentlich die Hunderttausende von erfolgreichen Unternehmen, die nicht der Handwerksordnung unterliegen? Welchen Wert hat die Ausbildung einer Industriekauffrau in unserer Wirtschaft? 56 000 der Industriekaufmänner und -frauen werden in der Industrie und im Handel ausgebildet, ganze 61 im Handwerk. Welchen Wert hat der Fachinformatiker, Fachrichtung Anwendungsentwicklung, von dem 18 000 in der Industrie ausgebildet werden und ganze vier im Handwerk? Sind all diese Menschen für Unternehmer tätig, denen jede wirtschaftliche Kompetenz fehlt und die nicht am Markt bestehen, weil sie keinen Meistertitel haben? Wir müssen zugeben, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir uns der Realität stellen müssen. Ich gebe auch offen zu, dass mir das ein bisschen wehtut; ich bin nämlich selbst Handwerksmeister und ich bin stolz auf das, was ich einst erlernt habe und beweisen musste. ({7}) Über die Niederlassungsfreiheit innerhalb Europas ist schon gesprochen worden. Andere EU-Staaten bieten ihren Handwerkern weitere Freiräume. Nach den Regeln des Binnenmarktes kann kein Bürger an einer grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Betätigung gehindert werden. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir gemeinsam mit dem Handwerk - vonseiten des Handwerks gibt es durchaus entsprechende Zeichen - den Weg beschreiten sollten, die Handwerksordnung angesichts der für sie tatsächlich bestehenden Gefährdungen im Zusammenhang mit unserer Verfassung, der Rechtsprechung und der Diskussion auf europäischer Ebene über die so genannte Inländerdiskriminierung zukunftsfähig zu machen. ({8}) - Doch! ({9}) Beenden Sie Ihre Ideologisierung! Lassen Sie uns mit den Vertreterinnen und Vertretern des Handwerks - manche von ihnen räumen diese Gefahren in Vieraugengesprächen ein und zeigen die Bereitschaft, etwas Vernünftiges zu entwickeln - sachgerecht und fachgerecht sprechen! Wir werden die Handwerksordnung zukunftsfähig machen und nichts, weder die Qualität noch die Ausbildungsfähigkeit noch die Ausbildungsbereitschaft im deutschen Handwerk, infrage stellen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schauerte. ({0})

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, da dieser Redner ein Argument aufgegriffen hat, das auch Clement und andere immer wieder angeführt haben. Dieses Argument ist falsch und es darf sich daher nicht festsetzen. Man hat gesagt, die Auswirkungen des großen Befähigungsnachweises seien die Ursache dafür, dass die Zahl der Handwerksbetriebe abnehme, dass die Beschäftigungslage schlecht sei, dass das Handwerk seinen Beitrag zum Wachstum der Wirtschaft nicht mehr leiste und dass der Umfang der Schwarzarbeit größer werde. ({0}) Ich empfehle, einen Blick auf andere Bereiche zu werfen, um zu prüfen, ob dieses Argument richtig ist. Der Einzelhandel in Deutschland ist völlig unreguliert. Er hat sich - ohne jede Regulierung - katastrophal entwickelt. Es ist daher nicht richtig, zu behaupten, der Negativtrend sei ein Ergebnis der Regulierung. Ein anderer Bereich ist in hohem Maße reguliert - es gibt dort Zugangsbeschränkungen, die deutlich strenger als die im Handwerk sind, einschließlich einer Gebührenordnung -: Ich denke an die Rechtsanwälte und insbesondere Konkursverwalter. Ihre Anzahl hat sich in den letzten Jahren enorm vermehrt. ({1}) Die Qualität und der Umfang der Zugangsvoraussetzungen sind kein Maßstab, um zu beurteilen, ob sich eine Branche gut oder schlecht entwickelt und ihren Beitrag zur Volkswirtschaft leistet. Dass es im Handwerk so schlecht läuft, ist das bittere Ergebnis Ihrer absolut verfehlten Wirtschaftspolitik. ({2}) Erklären Sie das Handwerk nicht zum Täter! Das Handwerk ist in dieser Frage Opfer. Lassen Sie diese Art der Argumentation! Sie ist nicht zielführend und zeigt, dass Sie ideologisch vorgehen und nicht an der Sache orientiert sind. Ändern Sie Ihre Wirtschaftspolitik und das Handwerk hat wieder goldenen Boden! ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Bertl, Sie haben Gelegenheit zur Erwiderung. ({0})

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, zunächst einmal ist festzuhalten: Was die Existenzgründungsquote angeht, sind wir von vielen anderen europäischen Ländern überholt worden. Die Problematik, die Sie angesprochen haben, hat mit der gegenwärtigen Situation überhaupt nichts zu tun. Es geht nicht darum, die Meisterprüfung oder den Befähigungsnachweis zu diskreditieren. Wir müssen doch einfach sehen, dass wir es hier mit einem geschlossenen Markt zu tun haben, für den es kaum noch eine Berechtigung gibt. Die Geschlossenheit des Marktes hat allerdings in denjenigen Bereichen, bei denen es um den Verbraucherschutz geht, durchaus noch ihre Berechtigung. ({0}) Anlage A regelt, dass über ein Drittel des Handwerks - dort arbeiten fast zwei Drittel der im Handwerk Tätigen - in einem geschlossenen Markt verbleibt. Das zeigt die wirtschaftliche Struktur in unserem Land, insbesondere im Handwerk, auf. Es zeigt aber auch auf, dass dieser Markt, der aus der Tradition der Zünfte heraus reguliert ist - diese Regulierung lässt sich mit dieser Tradition heute nicht mehr rechtfertigen -, Freiräume braucht. Also: Keine Gefährdung für den großen Befähigungsnachweis! Ich glaube, dass es für junge Menschen nach wie vor ein sehr interessantes und anzustrebendes Ziel sein wird, auch in den in Anlage B aufgeführten Handwerksberufen den Meisterbrief zu machen. ({1}) Sie haben hier eben einen großen Fehler begangen, als Sie behauptet haben, ein Arzt könne sich nur nach einer Promotion selbstständig machen. Das ist eben nicht so. ({2}) Das Examen reicht aus. Sie müssen sich einmal die Frage stellen, warum so viele junge Medizinerinnen und Mediziner und so viele andere Hochschulabsolventen eine Promotion machen. Warum sollen junge Menschen im Handwerk in Zukunft anders vorgehen? Darüber müssen Sie einmal mit den Vertretern des Handwerks und mit den Gesellinnen und Gesellen diskutieren. ({3}) Wenn Sie das getan haben, dann werden Sie feststellen: Ihre gesamte Argumentation ist ad absurdum geführt worden. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Werner Wittlich, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Werner Wittlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003268, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Bertl, wenn man Ihre Biografie liest, dann stellt man fest, dass Sie irgendwann einmal den Titel eines Uhrmachermeisters erworben haben. ({0}) - Das mache ich doch nicht. - Aber man merkt, dass Sie wahrscheinlich Jahrzehnte aus diesem Beruf heraus sind; denn sonst würden Sie hier nicht einen solchen Unsinn erzählen. ({1}) Jeder kennt das Handwerk und kommt täglich mit ihm in Berührung. ({2}) - Erzählen Sie nicht ein solches Zeug, Herr Lange. Wer vom Handwerk spricht, denkt dabei oft nur an den Bäcker um die Ecke oder an den Installateur nebenan. Beide verkörpern das traditionelle Handwerk und sind Beispiele seiner Nähe zum Verbraucher. Doch Handwerk ist viel mehr. Handwerk ist Zukunft. Es ist ein moderner, innovativer und kreativer Wirtschaftsbereich, der durch Qualität und Kundenorientierung überzeugt. Handwerk ist so alt wie die Steinzeit und gleichzeitig so jung wie die Technologie von morgen. ({3}) Die Handwerksordnung, wie sie seit vielen Jahrzehnten besteht, hat sich nicht nur bewährt. Wir werden auch von vielen Ländern um die Leistungsfähigkeit und den hohen Qualitätsstandard unseres Handwerks beneidet. Das Gütesiegel ist der Meistertitel. Er steht für Fachwissen und solide Kenntnisse in Betriebswirtschaft, Recht und Pädagogik. Damit dieser Qualitätsstandard gehalten werden kann, muss sich die Handwerksordnung flexibel und dynamisch neuen Entwicklungen anpassen können. Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf zur Novellierung der Handwerksordnung ist in sich widersprüchlich, unlogisch sowie tatsächlich und rechtlich fehlerhaft. Er ist außerdem mit dem Handwerk nicht abgestimmt. Die Reform wurde überdies von Politikern eingeleitet, die selbst nie an der Spitze eines Unternehmens gestanden haben, die nie in einem Betrieb für Arbeitsplätze gesorgt haben und die nie auch nur einen einzigen Ausbildungsplatz geschaffen haben. ({4}) CDU und CSU kritisieren insbesondere die Neufassung der Anlage A der Handwerksordnung. Von jetzt 94 Meisterberufen sollen künftig nur noch 29 dem Meisterzwang unterliegen. ({5}) Entscheidendes Kriterium zur Aufnahme in die Anlage A soll die Gefahrengeneigtheit eines Gewerkes sein. Sogar die Bäcker und die Fleischer sollen künftig nicht mehr unter den Meistervorbehalt fallen. Das ist - gelinde gesagt - ein schlechter Treppenwitz. Gerade eine Regierung, die den Verbraucherschutz in den Vordergrund rücken will, plant jetzt, die Bewältigung der BSE-Krise, der Schweine- und Geflügelpest sowie nicht zuletzt die Beachtung umfangreicher Hygienevorschriften in nicht meisterliche Hände zu legen. An diesem Beispiel kann man erkennen, wie weit es mit Ihrer Trennung in gefahrengeneigte und nicht gefahrengeneigte Handwerksberufe her ist. Wir fordern deshalb, die Aufnahme in die Anlage A von drei Kriterien abhängig zu machen, und zwar erstens von der Gefahrengeneigtheit, zweitens von der Ausbildungsleistung und drittens von dem Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter, etwa vom Umwelt- und Verbraucherschutz. Dies würde auch den Vorgaben des Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgerichts zum Meisterbrief aus dem Jahre 1961 entsprechen. Im Übrigen arbeiten 50 Prozent der Absolventen eines Meisterlehrgangs als abhängig Beschäftigte. Der Wegfall des Meisterzwangs wird deshalb nicht automatisch zu mehr Selbstständigkeit führen. ({6}) Nach den Plänen der Regierung sollen Gesellen nach zehnjähriger Tätigkeit - davon fünf in leitender, verantwortlicher oder herausgehobener Funktion - auch ohne Meisterbrief einen Betrieb, der in Anlage A aufgeführt ist, eröffnen dürfen. CDU und CSU werden es nicht hinnehmen, dass Gesellen künftig ihre Berechtigung zur Unternehmensgründung ersitzen können. ({7}) Denn die Gesellenprüfung wird durchschnittlich mit Anfang 20 gemacht, die Meisterprüfung durchschnittlich mit Anfang 30. Die Gesellen werden sich doch fragen, warum sie eine Meisterprüfung überhaupt ablegen sollen, warum sie sich neben dem Berufsleben durch die Meisterschule quälen sollen, ({8}) wenn sie im gleichen Zeitraum in tatsächlich gefahrengeneigten Berufen nebenher die Berechtigung zur Unternehmensgründung erwerben können. - Ich komme noch dazu. - Wir befürchten außerdem, dass sich die Ausbildungsleistung drastisch reduzieren wird, wenn die Qualifikation zur Ausbildung junger Menschen nicht mehr vorhanden ist. Wir schlagen deshalb in diesem Zusammenhang eine Einzelfallprüfung vor. ({9}) Damit die Berufserfahrung der Altgesellen entsprechend berücksichtigt wird und qualifizierte Unternehmensgründungen leichter werden, sollen die Teile I und III der Meisterprüfung, also über die praktischen Fähigkeiten und die betriebswirtschaftlichen Kenntnisse, angerechnet werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Wittlich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bertl?

Werner Wittlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003268, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß, dass dabei nichts herauskommt. Deswegen gestatte ich die Zwischenfrage nicht. ({0}) Auf die Teile II und IV, nämlich Theorie und Ausbildungsqualifikation, darf dagegen nicht verzichtet werden. Damit wäre gewährleistet, dass der Gefahren- und der Ausbildungsaspekt berücksichtigt werden. CDU und CSU lehnen außerdem die Regierungspläne ab, nach denen sich künftig jedermann unabhängig von seinen fachlichen Fähigkeiten selbstständig machen kann, soweit es um Berufe in der Anlage B geht. Dies soll auch für Berufe gelten, die demnächst im Abschnitt 1 der Anlage B stehen, also für Berufe, die jetzt noch dem Meisterzwang unterliegen. Wir fordern auch für Berufe in der Anlage B fakultativ den Erwerb des Meisterbriefs. Zumindest für Gewerbe im Abschnitt 1 der Anlage B müssen die Gesellenprüfung und die Ausbildereignungsqualifikation nachgewiesen werden. ({1}) Nur so erhalten wir ein Mindestmaß an beruflicher Qualifikation, einen ausreichenden Verbraucherschutz und vernünftige Voraussetzungen für die Ausbildung junger Menschen. Wir fordern außerdem die Einführung einer so genannten Revisionsklausel. Alle sieben Jahre soll die geltende Liste der Meisterberufe in der Anlage A überprüft werden. Damit werden bei der Zuordnung zur Anlage A oder zur Anlage B neue Entwicklungen zeitnah berücksichtigt. ({2}) Unsere Zustimmung findet die geplante Aufhebung des Inhaberprinzips. Einem Existenzgründer ohne Meisterbrief sollte eine Betriebsübernahme möglich sein, wenn er einen Meister einstellt. ({3}) Auf der einen Seite arbeiten in Deutschland 130 000 Meister als abhängig Beschäftigte in Betrieben und auf der anderen Seite stehen Menschen, die bereit sind, unternehmerische Verantwortung zu tragen, aber keinen Meistertitel haben. Wenn wir die Zusammenarbeit dieser beiden Gruppen ermöglichen, erleichtern wir unzählige Betriebsübernahmen. Ich darf Ihnen kurz ein Beispiel aus dem Friseurhandwerk nennen. Durch die Novellierung werden einzig und allein die so genannten Ich-AGs gefördert; denn die jetzige Form der Handwerksordnung steht in vielen Fällen der Gründung einer Ich-AG entgegen. Viele Friseurgesellen - das Thema ist heute schon oft angesprochen worden - werden bei der Verbandsgemeinde oder der Stadtverwaltung ein so genanntes Kleingewerbe anmelden. Damit wird Schwarzarbeit legalisiert. An ihrem jetzigen Arbeitsplatz werden sie den Kunden erzählen, dass sie anderenorts nunmehr auch offiziell das Friseurhandwerk ausüben dürfen und die Kunden eingeladen sind, sich abends privat zum halben Preis bedienen zu lassen. Das wird dazu führen, dass die offiziellen Friseursalons immer weniger Kundschaft haben und deshalb Ausbildungs- und Arbeitsplätze abbauen müssen. Die Umsätze der legalisierten Schwarzarbeiter werden zumindest offiziell unterhalb der Freigrenze liegen. Damit werden die Sozialkassen und der Staat leer ausgehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. ({0})

Werner Wittlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003268, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Schluss. Aus dem jahrhundertealten Zunftwesen ist ein Relikt bis zum heutigen Tag übrig geblieben. Es ist der Satz, mit dem die meisten Handwerksversammlungen enden: Gott segne das ehrbare Handwerk. - Dieser Satz ist heute aktueller denn je. Nur müssen wir ihn heute ergänzen: Gott schütze das ehrbare Handwerk vor den wenig ehrenhaften Schnellschüssen dieser Bundesregierung. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Bertl für die SPD-Fraktion.

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Wittlich, wenn ich Sie so höre - was Sie gesagt haben, wird auch in anderen Bereichen artikuliert -, dann frage ich mich schon: Wie geht das organisierte Handwerk, das Verbandshandwerk in Deutschland, mit denen um, die für das Handwerk eine ganz wichtige Größe sind und eine hohe wirtschaftliche Leistungskraft bringen, nämlich mit den Gesellinnen und Gesellen? ({0}) Es ist kaum noch begründbar und wirklich schon diffamierend, wenn in Diskussionen - ich habe das von Vertretern des Handwerks selber erlebt - Ausdrücke fallen wie: Da kann sich ja jeder Hansel selbstständig machen. Man muss sich doch einmal die Hintergründe klar machen: Was unterscheidet eigentlich eine Gesellin oder einen Gesellen im Handwerk von einem jungen Facharbeiter oder einem jungen kaufmännischen Angestellten, der selber entscheiden kann, wann er eine Technikerausbildung, eine Industriemeisterprüfung oder schließlich noch den Betriebswirt macht? Nein, im Handwerk sollen Strukturen zementiert werden, die die hohe Zahl der jungen Gesellinnen und Gesellen in großem Maße diskreditieren. Man muss sich da doch - auch seitens des Handwerks - die Frage stellen: Ist dieser Weg eigentlich noch zukunftsträchtig? ({1}) Ich sage Ihnen: Es wird in wenigen Jahren in einer erweiterten Europäischen Union nicht mehr die Inländerdiskriminierung eine große Rolle spielen, sondern angesichts der demographischen Situation und der abnehmenden Zahl an Schulabgängern werden wir uns - ich sage „wir“, denn ich fühle mich da dem Handwerk schon zugehörig - im Handwerk schon die Frage stellen müssen, ob wir jungen Menschen in einem System, dessen Marktschranken wirklich aus dem Mittelalter kommen, überhaupt noch Anreize und Perspektiven bieten, sich selbstständig zu machen. Lassen Sie Ideologie aus dieser Diskussion heraus. Sie schaden dem Handwerk gnadenlos. Wir müssen vielmehr einen Dialog mit ihm führen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Wittlich zur Entgegnung.

Werner Wittlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003268, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Bertl, ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Dem Handwerk schaden nicht wir - das müssten Sie draußen längst mitbekommen haben -, ({0}) sondern Sie, indem Sie die Handwerksordnung zerschlagen. ({1}) Ich will noch einmal deutlich sagen: In keinem Wirtschaftsbereich werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so familiär behandelt. ({2}) - Ja, das ist so; das sage ich ganz deutlich. - Wir Betriebsinhaber kümmern uns doch um viele Probleme der Mitarbeiter, seien sie auch privater Natur. ({3}) Mit der jetzt vorgesehenen Zerschlagung der Handwerksordnung werden Sie das Handwerk nicht dazu bringen, so wie bisher Schulabsolventen, die nicht die geistige Frische haben, die vielleicht, um es einmal vorsichtig auszudrücken, etwas benachteiligt sind, auszubilden. Auch in diesem Bereich wird es eine Katastrophe geben. Meine Damen und Herren, setzen wir uns gemeinsam an einen Tisch und beraten wir über die Vorlage der FDP, die Vorlage der CDU/CSU und Ihre. ({4}) Lassen Sie uns gemeinsam - ich denke, das hat das Handwerk verdient - eine Lösung suchen und zu einem vernünftigen Kompromiss kommen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen auf der Drucksache 15/1089. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1224, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. ({0}) Wer stimmt dagegen? ({1}) Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({2}) Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, die wir heute nicht mehr im Plenarsaal sehen werden, schon einmal ein schönes Wochenende - jedenfalls für den Teil des Wochenendes, der jenseits von Veranstaltungen noch verbleibt. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 24 a auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlakts - Drucksache 15/1059 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksache 15/1263 - Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig Dorothee Mantel Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler Wir stimmen über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Gesetzentwurf ab. Der Innenausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1263, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Ich vermute, dass der eine oder andere, der steht, gleichwohl nicht gegen den Gesetzent- wurf stimmen will, was durch spontanes Hinsetzen be- stätigt wird. Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetz- entwurf einstimmig angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz ({5}) - Drucksache 15/999 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Dr. Jürgen Gehb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Fehler beim neuen Revisionsrecht korrigieren Entscheidungsfähigkeit des Bundesgerichtshofs sicherstellen - Drucksache 15/1098 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Justizbeschleunigung ist ein Anliegen, dem sich keiner entziehen kann. Der Faktor Zeit ist elementar bei der staatlichen Tätigkeit im Allgemeinen, aber im Besonderen gerade auch bei der Gewährung von Recht. Der Kläger in einem Zivilverfahren will nicht nur Recht haben, sondern er will zu seinem Recht kommen. Ein Unternehmen, das vor einer wirtschaftlichen Entscheidung steht und investieren möchte, braucht Rechtssicherheit, die es durch gerichtliche Tätigkeit bekommt. Zeit ist auch eine Voraussetzung für Sicherheit. Wir haben in Deutschland immer wieder die Situation, dass Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen, nicht weil sich die Haftgründe erledigt hätten, sondern wegen Zeitablaufs, weil die Gerichte und die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage waren, in der rechtlich zulässigen Zeit die Sache zu verhandeln. Das Verfassungsgericht hat gerade entschieden, dass das kein Grund ist, Untersuchungshaft fortdauern zu lassen. Das halte ich auch für richtig. Also müssen wir die Justiz effektiver machen; wir müssen sie beschleunigen. Wir haben dazu einen umfassenden Entwurf vorgelegt. Keiner kann sich dem Anliegen der Justizbeschleunigung entziehen, zuallererst nicht die Justizpolitik, aber auch nicht die Justiz und auch nicht die Anwaltschaft. Reflexhafte Besitzstandswahrung ist auch an dieser Stelle deplatziert. Auch die Regierung hat einen Entwurf vorgelegt. Wir unterscheiden uns von Ihnen unter anderem darin, dass Sie sehr anspruchsvoll im Titel sind - Justizmodernisierung - und wir zum Ausgleich im Inhalt etwas anspruchsvoller sind. ({0}) Ihr Entwurf ist ja im Wesentlichen eine Sammlung technischer Kleinigkeiten. Viele mögen sich schon lange gefragt haben: Was ist eigentlich die Vorstellung der Koalition von Modernität? Das hat man lang nicht mehr erfahren. Jetzt haben Sie ein Justizmodernisierungsgesetz vorgelegt. ({1}) Es ist eine Sammlung technischer Kleinigkeiten, ein eindrücklicher, überzeugender Nachweis der Vorstellung von Modernität bei Rot-Grün in der Rechtspolitik. Es ist sozusagen Ausdruck der neuen rechtspolitischen Bescheidenheit bei Ihnen, einen solchen bescheidenen Entwurf Justizmodernisierungsgesetz zu nennen. Ich möchte Ihnen den Inhalt unseres Entwurfs, der die ordentliche Gerichtsbarkeit umfassend erfasst, kurz darlegen. Das sind dann auch gleich die Unterscheidungsmerkmale im Vergleich zu Ihrem Entwurf. Dennoch gibt es auch Gemeinsamkeiten. Da wir das gleiche Ziel haben, sollten wir gemeinsam daran arbeiten, es zu erreichen. Aber in den Debatten sollten wir nicht nur die Gemeinsamkeiten betonen - das tue auch ich -, sondern uns auch über die Unterschiede streitig auseinander setzen. Erster Unterschied: Wir halten es für dringend geboten, die Belastungen, die durch Ihre ZPO-Reform der letzten Legislaturperiode auf die Zivilgerichtsbarkeit zugekommen sind, zu korrigieren. Sie haben leider nicht den Mut zur Korrektur bewiesen. Die neue Justizministerin hätte den Mut zur Korrektur aufbringen können und müssen; denn anderthalb Jahre nach In-Kraft-Treten der ZPO-Reform steht fest - über diesen Befund besteht kein Streit -, dass sich die obligatorische Güteverhandlung und die Dokumentationspflichten, die Sie eingeführt haben, nachteilig ausgewirkt haben. ({2}) Sie haben durch diese Belastung praktisch das Gegenteil einer Justizbeschleunigung erreicht. ({3}) Der erste Schritt ist daher, dass wir das korrigieren, was Sie falsch gemacht haben. ({4}) Ich beziehe den Bundesgerichtshof mit ein, weil sich nach dessen Angaben diese Reform auch auf das höchste deutsche Zivilgericht nachteilig ausgewirkt hat. ({5}) - Zu sagen, das sei ein „bisschen Arbeit“, ist eine sehr entspannte Art, wie ein ehemaliger Richter über Belastungsklagen des höchsten deutschen Zivilgerichts redet. Wir sollten die Erfahrungen, die dieses Gericht gemacht hat, im Parlament ernst nehmen. Die Richter sagen eindeutig, dass eine neue Belastung für sie hinzu gekommen ist und dass sie in Zulassungsrevisionen und in Nichtzulassungsbeschwerden ertrinken. Dieses System hat sich nachteilig ausgewirkt. Wir korrigieren auch an dieser Stelle. Zweiter Unterschied: In der Tradition rot-grüner Rechtspolitik nehmen Sie leider den Strafprozeß, wo eigentlich die größten Probleme liegen, fast komplett aus Ihrem Entwurf heraus. ({6}) Das hat etwas mit der strukturellen Handlungsschwäche von Rot-Grün auf dem Gebiet von Strafrecht und Strafverfahrensrecht zu tun. Sie sind sich politisch nicht einig, weil Sie in Ihren Reihen - sowohl bei den Grünen als auch bei der SPD - Ideologen haben. Darum kommen Sie nicht zu einem Ergebnis. Das ist der Fall bei der Terrorismusbekämpfung, bei der Reform des Sexualstrafrechts und bei dieser Reform. Sie sind einfach nicht handlungsfähig. Das geht zulasten des Landes, weil Rot-Grün die Probleme nicht lösen kann. Es ist doch nicht nachvollziehbar, dass es bei kleinen Delikten drei Instanzen - Amtsgericht, Landgericht und Oberlandesgericht -, aber bei großen Delikten nur zwei Instanzen - Landgericht und Bundesgerichtshof - gibt. Wir wollen das ändern; Sie wollen es bei dieser Asymmetrie belassen. Wir sagen auch an dieser Stelle: Es ist gerade im Sinne des Opferschutzes wichtig, dass bereits im Strafprozess, wenn es um Gewaltverbrechen geht, auch zivilrechtliche Schadenersatzansprüche und Entschädigungsansprüche verhandelt und entschieden werden, um dem Opfer ein zweites Verfahren zu ersparen, in dem es wieder in die Opferzeugenrolle kommt, die eine Perpetuierung seiner Verletzung darstellt. Wir wollen dem Opfer schnell zur Genugtuung und zum Recht verhelfen. ({7}) Entziehen Sie sich doch nicht diesen Vorschlägen, nur weil sie von uns kommen! Sie sollten etwas mehr Souveränität aufbringen! ({8}) Ich will einen letzten Punkt nennen, bei dem Sie von uns und auch von der Anwaltschaft scharfe Kritik hören werden. Sie haben nämlich eine rechtsstaatlich nicht hinnehmbare Auszehrung des Zivilverfahrens verursacht, indem Sie die Tatsachenfeststellungen aus dem Strafprozess mit Wirkung für und gegen alle im Zivilverfahren zwingend übernehmen wollen. Sie erstrecken damit die Beweise aus dem Strafverfahren auf das Zivilverfahren, auch wenn die Beteiligten dort keinen Anteil an der Gewinnung dieser Beweise hatten. Dadurch belasten Sie den Bürger, der am Strafverfahren nicht beteiligt war, mit der Last eines Gegenbeweises. Das ist rechtsstaatlich, wie gesagt, nicht hinnehmbar und eine Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und elementarer Beweisgrundsätze. Verbunden mit der Möglichkeit, den Zeugen im Strafverfahren unmittelbar nicht mehr zu hören, sondern nur noch das Vernehmungsprotokoll zu lesen, ist das eine rechtsstaatliche Auszehrung des Zivilverfahrens. Es ist der alte Geist aus der letzten ZPO-Reform in einer neuen Flasche: rechtsstaatswidrig und praxisfern. Sie werden von der Opposition die schärfste Kritik dazu hören. Wir sind die Wahrer der rechtsstaatlichen Qualität im Zivilverfahren und im Strafverfahren. ({9}) Meine letzte Bemerkung. Wir sind für Beschleunigung und Effektivität von Justiz, aber unter Wahrung der rechtsstaatlichen Qualität unserer rechtlichen und justiziellen Institutionen. Dies unterscheidet uns im Kern. Darum sage ich Ihnen: Bewegen Sie sich auf der Grundlage unserer Vorschläge auf uns zu! Wir laden Sie zu konstruktiven Gesprächen ein. Wir sollten zu einem guten Ergebnis im Interesse der Justiz und der Bürger kommen. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Röttgen, die letzte Bemerkung war eindrucksvoll wie manche zuvor auch, hätte aber ungefähr eine Minute vorher stattfinden müssen. Nun erteile ich dem Kollegen Stünker für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Röttgen, wenn man Ihren Gesetzentwurf aufmerksam gelesen hat - ich habe das getan -, dann stellen sich aus meiner Sicht für einen engagierten Rechtspolitiker vier Fragen. Die erste ist: Warum wurde dieser Entwurf eigentlich geschrieben? Die zweite ist: Wer hat den Entwurf geschrieben? Die dritte ist: Was ist der wesentliche Inhalt? Die vierte ist dann die Gesamtbeurteilung. Warum wurde dieser Entwurf eigentlich geschrieben? Dazu muss man ein bisschen ausholen; Sie haben nur am Rande darauf hingewiesen. Die Bundesjustizministerin hat Anfang dieses Jahres den Anstoß zu einem Gesetz zur Modernisierung der Justiz gegeben. Ich gebe zu: Der Name ist vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll. ({0}) Im Einvernehmen mit den Bundesländern sollen mit diesem Gesetz sowohl in der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch in den Fachgerichtsbarkeiten überholte prozessuale Formalien verändert und die Effizienz der Verfahrenssteuerung durch die Gerichte erhöht werden. Darüber hinaus soll ein weiterer großer Schritt auf dem Weg der notwendigen Binnenreform der Justiz durch die weitere Aufgabenverteilung zwischen Richtern und Staatsanwälten einerseits und Rechtspflegern andererseits gegangen werden, ein Schritt, auf den die Praxis seit Jahrzehnten wartet. Es soll also im Einvernehmen zwischen Bund und Ländern ein Gesetz beschlossen werden, das teilweise auch der finanziellen Entlastung der Länder dienen soll. Das Kabinett hat diesen Gesetzentwurf am 28. Mai dieses Jahres beschlossen. Er ist auf dem Weg und liegt gegenwärtig im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens dem Bundesrat zur Stellungnahme vor. Dieses einvernehmliche Verfahren gefiel dem Herrn Kollegen Dr. Röttgen nicht. Er bestand gegenüber den unionsgeführten Ländern darauf: Wir müssen einen eigenen Entwurf vorlegen. - So liegt uns heute der EntJoachim Stünker wurf eines so genannten Justizbeschleunigungsgesetzes vor. Allein den Namen dieses Gesetzes sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Justiz zu beschleunigen, Herr Kollege Dr. Röttgen, ist eine wundersame Fügung. ({1}) Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass sich diejenigen Bundesländer, in denen Sie, Herr Kollege Röttgen, zusammen mit der FDP regieren, von diesem Entwurf völlig distanzieren und gesagt haben: Wir tragen so einen Unsinn nicht mit. - Die Fachöffentlichkeit hat auf Ihren Entwurf wirklich sehr kritisch und teilweise sogar entsetzt reagiert. ({2}) Dies alles wären für sich allein schon Gründe genug dafür, dass Sie Ihren Entwurf gleich nach der heutigen ersten Lesung zurückziehen. Wer hat den Entwurf geschrieben? Das ist eine spannende Frage. Nicht, wie im Impressum angegeben, Herr Kollege Röttgen oder die CDU/CSU-Fraktion, sondern dieser Entwurf ist eindeutig in einem der von der Union geführten Landesjustizministerien geschrieben worden. Das eröffnet sich jedem, der etwas von der Justizpolitik versteht, und lässt sich in einzelnen Bestimmungen ablesen, nämlich darin, dass einmal mehr ganz eindeutig nicht die Rechtspolitik, sondern fiskalpolitische Überlegungen die Feder geführt haben. Mit diesem Entwurf haben Sie einmal mehr ein Armutszeugnis im Hinblick auf Ihre rechtspolitischen Ansätze vorgelegt. ({3}) Die dritte Frage lautete: Welchen Inhalt hat der Entwurf, den Sie uns eben geschildert haben? Ich fasse ihn etwas anders zusammen, als Sie es hier beredt getan haben. In großen Teilen ist Ihr Entwurf textgleich mit dem schon angesprochenen Modernisierungsgesetz der Bundesregierung. Hier finden wir also den Teil, über den sich das Bundesministerium der Justiz mit den Länderjustizministerien geeinigt hat. Im Übrigen beschränkt sich Ihr Entwurf ausschließlich auf den Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit und lässt die Fachgerichtsbarkeiten völlig außen vor. Für die ordentliche Gerichtsbarkeit wird nunmehr erneut kräftig der Rotstift angesetzt - Herr Kollege Röttgen, das ist der Hintergrund -, mit dem immer wieder gleich lautenden Tenor, wie wir ihn aus der Unionsfraktion seit den 80er- und 90er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts - so darf ich heute sagen - kennen: Zur angeblichen Entlastung der Justiz gibt es in Wirklichkeit weitere Einschränkungen der prozessualen Rechte der Bürgerinnen und Bürger. ({4}) - Das nenne ich Ihnen gleich. - Sie wollen nicht Rechte ausdehnen, sondern schränken sie ein. Wenn man Ihren Entwurf umsetzt, wird die Folge sein: Es kommt zu keiner Beschleunigung der Justiz, sondern zu einem Stellenabbau; die Arbeitsbelastung wird nach Pensen berechnet. Die Arbeit bleibt aber die gleiche. Das heißt, die Belastung wird in der Praxis nur eine andere sein. Die Länder wollen damit im Ergebnis ihre Haushalte ein Stück weit konsolidieren. So wollen Sie in der Zivilprozessordnung unsere Reform genau dort zurückdrehen, wo wir für den prozessbeteiligten Bürger mehr Transparenz und mehr Aufklärungsrechte geschaffen haben. Durch die Anhebung von Streitwertgrenzen, die Sie eben verschwiegen haben, sollen darüber hinaus Rechtsmittelmöglichkeiten eingeschränkt werden. Das Gericht soll zudem nicht entlastet, sondern belastet werden, indem die Spruchkörper bei den Landgerichten verkleinert werden sollen. Wann begreifen Sie endlich, dass die Verkleinerung von Spruchkörpern keine Beschleunigung, sondern nur mehr Belastung bringt? Noch deutlicher wird dieser Weg, wenn man sich Ihre Vorschläge bezüglich der Strafprozessordnung ansieht. Teilweise fordern Sie die Einschränkung von Verteidigerrechten - ich gebe zu: moderat. Darüber hinaus fordern Sie aber die Einschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten durch eine völlig unverhältnismäßige Ausweitung der Annahmeberufung. Sie wollen den Rechtsmittelzug im Grunde bis zu 90 Tagessätzen dichtmachen. Der ganze große Bereich der Verkehrsstraftaten wäre damit im Ergebnis nicht mehr rechtsmittelfähig. Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Anwaltschaft haben angesichts dessen mit Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen! Außerdem wollen Sie das Revisionsrecht einschränken. Darüber hinaus fordern Sie etwas ganz Raffiniertes: die Förderung von Schnellverfahren unter Verzicht auf hinlänglich bestimmte Anklageschriften. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie zukünftig bei der Anklage vor dem Schöffengericht das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen weglassen wollen, dann können Sie das Schöffengericht streichen, denn das brauchen Sie dann nicht mehr. Das wäre die richtige Konsequenz. Das werden die Folgen Ihres Gesetzes sein. All dies kommt auf Samtpfoten daher. Ihr Anspruch der Justizbeschleunigung führt zu nichts anderem als einer Beschränkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Zu Ihren Vorschlägen zur Zivilprozessordnung hat die Bundesrechtsanwaltskammer - Ihre Berufskollegen, Herr Kollege Röttgen - eine eindeutige Antwort gegeben. Diese möchte ich - mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident - zitieren, weil das nicht besser gesagt werden kann. Dort heißt es: Die Auswirkungen des Zivilprozessreformgesetzes aus der letzten Legislaturperiode sind noch nicht evaluiert. ({5}) Alle Behauptungen in dem Gesetzentwurf, die auf dieses Gesetz Bezug nehmen, entbehren jeder rechtstatsächlichen Feststellung. Genau das ist der Punkt, Herr Kollege Röttgen. ({6}) Dann kommt ein schöner Satz; den sollten Sie sich aufschreiben: Auf Meinungsäußerungen einzelner am Verfahren Beteiligter sollte ein Gesetzeswerk nicht gestützt werden. Genau so ist es, Herr Kollege. ({7}) Weiter heißt es: Änderungen der ZPO führen zur Belastung der Wirtschaft und zur Schwächung des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Das sind keine Sätze, die der böse, ideologische Sozialdemokrat Stünker sich ausgedacht hat, sondern das hat die Bundesrechtsanwaltskammer in einer Stellungnahme zu Ihrem Entwurf, Herr Kollege Röttgen, zum Ausdruck gebracht. ({8}) Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Im Übrigen sind alle Ihre Vorschläge nicht neu, es sind alte Kamellen aus den 90er-Jahren. Der Kollege Funke war damals Staatssekretär im Justizministerium. Er kennt sie alle; all das ist schon damals diskutiert worden. Schon damals sind Sie damit gnadenlos gescheitert; ({9}) denn Ihr so genanntes Justizentlastungsgesetz aus dem Jahre 1993 war ein echter Flop. Wenn die Praxis vor Ort liest, was Sie heute vorschlagen, wird sie sich nicht mehr empören, weil die Menschen von Ihnen insoweit kaum noch etwas anderes erwarten. Mit diesen Vorschlägen werden Sie nur noch ein müdes Lächeln ernten, Herr Kollege Röttgen. Das sind alles alte Kamellen, über die wir schon lange diskutierten, ({10}) die schon vor Jahren verworfen worden sind, weil sie nicht zum Erfolg führen. Mit dem Entwurf drücken Sie sich wieder um den entscheidenden Punkt herum: Sie wagen sich nicht an wirkliche Strukturreformen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit heran. Ihr Entwurf enthält kein Wort zur Binnenreform in der Justiz. Durch die Vorschläge wird, wie in den ganzen 90er-Jahren, die Arbeit von oben nach unten verlagert werden, wodurch die Amtsgerichte zusätzlich belastet werden. Da bei den Amtsgerichten auch noch Personal abgezogen werden wird und weniger Stellen zur Verfügung stehen werden, die Arbeit aber die gleiche bleibt, wird das Ganze irgendwann zusammenbrechen. Meine Damen und Herren, der Kollege Röttgen hat eben sinngemäß gesagt, Rot-Grün sei aus ideologischen Gründen nicht in der Lage, in der Rechtspolitik rechtsstaatsgemäße Gesetze auf den Weg zu bringen. ({11}) - Danke, im Strafrecht. - Ich möchte dazu abschließend eine Anmerkung machen, die ich sehr ernst meine und über die wir gemeinsam nachdenken sollten. Ich habe, wenn ich mir die Praxis in der ordentlichen Gerichtsbarkeit ansehe, zunehmend den Eindruck, dass die Gefahr für den Rechtsstaat weniger durch Straftaten droht als vielmehr dadurch, dass im Bereich der unabhängigen Justiz, der dritten Säule unserer Gewaltenteilung, die finanziellen Mittel derart gekürzt werden, dass die Justiz irgendwann nicht mehr in der Lage sein wird, ihre Aufgaben sachgerecht zu erfüllen, Herr Kollege Röttgen. ({12}) Das ist der Hintergrund. Das bekommen wir nicht durch die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen in den Griff, sondern nur dadurch, dass wir als Rechtspolitiker gemeinsam aufstehen und den Ländern deutlich machen, dass dieser Weg schädlich ist und dass es so nicht weitergehen kann. Das wäre die richtige Entscheidung. ({13}) Ich will zum Schluss - Herr Präsident, ich bitte um Erlaubnis, das noch sagen zu dürfen; ich bin dann aber am Ende meiner Rede - auf eine Pressemitteilung eingehen, die die Justiz in Berlin betrifft. Daran sehen Sie, dass ich diese Problematik nicht einseitig parteipolitisch beurteile. Einer Meldung vom 25. Juni ist zu entnehmen, dass der Präsident des Berliner Landgerichts, Herr von Drenkmann, der Justizsenatorin deutlich gemacht hat, dass es in der Justiz und bei den Strafkammern aufgrund von Personalmangel unhaltbare Zustände gibt. Aus Personalmangel könnten Verfahren nicht zu Ende geführt werden, die Schwurgerichte müssten Personen aus der Haft entlassen, was sie eigentlich nicht wollten und was rechtsstaatlich höchst bedenklich sei. Das bekommt man auch mit einem solchen Beschleunigungsgesetz nicht in den Griff, sondern nur dadurch, dass man der Justiz die Ressourcen gibt, die sie braucht, um ihre Aufgaben sachgerecht zu erfüllen. Schönen Dank. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nach zwei Rednern in dieser Debatte ein kurzer Zwischenstand: Die Großzügigkeit des Präsidiums ist Vizepräsident Dr. Norbert Lammert gegenüber der Koalition etwas ausgeprägter als gegenüber der Opposition. Nun hat der Kollege Rainer Funke für die FDP-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig: Die Justiz hat es verdient, dass sich die Politik um sie kümmert. Der Gesetzgeber hat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit unsere Justiz bürgernah und leistungsfähig ist und bleibt. ({0}) Von daher sind Debatten im Bundestag über die Zukunftsfähigkeit der Justiz grundsätzlich zu begrüßen. Der Anlass, der uns heute hier zusammenkommen lässt, ist aber eher betrüblich, Herr Kollege Röttgen. ({1}) Die Union hat mit ihrem Entwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes eine Initiative vorgelegt, von der sie ganz genau weiß, dass die meisten der darin enthaltenen Vorschläge in diesem Hause und auch in der Justiz keine Zustimmung finden werden. ({2}) Die Justiz hat es verdient, dass sich die Politik mit Ernsthaftigkeit und dem Willen zum Konsens ihrer Probleme annimmt und nicht mit Populismus. ({3}) Der Entwurf der Union ist zu einer Konsensbildung wahrlich nicht geeignet. Herr Kollege Röttgen, wir beide waren bei der Novellierung von Gesetzen in der letzten Legislaturperiode gegen viele Vorschriften, die von der damaligen Justizministerin hastig und ohne Notwendigkeit durchgepeitscht worden sind. ({4}) - Ich betone: in der letzten Legislatiurperiode von der damaligen Justizministerin. - Ich teile Ihre Bedenken. Aber lassen Sie uns die Auswirkungen dieser Gesetzesänderungen erst einmal evaluieren und sehen, ob die befürchteten Mängel tatsächlich alle aufgetreten sind. ({5}) Wenn das der Fall ist, dann lassen Sie uns gemeinsam darangehen und die Mängel beseitigen. Lassen Sie sich aber doch nicht zu solchen Schnellschüssen hinreißen, ohne dass wir jemals die Chance der Evaluierung gehabt haben. ({6}) Die Bundesregierung hat sich mit den Ländern auf einen Entwurf eines Gesetzes zur Justizmodernisierung geeinigt. ({7}) Zugegeben: Das ist nicht der große Wurf; er ist im Ergebnis eher sehr mager. Dennoch ist der Gesetzentwurf grundsätzlich zu begrüßen, da es gelungen ist, zumindest die Punkte, die unstrittig sind, gemeinsam zu regeln. Daher trifft das Justizmodernisierungsgesetz - das ist ein furchtbarer Name - auch auf die Zustimmung bei der Justiz und der Anwaltschaft. Mit ihrem Justizbeschleunigungsgesetz kündigt die Union diesen Konsens jedoch wieder auf und trägt damit zur Spaltung der Länder in dieser Frage bei. ({8}) - Sie brauchen nicht zu lachen, Herr Röttgen. Zum Beispiel das unionsgeführte Land Hamburg wird Ihrem Gesetz im Bundesrat nicht zustimmen. ({9}) Der Entwurf der Union enthält einige Elemente, die von der FDP abgelehnt werden. Exemplarisch nenne ich die Anhebung der Grenze für zulassungsfreie zivilrechtliche Berufungen auf 800 Euro, die Ausdehnung der Annahmeberufung im Strafprozess auf Verurteilungen bis zu 90 Tagessätzen und die Ausdehnung der Rechtsfolgekompetenz im beschleunigten Verfahren auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren ohne Bewährung. Dass Sie das mitmachen, kann ich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht mehr nachvollziehen. ({10}) Wenn die Union bei der Reform der Justiz rechtsstaatliche Grundsätze über Bord werfen will, dann kann sie bei diesem Ansinnen nicht auf die Unterstützung der FDP hoffen. ({11}) Auch die Anwaltschaft hat zu Recht ihre Gefolgschaft versagt. Sie wissen, dass die Anwaltschaft wirklich immer sehr vorsichtig formuliert. ({12}) Herr Dr. Dombek als Präsident ist da immer sehr zurückhaltend. Aber so etwas Vernichtendes wie dieses Gutachten habe ich schon seit langem nicht mehr von der Bundesrechtsanwaltskammer gelesen. ({13}) Gerade die für die Anwaltschaft wichtige Dokumentationspflicht für richterliche Hinweise will die Union auch noch abschaffen. Das können Sie als Anwalt kaum selber mitmachen. Ich empfehle der Union, ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen und auf der Grundlage des Justizmodernisierungsgesetzes gemeinsam zu Lösungen zu kommen, die wirklich geeignet sind, die Justiz zu modernisieren und zukunftsfest zu machen. In diesem Rahmen kann die Union auch ihre Vorstellungen zur Reform des Revisionsrechts einbringen, zu der uns heute ja ein Antrag vorliegt. Zu solchen Gesprächen ist wenigstens die FDP gerne bereit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat jetzt der Abgeordnete Jerzy Montag das Wort.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Ich hoffe auf die gleiche Nachsicht, die meine Vorredner erfahren haben. Meine Damen und Herren Kollegen! Auch ich frage mich, was dieses Gesetz soll, über das wir heute beraten müssen. Das Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung - ich stimme der Kritik am Namen zu; es zeichnet sich eine Allparteienkoalition zur Änderung des Namens dieses Gesetzes im parlamentarischen Gang ab - ist auf den parlamentarischen Weg gebracht. Die Länder werden dazu etwas zu sagen haben. Sie haben ja schon im Vorfeld sehr vielem zugestimmt. Es gibt einen zu dem Gesetzentwurf der CDU/CSU praktisch textidentischen Antrag im Bundesrat. Dazu gibt es durchaus eine unterschiedliche Diskussionslage. Auch einige CDU- bzw. CSU-geführte Länder sind zu einigen Punkten, die Sie in Ihrem Gesetz haben, völlig anderer Meinung. ({0}) Die StPO, die Strafprozessordnung, wird von dieser Koalition in dieser Legislaturperiode auf der Grundlage des vorliegenden Eckpunktepapiers umfassend reformiert werden. Es ist schon angesprochen worden: Ein Textvergleich Ihrer Vorschriften mit dem, was hier in den letzten zehn Jahren aus guten Gründen abgelehnt worden ist, zeigt: Sie haben einfach nur aufgesammelt und in ein Papier gepackt, was Sie dann als ein neues Gesetz vorgelegt haben. Angesichts dieser Fakten frage ich mich: Was soll das? Sie halten uns von der Arbeit ab! Sie selber, Herr Kollege Dr. Röttgen, haben von der Zeit gesprochen. Sie stehlen uns mit solchen Gesetzentwürfen die Zeit, die wir eigentlich brauchen, um uns inhaltlich mit der Justizreform zu beschäftigen. ({1}) Zur ZPO will ich hier nur eines sagen: Die Bedenken unserer Fraktion gegen die Bindung der Zivilgerichte an rechtskräftige Strafurteile - Ihr Vorschlag in § 286 Abs. 3 stehen in der Begründung Ihres eigenen Gesetzentwurfs. Zuallererst die Mogelpackung beim Adressaten: „Das Gericht soll gebunden werden.“ Tatsächlich richtet sich diese Vorschrift gegen eine der Prozessparteien. Ehrlich wäre es gewesen, wenn man geschrieben hätte: Der Beklagte in einem Zivilprozess ist mit einem Sachvortrag ausgeschlossen, wenn dieser in Widerspruch zu den Gründen eines rechtskräftigen Urteils in einem Strafprozess steht, an dem er als Angeklagter beteiligt war. - Dann aber hätten Sie auf den Tisch gelegt, wie intensiv Sie in den Zivilprozess eingreifen, indem Sie der einen Partei des Zivilprozesses Rechte nehmen, die die andere Partei bekommt. ({2}) Sie schreiben, dass die Beweislage im Strafprozess besser sei als im Zivilprozess. Herr Dr. Röttgen, sie ist völlig anders. Im Strafprozess ist der Kläger des Zivilprozesses Zeuge in eigener Sache. Darin liegen die rechtsstaatlichen Probleme der Übertragung dieser Urteile. Sie haben Beweisverwertungsverbote und Wahrunterstellungen in der Begründung als Probleme des Transfers angesprochen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, darf der Kollege Röttgen eine Zwischenfrage an Sie richten?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, da wir beide die unterschiedlichen Entwürfe gelesen haben, möchte ich Sie aufgrund Ihrer Darstellung fragen, ob Sie mir in der Einschätzung zustimmen, dass in unserem Vorschlag die Beweiserhebungsautonomie sowie die Beweiswürdigungs- und Entscheidungsautonomie des Zivilverfahrens voll erhalten bleiben. Das Zivilgericht entscheidet, welche Tatsachen es aus einem vorhergehenden Strafprozess verwenden möchte, es verfügt über die volle Autonomie, während es im Gesetzentwurf der Bundesregierung eine gesetzlich angeordnete gegen alle inter-omnes-wirkende Beweiskraft der festgestellten Tatsachen im Strafverfahren gibt. Stimmen Sie mir in der Einschätzung zu, dass das aus den von Ihnen gerade genannten Gründen der strukturellen Unterschiedlichkeit beider Verfahrensarten rechtsstaatlich inakzeptabel ist?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Röttgen, von der rechtsstaatlichen Inakzeptabilität will ich nicht reden. Ich gebe Ihnen aber zu, dass wir gegen beide Vorschläge Bedenken haben. Sie gehen in die gleiche Richtung und beziehen sich nicht so sehr auf das Gericht und die Bindung, die es erfährt, sondern sie beziehen sich auf die Tatsache, dass die Rechte einer der beiden Parteien des Zivilprozesses beschnitten werden, die die andere Partei des Zivilprozesses in vollem Umfang hat. Insofern werden wir uns über die Vorschrift im Justizmodernisierungsgesetz genauso zu unterhalten haben wie über die Vorschrift in Ihrem Entwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes. Besonders putzig, Herr Dr. Röttgen, ist der Hinweis in Ihrer Begründung, dass die Vorschrift natürlich auch zugunsten des Angeklagten bei einem „Freispruch aus erwiesener Unschuld“ wirken soll. Den Freispruch aus erwiesener Unschuld gab es in der Strafprozessordnung schon nicht mehr, als ich zu studieren angefangen habe. Sie schreiben heute eine solche Formulierung in einen Gesetzentwurf, wohl wissend, dass es in § 267 Abs. 5 lediglich um die Feststellung geht, dass die Unschuldsvermutung nicht widerlegt werden konnte. - So viel zum Zivilprozess. ({0}) Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, haben in Ihr Vorblatt Lyrik, Rechtsstaatslyrik, hineingeschrieben. Sie sprechen von Straffung des Prozessverlaufs unter Wahrung rechtsstaatlicher Erfordernisse. Sie wollen die berechtigten rechtsstaatlichen Interessen der Bürger wahren und die Wahrheitsfindung nicht beeinträchtigen. Da, wo das Kleingedruckte steht, reißen Sie Ihre Lyrik in jedem Punkt wieder herunter. ({1}) Ich werde vom Präsidenten aufgefordert, zum Ende meiner Rede zu kommen. Deswegen kündige ich Ihnen an, in den nächsten Debatten, die wir zu diesem Thema führen werden, meine Ausführungen zu § 26 a StPO und zu Ihren die Rechte der Menschen beschneidenden Formulierungen in § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, der sich mit dem Antragsrecht im Strafprozess - dem Mittelpunkt der Rechte des Angeklagten - befasst, fortzusetzen. Ich will Ihnen abschließend noch eines sagen, Herr Dr. Röttgen: Ihr Gesetzentwurf ist entgegen der Lyrik des Vorblatts von Ihrem Glauben beseelt, Sie könnten die Justiz nur dann effektiver gestalten, wenn Sie die Rechte der Beschuldigten beschneiden. Ich habe in allen Aussprachen, die wir bisher zu diesem Thema hatten, auf eine sachliche Diskussion gepocht. Wenn Sie uns aber in der Öffentlichkeit Ideologie vorwerfen, dann werden wir es Ihnen mit der gleichen Münze heimzahlen. Sie von der CDU/CSU sind die Ideologen, das haben Sie mit diesem Gesetzentwurf bewiesen. Sie vertreten die Ideologie des Rechtsstaatsabbaus. Deshalb: Packen Sie Ihren Gesetzentwurf wieder ein! ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nachdem nun der Kollege Montag ganz unangefochten die Spitze der überschrittenen Redezeiten übernommen hat, möchte ich den Aufruf des nächsten Redners mit der heimlichen Hoffnung verbinden, dass der Nachweis erbracht wird, dass ein Beitrag auch in der angemeldeten Redezeit erfolgen kann. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zum Kollegen Montag werde ich nicht gleich zu Beginn ankündigen, dass ich die Redezeit überziehen werde. Ich möchte das zumindest offen lassen. ({0}) Ich glaube, wir sind uns bisher wenigstens in einem Punkt einig: Die Belastung unserer Gerichte steigt von Jahr zu Jahr weiter an. Nicht zu Unrecht mahnen die Länder seit langem Entlastungsmaßnahmen für die Justiz an. Die rot-grüne Justizreform, die etwa eineinhalb Jahre her ist, hat die Gerichtsverfahren weder vereinfacht noch beschleunigt, sondern sie hat sie belastet und verzögert. Wir brauchen jetzt dringend umfassende und praktikable Lösungen, um der ständigen Überlastung unserer Gerichte und der Staatsanwaltschaften wirkungsvoll begegnen zu können. Es ist gerade auch für das Rechtsempfinden der Bürger wichtig, dass die Gerichte künftig zügig entscheiden. ({1}) Deshalb müssen die Gerichtsverfahren beschleunigt und gestrafft werden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, selbstverständlich werden wir dabei sicherstellen, dass die Wahrheitsfindung und die berechtigten rechtsstaatlichen Interessen der Bürger gewahrt bleiben. ({2}) - Doch, auch mit diesem Gesetzentwurf. ({3}) Dass die jüngste rot-grüne Reform unsere Justiz nur unnötig belastet hat, gesteht die Bundesjustizministerin indirekt eigentlich ein; denn sonst würde sie nicht schon wieder ein neues Gesetz zu diesem Thema vorlegen. Zu umfassenden und konsequenten Reformen reicht es aber weder im Zivil- noch im Strafverfahren. Der große Wurf ist dieses Justizmodernisierungsgesetz ganz bestimmt nicht. Schon sein Titel ist geradezu verwegen; Herr Stünker, Sie haben darauf hingewiesen. ({4}) - Sie haben aber eine frühe Einsicht gezeigt und wollen den Titel jetzt offensichtlich umschreiben. Der Entwurf unseres Justizbeschleunigungsgesetzes hält dagegen, was sein Name verspricht. Er bringt umfassende und praxisnahe Erleichterungen. ({5}) Kollege Dr. Röttgen hat bereits die zivilprozessualen Aspekte angesprochen. Deshalb möchte ich einige Worte zum strafrechtlichen Schwerpunkt des Gesetzentwurfs der Unionsfraktion sagen. Während Sie sich in dem so genannten Justizmodernisierungsgesetz im Wesentlichen damit begnügen, einige Vorschläge aufzugreifen, die vom Bundesrat in den letzten Jahren gemacht worden sind, ist der von uns vorgelegte Entwurf nicht nur viel umfassender, sondern auch weitreichender. Ich beschränke mich auf einige wenige Beispiele. Durch die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen bezogen auf die Hauptverhandlung wollen wir die Möglichkeit schaffen, künftig auf die Hinzuziehung der Urkundsbeamten zu verzichten. Das sehen Sie zwar auch in dem Justizmodernisierungsgesetz vor, ({6}) aber Sie verzichten nicht auf die Notwendigkeit der Abfassung eines Inhaltsprotokolls. Wir meinen: Eine Entlastung kann doch nur gelingen, wenn der Strafrichter nicht unbedingt ein umfangreiches Inhaltsprotokoll diktieren muss. Solange dies nötig ist, wird ein Richter kaum auf einen Protokollführer verzichten. ({7}) - Kollege Stünker nickt aus Erfahrung. Er würde wohl auch so handeln. ({8}) - Ja, wir harren gebannt. Wir sitzen vor den Computern und warten täglich darauf, dass wir sie abrufen können. ({9}) - Ja. ({10}) - Die Ankündigungen hören wir schon lange. ({11}) Wir sind schon ganz wild darauf, Näheres zu erfahren. Lassen Sie mich noch etwas zu den Tilgungsfristen für die Zentralregister sagen. Auch hier wollen wir eine Änderung vornehmen. Nach geltendem Recht sind die Eintragungen im Verkehrszentralregister nach Ablauf bestimmter Fristen zu tilgen, wenn es zu keinen neuen Eintragungen gekommen ist. Da jede Neueintragung die Rechtskraft der Entscheidung voraussetzt, animiert das geltende Recht dazu, die Verfahren wegen neuer Zuwiderhandlungen zu verzögern, damit die Eintragung zu spät erfolgt. Auch hier ist der Entwurf des Justizmodernisierungsgesetzes unzureichend. Er ist lediglich dazu geeignet, die Tilgung der früheren Eintragung zu verhindern. Das genügt aber nicht. Wir brauchen auch eine Änderung beim Verwertungsverbot. Nur wenn das jetzt geltende Verwertungsverbot durchbrochen wird, entfällt der Anreiz, das Verfahren zu verzögern. Deshalb enthält unser Gesetzentwurf eine entsprechende Neuregelung. Die von uns vorgesehene Neustrukturierung der Rechtsmittel im Strafverfahren ist ebenfalls ein wichtiger Gesichtspunkt. Nach dem geltenden Recht gibt es bei Verfahren, die beim Amtsgericht beginnen, drei Instanzen, während es bei Strafsachen, die erstinstanzlich vor dem Landgericht verhandelt werden, nur zwei Instanzen gibt. Wir alle haben uns schon als Studenten darüber gewundert, warum das so ist. Jetzt wollen wir diese Schieflage beseitigen. ({12}) - Seien Sie froh, dass wir uns dieses Themas annehmen. Sie wollen gar nichts machen. Das Thema Rechtsmittel im Strafverfahren taucht in Ihrem Gesetzentwurf, Herr Kollege Montag, überhaupt nicht auf. Angesichts der Erfahrungen mit Ihren Vorschlägen zum Thema dreigliedriger Gerichtsaufbau in der letzten Legislaturperiode kann man allerdings nur sagen: Es ist auch besser, dass Sie sich in Ihrem Entwurf dazu nicht äußern. Wir jedenfalls legen etwas zu den Rechtsmitteln im Instanzenweg vor. Es kann doch nicht sein, dass jemand, der sich eines kleinen Vergehens schuldig gemacht hat - Stichwort „Ladendieb“ -, drei Instanzen zur Verfügung hat, während ein Schwerverbrecher - beispielsweise ein Mörder nur zwei Instanzen durchlaufen kann. Deshalb wollen wir in Anlehnung an das Jugendstrafrecht ein Wahlrechtsmittel einführen. Dem Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft sollen künftig entweder Berufung oder Revision gegen ein erstinstanzliches Strafurteil zustehen. Das heißt, dass sie nur noch ein Rechtsmittel zur Wahl haben. Das wird zu einer deutlichen Entlastung führen. Lassen Sie mich nur noch in Stichworten weitere Punkte aus unserem Entwurf nennen. Wir wollen die Regelung über die zulässige Dauer der Unterbrechung der Hauptverhandlungen lockern, damit künftig Schiebetermine möglichst vermieden werden können. Wir wollen den Bereich der Annahmeberufung auf VerurteiDr. Wolfgang Götzer lungen bis zu 90 Tagessätzen ausweiten. Wir wollen den Strafbefehl stärker zur Anwendung kommen lassen. Er soll künftig auf zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren ausgedehnt werden. Wir wollen die Rechtsfolgenkompetenz im beschleunigten Verfahren erweitern und auf Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren erstrecken. Das dient dem Opferschutz und auch dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Ich hoffe, dass sich die Koalition in den weiteren Beratungen unseren sinnvollen und effektiven Vorschlägen nicht verschließen wird. Ich möchte zum Schluss eines sagen: Das, was sich dieser Tage - es ist schon angesprochen worden - in Berlin ereignet hat, dass ein wegen Totschlags Angeklagter wegen Überlastung des Gerichts, das sich nicht in der Lage sah, einen Termin für die Hauptverhandlung anzuberaumen, aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, darf sich in unserem Lande nicht wiederholen. ({13}) Ich bedanke mich. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eigentlich gedacht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU, dass wir heute über Ihren Gesetzentwurf reden. Aber Sie haben ständig das Justizmodernisierungsgesetz angesprochen. Dazu kommen wir demnächst. Vielleicht wird ja Herr Gehb zu Ihrem Gesetzentwurf sprechen. Ihr Gesetzentwurf ist die Kopie einer bayerischen Bundesratsinitiative. Als Jungsozialisten haben wir immer eine Doppelstrategie geübt. Das scheint auch bei Ihnen der Fall zu sein. Ich sage Ihnen voraus: Dies wird ein Doppelflop werden. ({0}) Der Inhalt Ihres Gesetzentwurfs ist, wie so oft, zu einem guten Teil aus früheren gescheiterten Gesetzesinitiativen aus Ihren Reihen oder aus den Ländern altbekannt. Es hat den Anschein, als hätten Sie die Rechtspolitik als olympische Disziplin entdeckt: Dabei sein ist für Sie alles. Inhaltlich war Ihr Motto ja schon immer: schneller, härter, schlechter. ({1}) Vor allem im Strafprozessrecht wiederholen Sie unbrauchbare Vorschläge aus der vergangenen Legislaturperiode, von denen Sie genau wissen, dass die Sachverständigen sie bei der Bundestagsanhörung im Juni 2000 zum Teil als bereits im Grundsatz verfehlt und kontraproduktiv abgelehnt haben. Das gilt für Ihre Idee, die Grenzen der Annahmeberufung von derzeit 15 auf 90 Tagessätze Geldstrafe anzuheben. Sie gefährden damit den Rechtsschutz, die Qualitätskontrolle und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung; denn immerhin betrifft dies 90 Prozent aller Geldstrafen. Unbrauchbar ist auch Ihr Vorschlag, im Strafbefehlsverfahren einen Strafausspruch von über einem Jahr zuzulassen. Freiheitsstrafen von über einem Jahr, die Sie per Strafbefehl verhängen wollen, können nur unter ganz besonderen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden. Wie aber soll ein Gericht zu einer Bewährungsprognose kommen, wenn es nur die Akten, nicht aber den Angeklagten vor sich hat? ({2}) Eine echte Justizbremse sind Ihre Vorschläge zu den Anklageschriften, die ohne wesentliches Ermittlungsergebnis zum Schöffengericht gehen sollen. Das Schöffengericht befasst sich mit mittlerer oder schwerer Kriminalität mit oft umfangreichen Sachverhalten. Eine Zusammenfassung des wesentlichen Ermittlungsergebnisses ist sinnvoll, damit sich das Gericht für die Eröffnungsentscheidung rasch ein Bild von der Sache machen kann. Das dient der Beschleunigung. Mit Ihrem Vorschlag verschieben Sie nur die Belastung von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht. ({3}) Ihre Vorschläge zum Jugendstrafrecht sehe ich mehr als kritisch, so wie fast alles, was von Ihnen zum Jugendstrafrecht kommt wenig durchdacht erscheint. ({4}) Haftbefehl im vereinfachten Jugendverfahren - das hört sich zunächst gut an. Natürlich ist eine möglichst zeitnahe Reaktion auf begangenes Unrecht erzieherisch wünschenswert. Die Beschleunigung von Jugendstrafverfahren darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Es geht im Jugendstrafrecht doch darum, zu verhindern, dass erneut Menschen Opfer von Straftaten werden, dass Jugendliche erneut straffällig werden. Es ist deshalb fatal, wenn Sie die bekannten schädlichen Nebenfolgen des Vollzugs und gerade der Untersuchungshaft, die eine Resozialisierung gefährden, einfach ausblenden. Wahrscheinlich gehen Sie nach dem Motto vor: U-Haft schafft Rechtskraft. Ich verstehe nicht, wie Sie so tun können, als seien alle empirischen Erkenntnisse der Jugendkriminologen einfach irrelevant. Es gilt im Jugendstrafrecht völlig zu Recht der Grundsatz der Haftvermeidung. Das gilt besonders für das vereinfachte Jugendverfahren, in dem nur Sanktionen unterhalb der Jugendstrafe verhängt werden dürfen. Über die Zulassung des vereinfachten Jugendverfahrens für Heranwachsende können wir reden. Aber dann sollten wir auch darüber nachdenken, das beschleunigte Verfahren in den Fällen ausdrücklich auszuschließen, in denen Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt und damit das vereinfachte Jugendverfahren als eine angemessene Alternative zur Verfügung steht. Immerhin ist es erfreulich, dass Sie mit diesem Vorschlag offenbar etwas von Ihrer Forderung abrücken, auf Heranwachsende grundsätzlich nicht mehr das Jugendstrafrecht anzuwenden. Noch ein paar Worte zum Ordnungswidrigkeitengesetz. Hier sind wir erfreulicherweise etwas näher beieinander. Insbesondere können wir die von Ihnen vorgeschlagene nochmalige Ausdehnung des Einzelrichterprinzips bei den Oberlandesgerichten als sinnvoll mittragen. Nicht überzeugt sind wir jedoch von Ihrer Forderung, die Rechtsmittelgrenzen für den Zugang zur zweiten Instanz, also den Oberlandesgerichten, erneut deutlich anzuheben. Sie wissen - Herr Dr. Röttgen, Herr Dr. Götzer und Herr van Essen waren damals dabei -, dass wir 1998 in einem breiten parlamentarischen Konsens die Grenzen bereits mehr als verdoppelt haben. Ich habe im Gesetzgebungsverfahren damals sehr eng mit Ihrem Fraktionskollegen Freiherr von Stetten senior zusammengearbeitet. Wir beide haben die Sache damals verhandelt. Wir waren uns einig, dass eine weitere Anhebung der Rechtsmittelgrenzen nicht sinnvoll ist. Das Gesetz von 1998 hat dann auch zu einem spürbaren Rückgang der Rechtsbeschwerden um 25 Prozent gegenüber 1996 geführt. Eine erneute Verdoppelung würde in der Praxis im Straßenverkehrsbereich nahezu alle Geldbußen und Fahrverbotsfälle aus der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde ausnehmen. Nachdem die an sich so wortgewaltigen Automobilclubs bisher zu diesem echten Hammer in Ihrem Gesetzentwurf nichts gesagt haben, möchte ich Sie hier im Interesse der Autofahrer um etwas mehr Zurückhaltung bitten. Ich greife noch einige Beispiele aus der Zivilprozessordnung heraus, weil mir noch etwas Zeit verbleibt. ({5}) - Sie sollten lieber nachdenken als quatschen. - Sie wollen die Dokumentationspflicht für richterliche Hinweise sowie die obligatorische Güterverhandlung, beides erst mit der ZPO-Reform am 1. Januar 2002 eingeführt, wieder abschaffen und das, nachdem vor wenigen Monaten bereits ein gleichlautender Gesetzesantrag aus Hessen nicht einmal die Ausschussberatungen im Bundesrat überstanden hat. Es ist sachwidrig, jetzt aus der ZPO-Reform willkürlich einzelne Bausteine herauszubrechen. Mit der Abschaffung der Dokumentationspflicht für richterliche Hinweise erreichen Sie nur, dass der erstinstanzliche Richter in Streitfällen von der Berufungsinstanz als Zeuge über die Hinweiserteiler vernommen werden müsste. Sie erweisen der Richterschaft mit diesem Gesetzesantrag einen Bärendienst. ({6}) Überdies bleibt die schriftliche Fixierung richterlicher Hinweise auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelungen ein Gebot des sachgerechten und transparenten richterlichen Handelns. Durch die ZPO-Reform ist dies lediglich gesetzlich fixiert worden. Ihr Vorschlag schafft da nur neue Zweifel. Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen die Richter von der Pflicht entbunden werden, Hinweise so früh wie möglich zu erteilen. Dabei ist die straffe Prozesssteuerung durch frühe und zweifelsfrei dokumentierte richterliche Hinweise notwendig. Dadurch werden die Prozesse beschleunigt und die Rechtsmittel tendenziell reduziert. Mit dem Streichen der Hinweispflicht machen Sie Ihr so genanntes Justizbeschleunigungsgesetz ({7}) zur Justizbremse. ({8}) - Hören Sie gut zu, Herr Kollege Gehb! Es kommt noch schlimmer. Der Entwurf will den Parteien das Recht nehmen, auf einen Hinweis des Gerichts schriftlich zu antworten. Damit tangieren Sie den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör, das zu den Grundrechten der Justiz gehört. Welchen Sinn hat ein richterlicher Hinweis, zu dem die Partei nicht mehr schriftlich Stellung nehmen darf? Dieses Vorhaben ist bürgerfeindlich und in verfassungsrechtlicher Hinsicht bedenklich. Mit dieser Formulierung bin ich noch sehr vorsichtig. Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu Ihrem Antrag, der heute unterzugehen scheint. Der BGH bewältigt seine Arbeit. Im Jahr 2001 gab es 4 400 Revisionen zum BGH. 2002 waren es 4 592 Revisionen plus Nichtzulassungsbeschwerden. Das sind 4 Prozent. Wie man dabei von „Ertrinken“ reden kann, Herr Dr. Röttgen, bleibt Ihnen vorbehalten zu erläutern. Im Übrigen ist dem BGH ein Hilfssenat bewilligt worden, der diese Arbeiten mit erledigt. Verehrter Herr Präsident, ich will Ihnen einen großen Gefallen tun und unterhalb einer einminütigen Überschreitung der Redezeit bleiben. Alles in allem ist das so genannte Justizbeschleunigungsgesetz, das Ihnen als Reaktion auf unser Justizmodernisierungsgesetz, das wir demnächst beraten werden und ein wirklicher Erfolg werden wird, eingefallen ist, eine ausgesprochene Justiz- und Rechtsschutzbremse. Nachdem Sie heute gemerkt haben, dass die FDP nicht mitzieht - vermutlich wird das Vorhaben auch im Bundesrat nicht die notwendige Mehrheit erhalten -, fordere ich Sie auf, Herr Dr. Röttgen: Seien Sie ein Mann! Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück! ({9}) War ich einigermaßen anständig, Herr Präsident?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie waren zwar einigermaßen anständig, aber das Finale Ihrer Rede hat die alte Lebensweisheit bestätigt, Herr Staatssekretär, dass man mit Ankündigungen vorsichtig sein soll, vor allem wenn man sie selber einlösen muss. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einem solchen rhetorischen Feuerwerk, wie es der Staatssekretär abgebrannt hat, fällt es sicherlich jedem Redner schwer, darauf zu replizieren. Herr Hartenbach, Sie haben übrigens ungefähr dasselbe vorgebracht wie in der 789. Sitzung des Bundesrates am 20. Juni dieses Jahres. Deswegen habe ich Teile Ihrer Rede, zum Beispiel hinsichtlich der Justizbremse, vorwegnehmen können. Ich möchte - auch für die Zuschauer - einmal etwas anders beginnen als sonst. Ich möchte nämlich eine Szene simulieren, die man in deutschen Gerichtssälen im Amtsgericht oder im Landgericht täglich sehen kann: Ich rufe auf die Sache Hartenbach ./. Stünker, Az.: 14 O 237/03. - Die Herrschaften treten ein. Es beginnt die mündliche Verhandlung. Wie immer ist die Klage des Klägers Hartenbach nur teilweise schlüssig, aber die Erwiderung des Beklagten Stünker auch nur teilweise erheblich. Aus diesem Grunde führt der Richter mit den beiden Beteiligten ein Rechtsgespräch und diktiert nach einer halben Stunde etwa Folgendes: In dem Zivilstreitverfahren Hartenbach ./. Stünker schließen die Beteiligten nach eingehender Diskussion der Sach- und Rechtslage folgenden Vergleich: Erstens. Zur Abgeltung aller mit der Klage geltend gemachten Ansprüche zahlt der Beklagte an den Kläger Euro 900. Zweitens. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger ein Drittel, der Beklagte zwei Drittel. Drittens. Den Beteiligten bleibt vorbehalten, den Vergleich bis zum 14. August ({0}) zu widerrufen. ({1}) Laut diktiert und genehmigt, vorgelesen und beschlossen. - So stellte sich die Situation vor der ZPO-Novellierung dar. ({2}) Das Gesetz sah vor, dass der Richter in jeder Phase des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Streits hinwirkt. ({3}) Damit wurde an das Verhandlungsgeschick, an die Routine und an das Fingerspitzengefühl der Richter appelliert und auf ihre Erfahrung und Souveränität, ein Rechtsgespräch zu leiten und nicht alle drei Minuten einen richterlichen Hinweis zu protokollieren. ({4}) Diese Vorgehensweise wird dadurch verhindert, dass man solch eine Verfahrensweise formalisiert, den Richter damit drangsaliert und alle Beteiligten damit kujoniert. ({5}) Genau das haben Sie mit der ZPO-Reform durch die Einführung der Pflicht zur Dokumentierung von Hinweisen und durch die Einführung der obligatorischen frühen Güteverhandlung geschafft. Unser Gesetzentwurf sieht mindestens die Wiederherstellung des Status quo ante als einen Beschleunigungseffekt vor. Schon deshalb würden bei seiner Verabschiedung alle Betroffenen aufatmen. Ich bin immer noch als Rechtsanwalt in Kassel forensisch tätig. Dort gibt man mir sozusagen Laufzettel mit auf den Weg in dieses Parlament in Berlin. Einer dieser Laufzettel enthielt zum Beispiel den Wunsch, den Richter an Amtsgerichten und Landgerichten mir gegenüber geäußert haben: Herr Gehb, sorgen Sie doch einmal dafür, dass endlich Schluss ist mit dem Argwohn und dem Misstrauen der SPD und der Grünen - sie meinen ja, man müsse jedes Jota schriftlich fixieren - gegenüber uns Richtern! Ich denke, dass die Richter in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch ohne Dokumentations- und ohne Protokollpflicht in der Lage waren, in jeder Phase des Verfahrens eine gütliche Beilegung des Streites zu erreichen. ({6}) Nun komme ich zu einem Wunsch, der schon vor längerer Zeit von meinem früheren Ausbilder, dem Richter Pohl - Herr Hartenbach, auch Sie kennen ihn -, geäußert wurde. Er sagte: Lieber Herr Gehb, sorgen Sie dafür, dass die Frist, die bei Strafprozessen eine Unterbrechung von maximal zehn Tagen vorsieht, endlich ein bisschen verlängert wird. Für diejenigen, die sich nicht auskennen: Bisher ist es für Strafprozesse so geregelt, dass spätestens am elften Tag nach einer Unterbrechung eine Hauptverhandlung anberaumt werden muss, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass der ganze Prozess wieder von vorne aufgerollt werden muss. Ich weiß, dass Ihr Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes nun auch eine Verlängerung der Frist vorsieht. Auf meine Anfrage aus der letzten Legislaturperiode vom 21. August, ob solch eine Verlängerung möglich sei, antwortete der Staatssekretär Pick in der Bundestagsdrucksache 14/6451, Seite 9, dass dies nicht der Fall ist. Jetzt tingelt die neue Ministerin durch die Lande und tut so, als sei diese Initiative auf ihrem Mist gewachsen. Die Entwicklungsgeschichte, die Genesis des § 229 StPO geht auf alle möglichen Leute zurück, nur nicht auf Mitglieder dieser Bundesregierung und schon gar nicht auf Mitglieder der Fraktionen der SPD oder der Grünen. Die Begründung Ihres Gesetzentwurfs auf Seite 56 der Bundesratsdrucksache zeigt, dass Sie gar nicht verstanden haben, worum es geht. Da kann man nämlich lesen - ich dachte zuerst, es sei ein Beitrag aus einer Büttenrede -, § 229 StPO sei deshalb zu ändern, damit dem Gericht ein Gerichtssaal zur Verfügung gestellt werden könne. Das ist ja ein Stück aus dem Tollhaus. Die richtige Begründung, die Ratio Legis, ist natürlich eine andere: Es soll vermieden werden, dass der Richter am elften Tag nach einer Unterbrechung lediglich einen so genannten Schiebetermin anberaumt, um irgendeinen Schriftsatz auszuhändigen und damit - Herr Hartenbach, werden Sie nicht ungeduldig; Sie kommen gleich dran - den Folgen des Überschreitens der Unterbrechungsfristen zu entgehen. Das ist der Sinn dieser Regelung, nicht das Vorhalten von Gerichtssälen. Herr Hartenbach, bitte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Präsidium ist immer ganz gerührt, wenn notwendige geschäftsleitende Bemerkungen bilateral, also von Rednern und Zwischenrufern, abgewickelt werden. Hiermit erteile ich dem Kollegen Hartenbach das Wort zu einer Zwischenfrage.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich bedanke mich sehr herzlich. Herr Dr. Gehb, warum reden Sie eigentlich dauernd über unseren Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes, der heute überhaupt nicht zur Debatte steht, und nicht über die Segnungen und Vorzüge Ihres Entwurfs eines Justizbeschleunigungsgesetzes?

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Hartenbach, Herr Staatssekretär Hartenbach, lieber Alfred Hartenbach, wenn Sie so gewissenhaft zugehört hätten, wie Sie eben gewissenhaft das vorgelesen haben, was Sie schon einmal vorgelesen haben, dann hätten Sie mitbekommen, dass ich sehr wohl über unseren Gesetzentwurf geredet habe, der die Aufhebung von Teilen der ZPO-Novelle vorsieht. Dann hätten Sie auch gemerkt, dass ich sehr wohl darüber geredet habe, dass wir eine Änderung des § 229 StPO wollen, und dass ich lediglich auf einen der intelligenten Einwürfe und Zurufe Ihrer Kollegen hin auf Ihr Justizmodernisierungsgesetz eingegangen bin. Sonst hätte ich es nicht für wert gehalten, überhaupt in meiner Rede darauf einzugehen. Herzlichen Dank. Es ist schönes Wetter und ich wünsche ein schönes Wochenende. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/999 und 15/1098 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung 10. Sportbericht der Bundesregierung - Drucksachen 14/9517, 15/345 Nr. 14, 15/952 Berichterstattung: Abgeordnete Dagmar Freitag Winfried Hermann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Ute Vogt.

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine, kürzt die öde Zeit und er schützt uns durch Vereine vor der Einsamkeit. So hat Joachim Ringelnatz schon vor vielen Jahrzehnten - ich glaube: sehr treffend - die Vielseitigkeit und die große Bedeutung von Sport und sportlichen Aktivitäten in Vereinen, aber auch für die gesamte persönliche Entwicklung auf den Punkt gebracht. Ich bin über die heutige Debatte froh, weil sie auch zeigt, dass der Beitrag der deutschen Innenpolitik zum deutschen Sport enorm groß ist. Wir sind nicht nur für die innere Sicherheit, sondern auch dafür zuständig, dass der innere Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl durch Sport und sportliche Aktivitäten gestärkt werden. Wenn man den 10. Sportbericht der Bundesregierung auf Seite 22 aufschlägt, dann sieht man eine beeindruckende Bilanz. Wir sind stolz auf den Aufwuchs der Mittel, die wir dem Sport zur Verfügung stellen können. Im Vergleich zum Berichtszeitraum der Vorgängerregierung von 1994 bis 1997 ist ein Zuwachs von 17 Prozent zu verzeichnen. Das macht sich auch an dem hohen Niveau bemerkbar, auf dem wir die deutschen sportlichen Leistungen halten konnten. Der Bericht zeigt außerdem, dass wir seit unserer Übernahme der Regierungsverantwortung die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben - davon konnte der Leistungssport sehr stark profitieren ({0}) und dass wir die Spitzensportförderung weiterhin als eine der wichtigen und zentralen Aufgaben unserer Regierungspolitik sehen. Es geht hier um ein Themenfeld - das möchte ich ausdrücklich betonen -, bei dem die betroffenen Fachverbände immer konstruktiv mit uns zusammenarbeiten. Wir erleben das nicht zuletzt bei der Vergabe der Mittel. Im Gegensatz zu vielen Fachbereichen, die andere Ressorts zu begleiten haben, bedanken sich die Fachverbände des Sports bei jeder Veranstaltung und machen deutlich, dass die Politik des Bundes und der Länder den Sport unterstützt. Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass diejenigen, die mit unserem Geld arbeiten, klarstellen, dass sie unseren Einsatz schätzen. Es ist schön, dass wir als Politikerinnen und Politiker - das kommt sonst nicht allzu häufig vor - ab und an auch einmal eine positive Resonanz erhalten. ({1}) Die fachliche Zusammenarbeit im Sportbereich ist sicherlich auch deshalb vorbildlich, weil wir, bevor wir entscheiden, für welche Fördermaßnahmen das Geld der Steuerzahler ausgegeben werden soll, die gemeinsame Beratung mit denjenigen suchen, die uns einen fachlichen Rat geben können, weil wir uns als Politiker also nicht anmaßen, am besten Bescheid zu wissen. Ich glaube, das ist ein Teil des Erfolgs. Gerade in dieser Woche hat Innenminister Otto Schily wieder ein Gespräch mit den Vertretern des Deutschen Sportbundes und der betreffenden Fachverbände geführt. Wir sind also permanent im Dialog, um dort zielgerichtet fördern zu können, wo es tatsächlich am nötigsten ist. Ich glaube, dass sich das auszahlt und dass wir unsere ureigenste Aufgabe sehr gewissenhaft wahrnehmen. Weil viele Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, wohin die Gelder für den Sport fließen, will ich beispielhaft einiges nennen. Wir fördern im Bereich des Leistungssports derzeit etwa 260 Sportstättenbauprojekte in 180 Bundesstützpunkten, fünf Bundesleistungszentren und 20 Olympiastützpunkten. Sie sehen, welche Vielzahl das ist. Leider wird das von denen, die nicht unmittelbar fachlich damit befasst sind, oft gar nicht wahrgenommen. Die Finanzmittel sind mit Sicherheit nicht alles. Sie sind nur eine Grundlage für das, was an Leistungen erbracht wird. In dieser Debatte gilt es, noch einmal Dank an diejenigen zu sagen, die aus diesen Mitteln dann auch Erfolge für unser Land erarbeiten, an die Sportlerinnen und Sportler, und nicht zuletzt natürlich an die, die sie trainieren und die für sie die Arbeit und die Organisation in den Verbänden übernehmen. ({2}) Dadurch gibt es nicht zuletzt auch eine Wirkung auf den Breitensport, was wir alle uns wünschen. Sportarten müssen auch öffentlich zur Geltung kommen und wahrgenommen werden. Jeder, der im Leistungssport Erfolge erzielt, dient als Vorbild und gibt mit seiner Leistung einen Anreiz für andere. Wir wollen die Leute, insbesondere die Jugendlichen, ermutigen, sich sportlich zu engagieren. Einen wichtigen Impuls haben wir auch unmittelbar in den Breitensport gegeben und das möchte ich nicht unerwähnt lassen. Seit 1999 haben wir im Rahmen des Goldenen Plans Ost in den neuen Bundesländern mit rund 55 Millionen Euro Sportstätten für den Breitensport fördern können. Auch das ist ein Ergebnis einer guten Zusammenarbeit. Die Bundesregierung hat es geschafft, das Konzept, das der Sport schon Jahre vorher erarbeitet hatte, umzusetzen. Gemeinsam haben wir daraus etwas gemacht, das unmittelbar vor Ort wirkt. Die gesellschaftliche Wirkung des Sports ist ein weiterer Punkt, der uns am Herzen liegt. Sie ersehen aus dem vorliegenden Sportbericht, dass die Förderung des Sports von Menschen mit Behinderungen für uns einen Schwerpunkt dargestellt hat. Wir halten es für wichtig, in diesem Bereich nicht nur die sportliche Leistung zu würdigen, sondern auch anzuerkennen, dass Menschen mit Behinderungen durch ihre sportliche Leistung anderen enormen Mut machen. Man kann so erleben, was es bedeutet, sich auch mit Behinderungen solchen Leistungsanforderungen zu stellen. Wir sind stolz darauf, dass unsere Sportlerinnen und Sportler auch bei den Paralympics große Medaillenerfolge haben und dass es gelungen ist, zu erreichen, dass dieser Sport ein großes öffentliches Interesse findet. Dadurch erfahren Menschen mit Behinderungen eine ganz andere Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft, als es ohne diesen Sport vorher vielleicht der Fall gewesen ist. ({3}) Ich möchte gern noch darauf aufmerksam machen, dass derzeit die Special Olympics in Dublin laufen. Sie werden in dieser Woche zu Ende gehen. Wir haben 167 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ich hatte selbst Gelegenheit, dort zu sein. Ich kann Ihnen sagen: Es gibt kaum ein schöneres Sporterlebnis, als Leistungssport von Menschen mit geistigen Behinderungen zu beobachten. Es ist echter Sport, der mit Freude am Wettkampf betrieben wird, ohne kritische Konkurrenzen. Es ist die Freude am Messen der eigenen Leistung mit der des Gegenübers. Es ist ein unglaubliches Erlebnis. Auch die Special Olympics hätten es verdient, mehr mediale Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu bekommen. ({4}) Wir als Politiker sind aufgefordert, dazu beizutragen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Verdrängungswirkung Ihrer Redezeitüberschreitung.

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Ja. - Abschließend noch ein Hinweis auf das, was uns bevorsteht; das ist nicht Gegenstand des Berichts. Wir sind uns einig - man merkt es an der Zustimmung aus den Reihen der Opposition -, dass die großen Ereignisse, die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und insbesondere die Olympischen Spiele 2012, die wir ausrichten wollen, unsere gemeinsame Kraftanstrengung erfordern. Ich will es insbesondere in Bezug auf Leipzig noch einmal sagen. In der Politik haben wir da wenig Auseinandersetzungen. Innerhalb des Bundestages ziehen wir an einem Strang. Der Sport zieht mit. Ich wünsche mir für uns alle, dass wir Gemeinsamkeiten zwischen Sport und Politik und vielleicht auch den Medien erreichen, gemeinsam stark auftreten und so nicht nur die Fußballweltmeisterschaft 2006 genießen können, sondern tatsächlich Olympia 2012 in Deutschland, also in Leipzig, haben werden. Wir sind alle gefordert, die positive Stimmung, die wir in Bezug auf dieses Ereignis spüren, auch zu übertragen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Riegert für die CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung muss sich bei der Sportförderung an ihren Ankündigungen und an ihren Leistungen messen lassen. Ich zitiere: Auch die hierbei für den Sport zu erzielenden Verbesserungen darzustellen wird eine der Aufgaben des … 10. Sportberichts sein. Außerdem heißt es: Es gilt …, Mittel zu konzentrieren, Schwerpunkte zu setzen und auch Vorhaben zu strecken. So Minister Schily im Vorwort des 9. Sportberichts. Bei aller Wertschätzung Ihnen gegenüber, Frau Staatssekretärin, hätte ich es schon für angezeigter gehalten, wenn Herr Minister Schily heute selber seinen 10. Sportbericht hier vorgestellt hätte. ({0}) Der Bericht ist in weiten Teilen ein Sachstandsbericht, der keine Perspektiven für die Zukunft des Sports aufzeigt. Damit werden die angekündigten Verbesserungen nicht erreicht. Sie haben nur eines Ihrer Ziele erreicht: Sie haben Vorhaben gestreckt, geschönt und gekürzt. Zunächst möchte ich den Athleten, ihren Trainern und Betreuern danken, die unser Land seit Jahrzehnten durch Spitzenleistungen bei Olympischen Spielen, bei den Paralympics, bei Welt- und Europameisterschaften hervorragend vertreten. ({1}) Topleistungen sind das Ergebnis jahrelanger, oft jahrzehntelanger harter entbehrungsreicher Arbeit. Es ist deshalb mehr als unangemessen, die Topleistungen als Ergebnis rot-grüner Sportförderung von 1999 bis 2001 zu vereinnahmen. ({2}) Dank auch an unsere Vereine und die Millionen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Die enge Verzahnung des Breiten- und des Spitzensports machen uns zu einer Sportnation. Der Dank muss umso kräftiger ausfallen, als sich die Bedingungen national wie international verschärft haben. Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung pflegt eine sehr kreative Buchführung. Sie kürzt die Sportförderung, rechnet sie aber gleichzeitig gesund. Um rund 68 Millionen Euro haben Sie zwischen 1998 und 2001 die Mittel für den Sport gekürzt. Um das zu beschönigen, haben Sie flugs die Sanierung der Stadien in Berlin und Leipzig hinzugerechnet, und schon stimmt die Rechnung. ({3}) Der letzte von der Regierung Kohl vorgelegte Haushaltsplan wies für die zentralen Maßnahmen, die sportwissenschaftlichen Einrichtungen und die Investitionen rund 114 Millionen Euro aus. Sie veranschlagten für 2002 gerade einmal 95 Millionen Euro. Bei den zentralen Maßnahmen für den Spitzensport hat sich nichts getan. Hier ist mit 71 Millionen Euro etwa der gleiche Stand wie 1998 gehalten worden. IAT und FES erhalten ebenfalls gleich viel Geld wie 1998, wobei sich die Personal- und Fixkosten auf 85 bis 90 Prozent belaufen. Es ist eine zentrale Forderung unserer Fraktion, die Ansätze für diese Einrichtungen zu erhöhen. ({4}) Sie haben die Übungsleiterpauschale angehoben; das begrüßen wir. Das haben Sie aber getan, weil Sie zuvor bei den Vereinen und den nebenberuflich Tätigen durch die Neuregelung der 325-Euro-Jobs kräftig abkassiert hatten. ({5}) Zur Erweiterung auf die Betreuer kann ich nur anmerken: Ich habe ehrlich gesagt vor Ort noch keinen Betreuer getroffen, der die Übungsleiterpauschale in Anspruch nehmen kann. ({6}) - Nein, der bekommt kein Geld, deswegen hat er auch keine Chance, die Pauschale in Anspruch zu nehmen; denn in unseren Vereinen gibt es keine Betreuer, die Geld für ihre Aufgaben bekommen. Sie haben eine Novellierung des Vereinsfördergesetzes mehrfach abgelehnt. Ihre Kollegen in der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ waren da sportfreundlicher und unterstützen unsere Auffassung. Sie werden bald wieder Gelegenheit haben, hier im Hause über einen solchen Entwurf abzustimmen. Stimmen Sie dann zu! Das wäre eine Verbesserung für den Sport. ({7}) Sie verschweigen, dass Sie seit Regierungsantritt den Sport durch ständiges Heraufsetzen der Energiesteuern, durch ständig neue Abgaben und durch sinnlose Ausweitungen bürokratischer Vorschriften belastet haben, ohne einen entsprechenden Ausgleich zu gewähren. Sie haben die Rahmenbedingungen des Sports entgegen Ihrer Ankündigung nicht verbessert. Auch beim Goldenen Plan Ost gilt: große Ankündigungen im Wahlkampf 1998, mäßige Leistungen. ({8}) Wir haben bis 1998 ohne so genannten Goldenen Plan Ost eine hervorragende Bilanz aufzuweisen: 1,2 Milliarden Euro für die Sportstätten in den neuen Bundesländern. Seit 1999 ist durch den Goldenen Plan Ost und das Investitionsfördergesetz zusammengenommen weniger Geld in die Sportstätten der neuen Länder geflossen. ({9}) Die Zahlen können Sie sich bei Ihrem Finanzminister besorgen. Sie haben hier zu wenig getan, Herr Kollege Danckert! ({10}) Lassen Sie mich zum Thema Doping zwei Dinge ansprechen. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer Ablehnung eines Anti-Doping-Gesetzes. Seit fünf Jahren eiern die Sportpolitiker von Rot und Grün damit durch die Landschaft. Der Sport will es nicht, die Bundesregierung will es nicht, die CDU/CSU will es nicht. Also, legen Sie dem Haus endlich einen Gesetzentwurf vor oder schweigen Sie! So einfach ist das. ({11}) Wir begrüßen, dass die Dopingopfer der ehemaligen DDR eine Entschädigung erhalten. Ich halte fest: Ohne die Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte es kein Dopingopfer-Hilfegesetz gegeben. Es ist gut, dass wir gemeinsam diese Lösung gefunden haben. ({12}) Wir erwarten, dass die Zusage des Bundesministers für Verteidigung, die Sportförderstellen der Bundeswehr auf dem jetzigen Stand zu halten, eingehalten wird. Wir werden den Bundesminister der Verteidigung unterstützen, wenn er sich, wie alle seine Vorgänger, für den Erhalt der Sportförderstellen einsetzt. Bundeswehr, aber auch Bundesgrenzschutz und Zoll leisten einen herausragenden und unverzichtbaren Beitrag für den Spitzensport. ({13}) Der internationale Behindertensport hat in den letzten Jahren eine gewaltige Leistungsexplosion erlebt. Das vom Deutschen Behindertensportverband vorgelegte Leistungskonzept weist in die richtige Richtung. Die bloße Anhebung der Mittel zum Ausgleich der Mehrkosten für internationale Wettkämpfe reicht allerdings nicht für die notwendigen strukturellen Verbesserungen aus. Wir begrüßen, dass es dem Deutschen Fußball-Bund gelungen ist, die Fußball-WM 2006 in unser Land zu holen. Wir sind uns sicher, dass sie ein großer Erfolg und ein Gewinn für Deutschland sein wird. Wir hoffen auch, dass die Bewerbung Leipzigs um die Austragung der Olympischen Sommerspiele und Paralympics 2012 von gleichem Erfolg gekrönt sein wird. Leipzig braucht die uneingeschränkte nationale Unterstützung: Wir kämpfen für Leipzig! ({14}) Ich halte fest: Der Etat der Spitzensportförderung ist seit 1995 quasi gedeckelt, seit fünf Jahren wird er ständig abgesenkt. Dies betrifft vor allem die Investitionen im Spitzensport. Andere Nationen rüsten auf, wir bauen ab. In einigen Kernbereichen des Spitzensports fallen wir entscheidend zurück, wenn bewährte Athleten zurücktreten und der Nachwuchs fehlt. Die Stimmung unter den Trainern ist auch nicht gut. Sie hätten das hohe Niveau der Spitzensportförderung halten und sogar ausbauen können. Statt quasi die Alleinfinanzierung für ein Stadion zu übernehmen und Einnahmen für Sondermünzen zwischen DFB und Finanzminister aufzuteilen, hätten wir uns eine kreativere Verwendung vorstellen können: für sportwissenschaftliche Einrichtungen und für Investitionen im Spitzensport. Das Geld hätte für Jahre gereicht. Der Ruf nach mehr Geld ist aufgrund miserabler rotgrüner Finanz-, Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik nicht realistisch. Wir hätten das Geld, das Sie ausgegeben haben, effizienter und zielgerichteter für den Sport ausgegeben. Der 10. Sportbericht zeigt: Diese Bundesregierung entwickelt keine Perspektive für den Sport in Deutschland. ({15}) Ihre Ankündigungen sind Spitze; Ihre Leistungen sind davon aber noch weit entfernt. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Riegert, Sie haben sich gleich zu Beginn Ihrer Rede darüber beklagt, dass der Sportbericht der Bundesregierung keine Perspektiven aufzeigt. Meines Erachtens ist es das Wesen von Berichten, dass sie bilanzierend und rückwärts gewandt sind. Übrigens: Auch bei Ihrem Beitrag hat die Perspektive vollständig gefehlt. ({0}) Ich habe mir für heute vorgenommen, dass ich diese rückwärts gewandte Debatte nach dem Motto „Früher war alles besser; wir haben viel mehr gemacht“ heute nicht führen will. Wir haben mit dieser Debatte vor einem Jahr im Sportausschuss angefangen. Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir die wichtigsten Zukunftsaufgaben in den nächsten Jahren für die Sportpolitik umrissen haben. Darüber will ich reden. Noch eine Bemerkung dazu, wie Sie die Förderung des Spitzensports dargestellt haben. Wir haben es über Jahre geschafft, den Spitzensport - sowohl im Behindertenbereich als auch im Nichtbehindertenbereich - auf hohem Niveau zu halten, ({1}) obwohl wir Schulden auf hohem Niveau übernommen haben und mit schwierigen Haushaltslagen zu kämpfen hatten. Uns im Nachhinein die Altlasten in die Schuhe zu schieben geht dann doch zu weit. ({2}) Wir haben es geschafft, das hohe Niveau zu halten. Das hat auch der organisierte Sport immer anerkannt. Die Verantwortlichen in diesem Bereich waren immer einsichtig, wenn ersichtlich war, dass die Mittel knapp waren. Auch im Sport kann man nicht so tun, als würde das Geld aus der Steckdose kommen. Nun zu den vordringlichen Aufgaben - Sie haben es bereits angesprochen; ich will es ganz deutlich sagen -: Wenn wir heute über Spitzensport reden, dann müssen wir auch darüber reden, dass es in den nächsten Jahren unsere gemeinsame Aufgabe sein wird, die Olympiabewerbung Leipzigs zu einer Erfolgsbewerbung zu machen. ({3}) Damit es eine Erfolgsbewerbung wird, müssen alle zusammenstehen: die aus Stuttgart und all die anderen, die verloren haben und glaubten, sie seien besser. Sie müssen jetzt ihre Kompetenz einbringen. Wir als Bundespolitiker müssen helfen, Infrastrukturen aufzubauen, damit die Bewerbung erfolgreich ist. Wir werden beraten und unter Umständen als Botschafter um die Welt reisen müssen, um für diese Bewerbung zu werben. Wir werden mit einem entsprechenden Haushalt dafür sorgen müssen, dass die wichtigen Institutionen des deutschen Spitzensports wie etwa die wissenschaftlichen Sportinstitute genügend Mittel haben, um den Spitzensport in Deutschland dauerhaft zu entwickeln. ({4}) Sportpolitik ist heute aber mehr. Sportpolitik muss sich heute - das will ich gerade angesichts der bevorstehenden Gesundheitsreform deutlich sagen - auch als Gesundheitspolitik verstehen. Deswegen sind wir gerade dabei, einen gemeinsamen Antrag zu schreiben, in dem es um Sport und Bewegung als einen wesentlichen Beitrag zu Gesundheit und Prävention geht. Das gilt für alle Bereiche und für alle Lebensphasen. ({5}) Sport wirkt bewegungsfördernd für Kinder und Jugendliche. Wir wissen, dass wir in diesem Bereich mehr tun müssen, damit es mit der Bewegungsfähigkeit der Kinder nicht immer mehr abwärts geht. ({6}) Das Motto muss sein: „Mit Bewegung und Sport groß werden.“ Die Menschen in der Stadt, alte wie junge, brauchen ein Umfeld, in dem man sich gerne bewegt, in dem man beispielsweise gerne Rad fährt. Wir brauchen ein neues Leitbild von einer spiel- und bewegungsfreundlichen Stadt. „Durch Bewegung mobil sein und mobil bleiben“ könnte hier das Motto sein. Es ist schon angesprochen worden, dass Sport ein wichtiger Beitrag zur Rehabilitation und zur Eingliederung ist. Körperlich Benachteiligte werden durch Sport einigermaßen mobil gehalten. Sport hat auch diese wichtige Funktion. Da wir wissen, dass in den nächsten 20 bis 30 Jahren gut ein Drittel der Menschen 60 Jahre und älter sein wird, müssen wir alles tun, dass diese Menschen gesund älter werden. Dass das eine Zukunftsaufgabe ist und dass wir auf diesem Feld noch viel zu tun haben werden, ist in der Anhörung des Sportausschusses zum Präventionssport deutlich geworden. Man könnte zusammenfassen: Wir brauchen eine umfassende Kampagne auf der Grundlage eines Gesetzes. Sport und Bewegung tun gut, und zwar uns allen in jeder Lebenslage. Sport und Bewegung stellen aber auch eine infrastrukturpolitische Aufgabe dar. Wir haben es beim Goldenen Plan Ost gesehen und werden es auch in vielen Kommunen sehen: In den nächsten Jahren wird es immer mehr darauf ankommen, dass es uns gelingt, Sportstätten beim Energie- und Wasserverbrauch ökologisch nachhaltig zu sanieren und sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorbildlich anzubinden. Die deutsche WM-Bewerbung muss in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel für das Konzept „Green Goal“ sein. Die Olympiabewerbung Leipzig wird ein gutes Beispiel für „Green Games“ sein müssen, wenn sie erfolgreich sein will. ({7}) Eine letzte und schwierige Aufgabe moderner Sportpolitik ist zweifellos der Kampf gegen das Doping. Hier sind wir auf internationaler Ebene im Vergleich zu früher erheblich weitergekommen. Es gibt den internationalen Anti-Doping-Code. Otto Schily hat sich dankbarerweise sehr dahinter geklemmt; auch bei der Unterzeichnung war er sogar dabei. Insofern sollten wir nicht den Eindruck entstehen lassen, als sei dem Innenministerium der Kampf gegen das Doping gleichgültig. Wir streiten über Folgendes - das wurde süffisant angesprochen -: In welcher gesetzlichen Form, in welcher politischen Form kann der Kampf gegen das Doping unterstützt werden? Die Koalitionsfraktionen sind seit langem der Meinung, dass angesichts der Entwicklung beim Doping und angesichts der Tatsache, dass der Sport auch ein Geschäft ist und es beim Doping auch um Betrug geht - und nicht nur darum, ob ein Trainer einem etwas gegeben hat oder nicht; Doping ist nicht nur ein Wettbewerbsbetrug am Sportler, sondern in vielen Fällen auch ein Betrug am Geschäftskonkurrenten -, ({8}) neue gesetzliche Regelungen erforderlich sind. Die alte pharmakologische Regelung im Arzneimittelgesetz, die wir bisher hatten, ist nicht ausreichend. Wir werden mit dem Innenministerium daran arbeiten, hierfür eine neue gesetzliche Basis festzulegen. Seien Sie sicher: Wir werden am Ball bleiben. Dagmar Freitag und ich haben uns dieser Sache verschrieben; wir werden weiter dafür kämpfen. ({9}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Moderne Sportpolitik muss sich als Querschnittspolitik verstehen. Wenn sie das nicht tut, ist sie rückwärts gewandt. Es kann nicht nur um Zahlenakrobatik gehen, Herr Kollege Riegert. Wir müssen uns vielmehr in mindestens fünf Disziplinen einmischen: Erstens. Wir müssen uns als Gesundheitspolitiker verstehen. Zweitens. Wir müssen uns als Kämpfer für einen sauberen Hochleistungs- und Spitzensport verstehen. Drittens. Wir müssen uns für spiel- und bewegungsfreundliche Stadt- und Lebensräume einsetzen. Viertens. Wir müssen eine sozialpolitische Dimension des Sports entwickeln, sie immer wieder betonen und verdeutlichen, dass Sport in diesem Sinne außerordentlich nachhaltig ist, einen wesentlichen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung darstellt. Fünftens. Sport ist schon immer international ausgerichtet gewesen. Er hat die Kraft, zu einer großen Friedensbewegung zu werden. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr für die FDP-Fraktion.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen die heutige Sportdebatte vor dem Hintergrund erheblicher Haushaltsprobleme der öffentlichen Hand. Einsparungen und Umschichtungen gehören mittlerweile in Bund, Ländern und Gemeinden zum politischen Alltag. Wir müssen uns fragen: Welche Rolle spielt der Sport eigentlich bei diesen „Streichkonzerten“? Ich komme zu dem Ergebnis, dass die Devise nur lauten kann: Nicht am Sport, sondern durch Sport sparen! ({0}) Da hat der Sport erhebliche Vorleistungen erbracht. Unsere Bemühungen müssen sich jetzt darauf konzentrieren, dieses freiwillige Engagement nicht auszunutzen, es nicht überzustrapazieren. Da hilft ein Blick in den Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ weiter. Dort heißt es: „Gesetze dürfen Engagement nicht behindern.“ Es wird auf die Gefahr der Standardisierung und Überregulierung hingewiesen. Davon können alle Ehrenamtlichen ein Liedchen singen. Deshalb müssen wir für Verwaltungs- und Verfahrensvereinfachungen sorgen, wenn wir Gesetze weiterentwickeln. Wir müssen unseren Vereinen mehr Flexibilität im Rahmen der vier Tätigkeitsbereiche Vermögensverwaltung, Zweckbetrieb, wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb und im ideellen Bereich zum Beispiel durch Freistellungsregelungen ermöglichen - ganz im Sinne des 10. Sportberichts, in dem Sie, Frau Staatssekretärin, formuliert haben: Die Autonomie des Sport „gewährt den in Vereinen und Verbänden organisierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen weiten grundrechtlich abgesicherten Freiheitsraum“. Dazu zählt die Kommission das steuerliche Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, das Zuwendungsrecht und das Haftungsrecht. Hier sind wir in der Pflicht. Wir müssen auch für eine neue Anerkennungskultur, neue Formen der Würdigung und Auszeichnung ehrenamtlichen Einsatzes sorgen. Winfried Hermann hat zu Recht auf den Zusammenhang von Sport und Gesundheit hingewiesen. Sie gehören eng zusammen, mit den guten, aber auch den schlechten Seiten. Doping bleibt eine Geißel des Sports, bleibt unlauterer Wettbewerb und Raubbau an der eigenen Gesundheit. Deswegen begrüßen wir die Gründung der Nationalen Anti-Doping-Agentur und die Existenz der Welt-Anti-Doping-Agentur als wichtige Säulen bei der Bekämpfung verbotener medikamentöser Leistungssteigerung. Wollen wir aber weltweit erfolgreich sein und unsere deutschen Athletinnen und Athleten schützen, dann müssen wir für eine auskömmliche Finanzierung der Welt-Anti-Doping-Agentur auch durch die EU sorgen. ({1}) Die positive Seite sind die Kompetenzen, die der Sport in der Prävention und Rehabilitation aufgebaut hat. Vor allem über Prävention haben SPD und Grüne lange genug geredet; jetzt sind Handlungs- und Finanzierungskonzepte gefragt, wie sie im FDP-Antrag vom 19. Februar dieses Jahres - vom 19. Februar! - zum Ausdruck kommen. Endlich kommen wir zu einem Ergebnis. ({2}) Der Sport darf bei den anstehenden Gesundheitsreformgesprächen nicht vernachlässigt werden. Gesundheitsförderung durch Sport und Bewegung hat einen volkswirtschaftlichen Nutzen, der für eine nachhaltige Gesundheitsreform von hoher Bedeutung ist. Sie ist ein wichtiges Wettbewerbselement der Krankenkassen und sollte deshalb nicht über einen Staatsfonds finanziert werden. Ein Präventionsgesetz als Leistungsgesetz ohne solides Finanzierungskonzept weckt falsche Hoffnungen. Dagegen kann eine Bündelung und Konzentration der verstreuten gesetzlichen Vorschriften und Verordnungen nach kritischer Prüfung ihrer Notwendigkeit und Plausibilität möglicherweise auch in Gesetzesform hilfreich sein. Zum Leistungssport. Er ist nicht nur ein respektables Aushängeschild für Deutschland, sondern schafft durch seine öffentliche Wirkung erst die Grundlage für den Breitensport. Frau Staatssekretärin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen. Sportliche Leistung muss deswegen von Kindesbeinen an als Wert vermittelt werden. Das Gute an dem Olympiabewerbungsverfahren war die geforderte Voraussetzung, dem Schulsport mehr Aufmerksamkeit zu schenken und Sport und Bewegung in der Schule auch vom Zeitrahmen her zu stärken, etwa durch die dritte Sportstunde und mehr Bewegungszeiten. ({3}) Wir müssen uns alle dafür einsetzen, dass dieser Impuls langfristige Wirkung hat und nicht nur ein Lippenbekenntnis ist. Die Eliteschulen des Sports müssen ausgebaut, aber gleichzeitig auch auf ihre Effizienz hin untersucht werden. Wer nicht ohne Wenn und Aber leistungsbereit ist, gehört eben nicht in eine solche Schule. Die Strategie der Leistungsförderung muss auf eine konsequente Eliteförderung ausgerichtet sein, weg vom Gießkannenprinzip hin zu einer konzentrierten, engeren Leistungsspitze. Die Athletinnen und Athleten für Olympia 2012 sind heute Teenager. Sie verdienen alle Unterstützung, aber auch das rechtzeitige Aufzeigen von Grenzen. Nur so können unsere zurzeit leider nicht mehr wachsenden Mittel Erfolg versprechend eingesetzt werden. Klaus Riegert, wir werden das vielleicht in der nächsten Legislaturperiode wieder ändern können. ({4}) Ich komme zum Abschluss. Die FDP teilt in einigen Bereichen - die Anträge liegen ja vor - die Kritik der Union am 10. Sportbericht der Bundesregierung. Sie erkennt aber auch viele Entscheidungen als richtig an. Wer jedoch in Zeiten, in denen alle Fraktionen zur Finanzierbarkeit des zukünftigen Gesundheitssystems jede Möglichkeit der Begrenzung und Herausnahme von Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausloten, mit dem Präventionsgesetz ein zusätzliches Leistungsgesetz ohne Finanzierungskonzept aufsatteln will, kann nicht mit der Unterstützung der Liberalen rechnen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Politik dieser Bundesregierung ist durch Weltoffenheit und Toleranz geprägt. Beides gehört auch zu den wesentlichen Merkmalen des Sports. Für den Standort Deutschland ist es wichtig, dass sich auch unser Sportpublikum durch Weltoffenheit und Toleranz auszeichnet, ({0}) insbesondere bei internationalen Großereignissen. Ich habe eine der herausragenden kontinentalen Veranstaltungen von 2002, die Leichtathletik-Europameisterschaften in München, vor Ort live miterlebt und war angetan von den fairen, sachkundigen und zugleich begeisterten Zuschauern. Und - das sage ich bewusst, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Deutschen Bundestag saß - ich war angetan von der Präsenz und der Präsentation von Verantwortlichen der Politik. Das war gut für die Bindungen und Verbindungen zum Sport, das war gut für das Ansehen unseres Landes in Europa. Wissen Sie, wer auch beim Sport eine gute Figur macht? - Gerhard Schröder. Das zeigt er durch persönliche Unterstützung vieler internationaler Bewerbungen zum Beispiel der für die Fußball-WM oder durch die Anwesenheit bei bedeutenden Sportevents. ({1}) Gerne erwähne ich auch ein Lob, welches der als besonders kritisch bekannte Sportjournalist Thomas Kistner gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ dem Bundesinnenminister gespendet hat. Er hat geschrieben: Otto Schily, der wohl stärkste Sportminister, den das Land je hatte. Dem können wir uns anschließen. ({2}) Die völkerverbindende und friedenstiftende Kraft des Sports gehört unbestritten zu den wichtigsten Elementen seiner Bedeutung und seiner Attraktivität. Dennoch war der Sport auf europäischer Ebene bisher nicht rechtlich abgesichert und konnte nur durch exemplarische Projekte gefördert werden. Der Sport ist die größte Axel Schäfer ({3}) Personenvereinigung in der EU und ein relevanter Wirtschaftsfaktor. Ihm kommt für die europäische Integration und damit auch für die Zivilgesellschaft eine zentrale Aufgabe zu. Die Aktivitäten sowohl der deutschen Mitglieder im EU-Konvent als auch der Bundesregierung haben entscheidend dazu beigetragen, dem Sport in der künftigen europäischen Verfassung seinen Platz zu geben. Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen, teilen Sie meine ganz persönliche Freude; denn 2004 ratifizieren wir im Deutschen Bundestag die Verankerung des Sports im europäischen Vertragswerk. Damit werden wir genau das tun, was ich im Europäischen Parlament als sozialdemokratischer Sportbeauftragter von 1994 bis 1999 zusammen mit anderen auf den Weg bringen konnte. Heute ist klar: Die Aufnahme des Sports in der Verfassung für Europa und damit seine Aufwertung ist richtig und wird von den Sportverbänden unseres Landes einhellig begrüßt. ({4}) Über diesen gemeinsamen Erfolg im Zusammenwirken der politischen Vertreter und der Repräsentanten des Sports, der Akteure auf europäischer und auf nationaler Ebene sollten wir uns miteinander freuen. Zum Sport gehört untrennbar die Gesundheit. Die wirksame Dopingbekämpfung durch gemeinsames Vorgehen auf EU-Ebene ist besonders hervorzuheben. Unsere Bundesregierung hat national wie international bekanntlich deutliche Akzente gesetzt. Auch an der Erarbeitung des Welt-Anti-Doping-Codes, den die WADA vorgelegt hat, war Deutschland maßgeblich beteiligt. Dieser Code wird das Fundament im Kampf gegen verbotene Mittel und Methoden im Sport sein. Ein historischer Erfolg war die Deklaration auf der zweiten AntiDoping-Weltkonferenz von Kopenhagen im Frühjahr dieses Jahres, wo Deutschland zu den Erstunterzeichnern zählte. Dem Ziel von Fairplay und Chancengleichheit bei allen internationalen Sportwettbewerben ist man damit einen großen Schritt näher gekommen. Ehrgeizige Projekte verfolgt unsere Bundesregierung auch beim Sportstättenbau. Das Sonderförderprogramm Goldener Plan Ost ist eines unserer wichtigsten sportpolitischen Vorhaben. Das wissen die Bürgerinnen und Bürger gerade in den neuen Bundesländern. ({5}) Die Koalitionsvereinbarung von 2002 sieht ausdrücklich die Verlängerung dieses Programms vor. Eine Angleichung der Verhältnisse in den neuen Ländern an das Westniveau ist gerade im Hinblick auf die sportlichen Rahmenbedingungen unerlässlich. Der Bund beteiligt sich an der Errichtung von Sportstätten für den Breitensport sowie an der Modernisierung der Stadien in Berlin und Leipzig. Ich komme zum Schluss. Deutschland wird 2006 Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft sein. Wir hoffen natürlich alle, dass unsere Elf den Titel gewinnt, obwohl wir das hier nicht beschließen können. 2012 wollen wir Gastgeber der Olympischen Spiele werden. Ich sage als Abgeordneter, der im Ruhrgebiet lebt, hier ganz klar: Leipzig ist die deutsche Bewerberstadt für die Olympischen Spiele, Deutschland bewirbt sich mit Leipzig um das wichtigste globale Sportereignis. ({6}) Als gebürtiger Frankfurter zitiere ich auch gerne Johann Wolfgang von Goethe: „Mein Leipzig lob ich mir!“ Der 10. Sportbericht der Bundesregierung ist ein gutes Fundament. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Eberhard Gienger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Riegert hat die Defizite in Ihrer Sportpolitik überzeugend dargelegt. Ich werde mich auf einige mir wesentlich erscheinende Punkte konzentrieren. Sie als Sportpolitiker werden sich in den Haushaltsberatungen zu entscheiden haben, ob Sie dem Sport oder der Finanzpolitik den Vorrang einräumen wollen, ob Sie den größten Teil der Einnahmen aus dem Münzverkauf anlässlich einer sportlichen Großveranstaltung dem Sport zukommen lassen wollen oder dem Finanzminister das Säckel füllen wollen. Der Bundesminister der Finanzen gibt nämlich anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 Silbersondermünzen im Wert von 10 Euro heraus, und zwar in einer Auflage von 17,95 Millionen Stück. Dies bedeutet einen Umsatz von rund 180 Millionen Euro. 30 Millionen Euro sollen dem Organisationskomitee der Fußball-Weltmeisterschaft zufließen. Auch abzüglich der Material-, Herstellungs- und Vertriebskosten sowie der 30 Millionen Euro für das Organisationskomitee wäre das eine beträchtliche Einnahme für den Finanzminister. Er nutzt also die Popularität des Sports. Er will mehr Einnahmen für sich behalten als dem Sport zuführen. Dies ist nicht in Ordnung. Schließlich ist der Käufer der Meinung, dass er durch den Kauf dieser Münzen den Sport unterstützt. Dies wäre auch angemessen, zumal, wie wir vorhin gehört haben, die rot-grüne Regierung die Sportförderung drastisch gekürzt hat. ({0}) Wir sind der Überzeugung, dass mindestens die Hälfte des Nettoertrages aus dem Verkauf der Sondermünzen oder besser sogar alles dem Sport zugeführt werden sollte. Dies dürften, realistisch betrachtet, bei einem Umsatz von 180 Millionen Euro rund 70 Millionen Euro sein. Abzüglich der 30 Millionen Euro für das Organisationskomitee wären dies 40 Millionen Euro, von denen wenigstens die Hälfte in den nächsten vier Jahren dem Sport zugute kommen sollte. ({1}) Die genauen Zahlen hat uns das Bundesministerium der Finanzen noch nicht geliefert. Aber es wäre zumindest ein Ansatz, auf den wir uns verständigen könnten. Was könnten wir mit dem Geld alles machen? Erstens. Das Stiftungskapital der Anti-Doping-Agentur könnte erhöht werden. Demzufolge müssten nicht mehr so hohe Zuschüsse vonseiten des Bundes geleistet werden. Zweitens. Das Leistungssportkonzept im Behindertensport könnte umgesetzt werden. Drittens. Die sportwissenschaftlichen Einrichtungen könnten gestärkt werden. Viertens. Der Nachwuchs könnte konsequenter gefördert werden. Fünftens. Die Dopingkontrollen könnten verdichtet werden. Ich hoffe hier auf Gesprächsbereitschaft der Koalition. Meine Damen und Herren, unser Land verfügt über sportwissenschaftliche Institute von hohem Rang: das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Bonn, das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig und schließlich das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin. Diesen Instituten kommt eine immer höhere Bedeutung im Spitzensport zu. Grundlagenforschung, direkte Auswertungen neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse am Athleten, im Wettkampf und im Training sowie bestes Material - das sind unerlässliche Voraussetzungen für eine internationale Spitzenleistung. Heute entscheiden Bruchteile von Sekunden, Zentimeter, gar Millimeter über Sieg und Niederlage. Ohne neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Umsetzung in die Praxis haben unsere Athleten einen ganz entscheidenden Wettbewerbsnachteil in Kauf zu nehmen. Wir müssen diese Institute stärken. Wir müssen sie auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand arbeiten lassen. Sie können dies, sie wollen dies - es fehlt allein an den Mitteln. Ich weiß mich Gott sei Dank im Einklang mit Winni Hermann, dass wir das im Laufe der nächsten Wochen und Monate erreichen wollen. ({2}) Die Direktoren aller Institute haben im Sportausschuss überzeugend dargestellt, dass sie schon heute den Anforderungen der Sportverbände nicht mehr nachkommen können. Die engen finanziellen Spielräume lassen dies nicht zu. Klaus Riegert hat es gesagt: Andere Sportnationen rüsten auf, wir rüsten ab: personelle Ausdünnung; kaum Möglichkeiten, neue, junge Wissenschaftler einzustellen. Forschung muss hintangestellt werden. Nahezu 90 Prozent der Zuwendungen werden für Personalkosten benötigt, obwohl ein personeller Abschmelzungsprozess erfolgt. Während früher unsere Institute Vorzeigeeinrichtungen waren und Nachahmer in aller Welt fanden, müssen sie heute auf Sparflamme kochen. Ein paar Worte zum Goldenen Plan Ost: Jeder Euro, der in den Sport investiert wird, ist ein guter Euro. So unterstützen wir auch den Goldenen Plan Ost. Wir haben die Beibehaltung der Mittel für 2003 beantragt, aber Sie haben eine Kürzung gewollt. Nun messen wir Sie an Ihren Leistungen und Versprechungen. 1998 haben Sie nämlich eine Unterstützung in Höhe von 50 Millionen Euro pro Jahr angekündigt. Fünf Jahre haben Sie allerdings gebraucht, diese 50 Millionen Euro aufzubringen. Es gab nur 10 Millionen Euro statt 50 Millionen Euro pro Jahr. Einschließlich der Komplementärmittel der Länder und Kommunen kommen Sie in fünf Jahren auf ganze 200 Millionen Euro. Das ist gemessen an Ihrem Wahlkampfversprechen, wonach es in fünf Jahren 250 Millionen Euro, zusammen mit den Komplementärmitteln sogar 750 Millionen Euro sein sollten, eine eher dürftige Bilanz. ({3}) Wichtiger aber ist: Trotz des Goldenen Plans Ost sind in den Sportstättenbau der neuen Länder weniger Mittel als vor 1998 geflossen. Investitionen in Sportstätten in den neuen Ländern werden überwiegend durch das Investitionsförderungsgesetz getätigt. Wir haben von 1995 bis 1998 immerhin 1,2 Milliarden Euro ohne den so genannten Goldenen Plan Ost aufgebracht; das ist eine wirklich hervorragende Bilanz. ({4}) Unsere Kritik richtet sich nicht gegen den so genannten Goldenen Plan Ost, sondern gegen die nachlassenden Investitionen in den Sportstättenbau der neuen Länder. Die Bundesregierung hätte sich dafür einsetzen müssen, dass mehr Mittel aus dem Investitionsförderungsgesetz in den Sportstättenbau fließen. Spätestens seit dem Sportbericht wissen wir, dass 70 Prozent der Sportstätten in den neuen Ländern sanierungs- oder renovierungsbedürftig sind. Wenn Sie also die Mittel für den Goldenen Plan Ost kürzen oder ganz streichen müssen, wäre es zumindest angezeigt, die Mittel aus dem Investitionsförderungsgesetz stärker zu nutzen. Das haben Sie zu wenig getan. ({5}) Noch ein paar Worte zum Doping: Die Gründung der Anti-Doping-Agentur ist ein Schritt in die richtige Richtung. So hoffen wir, dass das Bewusstsein im Kampf gegen Doping durch Präventionen gestärkt, das Kontrollsystem weiter ausgebaut und für eine einheitliche Sanktionierung bei Vergehen gesorgt wird. Wir hätten uns ein stärkeres finanzielles Engagement der Wirtschaft gewünscht und haben dies auch erwartet; denn Unternehmen, die mit zig Millionen Euro Sportarten sponsern, sollten auch einen nennenswerten Betrag zur Bekämpfung des Dopings aufbringen können. Das von Minister Schily im Vorfeld anvisierte Stiftungskapital in Höhe von 30 Millionen Euro wurde weit verfehlt. Mit den Erträgen allein - es handelt sich um 7 Millionen Euro - wird die Anti-Doping-Agentur den hohen Erwartungen nicht gerecht werden können. Die Bundesregierung muss klarstellen, wie sie eine solide Finanzierung in der Zukunft absichern will. Sorgen Sie dafür, dass zumindest ein Teil der Erlöse aus dem Münzverkauf als einmaliges Stiftungskapital der Anti-DopingAgentur zugeführt wird. ({6}) Kein Dopingkontrollsystem ist perfekt und wird es niemals sein können. Wir haben ein dichtes und effektives System, das jedem Vergleich standhalten kann. Länder mit einem Dopinggesetz kontrollieren kaum, sie verlassen sich auf das Gesetz. Sie haben wegen der geringen Kontrollen mehr Dopingfälle. Dies zeigt: Nur viele und unangemeldete Kontrollen haben eine abschreckende Wirkung. Daraus folgt: Wir brauchen kein Gesetz, aber durchaus eine Prüfung bestehender Regelungen, wenn sich Bedarf zeigt. Wir wollen mehr Kontrollen, vor allem im C- und DKader und im Nachwuchsbereich. Wir wollen die leistungsfähigen Kontrolllabore in Kreischa und Köln ausbauen und die Autonomie des Sports bei der Bekämpfung des Dopings erhalten. Der Dopingbekämpfung reden viele das große Wort, aber wenn es darum geht, die Mittel bereitzustellen, werden die Töne leiser. Nicht nur die Nationale Anti-Doping-Agentur leidet unter Geldmangel, auch die WADA, die Welt-Anti-Doping-Agentur, steht vor einem finanziellen Desaster, wenn man den Zeitungsmeldungen vom 2. Juni 2003 glauben darf. Viele Regierungen und nationale Sportverbände haben den Anti-Doping-Code beschlossen, aber sie stellen zumindest bisher nicht die notwendigen Mittel zur Verfügung. Die Bundesregierung hat hier einen guten Schritt in die richtige Richtung getan und Gelder zur Verfügung gestellt. Nach einem Zeitungsbericht hat sie bis heute allerdings nur 25 Prozent dieses Beitrags gezahlt. Sollte dies zutreffen, so sollte der ausstehende Betrag umgehend geleistet werden; denn in der Dopingbekämpfung ist nur der glaubwürdig, der auch die entsprechenden Mittel bereitstellt. ({7}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In der Sportpolitik sind wir uns in den Zielen weitgehend einig: Wir wollen den autonomen Sport in der Spitze und in der Breite und wir wollen den Sport dort subsidiär unterstützen, wo er unserer Hilfe bedarf. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gienger, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Im Unterschied zu Sportverbänden und dem Internationalen Olympischen Komitee haben wir hier oben keine Medaillen zu verteilen. Vielleicht darf ich mir aber den Hinweis erlauben, dass es schön wäre, wenn manch aktiver Sportler am Fernsehen mitverfolgt hätte, dass Sie hier am Rednerpult einen ähnlich überzeugenden Eindruck machen wie früher am Reck. Vielleicht verleitet das den einen oder anderen zur Nachahmung, sodass auch sie sich nach der aktiven Zeit als Sportler um die Sportpolitik kümmern. ({1}) Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Riegert, jetzt wundert es mich nicht mehr, dass wir bei der Olympiabewerbung mit Stuttgart so schlecht abgeschnitten haben. Wenn es nämlich eine Weltmeisterschaft im Bruddeln, im Meckern, geben würde, dann wären Sie wahrscheinlich Weltmeister. ({0}) Ich denke aber, dies hilft uns bei der konkreten Lösung und auch im Sport nicht weiter und kommt dem Sport nicht entgegen. Sport fasziniert und bewegt Jung und Alt. Im Sport kann verdient werden - manchmal nicht zu wenig, wenn man sich die Götter im Trikot auf dem Rasen, auf der Tartanbahn, auf dem Tennisplatz und im Ring anschaut -, er ist ein Wirtschaftsfaktor und in ihm steckt ein gehöriges Beschäftigungspotenzial. ({1}) Im Sport ist Fairplay wichtig, mit ihm können soziale Schranken überwunden werden. Sport und Bewegung halten fit und gesund, wenn man es in Maßen macht. Zurzeit läuft die Aktion „Ene mene meck - der Speck ist weg“. Dies sollten sich nicht nur die Kinder zu Herzen nehmen, sondern ich denke, auch wir Älteren täten gut daran, uns das auf die Fahnen zu schreiben. ({2}) - Darüber können wir nachher im Nachgang streiten. ({3}) Wie alles im Leben, so hat natürlich auch der Sport seine Licht- und Schattenseiten. Bei allem, was vorhin diskutiert wurde - es ging darum, was europäisch und international zu tun ist -, war für mich in der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ besonders das ungeheure ehrenamtliche Potenzial in den Sportvereinen und Verbänden faszinierend. Es gibt rund 27 Millionen Mitgliedschaften in 87 000 Turn- und Sportvereinen und 91 Mitgliedsorganisationen auf Bundes- und Länderebene. In diesen Vereinen werden insgesamt 240 Millionen Übungsstunden von circa 2,7 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern überwiegend ehrenamtlich abgehalten. Der Sportbund spricht von 2 bis 2,5 Millionen Menschen, die sich in den Vorständen ehrenamtlich engagieren. Erhebungen der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ haben ergeben, dass diese Zahl noch größer ist und dass sich insgesamt 6,6 Millionen Menschen in irgendeiner Form in den Vereinen ehrenamtlich betätigen. Diese Millionen Bürgerinnen und Bürger sind für mich die eigentlichen Sponsoren des Sports. ({4}) Ich denke, wir alle sind uns einig - das waren wir uns auch in der Enquete-Kommission -: Wenn wir diese Sponsoren nicht hätten, dann würde unsere Gesellschaft tatsächlich ärmer aussehen. Aufgrund dieser freiwilligen Arbeit und dieser Kultur der wechselseitigen Achtung und Zugehörigkeit werden Gemeinsinn und Werte entwickelt, die eben nicht an der Börse gehandelt werden und die den Zusammenhalt unserer Zivilgesellschaft bestimmen. Unsere Anerkennung und unser Dank gelten diesen Sponsoren. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Riegert - das ist das Tragische an der CDU/CSU -, haben wir diese Anerkennung und diesen Dank tatsächlich auch in konkrete Schritte umgesetzt. Es verwundert mich immer wieder, dass Sie sich zwar damit rühmen, etwas für das Ehrenamt zu tun, seltsamerweise es aber immer sozialdemokratische Bundeskanzler waren, die sich für den Sport stark gemacht haben. ({5}) Willy Brandt hat damals in den 70er-Jahren die Übungsleiterpauschale von 100 DM eingeführt. Helmut Schmidt hat diese Summe auf 200 DM erhöht. Danach hat es 20 Jahre lang gedauert, bis unter Gerhard Schröder die Übungsleiterpauschale auf 300 DM erhöht wurde. Es war richtig, dass wir diesen Weg gegangen sind und über die Übungsleiter hinaus auch den Kreis der Betreuer in die Pauschale einbezogen haben. Ich glaube, Sie waren in Ihrer Rede nicht ganz redlich, Herr Riegert, als Sie meinten, in Ihren Vereinen fließe kein Geld; ich habe andere Erfahrungen gemacht. Wir haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass die Vereine auf eine bessere Grundlage gestellt wurden: Bürokratie konnte abgebaut werden, das Durchlaufspendenverfahren wurde abgeschafft, die Möglichkeit eröffnet, Rücklagen zu bilden. Mit diesen Schritten sind wir der Sport-Community entgegengekommen, die einen großen Teil des sozialen Kapitals in unserer Gesellschaft darstellt. Wir werden diesen Schatz an sozialem Kapital in den Sportvereinen und -verbänden hüten und weiter pfleglich behandeln. Wir werden in dieser Legislaturperiode die Empfehlungen der Enquete-Kommission, die für den Sport gelten, im Dialog mit den Verbänden und Vereinen gemeinsam umsetzen. Ich freue mich, dass der Deutsche Sportbund das Thema Ehrenamt auf seiner Hauptausschusssitzung im Dezember behandeln wird und dass der Deutsche Fußball-Bund die Aktion „Vitamin Ehrenamt“ auf den Weg gebracht hat. Dies zeigt, dass nicht nur die Politik gefordert ist, mit Gesetzen tätig zu werden, sondern dass sich die Positionen, die wir in der Enquete-Kommission erarbeitet haben, auch die Vereine und Organisationen zu Eigen machen müssen, damit wir diesen Weg im Gleichklang weitergehen können. Ich wünsche mir, dass Sie, Herr Riegert, und die anderen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU nicht bruddeln, sondern dass Sie mit uns gemeinsam an einem Strang ziehen. ({6}) Nur auf diese Art und Weise können wir dem Ehrenamt und dem bürgerschaftlichen Engagement Rechnung tragen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Riegert hat um das Wort für eine Kurzintervention gebeten.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Kumpf, es mag schon sein, dass ich Kritik nicht so charmant wie Sie herüberbringen kann und dass es dann, wie man im Schwäbischen sagt, bruddelig wirkt. Aber ich will festhalten, dass Ihre Landesvorsitzende, Frau Staatssekretärin Vogt, und ich gemeinsam dafür gekämpft haben, Stuttgart ins Rennen um die Austragungsstadt für Olympia zu schicken. Jetzt erkennen wir fairerweise an, dass Leipzig gewonnen hat, und unterstützen diese Bewerbung. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es bei der steuerlichen Behandlung von Sportgroßveranstaltungen konkreten Handlungsbedarf gibt. Zum Beispiel geht es darum, für die Weltreiterspiele 2006 in Aachen - für Reiter das Ereignis überhaupt - ähnliche Beschlüsse zu fassen, wie wir das für die Fußball-Weltmeisterschaft gemacht haben. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern ein Verfahren entwickeln, damit unsere Sportverbände Veranstaltungen nach Deutschland holen können. Dadurch würde auch die Bewerbung Leipzigs unterstützt. Wenn wir das gemeinsam tun, dann werde ich Sie loben. Wenn Sie das nicht mitmachen, dann werde ich mir die Freiheit nehmen, das zu kritisieren. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung, bitte schön, Frau Kumpf.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Riegert, dass Stuttgart nicht zur Bewerberstadt Deutschlands für die Olympiade gewählt wurde, schmerzt mich bis heute besonders. Ich hatte nämlich schon die 300 Stimmen aus Peking - die genaue Zahl weiß ich nicht mehr - sicher; das wurde mir seinerzeit beim deutsch-chinesischen Menschenrechtsdialog zugesichert. Deswegen finde ich das schade. Aber was ich bei meiner Eingangsbemerkung zum Ausdruck bringen wollte, war: Wenn Sie aus der Opposition im Bereich des Sports nur Wert darauf legen, dass Sie bruddeln können, und nicht den Fairplay und die positiven Elemente würdigen, dann haben wir schlichtweg schlechte Karten, das gemeinsam auf den Weg zu bringen. Das beziehe ich jetzt auch auf Stuttgart. Stuttgart war einfach schlecht aufgestellt. Als Mitglied des Kuratoriums hätte ich mir manchmal mehr Luftigkeit und Leichtigkeit der politischen Spitze gewünscht. Wir haben es eben nicht geschafft. Ich bin aber ganz zuversichtlich: Wir haben eine Staatssekretärin, die sich in diesen Bereich inzwischen hervorragend eingearbeitet hat und die großen Respekt bei den Verbänden genießt; das konnte ich bei meinen letzten Gesprächen mit Herrn von Richthofen schriftlich bekommen. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam den Weg, die Olympiade in Leipzig auszurichten, ebnen können, wenn wir uns alle fröhlich, mit Fairplay, mit Mut und Engagement dahinter stellen. Dazu sind auch Sie eingeladen. Dann können wir im internationalen Geschäft - die Bruddelei beiseite gelassen - tatsächlich vorne mitspielen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zum 10. Sportbericht der Bundesregierung auf Drucksache 15/952. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Sportberichts der Bundesregierung auf Drucksache 14/9517 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes - Drucksache 15/812 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes - Drucksache 15/1070 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) - Drucksache 15/1199 Berichterstattung: Gerald Weiß ({3}) Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Zeit von 30 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen für die SPD-Fraktion.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorgesehenen Änderungen im Siebten Sozialgesetzbuch, die wir heute beschließen, sind nicht nur dringend notwendig, sondern sie werden sich auch auf alle Beteiligten positiv auswirken. Wie kann es zu einer solchen Winwin-Situation kommen? Das Siebte Sozialgesetzbuch, die deutsche Unfallversicherung, funktioniert nach dem Prinzip einer Haftpflichtversicherung. Der Arbeitgeber schließt zugunsten seiner Arbeitnehmer eine solche Haftpflichtversicherung ab. Damit sind diese im Falle von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sozial abgesichert. Dieses Prinzip der deutschen Unfallversicherung ist ein großer Erfolg. Die Zahl der betrieblichen Unfälle ist stetig zurückgegangen. Geringe Fehlzeiten und niedrige Versicherungsbeiträge haben die Kosten gesenkt. Doch, was lange währt, wird halt nicht immer gut. Tiefgreifende Veränderungen in unserem Wirtschaftsleben machen sich auch im System der sozialen Sicherung bemerkbar. Das gilt auch für die Unfallversicherung. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Einführung neuer Technologien, die Abwanderung von Märkten - all das wirkt sich auf unser System der sozialen Sicherung aus. Für das branchengegliederte System der Unfallversicherung führt dieser Wandel zu Verschiebungen, die sich in den einzelnen Gewerbezweigen besonders nachteilig auswirken. Besonders betroffen ist der gewerbliche Bereich. Mit Sorge beobachten wir eine negative Entwicklung in der Baubranche. Diese hat zurzeit einen starken Beitragsanstieg zu verkraften. Altlasten aus früheren Zeiten und die lahmende Konjunktur belasten ein Gewerbe mit rückgängigen Beschäftigtenzahlen. Die Ausgaben laufen unvermindert weiter, gleichzeitig droht aber die Einnahmeseite wegzubrechen. Diesem Handlungsbedarf tragen meine Fraktion und die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Rechnung, und zwar auf zweierlei Art und Weise. Erstens wird das Finanzausgleichsverfahren deutlich ausgeweitet. Berufsgenossenschaften, bei denen sich das Verhältnis zwischen Rentenleistungen und Arbeitsentgelten deutlich schlechter als im Durchschnitt entwickelt, werden künftig stärker entlastet. Hiervon profitieren insbesondere die Bauberufsgenossenschaften. Stärker zahlen müssen dagegen die Unternehmen in Berufsgenossenschaften aufstrebender Dienstleistungsbranchen. Ein weiteres Kriterium, die Altrentenquote, befreit von der Zahlungsverpflichtung im Ausgleichsverfahren. Insgesamt werden die Berufsgenossenschaften der Bauwirtschaft so um voraussichtlich 70 Millionen Euro jährlich entlastet. 20 Millionen Euro entfallen auf den Wegfall von Zahlungspflichten und 50 Millionen Euro sind echte Zahlungen, die sie erhalten. Zweitens werden finanzielle Anreize für den Zusammenschluss von Berufsgenossenschaften gesetzt. Notleidende Berufsgenossenschaften sollen dazu bewegt werden, zu fusionieren. Dies betrifft wiederum die regional stark gegliederten Berufsgenossenschaften der Bauwirtschaft. Diesen Zusammenschluss erwarten die zahlungspflichtigen Branchen als Beitrag zu einer nachhaltigen Lösung. ({0}) Die Konzeption des Lastenausgleichs beruht auf einem Vorschlag der Selbstverwaltung. Alle Beteiligten haben eine Basis geschaffen, auf die sich unser Gesetzentwurf stützen konnte. Darin sehe ich ein überzeugendes Beispiel dafür, wie die Selbstverwaltung in einem gegliederten System eine Krise durch Konsens meistert. Die FDP fordert in ihrem Entschließungsantrag eine Privatisierung der Unfallversicherung. Das ist keine Forderung, die uns überrascht, aber sie verfehlt wieder einmal den Kern des Problems. Denn wenn in einzelnen Branchen die Beiträge zur Unfallversicherung steigen, so entspricht das nicht dem Haupttrend. Ein Blick auf sämtliche Gewerbezweige zeigt nämlich, dass sich die Beiträge über die Jahre hinweg stabil verhalten: Lag der Durchschnittsbeitrag in den 80er-Jahren noch durchweg bei 1,4 Prozent der Lohnsumme, so ist er in der Folgezeit sogar leicht gesunken, und zwar auf derzeit 1,3 Prozent. Wenn die Belastung in anderen Branchen diesen Durchschnittsbeitrag noch unterschreitet, dann sehe ich hierin die Legitimation, auch bei ihnen Solidarität einzufordern. Welche Auswirkungen wird diese neue solidarische Lastenverteilung mit sich bringen? Die Wirkungen des neuen Lastenausgleichs für die einzelnen Branchen werden von der weiteren Entwicklung - auch von der Konjunkturentwicklung - abhängen. Gegebenenfalls werden die Voraussetzungen für den Lastenausgleich unter bestimmten Bedingungen verändert werden müssen. In diesem Zusammenhang nenne ich die Altrentenquote, die auch eine Ausgleichsberechtigung auslösen könnte. Ob eine solche Änderung künftig erforderlich wird, hängt aber, wie gesagt, von der weiteren Entwicklung ab. Anders als es der Entschließungsantrag der Unionsfraktion nahe legt, sehen wir derzeit keinen entsprechenden Bedarf. Ich bitte Sie daher, dem Antrag in diesem Punkt Ihre Zustimmung nicht zu erteilen. Im Übrigen enthält der Entschließungsantrag eine Reihe von Punkten, denen wir zustimmen könnten. Das wird sich sicherlich in der nachfolgenden Abstimmung zeigen. Auch in anderen Sozialleistungsbereichen sieht der vorliegende Gesetzentwurf Änderungen vor. Ich erwähne nur den Anreiz für die Arbeitgeber im Rahmen der Ausbildungsinitiative der Bundesregierung, noch in diesem Jahr mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen. Der Sozialversicherungsbeitrag wird zugunsten der Ausbildungsbetriebe wieder auf das alte Recht zurückgeführt. Vor allem in den neuen Ländern wird sich das positiv auf die Bereitschaft der Betriebe auswirken, Ausbildungsplätze anzubieten. Das gilt schon für das im August beginnende Ausbildungsjahr. Die Ausbreitung von Arbeitszeitkonten wird von uns weiter gefördert. Die Auflösung von Langzeitkonten beim Wechsel des Arbeitsplatzes wird um ein halbes Jahr hinausgeschoben. Das dient den tariflichen Vereinbarungen in den einzelnen Branchen, Langzeitkonten auch nach einem Wechsel des Arbeitsplatzes fortzuführen. Außerdem wird der Insolvenzschutz in diesem Bereich durch eine Informationspflicht der Arbeitgeber verbessert. Diese Änderung ist besonders wichtig; denn wir mussten gerade in jüngster Vergangenheit erleben, dass Arbeitnehmer im Falle des Konkurses ihres Arbeitgebers leer ausgegangen sind. Wir haben auch die Grenze der Wertguthaben von circa 7 500 Euro, unterhalb der eine Insolvenzsicherung bisher nicht möglich war, tariflich geöffnet. Dies bedeutet, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften auch niedrigere Beiträge als 7 500 Euro zur Absicherung in den Insolvenzschutz aufnehmen können. Besonders in diesem Bereich werden wir aber die Entwicklung weiter beobachten müssen. Der Pensionsfonds als neuer Durchführungsweg der betrieblichen Altersvorsorge wird gestärkt: Die Kosten für den Insolvenzschutz werden so ermäßigt, dass eine betriebliche Altersvorsorge über diesen Weg deutlich attraktiver wird. Persönlich bin ich schließlich darüber erfreut, das wir einigen Petitionen benachteiligter Witwen im Bereich der Alterssicherung der Landwirte entsprechen und den Beschwerden abhelfen können. Dies wird eine Petentin aus Münzingen sicherlich besonders freuen; denn sie kämpft seit 1996 für die Beseitigung eines Fehlers, den der Gesetzgeber bei der Neugestaltung der Alterssicherung in der Landwirtschaft gemacht hat. Wir heben ihn auf. Dieser Fall - diese Frau hat ihren Mann verloren, den landwirtschaftlichen Betrieb weitergeführt; plötzlich bekam sie nur noch 120 DM Rente, obwohl sie ursprünglich 600 DM erhalten sollte - war mit einer großen Ungerechtigkeit verbunden. Insgesamt stelle ich fest, dass bei diesem Gesetzgebungsverfahren eine große Bereitschaft zu erkennen war, sachgerechte Lösungen für die Probleme der Unfallversicherung zu finden. Wir werden die weitere Entwicklung aufmerksam beobachten. Von der Bundesregierung erwarten wir entsprechende Vorschläge, wenn sich zeigt, dass der Lastenausgleich nicht genügt und dass nachzusteuern ist. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Dreßen, es gibt einen - allerdings begrenzten - Konsens: Die Geschichte der gesetzlichen Unfallversicherung ist insgesamt eine Erfolgsstory. Damit sie es bleiben kann, müssen wir kurzfristig und auch mittelfristig wichtige gesetzgeberische Entscheidungen treffen. Sie haben Recht: Die Anzahl der Berufs- und Arbeitsunfälle ist, langfristig gesehen, zurückgegangen; die Versicherungsbeiträge sind gemessen an denen in anderen Sektoren insgesamt relativ stabil. Das ist ein großer Erfolg der Prävention. Die Prävention ist wiederum ein großer Erfolg der Sozialpartnerschaft, also der Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in den Berufsgenossenschaften. In einigen Branchen, vor allem in der Bau- und in der Textilwirtschaft, gibt es schwere Strukturkrisen. Das hat dazu geführt, dass immer größere Lücken zwischen Beitragseinnahmen auf der einen Seite und Versicherungsleistungen auf der anderen Seite klaffen, dass dieses Verhältnis sozusagen immer windschiefer wird. Eine Folge dessen ist das Ansteigen von Beitragssätzen, was diese Betriebe am allerwenigsten verkraften können. Der Ansatz, der dem vorliegenden Gesetz zugrunde liegt, ist deshalb richtig: Wir müssen den Lastenausgleich zwischen den stärkeren und den schwächeren Branchen verbessern. Dafür wollen wir - Selbstverwaltung, die Bundesländer und die große Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses - gemeinsam sorgen. Kollege Dreßen, wir sind der Überzeugung, dass der vorliegende Gesetzentwurf hier und heute zwar ein notwendiger, leider aber kein hinreichender Schritt ist. Das System des Lastenausgleichs zwischen den hoch belasteten Berufsgenossenschaften muss effektiver werden. Der vorgeschlagene Weg zur Verbesserung dieses Lastenausgleichs wird nicht zum Erfolg führen. Das ist unsere feste Überzeugung. Für Betriebe, die zum Teil wirklich auf der Kippe stehen, geht kostbare Zeit verloren. In dieser Zeit wollen Sie - das haben Sie eben noch einmal zugesichert - die Entwicklung weiter beobachten. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, den Lastenausgleich gleich wirksamer zu gestalten. Unser Vorschlag sieht vor, dass die Altrentenquote nicht nur Kriterium für die Freistellung von Ausgleichsverpflichtungen, sondern auch Auslösekriterium für die Ausgleichsberechtigung ist. Sie haben auf die Wirkungen des von Ihnen geplanten Lastenausgleichs verwiesen. Durch das, was Sie vorhaben, werden 70 Millionen Euro für die Bauwirtschaft bewegt. Das ist nachweisbar zu wenig und wird nicht wirksam sein. ({0}) Auch wenn wir heute zustimmen, weisen wir darauf hin, dass das, was beschlossen wird, nur einen Minimalkonsens darstellt. Das ist zwar besser als gar nichts, aber von einer optimalen Lösung weit entfernt. Es muss nicht nur einen verbesserten Lastenausgleich, sondern auch mehr Effizienz geben. Zu mehr Effizienz kommt es nur, wenn bei den 34 gewerblichen Berufsgenossenschaften sozusagen eine Flurbereinigung stattfindet. Wir müssen die Zahl der Berufsgenossenschaften also senken, um Synergien zu gewinnen. Wir müssen Anreize schaffen, um Fusionen und Zusammenschlüsse zu erleichtern. Das, was der Gesetzentwurf in diesem Bereich vorsieht, ist zwar in Ordnung. Aber es ist fraglich, ob der Schub, den Ihre Bestimmungen auslösen werden, ausreicht, um die Struktur insgesamt zu stärken und die Wirtschaftsbereiche mit schwieriger Zukunft - das sind einige - vorzubereiten. Es soll außerdem gelten - ich glaube, auch darüber besteht Konsens -: Selbstverwaltung hat Vorfahrt. Wer Vorfahrt hat, muss aber auch fahren. In den Berufsgenossenschaften muss sich dringend etwas bewegen, wenn die Strukturen verbessert werden sollen. Unsere Gesamthaltung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf ist ein „Ja, aber“. Der Entwurf stellt ein Minimum, aber nicht das notwendige und eigentlich erreichbare Optimum dar. Momentan kann man von Ihnen nicht mehr erwarten. Sie haben in Aussicht gestellt, die Entwicklung bis zum Herbst dieses Jahres zu beobachten. Es wird also kostbare Zeit verstreichen. Wir sind überzeugt, dass wir uns bei Philippi wiedersehen und dass Sie im Herbst Ihrer Lieblingsbeschäftigung - daran sind Sie gewöhnt; das ist ja eine stehende Übung bei Ihrer Gesetzgebungsarbeit - nachgehen müssen: dem Nachbessern. Wir haben in unserem Entschließungsantrag nicht nur den aktuellen Reformbedarf aufgezeigt, sondern auch weite Felder abzudecken versucht, auf denen - über den heutigen Tag hinaus - Reformen notwendig sind. Ich bekräftige heute noch einmal - die Ausschussberatung war ja insgesamt relativ positiv - unser Angebot zur Zusammenarbeit. Trotz der Einschränkungen und Vorbehalte, die ich erwähnt habe, stimmen wir zu. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weiß, wir sind uns ja im Prinzip einig. Angesichts der Tatsache, dass die Sozialversicherung sonst sehr stark in der Kritik steht, freut es mich, dass wir uns heute mit einem Sozialversicherungszweig beschäftigen, der unter dem Strich effektiv und effizient ist und der durch seit Jahren sinkende Durchschnittsbeiträge und verbesserten Arbeitsschutz vonseiten der Unternehmen gekennzeichnet ist. Es freut mich auch, dass wir uns in der Bewertung - dies eine Erfolgsgeschichte, auch wenn der Strukturwandel Veränderungen notwendig macht - hier weitgehend einig sind. Es war aber nicht nötig, dass Sie uns an dieser Stelle Ihre alt bekannten Vorwürfe machen: Wenn wir zu viel regeln, werfen Sie uns Aktionismus vor. Wenn wir aber in Ruhe die weitere Entwicklung abwarten und analysieren - das ist in diesem Fall sicherlich berechtigt -, um später gezielt nachzusteuern, dann werfen Sie uns vor, dass wir konzeptlos nachbesserten. Ich denke, es ist hier nicht notwendig, mit solchen Sottisen über uns herzuziehen. ({0}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Ausgleichsverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung neu gestaltet. Damit kommen wir der Baubranche entgegen, die in den letzten Jahren durch den Abbau von Überkapazitäten geschrumpft ist. Hier gibt es einen hohen Bestand an Altfällen - das haben schon meine Kollegen dargelegt -, sodass die Einnahmen nicht mehr die Ausgaben decken. Ich glaube, dass ich auf das Prinzip und die technischen Einzelheiten nicht näher eingehen muss, weil das bereits meine Vorredner ausreichend getan haben. Ich möchte stattdessen kurz auf einen anderen Teil des Gesetzespakets eingehen, der auch mit der geplanten Gesetzesänderung neu geregelt wird. Wir werden durch eine entsprechende Änderung des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch die Geringverdienergrenze bei den Ausbildungsverhältnissen wieder auf die ursprüngliche Höhe von 325 Euro senken. Es hat sich nämlich in den letzten zwei Monaten gezeigt, dass die zum 1. April dieses Jahres wirksam gewordene Anhebung der Geringverdienergrenze ein falsches Signal an die Betriebe gegeben hat, obwohl die Belastung für die Unternehmen maßvoll war. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern wurden die Arbeitgeber dadurch belastet, dass sie für eine gewisse Zahl von Ausbildungsverhältnissen, insbesondere im ersten Ausbildungsjahr, die Sozialversicherungsbeiträge allein tragen müssen, nachdem das vorher anteilig getragen worden war. Insofern war ihre Belastung vorher geringer. Ziel der rot-grünen Bundesregierung ist es, alle Ausbildungshemmnisse abzubauen, damit die Unternehmen ihrer gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung zur Ausbildung wieder besser gerecht werden können. Wir werden dieses vorwiegend psychologische, in gewissem Maß aber auch finanziell wirksame Ausbildungshemmnis abbauen und werden die Geringverdienergrenze, bis zu der der Arbeitgeber den Gesamtsozialversicherungsbeitrag für den Auszubildenden allein trägt, wieder auf den ursprünglichen Wert von 325 Euro senken. Das war eine Forderung von Ihnen, die Sie im Ausschuss vorgetragen haben. Wir kommen dem nach, sind uns also auch in dieser Frage einig. Sie sehen, dass wir an einzelnen Punkten Ausbildungshemmnisse gezielt ansteuern und abbauen. Wir halten es aber nicht für richtig, etwa Ausbildungsvergütungen abzusenken, wie das von Ihnen noch zusätzlich gefordert wird. Gerade in den ersten Ausbildungsjahren liegt die Ausbildungsvergütung eher im Bereich der Vergütung von Minijobs und noch darunter. Wir schlagen mit dieser Änderung den moderaten und richtigen Weg zum Abbau von Ausbildungshemmnissen ein. Wir werden auf diesem Weg auch weitergehen. Danke. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rot-grüne Koalition hat vor einem Jahr in ihrem Koalitionsvertrag eine Reform der gesetzlichen Unfallversicherung angekündigt. Was Sie uns vorlegen, Herr Kurth, ist lediglich eine zugegebenermaßen notwendige, aber der Form nach unzureichende Neujustierung des Lastenausgleichs zwischen den Berufsgenossenschaften. ({0}) Sie müssen sich hier schon die Frage nach der Ernsthaftigkeit Ihres Reformwillens stellen lassen. ({1}) In der Bauindustrie hat die Beitragssatzsteigerung im Jahr 2002 über 9 Prozent betragen. Unsere Sorge ist - da stimme ich dem Kollegen Weiß zu -, dass für diese Branche die in Ihrem Entwurf vorgesehene Änderung des Lastenausgleichs nicht ausreichend ist. Wir fragen, warum die Ihnen vom Bundesrat aufgegebene Änderung des § 176 SGB VII, nämlich die Aufnahme der Altrentenquote als ausgleichsberechtigten Faktor, in ihrem Gesetzentwurf nicht berücksichtigt wird. Gerade in den sich in der Krise befindlichen Branchen des Landes sind die Rentenaltlasten besonders drückend und bedürfen einer Regelung. Die Altrentenquote als Grund für die Freistellung reicht nicht aus. Wir brauchen die Altrentenquote als ausgleichsberechtigten Faktor. Das werden auch Sie über kurz oder lang, wahrscheinlich noch im Verlaufe des Jahres, einsehen müssen. Sie haben sich nicht getraut - ich deutete es bereits an -, über diese eher begrenzte Änderung hinaus echte Reformen in der gesetzlichen Unfallversicherung anzugehen. Das wundert mich umso mehr, als Sie in der Einleitung geschrieben haben, Herr Kollege Dreßen, alles sei im Umbruch, alles fließe, die Dinge änderten sich. Sie ziehen daraus aber nicht die Konsequenzen. Jedenfalls haben Sie sich im Ausschuss der von uns angestoßenen Diskussion zu strukturellen Änderungen verweigert. Deswegen sehe ich die Gefahr, dass Sie hier wie auch in anderen Sozialversicherungszweigen die Zeichen der Zeit übersehen und erst handeln, wenn es zu spät ist. Das muss nicht sein. Die Vorschläge sind auf dem Tisch. Warum wollen wir eine solche strukturelle Änderung? Weil, wie jeder weiß, seit der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung erstens die Definition des Versicherungsfalls, zweitens der Leistungskatalog und drittens auch der versicherte Personenkreis zunehmend ausgeweitet worden sind. Wir fordern eine klare Differenzierung zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko und betriebsspezifischen Risiken. Wir wollen eine Fokussierung des Wegeunfallrisikos durch Präzisierung der Tatbestände und Umgestaltung auch der finanziellen Absicherung. Wir halten eine schärfere Definition des Versicherungsfalls „Berufskrankheit“ durch eine Konkretisierung der Tatbestände in der Berufskrankheitenliste für notwendig. Warum können wir nicht gemeinsam über eine obligatorische Abfindung von Renten bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um weniger als 35 Prozent als Abgeltung des erlittenen Gesundheitsschadens nachdenken? Warum können wir nicht über eine Ausrichtung gezahlter Verletztenrenten am konkreten Erwerbsschaden und damit auch über eine Relativierung der Pauschalierung reden, wie sie in der gesetzlichen Unfallversicherung derzeit gang und gäbe ist? Warum können wir nicht über eine Begrenzung der Zahlung von Verletztenrenten auf die Zeit der Erwerbstätigkeit sprechen? Das alles sind Punkte, die, auch wenn Sie, Herr Dreßen, es heute noch nicht wahrhaben wollen, ({2}) über kurz oder lang auf der Tagesordnung stehen werden. Wir sind zum Dialog bereit, aber diesem relativ schmalbrüstigen Änderungsvorschlag, den Sie heute vorlegen, können wir nicht zustimmen. Wir werden uns allenfalls enthalten. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute zu beratende Entwurf eines SGB-VIIÄnderungsgesetzes zur gesetzlichen Unfallversicherung weist grundlegend in die richtige Richtung, geht uns aber noch nicht weit genug. Zentraler Punkt des nun vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Regelung des Lastenausgleichs zwischen den 35 gewerblichen Berufsgenossenschaften. Die Entwicklung in der Baubranche in den letzten Jahren hat gezeigt, dass diese zu den am meisten in ihrer Existenz gefährdeten Branchen gehört. Insbesondere äußere Einflüsse machen ihr zu schaffen: höhere steuerliche Belastungen wie immer bei Rot-Grün - ich nenne nur die Ökosteuer -, die schlechte konjunkturelle Gesamtlage in Deutschland, die steigenden Lohnnebenkosten, die Konkurrenz durch Schwarzarbeit oder auch das Hin und Her bei der Eigenheimzulage, über die in den letzten Wochen ständig diskutiert wurde und die Minister Eichel komplett streichen will. Das ist nur ein Ausschnitt von Negativpunkten dieser Bundesregierung. Dies spiegelt sich vor allem auch in den Einnahmen der Betriebe, besonders der aus der Baubranche, wider. Die finanzielle Situation der Berufsgenossenschaften in Bayern und Sachsen zum Beispiel hat sich dramatisch verschlechtert. Die Lohnsumme der Mitgliedsunternehmen ist von 1995 bis 2001 um rund 70 Prozent gesunken. Im Gegenzug dazu sind die Beiträge ebenso heftig angestiegen: in der Gefahrenklasse 1 etwa um 58 Prozent; und das, obwohl zur Stützung des Beitrags finanzielle Mittel aus Betriebsmitteln und Rücklagen entnommen worden sind. Im Klartext heißt das: Die finanziellen Polster sind bald aufgebraucht, aber die Beiträge steigen trotzdem weiter. Gerade die Baubranche, bei der ich jetzt einmal bleibe, ist gegenüber anderen Branchen stärker belastet. Der durchschnittliche Beitragssatz der Bauunternehmen liegt derzeit mit 3,5 Prozent fast dreimal so hoch wie der Durchschnittsbeitrag von 1,3 Prozent in der Unfallversicherung. Meine Damen und Herren, es liegt doch auf der Hand, dass hier schnellstmöglich ein Ausgleich geschaffen werden muss, aber nicht mit einem kleinen Reförmchen. Uns von der CDU/CSU ist es gelungen, einige Maßnahmen in den Vorgesprächen durchzusetzen. Das Wichtigste war die Rücknahme der Erhöhung der so genannten Geringverdienergrenze zum 1. August 2003, die im Rahmen der neuen Minijobregeln zum 1. Januar 2003 für Lehrlinge von 325 Euro auf 400 Euro heraufgesetzt worden war. Diese Erhöhung hatte insbesondere zu einer Mehrbelastung der Ausbildungsbetriebe geführt. Die Union hatte in ihrem Antrag mit dem Titel „Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken - Verteuerung der Ausbildung verhindern“ diesen Schritt gefordert; denn der, der heutzutage ausbildet, soll nicht durch noch höhere Abgaben bestraft werden. Ein weiterer Fortschritt ist die Aufnahme der betrieblichen Altersversorgung in den Alterssicherungsbericht. Denn bisher fehlt mangels einer konkreten Untersuchung genaues Zahlenmaterial. Eine umfassendere Untersuchung zur betrieblichen Altersvorsorge soll nun im Rahmen des Alterssicherungsberichtes im Jahre 2005 erscheinen. Diese Ausdehnung der Berichtspflicht auf die Betriebsrenten ist enorm wichtig; denn die Arbeitnehmer müssen sich auf deren Rentabilität verlassen können. Eine weitere erhebliche Änderung wird im Bereich des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersvorsorge vorgenommen. Über einen Pensionsfonds aufgebaute Betriebsrenten sind nämlich über den PensionsSicherungs-Verein insolvenzgeschützt. Die Wahrscheinlichkeit einer Ausfallhaftung bei einer solchen betrieblichen Altersversorgung ist aber ungleich geringer als bei einer Direktzusage durch den Arbeitgeber. Daher ist es angebracht, die Bemessungsgrenze für Pensionsfondszusagen auf 20 Prozent des Betrags bei Direktzusagen abzusenken. Der Insolvenzschutzbeitrag ist somit kein Wettbewerbsnachteil des Pensionsfonds mehr gegenüber anderen Durchführungswegen. Die Grundtendenz im Gesetzentwurf stimmt. Die Frage ist hier, ob die von der Bundesregierung zur Entlastung der Bauwirtschaft geplanten Maßnahmen in der Praxis auch weit genug gehen. Nach derzeitigen Prognosen muss die Bauwirtschaft längerfristig durch den Strukturwandel mit stetig sinkenden oder zumindest stagnierenden Lohnsummen rechnen. Im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen muss sie jedoch von hohen Beiträgen zur Unfallversicherung ausgehen. Ist bereits jetzt absehbar, dass manche Maßnahmen nur mittelfristig greifen, so müssen diese unbedingt überarbeitet werden. Ein Beispiel ist hier die neu eingeführte Altrentenquote: Die Entlastung, die sich allein aus einer begrenzten oder wegfallenden Ausgleichspflicht ergibt, ist für Berufsgenossenschaften mit hohem Altrentenanteil äußerst gering. Wir fordern daher, zu beobachten, ob der Lastenausgleich beizeiten angepasst werden muss. Dies kann etwa geschehen, indem die Altrentenquote auch bei der Ausgleichsberechtigung berücksichtigt wird. Ferner fordern wir, die sich durch die strukturellen Verschiebungen wandelnden Organisationsstrukturen zu verändern. Sie sollten in Anlehnung an die Wirtschaftszweige gestrafft werden und an den Erfordernissen der Prävention orientiert werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. Nur so, meine sehr verehrten Damen und Herren, kann die gesetzliche Unfallversicherung fit gemacht werden für die sich ständig wandelnden Bedingungen des europäischen Binnenmarktes, aber auch insbesondere für die EU-Osterweiterung. Die Schwierigkeiten für die sozialen Sicherungssysteme ziehen sich durch sämtliche Branchen. Lassen Sie es uns angehen, den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung für alle Berufsgenossenschaften auch in Zukunft zu sichern. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes, Drucksache 15/812. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1199, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1211? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1228? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes, Drucksache 15/1070. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1199, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Präsident Wolfgang Thierse Goldmann, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rahmenbedingungen für Waldbesitzer und mittelständische Holzwirtschaft verbessern - Eigentumsrechte stärken - Drucksache 15/941 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Christel Happach-Kasan das Wort.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Holz - das wissen wir - ist der bedeutendste nachwachsende Industrierohstoff in Deutschland. Jährlich werden 40 Millionen Kubikmeter geerntet; es wachsen 58 Millionen Kubikmeter nach. Für jede Nachhaltigkeitsstrategie ist daher Holz und damit die Frage der Bewirtschaftung unserer Wälder von ganz zentraler Bedeutung. Für die Bundesregierung hat der Wald erkennbar nur nachrangige Bedeutung. Das zeigte nicht nur die Bemerkung des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPDFraktion in der gestrigen Debatte, der meinte, unseren Antrag nennen zu müssen. Das zeigt insbesondere die Tatsache, dass in dem vom Bundeskanzler einberufenen Rat für nachhaltige Entwicklung weder der Forstwirtschaftsrat noch die Waldbesitzerverbände, der Forstverein oder der Holzwirtschaftsrat vertreten sind. Eine Nachhaltigkeitsstrategie ohne die Berücksichtigung des wichtigsten nachwachsenden Rohstoffes Holz kann bei uns jedoch nicht erfolgreich sein. Nachhaltige Entwicklung in Deutschland ohne die Forstwirtschaft funktioniert nicht. Vor diesem Hintergrund verwundert es überhaupt nicht, dass im Koalitionsvertrag das Stichwort „nachwachsende Rohstoffe“ fehlt. Die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen deutlich, dass die Holzpreise in Deutschland seit 1995 im Bereich des Stammholzes um 12 Prozent und im Bereich des Industrieholzes um 8 Prozent gesunken sind. Vor diesem Hintergrund fordert die FDP die Bundesregierung auf, die Rahmenbedingungen für Waldbesitzer und die mittelständische Holzwirtschaft zu verbessern. ({0}) Dazu gehört für uns, dass das Bundeswaldgesetz als Rahmenrecht erhalten bleibt. Es dürfen keine weiteren Regulierungen die Handlungsfreiheit der Waldbesitzer einschränken. Erstens gibt es dafür keinen Grund; denn die bestehenden Regelungen haben sich als erfolgreich erwiesen. ({1}) Zweitens ist die Situation auf dem Holzmarkt so angespannt, dass bei weiteren Regulierungen notwendigerweise mit einem Abbau von Arbeitsplätzen zu rechnen ist. Das können wir uns nicht leisten. ({2}) Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen ist es geboten, Arbeitsplätze im Land zu halten, und nicht, weitere zu exportieren, wie das in den Bereichen Transrapid, grüne Gentechnik, Forschung, Geflügelhaltung und anderen Wirtschaftsbereichen bereits geschehen ist. Der Waldbesitzerverband teilt die Befürchtungen der FDP. Er macht gezielt darauf aufmerksam, dass die standörtlichen Bedingungen in Deutschland so unterschiedlich sind, dass die Festschreibung der so genannten guten fachlichen Praxis in einem Bundesgesetz den besonderen Bedingungen zum Beispiel von Küsten-, Au- und Bergwäldern nicht gerecht werden kann. Lawinenschutz ist in Bayern ein Thema, aber nicht in Schleswig-Holstein, obwohl es auch bei uns einen Skilift gibt. Der Waldzustandsbericht hat deutlich gemacht, dass Schadstoffeinträge die Waldböden großflächig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigt haben. Dies ist nicht von den Waldbesitzern zu verantworten. Sie haben daher Anspruch auf eine volle Kostendeckung bei der Durchführung von Bodenschutzkalkungen, mit denen Auswirkungen des Schadstoffeintrags gemindert werden können. Beim Thema Zertifizierung - auch darüber haben wir schon diskutiert - sollte sich die Bundesregierung neutral verhalten. Zertifikate sind marktwirtschaftliche Instrumente. Gleichwohl gilt: Bayern hat nach den Angaben des statistischen Monatsberichtes die höchsten Holzpreise, und das ohne FSC-Zertifizierung. Das bedeutet doch wohl, dass dieses Zertifikat auf dem Markt keine Anerkennung hat und deshalb auf Ihre politische Unterstützung angewiesen ist. Wir fordern von der Bundesregierung, sich den Forderungen von Greenpeace zu widersetzen und Politik für alle Wälder in Deutschland zu gestalten, nicht nur für die nach FSC-zertifizierten Wälder. ({3}) Greenpeace hat sich mit seinem Holzmarktführer, der Holz aus Deutschland als gerade einmal akzeptabel oder kritisch einstuft, zum Fürsprecher für die Petroindustrie gemacht - nach dem Motto: statt heimischer Buche oder Fichte aus dem Harz, dann doch lieber Plastik vom Rhein. Das hilft unseren Wäldern nicht. Ein Drittel der Fläche Deutschlands ist Wald. Es ist für uns keine Frage, dass der Natur- und Artenschutz auch im Wald eine besondere Bedeutung hat. Die Berücksichtigung von Natur- und Artenschutz im Wald steht nicht im Widerspruch zu einer erwerbsorientierten Bewirtschaftung des Waldes. Es gibt dafür hervorragende Beispiele bei uns. Wir brauchen Naturwaldparzellen im Staatswald, aber auch im Privat- und Körperschaftswald. Auflagen, die die Bewirtschaftung stark einschränken und damit einen Eingriff in das Eigentum darstellen, müssen ausgeglichen oder entschädigt werden. Das gilt für die Ausweisung von Naturschutzgebieten genauso wie für die Ausweisung von FFH-Gebieten, sofern die Bewirtschaftung behindert wird. Es kann nicht sein, dass die vom Grundgesetz vorgegebene Sozialpflichtigkeit des Eigentums als Deckmantel benutzt wird, um von Grundeigentümern in immer stärkerem Maße entschädigungslos Eingriffe in das Eigentum zu verlangen. Entsprechende Leistungen werden von keiner anderen Eigentumsart verlangt. In Deutschland ist die Nutzung des nachwachsenden Rohstoffes Holz ein wesentlicher Bestandteil aller Anstrengungen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die energetische Nutzung von Holz ist CO2-neutral. Holz ist ein hervorragender Baustoff und ein wichtiger Industrierohstoff. Die Waldbewirtschaftung und die Holzwirtschaft schaffen Arbeitsplätze im ländlichen Raum. Ich fasse zusammen: Ohne eine gute Politik für Wald und Holz ist jede Nachhaltigkeitsstrategie auf dem Holzweg. Ich bitte Sie, dem vorliegenden Antrag zuzustimmen, und beantrage die Überweisung an den zuständigen Ausschuss. Die CDU/CSU-Fraktion hat freundlicherweise bereits signalisiert, dass sie mit vielen Thesen dieses Antrages übereinstimmen kann. Ich bedanke mich für die freundliche Zustimmung genauso wie für diejenige, die ich von anderer Seite erfahren habe. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion, das Wort.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende FDP-Antrag befasst sich mit den Wäldern. ({0}) Nein, das ist nicht ganz richtig: Der vorliegende Antrag befasst sich mit den Interessen der privaten Waldwirtschaft, der Waldbesitzer und der Holzwirtschaft. ({1}) Der Antrag kommt zwei Monate zu spät, ({2}) trifft das Thema nicht und führt uns in der Sache selbst keinen Schritt weiter. Warum kommt der Antrag zu spät? Am 3. April dieses Jahres haben wir hier im Bundestag eine Debatte zum jährlichen Waldzustandsbericht der Bundesregierung geführt. Die SPD und die Grünen haben zu diesem Bericht einen gemeinsamen Antrag mit einem umfassenden Forderungskatalog eingebracht. Der federführende Ausschuss hat sich dann am 7. Mai sowohl mit dem Bericht als auch mit dem Antrag befasst und hat über den Antrag abgestimmt. Die FDP hatte Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen oder aber ihre abweichenden Positionen in einen eigenen Antrag zu gießen und diesen dann im Plenum bzw. im zuständigen Ausschuss einzubringen. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben diese Chance verpasst. ({3}) Einige der Forderungen, die Sie heute stellen, sind bereits mit unserem Antrag im Mai beschlossen und abgearbeitet worden. ({4}) So haben wir zum Beispiel beschlossen, dass die Prinzipien von Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit eingehalten werden sollen, dass im Rahmen der Novellierung des Bundeswaldgesetzes Verwaltungsvereinfachungen im Forstbereich und weitere Förderungsmöglichkeiten für die Wälder geprüft werden sollen und dass die Nutzung von Holz als nachwachsender Roh- und Baustoff selbstverständlich gefördert werden soll. Hier kommen Sie also eindeutig zu spät. ({5}) Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben unseren Antrag abgelehnt. ({6}) Sie haben damit die ganz wichtige Chance vertan, für die Wälder und die Holzwirtschaft tatsächlich etwas zu verbessern. Sie haben diese Chance aus rein ideologischen Gründen vertan. ({7}) Sie betrachten den Wald nämlich nicht als Ganzes, sondern beschränken sich auf wenige Teilaspekte. Warum tun Sie das? Um die Interessen einer ganz bestimmten Klientel zu befriedigen. ({8}) Nicht die privaten Waldbesitzer, sondern der Wald braucht eine starke Lobby. ({9}) Denn was nützt es, wenn wir die Rahmenbedingungen für die Waldbesitzer und die Unternehmen verbessern, der Wald selbst aber auf der Strecke bleibt? ({10}) Wir müssen zuallererst die Rahmenbedingungen für die Wälder verbessern. Denn die Wälder sind - das ist doch ganz logisch - die Produktionsgrundlage für die Waldwirtschaft. Wenn es den Wäldern schlecht geht, dann sieht es auch schlecht für die Waldbesitzer und die Waldwirtschaft aus. Die FDP verfolgt einen ganz anderen Ansatz. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Sie betreiben reine Klientelpolitik, die mit den tatsächlichen Problemen unserer Wälder nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. ({11}) Was sind die Ursachen für Waldschäden und Waldsterben? Das sind die hohen Schadstoffeinträge, die durch die Luft in die Wälder und dann in den Waldboden gelangen und die Waldböden nachhaltig und oft irreparabel schädigen. Was haben wir getan, meine Damen und Herren, um die Situation unserer Wälder zu verbessern? ({12}) Wir haben zahlreiche Gesetze und Maßnahmen ({13}) zur Luftreinhaltung sowie zum Klima- und zum Umweltschutz auf den Weg gebracht. Was hat die FDP getan, was haben Sie zu bieten? In Ihrem Antrag steht kein Wort zum Klimaschutz. ({14}) Auch in der letzten Legislaturperiode war von Ihnen zu diesem Thema so gut wie nichts zu hören. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. ({15}) Von den Maßnahmen, die wir gemeinsam mit den Grünen auf den Weg gebracht haben, haben Sie nicht eine einzige mitgetragen. Erneuerbare-Energien-Gesetz - abgelehnt, Ökosteuer - abgelehnt, ({16}) Schutz und Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung - abgelehnt, Energieeinsparverordnung - abgelehnt, Programme zur Wohnraummodernisierung und zur CO2-Gebäudesanierung - ebenfalls abgelehnt. Zum Glück sind wir im Bundestag nicht auf die Stimmen der FDP angewiesen. So konnten wir unsere Initiativen durchbringen. Sonst sähe es für unsere Wälder sehr traurig aus. So ist die Politik der FDP: Anstatt Ursachen anzupacken, doktern Sie allenfalls an den Symptomen herum. ({17}) So wollen Sie jetzt eine Ausweitung der Kalkung und Düngung der Waldböden. Brauchen wir eine Ausweitung, meine Damen und Herren? - Nein, wir brauchen keine Ausweitung. Die Bundesregierung hat als Soforthilfeprogramm für die Waldböden schon vor Jahren gemeinsam mit den Ländern im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ ein umfangreiches Förderprogramm aufgelegt, an dem jetzt übrigens auch die EU mit Fördermitteln beteiligt ist. Jährlich fließen Millionen Euro in unsere Waldböden. Allein 2001 waren es über 10 Millionen Euro. Kalkung und Düngung werden bis zu 90 Prozent subventioniert. ({18}) Das ist ein enormes Engagement der öffentlichen Hand. Kaum ein anderer Bereich kann auf einen so hohen Fördersatz auch nur hoffen. ({19}) Sie sehen also, es wird sehr viel getan. Es sind alles Steuermittel - das vergisst man leicht -, die hier eingesetzt werden, vor allem zur Strukturverbesserung beim Privatwald. Es ist schon erstaunlich, dass die FDP an diesem Punkt Subventionen fordert. Ansonsten sind Sie doch so sehr gegen die Einmischung des Staates in Wirtschaftsabläufe und für das freie Spiel der Kräfte. Wirklich geradlinig scheinen Sie beim Thema Subventionen nicht zu sein. ({20}) Mir ist noch sehr gut die Diskussion über die Apotheker in Erinnerung. ({21}) Eigentlich ist es schade, dass wir überhaupt so viel Geld zur Sanierung der Waldböden aufbringen müssen. Hätten wir über die Jahrzehnte eine gute Klimaschutzpolitik betrieben, dann wäre das nicht nötig. ({22}) Warum, Herr Kollege, versauern die Waldböden denn überhaupt? - Sie versauern, weil die Luftschadstoffe noch immer zu hoch sind, womit wir wieder bei der Luftverschmutzung wären. Deshalb ist wichtig, dass wir zuallererst eine konsequente Umwelt- und Klimaschutzpolitik betreiben - runter mit den Schadstoffen, runter mit Stickstoffoxiden, runter mit Ammoniak. ({23}) Die FDP verweigert sich hier, und zwar weil ein klares Bekenntnis zur Umwelt- und Klimaschutzpolitik ihre Klientel in der Wirtschaft mit Sicherheit verprellen würde. Deshalb verhalten Sie sich hier so, meine Damen und Herren von der FDP. So machen Sie Politik. Sie nützt sehr wenig und den Wäldern mit Sicherheit gar nicht. ({24}) Sie fordern in Ihrem Antrag nicht nur die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Waldbesitzer und Unternehmen, sondern auch die Stärkung der Eigentumsrechte. ({25}) Was heißt das? Bedeutet eine Stärkung der Eigentumsrechte auch mehr Pflichten? Uns allen ist ja der Satz „Eigentum verpflichtet“ bekannt - aber nicht der FDP. Sie fordern uneingeschränkte Freiheit für private Waldbesitzer, die Abschaffung von Auflagen und Vorschriften. ({26}) Sie haben auch eine Begründung geliefert. Sie begründen Ihre Forderung mit dem traditionell vorbildlichen Verhalten der Waldbesitzer, vor allem der privaten Waldbesitzer. ({27}) Ich finde es sehr gut - wir alle begrüßen das -, dass in der Forstwirtschaft seit Jahren und Jahrzehnten, ja sogar seit Jahrhunderten so vorbildlich und nachhaltig gewirtschaftet wird. ({28}) Ich bin mir aber ganz sicher, dass ohne politische Vorgaben zum Beispiel zur Zertifizierung und ohne Festsetzung von Standards unsere Wälder nicht so gut bewirtschaftet werden könnten, wie sie es heute werden. ({29}) Es ist übrigens unser politischer Auftrag, Standards vorzugeben und die Wälder eben nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. Um Zweifel auszuräumen, die Sie eventuell haben könnten, zitiere ich aus der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit dem Wirtschaftsziel im öffentlichen Wald auseinandergesetzt hat. Hier heißt es: Die Forstpolitik der Bundesregierung ist weniger auf Marktpflege ausgerichtet: Sie dient vor allem der Erhaltung des Waldes als ökologischem Ausgleichsraum für Klima, Luft und Wasser, für die Tier- und Pflanzenwelt sowie für die Erholung der Bevölkerung … Die staatliche Forstpolitik fördert im Gegensatz zur Landwirtschaftspolitik weniger die Betriebe und die Absetzbarkeit ihrer Produkte als vielmehr die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes. ({30}) SPD und Grüne verfolgen dieses Ziel. Wir befinden uns damit nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich auf dem richtigen Weg. ({31}) Meine Damen und Herren, vor allem auch Sie von der FDP, schließen Sie sich unserer Politik an! Dann sind auch Sie auf dem richtigen Weg. Danke schön. ({32})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Schirmbeck, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hiller-Ohm, ich habe zu diesem Thema schon lange nicht mehr so viel wirres Zeug gehört. ({0}) Sie haben noch nicht einmal die Überschrift des Antrages richtig gelesen. Es geht um deutsche Forstwirtschaft und nicht um Klientelpolitik. 800 000 Menschen in Deutschland leben von der Forstwirtschaft. Sie erwirtschaften einen Anteil am Bruttosozialprodukt in Milliardenhöhe. ({1}) Um diese Menschen haben wir uns zu kümmern. Ich kenne Kollegen, die, wenn ein Sägewerk Pleite macht, betroffen dastehen und Krokodilstränen weinen. Sie sollten sich aber vorher um dieses Thema kümmern. Sie haben gesagt, die FDP hätte in der Vergangenheit nichts für den Umweltschutz getan. Ich frage Sie: Wer hat denn in den 70er-Jahren die Einführung des Katalysators verhindert? - Das waren Sie! - Erst 1982 mit der neuen Regierung wurde der Katalysator Pflicht. ({2}) Wer hat denn die Verordnung über Großfeuerungsanlagen eingeführt? - Das war die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl! In den 70er-Jahren unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt haben Sie das versäumt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Sehen Sie sich die Situation in den Mittelgebirgen an, zum Beispiel im Teutoburger Wald in Niedersachsen. In 331 Meter Höhe hat man festgestellt, dass sich dort in einem Meter Tiefe im Grundwasser 150 Milligramm Nitrat befinden. ({3}) Niemand kann behaupten, dass diese durch Düngung oder durch Gülle dort hinkommen. Man kann wissenGeorg Schirmbeck schaftlich beweisen, dass dort der durch die Luft transportierte Schmutz aus dem Ruhrgebiet und von Belgien abregnet. Sie haben in den 70er-Jahren versäumt, die Gesetze mit den entsprechenden technischen Anforderungen für die Industrie zu beschließen. Das sind Fakten. Heute müssen wir die Sünden, die damals begangen worden sind, beseitigen, beispielsweise durch das Kalken des Waldes. Die Waldbesitzer haben an der Luftverschmutzung aber keine Schuld. Ich frage Sie: Warum sollten diese sich an der Schadensbeseitigung beteiligen und 10 Prozent der Kosten übernehmen? Sie haben gesagt, Sie hätten 10 Millionen Euro für die Waldkalkung eingeplant. Sie werden feststellen, dass diese Mittel nicht abfließen werden, weil die Kommunen und die anderen Träger, die sich bisher beteiligt haben, ihren Anteil von 10 Prozent nicht mehr aufbringen können. Sie haben zwar einen Mittelansatz, sind aber insgeheim froh darüber, dass die Mittel nicht abfließen werden. Sie tun so, als würden Sie mit Ihren Beschlüssen irgendetwas bewegen. ({4}) In Wirklichkeit bewegen Sie nichts. Ihr Motto scheint zu lauten: Es ist alles im Umbruch, aber bewegen tut sich nichts. ({5}) Sie haben uns Klientelpolitik vorgeworfen. Es gibt 1,3 Millionen Waldbesitzer. Im Durchschnitt besitzt ein Waldbesitzer 3,5 Hektar Wald. Wir betreiben doch keine Klientelpolitik! Sie stellen die Behauptung in den Raum, als gäbe es ein paar Großgrundbesitzer in Deutschland, für die die FDP kämpft. Nein, es ist eine große Bevölkerungsgruppe. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Zahl der Waldbesitzer wächst und dass die Waldfläche in Deutschland wächst. Ferner wollen Sie unsere Wälder unter Schutz stellen. Dazu breiten Sie hier irgendwelche ideologischen Vorstellungen aus. Was wollen Sie eigentlich unter Schutz stellen? Die Wälder sind offensichtlich so gut, dass Sie sie schützen wollen. Lassen Sie die Leute doch in Ruhe, wenn Sie ihnen schon nicht helfen können! Wenn Sie ihnen kein Geld geben, dann lassen Sie den bürokratischen Schnickschnack, den Sie auf den Weg bringen, einfach weg! ({6}) Sie zitieren Ihre Freunde von Greenpeace, die einen Holzführer auf den Markt gebracht haben. Da wird empfohlen, Holz aus Fichte und Kiefer nicht wirtschaftlich zu nutzen. Was da erzählt wird, ist abstrus. Ich weiß nicht, woher die ihre fachmännischen Kenntnisse haben. In Deutschland wird seit 200 Jahren auf wissenschaftlicher Basis Forstwirtschaft betrieben. Wir haben die besten Experten in der Welt. Da brauchen wir nicht Greenpeace oder irgendwelche Ideologen, die etwas Fantastisches erzählen. Das hilft niemandem. ({7}) Lassen Sie die Menschen in diesen tollen Wäldern, die sie schützen wollen, weiter wirtschaften! Auf Dauer geht niemand in den Wald, wenn er nicht auch etwas erwirtschaftet. Ich hole doch nicht meine Säge oder meinen Spaten heraus, um im Wald beispielsweise zu pflanzen, wenn ich nicht auch einmal einen gewissen Prozentsatz an Ertrag habe. Sie stellen sich hier hin und reden von Nachhaltigkeit: Wir wirtschaften nachhaltig; seitdem wir hier die Regierung stellen, wird das alles besser gemacht. Nachhaltig hat meine Familie seit tausend Jahren Forstwirtschaft betrieben. Das haben Sie nicht erfunden. Nachhaltigkeit bedeutet, dass ich heute pflanze und pflege und meine Kinder pflegen, sodass vielleicht meine Enkelkinder oder Urenkel die Chance haben, einmal ein bisschen zu ernten. Dafür müsste man den Leuten Orden verleihen und sollte sie nicht mit irgendwelchen bürokratischen Regelungen überziehen. ({8}) Meine Damen und Herren, zunehmend wird auf Grenzertragsböden aufgeforstet. Die Leute, die das machen, brauchen Unterstützung. Wir haben Preise von 1950. Ein wirtschaftlicher Spielraum, so etwas aus Erträgen zu finanzieren, ist nicht vorhanden. Deshalb brauchen wir da Ihre Unterstützung. Ich finde es gut, wenn Sie sagen: Wir wollen eine Holzcharta. Sie ist ja auch in der Regierungserklärung angekündigt worden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn Sie sie konkret vorstellen. Wir fordern das nach wie vor. Den Leuten muss klar gemacht werden, was man mit dem idealen Produkt Holz alles machen kann. Wir sind auch für die energetische Nutzung von Holz, wenn Sie die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Aber wir brauchen keine ideologiebefrachtete Zertifizierung. Wir stellen fest: 60 Prozent der deutschen Wälder sind nach PEFC zertifiziert. Wie kann denn die Bundesregierung einseitig den FSC fördern, der vielleicht 2 oder 3 Prozent der Waldflächen zertifiziert hat? Sie haben im Greenpeace-Holzführer gesehen, was auf angeblich wissenschaftlicher Grundlage an Abstrusem verbreitet wird. Da greifen Sie einseitig in marktwirtschaftliches Geschehen ein, was dem Wald und allen, die in der Forstwirtschaft konstruktiv arbeiten, wirklich schadet. ({9}) Sie sagen: Wir brauchen Naturschutzgebiete, besonders geschützte Flächen im Wald, beispielsweise FFHGebiete. - Darüber kann man sich unterhalten. Aber wenn man in das Eigentum eingreift, dann muss man sich auch Gedanken machen, wie man diese Eingriffe ausgleicht. Ich bin dankbar, dass Staatssekretär Berninger auf dem 1. Deutschen Waldgipfel angekündigt hat, die Bundesregierung wolle da etwas tun. Wir warten auf die entsprechenden Ansätze. Meine Damen und Herren, Forstpolitik muss auch in Europa ein Thema werden. Denn europäische Umweltgesetze und europäische Politik überhaupt beeinträchtigen die Land- und Forstwirtschaft. Deshalb muss dies auch Thema auf europäischer Ebene sein. Wir reden immer von der Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktion des Waldes. Unsere Wälder sind - bei allen Problemen, die wir haben - sehenswert. Es wird dort viel auf den Weg gebracht. Wenn wir die Schutzfunktion und die Erholungsfunktion stärken wollen, dann müssen wir vor allen Dingen dafür sorgen, dass auch die Wirtschaftlichkeit, die Nutzfunktion, gestärkt wird. Dann ist uns um den deutschen Wald nicht bange. Wenn Sie das aber nur mit bürokratischen Regelungen und ideologischen Sprüchen erreichen wollen, dann tun Sie nichts für den deutschen Wald, sondern schädigen ihn. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Cornelia Behm, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ganz erstaunt, mit wie viel Emotion man in diesem Hause die Forstwirtschaft diskutiert. Ich freue mich darauf, dass wir mit vielleicht genauso viel Emotion, aber noch mehr Engagement gemeinsam das Bundeswaldgesetz novellieren. ({0}) - Eben. Das ist ein sehr guter Vorschlag. Ich bin sehr dafür, dass wir diese außen vor lassen. Frau Happach-Kasan, in der Präambel ihres Antrages spricht die FDP von dem seit Generationen nachhaltig bewirtschafteten Wald. An dieser Stelle wird ganz deutlich, was uns in der Waldpolitik von Ihnen trennt. Für uns Bündnisgrüne ist es nämlich völlig abwegig, die seit Generationen begründeten Monokulturen und Altersklassenwälder standortfremder Kiefern und Fichten als Idealbild nachhaltiger Forstwirtschaft anzusehen. ({1}) Wir wollen die naturnahe Waldwirtschaft vorantreiben. Genau das, so scheint mir, wollen Sie verhindern. Das haben Sie einmal mehr mit Ihrem Antrag deutlich gemacht. Es ist richtig: Die deutsche Forstwirtschaft hat vor Generationen die Wiederaufforstung eingeführt und ist bis heute mit Recht stolz darauf, damit das Prinzip der Nachhaltigkeit eingeführt zu haben. Da sind wir d'accord. Dies war in der Tat ein Fortschritt. Unser heutiges Verständnis von ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit geht jedoch über diese Wiederaufforstung von Kiefern- und Fichtenmonokulturen deutlich hinaus. Für uns heißt Nachhaltigkeit, den Wald bei der Bewirtschaftung auch als Ökosystem zu erhalten. Meine Damen und Herren, Sie fordern, der Staat möge sich bei der Zertifizierung der Wälder neutral verhalten und das Geschehen dem Markt überlassen. Dazu muss man ganz nüchtern feststellen: Der Staat kann sich als Waldbesitzer und als Holzeinkäufer auf dem Holzmarkt nicht neutral verhalten. Sowohl dann, wenn er Holz einkauft, als auch dann, wenn er Wald bewirtschaftet - er ist ein großer Waldbesitzer -, entscheidet er sich für eine bestimmte Bewirtschaftungsweise. Die Vorstellung der FDP, der Staat könne sich als relevanter Marktakteur tatsächlich marktneutral verhalten, geht daher völlig an der Realität vorbei. Das, was Sie hier mit Ihrer Neutralität betreiben, ist ein Plädoyer für „Egal-Holz“. Sie wollen, dass es dem Staat egal ist, woher das Holz kommt: egal, ob aus Raubbau oder aus illegalem Einschlag. Nein, dies ist keine verantwortungsvolle Waldpolitik. ({2}) - Das steht so im Antrag. Der Staat hat als Marktakteur die Pflicht, seiner Verantwortung im Kampf gegen den internationalen Raubbau am Wald und für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung gerecht zu werden. ({3}) Deswegen sollten sich auch die Länder und die Kommunen bei der Holzproduktion und der Holzbeschaffung für ein Zertifizierungssystem mit hohem ökologischen Standard entscheiden. Sie plädieren richtigerweise für Bodenschutzkalkungen. Diese werden aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe zu 90 Prozent bezuschusst. ({4}) Dieser Anteil sollte meiner Meinung nach nicht erhöht werden, und zwar aus folgendem Grund: Nur wenn die Waldbesitzer einen Eigenanteil erbringen müssen, werden sie sich die ökonomische Frage „Ist die Kalkung tatsächlich nötig?“ ernsthaft stellen. Probleme könnte es dann allerdings geben, wenn die Bundesländer diese Maßnahmen nicht ausreichend gegenfinanzieren. ({5}) Uns sind aber bisher keine Klagen darüber vorgetragen worden, ({6}) dass Waldbesitzern Anträge auf Kalkung nicht bewilligt wurden. Sollte sich erweisen, dass es tatsächlich Waldbesitzer gibt, die keine Förderung erhalten, dann sollten wir darauf drängen, dass die betreffenden Länder ({7}) die Bodenschutzkalkung im Rahmen der GAK mehr fördern. Meine Damen und Herren, im Bundeswaldgesetz heißt es, dass der Wald ordnungsgemäß und nachhaltig bewirtschaftet werden soll. Im Bundesnaturschutzgesetz ist festgelegt, dass die Forstwirtschaft naturnahe Wälder aufbauen und diese ohne Kahlschläge nachhaltig bewirtschaften muss. Sie muss einen hinreichenden Anteil standortheimischer Baumarten einhalten. Dies ist der bisherige Mindeststandard im Bundesrecht. Wir Bündnisgrüne halten es in der Tat für notwendig, die Kriterien der ordnungsgemäßen und nachhaltigen Forstwirtschaft im Bundeswaldgesetz weiter zu konkretisieren. Wir sind uns aber sehr wohl bewusst, dass dabei ökonomische Grenzen beachtet werden müssen. Wir werden daher die Ergebnisse der Studie zu den ökonomischen Auswirkungen durch die Vorschläge zur guten fachlichen Praxis sehr genau prüfen. Letztlich sollten nur die ökologischen Ansprüche, die mit einem ökonomischen Betrieb vereinbar sind, als Mindeststandards festgeschrieben werden. Darüber hinausgehende naturschutzfachliche Ansprüche sollten hingegen durch Förderung, Ausgleichszahlungen oder Vertragsnaturschutz realisiert werden. Die Förderung des Waldbaus muss entsprechend angepasst werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP will auf jegliche Mindeststandards verzichten, weil die Waldbesitzer, wie sie sagt, bewiesen hätten, dass sie den gesellschaftlichen Ansprüchen bereits gerecht werden. ({8}) In der Tat gibt es in Deutschland einen Fortschritt hin zu mehr naturnaher Waldwirtschaft. Frau Happach-Kasan, Sie wissen aber doch genauso gut wie ich, dass es nach wie vor sehr viele Waldbesitzer und Forstwirte gibt, die an den alten Standards der Forstwirtschaft festhalten wollen und keinen Grund für ein Umdenken sehen. Deshalb brauchen wir die Standards der guten fachlichen Praxis. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letzter Redner des heutigen Tages hat nun Kollege Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Hiller-Ohm, im Ausschuss habe ich Sie bisher immer als sehr sachliche Kollegin erlebt. Umso enttäuschter war ich darüber, wie unsachlich Sie heute zu dem Thema gesprochen haben. Wenn Sie nämlich einen der ersten Waldzustandsberichte dieser rot-grünen Bundesregierung gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass darin bezogen auf die Zeit, als CDU/CSU und FDP noch regiert haben, ganz deutlich steht - ich zitiere -: Die beobachteten Waldschäden führten zu raschem politischen Handeln auf nationaler und internationaler Ebene. Danach wird eine Reihe von Maßnahmen aufgelistet, nämlich was zu unserer Regierungszeit zugunsten des Waldes alles unternommen worden ist. Damit auch Sie es wissen, wiederhole ich es hier: das 1983 beschlossene Aktionsprogramm „Rettet den Wald“, die 1984 eingeführte einheitliche Waldschadenserhebung und die 1986 beschlossenen Maßnahmen zur Waldzustandsüberwachung auf europäischer Ebene. Daneben wird angeführt, dass die Großfeuerungsanlagenverordnung von 1983, die TA Luft von 1986, das Bundes-Immissionsschutzgesetz von 1993 und die 1996 verabschiedete Düngeverordnung mit dazu beigetragen haben, dass sich der Zustand unseres Waldes verbessert hat. Das alles ist während unserer Regierungszeit geschehen. Ähnliches können Sie nach fünf Jahren bis heute nicht nachweisen. ({0}) Entschuldigen Sie, dass ich es so hart formuliere: Im Gegensatz zur rot-grünen Sprücheklopferei wurde in Bayern ein Stickstoffprogramm zur Absenkung der Stickoxidemissionen aufgelegt. Von 1996 bis heute wurden in Bayern über 60 Millionen Euro Fördermittel und über 10 Millionen Euro zinsverbilligte Darlehen für die Anschaffung moderner Ausbringungstechniken für landwirtschaftlichen Wirtschaftsdünger ausgegeben. Dies hat mit dazu beigetragen, dass die Schadstoffeinträge in die Luft stark abgesenkt werden konnten. Die meisten Kraftwerke in Bayern und BadenWürttemberg wurden schon in den 70er-Jahren mit moderner Umwelttechnik ausgestattet. In den Ländern, in denen Sie regiert haben, ist zu dieser Zeit überhaupt nichts zugunsten des Umweltschutzes getan worden. In Nordrhein-Westfalen sind solche modernen Techniken erst 20 Jahre später eingeführt worden. In Bayern hatten wir diese Dinge bereits eingeführt, bevor es die Grünen überhaupt gab. Es ist auch so ein Märchen, dass erst die Grünen den Umweltschutz entdeckt hätten. Lange bevor es die Grünen überhaupt gab, hatten wir in Bayern schon einen Umweltschutzminister. Wir hatten den ersten Umweltschutzminister weltweit. Das muss hier deutlich gesagt werden. ({1}) Eines möchte ich noch ansprechen: Es waren nicht nur bestimmte Medien und Wissenschaftler, die Anfang der 80er-Jahre das Waldsterben angekündigt haben. Es gab fast keine Veranstaltung der Grünen, in der das Thema Waldsterben nicht auf der Tagesordnung stand. „Der Wald stirbt“ war eine der unverantwortlichen Parolen zu dieser Zeit. Ich bin froh, dass sich die Waldbesitzer davon nicht entmutigen ließen und dass sie die Pflege ihrer angeblich hoffnungslos erkrankten Wälder nicht aufgegeben haben. Sie haben trotz der grünen Panikmache weiter in die Wälder investiert. Damit haben sie einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die Situation unseres Waldes trotz negativer Umwelteinflüsse nicht schlechter geworden ist. Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und Forstbesitzern, die durch unermüdliche Arbeit unseren Wald und unsere Umwelt erhalten und damit in unsere Zukunft investieren. Sie sind es, die die Hauptarbeit leisten. ({2}) Der Antrag der FDP-Fraktion, den wir unterstützen, gibt erneut Gelegenheit, die ökologische und wirtschaftliche Bedeutung unseres Waldes hervorzuheben: Die Nutzung und Bedeutung des Waldes, der in Deutschland über ein Drittel der Fläche bedeckt, haben sich in den letzten 100 Jahren massiv gewandelt. Wurde er früher ausgebeutet und zurückgedrängt, so erkannte man später und erkennt man auch heute immer mehr seine Bedeutung für den Schutz von Boden, Wasser, Luft und das Klima insgesamt. Ich freue mich darüber - ich kenne die Zahlen zwar nicht für Deutschland, aber für Bayern habe ich sie im Kopf -, dass in den letzten zehn Jahren durch Aufforstung und Neuanpflanzung zusätzlich über 100 000 Hektar neuer Wald geschaffen wurde. Das heißt, der Wald in Deutschland wird im Gegensatz zu anderen Ländern nicht mehr vernichtet, sondern die Waldfläche wird ausgedehnt. Der FDP-Antrag ist meiner Ansicht nach dazu geeignet, der Forstwirtschaft insgesamt wieder mehr Wertschöpfung zu verschaffen; denn unsere Waldbauern sind auf Wertschöpfung angewiesen, wenn sie auch in Zukunft ihren Wald für die Allgemeinheit bewirtschaften sollen. Herr Präsident, ich sehe, dass meine Redezeit abläuft. In fast 13 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag bin ich heute das erste Mal der letzte Redner in einer Sitzungswoche. Deshalb möchte ich allen anwesenden Kolleginnen und Kollegen und allen Zuschauern ein schönes Wochenende wünschen. Ich hoffe, dass Sie am Wochenende einen Spaziergang im schönen deutschen Wald möglich machen können. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich kann mich diesem Wunsch nur anschließen. Die Aussprache ist beendet. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 2. Juli 2003, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Folgen Sie dem Rat des Kollegen Deß und gehen Sie im Wald spazieren. Die Sitzung ist geschlossen.