Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Die frühere Kollegin Angelika Volquartz hat am
16. Juni 2003 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen
Bundestag verzichtet. Der Abgeordnete Helmut Lamp
hat als ihr Nachfolger am 18. Juni 2003 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße
den uns bereits aus der 14. Wahlperiode bekannten Kollegen. Herzlich willkommen!
({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 14
auf:
17 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung
und zur Förderung von Kleinunternehmen
- Drucksache 15/1089 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/1224 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange ({3})
ZP 14 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn
dieses Monats haben wir ein Gesetz für Erleichterungen
von Existenzgründungen und zur Förderung von Kleinunternehmen erörtert. Heute steht eine große Reform des
Handwerksrechts auf der Tagesordnung. In der Tat: Seit
dem In-Kraft-Treten der Handwerksordnung im Jahre
1953 gab es in diesem Land keine vergleichbare Reform
des Handwerksrechts, wie wir sie heute anstreben.
Mit dieser Novelle wollen wir das Handwerksrecht
zukunftssicher und europafest machen. Wer sich die Situation beim Handwerk anschaut, der sieht, dass daran
kein Weg vorbeiführt.
({0})
Seit Jahren verzeichnen wir einen Rückgang der Zahl
der Betriebe im Handwerk und einen Abbau von Beschäftigungsverhältnissen und vielen Ausbildungsplätzen. Seit Jahren gehen die Umsätze zurück.
({1})
Redetext
- Wenn Sie einmal zurückrechnen, Herr Kollege, dann
stellen Sie fest, dass Sie Anteil daran haben. - Notwendig ist deshalb ein deutlicher Impuls für mehr Existenzgründungen im Handwerk und für mehr Beschäftigung
und Wachstum.
({2})
Bei dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, geht
es um eine Änderung der Strukturen. Wir wollen weder den großen Befähigungsnachweis abschaffen,
({3})
noch haben wir vor - das wird gelegentlich behauptet -,
einem der wichtigsten Bereiche unserer Wirtschaft, nämlich dem Handwerk, den Garaus zu machen.
({4})
Solche Behauptungen entbehren jeder Grundlage; sie
sind Unsinn. Das Gegenteil ist richtig.
({5})
Wer sich die Situation einigermaßen unbefangen ansieht, der erkennt, dass das Handwerk große strukturelle
Probleme hat. Damit es in seinen Grundstrukturen erhalten bleiben und vor den heutigen und künftigen Herausforderungen bestehen kann, muss es Veränderungen geben.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Union, haben ein Konzept mit dem Titel „Handwerk
mit Zukunft“ vorgelegt. Mit dem Titel stimmen wir
überein. Um dieses Ziel aber zu erreichen, bedarf es zielführender Reformen. Ihr Zwölfpunkteplan ist dagegen in
Teilbereichen, zum Beispiel bei den Kriterien für den
Vorbehaltsbereich, unpräzise und rechtlich bedenklich.
Es handelt sich aus meiner Sicht insgesamt eher um ein
Dokument des Stillstandes - um nicht zu sagen: der
Rückwärtsgewandtheit - und sicher nicht um ein Konzept für Modernisierung, die Zukunft hat.
({6})
Das Seminar für Handwerkswesen der Universität
Göttingen, eines unserer Handwerksinstitute, hat kürzlich in einer Studie - lassen Sie mich das deutlich sagen beim Vollhandwerk einen Rückgang der Zahl der Betriebe von über 100 000 bis zum Jahr 2010 prognostiziert, und zwar auf der Grundlage des heute geltenden
Handwerksrechts. Es ist uns wie Ihnen doch klar, was
das für die Beschäftigung und für die Ausbildung im
Handwerk praktisch bedeuten würde. Deshalb meine
ich: Es sollte klar sein, dass wir dem nicht tatenlos zusehen können und keine Beschlüsse fassen können, die den
Status quo festschreiben. Wir brauchen weit reichende
Änderungen, wie wir sie jetzt vorschlagen.
Meine Damen und Herren, weil es immer wieder in
den Hintergrund gedrängt wird, will ich noch einmal betonen: Auch mit diesen Reformen, die wir vorschlagen,
bleibt der Meisterbrief als Qualitätssiegel bestehen, und
zwar sowohl in den Vorbehaltsbereichen der Anlage A
der Handwerksordnung als auch in den nunmehr freien
Tätigkeitsfeldern der Anlage B. Der Meisterbrief steht für
Qualität. Er steht für Zuverlässigkeit und Können. Daran
will selbstverständlich niemand etwas ändern.
({7})
Der Meisterbrief bleibt Bestandteil und Ausdruck unseres bewährten Systems der beruflichen Aus- und Fortbildung. Aber wir kommen auch in der Aus- und Fortbildung nicht umhin, die Dinge zu modernisieren und den
neuen Erfordernissen zugunsten von mehr Wachstum
und Innovation und für mehr Beschäftigung und Ausbildung anzupassen.
Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Ich habe bereits
gesagt, dass die Umsätze, die Betriebszahlen sowie die
Zahl der Arbeits- und Ausbildungsplätze unentwegt zurückgehen. Seit 1995 befindet sich das Handwerk in einer strukturellen Krise.
({8})
Das bedeutet sieben Jahre Schrumpfung. Das sind sieben
Jahre zu viel.
({9})
Deshalb müssen wir reagieren, und zwar strukturell,
nämlich mit den vorgeschlagenen Änderungen im Handwerksrecht.
Die Entwicklung der Gesamtwirtschaft in den letzten Jahren gibt den Rahmen dafür vor, was möglich ist,
wenn das Angebot flexibler wird, wenn Existenzgründungen erleichtert werden, wenn das Handwerk gewerkeübergreifend tätig sein kann und wenn neue Tätigkeitsbereiche ohne berufliche Restriktionen akquiriert
werden können.
Meine Damen und Herren und insbesondere meine
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich empfehle Ihnen einen vertiefenden Blick in eine Studie des
Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Es ist wirklich interessant, sich diese durchzulesen. Sie ist vor zwei Wochen unter dem Titel „Die Reform der Handwerksordnung: ein notwendiger Schritt in die richtige Richtung“
erschienen. In dieser Studie des Kieler Instituts wird der
interessante Versuch unternommen, wichtige zu erwartende Auswirkungen unserer Gesetzentwürfe vorherzusagen. Ich empfinde die Lektüre jedenfalls als ziemlich
aufschlussreich.
Ich will nur darauf hinweisen, dass das Kieler Institut
für Weltwirtschaft unsere Novellierung befürwortet. Es
bestätigt unsere ökonomische Argumentation mit Blick
auf ein mögliches Anwachsen der Betriebszahlen. Wir
werden mehr Betriebe, mehr Beschäftigung und auch
mehr Handwerksleistungen am Markt haben.
({10})
- Das steht alles in dem Bericht des Kieler Instituts. Ich
habe nichts versprochen. Dem Kieler Institut werden Sie
doch glauben, Herr Kollege. Ich würde es Ihnen jedenfalls empfehlen.
Wir werden sinkende Handwerkspreise haben. Vor allen Dingen ist ein Rückgang der Schwarzarbeit zu erwarten und darauf kommt es an.
({11})
All das ist genau das, was das Handwerk in unserem
Land dringend braucht. Genau das wollen wir und werden wir erreichen. Lesen Sie nach, was das Kieler Institut ermittelt hat!
Meine Damen und Herren, um es klar zu sagen: Der
Staat kann strenge Berufszugangsregelungen wie das
Handwerksrecht nur bei einem übergeordneten öffentlichen Interesse vorsehen. Das ist zum Beispiel dann gegeben, wenn durch mangelnde Produktsicherheit eine
Gefahr für Leben und Gesundheit entstehen kann. Aus
diesem Grunde haben wir die Anlage A auf gefahrgeneigte Handwerke beschränkt. Die zukünftig zulassungsfreien Handwerke wollen wir demgegenüber in
Anlage B der Handwerksordnung aufführen. So bleibt
zwar nur ein Drittel der Gewerke in der Anlage A, aber
- das kann niemand übersehen - das entspricht knapp
zwei Dritteln - immerhin 62 Prozent - aller Handwerksbetriebe in unserem Land. Das muss man sich auch angesichts mancher Diskussionsbeiträge, die gelegentlich
zu hören sind, vergegenwärtigen.
({12})
Auch für die Gewerke, die künftig in die Anlage B
wandern, bleibt das Qualitätssiegel des Meisterbriefs
erhalten. Für den Berufsnachwuchs bleibt die Meisterprüfung eine wichtige und besondere Qualifikation, allerdings nunmehr auf freiwilliger Basis. Ich bin zutiefst
überzeugt, dass der Meisterbrief ein Qualitätssiegel
bleibt und die Meister von der Konkurrenz abhebt. Wir
werden sehen, dass viele Kunden sich weiterhin für
Meisterbetriebe entscheiden werden, allerdings freiwillig und nicht weil der Staat sie dazu zwingt.
Auch bei den gefahrgeneigten Gewerken des Handwerks in der Anlage A müssen die Marktzutrittsbarrieren verhältnismäßig sein. Dazu gehört, dass die Meisterprüfung zukünftig zeitnah nach der abgeschlossenen
Berufsausbildung, das heißt nach der Gesellenprüfung,
möglich werden muss. Es ist eine Tatsache, dass überproportional viele erfolgreiche Existenzgründungen in
der gewerblichen Wirtschaft außerhalb des Handwerks
gerade von ganz jungen Menschen erfolgen. Diese
Chancen müssen auch die Jungmeister bekommen.
Gesellen mit jahrelanger Berufserfahrung bringen in
der Regel ebenfalls die erforderliche Qualifikation für
einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Technik und dem Material mit. Ich denke, drei bis vier Jahre
Ausbildung, eine Gesellenprüfung und zehn Jahre Berufserfahrung - davon fünf Jahre in herausgehobener,
verantwortlicher oder leitender Stellung - sollten als
Nachweis genügen. Durch diese Neuerung entsteht zusätzliches Potenzial für Existenzgründungen im Handwerk.
Wir wollen das Inhaberprinzip aufheben. Damit
wird es auch für Personenunternehmen nicht mehr erforderlich sein, dass der Inhaber oder die Inhaberin selbst
die handwerkliche Befähigung besitzt. Damit wird die
bisherige, nicht gerechtfertigte Privilegierung von Kapitalgesellschaften gegenüber Personengesellschaften und
Einzelunternehmen abgeschafft.
Mit all diesen Maßnahmen erleichtern wir Existenzgründungen und Betriebsübernahmen. Nach Schätzungen gibt es in den nächsten zehn Jahren 80 000 bis
120 000 wirtschaftlich sinnvolle Betriebsübergaben im
derzeitigen Vollhandwerk. Wem sollen die Betriebe angesichts der drastisch zurückgehenden Jungmeisterzahlen eigentlich übergeben werden? Ich habe kürzlich in
Düsseldorf an einer Jungmeisterfeier und an einer wunderbaren Diskussion teilgenommen. Dort gab es den seit
50 Jahren absolut kleinsten Jungmeisterjahrgang; dies ist
in vielen anderen Bereichen unseres Landes genauso.
Das hat Ursachen. Diesen Ursachen müssen wir nicht
nur nachgehen, sondern wir müssen diese Ursachen
überwinden.
({13})
- Herr Kollege, machen Sie sich nicht lächerlich.
Wir geben dem Handwerk nach einer langen Phase
des Rückgangs eine neue Chance für die Zukunft, weil
wir Gründungen erleichtern, notwendige Impulse für
mehr Beschäftigung und Ausbildung schaffen, die Innovationsfähigkeit erhöhen, das Dienstleistungspotenzial
erweitern und weil wir - nicht zuletzt, sondern zuallererst - einen Beitrag zum Abbau der Schwarzarbeit leisten.
Auch die Ausbildungsleistung des Handwerks wird
weder bei der Zahl der Auszubildenden noch in der
Breite der Ausbildung beeinträchtigt. In den Gewerken
der Anlage A werden wie bisher die Meister die praktische Ausbildung durchführen. In den Unternehmen der
Anlage B werden viele freiwillig ihren Meister machen.
Für Ausbilder in Nichtmeisterbetrieben wird die gleiche
persönliche und fachliche Eignung nach dem Berufsbildungsgesetz verlangt wie in der übrigen gewerblichen
Wirtschaft. Das sollte niemand übersehen. Es wird auch
niemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Ausbildungsqualität im Handwerk aufgrund seiner Vorbehaltsbereiche besser sei als die Berufsausbildung in der
übrigen gewerblichen Wirtschaft. Dort werden immerhin
zwei Drittel aller Lehrlinge in Deutschland ausgebildet.
({14})
Es gibt ja zurzeit viele Diskussionen und Beiträge
darüber, die oftmals von vielen Emotionen getragen
sind. Ich habe mit dem Handwerk viele Gespräche geführt, übrigens auch mit der Spitze des Handwerksverbandes. Leider waren diese nicht von Erfolg, das heißt
von einer Einigung, gekrönt. Deshalb sage ich hier klar:
Ich sehe nicht, dass die Motivation des Handwerks, weiter auszubilden - wie es oft behauptet wird -, zurückgehen wird.
({15})
Dagegen stehen schon rein ökonomische Interessen,
Herr Kollege. Der Auszubildende beginnt sich - wie wir
alle wissen - bereits nach dem zweiten Ausbildungsjahr
- wie man so schön sagt - zu rentieren. Das Verhältnis
von Kosten und Nutzen ist im Handwerk viel besser und
schneller spürbar als in Industrie und Handel.
({16})
- Die Beiträge vonseiten der Liberalen finde ich besonders beeindruckend, weil Sie sonst immer gegen Regulierung und für Freiheit und Spielräume im Handwerk
eintreten. Wenn Sie jetzt als die Verteidiger der letzten
Regularien auftreten, ist das wirklich nicht sehr überzeugend.
({17})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber mit großem Vergnügen.
Bitte schön.
Herr Minister Clement, mit meinem Zwischenruf
wollte ich darauf hinweisen, dass Ihre Behauptung, dass
man mit Ausbildung im Handwerk Geld verdienen
könnte, einfach falsch ist. Es ist vielmehr so, dass Ausbildung Geld kostet. Von daher ist es anerkennenswert
und eine besondere Leistung, dass das Handwerk in
Deutschland über den eigenen Bedarf hinaus ausbildet.
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen?
({0})
Ich bin nicht erst jetzt bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und anzuerkennen, sondern ich tue das schon ziemlich lange. Ich bin Ihnen für diesen Hinweis aber sehr
dankbar; er ist richtig. Setzen!
({0})
Jeder Handwerker weiß, dass der Berufsnachwuchs
für die Zukunft des eigenen Betriebes unerlässlich ist.
Alle wissen es: Die Auszubildenden von heute sind die
Fachkräfte von morgen. Die Handwerksbetriebe schätzen natürlich ihren talentierten Nachwuchs und sie kennen seinen Wert.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute auch
über eine bedeutsame Klarstellung im Handwerksrecht, nämlich über das Gesetz zur Änderung der Handwerksordnung
und zur Förderung von Kleinunternehmen. Dabei geht es
auch um die Erleichterung von Existenzgründungen. Wir
wollen die Möglichkeit zur Existenzgründung auch für
arbeitslose Männer und Frauen erleichtern. Mit dem
Zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden dafür bereits neue Anreize geschaffen.
Schon jetzt zeigt sich - darauf habe ich bereits gestern
hingewiesen -, dass viele diese Chance durch die IchAG oder das Überbrückungsgeld ergreifen. In diesem
Jahr haben bereits etwa 100 000 Menschen den Weg aus
der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit gewählt. Ich
habe gestern darzustellen versucht, dass dieser Weg für
viele mit Erfolgsaussichten verbunden ist.
({1})
Deshalb kann ich nur dazu ermutigen, diesen zu wählen.
Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz werden außerdem die Steuer- und Buchführungsvorschriften
gerade für Existenzgründer erleichtert. In diesem Zusammenhang steht auch der Gesetzentwurf, der Ihnen
vorliegt. Eine Klarstellung besagt, dass so genannte einfache Tätigkeiten außerhalb der Handwerksordnung und
des Vorbehaltsbereichs von Handwerken mit Meisterpflicht stehen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland warten darauf, dass einfache Tätigkeiten, zum Beispiel bei den Hausmeisterdiensten, auch
von Dienstleistern wahrgenommen werden dürfen.
({2})
Bei der hohen Arbeitslosigkeit in unserem Land wäre es
nicht hinnehmbar, dass unternehmerische Initiativen und
Engagements untersagt, eingeengt oder gar verhindert
werden. Im Gegenteil: Wir müssen dazu anregen und
motivieren.
({3})
Um auch klar anzusprechen, wie es in der Praxis aussieht, wenn Existenzgründer den Schritt in die Selbstständigkeit wagen und eine Nischentätigkeit zur tragenden
Geschäftsidee für eine gewerbliche Tätigkeit machen
wollen: Handwerkskammern und Behörden gehen heute
vielfach mit Abmahnverfahren und Betriebsschließungen gegen Unternehmen vor, die nicht in die Handwerksrolle eingetragen sind und einfache Tätigkeiten ausüben.
Es werden Betriebe geschlossen, die teilweise schon zehn
bis 15 Jahre am Markt sind. Im wahrsten Sinne des Wortes sind davon nicht nur Existenzgründer betroffen, sondern auch bestehende Unternehmen, die neue Tätigkeitsfelder akquirieren. Selbst Handwerksunternehmen, die
über das eigene Gewerk hinaus tätig werden, bleiben
nicht verschont. Wir müssen uns doch fragen, ob dies so
sein und bleiben kann. Kann es sein, dass wir arbeitswillige Unternehmer daran hindern, bestehende Aufträge
auszuführen? Ich bin davon überzeugt, dass das sicherlich nicht sein kann.
({4})
Wir können und wir werden mit dem, was wir hier
vorlegen, einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der
Dienstleistungsgesellschaft tun; dieser Schritt muss sein.
Auch hier wird nicht an den Grundfesten des großen Befähigungsnachweises gerüttelt. Er wird auch nicht zugunsten von Teiltätigkeiten, die dem Vorbehaltsbereich
der Meister unterliegen, aufgebohrt, wie man es gelegentlich lesen kann. Das Gesetz beinhaltet keine Neuregelung, die wir gewissermaßen aus dem Hut zaubern. Es
enthält eine Klarstellung der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach einfache Tätigkeiten
nicht den Regelungen zum Handwerk unterliegen, sondern von jedem ausgeübt werden dürfen.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 7. April dieses Jahres in einer Handwerksangelegenheit entschieden, dass es keinem Handwerker zugemutet werden
kann, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zweifelsfragen gewissermaßen auf der Anklagebank erleben zu
müssen. Das kann ich nur dick unterstreichen. Deshalb
greifen wir das auf und sorgen wir für mehr Rechtsklarheit bei unberechtigten Vorwürfen bezüglich der
Schwarzarbeit.
Meine Damen und Herren, es geht hierbei um ganz
einfache handwerkliche Tätigkeiten, die binnen eines
Vierteljahres erlernt werden können, und auch darum,
dass wir die effektive Beachtung des Grundrechts der
Berufsfreiheit nach Art. 12 des Grundgesetzes gewährleisten. Dazu gehören auch diese einfachen Tätigkeiten.
Ich wundere mich über manches, was dazu zu lesen und
zu hören ist, nicht zuletzt auch über das, was gestern im
Bundesrat dazu gesagt worden ist. Meines Erachtens ist
es völlig klar: Es muss endlich damit Schluss sein, dass
für einfache und einfachste Tätigkeiten in Deutschland
die Meisterprüfung deshalb verlangt wird, weil auch
Meisterbetriebe diese Tätigkeiten anbieten. Das kann
nicht richtig sein. Das müsste eigentlich jeder begreifen.
({5})
Jeder Selbstständige fängt einmal klein an. Wir sollten nicht die Motivation des Einzelnen unterschätzen.
Die Existenzgründerinnen und Existenzgründer streben
nach Gewinn und mehr Umsatz. Daraus entstehen mehr
Arbeits- und Ausbildungsplätze. Genau das wollen und
brauchen wir in Deutschland. Deshalb ist diese Reform
des Handwerksrechts notwendig. Es ist eben nicht mehr
nur mit oberflächlichen Korrekturen und ein paar Veränderungen bei Anlage A und Anlage B getan. Wir müssen
schon an die Substanz dessen gehen, was heute gilt. Dies
gilt übrigens nicht nur für das Handwerk, sondern für
viele Berufsstände.
Viele Berufsstände bei uns haben sich Schutzmauern
verschafft, die für sie selbst ein Vorteil sein können, die
aber verhindern, dass andere von außen in diese Berufsstände hinein können: durch die Gründung eines kleinen
Unternehmens, um aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen, also von unten, oder durch Unternehmer aus
den Nachbarstaaten, die sich hier in Deutschland eine
Existenz aufbauen wollen, also von der Seite. Dies ist
dann möglich, wenn sie fünf bis sechs Jahre gemäß den
dort geltenden Regelungen gearbeitet haben. Wer in Holland, Belgien, Frankreich oder anderen Staaten unter den
dortigen Rechtsbedingungen fünf bis sechs Jahre ein
Handwerk betrieben hat, kann in Deutschland jederzeit
ein Unternehmen aufbauen und hier praktizieren, und
zwar ohne die strengen Auflagen des Handwerksrechts
erfüllen zu müssen.
Deutsche Gesellen dürfen dies nicht. Es muss klar
sein, dass dies kein Weg in die Zukunft sein kann. Das
ist auch in den meisten Ländern anders geregelt. Insbesondere in den Grenzregionen unseres Staates findet
zwischen den einzelnen Gewerken und Handwerken ein
Austausch unter unterschiedlichen rechtlichen Bedingungen statt.
Daher haben wir meines Erachtens die Pflicht und
Schuldigkeit, hier für die notwendigen Veränderungen
zu sorgen. Die Vorschläge dazu liegen vor Ihnen auf dem
Tisch. Ich hoffe, dass wir uns nach einigen emotionalen
Diskussionen über den richtigen Weg einigen. Er ist mit
diesem Entwurf vorgezeichnet.
Ich danke Ihnen.
({6})
Herr Minister, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass
in diesem Hause Minister und Abgeordnete gleichrangige Partner sind. Das sollte sich auch sprachlich niederschlagen. Es ist jedenfalls kein Lehrer-Schüler-Verhältnis.
({0})
Präsident Wolfgang Thierse
Ich erteile nunmehr dem Kollegen Ernst Hinsken,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ich bedanke mich zunächst herzlich, Herr Präsident, dass Sie dem Minister eine meisterliche Weisung
erteilt haben. Dies ist erforderlich, wenn man nicht weiß,
wie man sich zu verhalten und mit Kollegen umzugehen
hat.
({0})
Herr Minister Clement, es ist eine infame Behauptung, uns zu unterstellen, dass wir am Status quo festhalten wollen.
({1})
- Nein, ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen. Ich
werde nachdrücklich herauszuarbeiten versuchen,
({2})
wo unsere Schwerpunkte liegen. Wir wollen dem Handwerk Zukunftsperspektiven geben und es europatauglich
machen. Den Meistern muss die Möglichkeit eröffnet
werden - dazu sind auch viele bereit -, den Weg in die
Selbstständigkeit zu gehen.
Zunächst möchte ich die vielen anwesenden Handwerksmeister auf der Tribüne herzlich willkommen heißen. Ich bedanke mich dafür, dass Sie so zahlreich erschienen sind.
({3})
Ihnen brennt dieses Thema auf den Nägeln. Sie sind
hierher gekommen, um zu erfahren, wie die einzelnen
Fraktionen das anstehende Problem bewältigen wollen.
({4})
Ich möchte mich gerade auch bei denen bedanken, die
auf Einladung der Fraktionsvorsitzenden der CDU, Frau
Angela Merkel, vor vier Wochen zu Tausenden an der
Zahl zu uns nach Berlin gekommen sind, um deutlich zu
machen, dass sie mit dem, was Sie hier vorhaben, nicht
einverstanden sind.
({5})
Das ist für mich das Zeichen eines lebendigen Handwerks. Eine Novelle, die mit heißer Nadel gestrickt wird,
wie das hier der Fall ist, wird nie zu einem vernünftigen
und guten Ergebnis führen. Das hat sich in der Vergangenheit immer gezeigt und wird sich auch in der Gegenwart bewahrheiten.
Es ist mir auch wichtig, darauf zu verweisen, dass offenbar nicht alle Kolleginnen und Kollegen der SPD und
der Grünen der Meinung der Fraktionen der SPD und der
Grünen hier im Bundestag sind. Wie sonst könnte es
kommen, dass der Schleswig-Holsteinische Landtag
einstimmig beschlossen hat, an der Meisterprüfung festhalten zu wollen?
({6})
Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Kolleginnen und
Kollegen im hohen Norden. Auch wenn nicht alles richtig ist, was von dort kommt, aber da haben sie Recht.
Und wo sie Recht haben, sollen sie auch Recht behalten.
({7})
Heute beraten wir die Vorschläge der Bundesregierung
und der Regierungsfraktionen zur Novellierung der
Handwerksordnung, zum einen das Gesetz zu den IchAGs, über das heute hier abschließend abgestimmt werden soll, zum anderen die große Novelle zur Handwerksordnung, die von der Bundesregierung eingebracht wird.
Beide Gesetze müssen in einem engen Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Ich stelle fest, dass dies
auch die Regierungsfraktionen so sehen, denn sonst würden wir jetzt nicht innerhalb eines Tagesordnungspunktes darüber sprechen.
Man muss sehen, dass sich im Handwerk große Sorge
breit macht. Denn die Zielrichtung der Ich-AGs ist klar:
Gewachsene mittelständische und handwerkliche Strukturen, die die Grundlage für das Wirtschaftswunder
Ludwig Erhards waren, sollen zerschlagen werden. Dagegen werden wir mit aller Entschiedenheit kämpfen.
({8})
Denn dies kommt einer Veränderung der Gesellschaft
gleich. Anstatt mit vernünftigen Konzepten um die Zustimmung des Handwerks zu werben, soll es mit der
Brechstange und dem Vorschlaghammer zerschlagen
werden.
Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Helias von der CDU/CSU-Fraktion?
Gerne, bitte schön.
({0})
Herr Kollege Hinsken, Sie haben den einstimmigen
Beschluss des Landtages von Schleswig-Holstein erwähnt. Sind Sie mit mir der Meinung,
({0})
dass auch die schriftlich vorliegende Auffassung des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr des Landes
Schleswig-Holstein richtig ist, dass der Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung
eine Fülle weiterer Probleme schafft, die Zweifel auslösen, ob ein geordneter Vollzug überhaupt möglich sein
wird, und dass dieses Gesetz ohne eine grundlegende
Überarbeitung weder durchführbar noch zielführend ist?
Sind Sie außerdem mit mir der Meinung, dass dieser
Gesetzentwurf gesellschaftspolitisch verfehlt ist, den
Selbstständigen die Zukunft raubt, den Jugendlichen die
Perspektive nimmt und diese Regierung ihr Handwerk
nicht versteht?
({1})
Herr Kollege Helias, ich bedanke mich für diese
Frage,
({0})
und zwar deshalb, weil Sie verschiedene SPD-Institutionen zum Beleg für die Bewahrheitung vieler Befürchtungen herangezogen haben.
({1})
Deshalb müssen wir alle zusammen eine Konzeption erarbeiten, die die Grundlage für eine weitere Fortentwicklung des Handwerks im Hinblick auf ein gemeinsames
Europa und im Hinblick auf offene Grenzen bilden kann.
Ich kann die Befürchtungen, die in Ihrer Frage zum Ausdruck kamen, voll und ganz teilen.
({2})
Unsere Devise lautet wie immer: Nicht gegen das Handwerk, sondern mit dem Handwerk wollen wir den modernen, dynamischen, zukunftstauglichen und europafesten Meister schaffen. Sie von Rot-Grün setzen die
Axt an der Wurzel des Handwerks an und höhlen das
Handwerksrecht aus. Das geht uns entschieden zu weit.
Sie sprechen momentan laufend von der
Agenda 2010. Das Handwerk braucht aber eine
Agenda 2003, damit der Aderlass bei den Betrieben,
Mitarbeitern und Ausbildungsplätzen endlich gestoppt
werden kann. Herr Bundesminister, Sie behaupten, mit
Ihrer Novelle werde das Existenzgründungsklima verbessert. Ich sage Ihnen: Darum geht es in der Tat. Sie betreiben aber nur Augenwischerei und setzen mit Ihrer
überzogenen Novelle den Hebel falsch an. Sie wollen
den Leuten weismachen, dass das Handwerk schuld an
der Wirtschaftsmisere Deutschlands ist.
({3})
Sie machen damit die Opfer zu Tätern!
({4})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Denn die Ursache ist an anderer Stelle zu suchen: Sie haben eine falsche Wirtschaftspolitik betrieben, die dazu geführt hat,
dass sich Handwerk und Mittelstand gegenwärtig in dieser schwierigen Situation befinden.
Rot-Grün hat 1998 eine wahre Reformorgie begonnen. Seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte 1998
hat Rot-Grün alles unternommen, um dem Handwerk
das Leben schwer zu machen.
({5})
Ich nenne als Beispiele die Reform des Kündigungsschutzgesetzes, mit der der Schwellenwert von zehn auf
fünf Beschäftigte reduziert wurde, die Rücknahme der
Änderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das
Gesetz zur Bekämpfung der so genannten Scheinselbstständigkeit, die Neuregelungen zum Abschluss befristeter Arbeitsverhältnisse oder die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung auf Kleinbetriebe.
({6})
Eine wirkliche Veränderung des wirtschaftlichen Klimas ist aber nur dann möglich, wenn Sie von Rot-Grün
endlich die notwendigen Strukturreformen in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Finanz- und Sozialpolitik umsetzen.
({7})
Kollege Hinsken, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Rossmann von der SPD-Fraktion?
Gerne.
Herr Kollege Hinsken, wenn Sie schon feststellen,
dass alles schlecht gelaufen sei, könnten Sie dann auch
erläutern, wie Sie aus heutiger Sicht Ihre seinerzeit geäußerte positive Beurteilung des Meister-BAföGs als wesentliche Förderung des Handwerks durch die jetzige
Bundesregierung bewerten?
({0})
Herr Kollege Rossmann, ich meine, dass gerade die
Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Meister-BAföG
ein Schritt in die richtige Richtung waren. Wenn Sie uns
einen vernünftigen Vorschlag unterbreiten, unterstützen
wir Sie immer wieder gerne, damit solche Vorschläge
auch umgesetzt werden können. Das war beim MeisterBAföG so und das wird auch in Zukunft so bleiben.
({0})
Angesichts der notwendigen Veränderung des wirtschaftlichen Klimas halte ich die erwähnten Strukturreformen für den richtigen Weg, um der boomenden
Schwarzarbeit, die mit einem Finanzvolumen in Höhe
von 350 Milliarden Euro der größte prosperierende
Wirtschaftsbereich ist, das Wasser abzugraben. Denn es
ist nicht nachvollziehbar, dass ein Handwerker dem Auftraggeber für eine Arbeitsstunde viermal so viel berechnen muss wie jemand, der den Auftrag in Schwarzarbeit
ausführt.
Bei uns in Deutschland sind die Bruttolöhne zu hoch
und die Nettolöhne zu niedrig. Dabei müssen wir uns
alle an die eigene Nase fassen, unabhängig davon, auf
welcher Seite wir sitzen.
({1})
Wenn wir die bestehende Ordnung entkrusten würden,
könnten unzählige - vielleicht sogar einige Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich meine aber, dass
das mit den Ich-AGs nicht möglich sein wird.
Herr Minister Clement, Sie vergessen offenbar, dass
derzeit 130 000 Meister sozusagen in Reserve stehen.
Wenn das Konzept der Ich-AGs so umgesetzt wird wie
vorgesehen, hätten sie ihre Meisterprüfung vergeblich
gemacht. Das geht doch nicht an!
Ich meine, dass die heutige Debatte - unabhängig davon, was uns von der Bundesregierung unterscheidet die Möglichkeit bietet, die Zukunftspotenziale des
Handwerks hervorzuheben. Denn für uns bedeutet das
Handwerk etwas Positives, während Sie es vielfach
schlechtreden.
({2})
Unser Handwerk steht für innovative Unternehmen und
kompetente Dienstleistungen. Es steht für Berufsvielfalt
und Ausbildungskompetenz,
({3})
Flexibilität, Innovation und Anpassungsfähigkeit. Wir
wollen, dass das Handwerk ein wichtiger wirtschaftsund gesellschaftspolitischer Faktor bleibt, auch wenn
viele Mitbürger - wahrscheinlich weil sie sich schon einmal über einen Handwerker geärgert haben - der Meinung sind, man könnte auf alle Standards verzichten.
Das Handwerk ist unbestritten ein Faktor, den wir in
unserer Gesellschaft brauchen. In rund 580 000 Betrieben arbeiten fast 5,3 Millionen Menschen. Mehr als
520 000 Lehrlinge erhalten in diesen Betrieben eine qualifizierte Ausbildung. Damit sind nahezu 15 Prozent aller Erwerbstätigen und circa 34 Prozent aller Lehrlinge
in Deutschland im Handwerk tätig.
({4})
- Herr Kollege Lange, ich sage das deshalb, damit Sie
endlich kapieren, was sich hinter dem Handwerk verbirgt. Das haben Sie nämlich noch nicht geschnallt, sonst
würden Sie sich nicht in dieser Weise äußern.
({5})
Der Meister ist geradezu der Inbegriff der Selbstständigkeit. Etwa 80 Prozent der Handwerksbetriebe sind
Personenunternehmen. Das Handwerk sichert wie kein
anderer Bereich der Wirtschaft Ausbildung und Beschäftigung in den Ballungszentren und in der Fläche.
({6})
Das Handwerk bietet Ausbildung und Qualifizierung
und es bereitet auf Existenzgründungen und Existenzübernahmen vor.
Warum sind wir gegen den Gesetzentwurf von
Rot-Grün in der vorliegenden Fassung?
Erstens. Wir wollen nicht, dass der große Befähigungsnachweis, also die Meisterprüfung, praktisch wertlos gemacht wird. Die Meisterprüfung als Qualitätssiegel ist uns etwas wert.
({7})
Zweitens. Wir wollen nicht, dass die Ausbildungslokomotive Handwerk zum Stilltand gebracht und damit
der Weiterbestand des dualen Systems gefährdet wird.
({8})
Drittens. Wir wollen nicht, dass nicht mehr gewährleistet ist, dass das Handwerk Qualitätsarbeit abliefert.
Viertens. Wir wollen nicht, dass unsere Handwerksbetriebe nicht mehr zu den stabilsten Betrieben gehören,
die es in Deutschland gibt.
Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Müller hat
vorgestern ausgeführt - lassen Sie sich das gesagt sein! -:
„Es ist nicht alles modern, was modern scheint.“
({9})
Wie Recht er hat, wenn er das Handwerk in höchsten Tönen lobt und auf es setzt! Herr Minister Clement, Ihr
Vorgänger hat für das Handwerk mehr übrig gehabt als
Sie.
({10})
Auch wenn ich nicht alles gut finde, was er gemacht hat:
Da hat er Recht gehabt.
Zweifellos müssen in allernächster Zeit viele Probleme bewältigt werden. Früher hing das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit vor allem über den älteren
Arbeitnehmern; mittlerweile sind immer mehr Jugendliche davon bedroht. Es wird aber noch schlimmer werden, wenn Sie durch die Abschaffung des Meisterbriefes dem Handwerk, der Ausbildungslokomotive in
Deutschland, den Boden unter den Füßen wegziehen.
Die Zahl der Betriebe mag kurzfristig steigen, weil ihre
Gründung und Führung auch für Nichtmeister möglich
wird, Herr Minister Clement. Die Bestandsfestigkeit der
Betriebe dürfte dagegen abnehmen, sodass unter dem
Strich zwar nichts gewonnen wird, aber möglicherweise
viele Existenzen zerstört werden.
({11})
Immerhin sind rund drei Viertel aller Meisterbetriebe
fünf Jahre nach der Existenzgründung noch am Markt,
während die Quote der übrigen Wirtschaft bei knapp
über der Hälfte liegt.
({12})
Werte Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das deutsche Handwerk weiterhin die Reife hat, in der Champions League
zu spielen. Wenn unsere Vorschläge umgesetzt werden,
wird das Handwerk sein enormes Zukunftspotenzial nutzen können. Wir wollen es unseren Handwerksmeistern
ermöglichen, den Weg in ein erweitertes Europa zu gehen. Herr Clement, das Handwerk kann sich mit Ihren so
genannten Reformen nicht weiter herumschlagen.
Das Handwerk will unseren Jugendlichen durch die
Bereitstellung von Ausbildungsplätzen eine Zukunft
bieten. Dem Handwerk ist für die millionenfachen Ausbildungsleistungen, die bisher erbracht worden sind, zu
danken.
({13})
Die Zeit, in der es „Handwerk hat goldenen Boden“
hieß, ist vorbei. Aber entgegen allen Untergangsvoraussagen, die im letzten Jahrhundert gemacht wurden, ist es
quicklebendig. Die Situation des Handwerks wäre noch
besser, wenn die Rahmenbedingungen stimmten. Das
Handwerk ist der Garant des dualen Ausbildungssystems - des besten Ausbildungssytems der Welt. Überall
werden wir darum beneidet. Aus unserer Sicht ist es
fraglich, ob das nach der Verabschiedung dieses Gesetzes noch so sein wird.
Ich begrüße es nachträglich, dass Bayern einen eigenen Gesetzesantrag zur Novellierung der Handwerksordnung in den Bundesrat einbringen wird.
({14})
Dies wird noch vor der Sommerpause geschehen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihre Absichten für
ein modernes und europafestes Handwerk in zwölf
Punkten festgelegt. Die wichtigsten sind dabei:
Wir sagen Nein zu dem von der Bundesregierung beabsichtigten Kahlschlag der Meisterberufe. „Gefahrengeneigtheit“ als einziges Kriterium ist uns zu wenig.
CDU/CSU haben für die Festlegung der Gewerbe in
Anlage A drei Kriterien aufgestellt: Ausbildungsleistung, Gefahrengeneigtheit und Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter. Das ist der richtige Ansatz.
({15})
Wir lehnen die von Ihnen, Herr Clement, geplante
Sonderregelung strikt ab, wonach sich Altgesellen nach
zehnjähriger Berufserfahrung und fünfjähriger Tätigkeit
in herausgehobener, verantwortlicher oder leitender Stellung auch ohne Meisterbrief in der Anlage A der Handwerksordnung selbstständig machen dürfen.
Übrigens, Herr Minister, ich habe eine Frage an Sie:
Meine Enkelin ist jetzt sechs Jahre alt. Wenn sie acht
Jahre alt ist, werde ich sie zehn Jahre lang bei Volksfesten dauernd Autoskooter fahren lassen. Wenn sie 18
wird, bräuchte sie dann nach Ihren Vorschlägen keinen
Führerschein mehr zu machen, da sie bereits zehn Jahre
Fahrpraxis vorweisen kann.
({16})
Ist das richtig? - Ich habe dieses Beispiel genannt, weil
ich von einem Handwerksmeister diesbezüglich gefragt
worden bin. Ich habe ihm versprochen, dass ich die
Frage gerne an Sie weitergeben werde.
Wir, die CDU/CSU, sind jedenfalls für Einzelfallentscheidung. Dabei muss der Betriebsinhaber etwas von
Ausbildung und Betriebsführung verstehen. Klar und
deutlich sagen wir deshalb Nein zur „Existenzgründung
light“.
Wir wollen des Weiteren die Handwerksordnung
öffnen. Künftig soll zur Existenzgründung im Handwerk
auch die Qualifikation von Technikern, Ingenieuren und
Industriemeistern berechtigen. Zudem soll die Meisterprüfung die Tür zu einem Hochschulstudium öffnen. Wir
wissen, dass dies alles in erster Linie von den Ländern
geregelt werden muss. Aber wir sollten das Ganze seitens des Deutschen Bundestages positiv begleiten. Wir
wollen außerdem, dass als Voraussetzung für die Zulassung zur Meisterprüfung keine Gesellenjahre mehr erforderlich sind. Wir wollen das Inhaberprinzip ändern
und Personengesellschaften gegenüber Kapitalgesellschaften nicht mehr benachteiligen. Als Meister sollte
man aber höchstens in zwei Betrieben fungieren können.
Dadurch verhindern wir einen Betriebsleitertourismus.
Eine Reform der Kammern und deren Beitragswesen
wollen wir nicht innerhalb der Novellierung der Handwerksordnung, sondern in Abfolge vornehmen. Dabei
werden wir auch der Bürokratie nachhaltig zu Leibe rücken.
Der heute zu verabschiedende Entwurf eines Gesetzes
über die Ich-AGs muss, wie ich bereits gesagt habe, als
Teil der Gesamtnovelle gesehen werden und dem Bundesrat zugeleitet werden. Der Zusammenhang kann nicht
bestritten werden. Ich hoffe, dass das Ganze in einem
Paket verabschiedet wird. Die Betätigungsfelder der so
genannten Ich-AGs müssen unserer Meinung nach auf
den Bereich der jetzigen Anlage B - handwerksähnlicher
Bereich - beschränkt werden; denn wir wollen nicht,
dass ein Meister, der ausbildet, zu guter Letzt der
Dumme ist.
({17})
Eines muss bei der Novellierung der Handwerksordnung klar sein: Der Standort Deutschland braucht eine
hohe Qualifikation. Nur Unternehmen mit Qualität - das
sind nun einmal die Meisterbetriebe - können unser
Land wieder nach vorne bringen. Voraussetzung ist aber,
dass Sie von Rot-Grün das auch zulassen. Das Handwerk in Deutschland braucht mehr Arbeit und Aufträge,
mehr Meister statt Ich-AGler, verehrter Herr Bundesminister Clement.
({18})
Wie hieß es in der Vergangenheit immer - das gilt auch
für die Gegenwart -: „Lehrling ist jedermann. Geselle
ist, der was kann. Meister ist, der was ersann.“ Was für
den Arzt der Doktortitel ist, ist für Betriebsinhaber und
Handwerker der Meisterbrief. Wir meinen, dass dieses
Prädikat bestehen bleiben soll. Das wollte ich für die
CDU/CSU-Fraktion besonders einfordern; denn
Deutschland braucht weiter den Meister. Er ist schließlich Fachmann, Kaufmann und Techniker in einer Person.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDPFraktion, ich freue mich, dass uns in diesem Bereich fast
nichts trennt
({19})
und dass wir an einem Strang ziehen, um dem Meister
eine Zukunft zu geben. Ich hoffe, dass der Bundesrat in
der Lage sein wird, die Korrekturen vorzunehmen, die
vorgenommen werden müssen, um die Grundlagen für
einen modernen Meister für die nächsten Jahre und Jahrzehnte in einem freien und zusammenwachsenden Europa zu schaffen.
Ich bin auch der festen Überzeugung, dass zumindest
auf einigen Seiten die Bereitschaft dazu vorhanden ist.
Herr Müntefering, Sie sind ja genauso wie wir oftmals in
Lernprozessen begriffen. Wenn Sie diesen Lernprozess abgeschlossen haben, dann ist die Hoffnung gegeben - das ist
mein letzter Satz -, dass Sie zur Einsicht kommen und
das, was Sie vorhaben, nicht umsetzen, sondern dem
Handwerk eine Zukunftsperspektive geben, die es dringend braucht, um auch künftig tief und gut atmen zu
können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Hinsken, Ihre Lebkuchen haben mich bei
Gelegenheit schon überzeugt,
({0})
aber Ihre Argumente noch nicht. Ich will Ihnen darstellen, warum.
Wenn man über die Handwerksordnung redet, dann
muss man über Grundsätze der Marktwirtschaft reden. Marktwirtschaftliche Systeme sind anderen deswegen überlegen, weil sie auf freiem Wettbewerb beruhen,
auf freiem und uneingeschränktem Zugang der Marktteilnehmer zum Markt, übrigens auch auf der Souveränität der Verbraucher, auswählen zu können, bei wem sie
Arbeiten in Auftrag geben und bei wem nicht.
Deswegen müssen wir als Staat dann, wenn wir Zugangsbeschränkungen zulassen, diese ganz besonders
begründen. Wir müssen da sehr vorsichtig sein und überlegen, ob sie nicht zu weit gehen, und sie bei Gelegenheit auch überprüfen. Genau dies tun wir.
Ich will zwei Zitate von Personen anführen, auf die
Sie sonst hören, und zwar dazu, wie sie in Bezug auf die
Ordnungspolitik in unserer Marktwirtschaft die gegenwärtige Handwerksordnung sehen. Professor Norbert
Berthold von der Universität Würzburg sagt: „Der Meisterbrief ist eine lupenreine Marktzutrittsbeschränkung.“ Ganz klare Aussage also: Hier wird der Marktzutritt
durch den Staat beschränkt und damit werden Wettbewerb und Marktwirtschaft eingeschränkt. Im Jahresgutachten 2002/03 des Sachverständigenrats - Zitate daraus
halten Sie der Bundesregierung ja gern vor - heißt es:
In einem wichtigen Teilbereich des Mittelstands,
nämlich dem Handwerk, wird der Wettbewerb
durch Zugangsbeschränkungen erschwert.
Das ist der Sachverhalt.
Was die Bundesregierung hier macht - das ist ja alles
auch im Rahmen der Agenda 2010 zu sehen -, ist nichts
anderes als
({1})
die Überprüfung, in welchem Bereich diese Zugangsbeschränkung aufrechterhalten werden kann und in welchem Bereich sie abgeschafft werden muss. Klare Antwort: Bei gefahrengeneigten Berufen wird der
Meisterbrief weiterhin obligatorisch sein. Überall sonst
gilt: Der Wettbewerb, die Kundensouveränität werden es
richten, übrigens auch zugunsten des Handwerks. Ich
würde mir an Ihrer Stelle nicht die Sorge machen, dass
gutes Handwerk dabei untergehen wird.
({2})
Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Türk?
Ja, bitte.
Herr Kollege Kuhn, Sie wollen durch die Novellierung
der Handwerksordnung Marktzutrittsbeschränkungen beseitigen und damit Arbeitsplätze schaffen. In dem Ziel
sind wir uns noch einig. Meinen Sie aber nicht auch, dass
es daran liegt, dass wir zu wenig Aufträge haben - und
nicht, wie Sie sagen, zu viele Handwerksbetriebe - und
dass der Umfang der Bürokratie und die Höhe der Kostenlast die eigentlichen Marktzutrittsbeschränkungen
sind?
Es gibt vieles, was wir ändern müssen. Selbstverständlich hat das Handwerk auch deswegen Probleme,
weil die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Sie können im
Rahmen der Agenda 2010 und der Reformen bei Rente
und Gesundheit mitmachen und so mit dazu beitragen,
dass die Lohnnebenkosten sinken.
({0})
Dann wird die Handwerkerstunde für die Verbraucherinnen und Verbraucher günstiger und wird es dem Handwerk besser gehen. Die ganze Veranstaltung, die wir
jetzt gerade durchführen, die Agenda 2010, hat den Sinn,
den Laden an verschiedenen Stellen aufzufrischen. Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie bei der Kostensenkung mit,
({1})
machen Sie mit bei der Finanzierung des Vorziehens der
nächsten Steuerreformstufe! Dabei geht es nämlich auch
um die Personengesellschaften, um die mittelständischen Betriebe: Wenn die Steuersätze für diese Betriebe
schneller sinken können, dann ist deren Bereitschaft, in
Investitionen einzusteigen, größer.
({2})
Sie haben hier eine Verantwortung für das Gesamtpaket.
Ihre politische Vorgehensweise, Herr Hinsken, ist ja
ganz eindeutig: Bei den Vorhaben, die Ihnen recht sind,
machen Sie mit, aber sobald starke Lobbys wie Apotheker- und Handwerksverbände auftreten, sagen Sie: Nein,
diese Vorhaben sind vom Teufel, die tragen wir nicht
mit. Das ist nicht in Ordnung.
({3})
Ich möchte jetzt einmal die zentralen Argumente für
die Änderung der Handwerksordnung, die wir vorhaben,
nennen:
Erstens. Wir sind für mehr Wettbewerb. Ich möchte
noch einmal festhalten: Wettbewerb ist das konstitutive
Element einer Marktwirtschaft. Wenn man feststellt,
dass es Elemente gibt, die den Wettbewerb untergraben
und verhindern, muss man sie beseitigen. So einfach ist
Marktwirtschaft. Ihr ganzes Gerede nützt da überhaupt
nichts.
({4})
Wir sind für sinkende Preise. Es ist ja bekannt, dass
funktionierender Wettbewerb - übrigens: Wettbewerb
um Preise und Qualität - auch zu Preissenkungen führen
kann. Bei den einfachen Tätigkeiten, deren Liberalisierung Sie so bekämpfen, findet gar kein Wettbewerb statt.
Ich sage es klipp und klar: Verbraucherinnen und Verbraucher haben große Probleme, für viele einfache handwerkliche Tätigkeiten einen Handwerksbetrieb zu finden, der sie zeitnah, schnell und unkompliziert ausführt.
Ehe Sie das bestreiten und die Handwerksbetriebe verteidigen, fragen Sie sich doch einmal, warum die vielen
Allroundfirmen, die einfache Tätigkeiten schnell und
unkompliziert ausführen, so einen extremen Zulauf haben. Ich kann nur sagen: Da haben Teile des Handwerks
- ich betone: Teile - wirklich gepennt, was diesen Markt
angeht. Das werden wir verändern.
Warum soll denn jemand, der eine Tapete anstreicht,
unbedingt aus einem Meisterbetrieb kommen? Dafür
gibt es kein vernünftiges Argument; es geht doch auch
so. In diesem Zusammenhang möchte ich Ludwig Erhard zitieren, der gesagt hat: Beim Wettbewerb kommt
es darauf an, was den Verbrauchern nützt. Das ist der
Sinn der Marktwirtschaft. Hierzu braucht man keine
Kartelle oder sonstige Lobbys. Wir beschließen jetzt unser Gesetz; der sich daraus ergebende Wettbewerb wird
zu Preissenkungen und mehr Qualität führen.
({5})
Ihre Rede, Herr Hinsken, beinhaltete einen Widerspruch, auf den ich Sie hinweisen möchte: Wenn das
Handwerk Arbeiten so qualifiziert und gut ausführt, wie
Sie sagen - ich glaube übrigens, dass wir sehr gute
Handwerker in der Bundesrepublik Deutschland haben,
die etwas gelernt haben und ihren Job gut ausführen -,
dann braucht es doch den Wettbewerb nicht zu fürchten,
Herr Hinsken.
({6})
Sie sagen: Schützt unser Handwerk! - Aber warum
denn, wenn Sie es gleichzeitig so loben? Das ist ein Widerspruch in Ihrer Argumentation. Im Handwerk arbeiten Hochqualifizierte. Die, die gut sind, werden Wettbewerb nicht zu fürchten haben. Ihre Argumentation ist
ängstlich und drückt eigentlich Misstrauen gegenüber
der Qualität des Handwerks aus. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie diesen Punkt noch einmal überdenken
sollten.
({7})
Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken?
Bitte, Herr Hinsken.
Herr Kollege Kuhn, ist es Ihrer Meinung nach lauterer
Wettbewerb, wenn der Meisterbetrieb Sozialabgaben
und Steuern zu zahlen und die ganze Bürokratie zu tragen hat, während der Inhaber einer so genannten Ich-AG
weder Steuern noch Sozialabgaben zu zahlen hat, bürokratisch nicht belastet ist usw. und zu guter Letzt noch
einen Zuschuss vom Staat bekommt, also subventioniert
wird? Ich kann Ihre Argumentation nicht nachvollziehen. Für mich bricht hier eine Welt zusammen.
({0})
Wir haben die Ich-AGs ja als Einstieg von Arbeitslosen in die Erwerbsarbeit vorgesehen. Das Ziel der ganzen Maßnahme ist, dass sich aus diesen Ich-AGs nach
einer gewissen Zeit - Sie kennen die zeitlichen Beschränkungen - Betriebe entwickeln, die sich ohne jede
Unterstützung am Markt halten können.
({0})
Wir sehen am Markt einen Bedarf für einfache Tätigkeiten, der heute in der Regel durch Schwarzarbeit befriedigt wird. Wir haben mit diesem Gesetz eine Regelung
gemacht, mit der einfache Tätigkeiten leichter in die normale und damit sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit überführt werden. Genau das ist unser Ziel. Dabei
liegen wir ja nicht so weit auseinander. Nur, Sie haben
bisher kein Instrument genannt, wie man solche Tätigkeiten aus dem Bereich der Schwarzarbeit herausholen
kann. Wir sind alle gespannt auf den Gesetzentwurf aus
Bayern. Ich bin ganz sicher, dass da dann die entsprechenden Regelungen enthalten sind.
({1})
Ich komme jetzt zu meinem zweiten Punkt, Herr
Hinsken: Wir sind für Kundensouveränität. Die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland können
selber einen Betrieb für die handwerklichen Leistungen,
die sie erbracht haben wollen, aussuchen. Sie können in
Zukunft souverän entscheiden, ob sie jemanden haben
wollen, der das Verbrauchergütesiegel Meisterbrief hat,
oder ob sie einen Betrieb beauftragen, der es nicht hat.
Sie werden es in der Qualität beurteilen. Sie werden es
im Preis beurteilen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wie die
Union als eine Partei, die sagt, sie sei für Marktwirtschaft, auf den Gedanken kommt, dies verhindern zu
wollen, kann ich bis heute nicht nachvollziehen.
({2})
Wir wollen mehr Existenzgründungen. Wir wollen
mehr Arbeitsplätze schaffen. Und wir wollen mit dem,
was heute zu beraten ist, einen Beitrag zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit leisten. Schwarzarbeit hat viele Ursachen. Eine davon sind die hohen Lohnnebenkosten;
ich glaube, da sind wir uns vom Grundsatz her einig.
Eine weitere Ursache dafür sind aber natürlich auch die
Zugangsbeschränkungen bei handwerklichen Berufen.
Wir wissen nicht genau, wie viele Leute in diesem Bereich in der Schwarzarbeit sind; es ist auch klar, dass das
schwer zu erfahren ist. Aber es ist doch logisch, dass
viele, die diesen langen Weg über die Meisterprüfung
nicht gehen wollen oder können, die Fähigkeiten, die sie
haben, einfach auf dem Schwarzmarkt anbieten. Unser
Vorhaben ist also ein weiterer Baustein zur Bekämpfung
der Schwarzarbeit; so haben wir es auch bei den Minijobs im Haushaltsbereich gemacht. Wenn Sie sich die
Sache im Überblick vergegenwärtigen, dann erkennen
Sie, dass diese Regierung an vielen verschiedenen Stellen dagegen kämpft, dass sich die Schwarzarbeit weiter
ausbreitet.
Mein nächstes Argument: Wir sind dagegen, dass Inländer in der Bundesrepublik durch die Handwerksordnung diskriminiert werden. Ich muss Ihnen ganz ehrlich
sagen: Zum Argument Europa ist Ihnen in diesem Zusammenhang bisher nichts Gescheites eingefallen.
({3})
Es geht doch nicht, dass jemand in Deutschland, wenn er
einen Handwerksbetrieb aufmachen will, Beschränkungen unterliegt, die für den Kollegen zum Beispiel aus
Frankreich nicht gelten.
({4})
Da muss man etwas tun.
({5})
Deswegen ist unsere Reaktion vernünftig.
({6})
Ich verstehe die ordnungspolitische Konzeption der
CDU/CSU nicht. Ich will Ihnen noch einmal vergegenwärtigen, Frau Merkel, was Sie im Wahlkampf in Ihrem
Sofortprogramm dargestellt haben. Dort heißt es:
Schritt für Schritt werden wir die notwendigen Reformen einleiten, den überbürokratisierten Arbeitsmarkt entriegeln …
Ich sage klipp und klar: Wenn Sie den Arbeitsmarkt entriegeln wollen, dann ist es doch nicht damit getan, die
Zugangsbeschränkungen in der Handwerksordnung, die
nicht notwendig sind, hier im Bundestag zu verteidigen.
Vielmehr müssen Sie einen substanziellen Vorschlag
machen, wie man entriegeln und entbürokratisieren soll.
Frau Merkel, mit „neuer sozialer Marktwirtschaft“ hat
die Verriegelung des Arbeitsmarktes und haben Zugangsbeschränkungen überhaupt nichts zu tun. Dieses
Konzept, das Sie in der Öffentlichkeit immer darstellen,
können Sie vergessen.
({7})
Auf einen Widerspruch möchte ich die Union hinweisen. Sie sagen: Um die Anzahl der Gewerke in der
Anlage A der Handwerksordnung zu erhalten, sollte
nicht nur das Kriterium der Gefahrengeneigtheit, sondern sollten auch andere Kriterien herangezogen werden, zum Beispiel die Ausbildungsintensität und der
Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter. Wenn Sie ernst
meinen, was Sie da sagen, dann müssen Sie viele der
Gewerke, die heute in der Anlage B sind, in die
Anlage A nehmen, weil sie sowohl viel ausbilden als
auch wichtige Gemeinschaftsgüter zur Verfügung stellen. Was die Union da will, ist: mehr aus der Rolle B in
die Rolle A. Damit würden Sie das Handwerk noch weiter verriegeln. Ich glaube, Sie haben sich diese Geschichte nicht konsequent überlegt. Nach dem, was Sie
uns hier erzählen, sind Sie für noch mehr Bürokratie und
noch mehr Zugangsbeschränkungen.
({8})
Meine Fraktion unterstützt den Gesetzentwurf der
Bundesregierung, hat aber an zwei Stellen noch Anfragen, Herr Minister. Wir werden im Verfahren im Bundestag noch stärker darauf achten, ob wirklich alle Berufe,
die jetzt nach Ihrem Vorschlag in der Handwerksrolle A
stehen, in dem Sinne gefahrengeneigt sind, wie wir es in
unserer gemeinsamen Definition festgelegt haben. Ich
glaube, dass es eine ganze Reihe von Berufen gibt, die
noch in die Rolle B überführt werden können. Dafür werden wir uns einsetzen, ebenso wie für die Beantwortung
der Frage, ob man eigentlich wirklich zehn Jahre braucht,
bis Gesellen in der Handwerksrolle A einen Betrieb übernehmen können, oder ob dies nicht in kürzerer Zeit geht.
Ich will noch zu einem weiteren Punkt etwas sagen,
nämlich zu dem Ausbildungsargument. Ein zentrales Argument der Union ist: Wer jetzt weniger Betriebe in der
Meisterpflicht hält, schadet der Ausbildung.
({9})
Ich kann Ihnen nur sagen: Die tatsächliche Entwicklung,
wie viele Betriebe wir von A nach B verschieben, gibt
Ihrem Argument nicht Recht.
Die entsprechenden Zahlen sind bekannt: Nach dem
Entwurf der Bundesregierung gibt es 455 000 Betriebe
mit Gewerben in der Anlage A und 214 000 Betriebe
mit Gewerben in der Anlage B. Aus diesen Zahlen kann
man Ihr Argument also nicht ableiten. Wir reden über
ein Drittel der Betriebe und ein Viertel der Auszubildenden.
Wenn man sich anschaut, dass die Ausbildungsleistung des Handwerks zurückgegangen ist - das liegt
auch an der Krise, in der sich das Handwerk befindet;
das darf man dem Handwerk nicht vorwerfen -, dann
wird doch offensichtlich, dass der Bedarf des Handwerks an Jungmeistern - aus demographischen Gründen
wird dieser Bedarf ab 2005 noch größer sein als heute allein über die Regelungen der Handwerksordnung gar
nicht mehr bedient werden kann. Deswegen ist es völlig
absurd, wenn Sie noch mehr Betriebe von der Anlage B
in die Anlage A bringen wollen. Das können Sie letzten
Endes auch nicht durchsetzen.
({10})
Es gibt noch ein weiteres Argument und dieses Argument ist perfide. Es wird nämlich behauptet, Betriebe,
die nicht mehr meisterpflichtig sind und in denen nur
einfache Tätigkeiten ausgeführt werden, würden nicht
mehr ausbilden.
({11})
Diese Behauptung ist empirisch nicht bewiesen. Sie wissen, dass in Betrieben der Anlage B sehr intensiv ausgebildet wird. Wenn Handwerksfunktionäre, wie in den
Medien dargestellt, zum Teil jetzt davon sprechen, dass
sie nicht mehr ausbilden, wenn diese Novelle in Kraft
tritt, dann muss ich sagen: Das ist eine politische Erpressung. Diejenigen, die so reden, sägen selber den Ast ab,
auf dem sie sitzen, weil qualifiziertes Handwerk auch
qualifizierte Ausbildung braucht.
({12})
Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Michelbach?
Ja, bitte.
Herr Kollege Kuhn, ich frage Sie, ob Sie jemals in einem Betrieb ausgebildet haben. Wahrscheinlich haben
Sie das nicht getan. Für meinen Betrieb stelle ich jedenfalls fest, dass es einen engen Zusammenhang zwischen
der Größe und der Leistungsfähigkeit eines Betriebs auf
der einen Seite und der Ausbildungsfähigkeit auf der anderen Seite gibt. Es gibt also einen Unterschied zu demjenigen, der als Einzelperson mit meinem Betrieb im
Wettbewerb steht. Wenn Sie die Ich-AGs in dieser Form
weiter begünstigen, was für das Handwerk wettbewerbsverzerrend ist, dann wird diese Wettbewerbsverzerrung
selbstverständlich automatisch zu einer geringeren Ausbildungsleistung führen. Es handelt sich also sozusagen
nicht um eine künstliche Geiselhaft, die Sie anprangern,
sondern es ist eindeutig die Folge Ihrer Politik und Ihres
Gesetzes. Diesen Punkt muss man ganz klar ins Auge
fassen.
({0})
Lieber Herr Kollege, ich teile Ihr Argument überhaupt nicht. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Es gibt
kein stichhaltiges Argument, warum sich die Größe eines Betriebs, dessen Gewerbe heute in der Anlage A
aufgelistet wird und nach dem Vorschlag der Regierung
in die Anlage B wechseln soll, verändern soll. Das
Argument „Je kleiner der Betrieb ist, desto weniger wird
ausgebildet“ trifft nicht zu.
Noch eine Bemerkung zu den einfachen Tätigkeiten.
Wer sagt Ihnen denn, dass aus den Ich-AGs, die logischerweise nur wenige Beschäftigte haben, durch den
Wettbewerb, den wir anstoßen, nicht eines Tages größere
Betriebe werden können? Es gibt kein stichhaltiges Argument dafür, dass das nicht möglich sein soll.
Sie wollen etwas anderes. Sie wollen diejenigen, die
keinen Meisterbrief haben, schon heute präventiv die
Bereitschaft und den Willen absprechen, auszubilden.
Das ist reine Ideologie. Dafür können Sie uns kein vernünftiges Argument nennen. So können wir nicht verfahren.
({0})
Schauen wir einmal ins Ausland - das soll gelegentlich helfen -, zum Beispiel nach Österreich.
({1})
Der Untergang eines Berufsstandes - das ist doch Ihr Argument - hat in den Ländern, die die Regelungen gelockert haben, nicht stattgefunden. Dort sind viele neue
Betriebe entstanden; dort ist das Handwerk nicht ruiniert
worden. Ein empirischer Blick auf die tatsächliche Situation in anderen Ländern würde Ihnen zeigen, dass es
gelegentlich klug ist, in Marktwirtschaften auch nach
50 Jahren - so lange geht die Diskussion schon -, zu
überprüfen, ob die ordnungspolitischen Instrumente
noch stimmen.
({2})
Herr Kollege Kuhn, Sie können Ihre bereits abgelaufene Redezeit noch verlängern, indem Sie auf eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte eingehen.
({0})
Bitte schön, Herr Schauerte.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. - Ich denke, die Ausbildungsdichte ist das zentrale Argument, um das wir
politisch ringen sollten. Deswegen lohnt es, sich im Rahmen einer Frage damit noch einmal zu beschäftigen.
Können Sie nicht bestätigen, dass erstens das Handwerk, so wie es heute verfasst ist, 3,5-mal mehr ausbildet
als die übrige Wirtschaft
({0})
und dass zweitens zum Beispiel der Handel oder die
freien Berufe bei 710 000 Existenzen 160 000 Auszubildende haben und das Handwerk bei 540 000 Existenzen
etwa 560 000? Können Sie, bezogen auf Arbeitsplätze
und Betriebszahlen, bestätigen, dass Handwerker, nach
Anlage B deutlich weniger ausbilden als die Handwerker
nach Anlage A? Können Sie angesichts dessen, dass das
so ist, nicht nachvollziehen, dass wir aufgrund der Situation, dass wir schon jetzt 80 000 Ausbildungsplätze zu
wenig haben und möglicherweise eine psychologische
Verärgerung der Handwerksmeister, die so intensiv ausbilden, hinzukommt, mit Ihrer rabiaten Vorgehensweise
die Zahl der fehlenden Ausbildungsplätze leicht um weitere 100 000 vergrößern können? Das ist unsere Sorge.
({1})
Herr Schauerte, selbstverständlich gibt es unter uns
- ich bin dankbar für Ihre Frage - keinen Streit darüber,
dass das Handwerk in Deutschland hervorragende Ausbildungsleistungen erbracht hat und erbringt; das ist
doch nicht strittig.
({0})
Das entscheidende Argument ist aber, dass die Zugangsbeschränkung, die wir heute haben, ein Wettbewerbshindernis ist und dass es kein systematisches Argument dafür gibt, warum Betriebe, deren Gewerbe
nicht mehr in der Anlage A, sondern in Anlage B aufgelistet sind, oder auch die neuen Betriebe der einfachen
Tätigkeiten weniger ausbilden.
({1})
Ich will auf Ihre Frage eingehen. Sie haben Recht:
Die Ausbildungsdichte ist heute bei Betrieben nach
Anlage A größer als bei solchen nach Anlage B. Den
Grund dafür haben Sie aber unterschlagen. Der Grund
dafür ist, dass Betriebe nach Anlage B gegenwärtig in
der Regel kleinere Betriebe sind. Das liegt am Zuschnitt
der Gewerbe. Angesichts der Tatsache, dass Gewerbe
von Anlage A in die Anlage B kommen, können Sie
doch niemandem erzählen, dass diese Betriebe deswegen schrumpfen.
Ich will Ihre Frage zum Anlass nehmen, an die Demographie zu erinnern. Diese Diskussion ist ein wenig eine
Gespensterdiskussion. Ab 2005 werden die Jahrgänge,
die die Schule verlassen, in ihrer Zahl schwächer. Das
heißt, wir werden überall das Problem bekommen, qualifizierte junge Leute für die Ausbildung zu gewinnen.
Das Beste, was wir tun können, ist, durch mehr Wettbewerb viele Betriebe neu auf den Markt zu bringen, sodass Ausbildungschancen für alle bestehen werden.
({2})
Herr Schauerte, Sie haben die Frage angesprochen, ob
die Betriebe nicht durch die Diskussion über diese Veränderungen demotiviert werden. Dazu will ich Ihnen
klipp und klar sagen: So wie Sie die Diskussion führen,
kann das passieren. Denn Sie bringen die Handwerker
vor Ort - wir bekommen ja mit, was da vorgeht - zum
Teil gegen die Bundesregierung in Stellung - und das
nicht aus Leidenschaft in der Sache, sondern deswegen,
weil Sie sich erhoffen, daraus politisches Kapital schlagen zu können. Sie sind verantwortlich dafür, wenn Demotivation entsteht. Sie glauben, Sie könnten die Leute
verrückt machen und aufhetzen.
({3})
Zum Abschluss möchte ich feststellen: Wenn wir eine
mutige, nach vorn gewandte Wirtschaftspolitik machen
wollen, kommt es sehr darauf an, dass wir uns den gut
organisierten Lobbys entgegenstellen.
({4})
Der CDU/CSU muss ich sagen: Sie zeigen immer mit
ausgestrecktem Finger auf die SPD und die Gewerkschaften. Sie jedoch sind in einem Lobbydenken gefangen. Sie sind vor den Handwerksorganisationen in die
Knie gegangen und haben eine eigenständige wirtschaftspolitische und ordnungspolitische Konzeption
aufgegeben. Ich glaube, dass sich das rächt, auch wenn
Sie es geschafft haben, 1 000 Personen zu diesem
Thema hier zu versammeln. Wenn 1 000 Leute auf eine
Einladung von Frau Merkel kommen, dann ist das schon
ein besonderes Ereignis. Aber der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung wird das nicht gut tun.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Dirk Niebel, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bundesarbeitsminister Clement hat heute
ebenso wie gestern den Zustand, in dem wir uns befinden, ganz richtig beschrieben. Das Handwerk hat
schwere strukturelle Probleme. Die Bundesrepublik
Deutschland und die deutsche Wirtschaft insgesamt haben Probleme. Wir haben seit der Wiedervereinigung die
höchste Arbeitslosigkeit, und das nicht nur in einem Monat, sondern drei Monate in Folge. Wir haben im letzten
Jahr seit der Wiedervereinigung die höchste Zahl an Insolvenzen - übrigens noch die wenigsten im Handwerksbereich - in der Geschichte der Bundesrepublik gehabt.
({0})
Der Bundeswirtschaftsminister hat diesen Zustand völlig
richtig beschrieben.
Aber schuld daran ist doch nicht der Meisterbrief,
schuld daran ist die verkorkste Politik von Rot-Grün im
Bereich Wirtschaft, Arbeit und Finanzen.
({1})
Wir haben die Situation, dass ungefähr 14 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland im Handwerk beschäftigt sind, aber 32 Prozent aller Auszubildenden im
Handwerk ausgebildet werden. Wenn jetzt die durchaus
notwendige Modernisierung der Handwerksordnung in
der Art und Weise, wie Sie das vorhaben, betrieben
wird, dann werden diejenigen verprellt, die das Rückgrat der Ausbildung und der Arbeitsplätze in Deutschland sind.
({2})
Herr Clement, Sie haben bei den Verhandlungen über
die Ergebnisse der Hartz-Kommission im Vermittlungsverfahren, als die Ich-AG herausgelöst worden ist, uns,
die wir in kleiner Runde zusammengesessen haben, versprochen, dass Sie gemeinsam mit der Opposition, dem
Bundesrat und den Betroffenen beraten, wie die Handwerksordnung modernisiert, zukunftsfähig und europafest gemacht wird. Dieses Versprechen haben Sie nicht
eingehalten.
({3})
Es gab kein gemeinsames Gespräch mit der Opposition
und den Handwerksvertretern, es gab noch nicht einmal
ein Gesprächsangebot. Sie haben Ihr Versprechen
schlichtweg gebrochen, haben eine Handwerksordnungsnovelle mit der Herauslösung von 65 Berufen auf
den Weg gebracht und sie den Handwerkern vors Hirn
geknallt, ohne diejenigen, denen Sie es vorher fest zugesagt haben, daran zu beteiligen.
({4})
Wenn das nicht zu Vertrauensverlust führt, dann möchte
ich wissen, was die Politik sich sonst noch erlauben
kann.
({5})
Vor einiger Zeit war einer der größten Arbeitgeber die
Firma Wayss & Freytag. Heute ist der größte Arbeitgeber in Deutschland die Firma Schwarz & Samstag. Daran ist nicht das Handwerk schuld, daran ist schuld, dass
die Steuern und Abgaben zu hoch sind, dass die sozialen
Sicherungssysteme überbordet sind, dass die Betriebe
und die Privaten zu wenig Geld in der Tasche haben, um
investieren und konsumieren zu können, dass sie andere
Wege suchen, weil es sich in der Schattenwirtschaft und
im Graubereich einfach mehr lohnt. Daran ist unter anderem Ihre Regierungspolitik schuld,
({6})
weil Sie mit der Arbeitsmarktüberregulierung, die Sie in
den ersten vier Jahren Ihrer Regierungszeit betrieben haben, den Menschen die Lust genommen haben, im regulären Arbeitsmarkt tätig zu werden.
Wir haben mit der Ich-AG ein neues Instrument bekommen, eine weitere Pflanze im unüberschaubaren
Dschungel der Förderinstrumentarien der Bundesanstalt
für Arbeit. Statt das vorhandene Instrumentarium zu
stärken, zum Beispiel das Überbrückungsgeld, das Arbeitslose in die Selbstständigkeit führen soll und das außerordentlich gut angenommen wird, wie auch Sie richtigerweise festgestellt haben, führen Sie ein neues
Instrument ein, das im Endeffekt doch nur dazu führt,
dass Einzelunternehmen gegründet werden, die nicht
viel verdienen können, die auf jeden Fall niemanden einstellen dürfen, weil sie dann nämlich keine Ich-AG mehr
sind, und die deswegen garantiert, von Gesetzes wegen,
niemanden ausbilden. Das ist eindeutig der falsche Weg.
({7})
Wir brauchen eine Regierungspolitik, die die Menschen mitnimmt. Sie haben auch beim Handwerkertag
gesagt, Sie wollen die Novelle der Handwerksordnung
gemeinsam mit dem Handwerk auf den Weg bringen, damit diejenigen, die sie hinterher auszubaden haben - in
diesem Fall muss man das so sagen -, damit leben können.
Wir wissen doch, dass die Handwerksvertreter mittlerweile einsehen, dass hinsichtlich der Handwerksordnung Modernisierungsbedarf besteht, der über die Novelle von 1998 hinausgeht. Sie könnten die bestehende
Bereitschaft nutzen und die Menschen auf dem Weg zur
Schaffung von neuen Chancen und neuen Arbeitsplätzen
mitnehmen, statt sie so zu verprellen, wie das jetzt geschieht.
({8})
Die FDP hat schon bei der Beratung der kleinen
Novelle der Handwerksordnung Vorschläge für eine
große Novelle eingebracht, die heute nicht Thema sind,
aber in der Anhörung Thema sein werden. Wir haben
Vorschläge gemacht, wie das Handwerk zukunfts- und
europafest gestaltet werden kann. Ich denke, dass diese
Vorschläge, die mit vielen Handwerkerinnen und Handwerkern abgestimmt sind, zielführend sind, was die notwendigen Modernisierungsschritte betrifft, dass sie aber
nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und nicht einen der wichtigsten Wirtschaftszweige in der Bundesrepublik Deutschland weiter schwächen.
Ich biete Ihnen an, auf diesem Wege zusammenzuarbeiten. Nehmen Sie unsere Vorschläge an. Gestalten Sie
die Novelle nicht so, wie Sie es jetzt vorhaben. Werden
Sie erst einmal Lehrling,
({9})
lernen Sie die Grundlagen des politischen Zusammenarbeitens und werden Sie dann Geselle! Vom Meister sind
Sie noch ziemlich weit entfernt. Diese Regierung ist allenfalls ein Meister des Dilettantismus.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Neulich hat mich eine junge Frau
angerufen
({0})
- übrigens eine interessante Frau -, sie ist gelernte Friseuse und seit Monaten arbeitslos. Ihr Arbeitslosengeld
hat sie hier und da durch etwas Schwarzarbeit aufgebessert. Schwarzarbeit insgesamt findet sie aber nicht gut
und will gerne offiziell in ihrem Beruf arbeiten. Sie hatte
von der Ich-AG gehört und vom Existenzgründungszuschuss des Arbeitsamtes. Darin sah sie die Chance, endlich legal tätig werden zu können. Sie meldete sich beim
Arbeitsamt, gab ihren Berufswunsch an, sagte, dass sie
sich selbstständig machen wolle und bekam die Antwort,
sie solle zur Handwerkskammer gehen. Gesagt, getan.
Bei der Handwerkskammer hat man ihr gesagt, es täte
ihnen Leid, dass sie nichts für sie tun könnten, aber sie
müsse in die Handwerksrolle eingetragen werden. Da sie
keine Meisterprüfung habe, drohe ihr, wenn sie sich
selbstständig mache, ein Bußgeld. Aus der Traum von
der Selbstständigkeit, eine Chance vertan.
Das muss man sich einmal vorstellen: Da will sich jemand aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig machen und etwas riskieren. Wir aber sagen, das geht nicht,
da Bestimmungen, Regulierungen, Bürokratie und Paragraphen das nicht zulassen. Diese würden wir in diesem
Hause bei nüchterner Betrachtung, wie ich glaube, allesamt als unsinnig ansehen.
({1})
Was haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, eigentlich gegen Bürokratieabbau?
({2})
Wir wollen, dass dieser absurde Zustand in unserem
Lande - er ist leider Realität - endlich beendet wird.
Wir reden hier nicht nur über Friseurinnen und Friseure, wir reden auch über Fliesen- und Mosaikleger,
Maler und Lackierer, Stuckateure, Parkettleger, Korbmacher, Damen- und Herrenschneider, Schuhmacher, wir
reden über Gebäudereiniger, Fotografen und Buchbinder, ja wir reden über Geigenbauer und Bogenmacher.
({3})
Das ist nur eine kleine Auswahl der Handwerke, die wir
jetzt von alten Regelungen, wie dem großen Befähigungsnachweis, befreien wollen, damit es mehr Selbstständigkeit und mehr Möglichkeiten der Existenz in diesem Lande gibt.
({4})
Ich kann die Gesellen, die vielen arbeitslosen Handwerker und Techniker nur auffordern: Trauen Sie sich etwas zu! Wir sorgen dafür, dass es ein zustimmungsfreies
Handwerk gibt, in dem Sie die Möglichkeit haben, eine
Existenz zu gründen.
({5})
Versuchen Sie sich als Unternehmer! Wir sind bereit, Ihnen dabei zu helfen, Ihnen Unterstützung zukommen zu
lassen.
Wir wollen die Behinderungen, die mehr Existenzgründungen in diesem Lande verhindern, endlich abschaffen.
({6})
Wir werden dafür sorgen, dass sich in diesem Lande
viel mehr Menschen selbstständig machen können, als
das jetzt möglich ist. Wir werden dafür sorgen, dass die
Einschränkung der Berufsfreiheit und die Reglementierung der Gewerbefreiheit auf das absolut notwendige
Maß begrenzt wird. Wir werden dafür sorgen, dass in der
Europäischen Union und vor allem auch hier in Deutschland gleiche Wettbewerbsbedingungen auf den Handwerksmärkten geschaffen werden. Wir werden dafür sorgen, dass Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft drastisch
reduziert werden.
({7})
Das ist ein ganz wichtiges Ziel unserer Handwerksnovellen.
Nichts wächst in unserer Volkswirtschaft so stetig und
so schnell wie der Bereich der Schwarzarbeit und der
Schattenwirtschaft.
({8})
Auch wenn keine gesicherten Kenntnisse über Umfang
und Art der Schwarzarbeit vorliegen, weiß jeder, dass
insbesondere das Baugewerbe, der Gartenbau, das Hotel- und Gaststättengewerbe und die haushaltsbezogenen
Dienstleistungen besonders davon betroffen sind.
Professor Schneider von der Universität Linz, dessen
Analysen in der Öffentlichkeit breite Resonanz finden,
hat ausgerechnet, dass allein im Baugewerbe und in den
Handwerksbetrieben die Schwarzarbeit eine Wertschöpfung von 133 Milliarden Euro ausmacht. Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Vollzeitschwarzarbeitern sind in unserem Lande tätig.
({9})
Wir wollen durch Veränderung der Handwerksordnung
mit dafür sorgen, dass es weniger Schwarzarbeit und
mehr legale Existenz in diesem Lande gibt.
({10})
Wir wollen dafür sorgen, dass die Handwerksordnung
europatauglich wird. Wir stärken die Berufsfreiheit. Die
Opposition, die landein, landaus Tag für Tag das Wort
„Freiheit“ im Munde führt, geht in diesem Punkt mit der
Freiheit aber äußerst zwiespältig um. Von Berufsfreiheit
wollen Sie anscheinend nichts wissen. Sie gehen bei diesem Thema zu einer einfachen Klientelpolitik zurück.
({11})
Meine Kollege Kuhn hat eben sehr deutlich gesagt, wie
das bei Ihnen bei den Arbeitnehmern aussieht. Die Abgeordneten der CDU/CSU und FDP sprechen Bürokratieabbau in jeder Rede an. Kein Redebeitrag ohne Forderung nach Bürokratieabbau. Dafür machen Sie sich
normalerweise stark.
({12})
Hier haben Sie die Möglichkeit, mitzuhelfen,
({13})
durch Bürokratieabbau dafür zu sorgen, dass in diesem
Land mehr Bewegung, mehr Flexibilität und mehr Existenzmöglichkeiten entstehen.
({14})
Sie haben scheinbar ein fast erotisches Verhältnis zu
dem Wort „Deregulierung“. Sie rufen jeden Tag danach.
Hier - nicht nur wenn es um Arbeitnehmerrechte geht haben Sie die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass die notwendige Dynamik im wirtschaftlichen Prozess in diesem
Lande eintritt. Meine Damen und Herren von der Opposition, es fehlt Ihnen an diesem Punkt wirklich an Wahrhaftigkeit.
Wir stehen zum Meister. Wir haben nicht umsonst das
Meister-BAföG deutlich verbessert. Wir stehen für Qualifizierung in diesem Land. Wir wissen, dass die Menschen ohne gute Qualifizierung keine berufliche Perspektive haben. Deshalb sagen wir Ja zum Meisterbrief.
Aber wir sagen Nein dazu, dass der Meisterbrief alleinige Voraussetzung für die Existenzgründung in vielen
Handwerksbereichen sein soll. Das ist überholt und veraltet. Deshalb werden wir die Reform durchführen.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fritz
Kuhn ({15})
Meine Damen und Herren, mit der Verabschiedung
der kleinen Handwerksnovelle heute wird das erste Gesetzesvorhaben aus der Agenda 2010 ins Gesetzblatt
kommen. Es hat, wie wir wissen, bis zum Schluss erhebliches Sperrfeuer von allen Seiten gegen dieses Gesetz
gegeben. Doch wer für einfache Tätigkeiten die Meisterprüfung verlangt, hat den großen Befähigungsnachweis
nicht verstanden, der verstößt gegen die Verfassung und
gefährdet den großen Befähigungsnachweis. Dieser gilt
bekanntlich nur für das Handwerk prägende Tätigkeiten.
Da dies gerade nicht für einfache Tätigkeiten gilt,
gleichwohl in der behördlichen Praxis bei Kammern und
Gerichten seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1992 permanent dagegen verstoßen
wird, muss der Gesetzgeber diese Regelung klarstellen,
damit wir Rechtsklarheit in diesem Land haben. Das
sind wir jungen Existenzgründern schuldig.
Wir halten Kurs und werden uns nicht beirren lasen.
({16})
Wir haben unseren Fahrplan eingehalten. Meine Damen
und Herren von der Opposition, das wird auch so bleiben. Wir werden auch die große Handwerksnovelle zügig beraten und beschließen. Da das Gesetzesvorhaben
diesmal zustimmungspflichtig ist, können Sie es zwar
verzögern; aber wir werden nicht um jeden Preis kompromissbereit sein. Wenn wir den Eindruck haben, dass
Sie kein wirkliches Interesse an einer sinnvollen Veränderung haben, dann werden wir es auch alleine machen.
({17})
Wir sind aber sachgerechten Vorschlägen zugeneigt.
Deshalb erwarten wir einen Kompromiss bei der großen
Novellierung der Handwerksordnung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({18})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gunther
Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Fakt ist, dass die Handwerksordnung modernisiert werden muss. Dem stimmt auch das deutsche Handwerk zu.
In Zeiten eines zusammenwachsenden Europas mag
man sich die Frage stellen, ob es gerecht ist, dass Handwerker aus den EU-Nachbarländern hier ohne Meisterbrief tätig werden können, während von den deutschen
Handwerkern die Meisterprüfung verlangt wird. Vielfach
wird dies als eine unzulässige Inländerdiskriminierung
angesehen. Die Lösung kann nun doch aber nicht darin
liegen, dass man den Meisterbrief für viele traditionelle
Handwerksberufe - nämlich in 65 von insgesamt 94 Berufsbildern - faktisch abschafft. Dies ist nicht nur fantasielos, sondern auch in hohem Maße gefährlich.
({0})
Eine Reform ist nur so gut, wie sie die Menschen abholt und mitnimmt. Springen die Menschen von diesem
Reformzug ab, dann mag dieser Zug vielleicht sein Ziel
erreichen, aber ohne Passagiere.
Seit Jahrzehnten ist das Handwerk bei uns in
Deutschland ein solider Garant für die Ausbildung Hunderttausender junger Menschen, Jahr für Jahr. Fast
530 000 Lehrlinge erhalten zurzeit eine qualifizierte
Ausbildung. Vor gerade einmal zwei Tagen, am Tag der
Ausbildung, hat die Bundesregierung an Unternehmen
und damit auch an kleine und mittelständische Handwerksbetriebe appelliert, mehr Lehrlinge einzustellen
und Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Den Handwerksbetrieben muss dies wie Hohn geklungen haben. Sie haben ohnehin am meisten unter dem
wirtschaftlichen Stillstand in Deutschland zu leiden.
Ausbleibende Aufträge haben viele Handwerksbetriebe
in die Insolvenz getrieben, sodass hoch qualifizierte Arbeitskräfte auf der Straße stehen.
Sofern Ihre Reform beabsichtigt, neue Arbeitsplätze
zu schaffen, geht sie am Ziel vorbei.
({1})
Das Problem liegt doch nicht in der Anzahl fehlender
Arbeitskräfte,
({2})
sondern in den viel zu hohen Lohnnebenkosten für die
vorhandenen Arbeitskräfte.
({3})
Kommt es deshalb vor allem in grenznahen Regionen
zur Beauftragung eines Handwerkers aus einem EUNachbarland, dann hat dies seine Ursache darin, dass
dieser seine Arbeitsleistung wegen geringerer Steuern
und Lohnnebenkosten günstiger anbieten kann als sein
deutscher Kollege.
Diesen Umstand zum Anlass zu nehmen, den Meisterbrief und damit den qualitativen Standard insgesamt
infrage zu stellen, ist neben der Sache. Nein, die von Ihnen vorgeschlagene Reform löst das Problem nicht, sie
ist Teil des Problems.
({4})
Welcher Handwerker fühlt sich denn unter den heutigen Umständen noch motiviert, zu investieren und sein
Geschäft auszubauen? Nur wenn er für sich und seinen
Betrieb eine Perspektive sieht, wird er Neueinstellungen
vornehmen und junge Leute ausbilden.
({5})
Sie müssen endlich erkennen, dass es genau die von
Ihnen heute vorgeschlagenen Maßnahmen sind, die unserem Standortklima nicht nutzen, sondern schaden.
Wenn im Handwerk weniger ausgebildet wird, fehlen
heute die Lehrstellen, morgen die Meister und übermorgen die Unternehmensnachfolger, die diese Betriebe mit
ihren Angestellten weiterführen sollen.
({6})
Ich spreche Ihnen nicht ab, dass Sie erkennen, was
sich gegenwärtig im Ausbildungssektor abzeichnet. Das
einzige, was Ihnen dabei jedoch als Lösung in den Sinn
kommt, ist eine Ausbildungsplatzabgabe als Zwangsabgabe, frei nach dem Motto: Und bist zu nicht willig, so
brauch’ ich Gewalt.
Nein, mit Ihrer Reform demotivieren Sie einen ganzen Berufsstand und nehmen damit im Ergebnis vielen
jungen Menschen die Perspektive eines soliden Ausbildungsplatzes. Es ist schon auffällig, dass alle Ihre Maßnahmen unter dem Deckmäntelchen des Bürokratieabbaus in Wirklichkeit auf die Handwerker und freien
Berufe abzielen. So sollen beispielsweise die Vergütungssysteme der Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte und anderer zerschlagen werden. Damit schaden
Sie den Freiberuflern und Selbstständigen massiv. Langsam gewinne ich aber auch den Eindruck, dass dies beabsichtigt ist.
({7})
Unser Reformvorschlag sichert den Meisterbrief als
Qualitätssiegel des deutschen Handwerks und ist damit
praktizierter Verbraucherschutz. So sind wir im Gegensatz zu Ihnen auf das Handwerk zugegangen und haben
gemeinsam mit dem Handwerk klare Linien entwickelt,
wie eine tragfähige Reform auszusehen hat.
Wenn eines der drei Kernelemente - Gefahrengeneigtheit, überdurchschnittliche Ausbildungsleistung
und Schutz wichtiger Gemeinschaftswerte wie Umwelt
und Gesundheit - verwirklicht ist, wollen wir auch, dass
es im Interesse aller beim obligatorischen Meisterbrief
bleibt.
({8})
Das Haus „Deutsches Handwerk“ werden Sie nicht
dadurch modernisieren, dass Sie es abreißen, die Fundamente herausnehmen und anschließend wieder neu hinstellen. Dieses Haus wird nicht lange stehen. Ziel einer
Reform muss es sein, eine beschäftigungsfördernde Politik einzuleiten, aber auch eine beschäftigungssichernde
Politik zu betreiben. Diesen Zielvorstellungen wird Ihr
Entwurf nicht gerecht.
Handwerk hat goldenen Boden - so war es in der Vergangenheit. Wir von der Union wollen, dass es auch in
Zukunft dabei bleibt bzw. wieder so wird. Der Kurs von
Rot-Grün bedeutet den Konkurs für viele Handwerksbetriebe. Dabei werden wir von der Union nicht mitmachen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Herr Kollege Krichbaum, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Unsere herzliche Gratulation!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian
Lange, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, wo wir
in den vielen Verhandlungen mit dem deutschen Handwerk Einigkeit erzielt haben, um auch der Legende entgegenzutreten, nach der keine Gespräche mit dem Handwerk geführt worden seien:
({0})
Aufhebung des Inhaberprinzips - Einigkeit mit dem
deutschen Handwerk; Wegfall der Gesellenjahre für die
Zulassung zur Meisterprüfung - Einigkeit mit dem deutschen Handwerk;
({1})
Wegfall von Doppelprüfungen und Erleichterung für Ingenieure und staatlich geprüfte Techniker - Einigkeit
mit dem deutschen Handwerk.
({2})
Hören Sie endlich mit der Legende auf, wir würden mit
dem deutschen Handwerk nicht sprechen. Das Gegenteil
ist der Fall.
({3})
Eine zweite Bemerkung. Ich bin erstaunt darüber, mit
welchen verdrehten Rollen wir hier argumentieren. Diejenigen, die sich im Deutschen Bundestag für die Gewerbefreiheit einsetzen, die immerhin im Grundgesetz
unserer Bundesrepublik Deutschland steht und die
Deutschland stark gemacht hat, müssen sich dafür rechtfertigen, während diejenigen, die an Regulierungen festhalten wollen, glauben, sie könnten das per ordre du
mufti hier durchsetzen. So funktionieren das Grundgesetz, die Bundesrepublik Deutschland und die soziale
Marktwirtschaft nicht.
({4})
Die Handwerksordnung ist aus dem Jahre 1953 und sie
bedarf der Veränderung, um die Eingriffe in die selbstständige Berufsausübung rechtfertigen zu können.
({5})
Lassen Sie mich jetzt einige Beispiele nennen, anhand
deren man das beweisen kann. Während im Jahre 1970
noch etwa 632 000 Unternehmer in der Anlage A registriert waren, sind es heute trotz der deutschen Einheit nur
noch etwa 560 000.
({6})
Christian Lange ({7})
- Moment. - Vergleichen wir das einmal mit der Anlage B.
In der Anlage B waren 1970 nur 29 400 Unternehmen registriert. Heute verzeichnet diese Liste 176 270 Unternehmen.
({8})
Dies entspricht einem durchschnittlichen Zuwachs von
6 Prozent. Das belegt, dass gerade in den Bereichen eine
Dynamik zu verzeichnen ist, in denen es den Meisterbrief als Marktzugangsregelung nicht gibt. Ich bitte Sie,
dies entsprechend zur Kenntnis zu nehmen.
({9})
Kollege Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Gerne.
({0})
Lieber Kollege Lange, stimmen Sie mir zu, dass die
von Ihnen genannten Veränderungen bezüglich der Berufe in den Anlagen A und B der Handwerksordnung zu
einem überwiegenden Teil durch die Handwerksnovelle
von 1998 zustande gekommen sind?
Das will ich gerne.
({0})
Dazu will ich das nächste Beispiel nennen, Herr Kollege Niebel. 1998 haben wir die Gerüstbauer von der
Anlage B in die Anlage A heraufgestuft. Schauen Sie
sich dort die entsprechenden Zahlen an. Von 1970 bis
1998 konnte die Zahl der Gerüstbauer in der Anlage B
aufgrund des freien Marktzugangs eine ganz besondere
Dynamik nehmen und expandieren. Nach der 1998 erfolgten Überführung in die Anlage A schrumpfte die
Zahl der Betriebe aufgrund der Marktzugangsregelung,
die wir alle gemeinsam hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben,
({1})
innerhalb von vier Jahren von 7 138 auf 4 934, das heißt
um 35 Prozent. Das ist der schlagende Beweis dafür,
dass eine Marktzugangsregelung ein strukturelles Element ist. Wir müssen es lockern, damit in Deutschland
eine stärkere Gründungsdynamik Platz greifen kann.
({2})
Kollege Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Gerne.
Herr Kollege Lange, wenn es so ist, wie Sie es beschrieben haben, stellt sich mir die Frage: Warum ist der
Gerüstbau auch in Ihrem Entwurf der überarbeiteten
Anlage A weiterhin in dieser Anlage A aufgeführt?
Herr Kollege Kolb, die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben Ihnen doch dargestellt, dass wir am
Meisterbrief als Marktzugangsregelung in den Bereichen, wo es eine Gefahrengeneigtheit gibt, festhalten
wollen, weil wir meinen, dass wir einen entsprechenden
Schutz sicherstellen müssen.
({0})
Dass es eine entsprechende Dynamik durch die Veränderung der Marktzugangsregelung gibt, muss man zumindest einmal zur Kenntnis nehmen. Ihr zentrales Argument
lautet doch, dass die Marktzugangsregelung keinerlei Einfluss auf die Gründungsdynamik in Deutschland hat. Das
Gegenteil ist der Fall. Diese Zahlen belegen das.
Auch ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland belegt das.
({1})
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, nachzuschauen.
In den Jahren 1949 bis 1953 gab es in Deutschland keinen Meisterzwang. Es ist interessant, sich hier einmal
die Entwicklung anzuschauen. Ein Verlust der traditionellen Ausbildung zum Meister ist durch die Marktöffnung
aufgrund des Wegfalls des Meisterzwangs nicht zu befürchten. Gab es 1949 in den damals zehn westlichen Bundesländern - ohne das Saarland und ohne Westberlin - 39 011 bestandene Meisterprüfungen, so sind es heute, nach der
deutschen Einheit, bei einer höheren Bevölkerungszahl
bundesweit 30 146, wie der Minister kürzlich vor dem
Deutschen Bundestag ausgeführt hat.
({2})
Auch das macht deutlich, dass Ihre Befürchtung, unser
Gesetzentwurf könnte negative Auswirkungen haben,
nicht der Wirklichkeit entspricht. Nehmen Sie diese
schlichten Zahlen einfach zur Kenntnis. Entfernen Sie
sich an dieser Stelle von der bloßen Polemik.
({3})
Versuchen Sie doch, Ihre Einwände rational zu begründen.
Christian Lange ({4})
Auch das geltende EU-Recht zwingt uns zur Novellierung. Wir alle wissen: Nur noch Luxemburg hat eine
entsprechende Berufszugangsschranke, die dem deutschen Meisterbrief ähnelt. Andere Staaten, etwa die Niederlande, haben ihre Bestimmungen auf gefahrengeneigte Tätigkeiten konzentriert. Österreich hat aufgrund
eines Urteils des österreichischen Verfassungsgerichtshofs Inländer bei der Zulassung zur Handwerksausübung
Angehörigen der übrigen EU-Staaten gleichgestellt.
({5})
Handlungsbedarf besteht also unabweisbar. In der gesamten Europäischen Union gelten ähnliche Regelungen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Meisterbrief
auch in Zukunft europafest ist. Das ist das Ziel der Novelle. Ich bitte darum, dies zur Kenntnis zu nehmen.
({6})
Durch die Aufhebung der Beschränkungen werden Existenzgründungen ebenso wie Unternehmensnachfolgen sowie
die Schaffung und der Erhalt von Arbeitsplätzen und Lehrstellen wesentlich erleichtert. Den zulassungspflichtigen und
zulassungsfreien Handwerken wird es nämlich ermöglicht,
umfassende branchenübergreifende Leistungen anzubieten sowie auf Kundenwünsche flexibel zu reagieren. Außerdem werden vermehrt Angebote aus einer Hand möglich.
Neue, bisher unter Meistervorbehalt stehende Tätigkeitsfelder können ausgenutzt werden. So können zum
Beispiel Kosmetikerinnen künftig auch Friseurleistungen anbieten. Dadurch wird die Erschließung neuer Absatzmärkte möglich. Innovationen können stärker als
bisher für das Handwerk genutzt werden. Außerdem
werden die bisher so häufigen Abgrenzungsprobleme
zwischen den in der Anlage A verbliebenen Handwerken und den in die Anlage B überführten Handwerken
beseitigt.
Ich möchte dazu ein Beispiel aus meinem eigenen
Wahlkreis nennen. Eine Friseurmeisterin mit einem Betrieb in meiner Stadt wollte in der Nachbargemeinde
eine Filiale eröffnen. Die entsprechende Kammer untersagte ihr dies, obwohl sie dadurch zwei Arbeitsplätze
schaffen würde, mit der Begründung: Dies wäre mit der
heute geltenden Handwerksordnung unvereinbar.
({7})
Das darf eigentlich nicht wahr sein, ist aber leider Wirklichkeit in Deutschland. Erst als der Fall publik gemacht
wurde, hat die Kammer reagiert: Sie wartet mit einer
Entscheidung so lange, bis diese Gesetzesnovelle beschlossen ist.
({8})
Ohne diese Novelle werden in Deutschland immer mehr
Existenzen gefährdet. Damit muss Schluss sein. Auch
das ist ein Grund, warum wir diese Novelle endlich umsetzen müssen.
({9})
Die Gesetzesnovelle liegt nicht nur im Interesse der
Gesellinnen und Gesellen und der Dynamik des Wirtschaftsstandorts Deutschland; sie liegt auch im Interesse
der expansiven Meisterinnen und Meister, die schon
heute eine entsprechende Qualifikation haben und ihren
Betrieb voranbringen wollen. Deshalb bitte ich Sie herzlich: Hören Sie mit dieser ideologischen Diskussion auf!
({10})
Hören Sie damit auf, das Thema zu einem Kulturkampf
hoch zu stilisieren! Konzentrieren Sie sich auf den Kern.
Wir brauchen in Deutschland mehr Existenzgründungen
und im Handwerk mehr Dynamik. Dem dient diese Novelle. In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
vorgeschlagene Änderung der Handwerksordnung - Herr
Minister Clement, auch Sie haben das eingeräumt - darf
nicht isoliert gesehen werden, sondern sie steht im Zusammenhang mit anderen, derzeit laufenden oder unlängst abgeschlossenen Gesetzgebungsvorhaben. Um es
auf den Punkt zu bringen: Es geht Rot-Grün um einen
Angriff auf die Bürgergesellschaft,
({0})
weil neben den Handwerksmeistern auch die Apotheker,
Ärzte, Architekten und Rechtsanwälte auf der Liste der
durch die Bundesregierung gefährdeten Arten stehen.
Wir von der FDP wollen die bewährten freiberuflichen
Strukturen ebenso wie die bewährten handwerklichen
Strukturen erhalten. Das schließt - das sage ich ausdrücklich - die Weiterentwicklung geltender Vorschriften nicht aus. 1994 und 1998 - Herr Lange, Sie waren
1998 doch dabei - haben wir die Handwerksordnung zunächst innerhalb des Handwerks geöffnet und weiterentwickelt.
({1})
Weitere Schritte müssen folgen: die Abschaffung des Inhaberprinzips und ein verbesserter Zugang durch § 8 der
Handwerksordnung. Dazu sind wir bereit. Aber diese
Anpassungsmaßnahmen müssen so erfolgen, dass das
Handwerk die Chance hat, auf diese Anpassungen zu
reagieren.
({2})
Ich befürchte, dass mit der Reform, wie Sie sie vorgeschlagen haben, ganze Handwerksbereiche platt gemacht werden.
({3})
Wenn man sich die Begründung Ihres Gesetzentwurfes durchliest, dann kommt man zu dem Verdacht, das
Opfer solle zum Täter gemacht werden, weil die Novelle
damit begründet wird, es gebe eine anhaltend schlechte
wirtschaftliche Entwicklung. Aber kein Wort von verfehlten rot-grünen Reformen, die gerade das Handwerk belasten, kein Wort von zu hohen Steuern, von steigenden Abgaben, die es für junge Meisterinnen und Meister - davon
gibt es immerhin noch eine Reserve von 120 000 - unattraktiv erscheinen lassen, sich im Handwerk zu betätigen. Kein Wort schließlich über fehlende Investitionen
von Bund, Ländern und vor allen Dingen Kommunen,
was letztendlich das Ergebnis einer schlecht gemachten
Steuerreform ist.
({4})
Es ist ein Hohn - Herr Minister Clement, es ist mehr
als das; es ist böswillig -, wenn in der Begründung des
Entwurfes darauf hingewiesen wird, dass es im Handwerk bei der Ausbildung eine Abbrecherquote von
30 Prozent gebe, aber kein Wort darüber verloren wird,
dass die Ausbildungsquote des Handwerks mit 9,8 Prozent fast dreimal so hoch ist wie im Durchschnitt der übrigen Wirtschaft. Das zeigt mir, Herr Minister Clement,
dass Rot-Grün wirklich keine Ahnung davon hat, wie es
im Handwerk aussieht und vor allen Dingen wie die aktuelle wirtschaftliche Situation im Handwerk ist.
({5})
Der große Befähigungsnachweis ist im Übrigen
auch kein Berufsverbot, wie es in der Begründung Ihres
Gesetzentwurfes heißt, sondern er ist ein Qualifizierungsgebot und mithin die einzige Ausbildung zum Unternehmer, die wir in Deutschland haben. Das führt im
Ergebnis zu der im Vergleich sehr niedrigen Insolvenzquote und zu der Bestandsfestigkeit der Handwerksbetriebe.
({6})
Herr Kollege Kuhn, ich sage Ihnen voraus und gebe
zu Protokoll, damit Sie später nicht sagen, das habe man
nicht voraussehen können:
({7})
Der vorliegende Gesetzentwurf wird, wenn die Novelle
so umgesetzt wird, wie Sie es vorschlagen, dazu führen,
dass wir im Herbst nicht nur über 70 000, sondern über
140 000 fehlende Ausbildungsplätze reden müssen, weil
es absehbar und durch aktuelle Umfragen beim Handwerk belegt ist, dass die dann von A nach B zu überführenden, künftig zulassungsfreien Handwerke ihre Ausbildungsleistung deutlich auf das Niveau des Durchschnitts
der Gesamtwirtschaft zurückführen werden. Das führt zu
Ausbildungsplatzverlusten in dieser Größenordnung.
Man greift sich an den Kopf. Dieselbe Koalition, die
zu Beginn ihrer Amtszeit mit dem Gesetz zur Bekämpfung der so genannten Scheinselbstständigkeit die Existenzgründungen in Deutschland nachträglich beeinträchtigt hat, glaubt jetzt, ein Patentrezept gefunden zu haben,
mit der Ich-AG Arbeitslose zu Unternehmern zu machen. So lautet das Motto. Wenn es so einfach wäre - Ich sage Ihnen voraus: Mit der Ich-AG als Anbieter
handwerklicher Leistungen entfachen Sie vielleicht ein
Strohfeuer um den Preis einer Atomisierung des Handwerks in kleinste Einheiten ohne nachhaltige Beschäftigungswirkung. Aber die Ich-AG als Nischenanbieter
wird am Markt jämmerlich scheitern, weil der Trend dort
zu kompletten, immer umfassenderen Leistungsangeboten geht. Deswegen trifft Ihre Vorstellung auch nicht den
Nerv der Zeit.
({8})
Insgesamt sehe ich die Gefahr, dass die jetzige Begründung, die allein auf die Abwehr von Gefahren abstellt, nicht ausreichen wird, um die Anlage A auf Dauer
zu erhalten. Wenn es so kommt, wie von Ihnen vorgeschlagen, werden Gerichte den großen Befähigungsnachweis in absehbarer Zeit zu Fall bringen. Wir müssen
mit mehr Sorgfalt zu Werke gehen. Nachhaltigkeit und
Ausbildungsleistung sind Kriterien, die unbedingt herangezogen werden müssen, um die Anlage A und den großen Befähigungsnachweis zu begründen.
Nehmen Sie Vernunft an! Lassen Sie uns gemeinsam
mit dem Handwerk überlegen, welche nächsten Liberalisierungsschritte nach den Novellen von 1994 und 1998
jetzt gegangen werden können! Ich habe Beispiele genannt. Das Handwerk hat die Hand ausgestreckt. Sie
sollten nicht danach schlagen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Nun hat Kollege Hans-Werner Bertl, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat hier ein Mitglied meiner Fraktion einen
Ausspruch des stellvertretenden Vorsitzenden Ihrer
Fraktion, Herrn Merz, vom März im „Spiegel“ zitiert.
Ich sehe noch den heftigen Zuspruch des Abgeordneten
Hinsken. Ich bringe das Zitat noch einmal, benutze aber
das Wort, das er benutzt hat, nicht: Wenn man einen
Teich trocken legen will, dann darf man nicht die Frösche fragen.
({0})
Dazu haben Sie kräftig genickt. Ich kann Ihnen eines sagen, Herr Kollege Hinsken: Wenn wir so handelten und
so mit der Organisation des Handwerks umgingen, wie
Ihre Fraktionsoberen es Ihnen in Bezug auf andere Organisationen empfehlen, dann wären Sie heute hier der
Frosch und ich sehe keine Prinzessin, die Sie küssen
würde.
({1})
Ihre Position zur Handwerksordnung kann ich nur unter oppositionsstrategischem Gesichtspunkt verstehen.
Ehrlich sind Sie dem Handwerk gegenüber nicht.
Die dubiose Haltung der Liberalen, denen sonst jede
Form von Regulierung in der Wirtschaft ein Gräuel ist,
das sie fürchten wie der Teufel das Weihwasser, können
sie selbst einem Handwerker nicht mehr vernünftig erklären.
Ich glaube, dieses Thema ist es wert, in aller Ruhe erörtert zu werden. Wir sollten die Wirklichkeit der Erfahrungen eines deutschen Verbrauchers mit dem Handwerk
und die Lebenswirklichkeit eines deutschen Handwerksmeisters im Zusammenhang mit dem Verbraucher
nicht ausblenden. Es ist doch schon alles beschrieben
worden. Ich nenne als Beispiel den verzweifelten Versuch eines ordentlichen, gesetzestreuen Verbrauchers,
die abgeplatzte Fliese von einem fachkundigen Handwerksmeister ersetzt zu bekommen. Bei einem solchen
Versuch ist doch ein Scheitern bereits vorprogrammiert.
Eine reale Chance, eine solche Bagatellreparatur ausführen zu lassen, besteht in den frühen Abendstunden oder
am Samstag, wenn zwar der Verbraucher verschämt die
Umsatzsteuer einbehalten muss, letztlich aber glücklich
ist, dass der Schaden von fachkundiger Hand behoben
wird.
Wie sieht die Situation aus der Sicht des Handwerksmeisters aus? So mancher Handwerksmeister macht sich
beklommen an die Behebung eines Schadens, der nicht
zu seinem Gewerk gehört, der ihn aber fachlich nicht
überfordert. Er ist vielleicht gerade im Hause und kann
sich dem bettelnden Blick der Verbraucherin irgendwann
auch mit dem besten Argument nicht mehr entziehen. Es
treibt ihn in den Gesetzesbruch.
({2})
- Das ist die Wirklichkeit!
({3})
Das hört sich vielleicht lustig an, macht aber das System
eines geschlossenen Marktes deutlich, das weit von der
Wirklichkeit unserer Wirtschaft entfernt ist. Wir brauchen hingegen ein System, das Wirtschaftswachstum
und Beschäftigung ermöglicht.
({4})
Ich will ein Zitat aus der Schlussarie des Hans Sachs
aus den „Meistersingern von Nürnberg“ anführen, das
vom Handwerk sehr geliebt wird: Verachtet mir die
Meister nicht und ehrt mir ihre Kunst! - Hans Sachs
singt von Kunst, aber nicht von Zunft. Genau das wollen
wir auch: Wir wollen die Kunst und die Qualität des
Meisters nicht in Zweifel ziehen. Vielmehr wollen wir
seine Markt- und Wettbewerbsfähigkeit und sein Können durch die Novellierung der Handwerksordnung stärken.
({5})
Im Bereich der Handwerksberufe der Anlage A soll
mit dem Primat des besonderen Schutzes des Verbrauchers und in der Anlage B mit der freiwilligen Möglichkeit der Meisterprüfung in den Wettbewerb eingebracht
werden, was im Handwerk einen Wert an sich darstellt,
nämlich Qualität und hohe fachliche Kompetenz.
Kann man bestreiten, dass es in vielen Bereichen des
Handwerks durchaus zu verantworten ist, sich dem Geschick und der Fachkunde eines Gesellen anzuvertrauen
und ihm die Möglichkeit einzuräumen, sich nach zehn
langen Jahren verantwortlichen Arbeitens ein eigenes
Geschäft aufzubauen und sogar auszubilden, wenn er die
Bedingungen der Ausbildungsverordnung erfüllt? - Ich
glaube nicht.
({6})
Ist es in einem System der Nischenwirtschaft nicht
besser, diejenigen, die in Fachgebieten, in denen heutzutage fast jeder in wenigen Wochen die notwendigen
Kenntnisse erwerben kann, heimlich ungesetzliche Tätigkeiten ausüben, mit einzubeziehen? Glauben Sie
wirklich, die Behauptung aufrecht erhalten zu können,
nur der Meister sei ein Garant für die fachgerechte Ausbildung und nur er sei durch seinen Prüfungsteil in Betriebswirtschaft in der Lage, in unserem sicherlich komplizierten Land erfolgreich zu wirtschaften?
Was machen eigentlich die Hunderttausende von erfolgreichen Unternehmen, die nicht der Handwerksordnung unterliegen? Welchen Wert hat die Ausbildung einer Industriekauffrau in unserer Wirtschaft? 56 000 der
Industriekaufmänner und -frauen werden in der Industrie
und im Handel ausgebildet, ganze 61 im Handwerk.
Welchen Wert hat der Fachinformatiker, Fachrichtung
Anwendungsentwicklung, von dem 18 000 in der Industrie ausgebildet werden und ganze vier im Handwerk?
Sind all diese Menschen für Unternehmer tätig, denen
jede wirtschaftliche Kompetenz fehlt und die nicht am
Markt bestehen, weil sie keinen Meistertitel haben?
Wir müssen zugeben, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir uns der Realität stellen müssen.
Ich gebe auch offen zu, dass mir das ein bisschen wehtut; ich bin nämlich selbst Handwerksmeister und ich bin
stolz auf das, was ich einst erlernt habe und beweisen
musste.
({7})
Über die Niederlassungsfreiheit innerhalb Europas ist
schon gesprochen worden. Andere EU-Staaten bieten ihren Handwerkern weitere Freiräume. Nach den Regeln
des Binnenmarktes kann kein Bürger an einer grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Betätigung gehindert werden.
Wir befinden uns in einer Situation, in der wir gemeinsam mit dem Handwerk - vonseiten des Handwerks
gibt es durchaus entsprechende Zeichen - den Weg beschreiten sollten, die Handwerksordnung angesichts der
für sie tatsächlich bestehenden Gefährdungen im Zusammenhang mit unserer Verfassung, der Rechtsprechung
und der Diskussion auf europäischer Ebene über die so
genannte Inländerdiskriminierung zukunftsfähig zu machen.
({8})
- Doch!
({9})
Beenden Sie Ihre Ideologisierung! Lassen Sie uns mit
den Vertreterinnen und Vertretern des Handwerks - manche von ihnen räumen diese Gefahren in Vieraugengesprächen ein und zeigen die Bereitschaft, etwas Vernünftiges zu entwickeln - sachgerecht und fachgerecht
sprechen! Wir werden die Handwerksordnung zukunftsfähig machen und nichts, weder die Qualität noch die
Ausbildungsfähigkeit noch die Ausbildungsbereitschaft
im deutschen Handwerk, infrage stellen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schauerte.
({0})
Herr Präsident! Ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, da dieser Redner ein Argument aufgegriffen hat, das auch Clement und andere immer wieder
angeführt haben. Dieses Argument ist falsch und es darf
sich daher nicht festsetzen. Man hat gesagt, die Auswirkungen des großen Befähigungsnachweises seien die
Ursache dafür, dass die Zahl der Handwerksbetriebe abnehme, dass die Beschäftigungslage schlecht sei, dass
das Handwerk seinen Beitrag zum Wachstum der Wirtschaft nicht mehr leiste und dass der Umfang der
Schwarzarbeit größer werde.
({0})
Ich empfehle, einen Blick auf andere Bereiche zu
werfen, um zu prüfen, ob dieses Argument richtig ist.
Der Einzelhandel in Deutschland ist völlig unreguliert.
Er hat sich - ohne jede Regulierung - katastrophal entwickelt. Es ist daher nicht richtig, zu behaupten, der Negativtrend sei ein Ergebnis der Regulierung. Ein anderer
Bereich ist in hohem Maße reguliert - es gibt dort Zugangsbeschränkungen, die deutlich strenger als die im
Handwerk sind, einschließlich einer Gebührenordnung -:
Ich denke an die Rechtsanwälte und insbesondere Konkursverwalter. Ihre Anzahl hat sich in den letzten Jahren
enorm vermehrt.
({1})
Die Qualität und der Umfang der Zugangsvoraussetzungen sind kein Maßstab, um zu beurteilen, ob sich
eine Branche gut oder schlecht entwickelt und ihren Beitrag zur Volkswirtschaft leistet. Dass es im Handwerk so
schlecht läuft, ist das bittere Ergebnis Ihrer absolut verfehlten Wirtschaftspolitik.
({2})
Erklären Sie das Handwerk nicht zum Täter! Das
Handwerk ist in dieser Frage Opfer. Lassen Sie diese Art
der Argumentation! Sie ist nicht zielführend und zeigt,
dass Sie ideologisch vorgehen und nicht an der Sache
orientiert sind. Ändern Sie Ihre Wirtschaftspolitik und
das Handwerk hat wieder goldenen Boden!
({3})
Kollege Bertl, Sie haben Gelegenheit zur Erwiderung.
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege, zunächst einmal ist festzuhalten: Was die Existenzgründungsquote angeht, sind
wir von vielen anderen europäischen Ländern überholt
worden. Die Problematik, die Sie angesprochen haben,
hat mit der gegenwärtigen Situation überhaupt nichts zu
tun. Es geht nicht darum, die Meisterprüfung oder den
Befähigungsnachweis zu diskreditieren. Wir müssen
doch einfach sehen, dass wir es hier mit einem geschlossenen Markt zu tun haben, für den es kaum noch eine
Berechtigung gibt. Die Geschlossenheit des Marktes hat
allerdings in denjenigen Bereichen, bei denen es um den
Verbraucherschutz geht, durchaus noch ihre Berechtigung.
({0})
Anlage A regelt, dass über ein Drittel des Handwerks
- dort arbeiten fast zwei Drittel der im Handwerk Tätigen - in einem geschlossenen Markt verbleibt. Das zeigt
die wirtschaftliche Struktur in unserem Land, insbesondere im Handwerk, auf. Es zeigt aber auch auf, dass dieser Markt, der aus der Tradition der Zünfte heraus reguliert ist - diese Regulierung lässt sich mit dieser
Tradition heute nicht mehr rechtfertigen -, Freiräume
braucht. Also: Keine Gefährdung für den großen Befähigungsnachweis!
Ich glaube, dass es für junge Menschen nach wie vor
ein sehr interessantes und anzustrebendes Ziel sein wird,
auch in den in Anlage B aufgeführten Handwerksberufen den Meisterbrief zu machen.
({1})
Sie haben hier eben einen großen Fehler begangen,
als Sie behauptet haben, ein Arzt könne sich nur nach einer Promotion selbstständig machen. Das ist eben nicht
so.
({2})
Das Examen reicht aus. Sie müssen sich einmal die
Frage stellen, warum so viele junge Medizinerinnen und
Mediziner und so viele andere Hochschulabsolventen
eine Promotion machen. Warum sollen junge Menschen
im Handwerk in Zukunft anders vorgehen? Darüber
müssen Sie einmal mit den Vertretern des Handwerks
und mit den Gesellinnen und Gesellen diskutieren.
({3})
Wenn Sie das getan haben, dann werden Sie feststellen:
Ihre gesamte Argumentation ist ad absurdum geführt
worden.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Werner Wittlich, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Bertl, wenn man Ihre Biografie liest, dann stellt man fest, dass Sie irgendwann
einmal den Titel eines Uhrmachermeisters erworben haben.
({0})
- Das mache ich doch nicht. - Aber man merkt, dass Sie
wahrscheinlich Jahrzehnte aus diesem Beruf heraus sind;
denn sonst würden Sie hier nicht einen solchen Unsinn
erzählen.
({1})
Jeder kennt das Handwerk und kommt täglich mit
ihm in Berührung.
({2})
- Erzählen Sie nicht ein solches Zeug, Herr Lange. Wer vom Handwerk spricht, denkt dabei oft nur an den
Bäcker um die Ecke oder an den Installateur nebenan.
Beide verkörpern das traditionelle Handwerk und sind
Beispiele seiner Nähe zum Verbraucher. Doch Handwerk ist viel mehr. Handwerk ist Zukunft. Es ist ein moderner, innovativer und kreativer Wirtschaftsbereich, der
durch Qualität und Kundenorientierung überzeugt.
Handwerk ist so alt wie die Steinzeit und gleichzeitig so
jung wie die Technologie von morgen.
({3})
Die Handwerksordnung, wie sie seit vielen Jahrzehnten besteht, hat sich nicht nur bewährt. Wir werden auch
von vielen Ländern um die Leistungsfähigkeit und den
hohen Qualitätsstandard unseres Handwerks beneidet.
Das Gütesiegel ist der Meistertitel. Er steht für Fachwissen und solide Kenntnisse in Betriebswirtschaft,
Recht und Pädagogik. Damit dieser Qualitätsstandard
gehalten werden kann, muss sich die Handwerksordnung
flexibel und dynamisch neuen Entwicklungen anpassen
können. Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte
Entwurf zur Novellierung der Handwerksordnung ist in
sich widersprüchlich, unlogisch sowie tatsächlich und
rechtlich fehlerhaft. Er ist außerdem mit dem Handwerk
nicht abgestimmt. Die Reform wurde überdies von Politikern eingeleitet, die selbst nie an der Spitze eines Unternehmens gestanden haben, die nie in einem Betrieb
für Arbeitsplätze gesorgt haben und die nie auch nur einen einzigen Ausbildungsplatz geschaffen haben.
({4})
CDU und CSU kritisieren insbesondere die Neufassung der Anlage A der Handwerksordnung. Von jetzt
94 Meisterberufen sollen künftig nur noch 29 dem Meisterzwang unterliegen.
({5})
Entscheidendes Kriterium zur Aufnahme in die
Anlage A soll die Gefahrengeneigtheit eines Gewerkes
sein. Sogar die Bäcker und die Fleischer sollen künftig
nicht mehr unter den Meistervorbehalt fallen. Das ist
- gelinde gesagt - ein schlechter Treppenwitz. Gerade
eine Regierung, die den Verbraucherschutz in den Vordergrund rücken will, plant jetzt, die Bewältigung der
BSE-Krise, der Schweine- und Geflügelpest sowie nicht
zuletzt die Beachtung umfangreicher Hygienevorschriften in nicht meisterliche Hände zu legen. An diesem Beispiel kann man erkennen, wie weit es mit Ihrer Trennung
in gefahrengeneigte und nicht gefahrengeneigte Handwerksberufe her ist.
Wir fordern deshalb, die Aufnahme in die Anlage A
von drei Kriterien abhängig zu machen, und zwar erstens
von der Gefahrengeneigtheit, zweitens von der Ausbildungsleistung und drittens von dem Schutz wichtiger
Gemeinschaftsgüter, etwa vom Umwelt- und Verbraucherschutz. Dies würde auch den Vorgaben des Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgerichts zum Meisterbrief aus dem Jahre 1961 entsprechen. Im Übrigen
arbeiten 50 Prozent der Absolventen eines Meisterlehrgangs als abhängig Beschäftigte. Der Wegfall des Meisterzwangs wird deshalb nicht automatisch zu mehr
Selbstständigkeit führen.
({6})
Nach den Plänen der Regierung sollen Gesellen nach
zehnjähriger Tätigkeit - davon fünf in leitender, verantwortlicher oder herausgehobener Funktion - auch ohne
Meisterbrief einen Betrieb, der in Anlage A aufgeführt
ist, eröffnen dürfen. CDU und CSU werden es nicht hinnehmen, dass Gesellen künftig ihre Berechtigung zur
Unternehmensgründung ersitzen können.
({7})
Denn die Gesellenprüfung wird durchschnittlich mit
Anfang 20 gemacht, die Meisterprüfung durchschnittlich
mit Anfang 30. Die Gesellen werden sich doch fragen,
warum sie eine Meisterprüfung überhaupt ablegen sollen, warum sie sich neben dem Berufsleben durch die
Meisterschule quälen sollen,
({8})
wenn sie im gleichen Zeitraum in tatsächlich gefahrengeneigten Berufen nebenher die Berechtigung zur Unternehmensgründung erwerben können. - Ich komme noch
dazu. - Wir befürchten außerdem, dass sich die Ausbildungsleistung drastisch reduzieren wird, wenn die Qualifikation zur Ausbildung junger Menschen nicht mehr
vorhanden ist. Wir schlagen deshalb in diesem Zusammenhang eine Einzelfallprüfung vor.
({9})
Damit die Berufserfahrung der Altgesellen entsprechend berücksichtigt wird und qualifizierte Unternehmensgründungen leichter werden, sollen die Teile I
und III der Meisterprüfung, also über die praktischen Fähigkeiten und die betriebswirtschaftlichen Kenntnisse,
angerechnet werden.
Kollege Wittlich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bertl?
Ich weiß, dass dabei nichts herauskommt. Deswegen
gestatte ich die Zwischenfrage nicht.
({0})
Auf die Teile II und IV, nämlich Theorie und Ausbildungsqualifikation, darf dagegen nicht verzichtet werden. Damit wäre gewährleistet, dass der Gefahren- und
der Ausbildungsaspekt berücksichtigt werden.
CDU und CSU lehnen außerdem die Regierungspläne
ab, nach denen sich künftig jedermann unabhängig von
seinen fachlichen Fähigkeiten selbstständig machen
kann, soweit es um Berufe in der Anlage B geht. Dies
soll auch für Berufe gelten, die demnächst im
Abschnitt 1 der Anlage B stehen, also für Berufe, die
jetzt noch dem Meisterzwang unterliegen. Wir fordern
auch für Berufe in der Anlage B fakultativ den Erwerb
des Meisterbriefs. Zumindest für Gewerbe im
Abschnitt 1 der Anlage B müssen die Gesellenprüfung
und die Ausbildereignungsqualifikation nachgewiesen
werden.
({1})
Nur so erhalten wir ein Mindestmaß an beruflicher Qualifikation, einen ausreichenden Verbraucherschutz und
vernünftige Voraussetzungen für die Ausbildung junger
Menschen.
Wir fordern außerdem die Einführung einer so genannten Revisionsklausel. Alle sieben Jahre soll die geltende Liste der Meisterberufe in der Anlage A überprüft
werden. Damit werden bei der Zuordnung zur Anlage A
oder zur Anlage B neue Entwicklungen zeitnah berücksichtigt.
({2})
Unsere Zustimmung findet die geplante Aufhebung
des Inhaberprinzips. Einem Existenzgründer ohne
Meisterbrief sollte eine Betriebsübernahme möglich
sein, wenn er einen Meister einstellt.
({3})
Auf der einen Seite arbeiten in Deutschland 130 000
Meister als abhängig Beschäftigte in Betrieben und auf
der anderen Seite stehen Menschen, die bereit sind, unternehmerische Verantwortung zu tragen, aber keinen
Meistertitel haben. Wenn wir die Zusammenarbeit dieser
beiden Gruppen ermöglichen, erleichtern wir unzählige
Betriebsübernahmen.
Ich darf Ihnen kurz ein Beispiel aus dem Friseurhandwerk nennen. Durch die Novellierung werden einzig
und allein die so genannten Ich-AGs gefördert; denn die
jetzige Form der Handwerksordnung steht in vielen Fällen der Gründung einer Ich-AG entgegen. Viele Friseurgesellen - das Thema ist heute schon oft angesprochen
worden - werden bei der Verbandsgemeinde oder der
Stadtverwaltung ein so genanntes Kleingewerbe anmelden. Damit wird Schwarzarbeit legalisiert. An ihrem jetzigen Arbeitsplatz werden sie den Kunden erzählen, dass
sie anderenorts nunmehr auch offiziell das Friseurhandwerk ausüben dürfen und die Kunden eingeladen sind,
sich abends privat zum halben Preis bedienen zu lassen.
Das wird dazu führen, dass die offiziellen Friseursalons
immer weniger Kundschaft haben und deshalb Ausbildungs- und Arbeitsplätze abbauen müssen. Die Umsätze
der legalisierten Schwarzarbeiter werden zumindest offiziell unterhalb der Freigrenze liegen. Damit werden die
Sozialkassen und der Staat leer ausgehen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
({0})
Ich komme sofort zum Schluss.
Aus dem jahrhundertealten Zunftwesen ist ein Relikt
bis zum heutigen Tag übrig geblieben. Es ist der Satz,
mit dem die meisten Handwerksversammlungen enden:
Gott segne das ehrbare Handwerk. - Dieser Satz ist
heute aktueller denn je. Nur müssen wir ihn heute ergänzen: Gott schütze das ehrbare Handwerk vor den wenig
ehrenhaften Schnellschüssen dieser Bundesregierung.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Bertl für die SPD-Fraktion.
Kollege Wittlich, wenn ich Sie so höre - was Sie gesagt haben, wird auch in anderen Bereichen artikuliert -,
dann frage ich mich schon: Wie geht das organisierte
Handwerk, das Verbandshandwerk in Deutschland, mit
denen um, die für das Handwerk eine ganz wichtige
Größe sind und eine hohe wirtschaftliche Leistungskraft
bringen, nämlich mit den Gesellinnen und Gesellen?
({0})
Es ist kaum noch begründbar und wirklich schon diffamierend, wenn in Diskussionen - ich habe das von Vertretern des Handwerks selber erlebt - Ausdrücke fallen
wie: Da kann sich ja jeder Hansel selbstständig machen.
Man muss sich doch einmal die Hintergründe klar
machen: Was unterscheidet eigentlich eine Gesellin oder
einen Gesellen im Handwerk von einem jungen Facharbeiter oder einem jungen kaufmännischen Angestellten,
der selber entscheiden kann, wann er eine Technikerausbildung, eine Industriemeisterprüfung oder schließlich
noch den Betriebswirt macht? Nein, im Handwerk sollen
Strukturen zementiert werden, die die hohe Zahl der jungen Gesellinnen und Gesellen in großem Maße diskreditieren. Man muss sich da doch - auch seitens des Handwerks - die Frage stellen: Ist dieser Weg eigentlich noch
zukunftsträchtig?
({1})
Ich sage Ihnen: Es wird in wenigen Jahren in einer erweiterten Europäischen Union nicht mehr die Inländerdiskriminierung eine große Rolle spielen, sondern angesichts der demographischen Situation und der
abnehmenden Zahl an Schulabgängern werden wir uns
- ich sage „wir“, denn ich fühle mich da dem Handwerk
schon zugehörig - im Handwerk schon die Frage stellen
müssen, ob wir jungen Menschen in einem System, dessen Marktschranken wirklich aus dem Mittelalter kommen, überhaupt noch Anreize und Perspektiven bieten,
sich selbstständig zu machen.
Lassen Sie Ideologie aus dieser Diskussion heraus.
Sie schaden dem Handwerk gnadenlos. Wir müssen vielmehr einen Dialog mit ihm führen.
({2})
Herr Kollege Wittlich zur Entgegnung.
Lieber Kollege Bertl, ich glaube, das Gegenteil ist der
Fall. Dem Handwerk schaden nicht wir - das müssten
Sie draußen längst mitbekommen haben -,
({0})
sondern Sie, indem Sie die Handwerksordnung zerschlagen.
({1})
Ich will noch einmal deutlich sagen: In keinem Wirtschaftsbereich werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so familiär behandelt.
({2})
- Ja, das ist so; das sage ich ganz deutlich. - Wir Betriebsinhaber kümmern uns doch um viele Probleme der
Mitarbeiter, seien sie auch privater Natur.
({3})
Mit der jetzt vorgesehenen Zerschlagung der Handwerksordnung werden Sie das Handwerk nicht dazu bringen, so wie bisher Schulabsolventen, die nicht die geistige Frische haben, die vielleicht, um es einmal
vorsichtig auszudrücken, etwas benachteiligt sind,
auszubilden. Auch in diesem Bereich wird es eine Katastrophe geben.
Meine Damen und Herren, setzen wir uns gemeinsam
an einen Tisch und beraten wir über die Vorlage der FDP,
die Vorlage der CDU/CSU und Ihre.
({4})
Lassen Sie uns gemeinsam - ich denke, das hat das
Handwerk verdient - eine Lösung suchen und zu einem
vernünftigen Kompromiss kommen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen auf der Drucksache 15/1089. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1224, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. ({0})
Wer stimmt dagegen? ({1})
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? ({2})
Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist
nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, die wir
heute nicht mehr im Plenarsaal sehen werden, schon einmal ein schönes Wochenende - jedenfalls für den Teil
des Wochenendes, der jenseits von Veranstaltungen noch
verbleibt.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 24 a auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur
Änderung des Direktwahlakts
- Drucksache 15/1059 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 15/1263 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Barbara Wittig
Dorothee Mantel
Josef Philip Winkler
Dr. Max Stadler
Wir stimmen über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf ab. Der Innenausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
15/1263, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Ich vermute, dass der eine oder
andere, der steht, gleichwohl nicht gegen den Gesetzent-
wurf stimmen will, was durch spontanes Hinsetzen be-
stätigt wird. Möchte sich jemand der Stimme
enthalten? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetz-
entwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz
({5})
- Drucksache 15/999 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen,
Dr. Jürgen Gehb, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Fehler beim neuen Revisionsrecht korrigieren Entscheidungsfähigkeit des Bundesgerichtshofs sicherstellen
- Drucksache 15/1098 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Justizbeschleunigung ist ein Anliegen, dem sich
keiner entziehen kann. Der Faktor Zeit ist elementar bei
der staatlichen Tätigkeit im Allgemeinen, aber im Besonderen gerade auch bei der Gewährung von Recht.
Der Kläger in einem Zivilverfahren will nicht nur Recht
haben, sondern er will zu seinem Recht kommen. Ein
Unternehmen, das vor einer wirtschaftlichen Entscheidung steht und investieren möchte, braucht Rechtssicherheit, die es durch gerichtliche Tätigkeit bekommt.
Zeit ist auch eine Voraussetzung für Sicherheit. Wir
haben in Deutschland immer wieder die Situation, dass
Beschuldigte aus der Untersuchungshaft entlassen werden müssen, nicht weil sich die Haftgründe erledigt hätten, sondern wegen Zeitablaufs, weil die Gerichte und
die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage waren, in der
rechtlich zulässigen Zeit die Sache zu verhandeln. Das
Verfassungsgericht hat gerade entschieden, dass das kein
Grund ist, Untersuchungshaft fortdauern zu lassen. Das
halte ich auch für richtig. Also müssen wir die Justiz effektiver machen; wir müssen sie beschleunigen. Wir haben dazu einen umfassenden Entwurf vorgelegt. Keiner
kann sich dem Anliegen der Justizbeschleunigung entziehen, zuallererst nicht die Justizpolitik, aber auch nicht
die Justiz und auch nicht die Anwaltschaft. Reflexhafte
Besitzstandswahrung ist auch an dieser Stelle deplatziert.
Auch die Regierung hat einen Entwurf vorgelegt. Wir
unterscheiden uns von Ihnen unter anderem darin, dass
Sie sehr anspruchsvoll im Titel sind - Justizmodernisierung - und wir zum Ausgleich im Inhalt etwas anspruchsvoller sind.
({0})
Ihr Entwurf ist ja im Wesentlichen eine Sammlung technischer Kleinigkeiten. Viele mögen sich schon lange gefragt haben: Was ist eigentlich die Vorstellung der Koalition von Modernität? Das hat man lang nicht mehr
erfahren. Jetzt haben Sie ein Justizmodernisierungsgesetz vorgelegt.
({1})
Es ist eine Sammlung technischer Kleinigkeiten, ein eindrücklicher, überzeugender Nachweis der Vorstellung
von Modernität bei Rot-Grün in der Rechtspolitik. Es ist
sozusagen Ausdruck der neuen rechtspolitischen Bescheidenheit bei Ihnen, einen solchen bescheidenen Entwurf Justizmodernisierungsgesetz zu nennen.
Ich möchte Ihnen den Inhalt unseres Entwurfs, der die
ordentliche Gerichtsbarkeit umfassend erfasst, kurz darlegen. Das sind dann auch gleich die Unterscheidungsmerkmale im Vergleich zu Ihrem Entwurf. Dennoch gibt
es auch Gemeinsamkeiten. Da wir das gleiche Ziel haben, sollten wir gemeinsam daran arbeiten, es zu erreichen. Aber in den Debatten sollten wir nicht nur die Gemeinsamkeiten betonen - das tue auch ich -, sondern
uns auch über die Unterschiede streitig auseinander setzen.
Erster Unterschied: Wir halten es für dringend geboten, die Belastungen, die durch Ihre ZPO-Reform der
letzten Legislaturperiode auf die Zivilgerichtsbarkeit zugekommen sind, zu korrigieren. Sie haben leider nicht
den Mut zur Korrektur bewiesen. Die neue Justizministerin hätte den Mut zur Korrektur aufbringen können und
müssen; denn anderthalb Jahre nach In-Kraft-Treten der
ZPO-Reform steht fest - über diesen Befund besteht
kein Streit -, dass sich die obligatorische Güteverhandlung und die Dokumentationspflichten, die Sie eingeführt haben, nachteilig ausgewirkt haben.
({2})
Sie haben durch diese Belastung praktisch das Gegenteil einer Justizbeschleunigung erreicht.
({3})
Der erste Schritt ist daher, dass wir das korrigieren, was
Sie falsch gemacht haben.
({4})
Ich beziehe den Bundesgerichtshof mit ein, weil sich
nach dessen Angaben diese Reform auch auf das höchste
deutsche Zivilgericht nachteilig ausgewirkt hat.
({5})
- Zu sagen, das sei ein „bisschen Arbeit“, ist eine sehr
entspannte Art, wie ein ehemaliger Richter über Belastungsklagen des höchsten deutschen Zivilgerichts redet.
Wir sollten die Erfahrungen, die dieses Gericht gemacht
hat, im Parlament ernst nehmen. Die Richter sagen eindeutig, dass eine neue Belastung für sie hinzu gekommen ist und dass sie in Zulassungsrevisionen und in
Nichtzulassungsbeschwerden ertrinken. Dieses System
hat sich nachteilig ausgewirkt. Wir korrigieren auch an
dieser Stelle.
Zweiter Unterschied: In der Tradition rot-grüner
Rechtspolitik nehmen Sie leider den Strafprozeß, wo eigentlich die größten Probleme liegen, fast komplett aus
Ihrem Entwurf heraus.
({6})
Das hat etwas mit der strukturellen Handlungsschwäche von Rot-Grün auf dem Gebiet von Strafrecht und
Strafverfahrensrecht zu tun. Sie sind sich politisch nicht
einig, weil Sie in Ihren Reihen - sowohl bei den Grünen
als auch bei der SPD - Ideologen haben. Darum
kommen Sie nicht zu einem Ergebnis. Das ist der Fall
bei der Terrorismusbekämpfung, bei der Reform des Sexualstrafrechts und bei dieser Reform. Sie sind einfach
nicht handlungsfähig. Das geht zulasten des Landes,
weil Rot-Grün die Probleme nicht lösen kann. Es ist
doch nicht nachvollziehbar, dass es bei kleinen Delikten drei Instanzen - Amtsgericht, Landgericht und
Oberlandesgericht -, aber bei großen Delikten nur zwei
Instanzen - Landgericht und Bundesgerichtshof - gibt.
Wir wollen das ändern; Sie wollen es bei dieser Asymmetrie belassen.
Wir sagen auch an dieser Stelle: Es ist gerade im
Sinne des Opferschutzes wichtig, dass bereits im Strafprozess, wenn es um Gewaltverbrechen geht, auch zivilrechtliche Schadenersatzansprüche und Entschädigungsansprüche verhandelt und entschieden werden, um dem
Opfer ein zweites Verfahren zu ersparen, in dem es wieder in die Opferzeugenrolle kommt, die eine Perpetuierung seiner Verletzung darstellt. Wir wollen dem Opfer
schnell zur Genugtuung und zum Recht verhelfen.
({7})
Entziehen Sie sich doch nicht diesen Vorschlägen, nur
weil sie von uns kommen! Sie sollten etwas mehr Souveränität aufbringen!
({8})
Ich will einen letzten Punkt nennen, bei dem Sie von
uns und auch von der Anwaltschaft scharfe Kritik hören
werden. Sie haben nämlich eine rechtsstaatlich nicht hinnehmbare Auszehrung des Zivilverfahrens verursacht,
indem Sie die Tatsachenfeststellungen aus dem Strafprozess mit Wirkung für und gegen alle im Zivilverfahren
zwingend übernehmen wollen. Sie erstrecken damit die
Beweise aus dem Strafverfahren auf das Zivilverfahren,
auch wenn die Beteiligten dort keinen Anteil an der Gewinnung dieser Beweise hatten. Dadurch belasten Sie
den Bürger, der am Strafverfahren nicht beteiligt war,
mit der Last eines Gegenbeweises. Das ist rechtsstaatlich, wie gesagt, nicht hinnehmbar und eine Verletzung
des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs und elementarer
Beweisgrundsätze.
Verbunden mit der Möglichkeit, den Zeugen im Strafverfahren unmittelbar nicht mehr zu hören, sondern nur
noch das Vernehmungsprotokoll zu lesen, ist das eine
rechtsstaatliche Auszehrung des Zivilverfahrens. Es ist
der alte Geist aus der letzten ZPO-Reform in einer neuen
Flasche: rechtsstaatswidrig und praxisfern. Sie werden
von der Opposition die schärfste Kritik dazu hören. Wir
sind die Wahrer der rechtsstaatlichen Qualität im Zivilverfahren und im Strafverfahren.
({9})
Meine letzte Bemerkung. Wir sind für Beschleunigung und Effektivität von Justiz, aber unter Wahrung der
rechtsstaatlichen Qualität unserer rechtlichen und justiziellen Institutionen. Dies unterscheidet uns im Kern.
Darum sage ich Ihnen: Bewegen Sie sich auf der Grundlage unserer Vorschläge auf uns zu! Wir laden Sie zu
konstruktiven Gesprächen ein. Wir sollten zu einem guten Ergebnis im Interesse der Justiz und der Bürger kommen.
Herzlichen Dank.
({10})
Herr Kollege Röttgen, die letzte Bemerkung war eindrucksvoll wie manche zuvor auch, hätte aber ungefähr
eine Minute vorher stattfinden müssen.
Nun erteile ich dem Kollegen Stünker für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Röttgen,
wenn man Ihren Gesetzentwurf aufmerksam gelesen hat
- ich habe das getan -, dann stellen sich aus meiner Sicht
für einen engagierten Rechtspolitiker vier Fragen. Die
erste ist: Warum wurde dieser Entwurf eigentlich geschrieben? Die zweite ist: Wer hat den Entwurf geschrieben? Die dritte ist: Was ist der wesentliche Inhalt? Die
vierte ist dann die Gesamtbeurteilung.
Warum wurde dieser Entwurf eigentlich geschrieben?
Dazu muss man ein bisschen ausholen; Sie haben nur am
Rande darauf hingewiesen. Die Bundesjustizministerin
hat Anfang dieses Jahres den Anstoß zu einem Gesetz
zur Modernisierung der Justiz gegeben. Ich gebe zu:
Der Name ist vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll.
({0})
Im Einvernehmen mit den Bundesländern sollen mit diesem Gesetz sowohl in der ordentlichen Gerichtsbarkeit
als auch in den Fachgerichtsbarkeiten überholte prozessuale Formalien verändert und die Effizienz der Verfahrenssteuerung durch die Gerichte erhöht werden. Darüber hinaus soll ein weiterer großer Schritt auf dem Weg
der notwendigen Binnenreform der Justiz durch die weitere Aufgabenverteilung zwischen Richtern und Staatsanwälten einerseits und Rechtspflegern andererseits gegangen werden, ein Schritt, auf den die Praxis seit
Jahrzehnten wartet.
Es soll also im Einvernehmen zwischen Bund und
Ländern ein Gesetz beschlossen werden, das teilweise
auch der finanziellen Entlastung der Länder dienen soll.
Das Kabinett hat diesen Gesetzentwurf am 28. Mai dieses Jahres beschlossen. Er ist auf dem Weg und liegt gegenwärtig im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
dem Bundesrat zur Stellungnahme vor.
Dieses einvernehmliche Verfahren gefiel dem Herrn
Kollegen Dr. Röttgen nicht. Er bestand gegenüber den
unionsgeführten Ländern darauf: Wir müssen einen eigenen Entwurf vorlegen. - So liegt uns heute der EntJoachim Stünker
wurf eines so genannten Justizbeschleunigungsgesetzes
vor. Allein den Namen dieses Gesetzes sollte man sich
auf der Zunge zergehen lassen: Die Justiz zu beschleunigen, Herr Kollege Dr. Röttgen, ist eine wundersame Fügung.
({1})
Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass sich diejenigen
Bundesländer, in denen Sie, Herr Kollege Röttgen, zusammen mit der FDP regieren, von diesem Entwurf völlig distanzieren und gesagt haben: Wir tragen so einen
Unsinn nicht mit. - Die Fachöffentlichkeit hat auf Ihren
Entwurf wirklich sehr kritisch und teilweise sogar entsetzt reagiert.
({2})
Dies alles wären für sich allein schon Gründe genug dafür, dass Sie Ihren Entwurf gleich nach der heutigen ersten Lesung zurückziehen.
Wer hat den Entwurf geschrieben? Das ist eine spannende Frage. Nicht, wie im Impressum angegeben, Herr
Kollege Röttgen oder die CDU/CSU-Fraktion, sondern
dieser Entwurf ist eindeutig in einem der von der Union
geführten Landesjustizministerien geschrieben worden.
Das eröffnet sich jedem, der etwas von der Justizpolitik
versteht, und lässt sich in einzelnen Bestimmungen ablesen, nämlich darin, dass einmal mehr ganz eindeutig
nicht die Rechtspolitik, sondern fiskalpolitische Überlegungen die Feder geführt haben. Mit diesem Entwurf
haben Sie einmal mehr ein Armutszeugnis im Hinblick
auf Ihre rechtspolitischen Ansätze vorgelegt.
({3})
Die dritte Frage lautete: Welchen Inhalt hat der Entwurf, den Sie uns eben geschildert haben? Ich fasse ihn
etwas anders zusammen, als Sie es hier beredt getan haben. In großen Teilen ist Ihr Entwurf textgleich mit dem
schon angesprochenen Modernisierungsgesetz der Bundesregierung. Hier finden wir also den Teil, über den
sich das Bundesministerium der Justiz mit den Länderjustizministerien geeinigt hat.
Im Übrigen beschränkt sich Ihr Entwurf ausschließlich auf den Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit
und lässt die Fachgerichtsbarkeiten völlig außen vor. Für
die ordentliche Gerichtsbarkeit wird nunmehr erneut
kräftig der Rotstift angesetzt - Herr Kollege Röttgen,
das ist der Hintergrund -, mit dem immer wieder gleich
lautenden Tenor, wie wir ihn aus der Unionsfraktion seit
den 80er- und 90er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts
- so darf ich heute sagen - kennen: Zur angeblichen Entlastung der Justiz gibt es in Wirklichkeit weitere Einschränkungen der prozessualen Rechte der Bürgerinnen
und Bürger.
({4})
- Das nenne ich Ihnen gleich. - Sie wollen nicht Rechte
ausdehnen, sondern schränken sie ein.
Wenn man Ihren Entwurf umsetzt, wird die Folge
sein: Es kommt zu keiner Beschleunigung der Justiz,
sondern zu einem Stellenabbau; die Arbeitsbelastung
wird nach Pensen berechnet. Die Arbeit bleibt aber die
gleiche. Das heißt, die Belastung wird in der Praxis nur
eine andere sein. Die Länder wollen damit im Ergebnis
ihre Haushalte ein Stück weit konsolidieren.
So wollen Sie in der Zivilprozessordnung unsere Reform genau dort zurückdrehen, wo wir für den prozessbeteiligten Bürger mehr Transparenz und mehr Aufklärungsrechte geschaffen haben. Durch die Anhebung von
Streitwertgrenzen, die Sie eben verschwiegen haben,
sollen darüber hinaus Rechtsmittelmöglichkeiten eingeschränkt werden. Das Gericht soll zudem nicht entlastet,
sondern belastet werden, indem die Spruchkörper bei
den Landgerichten verkleinert werden sollen. Wann begreifen Sie endlich, dass die Verkleinerung von Spruchkörpern keine Beschleunigung, sondern nur mehr Belastung bringt?
Noch deutlicher wird dieser Weg, wenn man sich Ihre
Vorschläge bezüglich der Strafprozessordnung ansieht.
Teilweise fordern Sie die Einschränkung von Verteidigerrechten - ich gebe zu: moderat. Darüber hinaus fordern
Sie aber die Einschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten durch eine völlig unverhältnismäßige Ausweitung
der Annahmeberufung. Sie wollen den Rechtsmittelzug
im Grunde bis zu 90 Tagessätzen dichtmachen. Der
ganze große Bereich der Verkehrsstraftaten wäre damit
im Ergebnis nicht mehr rechtsmittelfähig. Ihre Kolleginnen und Kollegen von der Anwaltschaft haben angesichts dessen mit Entsetzen die Hände über dem Kopf
zusammengeschlagen!
Außerdem wollen Sie das Revisionsrecht einschränken. Darüber hinaus fordern Sie etwas ganz Raffiniertes:
die Förderung von Schnellverfahren unter Verzicht auf
hinlänglich bestimmte Anklageschriften. Ich sage Ihnen
eines: Wenn Sie zukünftig bei der Anklage vor dem
Schöffengericht das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen weglassen wollen, dann können Sie das Schöffengericht streichen, denn das brauchen Sie dann nicht mehr.
Das wäre die richtige Konsequenz.
Das werden die Folgen Ihres Gesetzes sein. All dies
kommt auf Samtpfoten daher. Ihr Anspruch der Justizbeschleunigung führt zu nichts anderem als einer Beschränkung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger.
Zu Ihren Vorschlägen zur Zivilprozessordnung hat die
Bundesrechtsanwaltskammer - Ihre Berufskollegen,
Herr Kollege Röttgen - eine eindeutige Antwort gegeben. Diese möchte ich - mit Ihrer Genehmigung, Herr
Präsident - zitieren, weil das nicht besser gesagt werden
kann. Dort heißt es:
Die Auswirkungen des Zivilprozessreformgesetzes
aus der letzten Legislaturperiode sind noch nicht
evaluiert.
({5})
Alle Behauptungen in dem Gesetzentwurf, die auf
dieses Gesetz Bezug nehmen, entbehren jeder
rechtstatsächlichen Feststellung.
Genau das ist der Punkt, Herr Kollege Röttgen.
({6})
Dann kommt ein schöner Satz; den sollten Sie sich
aufschreiben:
Auf Meinungsäußerungen einzelner am Verfahren
Beteiligter sollte ein Gesetzeswerk nicht gestützt
werden.
Genau so ist es, Herr Kollege.
({7})
Weiter heißt es:
Änderungen der ZPO führen zur Belastung der
Wirtschaft und zur Schwächung des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
Das sind keine Sätze, die der böse, ideologische Sozialdemokrat Stünker sich ausgedacht hat, sondern das hat
die Bundesrechtsanwaltskammer in einer Stellungnahme
zu Ihrem Entwurf, Herr Kollege Röttgen, zum Ausdruck
gebracht.
({8})
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Im Übrigen sind alle Ihre Vorschläge nicht neu, es
sind alte Kamellen aus den 90er-Jahren. Der Kollege
Funke war damals Staatssekretär im Justizministerium.
Er kennt sie alle; all das ist schon damals diskutiert worden. Schon damals sind Sie damit gnadenlos gescheitert;
({9})
denn Ihr so genanntes Justizentlastungsgesetz aus dem
Jahre 1993 war ein echter Flop. Wenn die Praxis vor Ort
liest, was Sie heute vorschlagen, wird sie sich nicht mehr
empören, weil die Menschen von Ihnen insoweit kaum
noch etwas anderes erwarten. Mit diesen Vorschlägen
werden Sie nur noch ein müdes Lächeln ernten, Herr
Kollege Röttgen.
Das sind alles alte Kamellen, über die wir schon lange
diskutierten,
({10})
die schon vor Jahren verworfen worden sind, weil sie
nicht zum Erfolg führen.
Mit dem Entwurf drücken Sie sich wieder um den
entscheidenden Punkt herum: Sie wagen sich nicht an
wirkliche Strukturreformen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit heran. Ihr Entwurf enthält kein Wort zur
Binnenreform in der Justiz. Durch die Vorschläge wird,
wie in den ganzen 90er-Jahren, die Arbeit von oben nach
unten verlagert werden, wodurch die Amtsgerichte zusätzlich belastet werden. Da bei den Amtsgerichten auch
noch Personal abgezogen werden wird und weniger Stellen zur Verfügung stehen werden, die Arbeit aber die
gleiche bleibt, wird das Ganze irgendwann zusammenbrechen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Röttgen hat
eben sinngemäß gesagt, Rot-Grün sei aus ideologischen
Gründen nicht in der Lage, in der Rechtspolitik rechtsstaatsgemäße Gesetze auf den Weg zu bringen.
({11})
- Danke, im Strafrecht. - Ich möchte dazu abschließend
eine Anmerkung machen, die ich sehr ernst meine und
über die wir gemeinsam nachdenken sollten. Ich habe,
wenn ich mir die Praxis in der ordentlichen Gerichtsbarkeit ansehe, zunehmend den Eindruck, dass die Gefahr
für den Rechtsstaat weniger durch Straftaten droht als
vielmehr dadurch, dass im Bereich der unabhängigen
Justiz, der dritten Säule unserer Gewaltenteilung, die finanziellen Mittel derart gekürzt werden, dass die Justiz
irgendwann nicht mehr in der Lage sein wird, ihre Aufgaben sachgerecht zu erfüllen, Herr Kollege Röttgen.
({12})
Das ist der Hintergrund. Das bekommen wir nicht durch
die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen in den Griff,
sondern nur dadurch, dass wir als Rechtspolitiker gemeinsam aufstehen und den Ländern deutlich machen,
dass dieser Weg schädlich ist und dass es so nicht weitergehen kann. Das wäre die richtige Entscheidung.
({13})
Ich will zum Schluss - Herr Präsident, ich bitte um
Erlaubnis, das noch sagen zu dürfen; ich bin dann aber
am Ende meiner Rede - auf eine Pressemitteilung eingehen, die die Justiz in Berlin betrifft. Daran sehen Sie,
dass ich diese Problematik nicht einseitig parteipolitisch
beurteile. Einer Meldung vom 25. Juni ist zu entnehmen,
dass der Präsident des Berliner Landgerichts, Herr von
Drenkmann, der Justizsenatorin deutlich gemacht hat,
dass es in der Justiz und bei den Strafkammern aufgrund
von Personalmangel unhaltbare Zustände gibt. Aus Personalmangel könnten Verfahren nicht zu Ende geführt
werden, die Schwurgerichte müssten Personen aus der
Haft entlassen, was sie eigentlich nicht wollten und was
rechtsstaatlich höchst bedenklich sei. Das bekommt man
auch mit einem solchen Beschleunigungsgesetz nicht in
den Griff, sondern nur dadurch, dass man der Justiz die
Ressourcen gibt, die sie braucht, um ihre Aufgaben sachgerecht zu erfüllen.
Schönen Dank.
({14})
Nach zwei Rednern in dieser Debatte ein kurzer
Zwischenstand: Die Großzügigkeit des Präsidiums ist
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
gegenüber der Koalition etwas ausgeprägter als gegenüber der Opposition.
Nun hat der Kollege Rainer Funke für die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig: Die Justiz hat es verdient, dass sich die Politik
um sie kümmert. Der Gesetzgeber hat die erforderlichen
Maßnahmen zu treffen, damit unsere Justiz bürgernah
und leistungsfähig ist und bleibt.
({0})
Von daher sind Debatten im Bundestag über die Zukunftsfähigkeit der Justiz grundsätzlich zu begrüßen.
Der Anlass, der uns heute hier zusammenkommen
lässt, ist aber eher betrüblich, Herr Kollege Röttgen.
({1})
Die Union hat mit ihrem Entwurf eines Justizbeschleunigungsgesetzes eine Initiative vorgelegt, von der sie
ganz genau weiß, dass die meisten der darin enthaltenen
Vorschläge in diesem Hause und auch in der Justiz keine
Zustimmung finden werden.
({2})
Die Justiz hat es verdient, dass sich die Politik mit Ernsthaftigkeit und dem Willen zum Konsens ihrer Probleme
annimmt und nicht mit Populismus.
({3})
Der Entwurf der Union ist zu einer Konsensbildung
wahrlich nicht geeignet.
Herr Kollege Röttgen, wir beide waren bei der Novellierung von Gesetzen in der letzten Legislaturperiode gegen viele Vorschriften, die von der damaligen Justizministerin hastig und ohne Notwendigkeit durchgepeitscht
worden sind.
({4})
- Ich betone: in der letzten Legislatiurperiode von der
damaligen Justizministerin. - Ich teile Ihre Bedenken.
Aber lassen Sie uns die Auswirkungen dieser Gesetzesänderungen erst einmal evaluieren und sehen, ob die befürchteten Mängel tatsächlich alle aufgetreten sind.
({5})
Wenn das der Fall ist, dann lassen Sie uns gemeinsam
darangehen und die Mängel beseitigen. Lassen Sie sich
aber doch nicht zu solchen Schnellschüssen hinreißen,
ohne dass wir jemals die Chance der Evaluierung gehabt
haben.
({6})
Die Bundesregierung hat sich mit den Ländern auf einen Entwurf eines Gesetzes zur Justizmodernisierung
geeinigt.
({7})
Zugegeben: Das ist nicht der große Wurf; er ist im Ergebnis eher sehr mager. Dennoch ist der Gesetzentwurf
grundsätzlich zu begrüßen, da es gelungen ist, zumindest
die Punkte, die unstrittig sind, gemeinsam zu regeln. Daher trifft das Justizmodernisierungsgesetz - das ist ein
furchtbarer Name - auch auf die Zustimmung bei der
Justiz und der Anwaltschaft.
Mit ihrem Justizbeschleunigungsgesetz kündigt die
Union diesen Konsens jedoch wieder auf und trägt damit
zur Spaltung der Länder in dieser Frage bei.
({8})
- Sie brauchen nicht zu lachen, Herr Röttgen. Zum Beispiel das unionsgeführte Land Hamburg wird Ihrem Gesetz im Bundesrat nicht zustimmen.
({9})
Der Entwurf der Union enthält einige Elemente, die
von der FDP abgelehnt werden. Exemplarisch nenne ich
die Anhebung der Grenze für zulassungsfreie zivilrechtliche Berufungen auf 800 Euro, die Ausdehnung der Annahmeberufung im Strafprozess auf Verurteilungen bis
zu 90 Tagessätzen und die Ausdehnung der Rechtsfolgekompetenz im beschleunigten Verfahren auf Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren ohne Bewährung. Dass Sie das
mitmachen, kann ich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht mehr nachvollziehen.
({10})
Wenn die Union bei der Reform der Justiz rechtsstaatliche Grundsätze über Bord werfen will, dann kann sie
bei diesem Ansinnen nicht auf die Unterstützung der
FDP hoffen.
({11})
Auch die Anwaltschaft hat zu Recht ihre Gefolgschaft
versagt. Sie wissen, dass die Anwaltschaft wirklich immer sehr vorsichtig formuliert.
({12})
Herr Dr. Dombek als Präsident ist da immer sehr zurückhaltend. Aber so etwas Vernichtendes wie dieses
Gutachten habe ich schon seit langem nicht mehr von
der Bundesrechtsanwaltskammer gelesen.
({13})
Gerade die für die Anwaltschaft wichtige Dokumentationspflicht für richterliche Hinweise will die Union
auch noch abschaffen. Das können Sie als Anwalt kaum
selber mitmachen.
Ich empfehle der Union, ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen und auf der Grundlage des Justizmodernisierungsgesetzes gemeinsam zu Lösungen zu kommen, die
wirklich geeignet sind, die Justiz zu modernisieren und
zukunftsfest zu machen. In diesem Rahmen kann die
Union auch ihre Vorstellungen zur Reform des Revisionsrechts einbringen, zu der uns heute ja ein Antrag
vorliegt. Zu solchen Gesprächen ist wenigstens die FDP
gerne bereit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
jetzt der Abgeordnete Jerzy Montag das Wort.
Herr Präsident! Ich hoffe auf die gleiche Nachsicht,
die meine Vorredner erfahren haben.
Meine Damen und Herren Kollegen! Auch ich frage
mich, was dieses Gesetz soll, über das wir heute beraten
müssen. Das Justizmodernisierungsgesetz der Bundesregierung - ich stimme der Kritik am Namen zu; es zeichnet sich eine Allparteienkoalition zur Änderung des Namens dieses Gesetzes im parlamentarischen Gang ab - ist
auf den parlamentarischen Weg gebracht. Die Länder
werden dazu etwas zu sagen haben. Sie haben ja schon
im Vorfeld sehr vielem zugestimmt.
Es gibt einen zu dem Gesetzentwurf der CDU/CSU
praktisch textidentischen Antrag im Bundesrat. Dazu
gibt es durchaus eine unterschiedliche Diskussionslage.
Auch einige CDU- bzw. CSU-geführte Länder sind zu
einigen Punkten, die Sie in Ihrem Gesetz haben, völlig
anderer Meinung.
({0})
Die StPO, die Strafprozessordnung, wird von dieser
Koalition in dieser Legislaturperiode auf der Grundlage
des vorliegenden Eckpunktepapiers umfassend reformiert werden. Es ist schon angesprochen worden: Ein
Textvergleich Ihrer Vorschriften mit dem, was hier in
den letzten zehn Jahren aus guten Gründen abgelehnt
worden ist, zeigt: Sie haben einfach nur aufgesammelt
und in ein Papier gepackt, was Sie dann als ein neues
Gesetz vorgelegt haben. Angesichts dieser Fakten frage
ich mich: Was soll das? Sie halten uns von der Arbeit ab!
Sie selber, Herr Kollege Dr. Röttgen, haben von der Zeit
gesprochen. Sie stehlen uns mit solchen Gesetzentwürfen die Zeit, die wir eigentlich brauchen, um uns inhaltlich mit der Justizreform zu beschäftigen.
({1})
Zur ZPO will ich hier nur eines sagen: Die Bedenken
unserer Fraktion gegen die Bindung der Zivilgerichte an
rechtskräftige Strafurteile - Ihr Vorschlag in § 286 Abs. 3 stehen in der Begründung Ihres eigenen Gesetzentwurfs.
Zuallererst die Mogelpackung beim Adressaten: „Das
Gericht soll gebunden werden.“ Tatsächlich richtet sich
diese Vorschrift gegen eine der Prozessparteien. Ehrlich
wäre es gewesen, wenn man geschrieben hätte: Der Beklagte in einem Zivilprozess ist mit einem Sachvortrag
ausgeschlossen, wenn dieser in Widerspruch zu den Gründen eines rechtskräftigen Urteils in einem Strafprozess
steht, an dem er als Angeklagter beteiligt war. - Dann aber
hätten Sie auf den Tisch gelegt, wie intensiv Sie in den Zivilprozess eingreifen, indem Sie der einen Partei des Zivilprozesses Rechte nehmen, die die andere Partei bekommt.
({2})
Sie schreiben, dass die Beweislage im Strafprozess
besser sei als im Zivilprozess. Herr Dr. Röttgen, sie ist
völlig anders. Im Strafprozess ist der Kläger des Zivilprozesses Zeuge in eigener Sache. Darin liegen die
rechtsstaatlichen Probleme der Übertragung dieser Urteile.
Sie haben Beweisverwertungsverbote und Wahrunterstellungen in der Begründung als Probleme des Transfers angesprochen.
Herr Kollege, darf der Kollege Röttgen eine Zwischenfrage an Sie richten?
Ja.
Herr Kollege Montag, da wir beide die unterschiedlichen Entwürfe gelesen haben, möchte ich Sie aufgrund
Ihrer Darstellung fragen, ob Sie mir in der Einschätzung
zustimmen, dass in unserem Vorschlag die Beweiserhebungsautonomie sowie die Beweiswürdigungs- und Entscheidungsautonomie des Zivilverfahrens voll erhalten
bleiben. Das Zivilgericht entscheidet, welche Tatsachen
es aus einem vorhergehenden Strafprozess verwenden
möchte, es verfügt über die volle Autonomie, während
es im Gesetzentwurf der Bundesregierung eine gesetzlich angeordnete gegen alle inter-omnes-wirkende Beweiskraft der festgestellten Tatsachen im Strafverfahren
gibt. Stimmen Sie mir in der Einschätzung zu, dass das
aus den von Ihnen gerade genannten Gründen der strukturellen Unterschiedlichkeit beider Verfahrensarten
rechtsstaatlich inakzeptabel ist?
Herr Dr. Röttgen, von der rechtsstaatlichen Inakzeptabilität will ich nicht reden. Ich gebe Ihnen aber zu, dass
wir gegen beide Vorschläge Bedenken haben. Sie gehen
in die gleiche Richtung und beziehen sich nicht so sehr
auf das Gericht und die Bindung, die es erfährt, sondern
sie beziehen sich auf die Tatsache, dass die Rechte einer
der beiden Parteien des Zivilprozesses beschnitten werden, die die andere Partei des Zivilprozesses in vollem
Umfang hat. Insofern werden wir uns über die Vorschrift
im Justizmodernisierungsgesetz genauso zu unterhalten
haben wie über die Vorschrift in Ihrem Entwurf eines
Justizbeschleunigungsgesetzes.
Besonders putzig, Herr Dr. Röttgen, ist der Hinweis
in Ihrer Begründung, dass die Vorschrift natürlich auch
zugunsten des Angeklagten bei einem „Freispruch aus
erwiesener Unschuld“ wirken soll. Den Freispruch aus
erwiesener Unschuld gab es in der Strafprozessordnung
schon nicht mehr, als ich zu studieren angefangen habe.
Sie schreiben heute eine solche Formulierung in einen
Gesetzentwurf, wohl wissend, dass es in § 267 Abs. 5 lediglich um die Feststellung geht, dass die Unschuldsvermutung nicht widerlegt werden konnte. - So viel zum
Zivilprozess.
({0})
Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, haben in Ihr Vorblatt Lyrik, Rechtsstaatslyrik,
hineingeschrieben. Sie sprechen von Straffung des Prozessverlaufs unter Wahrung rechtsstaatlicher Erfordernisse. Sie wollen die berechtigten rechtsstaatlichen Interessen der Bürger wahren und die Wahrheitsfindung
nicht beeinträchtigen. Da, wo das Kleingedruckte steht,
reißen Sie Ihre Lyrik in jedem Punkt wieder herunter.
({1})
Ich werde vom Präsidenten aufgefordert, zum Ende
meiner Rede zu kommen. Deswegen kündige ich Ihnen
an, in den nächsten Debatten, die wir zu diesem Thema
führen werden, meine Ausführungen zu § 26 a StPO und
zu Ihren die Rechte der Menschen beschneidenden Formulierungen in § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO, der sich mit
dem Antragsrecht im Strafprozess - dem Mittelpunkt der
Rechte des Angeklagten - befasst, fortzusetzen.
Ich will Ihnen abschließend noch eines sagen, Herr
Dr. Röttgen: Ihr Gesetzentwurf ist entgegen der Lyrik
des Vorblatts von Ihrem Glauben beseelt, Sie könnten
die Justiz nur dann effektiver gestalten, wenn Sie die
Rechte der Beschuldigten beschneiden. Ich habe in allen
Aussprachen, die wir bisher zu diesem Thema hatten,
auf eine sachliche Diskussion gepocht. Wenn Sie uns
aber in der Öffentlichkeit Ideologie vorwerfen, dann
werden wir es Ihnen mit der gleichen Münze heimzahlen. Sie von der CDU/CSU sind die Ideologen, das haben Sie mit diesem Gesetzentwurf bewiesen. Sie vertreten die Ideologie des Rechtsstaatsabbaus. Deshalb:
Packen Sie Ihren Gesetzentwurf wieder ein!
({2})
Nachdem nun der Kollege Montag ganz unangefochten die Spitze der überschrittenen Redezeiten übernommen hat, möchte ich den Aufruf des nächsten Redners
mit der heimlichen Hoffnung verbinden, dass der Nachweis erbracht wird, dass ein Beitrag auch in der angemeldeten Redezeit erfolgen kann.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Gegensatz zum Kollegen Montag werde ich nicht
gleich zu Beginn ankündigen, dass ich die Redezeit
überziehen werde. Ich möchte das zumindest offen lassen.
({0})
Ich glaube, wir sind uns bisher wenigstens in einem
Punkt einig: Die Belastung unserer Gerichte steigt von
Jahr zu Jahr weiter an. Nicht zu Unrecht mahnen die
Länder seit langem Entlastungsmaßnahmen für die
Justiz an. Die rot-grüne Justizreform, die etwa eineinhalb Jahre her ist, hat die Gerichtsverfahren weder vereinfacht noch beschleunigt, sondern sie hat sie belastet
und verzögert. Wir brauchen jetzt dringend umfassende
und praktikable Lösungen, um der ständigen Überlastung unserer Gerichte und der Staatsanwaltschaften wirkungsvoll begegnen zu können. Es ist gerade auch für
das Rechtsempfinden der Bürger wichtig, dass die Gerichte künftig zügig entscheiden.
({1})
Deshalb müssen die Gerichtsverfahren beschleunigt und
gestrafft werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, selbstverständlich werden wir dabei sicherstellen, dass die Wahrheitsfindung und die berechtigten rechtsstaatlichen Interessen der Bürger gewahrt
bleiben.
({2})
- Doch, auch mit diesem Gesetzentwurf.
({3})
Dass die jüngste rot-grüne Reform unsere Justiz nur
unnötig belastet hat, gesteht die Bundesjustizministerin
indirekt eigentlich ein; denn sonst würde sie nicht schon
wieder ein neues Gesetz zu diesem Thema vorlegen. Zu
umfassenden und konsequenten Reformen reicht es aber
weder im Zivil- noch im Strafverfahren. Der große Wurf
ist dieses Justizmodernisierungsgesetz ganz bestimmt
nicht. Schon sein Titel ist geradezu verwegen; Herr
Stünker, Sie haben darauf hingewiesen.
({4})
- Sie haben aber eine frühe Einsicht gezeigt und wollen
den Titel jetzt offensichtlich umschreiben.
Der Entwurf unseres Justizbeschleunigungsgesetzes
hält dagegen, was sein Name verspricht. Er bringt umfassende und praxisnahe Erleichterungen.
({5})
Kollege Dr. Röttgen hat bereits die zivilprozessualen Aspekte angesprochen. Deshalb möchte ich einige Worte
zum strafrechtlichen Schwerpunkt des Gesetzentwurfs
der Unionsfraktion sagen.
Während Sie sich in dem so genannten Justizmodernisierungsgesetz im Wesentlichen damit begnügen, einige Vorschläge aufzugreifen, die vom Bundesrat in den
letzten Jahren gemacht worden sind, ist der von uns vorgelegte Entwurf nicht nur viel umfassender, sondern
auch weitreichender. Ich beschränke mich auf einige wenige Beispiele.
Durch die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen bezogen auf die Hauptverhandlung wollen wir
die Möglichkeit schaffen, künftig auf die Hinzuziehung
der Urkundsbeamten zu verzichten. Das sehen Sie
zwar auch in dem Justizmodernisierungsgesetz vor,
({6})
aber Sie verzichten nicht auf die Notwendigkeit der Abfassung eines Inhaltsprotokolls. Wir meinen: Eine Entlastung kann doch nur gelingen, wenn der Strafrichter
nicht unbedingt ein umfangreiches Inhaltsprotokoll diktieren muss. Solange dies nötig ist, wird ein Richter
kaum auf einen Protokollführer verzichten.
({7})
- Kollege Stünker nickt aus Erfahrung. Er würde wohl
auch so handeln.
({8})
- Ja, wir harren gebannt. Wir sitzen vor den Computern
und warten täglich darauf, dass wir sie abrufen können.
({9})
- Ja.
({10})
- Die Ankündigungen hören wir schon lange.
({11})
Wir sind schon ganz wild darauf, Näheres zu erfahren.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Tilgungsfristen
für die Zentralregister sagen. Auch hier wollen wir
eine Änderung vornehmen. Nach geltendem Recht sind
die Eintragungen im Verkehrszentralregister nach Ablauf bestimmter Fristen zu tilgen, wenn es zu keinen
neuen Eintragungen gekommen ist. Da jede Neueintragung die Rechtskraft der Entscheidung voraussetzt, animiert das geltende Recht dazu, die Verfahren wegen
neuer Zuwiderhandlungen zu verzögern, damit die Eintragung zu spät erfolgt.
Auch hier ist der Entwurf des Justizmodernisierungsgesetzes unzureichend. Er ist lediglich dazu geeignet, die
Tilgung der früheren Eintragung zu verhindern. Das genügt aber nicht. Wir brauchen auch eine Änderung beim
Verwertungsverbot. Nur wenn das jetzt geltende Verwertungsverbot durchbrochen wird, entfällt der Anreiz, das
Verfahren zu verzögern. Deshalb enthält unser Gesetzentwurf eine entsprechende Neuregelung.
Die von uns vorgesehene Neustrukturierung der
Rechtsmittel im Strafverfahren ist ebenfalls ein wichtiger Gesichtspunkt. Nach dem geltenden Recht gibt es
bei Verfahren, die beim Amtsgericht beginnen, drei Instanzen, während es bei Strafsachen, die erstinstanzlich
vor dem Landgericht verhandelt werden, nur zwei Instanzen gibt. Wir alle haben uns schon als Studenten darüber gewundert, warum das so ist. Jetzt wollen wir
diese Schieflage beseitigen.
({12})
- Seien Sie froh, dass wir uns dieses Themas annehmen.
Sie wollen gar nichts machen. Das Thema Rechtsmittel
im Strafverfahren taucht in Ihrem Gesetzentwurf, Herr
Kollege Montag, überhaupt nicht auf. Angesichts der Erfahrungen mit Ihren Vorschlägen zum Thema dreigliedriger Gerichtsaufbau in der letzten Legislaturperiode
kann man allerdings nur sagen: Es ist auch besser, dass
Sie sich in Ihrem Entwurf dazu nicht äußern. Wir jedenfalls legen etwas zu den Rechtsmitteln im Instanzenweg
vor.
Es kann doch nicht sein, dass jemand, der sich eines
kleinen Vergehens schuldig gemacht hat - Stichwort
„Ladendieb“ -, drei Instanzen zur Verfügung hat, während ein Schwerverbrecher - beispielsweise ein Mörder nur zwei Instanzen durchlaufen kann. Deshalb wollen
wir in Anlehnung an das Jugendstrafrecht ein Wahlrechtsmittel einführen. Dem Beschuldigten und der
Staatsanwaltschaft sollen künftig entweder Berufung
oder Revision gegen ein erstinstanzliches Strafurteil zustehen. Das heißt, dass sie nur noch ein Rechtsmittel zur
Wahl haben. Das wird zu einer deutlichen Entlastung
führen.
Lassen Sie mich nur noch in Stichworten weitere
Punkte aus unserem Entwurf nennen. Wir wollen die
Regelung über die zulässige Dauer der Unterbrechung
der Hauptverhandlungen lockern, damit künftig Schiebetermine möglichst vermieden werden können. Wir
wollen den Bereich der Annahmeberufung auf VerurteiDr. Wolfgang Götzer
lungen bis zu 90 Tagessätzen ausweiten. Wir wollen den
Strafbefehl stärker zur Anwendung kommen lassen. Er
soll künftig auf zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren ausgedehnt werden. Wir wollen
die Rechtsfolgenkompetenz im beschleunigten Verfahren erweitern und auf Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren
erstrecken. Das dient dem Opferschutz und auch dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung.
Ich hoffe, dass sich die Koalition in den weiteren Beratungen unseren sinnvollen und effektiven Vorschlägen
nicht verschließen wird.
Ich möchte zum Schluss eines sagen: Das, was sich
dieser Tage - es ist schon angesprochen worden - in
Berlin ereignet hat, dass ein wegen Totschlags Angeklagter wegen Überlastung des Gerichts, das sich nicht
in der Lage sah, einen Termin für die Hauptverhandlung
anzuberaumen, aus der Untersuchungshaft entlassen
wurde, darf sich in unserem Lande nicht wiederholen.
({13})
Ich bedanke mich.
({14})
Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eigentlich gedacht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, dass wir heute über Ihren Gesetzentwurf reden.
Aber Sie haben ständig das Justizmodernisierungsgesetz
angesprochen. Dazu kommen wir demnächst. Vielleicht
wird ja Herr Gehb zu Ihrem Gesetzentwurf sprechen.
Ihr Gesetzentwurf ist die Kopie einer bayerischen
Bundesratsinitiative. Als Jungsozialisten haben wir immer eine Doppelstrategie geübt. Das scheint auch bei Ihnen der Fall zu sein. Ich sage Ihnen voraus: Dies wird
ein Doppelflop werden.
({0})
Der Inhalt Ihres Gesetzentwurfs ist, wie so oft, zu einem
guten Teil aus früheren gescheiterten Gesetzesinitiativen
aus Ihren Reihen oder aus den Ländern altbekannt. Es
hat den Anschein, als hätten Sie die Rechtspolitik als
olympische Disziplin entdeckt: Dabei sein ist für Sie alles. Inhaltlich war Ihr Motto ja schon immer: schneller,
härter, schlechter.
({1})
Vor allem im Strafprozessrecht wiederholen Sie unbrauchbare Vorschläge aus der vergangenen Legislaturperiode, von denen Sie genau wissen, dass die Sachverständigen sie bei der Bundestagsanhörung im Juni 2000
zum Teil als bereits im Grundsatz verfehlt und kontraproduktiv abgelehnt haben.
Das gilt für Ihre Idee, die Grenzen der Annahmeberufung von derzeit 15 auf 90 Tagessätze Geldstrafe anzuheben. Sie gefährden damit den Rechtsschutz, die
Qualitätskontrolle und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung; denn immerhin betrifft dies 90 Prozent aller
Geldstrafen.
Unbrauchbar ist auch Ihr Vorschlag, im Strafbefehlsverfahren einen Strafausspruch von über einem Jahr zuzulassen. Freiheitsstrafen von über einem Jahr, die Sie
per Strafbefehl verhängen wollen, können nur unter ganz
besonderen Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt
werden. Wie aber soll ein Gericht zu einer Bewährungsprognose kommen, wenn es nur die Akten, nicht aber
den Angeklagten vor sich hat?
({2})
Eine echte Justizbremse sind Ihre Vorschläge zu den
Anklageschriften, die ohne wesentliches Ermittlungsergebnis zum Schöffengericht gehen sollen. Das Schöffengericht befasst sich mit mittlerer oder schwerer Kriminalität mit oft umfangreichen Sachverhalten. Eine
Zusammenfassung des wesentlichen Ermittlungsergebnisses ist sinnvoll, damit sich das Gericht für die Eröffnungsentscheidung rasch ein Bild von der Sache machen
kann. Das dient der Beschleunigung. Mit Ihrem Vorschlag verschieben Sie nur die Belastung von der Staatsanwaltschaft auf das Gericht.
({3})
Ihre Vorschläge zum Jugendstrafrecht sehe ich mehr
als kritisch, so wie fast alles, was von Ihnen zum Jugendstrafrecht kommt wenig durchdacht erscheint.
({4})
Haftbefehl im vereinfachten Jugendverfahren - das
hört sich zunächst gut an. Natürlich ist eine möglichst
zeitnahe Reaktion auf begangenes Unrecht erzieherisch
wünschenswert. Die Beschleunigung von Jugendstrafverfahren darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Es
geht im Jugendstrafrecht doch darum, zu verhindern,
dass erneut Menschen Opfer von Straftaten werden, dass
Jugendliche erneut straffällig werden. Es ist deshalb fatal, wenn Sie die bekannten schädlichen Nebenfolgen
des Vollzugs und gerade der Untersuchungshaft, die eine
Resozialisierung gefährden, einfach ausblenden. Wahrscheinlich gehen Sie nach dem Motto vor: U-Haft
schafft Rechtskraft. Ich verstehe nicht, wie Sie so tun
können, als seien alle empirischen Erkenntnisse der Jugendkriminologen einfach irrelevant. Es gilt im Jugendstrafrecht völlig zu Recht der Grundsatz der Haftvermeidung. Das gilt besonders für das vereinfachte
Jugendverfahren, in dem nur Sanktionen unterhalb der
Jugendstrafe verhängt werden dürfen.
Über die Zulassung des vereinfachten Jugendverfahrens für Heranwachsende können wir reden. Aber
dann sollten wir auch darüber nachdenken, das beschleunigte Verfahren in den Fällen ausdrücklich auszuschließen, in denen Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt
und damit das vereinfachte Jugendverfahren als eine angemessene Alternative zur Verfügung steht. Immerhin
ist es erfreulich, dass Sie mit diesem Vorschlag offenbar
etwas von Ihrer Forderung abrücken, auf Heranwachsende grundsätzlich nicht mehr das Jugendstrafrecht anzuwenden.
Noch ein paar Worte zum Ordnungswidrigkeitengesetz.
Hier sind wir erfreulicherweise etwas näher beieinander.
Insbesondere können wir die von Ihnen vorgeschlagene
nochmalige Ausdehnung des Einzelrichterprinzips bei
den Oberlandesgerichten als sinnvoll mittragen.
Nicht überzeugt sind wir jedoch von Ihrer Forderung,
die Rechtsmittelgrenzen für den Zugang zur zweiten
Instanz, also den Oberlandesgerichten, erneut deutlich
anzuheben. Sie wissen - Herr Dr. Röttgen, Herr Dr. Götzer
und Herr van Essen waren damals dabei -, dass wir 1998
in einem breiten parlamentarischen Konsens die Grenzen bereits mehr als verdoppelt haben. Ich habe im
Gesetzgebungsverfahren damals sehr eng mit Ihrem
Fraktionskollegen Freiherr von Stetten senior zusammengearbeitet. Wir beide haben die Sache damals verhandelt. Wir waren uns einig, dass eine weitere Anhebung der Rechtsmittelgrenzen nicht sinnvoll ist. Das
Gesetz von 1998 hat dann auch zu einem spürbaren
Rückgang der Rechtsbeschwerden um 25 Prozent gegenüber 1996 geführt. Eine erneute Verdoppelung würde
in der Praxis im Straßenverkehrsbereich nahezu alle
Geldbußen und Fahrverbotsfälle aus der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde ausnehmen. Nachdem die an
sich so wortgewaltigen Automobilclubs bisher zu diesem echten Hammer in Ihrem Gesetzentwurf nichts gesagt haben, möchte ich Sie hier im Interesse der Autofahrer um etwas mehr Zurückhaltung bitten.
Ich greife noch einige Beispiele aus der Zivilprozessordnung heraus, weil mir noch etwas Zeit verbleibt.
({5})
- Sie sollten lieber nachdenken als quatschen. - Sie wollen die Dokumentationspflicht für richterliche Hinweise
sowie die obligatorische Güterverhandlung, beides erst
mit der ZPO-Reform am 1. Januar 2002 eingeführt, wieder abschaffen und das, nachdem vor wenigen Monaten
bereits ein gleichlautender Gesetzesantrag aus Hessen
nicht einmal die Ausschussberatungen im Bundesrat
überstanden hat.
Es ist sachwidrig, jetzt aus der ZPO-Reform willkürlich einzelne Bausteine herauszubrechen. Mit der Abschaffung der Dokumentationspflicht für richterliche
Hinweise erreichen Sie nur, dass der erstinstanzliche
Richter in Streitfällen von der Berufungsinstanz als
Zeuge über die Hinweiserteiler vernommen werden
müsste. Sie erweisen der Richterschaft mit diesem Gesetzesantrag einen Bärendienst.
({6})
Überdies bleibt die schriftliche Fixierung richterlicher
Hinweise auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelungen ein Gebot des sachgerechten und transparenten richterlichen Handelns. Durch die ZPO-Reform ist dies lediglich gesetzlich fixiert worden. Ihr Vorschlag schafft
da nur neue Zweifel.
Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen die Richter von der
Pflicht entbunden werden, Hinweise so früh wie möglich
zu erteilen. Dabei ist die straffe Prozesssteuerung durch
frühe und zweifelsfrei dokumentierte richterliche Hinweise notwendig. Dadurch werden die Prozesse beschleunigt und die Rechtsmittel tendenziell reduziert.
Mit dem Streichen der Hinweispflicht machen Sie Ihr so
genanntes Justizbeschleunigungsgesetz
({7})
zur Justizbremse.
({8})
- Hören Sie gut zu, Herr Kollege Gehb!
Es kommt noch schlimmer. Der Entwurf will den Parteien das Recht nehmen, auf einen Hinweis des Gerichts
schriftlich zu antworten. Damit tangieren Sie den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör, das zu den
Grundrechten der Justiz gehört. Welchen Sinn hat ein
richterlicher Hinweis, zu dem die Partei nicht mehr
schriftlich Stellung nehmen darf? Dieses Vorhaben ist
bürgerfeindlich und in verfassungsrechtlicher Hinsicht
bedenklich. Mit dieser Formulierung bin ich noch sehr
vorsichtig.
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu Ihrem Antrag, der heute unterzugehen scheint. Der BGH bewältigt seine Arbeit. Im Jahr 2001 gab es 4 400 Revisionen
zum BGH. 2002 waren es 4 592 Revisionen plus Nichtzulassungsbeschwerden. Das sind 4 Prozent. Wie man
dabei von „Ertrinken“ reden kann, Herr Dr. Röttgen,
bleibt Ihnen vorbehalten zu erläutern. Im Übrigen ist
dem BGH ein Hilfssenat bewilligt worden, der diese Arbeiten mit erledigt.
Verehrter Herr Präsident, ich will Ihnen einen großen
Gefallen tun und unterhalb einer einminütigen Überschreitung der Redezeit bleiben.
Alles in allem ist das so genannte Justizbeschleunigungsgesetz, das Ihnen als Reaktion auf unser Justizmodernisierungsgesetz, das wir demnächst beraten werden
und ein wirklicher Erfolg werden wird, eingefallen ist,
eine ausgesprochene Justiz- und Rechtsschutzbremse.
Nachdem Sie heute gemerkt haben, dass die FDP
nicht mitzieht - vermutlich wird das Vorhaben auch im
Bundesrat nicht die notwendige Mehrheit erhalten -, fordere ich Sie auf, Herr Dr. Röttgen: Seien Sie ein Mann!
Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück!
({9})
War ich einigermaßen anständig, Herr Präsident?
Sie waren zwar einigermaßen anständig, aber das Finale Ihrer Rede hat die alte Lebensweisheit bestätigt,
Herr Staatssekretär, dass man mit Ankündigungen vorsichtig sein soll, vor allem wenn man sie selber einlösen
muss.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einem solchen rhetorischen Feuerwerk, wie es der Staatssekretär abgebrannt hat, fällt es sicherlich jedem Redner
schwer, darauf zu replizieren.
Herr Hartenbach, Sie haben übrigens ungefähr dasselbe vorgebracht wie in der 789. Sitzung des Bundesrates am 20. Juni dieses Jahres. Deswegen habe ich Teile
Ihrer Rede, zum Beispiel hinsichtlich der Justizbremse,
vorwegnehmen können.
Ich möchte - auch für die Zuschauer - einmal etwas
anders beginnen als sonst. Ich möchte nämlich eine
Szene simulieren, die man in deutschen Gerichtssälen im
Amtsgericht oder im Landgericht täglich sehen kann:
Ich rufe auf die Sache Hartenbach ./. Stünker,
Az.: 14 O 237/03. - Die Herrschaften treten ein. Es beginnt die mündliche Verhandlung. Wie immer ist die
Klage des Klägers Hartenbach nur teilweise schlüssig,
aber die Erwiderung des Beklagten Stünker auch nur
teilweise erheblich. Aus diesem Grunde führt der Richter mit den beiden Beteiligten ein Rechtsgespräch und
diktiert nach einer halben Stunde etwa Folgendes:
In dem Zivilstreitverfahren Hartenbach ./. Stünker
schließen die Beteiligten nach eingehender Diskussion
der Sach- und Rechtslage folgenden Vergleich:
Erstens. Zur Abgeltung aller mit der Klage geltend
gemachten Ansprüche zahlt der Beklagte an den Kläger
Euro 900.
Zweitens. Von den Kosten des Verfahrens trägt der
Kläger ein Drittel, der Beklagte zwei Drittel.
Drittens. Den Beteiligten bleibt vorbehalten, den Vergleich bis zum 14. August ({0}) zu widerrufen.
({1})
Laut diktiert und genehmigt, vorgelesen und beschlossen. - So stellte sich die Situation vor der ZPO-Novellierung dar.
({2})
Das Gesetz sah vor, dass der Richter in jeder Phase
des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Streits
hinwirkt.
({3})
Damit wurde an das Verhandlungsgeschick, an die Routine und an das Fingerspitzengefühl der Richter appelliert und auf ihre Erfahrung und Souveränität, ein
Rechtsgespräch zu leiten und nicht alle drei Minuten einen richterlichen Hinweis zu protokollieren.
({4})
Diese Vorgehensweise wird dadurch verhindert, dass
man solch eine Verfahrensweise formalisiert, den Richter damit drangsaliert und alle Beteiligten damit kujoniert.
({5})
Genau das haben Sie mit der ZPO-Reform durch die
Einführung der Pflicht zur Dokumentierung von Hinweisen und durch die Einführung der obligatorischen
frühen Güteverhandlung geschafft. Unser Gesetzentwurf sieht mindestens die Wiederherstellung des Status
quo ante als einen Beschleunigungseffekt vor. Schon
deshalb würden bei seiner Verabschiedung alle Betroffenen aufatmen.
Ich bin immer noch als Rechtsanwalt in Kassel forensisch tätig. Dort gibt man mir sozusagen Laufzettel mit
auf den Weg in dieses Parlament in Berlin. Einer dieser
Laufzettel enthielt zum Beispiel den Wunsch, den Richter an Amtsgerichten und Landgerichten mir gegenüber
geäußert haben: Herr Gehb, sorgen Sie doch einmal dafür, dass endlich Schluss ist mit dem Argwohn und dem
Misstrauen der SPD und der Grünen - sie meinen ja,
man müsse jedes Jota schriftlich fixieren - gegenüber
uns Richtern! Ich denke, dass die Richter in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch ohne Dokumentations- und ohne Protokollpflicht in der Lage waren, in jeder Phase des Verfahrens eine gütliche Beilegung des
Streites zu erreichen.
({6})
Nun komme ich zu einem Wunsch, der schon vor längerer Zeit von meinem früheren Ausbilder, dem Richter
Pohl - Herr Hartenbach, auch Sie kennen ihn -, geäußert
wurde. Er sagte: Lieber Herr Gehb, sorgen Sie dafür,
dass die Frist, die bei Strafprozessen eine Unterbrechung von maximal zehn Tagen vorsieht, endlich ein
bisschen verlängert wird. Für diejenigen, die sich nicht
auskennen: Bisher ist es für Strafprozesse so geregelt,
dass spätestens am elften Tag nach einer Unterbrechung
eine Hauptverhandlung anberaumt werden muss, weil
ansonsten die Gefahr besteht, dass der ganze Prozess
wieder von vorne aufgerollt werden muss. Ich weiß, dass
Ihr Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes nun
auch eine Verlängerung der Frist vorsieht. Auf meine
Anfrage aus der letzten Legislaturperiode vom
21. August, ob solch eine Verlängerung möglich sei, antwortete der Staatssekretär Pick in der Bundestagsdrucksache 14/6451, Seite 9, dass dies nicht der Fall ist.
Jetzt tingelt die neue Ministerin durch die Lande und
tut so, als sei diese Initiative auf ihrem Mist gewachsen.
Die Entwicklungsgeschichte, die Genesis des
§ 229 StPO geht auf alle möglichen Leute zurück, nur
nicht auf Mitglieder dieser Bundesregierung und schon
gar nicht auf Mitglieder der Fraktionen der SPD oder der
Grünen. Die Begründung Ihres Gesetzentwurfs auf
Seite 56 der Bundesratsdrucksache zeigt, dass Sie gar
nicht verstanden haben, worum es geht. Da kann man
nämlich lesen - ich dachte zuerst, es sei ein Beitrag aus
einer Büttenrede -, § 229 StPO sei deshalb zu ändern,
damit dem Gericht ein Gerichtssaal zur Verfügung gestellt werden könne. Das ist ja ein Stück aus dem Tollhaus.
Die richtige Begründung, die Ratio Legis, ist natürlich eine andere: Es soll vermieden werden, dass der
Richter am elften Tag nach einer Unterbrechung lediglich einen so genannten Schiebetermin anberaumt, um
irgendeinen Schriftsatz auszuhändigen und damit - Herr
Hartenbach, werden Sie nicht ungeduldig; Sie kommen
gleich dran - den Folgen des Überschreitens der Unterbrechungsfristen zu entgehen. Das ist der Sinn dieser
Regelung, nicht das Vorhalten von Gerichtssälen.
Herr Hartenbach, bitte.
Das Präsidium ist immer ganz gerührt, wenn notwendige geschäftsleitende Bemerkungen bilateral, also von
Rednern und Zwischenrufern, abgewickelt werden.
Hiermit erteile ich dem Kollegen Hartenbach das
Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Präsident, ich bedanke mich sehr herzlich. Herr Dr. Gehb, warum reden Sie eigentlich dauernd über
unseren Entwurf eines Justizmodernisierungsgesetzes,
der heute überhaupt nicht zur Debatte steht, und nicht
über die Segnungen und Vorzüge Ihres Entwurfs eines
Justizbeschleunigungsgesetzes?
Herr Hartenbach, Herr Staatssekretär Hartenbach, lieber Alfred Hartenbach, wenn Sie so gewissenhaft zugehört hätten, wie Sie eben gewissenhaft das vorgelesen
haben, was Sie schon einmal vorgelesen haben, dann
hätten Sie mitbekommen, dass ich sehr wohl über unseren Gesetzentwurf geredet habe, der die Aufhebung von
Teilen der ZPO-Novelle vorsieht. Dann hätten Sie auch
gemerkt, dass ich sehr wohl darüber geredet habe, dass
wir eine Änderung des § 229 StPO wollen, und dass ich
lediglich auf einen der intelligenten Einwürfe und Zurufe Ihrer Kollegen hin auf Ihr Justizmodernisierungsgesetz eingegangen bin. Sonst hätte ich es nicht für wert
gehalten, überhaupt in meiner Rede darauf einzugehen.
Herzlichen Dank.
Es ist schönes Wetter und ich wünsche ein schönes
Wochenende.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/999 und 15/1098 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
10. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 14/9517, 15/345 Nr. 14, 15/952 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Freitag
Winfried Hermann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin Ute Vogt.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine, kürzt die öde
Zeit und er schützt uns durch Vereine vor der Einsamkeit.
So hat Joachim Ringelnatz schon vor vielen Jahrzehnten
- ich glaube: sehr treffend - die Vielseitigkeit und die
große Bedeutung von Sport und sportlichen Aktivitäten
in Vereinen, aber auch für die gesamte persönliche Entwicklung auf den Punkt gebracht.
Ich bin über die heutige Debatte froh, weil sie auch
zeigt, dass der Beitrag der deutschen Innenpolitik zum
deutschen Sport enorm groß ist. Wir sind nicht nur für
die innere Sicherheit, sondern auch dafür zuständig, dass
der innere Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl
durch Sport und sportliche Aktivitäten gestärkt werden.
Wenn man den 10. Sportbericht der Bundesregierung auf
Seite 22 aufschlägt, dann sieht man eine beeindruckende
Bilanz. Wir sind stolz auf den Aufwuchs der Mittel, die
wir dem Sport zur Verfügung stellen können. Im Vergleich zum Berichtszeitraum der Vorgängerregierung
von 1994 bis 1997 ist ein Zuwachs von 17 Prozent zu
verzeichnen. Das macht sich auch an dem hohen Niveau
bemerkbar, auf dem wir die deutschen sportlichen Leistungen halten konnten. Der Bericht zeigt außerdem, dass
wir seit unserer Übernahme der Regierungsverantwortung die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben - davon
konnte der Leistungssport sehr stark profitieren ({0})
und dass wir die Spitzensportförderung weiterhin als
eine der wichtigen und zentralen Aufgaben unserer Regierungspolitik sehen.
Es geht hier um ein Themenfeld - das möchte ich ausdrücklich betonen -, bei dem die betroffenen Fachverbände immer konstruktiv mit uns zusammenarbeiten.
Wir erleben das nicht zuletzt bei der Vergabe der Mittel.
Im Gegensatz zu vielen Fachbereichen, die andere Ressorts zu begleiten haben, bedanken sich die Fachverbände des Sports bei jeder Veranstaltung und machen
deutlich, dass die Politik des Bundes und der Länder den
Sport unterstützt. Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen,
dass diejenigen, die mit unserem Geld arbeiten, klarstellen, dass sie unseren Einsatz schätzen. Es ist schön, dass
wir als Politikerinnen und Politiker - das kommt sonst
nicht allzu häufig vor - ab und an auch einmal eine positive Resonanz erhalten.
({1})
Die fachliche Zusammenarbeit im Sportbereich ist
sicherlich auch deshalb vorbildlich, weil wir, bevor wir
entscheiden, für welche Fördermaßnahmen das Geld der
Steuerzahler ausgegeben werden soll, die gemeinsame
Beratung mit denjenigen suchen, die uns einen fachlichen Rat geben können, weil wir uns als Politiker also
nicht anmaßen, am besten Bescheid zu wissen. Ich
glaube, das ist ein Teil des Erfolgs. Gerade in dieser Woche hat Innenminister Otto Schily wieder ein Gespräch
mit den Vertretern des Deutschen Sportbundes und der
betreffenden Fachverbände geführt. Wir sind also permanent im Dialog, um dort zielgerichtet fördern zu können, wo es tatsächlich am nötigsten ist. Ich glaube, dass
sich das auszahlt und dass wir unsere ureigenste Aufgabe sehr gewissenhaft wahrnehmen.
Weil viele Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, wohin die Gelder für den Sport fließen, will ich beispielhaft
einiges nennen. Wir fördern im Bereich des Leistungssports derzeit etwa 260 Sportstättenbauprojekte in
180 Bundesstützpunkten, fünf Bundesleistungszentren
und 20 Olympiastützpunkten. Sie sehen, welche Vielzahl
das ist. Leider wird das von denen, die nicht unmittelbar
fachlich damit befasst sind, oft gar nicht wahrgenommen.
Die Finanzmittel sind mit Sicherheit nicht alles. Sie
sind nur eine Grundlage für das, was an Leistungen erbracht wird. In dieser Debatte gilt es, noch einmal Dank
an diejenigen zu sagen, die aus diesen Mitteln dann auch
Erfolge für unser Land erarbeiten, an die Sportlerinnen
und Sportler, und nicht zuletzt natürlich an die, die sie
trainieren und die für sie die Arbeit und die Organisation
in den Verbänden übernehmen.
({2})
Dadurch gibt es nicht zuletzt auch eine Wirkung auf
den Breitensport, was wir alle uns wünschen. Sportarten müssen auch öffentlich zur Geltung kommen und
wahrgenommen werden. Jeder, der im Leistungssport
Erfolge erzielt, dient als Vorbild und gibt mit seiner
Leistung einen Anreiz für andere. Wir wollen die Leute,
insbesondere die Jugendlichen, ermutigen, sich sportlich
zu engagieren.
Einen wichtigen Impuls haben wir auch unmittelbar
in den Breitensport gegeben und das möchte ich nicht
unerwähnt lassen. Seit 1999 haben wir im Rahmen des
Goldenen Plans Ost in den neuen Bundesländern mit
rund 55 Millionen Euro Sportstätten für den Breitensport
fördern können. Auch das ist ein Ergebnis einer guten
Zusammenarbeit. Die Bundesregierung hat es geschafft,
das Konzept, das der Sport schon Jahre vorher erarbeitet
hatte, umzusetzen. Gemeinsam haben wir daraus etwas
gemacht, das unmittelbar vor Ort wirkt.
Die gesellschaftliche Wirkung des Sports ist ein weiterer Punkt, der uns am Herzen liegt. Sie ersehen aus
dem vorliegenden Sportbericht, dass die Förderung des
Sports von Menschen mit Behinderungen für uns einen
Schwerpunkt dargestellt hat. Wir halten es für wichtig, in
diesem Bereich nicht nur die sportliche Leistung zu würdigen, sondern auch anzuerkennen, dass Menschen mit
Behinderungen durch ihre sportliche Leistung anderen
enormen Mut machen. Man kann so erleben, was es bedeutet, sich auch mit Behinderungen solchen Leistungsanforderungen zu stellen. Wir sind stolz darauf, dass
unsere Sportlerinnen und Sportler auch bei den Paralympics große Medaillenerfolge haben und dass es gelungen
ist, zu erreichen, dass dieser Sport ein großes öffentliches Interesse findet. Dadurch erfahren Menschen mit
Behinderungen eine ganz andere Aufmerksamkeit in unserer Gesellschaft, als es ohne diesen Sport vorher vielleicht der Fall gewesen ist.
({3})
Ich möchte gern noch darauf aufmerksam machen,
dass derzeit die Special Olympics in Dublin laufen. Sie
werden in dieser Woche zu Ende gehen. Wir haben
167 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Ich hatte selbst
Gelegenheit, dort zu sein. Ich kann Ihnen sagen: Es gibt
kaum ein schöneres Sporterlebnis, als Leistungssport
von Menschen mit geistigen Behinderungen zu beobachten. Es ist echter Sport, der mit Freude am Wettkampf
betrieben wird, ohne kritische Konkurrenzen. Es ist die
Freude am Messen der eigenen Leistung mit der des Gegenübers. Es ist ein unglaubliches Erlebnis. Auch die
Special Olympics hätten es verdient, mehr mediale Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu bekommen.
({4})
Wir als Politiker sind aufgefordert, dazu beizutragen.
Frau Staatssekretärin, denken Sie bitte an die Verdrängungswirkung Ihrer Redezeitüberschreitung.
Ja. - Abschließend noch ein Hinweis auf das, was uns
bevorsteht; das ist nicht Gegenstand des Berichts. Wir
sind uns einig - man merkt es an der Zustimmung aus
den Reihen der Opposition -, dass die großen Ereignisse,
die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 und insbesondere
die Olympischen Spiele 2012, die wir ausrichten
wollen, unsere gemeinsame Kraftanstrengung erfordern.
Ich will es insbesondere in Bezug auf Leipzig noch einmal sagen. In der Politik haben wir da wenig Auseinandersetzungen. Innerhalb des Bundestages ziehen wir an
einem Strang. Der Sport zieht mit. Ich wünsche mir für
uns alle, dass wir Gemeinsamkeiten zwischen Sport und
Politik und vielleicht auch den Medien erreichen, gemeinsam stark auftreten und so nicht nur die Fußballweltmeisterschaft 2006 genießen können, sondern tatsächlich Olympia 2012 in Deutschland, also in Leipzig,
haben werden. Wir sind alle gefordert, die positive Stimmung, die wir in Bezug auf dieses Ereignis spüren, auch
zu übertragen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Riegert für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung muss sich bei der Sportförderung an ihren
Ankündigungen und an ihren Leistungen messen lassen.
Ich zitiere:
Auch die hierbei für den Sport zu erzielenden Verbesserungen darzustellen wird eine der Aufgaben
des … 10. Sportberichts sein.
Außerdem heißt es:
Es gilt …, Mittel zu konzentrieren, Schwerpunkte
zu setzen und auch Vorhaben zu strecken.
So Minister Schily im Vorwort des 9. Sportberichts.
Bei aller Wertschätzung Ihnen gegenüber, Frau
Staatssekretärin, hätte ich es schon für angezeigter gehalten, wenn Herr Minister Schily heute selber seinen
10. Sportbericht hier vorgestellt hätte.
({0})
Der Bericht ist in weiten Teilen ein Sachstandsbericht,
der keine Perspektiven für die Zukunft des Sports aufzeigt. Damit werden die angekündigten Verbesserungen
nicht erreicht. Sie haben nur eines Ihrer Ziele erreicht:
Sie haben Vorhaben gestreckt, geschönt und gekürzt.
Zunächst möchte ich den Athleten, ihren Trainern und
Betreuern danken, die unser Land seit Jahrzehnten durch
Spitzenleistungen bei Olympischen Spielen, bei den Paralympics, bei Welt- und Europameisterschaften hervorragend vertreten.
({1})
Topleistungen sind das Ergebnis jahrelanger, oft jahrzehntelanger harter entbehrungsreicher Arbeit. Es ist
deshalb mehr als unangemessen, die Topleistungen als
Ergebnis rot-grüner Sportförderung von 1999 bis 2001
zu vereinnahmen.
({2})
Dank auch an unsere Vereine und die Millionen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Die enge Verzahnung des Breiten- und des Spitzensports machen uns zu
einer Sportnation. Der Dank muss umso kräftiger ausfallen, als sich die Bedingungen national wie international
verschärft haben.
Meine Damen und Herren, diese Bundesregierung
pflegt eine sehr kreative Buchführung. Sie kürzt die
Sportförderung, rechnet sie aber gleichzeitig gesund.
Um rund 68 Millionen Euro haben Sie zwischen 1998
und 2001 die Mittel für den Sport gekürzt. Um das zu
beschönigen, haben Sie flugs die Sanierung der Stadien
in Berlin und Leipzig hinzugerechnet, und schon stimmt
die Rechnung.
({3})
Der letzte von der Regierung Kohl vorgelegte Haushaltsplan wies für die zentralen Maßnahmen, die sportwissenschaftlichen Einrichtungen und die Investitionen rund 114 Millionen Euro aus. Sie veranschlagten für
2002 gerade einmal 95 Millionen Euro. Bei den zentralen Maßnahmen für den Spitzensport hat sich nichts getan. Hier ist mit 71 Millionen Euro etwa der gleiche
Stand wie 1998 gehalten worden. IAT und FES erhalten
ebenfalls gleich viel Geld wie 1998, wobei sich die Personal- und Fixkosten auf 85 bis 90 Prozent belaufen. Es
ist eine zentrale Forderung unserer Fraktion, die Ansätze
für diese Einrichtungen zu erhöhen.
({4})
Sie haben die Übungsleiterpauschale angehoben;
das begrüßen wir. Das haben Sie aber getan, weil Sie zuvor bei den Vereinen und den nebenberuflich Tätigen
durch die Neuregelung der 325-Euro-Jobs kräftig abkassiert hatten.
({5})
Zur Erweiterung auf die Betreuer kann ich nur anmerken: Ich habe ehrlich gesagt vor Ort noch keinen Betreuer getroffen, der die Übungsleiterpauschale in Anspruch nehmen kann.
({6})
- Nein, der bekommt kein Geld, deswegen hat er auch
keine Chance, die Pauschale in Anspruch zu nehmen;
denn in unseren Vereinen gibt es keine Betreuer, die
Geld für ihre Aufgaben bekommen.
Sie haben eine Novellierung des Vereinsfördergesetzes mehrfach abgelehnt. Ihre Kollegen in der
Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen
Engagements“ waren da sportfreundlicher und unterstützen unsere Auffassung. Sie werden bald wieder Gelegenheit haben, hier im Hause über einen solchen Entwurf abzustimmen. Stimmen Sie dann zu! Das wäre eine
Verbesserung für den Sport.
({7})
Sie verschweigen, dass Sie seit Regierungsantritt den
Sport durch ständiges Heraufsetzen der Energiesteuern,
durch ständig neue Abgaben und durch sinnlose Ausweitungen bürokratischer Vorschriften belastet haben, ohne
einen entsprechenden Ausgleich zu gewähren. Sie haben
die Rahmenbedingungen des Sports entgegen Ihrer Ankündigung nicht verbessert.
Auch beim Goldenen Plan Ost gilt: große Ankündigungen im Wahlkampf 1998, mäßige Leistungen.
({8})
Wir haben bis 1998 ohne so genannten Goldenen Plan
Ost eine hervorragende Bilanz aufzuweisen: 1,2 Milliarden Euro für die Sportstätten in den neuen Bundesländern. Seit 1999 ist durch den Goldenen Plan Ost und das
Investitionsfördergesetz zusammengenommen weniger
Geld in die Sportstätten der neuen Länder geflossen.
({9})
Die Zahlen können Sie sich bei Ihrem Finanzminister
besorgen. Sie haben hier zu wenig getan, Herr Kollege
Danckert!
({10})
Lassen Sie mich zum Thema Doping zwei Dinge ansprechen. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer
Ablehnung eines Anti-Doping-Gesetzes. Seit fünf Jahren eiern die Sportpolitiker von Rot und Grün damit
durch die Landschaft. Der Sport will es nicht, die Bundesregierung will es nicht, die CDU/CSU will es nicht.
Also, legen Sie dem Haus endlich einen Gesetzentwurf
vor oder schweigen Sie! So einfach ist das.
({11})
Wir begrüßen, dass die Dopingopfer der ehemaligen
DDR eine Entschädigung erhalten. Ich halte fest: Ohne
die Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte es
kein Dopingopfer-Hilfegesetz gegeben. Es ist gut, dass
wir gemeinsam diese Lösung gefunden haben.
({12})
Wir erwarten, dass die Zusage des Bundesministers
für Verteidigung, die Sportförderstellen der Bundeswehr auf dem jetzigen Stand zu halten, eingehalten
wird. Wir werden den Bundesminister der Verteidigung
unterstützen, wenn er sich, wie alle seine Vorgänger, für
den Erhalt der Sportförderstellen einsetzt. Bundeswehr,
aber auch Bundesgrenzschutz und Zoll leisten einen
herausragenden und unverzichtbaren Beitrag für den
Spitzensport.
({13})
Der internationale Behindertensport hat in den letzten Jahren eine gewaltige Leistungsexplosion erlebt.
Das vom Deutschen Behindertensportverband vorgelegte Leistungskonzept weist in die richtige Richtung.
Die bloße Anhebung der Mittel zum Ausgleich der
Mehrkosten für internationale Wettkämpfe reicht allerdings nicht für die notwendigen strukturellen Verbesserungen aus.
Wir begrüßen, dass es dem Deutschen Fußball-Bund
gelungen ist, die Fußball-WM 2006 in unser Land zu
holen. Wir sind uns sicher, dass sie ein großer Erfolg und
ein Gewinn für Deutschland sein wird. Wir hoffen auch,
dass die Bewerbung Leipzigs um die Austragung der
Olympischen Sommerspiele und Paralympics 2012
von gleichem Erfolg gekrönt sein wird. Leipzig braucht
die uneingeschränkte nationale Unterstützung: Wir
kämpfen für Leipzig!
({14})
Ich halte fest: Der Etat der Spitzensportförderung
ist seit 1995 quasi gedeckelt, seit fünf Jahren wird er
ständig abgesenkt. Dies betrifft vor allem die Investitionen im Spitzensport. Andere Nationen rüsten auf, wir
bauen ab. In einigen Kernbereichen des Spitzensports
fallen wir entscheidend zurück, wenn bewährte Athleten
zurücktreten und der Nachwuchs fehlt. Die Stimmung
unter den Trainern ist auch nicht gut.
Sie hätten das hohe Niveau der Spitzensportförderung
halten und sogar ausbauen können. Statt quasi die Alleinfinanzierung für ein Stadion zu übernehmen und Einnahmen für Sondermünzen zwischen DFB und Finanzminister aufzuteilen, hätten wir uns eine kreativere
Verwendung vorstellen können: für sportwissenschaftliche Einrichtungen und für Investitionen im Spitzensport. Das Geld hätte für Jahre gereicht.
Der Ruf nach mehr Geld ist aufgrund miserabler rotgrüner Finanz-, Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik
nicht realistisch. Wir hätten das Geld, das Sie ausgegeben haben, effizienter und zielgerichteter für den Sport
ausgegeben. Der 10. Sportbericht zeigt: Diese Bundesregierung entwickelt keine Perspektive für den Sport in
Deutschland.
({15})
Ihre Ankündigungen sind Spitze; Ihre Leistungen sind
davon aber noch weit entfernt.
({16})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Riegert, Sie haben sich gleich zu Beginn Ihrer
Rede darüber beklagt, dass der Sportbericht der Bundesregierung keine Perspektiven aufzeigt. Meines Erachtens
ist es das Wesen von Berichten, dass sie bilanzierend
und rückwärts gewandt sind. Übrigens: Auch bei Ihrem
Beitrag hat die Perspektive vollständig gefehlt.
({0})
Ich habe mir für heute vorgenommen, dass ich diese
rückwärts gewandte Debatte nach dem Motto „Früher
war alles besser; wir haben viel mehr gemacht“ heute
nicht führen will.
Wir haben mit dieser Debatte vor einem Jahr im Sportausschuss angefangen. Die Koalitionsfraktionen haben
einen Antrag vorgelegt, in dem wir die wichtigsten Zukunftsaufgaben in den nächsten Jahren für die Sportpolitik umrissen haben. Darüber will ich reden.
Noch eine Bemerkung dazu, wie Sie die Förderung
des Spitzensports dargestellt haben. Wir haben es über
Jahre geschafft, den Spitzensport - sowohl im Behindertenbereich als auch im Nichtbehindertenbereich - auf
hohem Niveau zu halten,
({1})
obwohl wir Schulden auf hohem Niveau übernommen
haben und mit schwierigen Haushaltslagen zu kämpfen
hatten. Uns im Nachhinein die Altlasten in die Schuhe
zu schieben geht dann doch zu weit.
({2})
Wir haben es geschafft, das hohe Niveau zu halten.
Das hat auch der organisierte Sport immer anerkannt.
Die Verantwortlichen in diesem Bereich waren immer
einsichtig, wenn ersichtlich war, dass die Mittel knapp
waren. Auch im Sport kann man nicht so tun, als würde
das Geld aus der Steckdose kommen.
Nun zu den vordringlichen Aufgaben - Sie haben es
bereits angesprochen; ich will es ganz deutlich sagen -:
Wenn wir heute über Spitzensport reden, dann müssen
wir auch darüber reden, dass es in den nächsten Jahren
unsere gemeinsame Aufgabe sein wird, die Olympiabewerbung Leipzigs zu einer Erfolgsbewerbung zu machen.
({3})
Damit es eine Erfolgsbewerbung wird, müssen alle zusammenstehen: die aus Stuttgart und all die anderen, die
verloren haben und glaubten, sie seien besser. Sie müssen jetzt ihre Kompetenz einbringen.
Wir als Bundespolitiker müssen helfen, Infrastrukturen aufzubauen, damit die Bewerbung erfolgreich ist.
Wir werden beraten und unter Umständen als Botschafter um die Welt reisen müssen, um für diese Bewerbung
zu werben. Wir werden mit einem entsprechenden Haushalt dafür sorgen müssen, dass die wichtigen Institutionen des deutschen Spitzensports wie etwa die wissenschaftlichen Sportinstitute genügend Mittel haben, um
den Spitzensport in Deutschland dauerhaft zu entwickeln.
({4})
Sportpolitik ist heute aber mehr. Sportpolitik muss
sich heute - das will ich gerade angesichts der bevorstehenden Gesundheitsreform deutlich sagen - auch als
Gesundheitspolitik verstehen. Deswegen sind wir gerade dabei, einen gemeinsamen Antrag zu schreiben, in
dem es um Sport und Bewegung als einen wesentlichen
Beitrag zu Gesundheit und Prävention geht. Das gilt für
alle Bereiche und für alle Lebensphasen.
({5})
Sport wirkt bewegungsfördernd für Kinder und Jugendliche. Wir wissen, dass wir in diesem Bereich mehr tun
müssen, damit es mit der Bewegungsfähigkeit der Kinder nicht immer mehr abwärts geht.
({6})
Das Motto muss sein: „Mit Bewegung und Sport groß
werden.“ Die Menschen in der Stadt, alte wie junge,
brauchen ein Umfeld, in dem man sich gerne bewegt, in
dem man beispielsweise gerne Rad fährt. Wir brauchen
ein neues Leitbild von einer spiel- und bewegungsfreundlichen Stadt. „Durch Bewegung mobil sein und
mobil bleiben“ könnte hier das Motto sein.
Es ist schon angesprochen worden, dass Sport ein
wichtiger Beitrag zur Rehabilitation und zur Eingliederung ist. Körperlich Benachteiligte werden durch
Sport einigermaßen mobil gehalten. Sport hat auch diese
wichtige Funktion.
Da wir wissen, dass in den nächsten 20 bis 30 Jahren
gut ein Drittel der Menschen 60 Jahre und älter sein
wird, müssen wir alles tun, dass diese Menschen gesund
älter werden. Dass das eine Zukunftsaufgabe ist und dass
wir auf diesem Feld noch viel zu tun haben werden, ist in
der Anhörung des Sportausschusses zum Präventionssport deutlich geworden. Man könnte zusammenfassen:
Wir brauchen eine umfassende Kampagne auf der
Grundlage eines Gesetzes. Sport und Bewegung tun gut,
und zwar uns allen in jeder Lebenslage.
Sport und Bewegung stellen aber auch eine infrastrukturpolitische Aufgabe dar. Wir haben es beim
Goldenen Plan Ost gesehen und werden es auch in vielen Kommunen sehen: In den nächsten Jahren wird es
immer mehr darauf ankommen, dass es uns gelingt,
Sportstätten beim Energie- und Wasserverbrauch ökologisch nachhaltig zu sanieren und sie mit öffentlichen
Verkehrsmitteln vorbildlich anzubinden. Die deutsche
WM-Bewerbung muss in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel für das Konzept „Green Goal“ sein. Die Olympiabewerbung Leipzig wird ein gutes Beispiel für „Green
Games“ sein müssen, wenn sie erfolgreich sein will.
({7})
Eine letzte und schwierige Aufgabe moderner Sportpolitik ist zweifellos der Kampf gegen das Doping. Hier
sind wir auf internationaler Ebene im Vergleich zu früher
erheblich weitergekommen. Es gibt den internationalen
Anti-Doping-Code. Otto Schily hat sich dankbarerweise
sehr dahinter geklemmt; auch bei der Unterzeichnung
war er sogar dabei. Insofern sollten wir nicht den Eindruck entstehen lassen, als sei dem Innenministerium der
Kampf gegen das Doping gleichgültig.
Wir streiten über Folgendes - das wurde süffisant angesprochen -: In welcher gesetzlichen Form, in welcher
politischen Form kann der Kampf gegen das Doping unterstützt werden? Die Koalitionsfraktionen sind seit langem der Meinung, dass angesichts der Entwicklung
beim Doping und angesichts der Tatsache, dass der Sport
auch ein Geschäft ist und es beim Doping auch um Betrug geht - und nicht nur darum, ob ein Trainer einem etwas gegeben hat oder nicht; Doping ist nicht nur ein
Wettbewerbsbetrug am Sportler, sondern in vielen Fällen
auch ein Betrug am Geschäftskonkurrenten -,
({8})
neue gesetzliche Regelungen erforderlich sind. Die alte
pharmakologische Regelung im Arzneimittelgesetz, die
wir bisher hatten, ist nicht ausreichend. Wir werden mit
dem Innenministerium daran arbeiten, hierfür eine neue
gesetzliche Basis festzulegen. Seien Sie sicher: Wir werden am Ball bleiben. Dagmar Freitag und ich haben uns
dieser Sache verschrieben; wir werden weiter dafür
kämpfen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Moderne Sportpolitik muss sich als Querschnittspolitik
verstehen. Wenn sie das nicht tut, ist sie rückwärts gewandt. Es kann nicht nur um Zahlenakrobatik gehen,
Herr Kollege Riegert. Wir müssen uns vielmehr in mindestens fünf Disziplinen einmischen:
Erstens. Wir müssen uns als Gesundheitspolitiker verstehen.
Zweitens. Wir müssen uns als Kämpfer für einen sauberen Hochleistungs- und Spitzensport verstehen.
Drittens. Wir müssen uns für spiel- und bewegungsfreundliche Stadt- und Lebensräume einsetzen.
Viertens. Wir müssen eine sozialpolitische Dimension
des Sports entwickeln, sie immer wieder betonen und
verdeutlichen, dass Sport in diesem Sinne außerordentlich nachhaltig ist, einen wesentlichen Beitrag zu einer
nachhaltigen Entwicklung darstellt.
Fünftens. Sport ist schon immer international ausgerichtet gewesen. Er hat die Kraft, zu einer großen Friedensbewegung zu werden.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen die heutige Sportdebatte vor dem Hintergrund erheblicher Haushaltsprobleme der öffentlichen Hand. Einsparungen und Umschichtungen gehören mittlerweile in
Bund, Ländern und Gemeinden zum politischen Alltag.
Wir müssen uns fragen: Welche Rolle spielt der Sport eigentlich bei diesen „Streichkonzerten“? Ich komme zu
dem Ergebnis, dass die Devise nur lauten kann: Nicht
am Sport, sondern durch Sport sparen!
({0})
Da hat der Sport erhebliche Vorleistungen erbracht.
Unsere Bemühungen müssen sich jetzt darauf konzentrieren, dieses freiwillige Engagement nicht auszunutzen, es nicht überzustrapazieren. Da hilft ein Blick in
den Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ weiter. Dort
heißt es: „Gesetze dürfen Engagement nicht behindern.“
Es wird auf die Gefahr der Standardisierung und Überregulierung hingewiesen. Davon können alle Ehrenamtlichen ein Liedchen singen.
Deshalb müssen wir für Verwaltungs- und Verfahrensvereinfachungen sorgen, wenn wir Gesetze weiterentwickeln. Wir müssen unseren Vereinen mehr Flexibilität im
Rahmen der vier Tätigkeitsbereiche Vermögensverwaltung,
Zweckbetrieb, wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb und im
ideellen Bereich zum Beispiel durch Freistellungsregelungen ermöglichen - ganz im Sinne des 10. Sportberichts, in dem Sie, Frau Staatssekretärin, formuliert haben: Die Autonomie des Sport „gewährt den in Vereinen
und Verbänden organisierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern einen weiten grundrechtlich abgesicherten Freiheitsraum“. Dazu zählt die Kommission das steuerliche
Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, das Zuwendungsrecht und das Haftungsrecht. Hier sind wir in der
Pflicht. Wir müssen auch für eine neue Anerkennungskultur, neue Formen der Würdigung und Auszeichnung
ehrenamtlichen Einsatzes sorgen.
Winfried Hermann hat zu Recht auf den Zusammenhang von Sport und Gesundheit hingewiesen. Sie gehören eng zusammen, mit den guten, aber auch den
schlechten Seiten. Doping bleibt eine Geißel des Sports,
bleibt unlauterer Wettbewerb und Raubbau an der eigenen Gesundheit. Deswegen begrüßen wir die Gründung
der Nationalen Anti-Doping-Agentur und die Existenz
der Welt-Anti-Doping-Agentur als wichtige Säulen bei
der Bekämpfung verbotener medikamentöser Leistungssteigerung. Wollen wir aber weltweit erfolgreich sein
und unsere deutschen Athletinnen und Athleten schützen, dann müssen wir für eine auskömmliche Finanzierung der Welt-Anti-Doping-Agentur auch durch die EU
sorgen.
({1})
Die positive Seite sind die Kompetenzen, die der Sport
in der Prävention und Rehabilitation aufgebaut hat. Vor
allem über Prävention haben SPD und Grüne lange genug
geredet; jetzt sind Handlungs- und Finanzierungskonzepte
gefragt, wie sie im FDP-Antrag vom 19. Februar dieses
Jahres - vom 19. Februar! - zum Ausdruck kommen.
Endlich kommen wir zu einem Ergebnis.
({2})
Der Sport darf bei den anstehenden Gesundheitsreformgesprächen nicht vernachlässigt werden. Gesundheitsförderung durch Sport und Bewegung hat einen
volkswirtschaftlichen Nutzen, der für eine nachhaltige
Gesundheitsreform von hoher Bedeutung ist. Sie ist ein
wichtiges Wettbewerbselement der Krankenkassen und
sollte deshalb nicht über einen Staatsfonds finanziert
werden.
Ein Präventionsgesetz als Leistungsgesetz ohne solides Finanzierungskonzept weckt falsche Hoffnungen.
Dagegen kann eine Bündelung und Konzentration der
verstreuten gesetzlichen Vorschriften und Verordnungen
nach kritischer Prüfung ihrer Notwendigkeit und Plausibilität möglicherweise auch in Gesetzesform hilfreich
sein.
Zum Leistungssport. Er ist nicht nur ein respektables
Aushängeschild für Deutschland, sondern schafft durch
seine öffentliche Wirkung erst die Grundlage für den
Breitensport. Frau Staatssekretärin, Sie haben zu Recht
darauf hingewiesen. Sportliche Leistung muss deswegen
von Kindesbeinen an als Wert vermittelt werden. Das
Gute an dem Olympiabewerbungsverfahren war die geforderte Voraussetzung, dem Schulsport mehr Aufmerksamkeit zu schenken und Sport und Bewegung in der
Schule auch vom Zeitrahmen her zu stärken, etwa durch
die dritte Sportstunde und mehr Bewegungszeiten.
({3})
Wir müssen uns alle dafür einsetzen, dass dieser Impuls
langfristige Wirkung hat und nicht nur ein Lippenbekenntnis ist.
Die Eliteschulen des Sports müssen ausgebaut, aber
gleichzeitig auch auf ihre Effizienz hin untersucht werden. Wer nicht ohne Wenn und Aber leistungsbereit ist,
gehört eben nicht in eine solche Schule. Die Strategie
der Leistungsförderung muss auf eine konsequente Eliteförderung ausgerichtet sein, weg vom Gießkannenprinzip hin zu einer konzentrierten, engeren Leistungsspitze.
Die Athletinnen und Athleten für Olympia 2012 sind
heute Teenager. Sie verdienen alle Unterstützung, aber
auch das rechtzeitige Aufzeigen von Grenzen. Nur so
können unsere zurzeit leider nicht mehr wachsenden
Mittel Erfolg versprechend eingesetzt werden. Klaus
Riegert, wir werden das vielleicht in der nächsten Legislaturperiode wieder ändern können.
({4})
Ich komme zum Abschluss. Die FDP teilt in einigen
Bereichen - die Anträge liegen ja vor - die Kritik der
Union am 10. Sportbericht der Bundesregierung. Sie erkennt aber auch viele Entscheidungen als richtig an. Wer
jedoch in Zeiten, in denen alle Fraktionen zur Finanzierbarkeit des zukünftigen Gesundheitssystems jede Möglichkeit der Begrenzung und Herausnahme von Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausloten,
mit dem Präventionsgesetz ein zusätzliches Leistungsgesetz ohne Finanzierungskonzept aufsatteln will, kann
nicht mit der Unterstützung der Liberalen rechnen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({5})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Axel
Schäfer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Politik dieser Bundesregierung ist durch Weltoffenheit und
Toleranz geprägt. Beides gehört auch zu den wesentlichen Merkmalen des Sports. Für den Standort Deutschland ist es wichtig, dass sich auch unser Sportpublikum
durch Weltoffenheit und Toleranz auszeichnet,
({0})
insbesondere bei internationalen Großereignissen.
Ich habe eine der herausragenden kontinentalen Veranstaltungen von 2002, die Leichtathletik-Europameisterschaften in München, vor Ort live miterlebt und war
angetan von den fairen, sachkundigen und zugleich begeisterten Zuschauern. Und - das sage ich bewusst, weil
ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Deutschen Bundestag saß - ich war angetan von der Präsenz und der
Präsentation von Verantwortlichen der Politik. Das war
gut für die Bindungen und Verbindungen zum Sport, das
war gut für das Ansehen unseres Landes in Europa.
Wissen Sie, wer auch beim Sport eine gute Figur
macht? - Gerhard Schröder. Das zeigt er durch persönliche Unterstützung vieler internationaler Bewerbungen
zum Beispiel der für die Fußball-WM oder durch die
Anwesenheit bei bedeutenden Sportevents.
({1})
Gerne erwähne ich auch ein Lob, welches der als besonders kritisch bekannte Sportjournalist Thomas Kistner gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ dem Bundesinnenminister gespendet hat. Er hat geschrieben:
Otto Schily, der wohl stärkste Sportminister, den
das Land je hatte.
Dem können wir uns anschließen.
({2})
Die völkerverbindende und friedenstiftende Kraft
des Sports gehört unbestritten zu den wichtigsten Elementen seiner Bedeutung und seiner Attraktivität. Dennoch war der Sport auf europäischer Ebene bisher nicht
rechtlich abgesichert und konnte nur durch exemplarische Projekte gefördert werden. Der Sport ist die größte
Axel Schäfer ({3})
Personenvereinigung in der EU und ein relevanter Wirtschaftsfaktor. Ihm kommt für die europäische Integration und damit auch für die Zivilgesellschaft eine zentrale Aufgabe zu. Die Aktivitäten sowohl der deutschen
Mitglieder im EU-Konvent als auch der Bundesregierung haben entscheidend dazu beigetragen, dem Sport in
der künftigen europäischen Verfassung seinen Platz zu
geben.
Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen, teilen Sie
meine ganz persönliche Freude; denn 2004 ratifizieren
wir im Deutschen Bundestag die Verankerung des Sports
im europäischen Vertragswerk. Damit werden wir genau
das tun, was ich im Europäischen Parlament als sozialdemokratischer Sportbeauftragter von 1994 bis 1999 zusammen mit anderen auf den Weg bringen konnte. Heute
ist klar: Die Aufnahme des Sports in der Verfassung für
Europa und damit seine Aufwertung ist richtig und wird
von den Sportverbänden unseres Landes einhellig begrüßt.
({4})
Über diesen gemeinsamen Erfolg im Zusammenwirken
der politischen Vertreter und der Repräsentanten des
Sports, der Akteure auf europäischer und auf nationaler
Ebene sollten wir uns miteinander freuen.
Zum Sport gehört untrennbar die Gesundheit. Die
wirksame Dopingbekämpfung durch gemeinsames
Vorgehen auf EU-Ebene ist besonders hervorzuheben.
Unsere Bundesregierung hat national wie international
bekanntlich deutliche Akzente gesetzt. Auch an der Erarbeitung des Welt-Anti-Doping-Codes, den die WADA
vorgelegt hat, war Deutschland maßgeblich beteiligt.
Dieser Code wird das Fundament im Kampf gegen verbotene Mittel und Methoden im Sport sein. Ein historischer Erfolg war die Deklaration auf der zweiten AntiDoping-Weltkonferenz von Kopenhagen im Frühjahr
dieses Jahres, wo Deutschland zu den Erstunterzeichnern zählte. Dem Ziel von Fairplay und Chancengleichheit bei allen internationalen Sportwettbewerben ist man
damit einen großen Schritt näher gekommen.
Ehrgeizige Projekte verfolgt unsere Bundesregierung
auch beim Sportstättenbau. Das Sonderförderprogramm
Goldener Plan Ost ist eines unserer wichtigsten sportpolitischen Vorhaben. Das wissen die Bürgerinnen und
Bürger gerade in den neuen Bundesländern.
({5})
Die Koalitionsvereinbarung von 2002 sieht ausdrücklich
die Verlängerung dieses Programms vor. Eine Angleichung der Verhältnisse in den neuen Ländern an das
Westniveau ist gerade im Hinblick auf die sportlichen
Rahmenbedingungen unerlässlich. Der Bund beteiligt
sich an der Errichtung von Sportstätten für den Breitensport sowie an der Modernisierung der Stadien in Berlin
und Leipzig.
Ich komme zum Schluss. Deutschland wird 2006
Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft sein. Wir
hoffen natürlich alle, dass unsere Elf den Titel gewinnt,
obwohl wir das hier nicht beschließen können. 2012
wollen wir Gastgeber der Olympischen Spiele werden.
Ich sage als Abgeordneter, der im Ruhrgebiet lebt, hier
ganz klar: Leipzig ist die deutsche Bewerberstadt für die
Olympischen Spiele, Deutschland bewirbt sich mit Leipzig um das wichtigste globale Sportereignis.
({6})
Als gebürtiger Frankfurter zitiere ich auch gerne Johann
Wolfgang von Goethe: „Mein Leipzig lob ich mir!“ Der
10. Sportbericht der Bundesregierung ist ein gutes Fundament.
Vielen Dank.
({7})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Eberhard
Gienger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Riegert hat die Defizite in Ihrer Sportpolitik überzeugend dargelegt. Ich werde mich auf einige mir wesentlich erscheinende Punkte konzentrieren.
Sie als Sportpolitiker werden sich in den Haushaltsberatungen zu entscheiden haben, ob Sie dem Sport oder
der Finanzpolitik den Vorrang einräumen wollen, ob Sie
den größten Teil der Einnahmen aus dem Münzverkauf
anlässlich einer sportlichen Großveranstaltung dem
Sport zukommen lassen wollen oder dem Finanzminister
das Säckel füllen wollen.
Der Bundesminister der Finanzen gibt nämlich anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 Silbersondermünzen im Wert von 10 Euro heraus, und zwar
in einer Auflage von 17,95 Millionen Stück. Dies bedeutet einen Umsatz von rund 180 Millionen Euro.
30 Millionen Euro sollen dem Organisationskomitee der
Fußball-Weltmeisterschaft zufließen. Auch abzüglich
der Material-, Herstellungs- und Vertriebskosten sowie
der 30 Millionen Euro für das Organisationskomitee
wäre das eine beträchtliche Einnahme für den Finanzminister. Er nutzt also die Popularität des Sports. Er will
mehr Einnahmen für sich behalten als dem Sport zuführen. Dies ist nicht in Ordnung. Schließlich ist der Käufer
der Meinung, dass er durch den Kauf dieser Münzen den
Sport unterstützt. Dies wäre auch angemessen, zumal,
wie wir vorhin gehört haben, die rot-grüne Regierung
die Sportförderung drastisch gekürzt hat.
({0})
Wir sind der Überzeugung, dass mindestens die
Hälfte des Nettoertrages aus dem Verkauf der Sondermünzen oder besser sogar alles dem Sport zugeführt
werden sollte. Dies dürften, realistisch betrachtet, bei einem Umsatz von 180 Millionen Euro rund 70 Millionen
Euro sein. Abzüglich der 30 Millionen Euro für das Organisationskomitee wären dies 40 Millionen Euro, von
denen wenigstens die Hälfte in den nächsten vier Jahren
dem Sport zugute kommen sollte.
({1})
Die genauen Zahlen hat uns das Bundesministerium der
Finanzen noch nicht geliefert. Aber es wäre zumindest
ein Ansatz, auf den wir uns verständigen könnten.
Was könnten wir mit dem Geld alles machen?
Erstens. Das Stiftungskapital der Anti-Doping-Agentur könnte erhöht werden. Demzufolge müssten nicht
mehr so hohe Zuschüsse vonseiten des Bundes geleistet
werden.
Zweitens. Das Leistungssportkonzept im Behindertensport könnte umgesetzt werden.
Drittens. Die sportwissenschaftlichen Einrichtungen
könnten gestärkt werden.
Viertens. Der Nachwuchs könnte konsequenter gefördert werden.
Fünftens. Die Dopingkontrollen könnten verdichtet
werden.
Ich hoffe hier auf Gesprächsbereitschaft der Koalition.
Meine Damen und Herren, unser Land verfügt über
sportwissenschaftliche Institute von hohem Rang: das
Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Bonn, das Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig
und schließlich das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin. Diesen Instituten
kommt eine immer höhere Bedeutung im Spitzensport
zu. Grundlagenforschung, direkte Auswertungen neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse am Athleten, im
Wettkampf und im Training sowie bestes Material - das
sind unerlässliche Voraussetzungen für eine internationale Spitzenleistung.
Heute entscheiden Bruchteile von Sekunden, Zentimeter, gar Millimeter über Sieg und Niederlage. Ohne
neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und deren Umsetzung in die Praxis haben unsere Athleten einen ganz
entscheidenden Wettbewerbsnachteil in Kauf zu nehmen. Wir müssen diese Institute stärken. Wir müssen sie
auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand arbeiten lassen. Sie können dies, sie wollen dies - es fehlt allein an
den Mitteln. Ich weiß mich Gott sei Dank im Einklang
mit Winni Hermann, dass wir das im Laufe der nächsten
Wochen und Monate erreichen wollen.
({2})
Die Direktoren aller Institute haben im Sportausschuss überzeugend dargestellt, dass sie schon heute den
Anforderungen der Sportverbände nicht mehr nachkommen können. Die engen finanziellen Spielräume lassen
dies nicht zu. Klaus Riegert hat es gesagt: Andere Sportnationen rüsten auf, wir rüsten ab: personelle Ausdünnung; kaum Möglichkeiten, neue, junge Wissenschaftler
einzustellen. Forschung muss hintangestellt werden. Nahezu 90 Prozent der Zuwendungen werden für Personalkosten benötigt, obwohl ein personeller Abschmelzungsprozess erfolgt. Während früher unsere Institute
Vorzeigeeinrichtungen waren und Nachahmer in aller
Welt fanden, müssen sie heute auf Sparflamme kochen.
Ein paar Worte zum Goldenen Plan Ost: Jeder Euro,
der in den Sport investiert wird, ist ein guter Euro. So
unterstützen wir auch den Goldenen Plan Ost. Wir haben
die Beibehaltung der Mittel für 2003 beantragt, aber Sie
haben eine Kürzung gewollt. Nun messen wir Sie an Ihren Leistungen und Versprechungen.
1998 haben Sie nämlich eine Unterstützung in Höhe
von 50 Millionen Euro pro Jahr angekündigt. Fünf Jahre
haben Sie allerdings gebraucht, diese 50 Millionen Euro
aufzubringen. Es gab nur 10 Millionen Euro statt
50 Millionen Euro pro Jahr. Einschließlich der Komplementärmittel der Länder und Kommunen kommen Sie in
fünf Jahren auf ganze 200 Millionen Euro. Das ist gemessen an Ihrem Wahlkampfversprechen, wonach es in
fünf Jahren 250 Millionen Euro, zusammen mit den
Komplementärmitteln sogar 750 Millionen Euro sein
sollten, eine eher dürftige Bilanz.
({3})
Wichtiger aber ist: Trotz des Goldenen Plans Ost sind
in den Sportstättenbau der neuen Länder weniger Mittel
als vor 1998 geflossen. Investitionen in Sportstätten in
den neuen Ländern werden überwiegend durch das Investitionsförderungsgesetz getätigt. Wir haben von 1995
bis 1998 immerhin 1,2 Milliarden Euro ohne den so genannten Goldenen Plan Ost aufgebracht; das ist eine
wirklich hervorragende Bilanz.
({4})
Unsere Kritik richtet sich nicht gegen den so genannten Goldenen Plan Ost, sondern gegen die nachlassenden
Investitionen in den Sportstättenbau der neuen Länder.
Die Bundesregierung hätte sich dafür einsetzen müssen,
dass mehr Mittel aus dem Investitionsförderungsgesetz
in den Sportstättenbau fließen. Spätestens seit dem
Sportbericht wissen wir, dass 70 Prozent der Sportstätten
in den neuen Ländern sanierungs- oder renovierungsbedürftig sind. Wenn Sie also die Mittel für den Goldenen
Plan Ost kürzen oder ganz streichen müssen, wäre es zumindest angezeigt, die Mittel aus dem Investitionsförderungsgesetz stärker zu nutzen. Das haben Sie zu wenig
getan.
({5})
Noch ein paar Worte zum Doping: Die Gründung der
Anti-Doping-Agentur ist ein Schritt in die richtige
Richtung. So hoffen wir, dass das Bewusstsein im
Kampf gegen Doping durch Präventionen gestärkt, das
Kontrollsystem weiter ausgebaut und für eine einheitliche Sanktionierung bei Vergehen gesorgt wird. Wir hätten uns ein stärkeres finanzielles Engagement der Wirtschaft gewünscht und haben dies auch erwartet; denn
Unternehmen, die mit zig Millionen Euro Sportarten
sponsern, sollten auch einen nennenswerten Betrag zur
Bekämpfung des Dopings aufbringen können.
Das von Minister Schily im Vorfeld anvisierte Stiftungskapital in Höhe von 30 Millionen Euro wurde weit
verfehlt. Mit den Erträgen allein - es handelt sich um
7 Millionen Euro - wird die Anti-Doping-Agentur den
hohen Erwartungen nicht gerecht werden können. Die
Bundesregierung muss klarstellen, wie sie eine solide Finanzierung in der Zukunft absichern will. Sorgen Sie dafür, dass zumindest ein Teil der Erlöse aus dem Münzverkauf als einmaliges Stiftungskapital der Anti-DopingAgentur zugeführt wird.
({6})
Kein Dopingkontrollsystem ist perfekt und wird es
niemals sein können. Wir haben ein dichtes und effektives System, das jedem Vergleich standhalten kann. Länder mit einem Dopinggesetz kontrollieren kaum, sie verlassen sich auf das Gesetz. Sie haben wegen der
geringen Kontrollen mehr Dopingfälle. Dies zeigt: Nur
viele und unangemeldete Kontrollen haben eine abschreckende Wirkung. Daraus folgt: Wir brauchen kein Gesetz, aber durchaus eine Prüfung bestehender Regelungen, wenn sich Bedarf zeigt.
Wir wollen mehr Kontrollen, vor allem im C- und DKader und im Nachwuchsbereich. Wir wollen die leistungsfähigen Kontrolllabore in Kreischa und Köln ausbauen und die Autonomie des Sports bei der Bekämpfung des Dopings erhalten.
Der Dopingbekämpfung reden viele das große Wort,
aber wenn es darum geht, die Mittel bereitzustellen, werden die Töne leiser. Nicht nur die Nationale Anti-Doping-Agentur leidet unter Geldmangel, auch die WADA,
die Welt-Anti-Doping-Agentur, steht vor einem finanziellen Desaster, wenn man den Zeitungsmeldungen vom
2. Juni 2003 glauben darf.
Viele Regierungen und nationale Sportverbände haben den Anti-Doping-Code beschlossen, aber sie stellen
zumindest bisher nicht die notwendigen Mittel zur Verfügung.
Die Bundesregierung hat hier einen guten Schritt in
die richtige Richtung getan und Gelder zur Verfügung
gestellt. Nach einem Zeitungsbericht hat sie bis heute allerdings nur 25 Prozent dieses Beitrags gezahlt. Sollte
dies zutreffen, so sollte der ausstehende Betrag umgehend geleistet werden; denn in der Dopingbekämpfung
ist nur der glaubwürdig, der auch die entsprechenden
Mittel bereitstellt.
({7})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
In der Sportpolitik sind wir uns in den Zielen weitgehend einig: Wir wollen den autonomen Sport in der
Spitze und in der Breite und wir wollen den Sport dort
subsidiär unterstützen, wo er unserer Hilfe bedarf.
({8})
Herr Kollege Gienger, ich gratuliere Ihnen herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Im Unterschied zu Sportverbänden und dem Internationalen Olympischen Komitee haben wir hier oben keine
Medaillen zu verteilen. Vielleicht darf ich mir aber den
Hinweis erlauben, dass es schön wäre, wenn manch aktiver Sportler am Fernsehen mitverfolgt hätte, dass Sie
hier am Rednerpult einen ähnlich überzeugenden Eindruck machen wie früher am Reck. Vielleicht verleitet
das den einen oder anderen zur Nachahmung, sodass
auch sie sich nach der aktiven Zeit als Sportler um die
Sportpolitik kümmern.
({1})
Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Ute
Kumpf, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Riegert, jetzt wundert es mich
nicht mehr, dass wir bei der Olympiabewerbung mit
Stuttgart so schlecht abgeschnitten haben. Wenn es nämlich eine Weltmeisterschaft im Bruddeln, im Meckern,
geben würde, dann wären Sie wahrscheinlich Weltmeister.
({0})
Ich denke aber, dies hilft uns bei der konkreten Lösung
und auch im Sport nicht weiter und kommt dem Sport
nicht entgegen.
Sport fasziniert und bewegt Jung und Alt. Im Sport
kann verdient werden - manchmal nicht zu wenig, wenn
man sich die Götter im Trikot auf dem Rasen, auf der
Tartanbahn, auf dem Tennisplatz und im Ring anschaut -,
er ist ein Wirtschaftsfaktor und in ihm steckt ein gehöriges Beschäftigungspotenzial.
({1})
Im Sport ist Fairplay wichtig, mit ihm können soziale
Schranken überwunden werden. Sport und Bewegung
halten fit und gesund, wenn man es in Maßen macht.
Zurzeit läuft die Aktion „Ene mene meck - der Speck ist
weg“. Dies sollten sich nicht nur die Kinder zu Herzen
nehmen, sondern ich denke, auch wir Älteren täten gut
daran, uns das auf die Fahnen zu schreiben.
({2})
- Darüber können wir nachher im Nachgang streiten.
({3})
Wie alles im Leben, so hat natürlich auch der Sport
seine Licht- und Schattenseiten. Bei allem, was vorhin
diskutiert wurde - es ging darum, was europäisch und international zu tun ist -, war für mich in der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“
besonders das ungeheure ehrenamtliche Potenzial in
den Sportvereinen und Verbänden faszinierend.
Es gibt rund 27 Millionen Mitgliedschaften in
87 000 Turn- und Sportvereinen und 91 Mitgliedsorganisationen auf Bundes- und Länderebene. In diesen Vereinen werden insgesamt 240 Millionen Übungsstunden
von circa 2,7 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern überwiegend ehrenamtlich abgehalten. Der Sportbund spricht von 2 bis 2,5 Millionen Menschen, die sich
in den Vorständen ehrenamtlich engagieren. Erhebungen
der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ haben ergeben, dass diese Zahl noch
größer ist und dass sich insgesamt 6,6 Millionen Menschen in irgendeiner Form in den Vereinen ehrenamtlich
betätigen. Diese Millionen Bürgerinnen und Bürger sind
für mich die eigentlichen Sponsoren des Sports.
({4})
Ich denke, wir alle sind uns einig - das waren wir uns
auch in der Enquete-Kommission -: Wenn wir diese
Sponsoren nicht hätten, dann würde unsere Gesellschaft
tatsächlich ärmer aussehen. Aufgrund dieser freiwilligen
Arbeit und dieser Kultur der wechselseitigen Achtung
und Zugehörigkeit werden Gemeinsinn und Werte entwickelt, die eben nicht an der Börse gehandelt werden
und die den Zusammenhalt unserer Zivilgesellschaft bestimmen.
Unsere Anerkennung und unser Dank gelten diesen
Sponsoren. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Riegert - das
ist das Tragische an der CDU/CSU -, haben wir diese
Anerkennung und diesen Dank tatsächlich auch in konkrete Schritte umgesetzt. Es verwundert mich immer
wieder, dass Sie sich zwar damit rühmen, etwas für das
Ehrenamt zu tun, seltsamerweise es aber immer sozialdemokratische Bundeskanzler waren, die sich für den
Sport stark gemacht haben.
({5})
Willy Brandt hat damals in den 70er-Jahren die
Übungsleiterpauschale von 100 DM eingeführt. Helmut
Schmidt hat diese Summe auf 200 DM erhöht. Danach
hat es 20 Jahre lang gedauert, bis unter Gerhard Schröder
die Übungsleiterpauschale auf 300 DM erhöht wurde. Es
war richtig, dass wir diesen Weg gegangen sind und über
die Übungsleiter hinaus auch den Kreis der Betreuer in
die Pauschale einbezogen haben.
Ich glaube, Sie waren in Ihrer Rede nicht ganz redlich, Herr Riegert, als Sie meinten, in Ihren Vereinen
fließe kein Geld; ich habe andere Erfahrungen gemacht.
Wir haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass
die Vereine auf eine bessere Grundlage gestellt wurden:
Bürokratie konnte abgebaut werden, das Durchlaufspendenverfahren wurde abgeschafft, die Möglichkeit eröffnet, Rücklagen zu bilden. Mit diesen Schritten sind wir
der Sport-Community entgegengekommen, die einen
großen Teil des sozialen Kapitals in unserer Gesellschaft
darstellt. Wir werden diesen Schatz an sozialem Kapital
in den Sportvereinen und -verbänden hüten und weiter
pfleglich behandeln. Wir werden in dieser Legislaturperiode die Empfehlungen der Enquete-Kommission, die
für den Sport gelten, im Dialog mit den Verbänden und
Vereinen gemeinsam umsetzen.
Ich freue mich, dass der Deutsche Sportbund das
Thema Ehrenamt auf seiner Hauptausschusssitzung im
Dezember behandeln wird und dass der Deutsche Fußball-Bund die Aktion „Vitamin Ehrenamt“ auf den Weg
gebracht hat. Dies zeigt, dass nicht nur die Politik gefordert ist, mit Gesetzen tätig zu werden, sondern dass sich
die Positionen, die wir in der Enquete-Kommission erarbeitet haben, auch die Vereine und Organisationen zu Eigen machen müssen, damit wir diesen Weg im Gleichklang weitergehen können. Ich wünsche mir, dass Sie,
Herr Riegert, und die anderen Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU nicht bruddeln, sondern dass Sie mit
uns gemeinsam an einem Strang ziehen.
({6})
Nur auf diese Art und Weise können wir dem Ehrenamt
und dem bürgerschaftlichen Engagement Rechnung tragen.
({7})
Der Kollege Riegert hat um das Wort für eine Kurzintervention gebeten.
Liebe Frau Kollegin Kumpf, es mag schon sein, dass
ich Kritik nicht so charmant wie Sie herüberbringen
kann und dass es dann, wie man im Schwäbischen sagt,
bruddelig wirkt. Aber ich will festhalten, dass Ihre Landesvorsitzende, Frau Staatssekretärin Vogt, und ich gemeinsam dafür gekämpft haben, Stuttgart ins Rennen um
die Austragungsstadt für Olympia zu schicken. Jetzt erkennen wir fairerweise an, dass Leipzig gewonnen hat,
und unterstützen diese Bewerbung.
Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es bei der
steuerlichen Behandlung von Sportgroßveranstaltungen
konkreten Handlungsbedarf gibt. Zum Beispiel geht es
darum, für die Weltreiterspiele 2006 in Aachen - für
Reiter das Ereignis überhaupt - ähnliche Beschlüsse zu
fassen, wie wir das für die Fußball-Weltmeisterschaft gemacht haben. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern
ein Verfahren entwickeln, damit unsere Sportverbände
Veranstaltungen nach Deutschland holen können. Dadurch würde auch die Bewerbung Leipzigs unterstützt.
Wenn wir das gemeinsam tun, dann werde ich Sie loben. Wenn Sie das nicht mitmachen, dann werde ich mir
die Freiheit nehmen, das zu kritisieren.
({0})
Zur Erwiderung, bitte schön, Frau Kumpf.
Lieber Kollege Riegert, dass Stuttgart nicht zur Bewerberstadt Deutschlands für die Olympiade gewählt
wurde, schmerzt mich bis heute besonders. Ich hatte
nämlich schon die 300 Stimmen aus Peking - die genaue
Zahl weiß ich nicht mehr - sicher; das wurde mir seinerzeit beim deutsch-chinesischen Menschenrechtsdialog
zugesichert. Deswegen finde ich das schade.
Aber was ich bei meiner Eingangsbemerkung zum
Ausdruck bringen wollte, war: Wenn Sie aus der Opposition im Bereich des Sports nur Wert darauf legen, dass
Sie bruddeln können, und nicht den Fairplay und die positiven Elemente würdigen, dann haben wir schlichtweg
schlechte Karten, das gemeinsam auf den Weg zu bringen. Das beziehe ich jetzt auch auf Stuttgart. Stuttgart
war einfach schlecht aufgestellt. Als Mitglied des Kuratoriums hätte ich mir manchmal mehr Luftigkeit und
Leichtigkeit der politischen Spitze gewünscht. Wir haben es eben nicht geschafft.
Ich bin aber ganz zuversichtlich: Wir haben eine
Staatssekretärin, die sich in diesen Bereich inzwischen
hervorragend eingearbeitet hat und die großen Respekt
bei den Verbänden genießt; das konnte ich bei meinen
letzten Gesprächen mit Herrn von Richthofen schriftlich
bekommen. Ich bin mir sicher, dass wir gemeinsam den
Weg, die Olympiade in Leipzig auszurichten, ebnen können, wenn wir uns alle fröhlich, mit Fairplay, mit Mut
und Engagement dahinter stellen. Dazu sind auch Sie
eingeladen. Dann können wir im internationalen Geschäft - die Bruddelei beiseite gelassen - tatsächlich
vorne mitspielen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zum 10. Sportbericht
der Bundesregierung auf Drucksache 15/952. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Sportberichts der
Bundesregierung auf Drucksache 14/9517 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/812 ({0})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1070 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({2})
- Drucksache 15/1199 Berichterstattung:
Gerald Weiß ({3})
Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
Zeit von 30 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Peter Dreßen für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorgesehenen Änderungen im Siebten Sozialgesetzbuch, die
wir heute beschließen, sind nicht nur dringend notwendig, sondern sie werden sich auch auf alle Beteiligten
positiv auswirken. Wie kann es zu einer solchen Winwin-Situation kommen?
Das Siebte Sozialgesetzbuch, die deutsche Unfallversicherung, funktioniert nach dem Prinzip einer Haftpflichtversicherung. Der Arbeitgeber schließt zugunsten
seiner Arbeitnehmer eine solche Haftpflichtversicherung
ab. Damit sind diese im Falle von Arbeitsunfällen und
Berufskrankheiten sozial abgesichert. Dieses Prinzip der
deutschen Unfallversicherung ist ein großer Erfolg. Die
Zahl der betrieblichen Unfälle ist stetig zurückgegangen.
Geringe Fehlzeiten und niedrige Versicherungsbeiträge
haben die Kosten gesenkt.
Doch, was lange währt, wird halt nicht immer gut.
Tiefgreifende Veränderungen in unserem Wirtschaftsleben machen sich auch im System der sozialen Sicherung
bemerkbar. Das gilt auch für die Unfallversicherung. Der
Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, die Einführung neuer Technologien, die Abwanderung von Märkten - all das wirkt sich auf unser System der sozialen Sicherung aus.
Für das branchengegliederte System der Unfallversicherung führt dieser Wandel zu Verschiebungen, die sich
in den einzelnen Gewerbezweigen besonders nachteilig
auswirken. Besonders betroffen ist der gewerbliche Bereich. Mit Sorge beobachten wir eine negative Entwicklung in der Baubranche. Diese hat zurzeit einen starken Beitragsanstieg zu verkraften. Altlasten aus früheren
Zeiten und die lahmende Konjunktur belasten ein Gewerbe mit rückgängigen Beschäftigtenzahlen.
Die Ausgaben laufen unvermindert weiter, gleichzeitig droht aber die Einnahmeseite wegzubrechen. Diesem
Handlungsbedarf tragen meine Fraktion und die Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen Rechnung, und zwar auf
zweierlei Art und Weise.
Erstens wird das Finanzausgleichsverfahren deutlich
ausgeweitet. Berufsgenossenschaften, bei denen sich das
Verhältnis zwischen Rentenleistungen und Arbeitsentgelten deutlich schlechter als im Durchschnitt entwickelt,
werden künftig stärker entlastet. Hiervon profitieren insbesondere die Bauberufsgenossenschaften. Stärker zahlen müssen dagegen die Unternehmen in Berufsgenossenschaften aufstrebender Dienstleistungsbranchen. Ein
weiteres Kriterium, die Altrentenquote, befreit von der
Zahlungsverpflichtung im Ausgleichsverfahren. Insgesamt werden die Berufsgenossenschaften der Bauwirtschaft so um voraussichtlich 70 Millionen Euro jährlich
entlastet. 20 Millionen Euro entfallen auf den Wegfall
von Zahlungspflichten und 50 Millionen Euro sind echte
Zahlungen, die sie erhalten.
Zweitens werden finanzielle Anreize für den Zusammenschluss von Berufsgenossenschaften gesetzt. Notleidende Berufsgenossenschaften sollen dazu bewegt werden, zu fusionieren. Dies betrifft wiederum die regional
stark gegliederten Berufsgenossenschaften der Bauwirtschaft. Diesen Zusammenschluss erwarten die zahlungspflichtigen Branchen als Beitrag zu einer nachhaltigen
Lösung.
({0})
Die Konzeption des Lastenausgleichs beruht auf einem Vorschlag der Selbstverwaltung. Alle Beteiligten
haben eine Basis geschaffen, auf die sich unser Gesetzentwurf stützen konnte. Darin sehe ich ein überzeugendes Beispiel dafür, wie die Selbstverwaltung in einem
gegliederten System eine Krise durch Konsens meistert.
Die FDP fordert in ihrem Entschließungsantrag eine
Privatisierung der Unfallversicherung. Das ist keine Forderung, die uns überrascht, aber sie verfehlt wieder einmal den Kern des Problems. Denn wenn in einzelnen
Branchen die Beiträge zur Unfallversicherung steigen,
so entspricht das nicht dem Haupttrend. Ein Blick auf
sämtliche Gewerbezweige zeigt nämlich, dass sich die
Beiträge über die Jahre hinweg stabil verhalten: Lag der
Durchschnittsbeitrag in den 80er-Jahren noch durchweg
bei 1,4 Prozent der Lohnsumme, so ist er in der Folgezeit sogar leicht gesunken, und zwar auf derzeit
1,3 Prozent. Wenn die Belastung in anderen Branchen
diesen Durchschnittsbeitrag noch unterschreitet, dann
sehe ich hierin die Legitimation, auch bei ihnen Solidarität einzufordern.
Welche Auswirkungen wird diese neue solidarische
Lastenverteilung mit sich bringen? Die Wirkungen des
neuen Lastenausgleichs für die einzelnen Branchen werden von der weiteren Entwicklung - auch von der Konjunkturentwicklung - abhängen. Gegebenenfalls werden die Voraussetzungen für den Lastenausgleich unter
bestimmten Bedingungen verändert werden müssen. In
diesem Zusammenhang nenne ich die Altrentenquote,
die auch eine Ausgleichsberechtigung auslösen könnte.
Ob eine solche Änderung künftig erforderlich wird,
hängt aber, wie gesagt, von der weiteren Entwicklung
ab. Anders als es der Entschließungsantrag der Unionsfraktion nahe legt, sehen wir derzeit keinen entsprechenden Bedarf. Ich bitte Sie daher, dem Antrag in diesem
Punkt Ihre Zustimmung nicht zu erteilen.
Im Übrigen enthält der Entschließungsantrag eine
Reihe von Punkten, denen wir zustimmen könnten. Das
wird sich sicherlich in der nachfolgenden Abstimmung
zeigen.
Auch in anderen Sozialleistungsbereichen sieht der
vorliegende Gesetzentwurf Änderungen vor. Ich erwähne nur den Anreiz für die Arbeitgeber im Rahmen
der Ausbildungsinitiative der Bundesregierung, noch in
diesem Jahr mehr Ausbildungsplätze bereitzustellen.
Der Sozialversicherungsbeitrag wird zugunsten der
Ausbildungsbetriebe wieder auf das alte Recht zurückgeführt. Vor allem in den neuen Ländern wird sich das
positiv auf die Bereitschaft der Betriebe auswirken, Ausbildungsplätze anzubieten. Das gilt schon für das im August beginnende Ausbildungsjahr.
Die Ausbreitung von Arbeitszeitkonten wird von
uns weiter gefördert. Die Auflösung von Langzeitkonten
beim Wechsel des Arbeitsplatzes wird um ein halbes
Jahr hinausgeschoben. Das dient den tariflichen Vereinbarungen in den einzelnen Branchen, Langzeitkonten
auch nach einem Wechsel des Arbeitsplatzes fortzuführen.
Außerdem wird der Insolvenzschutz in diesem Bereich durch eine Informationspflicht der Arbeitgeber
verbessert. Diese Änderung ist besonders wichtig; denn
wir mussten gerade in jüngster Vergangenheit erleben,
dass Arbeitnehmer im Falle des Konkurses ihres Arbeitgebers leer ausgegangen sind.
Wir haben auch die Grenze der Wertguthaben von
circa 7 500 Euro, unterhalb der eine Insolvenzsicherung
bisher nicht möglich war, tariflich geöffnet. Dies bedeutet, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften auch niedrigere Beiträge als 7 500 Euro zur Absicherung in den
Insolvenzschutz aufnehmen können. Besonders in diesem Bereich werden wir aber die Entwicklung weiter
beobachten müssen.
Der Pensionsfonds als neuer Durchführungsweg der
betrieblichen Altersvorsorge wird gestärkt: Die Kosten
für den Insolvenzschutz werden so ermäßigt, dass eine
betriebliche Altersvorsorge über diesen Weg deutlich attraktiver wird.
Persönlich bin ich schließlich darüber erfreut, das wir
einigen Petitionen benachteiligter Witwen im Bereich
der Alterssicherung der Landwirte entsprechen und den
Beschwerden abhelfen können. Dies wird eine Petentin
aus Münzingen sicherlich besonders freuen; denn sie
kämpft seit 1996 für die Beseitigung eines Fehlers, den
der Gesetzgeber bei der Neugestaltung der Alterssicherung in der Landwirtschaft gemacht hat. Wir heben ihn
auf. Dieser Fall - diese Frau hat ihren Mann verloren,
den landwirtschaftlichen Betrieb weitergeführt; plötzlich
bekam sie nur noch 120 DM Rente, obwohl sie ursprünglich 600 DM erhalten sollte - war mit einer großen Ungerechtigkeit verbunden.
Insgesamt stelle ich fest, dass bei diesem Gesetzgebungsverfahren eine große Bereitschaft zu erkennen war,
sachgerechte Lösungen für die Probleme der Unfallversicherung zu finden. Wir werden die weitere Entwicklung aufmerksam beobachten. Von der Bundesregierung
erwarten wir entsprechende Vorschläge, wenn sich zeigt,
dass der Lastenausgleich nicht genügt und dass nachzusteuern ist.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Kollege Dreßen, es gibt einen - allerdings begrenzten - Konsens: Die Geschichte der gesetzlichen
Unfallversicherung ist insgesamt eine Erfolgsstory. Damit sie es bleiben kann, müssen wir kurzfristig und auch
mittelfristig wichtige gesetzgeberische Entscheidungen
treffen. Sie haben Recht: Die Anzahl der Berufs- und
Arbeitsunfälle ist, langfristig gesehen, zurückgegangen;
die Versicherungsbeiträge sind gemessen an denen in anderen Sektoren insgesamt relativ stabil. Das ist ein großer Erfolg der Prävention. Die Prävention ist wiederum
ein großer Erfolg der Sozialpartnerschaft, also der Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in
den Berufsgenossenschaften.
In einigen Branchen, vor allem in der Bau- und in der
Textilwirtschaft, gibt es schwere Strukturkrisen. Das
hat dazu geführt, dass immer größere Lücken zwischen
Beitragseinnahmen auf der einen Seite und Versicherungsleistungen auf der anderen Seite klaffen, dass dieses Verhältnis sozusagen immer windschiefer wird.
Eine Folge dessen ist das Ansteigen von Beitragssätzen, was diese Betriebe am allerwenigsten verkraften
können. Der Ansatz, der dem vorliegenden Gesetz zugrunde liegt, ist deshalb richtig: Wir müssen den Lastenausgleich zwischen den stärkeren und den schwächeren
Branchen verbessern. Dafür wollen wir - Selbstverwaltung, die Bundesländer und die große Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses - gemeinsam sorgen.
Kollege Dreßen, wir sind der Überzeugung, dass der
vorliegende Gesetzentwurf hier und heute zwar ein notwendiger, leider aber kein hinreichender Schritt ist. Das
System des Lastenausgleichs zwischen den hoch belasteten Berufsgenossenschaften muss effektiver werden.
Der vorgeschlagene Weg zur Verbesserung dieses Lastenausgleichs wird nicht zum Erfolg führen. Das ist unsere feste Überzeugung. Für Betriebe, die zum Teil wirklich auf der Kippe stehen, geht kostbare Zeit verloren. In
dieser Zeit wollen Sie - das haben Sie eben noch einmal
zugesichert - die Entwicklung weiter beobachten.
Wir haben Ihnen vorgeschlagen, den Lastenausgleich
gleich wirksamer zu gestalten. Unser Vorschlag sieht
vor, dass die Altrentenquote nicht nur Kriterium für die
Freistellung von Ausgleichsverpflichtungen, sondern
auch Auslösekriterium für die Ausgleichsberechtigung
ist.
Sie haben auf die Wirkungen des von Ihnen geplanten
Lastenausgleichs verwiesen. Durch das, was Sie vorhaben, werden 70 Millionen Euro für die Bauwirtschaft bewegt. Das ist nachweisbar zu wenig und wird nicht wirksam sein.
({0})
Auch wenn wir heute zustimmen, weisen wir darauf hin,
dass das, was beschlossen wird, nur einen Minimalkonsens darstellt. Das ist zwar besser als gar nichts, aber von
einer optimalen Lösung weit entfernt.
Es muss nicht nur einen verbesserten Lastenausgleich, sondern auch mehr Effizienz geben. Zu mehr Effizienz kommt es nur, wenn bei den 34 gewerblichen Berufsgenossenschaften sozusagen eine Flurbereinigung
stattfindet. Wir müssen die Zahl der Berufsgenossenschaften also senken, um Synergien zu gewinnen. Wir
müssen Anreize schaffen, um Fusionen und Zusammenschlüsse zu erleichtern. Das, was der Gesetzentwurf in
diesem Bereich vorsieht, ist zwar in Ordnung. Aber es ist
fraglich, ob der Schub, den Ihre Bestimmungen auslösen
werden, ausreicht, um die Struktur insgesamt zu stärken
und die Wirtschaftsbereiche mit schwieriger Zukunft
- das sind einige - vorzubereiten.
Es soll außerdem gelten - ich glaube, auch darüber
besteht Konsens -: Selbstverwaltung hat Vorfahrt. Wer
Vorfahrt hat, muss aber auch fahren. In den Berufsgenossenschaften muss sich dringend etwas bewegen, wenn
die Strukturen verbessert werden sollen.
Unsere Gesamthaltung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf ist ein „Ja, aber“. Der Entwurf stellt ein Minimum, aber nicht das notwendige und eigentlich erreichbare Optimum dar. Momentan kann man von Ihnen nicht
mehr erwarten. Sie haben in Aussicht gestellt, die Entwicklung bis zum Herbst dieses Jahres zu beobachten.
Es wird also kostbare Zeit verstreichen. Wir sind überzeugt, dass wir uns bei Philippi wiedersehen und dass
Sie im Herbst Ihrer Lieblingsbeschäftigung - daran sind
Sie gewöhnt; das ist ja eine stehende Übung bei Ihrer
Gesetzgebungsarbeit - nachgehen müssen: dem Nachbessern. Wir haben in unserem Entschließungsantrag
nicht nur den aktuellen Reformbedarf aufgezeigt, sondern auch weite Felder abzudecken versucht, auf denen
- über den heutigen Tag hinaus - Reformen notwendig
sind.
Ich bekräftige heute noch einmal - die Ausschussberatung war ja insgesamt relativ positiv - unser Angebot
zur Zusammenarbeit. Trotz der Einschränkungen und
Vorbehalte, die ich erwähnt habe, stimmen wir zu.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weiß, wir sind uns ja im Prinzip einig. Angesichts
der Tatsache, dass die Sozialversicherung sonst sehr
stark in der Kritik steht, freut es mich, dass wir uns heute
mit einem Sozialversicherungszweig beschäftigen, der
unter dem Strich effektiv und effizient ist und der durch
seit Jahren sinkende Durchschnittsbeiträge und verbesserten Arbeitsschutz vonseiten der Unternehmen gekennzeichnet ist. Es freut mich auch, dass wir uns in der
Bewertung - dies eine Erfolgsgeschichte, auch wenn der
Strukturwandel Veränderungen notwendig macht - hier
weitgehend einig sind.
Es war aber nicht nötig, dass Sie uns an dieser Stelle
Ihre alt bekannten Vorwürfe machen: Wenn wir zu viel
regeln, werfen Sie uns Aktionismus vor. Wenn wir aber
in Ruhe die weitere Entwicklung abwarten und analysieren - das ist in diesem Fall sicherlich berechtigt -, um
später gezielt nachzusteuern, dann werfen Sie uns vor,
dass wir konzeptlos nachbesserten. Ich denke, es ist hier
nicht notwendig, mit solchen Sottisen über uns herzuziehen.
({0})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Ausgleichsverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung neu gestaltet. Damit kommen wir der Baubranche
entgegen, die in den letzten Jahren durch den Abbau von
Überkapazitäten geschrumpft ist. Hier gibt es einen hohen Bestand an Altfällen - das haben schon meine Kollegen dargelegt -, sodass die Einnahmen nicht mehr die
Ausgaben decken. Ich glaube, dass ich auf das Prinzip
und die technischen Einzelheiten nicht näher eingehen
muss, weil das bereits meine Vorredner ausreichend getan haben.
Ich möchte stattdessen kurz auf einen anderen Teil
des Gesetzespakets eingehen, der auch mit der geplanten
Gesetzesänderung neu geregelt wird. Wir werden durch
eine entsprechende Änderung des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch die Geringverdienergrenze bei den Ausbildungsverhältnissen wieder auf die ursprüngliche Höhe
von 325 Euro senken. Es hat sich nämlich in den letzten
zwei Monaten gezeigt, dass die zum 1. April dieses Jahres wirksam gewordene Anhebung der Geringverdienergrenze ein falsches Signal an die Betriebe gegeben hat,
obwohl die Belastung für die Unternehmen maßvoll war.
Gerade in den ostdeutschen Bundesländern wurden die
Arbeitgeber dadurch belastet, dass sie für eine gewisse
Zahl von Ausbildungsverhältnissen, insbesondere im
ersten Ausbildungsjahr, die Sozialversicherungsbeiträge
allein tragen müssen, nachdem das vorher anteilig getragen worden war. Insofern war ihre Belastung vorher geringer.
Ziel der rot-grünen Bundesregierung ist es, alle
Ausbildungshemmnisse abzubauen, damit die Unternehmen ihrer gesamtgesellschaftlichen Verpflichtung
zur Ausbildung wieder besser gerecht werden können.
Wir werden dieses vorwiegend psychologische, in gewissem Maß aber auch finanziell wirksame Ausbildungshemmnis abbauen und werden die Geringverdienergrenze, bis zu der der Arbeitgeber den Gesamtsozialversicherungsbeitrag für den Auszubildenden allein
trägt, wieder auf den ursprünglichen Wert von 325 Euro
senken. Das war eine Forderung von Ihnen, die Sie im
Ausschuss vorgetragen haben. Wir kommen dem nach,
sind uns also auch in dieser Frage einig.
Sie sehen, dass wir an einzelnen Punkten Ausbildungshemmnisse gezielt ansteuern und abbauen. Wir
halten es aber nicht für richtig, etwa Ausbildungsvergütungen abzusenken, wie das von Ihnen noch zusätzlich
gefordert wird. Gerade in den ersten Ausbildungsjahren
liegt die Ausbildungsvergütung eher im Bereich der Vergütung von Minijobs und noch darunter. Wir schlagen
mit dieser Änderung den moderaten und richtigen Weg
zum Abbau von Ausbildungshemmnissen ein. Wir werden auf diesem Weg auch weitergehen.
Danke.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die rot-grüne Koalition hat vor einem Jahr in
ihrem Koalitionsvertrag eine Reform der gesetzlichen
Unfallversicherung angekündigt. Was Sie uns vorlegen,
Herr Kurth, ist lediglich eine zugegebenermaßen notwendige, aber der Form nach unzureichende Neujustierung des Lastenausgleichs zwischen den Berufsgenossenschaften.
({0})
Sie müssen sich hier schon die Frage nach der Ernsthaftigkeit Ihres Reformwillens stellen lassen.
({1})
In der Bauindustrie hat die Beitragssatzsteigerung im
Jahr 2002 über 9 Prozent betragen. Unsere Sorge ist - da
stimme ich dem Kollegen Weiß zu -, dass für diese Branche die in Ihrem Entwurf vorgesehene Änderung des Lastenausgleichs nicht ausreichend ist. Wir fragen, warum
die Ihnen vom Bundesrat aufgegebene Änderung des
§ 176 SGB VII, nämlich die Aufnahme der Altrentenquote als ausgleichsberechtigten Faktor, in ihrem Gesetzentwurf nicht berücksichtigt wird. Gerade in den
sich in der Krise befindlichen Branchen des Landes sind
die Rentenaltlasten besonders drückend und bedürfen einer Regelung. Die Altrentenquote als Grund für die Freistellung reicht nicht aus. Wir brauchen die Altrentenquote als ausgleichsberechtigten Faktor. Das werden
auch Sie über kurz oder lang, wahrscheinlich noch im
Verlaufe des Jahres, einsehen müssen.
Sie haben sich nicht getraut - ich deutete es bereits an -,
über diese eher begrenzte Änderung hinaus echte Reformen in der gesetzlichen Unfallversicherung anzugehen.
Das wundert mich umso mehr, als Sie in der Einleitung
geschrieben haben, Herr Kollege Dreßen, alles sei im
Umbruch, alles fließe, die Dinge änderten sich. Sie ziehen daraus aber nicht die Konsequenzen. Jedenfalls haben Sie sich im Ausschuss der von uns angestoßenen
Diskussion zu strukturellen Änderungen verweigert.
Deswegen sehe ich die Gefahr, dass Sie hier wie auch in
anderen Sozialversicherungszweigen die Zeichen der
Zeit übersehen und erst handeln, wenn es zu spät ist. Das
muss nicht sein. Die Vorschläge sind auf dem Tisch.
Warum wollen wir eine solche strukturelle Änderung?
Weil, wie jeder weiß, seit der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung erstens die Definition des
Versicherungsfalls, zweitens der Leistungskatalog und
drittens auch der versicherte Personenkreis zunehmend
ausgeweitet worden sind. Wir fordern eine klare Differenzierung zwischen dem allgemeinen Lebensrisiko und
betriebsspezifischen Risiken. Wir wollen eine Fokussierung des Wegeunfallrisikos durch Präzisierung der Tatbestände und Umgestaltung auch der finanziellen Absicherung. Wir halten eine schärfere Definition des
Versicherungsfalls „Berufskrankheit“ durch eine Konkretisierung der Tatbestände in der Berufskrankheitenliste für notwendig.
Warum können wir nicht gemeinsam über eine obligatorische Abfindung von Renten bei einer Minderung
der Erwerbsfähigkeit um weniger als 35 Prozent als Abgeltung des erlittenen Gesundheitsschadens nachdenken? Warum können wir nicht über eine Ausrichtung gezahlter Verletztenrenten am konkreten Erwerbsschaden
und damit auch über eine Relativierung der Pauschalierung reden, wie sie in der gesetzlichen Unfallversicherung derzeit gang und gäbe ist? Warum können wir nicht
über eine Begrenzung der Zahlung von Verletztenrenten
auf die Zeit der Erwerbstätigkeit sprechen?
Das alles sind Punkte, die, auch wenn Sie, Herr
Dreßen, es heute noch nicht wahrhaben wollen,
({2})
über kurz oder lang auf der Tagesordnung stehen werden. Wir sind zum Dialog bereit, aber diesem relativ
schmalbrüstigen Änderungsvorschlag, den Sie heute
vorlegen, können wir nicht zustimmen. Wir werden uns
allenfalls enthalten.
Vielen Dank.
({3})
Nun hat Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der heute zu beratende Entwurf eines SGB-VIIÄnderungsgesetzes zur gesetzlichen Unfallversicherung
weist grundlegend in die richtige Richtung, geht uns
aber noch nicht weit genug. Zentraler Punkt des nun vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Regelung des Lastenausgleichs zwischen den 35 gewerblichen Berufsgenossenschaften.
Die Entwicklung in der Baubranche in den letzten
Jahren hat gezeigt, dass diese zu den am meisten in ihrer
Existenz gefährdeten Branchen gehört. Insbesondere äußere Einflüsse machen ihr zu schaffen: höhere steuerliche Belastungen wie immer bei Rot-Grün - ich nenne
nur die Ökosteuer -, die schlechte konjunkturelle Gesamtlage in Deutschland, die steigenden Lohnnebenkosten, die Konkurrenz durch Schwarzarbeit oder auch das
Hin und Her bei der Eigenheimzulage, über die in den
letzten Wochen ständig diskutiert wurde und die Minister Eichel komplett streichen will. Das ist nur ein Ausschnitt von Negativpunkten dieser Bundesregierung.
Dies spiegelt sich vor allem auch in den Einnahmen der
Betriebe, besonders der aus der Baubranche, wider.
Die finanzielle Situation der Berufsgenossenschaften
in Bayern und Sachsen zum Beispiel hat sich dramatisch
verschlechtert. Die Lohnsumme der Mitgliedsunternehmen ist von 1995 bis 2001 um rund 70 Prozent gesunken. Im Gegenzug dazu sind die Beiträge ebenso heftig
angestiegen: in der Gefahrenklasse 1 etwa um 58 Prozent; und das, obwohl zur Stützung des Beitrags finanzielle Mittel aus Betriebsmitteln und Rücklagen entnommen worden sind. Im Klartext heißt das: Die finanziellen
Polster sind bald aufgebraucht, aber die Beiträge steigen
trotzdem weiter. Gerade die Baubranche, bei der ich jetzt
einmal bleibe, ist gegenüber anderen Branchen stärker
belastet. Der durchschnittliche Beitragssatz der Bauunternehmen liegt derzeit mit 3,5 Prozent fast dreimal so
hoch wie der Durchschnittsbeitrag von 1,3 Prozent in der
Unfallversicherung.
Meine Damen und Herren, es liegt doch auf der Hand,
dass hier schnellstmöglich ein Ausgleich geschaffen
werden muss, aber nicht mit einem kleinen Reförmchen.
Uns von der CDU/CSU ist es gelungen, einige Maßnahmen in den Vorgesprächen durchzusetzen. Das Wichtigste war die Rücknahme der Erhöhung der so genannten Geringverdienergrenze zum 1. August 2003, die im
Rahmen der neuen Minijobregeln zum 1. Januar 2003
für Lehrlinge von 325 Euro auf 400 Euro heraufgesetzt
worden war. Diese Erhöhung hatte insbesondere zu einer
Mehrbelastung der Ausbildungsbetriebe geführt. Die
Union hatte in ihrem Antrag mit dem Titel „Ausbildungsbereitschaft der Betriebe stärken - Verteuerung der
Ausbildung verhindern“ diesen Schritt gefordert; denn
der, der heutzutage ausbildet, soll nicht durch noch höhere Abgaben bestraft werden.
Ein weiterer Fortschritt ist die Aufnahme der betrieblichen Altersversorgung in den Alterssicherungsbericht.
Denn bisher fehlt mangels einer konkreten Untersuchung genaues Zahlenmaterial. Eine umfassendere Untersuchung zur betrieblichen Altersvorsorge soll nun im
Rahmen des Alterssicherungsberichtes im Jahre 2005 erscheinen. Diese Ausdehnung der Berichtspflicht auf die
Betriebsrenten ist enorm wichtig; denn die Arbeitnehmer
müssen sich auf deren Rentabilität verlassen können.
Eine weitere erhebliche Änderung wird im Bereich
des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersvorsorge vorgenommen. Über einen Pensionsfonds aufgebaute Betriebsrenten sind nämlich über den PensionsSicherungs-Verein insolvenzgeschützt. Die Wahrscheinlichkeit einer Ausfallhaftung bei einer solchen betrieblichen Altersversorgung ist aber ungleich geringer als bei
einer Direktzusage durch den Arbeitgeber. Daher ist es
angebracht, die Bemessungsgrenze für Pensionsfondszusagen auf 20 Prozent des Betrags bei Direktzusagen abzusenken. Der Insolvenzschutzbeitrag ist somit kein
Wettbewerbsnachteil des Pensionsfonds mehr gegenüber
anderen Durchführungswegen.
Die Grundtendenz im Gesetzentwurf stimmt. Die
Frage ist hier, ob die von der Bundesregierung zur Entlastung der Bauwirtschaft geplanten Maßnahmen in der
Praxis auch weit genug gehen. Nach derzeitigen Prognosen muss die Bauwirtschaft längerfristig durch den
Strukturwandel mit stetig sinkenden oder zumindest stagnierenden Lohnsummen rechnen. Im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen muss sie jedoch von hohen
Beiträgen zur Unfallversicherung ausgehen.
Ist bereits jetzt absehbar, dass manche Maßnahmen
nur mittelfristig greifen, so müssen diese unbedingt
überarbeitet werden. Ein Beispiel ist hier die neu eingeführte Altrentenquote: Die Entlastung, die sich allein
aus einer begrenzten oder wegfallenden Ausgleichspflicht ergibt, ist für Berufsgenossenschaften mit hohem
Altrentenanteil äußerst gering. Wir fordern daher, zu beobachten, ob der Lastenausgleich beizeiten angepasst
werden muss. Dies kann etwa geschehen, indem die Altrentenquote auch bei der Ausgleichsberechtigung berücksichtigt wird. Ferner fordern wir, die sich durch die
strukturellen Verschiebungen wandelnden Organisationsstrukturen zu verändern. Sie sollten in Anlehnung
an die Wirtschaftszweige gestrafft werden und an den
Erfordernissen der Prävention orientiert werden.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident.
Nur so, meine sehr verehrten Damen und Herren,
kann die gesetzliche Unfallversicherung fit gemacht
werden für die sich ständig wandelnden Bedingungen
des europäischen Binnenmarktes, aber auch insbesondere für die EU-Osterweiterung.
Die Schwierigkeiten für die sozialen Sicherungssysteme ziehen sich durch sämtliche Branchen. Lassen Sie
es uns angehen, den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung für alle Berufsgenossenschaften auch in Zukunft zu sichern.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Siebten
Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes, Drucksache 15/812. Der Ausschuss für Gesundheit
und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1199, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1211? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1228? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der CDU/CSU gegen die Stimmen
der FDP abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches
Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes, Drucksache 15/1070. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale
Sicherung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1199, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Präsident Wolfgang Thierse
Goldmann, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Rahmenbedingungen für Waldbesitzer und mittelständische Holzwirtschaft verbessern - Eigentumsrechte stärken
- Drucksache 15/941 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Christel Happach-Kasan das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Holz - das wissen wir - ist der bedeutendste nachwachsende Industrierohstoff in Deutschland. Jährlich werden
40 Millionen Kubikmeter geerntet; es wachsen 58 Millionen Kubikmeter nach. Für jede Nachhaltigkeitsstrategie
ist daher Holz und damit die Frage der Bewirtschaftung
unserer Wälder von ganz zentraler Bedeutung.
Für die Bundesregierung hat der Wald erkennbar nur
nachrangige Bedeutung. Das zeigte nicht nur die Bemerkung des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPDFraktion in der gestrigen Debatte, der meinte, unseren
Antrag nennen zu müssen. Das zeigt insbesondere die
Tatsache, dass in dem vom Bundeskanzler einberufenen
Rat für nachhaltige Entwicklung weder der Forstwirtschaftsrat noch die Waldbesitzerverbände, der Forstverein oder der Holzwirtschaftsrat vertreten sind. Eine
Nachhaltigkeitsstrategie ohne die Berücksichtigung des
wichtigsten nachwachsenden Rohstoffes Holz kann bei
uns jedoch nicht erfolgreich sein. Nachhaltige Entwicklung in Deutschland ohne die Forstwirtschaft funktioniert nicht. Vor diesem Hintergrund verwundert es überhaupt nicht, dass im Koalitionsvertrag das Stichwort
„nachwachsende Rohstoffe“ fehlt.
Die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen deutlich, dass die Holzpreise in Deutschland seit 1995 im
Bereich des Stammholzes um 12 Prozent und im Bereich
des Industrieholzes um 8 Prozent gesunken sind. Vor
diesem Hintergrund fordert die FDP die Bundesregierung auf, die Rahmenbedingungen für Waldbesitzer und
die mittelständische Holzwirtschaft zu verbessern.
({0})
Dazu gehört für uns, dass das Bundeswaldgesetz als
Rahmenrecht erhalten bleibt. Es dürfen keine weiteren
Regulierungen die Handlungsfreiheit der Waldbesitzer
einschränken. Erstens gibt es dafür keinen Grund; denn
die bestehenden Regelungen haben sich als erfolgreich
erwiesen.
({1})
Zweitens ist die Situation auf dem Holzmarkt so angespannt, dass bei weiteren Regulierungen notwendigerweise mit einem Abbau von Arbeitsplätzen zu rechnen
ist. Das können wir uns nicht leisten.
({2})
Bei 4,6 Millionen Arbeitslosen ist es geboten, Arbeitsplätze im Land zu halten, und nicht, weitere zu exportieren, wie das in den Bereichen Transrapid, grüne Gentechnik, Forschung, Geflügelhaltung und anderen
Wirtschaftsbereichen bereits geschehen ist.
Der Waldbesitzerverband teilt die Befürchtungen
der FDP. Er macht gezielt darauf aufmerksam, dass die
standörtlichen Bedingungen in Deutschland so unterschiedlich sind, dass die Festschreibung der so genannten guten fachlichen Praxis in einem Bundesgesetz den
besonderen Bedingungen zum Beispiel von Küsten-,
Au- und Bergwäldern nicht gerecht werden kann. Lawinenschutz ist in Bayern ein Thema, aber nicht in Schleswig-Holstein, obwohl es auch bei uns einen Skilift gibt.
Der Waldzustandsbericht hat deutlich gemacht, dass
Schadstoffeinträge die Waldböden großflächig verändert
und in ihrer Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigt
haben. Dies ist nicht von den Waldbesitzern zu verantworten. Sie haben daher Anspruch auf eine volle Kostendeckung bei der Durchführung von Bodenschutzkalkungen, mit denen Auswirkungen des Schadstoffeintrags
gemindert werden können.
Beim Thema Zertifizierung - auch darüber haben
wir schon diskutiert - sollte sich die Bundesregierung
neutral verhalten. Zertifikate sind marktwirtschaftliche
Instrumente. Gleichwohl gilt: Bayern hat nach den Angaben des statistischen Monatsberichtes die höchsten
Holzpreise, und das ohne FSC-Zertifizierung. Das bedeutet doch wohl, dass dieses Zertifikat auf dem Markt
keine Anerkennung hat und deshalb auf Ihre politische
Unterstützung angewiesen ist. Wir fordern von der Bundesregierung, sich den Forderungen von Greenpeace zu
widersetzen und Politik für alle Wälder in Deutschland
zu gestalten, nicht nur für die nach FSC-zertifizierten
Wälder.
({3})
Greenpeace hat sich mit seinem Holzmarktführer,
der Holz aus Deutschland als gerade einmal akzeptabel
oder kritisch einstuft, zum Fürsprecher für die Petroindustrie gemacht - nach dem Motto: statt heimischer
Buche oder Fichte aus dem Harz, dann doch lieber Plastik vom Rhein. Das hilft unseren Wäldern nicht.
Ein Drittel der Fläche Deutschlands ist Wald. Es ist
für uns keine Frage, dass der Natur- und Artenschutz
auch im Wald eine besondere Bedeutung hat. Die Berücksichtigung von Natur- und Artenschutz im Wald
steht nicht im Widerspruch zu einer erwerbsorientierten
Bewirtschaftung des Waldes. Es gibt dafür hervorragende Beispiele bei uns. Wir brauchen Naturwaldparzellen im Staatswald, aber auch im Privat- und Körperschaftswald. Auflagen, die die Bewirtschaftung stark
einschränken und damit einen Eingriff in das Eigentum
darstellen, müssen ausgeglichen oder entschädigt werden. Das gilt für die Ausweisung von Naturschutzgebieten genauso wie für die Ausweisung von FFH-Gebieten,
sofern die Bewirtschaftung behindert wird.
Es kann nicht sein, dass die vom Grundgesetz vorgegebene Sozialpflichtigkeit des Eigentums als Deckmantel benutzt wird, um von Grundeigentümern in immer
stärkerem Maße entschädigungslos Eingriffe in das Eigentum zu verlangen. Entsprechende Leistungen werden
von keiner anderen Eigentumsart verlangt.
In Deutschland ist die Nutzung des nachwachsenden
Rohstoffes Holz ein wesentlicher Bestandteil aller Anstrengungen hin zu einer nachhaltigen Entwicklung. Die
energetische Nutzung von Holz ist CO2-neutral. Holz ist
ein hervorragender Baustoff und ein wichtiger Industrierohstoff. Die Waldbewirtschaftung und die Holzwirtschaft schaffen Arbeitsplätze im ländlichen Raum.
Ich fasse zusammen: Ohne eine gute Politik für Wald
und Holz ist jede Nachhaltigkeitsstrategie auf dem Holzweg.
Ich bitte Sie, dem vorliegenden Antrag zuzustimmen,
und beantrage die Überweisung an den zuständigen Ausschuss. Die CDU/CSU-Fraktion hat freundlicherweise
bereits signalisiert, dass sie mit vielen Thesen dieses Antrages übereinstimmen kann. Ich bedanke mich für die
freundliche Zustimmung genauso wie für diejenige, die
ich von anderer Seite erfahren habe.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende FDP-Antrag befasst sich mit den Wäldern.
({0})
Nein, das ist nicht ganz richtig: Der vorliegende Antrag
befasst sich mit den Interessen der privaten Waldwirtschaft, der Waldbesitzer und der Holzwirtschaft.
({1})
Der Antrag kommt zwei Monate zu spät,
({2})
trifft das Thema nicht und führt uns in der Sache selbst
keinen Schritt weiter.
Warum kommt der Antrag zu spät? Am 3. April dieses Jahres haben wir hier im Bundestag eine Debatte
zum jährlichen Waldzustandsbericht der Bundesregierung geführt. Die SPD und die Grünen haben zu diesem
Bericht einen gemeinsamen Antrag mit einem umfassenden Forderungskatalog eingebracht. Der federführende
Ausschuss hat sich dann am 7. Mai sowohl mit dem Bericht als auch mit dem Antrag befasst und hat über den
Antrag abgestimmt.
Die FDP hatte Gelegenheit, unserem Antrag zuzustimmen oder aber ihre abweichenden Positionen in einen eigenen Antrag zu gießen und diesen dann im Plenum bzw. im zuständigen Ausschuss einzubringen.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben diese
Chance verpasst.
({3})
Einige der Forderungen, die Sie heute stellen, sind bereits mit unserem Antrag im Mai beschlossen und abgearbeitet worden.
({4})
So haben wir zum Beispiel beschlossen, dass die Prinzipien von Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit eingehalten werden sollen, dass im Rahmen der Novellierung des
Bundeswaldgesetzes Verwaltungsvereinfachungen im
Forstbereich und weitere Förderungsmöglichkeiten für
die Wälder geprüft werden sollen und dass die Nutzung
von Holz als nachwachsender Roh- und Baustoff selbstverständlich gefördert werden soll. Hier kommen Sie
also eindeutig zu spät.
({5})
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben unseren Antrag abgelehnt.
({6})
Sie haben damit die ganz wichtige Chance vertan, für die
Wälder und die Holzwirtschaft tatsächlich etwas zu verbessern. Sie haben diese Chance aus rein ideologischen
Gründen vertan.
({7})
Sie betrachten den Wald nämlich nicht als Ganzes, sondern beschränken sich auf wenige Teilaspekte. Warum
tun Sie das? Um die Interessen einer ganz bestimmten
Klientel zu befriedigen.
({8})
Nicht die privaten Waldbesitzer, sondern der Wald
braucht eine starke Lobby.
({9})
Denn was nützt es, wenn wir die Rahmenbedingungen
für die Waldbesitzer und die Unternehmen verbessern,
der Wald selbst aber auf der Strecke bleibt?
({10})
Wir müssen zuallererst die Rahmenbedingungen für
die Wälder verbessern. Denn die Wälder sind - das ist
doch ganz logisch - die Produktionsgrundlage für die
Waldwirtschaft. Wenn es den Wäldern schlecht geht,
dann sieht es auch schlecht für die Waldbesitzer und die
Waldwirtschaft aus.
Die FDP verfolgt einen ganz anderen Ansatz. Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Sie betreiben reine Klientelpolitik, die mit den tatsächlichen Problemen unserer
Wälder nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
({11})
Was sind die Ursachen für Waldschäden und Waldsterben? Das sind die hohen Schadstoffeinträge, die
durch die Luft in die Wälder und dann in den Waldboden
gelangen und die Waldböden nachhaltig und oft irreparabel schädigen.
Was haben wir getan, meine Damen und Herren, um
die Situation unserer Wälder zu verbessern?
({12})
Wir haben zahlreiche Gesetze und Maßnahmen
({13})
zur Luftreinhaltung sowie zum Klima- und zum Umweltschutz auf den Weg gebracht. Was hat die FDP getan, was haben Sie zu bieten? In Ihrem Antrag steht kein
Wort zum Klimaschutz.
({14})
Auch in der letzten Legislaturperiode war von Ihnen zu
diesem Thema so gut wie nichts zu hören. Ich kann mich
jedenfalls nicht daran erinnern.
({15})
Von den Maßnahmen, die wir gemeinsam mit den
Grünen auf den Weg gebracht haben, haben Sie nicht
eine einzige mitgetragen. Erneuerbare-Energien-Gesetz
- abgelehnt, Ökosteuer - abgelehnt,
({16})
Schutz und Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung - abgelehnt, Energieeinsparverordnung - abgelehnt, Programme
zur Wohnraummodernisierung und zur CO2-Gebäudesanierung - ebenfalls abgelehnt.
Zum Glück sind wir im Bundestag nicht auf die Stimmen der FDP angewiesen. So konnten wir unsere Initiativen durchbringen. Sonst sähe es für unsere Wälder sehr
traurig aus.
So ist die Politik der FDP: Anstatt Ursachen anzupacken, doktern Sie allenfalls an den Symptomen herum.
({17})
So wollen Sie jetzt eine Ausweitung der Kalkung und
Düngung der Waldböden. Brauchen wir eine Ausweitung, meine Damen und Herren? - Nein, wir brauchen
keine Ausweitung.
Die Bundesregierung hat als Soforthilfeprogramm für
die Waldböden schon vor Jahren gemeinsam mit den
Ländern im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“
ein umfangreiches Förderprogramm aufgelegt, an dem
jetzt übrigens auch die EU mit Fördermitteln beteiligt
ist. Jährlich fließen Millionen Euro in unsere Waldböden. Allein 2001 waren es über 10 Millionen Euro. Kalkung und Düngung werden bis zu 90 Prozent subventioniert.
({18})
Das ist ein enormes Engagement der öffentlichen Hand.
Kaum ein anderer Bereich kann auf einen so hohen Fördersatz auch nur hoffen.
({19})
Sie sehen also, es wird sehr viel getan. Es sind alles
Steuermittel - das vergisst man leicht -, die hier eingesetzt werden, vor allem zur Strukturverbesserung beim
Privatwald.
Es ist schon erstaunlich, dass die FDP an diesem
Punkt Subventionen fordert. Ansonsten sind Sie doch so
sehr gegen die Einmischung des Staates in Wirtschaftsabläufe und für das freie Spiel der Kräfte. Wirklich geradlinig scheinen Sie beim Thema Subventionen nicht zu
sein.
({20})
Mir ist noch sehr gut die Diskussion über die Apotheker
in Erinnerung.
({21})
Eigentlich ist es schade, dass wir überhaupt so viel
Geld zur Sanierung der Waldböden aufbringen müssen.
Hätten wir über die Jahrzehnte eine gute Klimaschutzpolitik betrieben, dann wäre das nicht nötig.
({22})
Warum, Herr Kollege, versauern die Waldböden denn
überhaupt? - Sie versauern, weil die Luftschadstoffe noch
immer zu hoch sind, womit wir wieder bei der Luftverschmutzung wären. Deshalb ist wichtig, dass wir zuallererst eine konsequente Umwelt- und Klimaschutzpolitik
betreiben - runter mit den Schadstoffen, runter mit
Stickstoffoxiden, runter mit Ammoniak.
({23})
Die FDP verweigert sich hier, und zwar weil ein klares Bekenntnis zur Umwelt- und Klimaschutzpolitik ihre
Klientel in der Wirtschaft mit Sicherheit verprellen
würde. Deshalb verhalten Sie sich hier so, meine Damen
und Herren von der FDP. So machen Sie Politik. Sie
nützt sehr wenig und den Wäldern mit Sicherheit gar
nicht.
({24})
Sie fordern in Ihrem Antrag nicht nur die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Waldbesitzer und Unternehmen, sondern auch die Stärkung der Eigentumsrechte.
({25})
Was heißt das? Bedeutet eine Stärkung der Eigentumsrechte auch mehr Pflichten? Uns allen ist ja der Satz „Eigentum verpflichtet“ bekannt - aber nicht der FDP. Sie
fordern uneingeschränkte Freiheit für private Waldbesitzer, die Abschaffung von Auflagen und Vorschriften.
({26})
Sie haben auch eine Begründung geliefert. Sie begründen Ihre Forderung mit dem traditionell vorbildlichen Verhalten der Waldbesitzer, vor allem der privaten
Waldbesitzer.
({27})
Ich finde es sehr gut - wir alle begrüßen das -, dass in
der Forstwirtschaft seit Jahren und Jahrzehnten, ja sogar
seit Jahrhunderten so vorbildlich und nachhaltig gewirtschaftet wird.
({28})
Ich bin mir aber ganz sicher, dass ohne politische Vorgaben zum Beispiel zur Zertifizierung und ohne Festsetzung von Standards unsere Wälder nicht so gut bewirtschaftet werden könnten, wie sie es heute werden.
({29})
Es ist übrigens unser politischer Auftrag, Standards
vorzugeben und die Wälder eben nicht dem freien Spiel
der Kräfte zu überlassen. Um Zweifel auszuräumen, die
Sie eventuell haben könnten, zitiere ich aus der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit
dem Wirtschaftsziel im öffentlichen Wald auseinandergesetzt hat. Hier heißt es:
Die Forstpolitik der Bundesregierung ist weniger
auf Marktpflege ausgerichtet: Sie dient vor allem
der Erhaltung des Waldes als ökologischem Ausgleichsraum für Klima, Luft und Wasser, für die
Tier- und Pflanzenwelt sowie für die Erholung der
Bevölkerung … Die staatliche Forstpolitik fördert
im Gegensatz zur Landwirtschaftspolitik weniger
die Betriebe und die Absetzbarkeit ihrer Produkte
als vielmehr die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes.
({30})
SPD und Grüne verfolgen dieses Ziel. Wir befinden
uns damit nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich auf dem richtigen Weg.
({31})
Meine Damen und Herren, vor allem auch Sie von der
FDP, schließen Sie sich unserer Politik an! Dann sind
auch Sie auf dem richtigen Weg.
Danke schön.
({32})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Schirmbeck,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Hiller-Ohm, ich habe zu diesem Thema schon
lange nicht mehr so viel wirres Zeug gehört.
({0})
Sie haben noch nicht einmal die Überschrift des Antrages richtig gelesen. Es geht um deutsche Forstwirtschaft
und nicht um Klientelpolitik. 800 000 Menschen in
Deutschland leben von der Forstwirtschaft. Sie erwirtschaften einen Anteil am Bruttosozialprodukt in Milliardenhöhe.
({1})
Um diese Menschen haben wir uns zu kümmern. Ich
kenne Kollegen, die, wenn ein Sägewerk Pleite macht,
betroffen dastehen und Krokodilstränen weinen. Sie sollten sich aber vorher um dieses Thema kümmern.
Sie haben gesagt, die FDP hätte in der Vergangenheit
nichts für den Umweltschutz getan. Ich frage Sie: Wer
hat denn in den 70er-Jahren die Einführung des Katalysators verhindert? - Das waren Sie! - Erst 1982 mit der
neuen Regierung wurde der Katalysator Pflicht.
({2})
Wer hat denn die Verordnung über Großfeuerungsanlagen eingeführt? - Das war die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl! In den 70er-Jahren unter den Bundeskanzlern Brandt und Schmidt haben Sie das
versäumt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Sehen Sie sich die Situation in den Mittelgebirgen an,
zum Beispiel im Teutoburger Wald in Niedersachsen. In
331 Meter Höhe hat man festgestellt, dass sich dort in einem Meter Tiefe im Grundwasser 150 Milligramm Nitrat befinden.
({3})
Niemand kann behaupten, dass diese durch Düngung
oder durch Gülle dort hinkommen. Man kann wissenGeorg Schirmbeck
schaftlich beweisen, dass dort der durch die Luft transportierte Schmutz aus dem Ruhrgebiet und von Belgien
abregnet. Sie haben in den 70er-Jahren versäumt, die
Gesetze mit den entsprechenden technischen Anforderungen für die Industrie zu beschließen. Das sind Fakten.
Heute müssen wir die Sünden, die damals begangen
worden sind, beseitigen, beispielsweise durch das Kalken des Waldes. Die Waldbesitzer haben an der Luftverschmutzung aber keine Schuld. Ich frage Sie: Warum
sollten diese sich an der Schadensbeseitigung beteiligen
und 10 Prozent der Kosten übernehmen?
Sie haben gesagt, Sie hätten 10 Millionen Euro für die
Waldkalkung eingeplant. Sie werden feststellen, dass
diese Mittel nicht abfließen werden, weil die Kommunen
und die anderen Träger, die sich bisher beteiligt haben,
ihren Anteil von 10 Prozent nicht mehr aufbringen können. Sie haben zwar einen Mittelansatz, sind aber insgeheim froh darüber, dass die Mittel nicht abfließen werden. Sie tun so, als würden Sie mit Ihren Beschlüssen
irgendetwas bewegen.
({4})
In Wirklichkeit bewegen Sie nichts. Ihr Motto scheint zu
lauten: Es ist alles im Umbruch, aber bewegen tut sich
nichts.
({5})
Sie haben uns Klientelpolitik vorgeworfen. Es gibt
1,3 Millionen Waldbesitzer. Im Durchschnitt besitzt ein
Waldbesitzer 3,5 Hektar Wald. Wir betreiben doch keine
Klientelpolitik! Sie stellen die Behauptung in den Raum,
als gäbe es ein paar Großgrundbesitzer in Deutschland,
für die die FDP kämpft. Nein, es ist eine große Bevölkerungsgruppe. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass die
Zahl der Waldbesitzer wächst und dass die Waldfläche in
Deutschland wächst.
Ferner wollen Sie unsere Wälder unter Schutz stellen.
Dazu breiten Sie hier irgendwelche ideologischen Vorstellungen aus. Was wollen Sie eigentlich unter Schutz
stellen? Die Wälder sind offensichtlich so gut, dass Sie
sie schützen wollen. Lassen Sie die Leute doch in Ruhe,
wenn Sie ihnen schon nicht helfen können! Wenn Sie ihnen kein Geld geben, dann lassen Sie den bürokratischen
Schnickschnack, den Sie auf den Weg bringen, einfach
weg!
({6})
Sie zitieren Ihre Freunde von Greenpeace, die einen
Holzführer auf den Markt gebracht haben. Da wird empfohlen, Holz aus Fichte und Kiefer nicht wirtschaftlich
zu nutzen. Was da erzählt wird, ist abstrus. Ich weiß
nicht, woher die ihre fachmännischen Kenntnisse haben.
In Deutschland wird seit 200 Jahren auf wissenschaftlicher Basis Forstwirtschaft betrieben. Wir haben die
besten Experten in der Welt. Da brauchen wir nicht
Greenpeace oder irgendwelche Ideologen, die etwas
Fantastisches erzählen. Das hilft niemandem.
({7})
Lassen Sie die Menschen in diesen tollen Wäldern,
die sie schützen wollen, weiter wirtschaften! Auf Dauer
geht niemand in den Wald, wenn er nicht auch etwas erwirtschaftet. Ich hole doch nicht meine Säge oder meinen Spaten heraus, um im Wald beispielsweise zu pflanzen, wenn ich nicht auch einmal einen gewissen
Prozentsatz an Ertrag habe.
Sie stellen sich hier hin und reden von Nachhaltigkeit: Wir wirtschaften nachhaltig; seitdem wir hier die
Regierung stellen, wird das alles besser gemacht. Nachhaltig hat meine Familie seit tausend Jahren Forstwirtschaft betrieben. Das haben Sie nicht erfunden.
Nachhaltigkeit bedeutet, dass ich heute pflanze und
pflege und meine Kinder pflegen, sodass vielleicht
meine Enkelkinder oder Urenkel die Chance haben, einmal ein bisschen zu ernten. Dafür müsste man den Leuten Orden verleihen und sollte sie nicht mit irgendwelchen bürokratischen Regelungen überziehen.
({8})
Meine Damen und Herren, zunehmend wird auf
Grenzertragsböden aufgeforstet. Die Leute, die das machen, brauchen Unterstützung. Wir haben Preise von
1950. Ein wirtschaftlicher Spielraum, so etwas aus Erträgen zu finanzieren, ist nicht vorhanden. Deshalb brauchen wir da Ihre Unterstützung.
Ich finde es gut, wenn Sie sagen: Wir wollen eine
Holzcharta. Sie ist ja auch in der Regierungserklärung
angekündigt worden. Das ist ein Schritt in die richtige
Richtung, wenn Sie sie konkret vorstellen. Wir fordern
das nach wie vor. Den Leuten muss klar gemacht werden, was man mit dem idealen Produkt Holz alles machen kann.
Wir sind auch für die energetische Nutzung von Holz,
wenn Sie die richtigen Rahmenbedingungen schaffen.
Aber wir brauchen keine ideologiebefrachtete Zertifizierung. Wir stellen fest: 60 Prozent der deutschen Wälder sind nach PEFC zertifiziert. Wie kann denn die Bundesregierung einseitig den FSC fördern, der vielleicht
2 oder 3 Prozent der Waldflächen zertifiziert hat? Sie
haben im Greenpeace-Holzführer gesehen, was auf angeblich wissenschaftlicher Grundlage an Abstrusem verbreitet wird. Da greifen Sie einseitig in marktwirtschaftliches Geschehen ein, was dem Wald und allen, die in
der Forstwirtschaft konstruktiv arbeiten, wirklich schadet.
({9})
Sie sagen: Wir brauchen Naturschutzgebiete, besonders geschützte Flächen im Wald, beispielsweise FFHGebiete. - Darüber kann man sich unterhalten. Aber
wenn man in das Eigentum eingreift, dann muss man
sich auch Gedanken machen, wie man diese Eingriffe
ausgleicht. Ich bin dankbar, dass Staatssekretär
Berninger auf dem 1. Deutschen Waldgipfel angekündigt
hat, die Bundesregierung wolle da etwas tun. Wir warten
auf die entsprechenden Ansätze.
Meine Damen und Herren, Forstpolitik muss auch in
Europa ein Thema werden. Denn europäische Umweltgesetze und europäische Politik überhaupt beeinträchtigen die Land- und Forstwirtschaft. Deshalb muss dies
auch Thema auf europäischer Ebene sein.
Wir reden immer von der Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktion des Waldes. Unsere Wälder sind - bei allen Problemen, die wir haben - sehenswert. Es wird dort
viel auf den Weg gebracht. Wenn wir die Schutzfunktion
und die Erholungsfunktion stärken wollen, dann müssen
wir vor allen Dingen dafür sorgen, dass auch die Wirtschaftlichkeit, die Nutzfunktion, gestärkt wird. Dann ist
uns um den deutschen Wald nicht bange. Wenn Sie das
aber nur mit bürokratischen Regelungen und ideologischen Sprüchen erreichen wollen, dann tun Sie nichts für
den deutschen Wald, sondern schädigen ihn.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegin Cornelia Behm, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin ganz erstaunt, mit wie viel Emotion
man in diesem Hause die Forstwirtschaft diskutiert. Ich
freue mich darauf, dass wir mit vielleicht genauso viel
Emotion, aber noch mehr Engagement gemeinsam das
Bundeswaldgesetz novellieren.
({0})
- Eben. Das ist ein sehr guter Vorschlag. Ich bin sehr dafür, dass wir diese außen vor lassen.
Frau Happach-Kasan, in der Präambel ihres Antrages
spricht die FDP von dem seit Generationen nachhaltig
bewirtschafteten Wald. An dieser Stelle wird ganz deutlich, was uns in der Waldpolitik von Ihnen trennt. Für
uns Bündnisgrüne ist es nämlich völlig abwegig, die seit
Generationen begründeten Monokulturen und Altersklassenwälder standortfremder Kiefern und Fichten als
Idealbild nachhaltiger Forstwirtschaft anzusehen.
({1})
Wir wollen die naturnahe Waldwirtschaft vorantreiben. Genau das, so scheint mir, wollen Sie verhindern.
Das haben Sie einmal mehr mit Ihrem Antrag deutlich
gemacht.
Es ist richtig: Die deutsche Forstwirtschaft hat vor
Generationen die Wiederaufforstung eingeführt und ist
bis heute mit Recht stolz darauf, damit das Prinzip der
Nachhaltigkeit eingeführt zu haben. Da sind wir d'accord. Dies war in der Tat ein Fortschritt. Unser heutiges
Verständnis von ökologischer, sozialer und ökonomischer Nachhaltigkeit geht jedoch über diese Wiederaufforstung von Kiefern- und Fichtenmonokulturen deutlich
hinaus. Für uns heißt Nachhaltigkeit, den Wald bei der
Bewirtschaftung auch als Ökosystem zu erhalten.
Meine Damen und Herren, Sie fordern, der Staat
möge sich bei der Zertifizierung der Wälder neutral
verhalten und das Geschehen dem Markt überlassen.
Dazu muss man ganz nüchtern feststellen: Der Staat
kann sich als Waldbesitzer und als Holzeinkäufer auf
dem Holzmarkt nicht neutral verhalten. Sowohl dann,
wenn er Holz einkauft, als auch dann, wenn er Wald bewirtschaftet - er ist ein großer Waldbesitzer -, entscheidet er sich für eine bestimmte Bewirtschaftungsweise.
Die Vorstellung der FDP, der Staat könne sich als relevanter Marktakteur tatsächlich marktneutral verhalten,
geht daher völlig an der Realität vorbei.
Das, was Sie hier mit Ihrer Neutralität betreiben, ist
ein Plädoyer für „Egal-Holz“. Sie wollen, dass es dem
Staat egal ist, woher das Holz kommt: egal, ob aus Raubbau oder aus illegalem Einschlag. Nein, dies ist keine
verantwortungsvolle Waldpolitik.
({2})
- Das steht so im Antrag.
Der Staat hat als Marktakteur die Pflicht, seiner Verantwortung im Kampf gegen den internationalen Raubbau am Wald und für eine nachhaltige Waldbewirtschaftung gerecht zu werden.
({3})
Deswegen sollten sich auch die Länder und die Kommunen bei der Holzproduktion und der Holzbeschaffung für
ein Zertifizierungssystem mit hohem ökologischen Standard entscheiden.
Sie plädieren richtigerweise für Bodenschutzkalkungen. Diese werden aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe zu 90 Prozent bezuschusst.
({4})
Dieser Anteil sollte meiner Meinung nach nicht erhöht
werden, und zwar aus folgendem Grund: Nur wenn die
Waldbesitzer einen Eigenanteil erbringen müssen, werden sie sich die ökonomische Frage „Ist die Kalkung tatsächlich nötig?“ ernsthaft stellen. Probleme könnte es
dann allerdings geben, wenn die Bundesländer diese
Maßnahmen nicht ausreichend gegenfinanzieren.
({5})
Uns sind aber bisher keine Klagen darüber vorgetragen
worden,
({6})
dass Waldbesitzern Anträge auf Kalkung nicht bewilligt
wurden. Sollte sich erweisen, dass es tatsächlich Waldbesitzer gibt, die keine Förderung erhalten, dann sollten
wir darauf drängen, dass die betreffenden Länder
({7})
die Bodenschutzkalkung im Rahmen der GAK mehr fördern.
Meine Damen und Herren, im Bundeswaldgesetz
heißt es, dass der Wald ordnungsgemäß und nachhaltig
bewirtschaftet werden soll. Im Bundesnaturschutzgesetz
ist festgelegt, dass die Forstwirtschaft naturnahe Wälder
aufbauen und diese ohne Kahlschläge nachhaltig bewirtschaften muss. Sie muss einen hinreichenden Anteil
standortheimischer Baumarten einhalten. Dies ist der
bisherige Mindeststandard im Bundesrecht. Wir Bündnisgrüne halten es in der Tat für notwendig, die Kriterien
der ordnungsgemäßen und nachhaltigen Forstwirtschaft
im Bundeswaldgesetz weiter zu konkretisieren.
Wir sind uns aber sehr wohl bewusst, dass dabei ökonomische Grenzen beachtet werden müssen. Wir werden
daher die Ergebnisse der Studie zu den ökonomischen
Auswirkungen durch die Vorschläge zur guten fachlichen Praxis sehr genau prüfen.
Letztlich sollten nur die ökologischen Ansprüche, die
mit einem ökonomischen Betrieb vereinbar sind, als
Mindeststandards festgeschrieben werden. Darüber hinausgehende naturschutzfachliche Ansprüche sollten
hingegen durch Förderung, Ausgleichszahlungen oder
Vertragsnaturschutz realisiert werden. Die Förderung
des Waldbaus muss entsprechend angepasst werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP will auf
jegliche Mindeststandards verzichten, weil die Waldbesitzer, wie sie sagt, bewiesen hätten, dass sie den gesellschaftlichen Ansprüchen bereits gerecht werden.
({8})
In der Tat gibt es in Deutschland einen Fortschritt hin zu
mehr naturnaher Waldwirtschaft. Frau Happach-Kasan,
Sie wissen aber doch genauso gut wie ich, dass es nach
wie vor sehr viele Waldbesitzer und Forstwirte gibt, die
an den alten Standards der Forstwirtschaft festhalten
wollen und keinen Grund für ein Umdenken sehen. Deshalb brauchen wir die Standards der guten fachlichen
Praxis.
Danke schön.
({9})
Als letzter Redner des heutigen Tages hat nun Kollege Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Hiller-Ohm, im Ausschuss habe ich Sie
bisher immer als sehr sachliche Kollegin erlebt. Umso
enttäuschter war ich darüber, wie unsachlich Sie heute
zu dem Thema gesprochen haben.
Wenn Sie nämlich einen der ersten Waldzustandsberichte dieser rot-grünen Bundesregierung gelesen hätten,
dann wüssten Sie, dass darin bezogen auf die Zeit, als
CDU/CSU und FDP noch regiert haben, ganz deutlich
steht - ich zitiere -:
Die beobachteten Waldschäden führten zu raschem
politischen Handeln auf nationaler und internationaler Ebene.
Danach wird eine Reihe von Maßnahmen aufgelistet,
nämlich was zu unserer Regierungszeit zugunsten des
Waldes alles unternommen worden ist. Damit auch Sie
es wissen, wiederhole ich es hier: das 1983 beschlossene
Aktionsprogramm „Rettet den Wald“, die 1984 eingeführte einheitliche Waldschadenserhebung und die 1986
beschlossenen Maßnahmen zur Waldzustandsüberwachung auf europäischer Ebene. Daneben wird angeführt,
dass die Großfeuerungsanlagenverordnung von 1983,
die TA Luft von 1986, das Bundes-Immissionsschutzgesetz von 1993 und die 1996 verabschiedete Düngeverordnung mit dazu beigetragen haben, dass sich der Zustand unseres Waldes verbessert hat. Das alles ist
während unserer Regierungszeit geschehen. Ähnliches
können Sie nach fünf Jahren bis heute nicht nachweisen.
({0})
Entschuldigen Sie, dass ich es so hart formuliere: Im
Gegensatz zur rot-grünen Sprücheklopferei wurde in
Bayern ein Stickstoffprogramm zur Absenkung der
Stickoxidemissionen aufgelegt. Von 1996 bis heute wurden in Bayern über 60 Millionen Euro Fördermittel und
über 10 Millionen Euro zinsverbilligte Darlehen für die
Anschaffung moderner Ausbringungstechniken für landwirtschaftlichen Wirtschaftsdünger ausgegeben. Dies hat
mit dazu beigetragen, dass die Schadstoffeinträge in die
Luft stark abgesenkt werden konnten.
Die meisten Kraftwerke in Bayern und BadenWürttemberg wurden schon in den 70er-Jahren mit moderner Umwelttechnik ausgestattet. In den Ländern, in
denen Sie regiert haben, ist zu dieser Zeit überhaupt
nichts zugunsten des Umweltschutzes getan worden. In
Nordrhein-Westfalen sind solche modernen Techniken
erst 20 Jahre später eingeführt worden. In Bayern hatten
wir diese Dinge bereits eingeführt, bevor es die Grünen
überhaupt gab. Es ist auch so ein Märchen, dass erst die
Grünen den Umweltschutz entdeckt hätten. Lange bevor
es die Grünen überhaupt gab, hatten wir in Bayern schon
einen Umweltschutzminister. Wir hatten den ersten Umweltschutzminister weltweit. Das muss hier deutlich gesagt werden.
({1})
Eines möchte ich noch ansprechen: Es waren nicht nur
bestimmte Medien und Wissenschaftler, die Anfang der
80er-Jahre das Waldsterben angekündigt haben. Es gab
fast keine Veranstaltung der Grünen, in der das Thema
Waldsterben nicht auf der Tagesordnung stand. „Der
Wald stirbt“ war eine der unverantwortlichen Parolen zu
dieser Zeit. Ich bin froh, dass sich die Waldbesitzer davon nicht entmutigen ließen und dass sie die Pflege ihrer
angeblich hoffnungslos erkrankten Wälder nicht aufgegeben haben. Sie haben trotz der grünen Panikmache
weiter in die Wälder investiert. Damit haben sie einen
großen Beitrag dazu geleistet, dass die Situation unseres
Waldes trotz negativer Umwelteinflüsse nicht schlechter
geworden ist. Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern
und Forstbesitzern, die durch unermüdliche Arbeit unseren Wald und unsere Umwelt erhalten und damit in unsere Zukunft investieren. Sie sind es, die die Hauptarbeit
leisten.
({2})
Der Antrag der FDP-Fraktion, den wir unterstützen,
gibt erneut Gelegenheit, die ökologische und wirtschaftliche Bedeutung unseres Waldes hervorzuheben: Die
Nutzung und Bedeutung des Waldes, der in Deutschland
über ein Drittel der Fläche bedeckt, haben sich in den
letzten 100 Jahren massiv gewandelt. Wurde er früher
ausgebeutet und zurückgedrängt, so erkannte man später
und erkennt man auch heute immer mehr seine Bedeutung für den Schutz von Boden, Wasser, Luft und das
Klima insgesamt.
Ich freue mich darüber - ich kenne die Zahlen zwar
nicht für Deutschland, aber für Bayern habe ich sie im
Kopf -, dass in den letzten zehn Jahren durch Aufforstung und Neuanpflanzung zusätzlich über 100 000 Hektar
neuer Wald geschaffen wurde. Das heißt, der Wald in
Deutschland wird im Gegensatz zu anderen Ländern
nicht mehr vernichtet, sondern die Waldfläche wird ausgedehnt. Der FDP-Antrag ist meiner Ansicht nach dazu
geeignet, der Forstwirtschaft insgesamt wieder mehr
Wertschöpfung zu verschaffen; denn unsere Waldbauern
sind auf Wertschöpfung angewiesen, wenn sie auch in
Zukunft ihren Wald für die Allgemeinheit bewirtschaften sollen.
Herr Präsident, ich sehe, dass meine Redezeit abläuft.
In fast 13 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag bin ich heute das erste Mal der letzte Redner in einer
Sitzungswoche. Deshalb möchte ich allen anwesenden
Kolleginnen und Kollegen und allen Zuschauern ein
schönes Wochenende wünschen. Ich hoffe, dass Sie am
Wochenende einen Spaziergang im schönen deutschen
Wald möglich machen können.
Vielen Dank.
({3})
Ich kann mich diesem Wunsch nur anschließen.
Die Aussprache ist beendet. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/941 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 2. Juli 2003, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Folgen
Sie dem Rat des Kollegen Deß und gehen Sie im Wald
spazieren.
Die Sitzung ist geschlossen.