Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich bekannt, dass die Kollegin Dr. Erika Ober ihr Amt als
Schriftführerin niedergelegt hat. Die Fraktion der SPD
benennt als Nachfolgerin die Kollegin Gabriele
Lösekrug-Möller. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin
Lösekrug-Möller als Schriftführerin gewählt.
Im Beirat der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post ist von der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen die noch offene Position des stellvertretenden Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird die Kollegin
Ulrike Höfken vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist
die Kollegin Höfken als stellvertretendes Mitglied im
Beirat der Regulierungsbehörde bestimmt.
Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Lage auf dem Ausbildungssektor ({0})
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze,
Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: Stand der Beratungen des EUVerfassungs-Vertrages - Drucksache 15/1207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
3 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des
Arbeitsrechts ({2}) - Drucksache 15/1182 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt - Drucksache 15/1204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle,
Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit
- Drucksache 15/1225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP: Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt schaffen - Drucksache 15/590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia Klöckner, Uda
Carmen Freia Heller, Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Kennzeichnung allergener
Stoffe in Lebensmitteln vernünftig regeln - Drucksache 15/1227 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({7})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Horst Friedrich, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für die
Binnenschifffahrt - Drucksache 15/311 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
8 Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
({9})
Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/1161 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den Streiks
in den neuen Bundesländern und deren Auswirkung auf
den Wirtschaftsstandort Deutschland
10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Neumann
({10}), Günter Nooke, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: 50 Jahre Deutsche Welle
- Perspektiven für die Zukunft - Drucksache 15/1208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
11 Vereinbarte Debatte zur Änderung der Verpackungsverordnung
12 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verwendung von
Verwaltungsdaten für Zwecke der Wirtschaftsstatistiken ({12}) - Drucksache 15/520 - ({13})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Wirtschaft und Arbeit ({14})
- Drucksache 15/1229 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1237 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Kurt J. Rossmanith
Anja Hajduk
Jürgen Koppelin
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Ulrike
Flach, Daniel Bahr ({16}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Rechtssicherheit für biotechnologische
Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatentrichtlinie - Drucksache 15/1219 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
14 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften Drucksache 15/1206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem sollen folgende Tagesordnungspunkte abgesetzt werden: Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c - Agrarpolitik -, Tagesordnungspunkt 9 - Hochwasservorsorge -,
Tagesordnungspunkte 10 a und b - Beitragssätze in der
Kranken- und Rentenversicherung -, Tagesordnungspunkt 19, Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln.
Darüber hinaus ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c - Dienst- und Versorgungsbezüge - erst nach der Beratung des Zusatzpunktes 12 Verwaltungsdatenverwendungsgesetz - und den ohne
Aussprache vorgesehenen Tagesordnungspunkt 24 a Direktwahlakt - erst am Freitag nach der Beratung der
Novelle zur Handwerksordnung aufzurufen.
Weiterhin mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU zur Stärkung der Rechte der Opfer
im Strafprozess ({19})
- Drucksache 15/814 überwiesen:
Rechtsausschuss ({20})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Der in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur
Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter Thomae,
Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Altersgrenze
für Vertragsärzte beseitigen
- Drucksache 15/940 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({21})
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die
Fraktion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige
Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags mit dem
Titel „Steuersenkung vorziehen“ zu erweitern.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege CarlLudwig Thiele, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Das ganze Land debattiert
darüber, ob die dritte Stufe der Steuerreform auf das Jahr
2004 vorgezogen wird. Fernsehen, Zeitungen und Talkshows befassen sich mit diesem Thema - nur der Deutsche Bundestag tut es nicht.
({0})
Die Menschen sind durch den Streit in der Koalition
und durch den Streit zwischen Bund und Ländern über
die weitere Entwicklung zutiefst verunsichert. Die Menschen haben ein Recht darauf, zu erfahren, welche Steuern sie auch im nächsten Jahr zahlen müssen. Es ist ein
Skandal, dass dieses Recht der Bürger ignoriert wird.
Deshalb beantragt die FDP, die Tagesordnung der heutigen Sitzung um die Beratung des Antrags „Steuersenkung vorziehen“ zu erweitern.
({1})
Uns ist absolut unverständlich, warum sich die rotgrüne Koalition und die Union - ich habe gehört, auch
Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Union, wollen dem nicht zustimmen; ich kann es noch
nicht glauben, aber wir werden es nachher sehen - weigern, der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes, der
alle Menschen in unserem Lande bewegt, zuzustimmen.
Ist der Grund etwa, dass Finanzminister Eichel noch keinen Haushaltsentwurf 2004 vorgelegt hat? Oder ist der
Grund, dass immer noch kein Nachtragshaushalt 2003
eingebracht wurde? Oder ist der Grund, dass der Kanzler
in seiner Inszenierungsliebe dies selbst erst am Wochenende nach der Kabinettsklausur verkünden will? Wir
wissen es nicht. Niemand weiß es. Jeder möchte es wissen, auch die FDP möchte wissen, wie es mit unserem
Land weitergeht und wie die Entwicklung unseres Landes weiter gestaltet wird.
({2})
Das ist der Grund dafür, dass wir diese Debatte fordern.
Hätte Rot-Grün einen solchen Antrag eingebracht,
wäre er selbstverständlich behandelt worden. Warum gewährt man nicht auch der FDP das Recht, dass ein solcher Antrag von ihr hier und heute behandelt wird, wo er
behandelt werden muss und wohin er gehört?
({3})
Die Stimmung und die Lage in Deutschland sind leider verheerend. Die Zahl der Arbeitslosen steigt vermutlich auf ein Rekordniveau von fast fünf Millionen. Die
Zahl der Insolvenzen steigt. Die Lohnnebenkosten steigen auf ein Rekordniveau. Die Neuverschuldung wird in
diesem Jahr vermutlich auf 40 Milliarden Euro oder höher steigen. Im Gegenzug sinken die Zahl der Arbeitsplätze, das Wachstum und leider auch das Vertrauen in
die Zukunft. Das Vertrauen in eine verlässliche Politik,
die Planungssicherheit ermöglicht, ist durch den Zickzackkurs, den wir in den letzten Monaten erleben durften, endgültig verloren gegangen.
({4})
Deshalb müssen wir leider feststellen, dass Deutschland
wirtschafts- und finanzpolitisch vor einem Scherbenhaufen steht.
Neun Monate nach der Bundestagswahl ist von der
Agenda 2010, die eine strukturelle Wende in unserem
Land einleiten soll, lediglich die Gesundheitsreform in
erster Lesung im Deutschen Bundestag behandelt worden. Wir haben in unserem Land aber keine Zeit zu verlieren. Wir brauchen Wachstum. Trotz Rot-Grün brauchen wir dringend ein positives Signal für die
Entwicklung unseres Landes. Das Vorziehen der Steuerreform könnte zumindest ein erstes solches Signal sein.
({5})
Die FDP ist dagegen, dass das durch Neuverschuldung finanziert wird. Deshalb fordern wir in unserem
Antrag, die Staatsausgaben zu reduzieren. Wir schlagen
hierzu einen linearen Subventionsabbau um 20 Prozent
vor. Ferner benötigen wir dringend ein Haushaltssicherungsgesetz, damit auch gesetzlich gebundene Leistungen eingeschränkt werden können. Zudem ist nach wie
vor nicht einzusehen, warum der Bund mehr als 450 Unternehmen privatwirtschaftlich betreibt. Es ist nicht die
Aufgabe des Staates, diese Unternehmen zu betreiben.
({6})
Diese Unternehmen können privatisiert werden. Das ist
ordnungspolitisch vernünftig und so bekommen wir
auch dringend notwendiges Geld in die Kasse.
Zudem haben wir eine Diskussion über die Arbeitszeit in unserem Land. Die 35-Stunden-Woche in den
neuen Bundesländern ist in dieser Situation absurd. Deshalb appellieren wir an Arbeitnehmer und an Arbeitgeber, durch eine Verlängerung der bezahlten Arbeitszeit
zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts beizutragen.
Alles, was das Bruttoinlandsprodukt stärkt, stärkt unser
Land und stärkt auch die Finanzkraft der öffentlichen
Kassen. Deshalb müssen wir alles dazu Notwendige beitragen.
({7})
Mit diesen mutigen Schritten wäre das Vorziehen der
Steuerreform gegenfinanziert und wäre die Entlastung
für die Bürger auch tatsächlich spürbar. Lassen Sie uns
doch bitte alle daran arbeiten, dass zumindest dieses Zeichen kurzfristig gesetzt wird, ohne dass die Neuverschuldung erhöht wird oder den Bürgern an anderer
Stelle in die Tasche gegriffen wird! Ich bitte Sie, dem
Geschäftsordnungsantrag der FDP zuzustimmen, damit
diese Diskussion heute im Deutschen Bundestag stattfinden kann. Hier müssen wir später darüber entscheiden.
Deshalb sollten wir dieses Thema heute auch hier diskutieren.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPDFraktion, das Wort.
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wieder
einmal Zeit für eine Geschäftsordnungsdebatte, beantragt von der FDP, unsinnig wie immer und überflüssig
wie ein Kropf.
({0})
Sie versuchen, uns hier mit solchen Dingen in einer
Weise zu überziehen, die der Sache nicht angemesssen
ist.
({1})
Herr Thiele, ich nehme Ihren Hinweis, dass ganz
Deutschland über das Vorziehen der Steuerreform redet,
({2})
gern auf. Aber das verlangt gleichzeitig ein solides Umgehen mit diesem Thema. Das ist bei Ihnen nun wahrhaftig nicht zu erkennen.
({3})
Glauben Sie denn, dass die Gegenfinanzierung für
das, was hierdurch hervorgerufen würde, nämlich ein
weiterer Steuerausfall in Höhe von 18 Milliarden Euro
für den Haushalt 2004,
({4})
einfach so aus dem Handgelenk geschüttelt werden kann
an einem Tag wie diesem ohne jede Vorbereitung bei Ihnen und auch bei anderen hier im Haus? Das geht doch
nicht zusammen!
({5})
Ich will Ihnen einmal die Widersprüchlichkeit Ihres
Antrags aufzeigen: Auf der einen Seite schreiben Sie,
Sie hätten zu Recht gegen das Steuervergünstigungsabbaugesetz gestimmt, weil so Steuererhöhungen hätten
vermieden werden können. Auf der anderen Seite schlagen Sie aber vor, die Subventionen pauschal um
20 Prozent zu kürzen. Das ist doch auch eine Steuererhöhung in dem Sinne, wie Sie sie verstehen. Das passt
doch alles nicht.
({6})
Das ist also ein Schnellschuss, wie er gerade diesem
Thema nicht angemessen ist.
({7})
Wir meinen, dass sorgfältige Beratungen nötig sind und
wir uns darüber auf andere Weise unterhalten sollten.
Um auch noch auf den Zeitfaktor einzugehen, Herr
Thiele: Was hat denn die FDP in dieser Woche zustande
gebracht? Auf der Tagesordnung steht ein Antrag, die
Waldbesitzer in Deutschland zu schützen und die mittelständische Holzwirtschaft zu schonen. Das ist das Einzige, was von Ihrer Seite in dieser Woche auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Wenn Sie das, was Sie heute
Morgen in der Geschäftsordnungsdebatte fordern, selber
ernst nehmen würden, hätten Sie einen entsprechenden
Antrag vor drei Wochen formulieren können. Dann wäre
heute bzw. in dieser Woche eine ernsthafte Debatte darüber möglich. Sie sind nicht in der Lage, solche Dinge
auf den Weg zu bringen. Deswegen lassen wir uns auch
nicht mit einem Schnellschuss von Ihnen traktieren, um
irgendetwas aus dem Handgelenk heraus zu beraten.
({8})
Ich will gar nicht weitere Vokabeln wie „lächerlicher
Aktionismus“ oder Ähnliches verwenden, womit die
Zeitungen so etwas ab und zu beschreiben, sondern appelliere an Sie: Nehmen Sie die Sache so ernst, wie Sie
es hier eben dargestellt haben,
({9})
und versuchen Sie mit uns zu einem Einvernehmen über
den Weg zu kommen, über den wir ja in den nächsten
Tagen beraten werden! Sie wissen ganz genau, dass das
Kabinett am Wochenende in Klausur geht. Am Ende
werden Vorschläge unterbreitet werden, wie man mit
diesem Thema umgeht. Das ist der angemessene Weg.
Geben Sie doch allen Beteiligten erst einmal die Möglichkeit, sich mit den Dingen auseinander zu setzen und
Wilhelm Schmidt ({10})
eine solide Finanzierung auf den Weg zu bringen! Damit
sorgen Sie dafür, dass wir darüber hier im Deutschen
Bundestag angemessen diskutieren können.
Wir tragen diesen Antrag aus den eben genannten
Gründen nicht mit und bewahren Sie davor, eine
Schnellschusspolitik zu betreiben, indem wir diesen Antrag ablehnen.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Intention des Antrages der FDP ist ja völlig
richtig.
({0})
Auch wir sagen: Steuererhöhungen sind in der jetzigen
Situation Gift und Steuersenkungen können helfen, den
Standort Deutschland wieder voranzubringen.
({1})
Trotzdem unterstützen wir den Antrag der FDP, dieses Thema auf die heutige Tagesordnung zu setzen,
nicht,
({2})
und zwar aus einem einzigen Grund: Wir wissen, dass
die Regierung in Klausur geht. Das ist normalerweise
eine Maßnahme, die in Deutschland als Bedrohung empfunden wird, wenn man bedenkt, was dabei bisher herauskam.
({3})
Wir sind aber der Auffassung, dass wir einmal abwarten
sollten, was an diesem Wochenende herauskommt, Herr
Finanzminister. Wir sind auch der Auffassung, dass diejenigen, die ständig herumtönen, was gemacht werden
soll, wie der Bundeskanzler, der nach dem Motto verfährt: „Man kann es so oder so machen, ich bin für so“,
sagen sollen, wie sie es machen wollen. Sie sollen in
Vorlage treten. Das erwarte ich.
({4})
Herr Finanzminister, ich freue mich sehr, dass Sie
noch lächeln. Ich habe nämlich in den letzten Tagen in
der Zeitung nur noch Bilder gesehen, wo Ihnen das Lachen vergangen war. Lachen Sie heute noch! Am Wochenende wird es wohl für Sie angesichts des Drucks,
den man auf Sie ausübt, nicht so angenehm.
Wir erwarten nächste Woche eine klare Vorlage. Wir
haben deswegen unseren Antrag, der sich mit dem
Thema Steuer befasst, für nächste Woche auf die Tagesordnung gesetzt, Herr Kollege Schmidt, damit die Regierung dann vorlegen kann, was sie machen will.
Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was wir erwarten:
Erstens. Wir sind für ein Vorziehen der Steuerreform.
Damit aber wieder Vertrauen in diesem Land herrscht,
müssen zunächst einmal die notwendigen Strukturreformen am Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik und in
der Rentenpolitik vorgenommen werden.
({5})
Wir wollen, dass hierzu erste Vorlagen erarbeitet werden.
Zweitens erwarten wir, dass die Bundesregierung,
wenn sie einen Vorschlag macht, wie eine solche Steuerreform umgesetzt werden kann, nicht wie in den letzten
Jahren nur an sich denkt, Herr Eichel, sondern auch an
die Finanzsituation der Kommunen und der Länder, die
dies mit finanzieren müssen.
({6})
In diesem Zusammenhang, Herr Finanzminister, wäre es
ausgesprochen hilfreich gewesen, wenn Sie endlich einmal mit der Gemeindefinanzreform vorangekommen
wären, einem Projekt, auf dem Sie brüten und bei dem
dennoch kein Ergebnis herauskommt. Dies macht die
gesamte Diskussion um die Steuerreform so schwierig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
also allen Grund, uns nächste Woche in einer Debatte
über die Zukunft Deutschlands intensiv zu unterhalten.
Wir fordern von der Bundesregierung ein klares Konzept
zur Steuersenkung, Vorschläge, wie es finanziert werden
kann, und vor allem eine klare Aussage, was am Arbeitsmarkt zu geschehen hat. Auch dazu haben wir konkrete
Vorlagen gemacht; darüber werden wir heute noch diskutieren.
Ich nenne ein Beispiel für einen Bereich, bei dem Sie
ebenfalls nicht vorankommen. Auch der Bundeskanzler
sagt: Was jetzt in den neuen Ländern passiert - der
Streik, die Diskussion um eine Verkürzung der Arbeitszeit, obwohl eine Verlängerung notwendig wäre -, ist
nicht hilfreich. Wir haben darauf eine Antwort: betriebliche Bündnisse für Arbeit. Machen Sie mit bei diesem
Thema! Dann kommen wir in unserem Land voran.
({7})
Ich erteile das Wort den Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzte Kollegen von der FDP! Sie müssen wirklich in
einer tiefen Sinnkrise stecken, wenn Sie diese Geschäftsordnungsdebatte brauchen, um ein bisschen Aufmerksamkeit für Ihre Fraktion zu erheischen.
({0})
Volker Beck ({1})
Besonders erklärungsbedürftig ist - dafür habe ich
von Ihnen, Herr Thiele, keinen guten Grund gehört -,
warum wir uns jetzt mit diesem Antrag beschäftigen sollen. Das Kabinett wird sich am Wochenende mit dieser
Frage beschäftigen und dann nächste Woche unsere Vorstellungen zur Finanzierung des Vorziehens der Steuerreform präsentieren.
({2})
Wir haben gestern in der Geschäftsführerrunde vereinbart - hören Sie einmal zu, Herr Gerhardt; vielleicht hat
Herr van Essen Ihnen dies nicht erzählt -, dass wir über
dieses Thema am nächsten Freitag im Deutschen Bundestag debattieren werden.
({3})
Warum es dann heute so eilbedürftig ist, das müssten Sie
jetzt doch einmal erklären. Sie schreien so laut, weil Sie
es nicht erklären können.
({4})
Ich möchte aber auch den Erkenntnisgewinn der Opposition, und zwar beider Fraktionen, durchaus würdigen. Wir haben gehört, dass die Opposition das Vorziehen der Steuerreform solide finanzieren will. Das finden
wir auch in beiden Anträgen, bei der CDU/CSU als
Wunsch, während die FDP sogar einen Vorschlag gemacht hat. Im Wahlkampf haben wir immer noch gehört,
das finanziere sich alles selbst, wir müssten Steuern senken, Steuern senken, Steuern senken, koste es, was es
wolle. Ich meine, in einer solchen Debatte sollte man
den Fortschritt durchaus würdigen und feststellen. Das
hilft den weiteren Diskussionen hier im Land.
({5})
Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
Ihr Antrag ist weder in der Sache glaubwürdig noch konzeptionell überzeugend. Sie bejammern die viel zu hohe
Steuerbelastung. Dazu ist zunächst einmal festzustellen:
Gegenwärtig ist unser entscheidendes Problem die viel
zu hohe Abgabenbelastung des Faktors Arbeit. Da müssen wir ran; das tun wir mit den Strukturreformen im
Rahmen der Agenda 2010, die wir auch heute und morgen hier im Deutschen Bundestag beraten und wozu die
nächsten Gesetzentwürfe in der kommenden Woche hier
behandelt werden. Deshalb sind wir auf einem guten
Weg.
Ein Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform
kann einen wichtigen wirtschaftlichen Impuls setzen,
obwohl wir sagen müssen: Durch die Steuerreform dieser Koalition ist Deutschland hinsichtlich der Steuerbelastung in Europa relativ gut platziert.
({6})
Das haben wir in den letzten Jahren erreicht. Wenn wir
bei diesen Schritten jetzt noch etwas an Geschwindigkeit
zulegen, wird uns das bei der wirtschaftlichen Entwicklung weiterhelfen. Aber wir sollten nicht an der falschen
Stelle jammern, sondern die Probleme bei den Hörnern
packen. Das tun wir mit der Agenda 2010.
({7})
Meine Damen und Herren, das Entscheidende beim
Vorziehen der Steuerreform ist die Frage der Finanzierung. Wenn diejenigen, die das Steuersubventionsabbaugesetz ausgebremst und gerupft haben, nun als Helden
des Subventionsabbaus durch die Lande ziehen, nimmt
ihnen das wirklich niemand ab: niemand im Haus, niemand bei der Presse und niemand in der Bevölkerung.
({8})
Herr Steinbrück und Herr Koch haben in diesem Prozess von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat die
große Verantwortung übertragen bekommen, ein schlüssiges sowie in Bundesrat und Bundestag mehrheitsfähiges Konzept vorzulegen. Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt.
Aber der Vorschlag der FDP, alle Zuwendungen, alle
Subventionen des Staates mit dem Rasenmäher gleichermaßen um 20 Prozent zu kürzen, ist so simpel wie
dumm und verkehrt.
({9})
Sie würden auf diese Weise wichtige Mittel für die Forschung, zum Beispiel Zuwendungen an die Deutsche
Forschungsgemeinschaft,
({10})
in gleichem Maße streichen wie die Eigenheimzulage.
Ich finde, wir müssen zeigen, dass wir auch beim Subventionsabbau gestalten, dass wir die Zukunftspotenziale unserer Gesellschaft weiter entwickeln und schonen
({11})
und dass wir das, was von gestern und vorgestern ist,
was umweltschädlich und veraltet ist, energisch anpacken und abbauen.
Zum Thema Eigenheimzulage will ich Ihnen eines sagen:
({12})
Deutschland ist in weiten Teilen des Landes mit ausreichendem Wohnraum versorgt. Dass wir die Menschen
antreiben, weiter Immobilien anzuschaffen, indem wir
das staatlich subventionieren, bedeutet eine große Fehllenkung von staatlichen Mitteln.
({13})
Wir müssen der Bevölkerung auch angesichts des demographischen Wandels sagen, dass es nicht gesichert ist,
Volker Beck ({14})
dass die Immobilien die Wertsteigerung bringen, die ihr
eine Alterssicherung garantiert.
Deshalb müssen wir dieses Thema angehen. Wir
brauchen wahrscheinlich einen linearen Subventionsabbau. Wir brauchen aber gleichermaßen einen energischen Zugriff auf das, was veraltet und nicht mehr zeitgemäß ist.
Noch einen letzten kollegialen Hinweis an die Kollegen von der FDP. Wenn es Ihnen mit der Aktualität dieses Themas wirklich ernst gewesen wäre, dann hätten
Sie das Instrument der Aktuellen Stunde nutzen können.
Sie haben vorgezogen, heute eine Aktuelle Stunde zum
Thema Tarifautonomie und Streiks in den neuen Ländern zu beantragen. Auf diese Weise haben Sie Ihre Munition verschossen und beweisen, dass es Ihnen mit der
Dringlichkeit dieses Debattenpunktes nicht wirklich
ernst ist,
({15})
sondern dass es Ihnen um Klamauk geht. Offensichtlich
kommen Sie aus der Rolle des Klamaukmachens einfach
nicht mehr heraus.
({16})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Geschäftsordnungsantrag der Fraktion der FDP? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist ge-
gen die Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
3 a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung zu den Ergebnissen des Europäischen Ra-
tes in Thessaloniki am 20./21. Juni 2003
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der
Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen,
der Republik Slowenien und der Slowakischen
Republik zur Europäischen Union
- Drucksachen 15/1100, 15/1200 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Daniel Bahr ({1}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({2}) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung
- Drucksache 15/1112 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({4}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Peter Hintze, Peter
Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe,
demokratische und handlungsfähige Europäische Union
- Drucksachen 15/918, 15/1138 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({5})
Anna Lührmann
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({6}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel
Bahr ({7}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion ({8}) über den Europäischen Verfas-
sungskonvent vorantreiben
- Drucksachen 15/942, 15/1139 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hedi Wegener
Rainder Steenblock
f) Beratung des Berichts des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union
({9}) gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Vermerk des Präsidiums für den Konvent
Organe - Entwurf von Artikeln für Titel IV
des Teils 1 der Verfassung CONV691/03
- Drucksachen 15/1041 Nr. 3.1, 15/1163 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({10})
Anna Lührmann
Präsident Wolfgang Thierse
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zum Stand der Beratungen des EU-Verfassungsvertrages
- Drucksache 15/1207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Zur Regierungserklärung liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Europäische Union steht vor einer der wichtigsten Weichenstellungen ihrer Geschichte. In nur knapp einem Jahr
werden zehn neue Mitglieder aufgenommen. Damit wird
die Teilung unseres Kontinents endgültig aufgehoben.
Der Konvent für eine europäische Verfassung hat seine
Arbeiten vor wenigen Tagen weitestgehend abgeschlossen. Der Weg hin zur Erweiterung und zu einem nötigen
und grundlegenden Integrationsfortschritt in der Europäischen Union ist somit vorgezeichnet.
Vor diesem Hintergrund war der Europäische Rat in
Porto Carras bei Thessaloniki vom 19. bis 21. Juni ein
wichtiges Ereignis. Erstmals nach der Unterzeichnung
der Beitrittsverträge saßen die zehn künftigen Mitglieder
mit am Tisch und waren an den Verhandlungen beteiligt.
Die Erweiterung wird damit immer sichtbarer zur Realität. Die letzte Etappe auf dem Weg zu einer Europäischen Verfassung wurde in Thessaloniki eingeleitet.
Sowohl im Konvent als auch beim Europäischen Rat
- das war keine Selbstverständlichkeit - haben die künftigen Mitglieder schon vollkommen gleichberechtigt
mitgearbeitet. Dies zeigt: Es gibt zumindest für die erweiterte Union - das gilt für den Konvent genauso wie
für den Europäischen Rat - keine Unterscheidung zwischen einem neuen und einem alten Europa. Es gibt nur
ein gemeinsames Europa.
({0})
Man kann jetzt mit Fug und Recht sagen, dass sich
unter der griechischen Präsidentschaft die EU nach
vorne bewegt hat. Der Rat von Thessaloniki verlief für
Europa sehr erfolgreich. Gerade in Deutschland können
wir mit den Ergebnissen zufrieden sein. Viele unserer
Anliegen wurden berücksichtigt und zahlreiche unserer
Positionen durch den Europäischen Rat in den Schlussfolgerungen bestätigt.
Valéry Giscard d'Estaing, der Präsident des Konvents
für eine europäische Verfassung, hat nach 16 Monaten
Arbeit der griechischen Ratspräsidentschaft den Verfassungsentwurf übergeben. Was noch vor wenigen Jahren
utopisch zu sein schien, ist heute Realität: der Entwurf
einer Verfassung für Europa, erarbeitet von einem europäischen Konvent, der zu mehr als zwei Dritteln aus Parlamentariern bestand.
Auf dem Weg zum Jahrhundertprojekt einer europäischen Verfassung sind wir durch den Konvent einen
entscheidenden Schritt vorangekommen. Einen solchen
Konvent - zusammengesetzt aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments, der Nationalparlamente, der nationalen Regierungen und der Europäischen Kommission hat es noch nie gegeben. Ich denke, allein diese Zusammensetzung spricht schon für sich. Dass dieser Konvent
noch ein erfolgreiches Ergebnis hervorgebracht hat, ist
meines Erachtens in der Tat eine historische Leistung.
({1})
Ein Dank für diese Leistung gebührt an erster Stelle
selbstverständlich dem Präsidenten des Konvents,
Valéry Giscard d’Estaing, aber auch allen anderen Beteiligten.
16 Monate wurde hart miteinander gerungen; Monate
intensiver Verhandlungen und Arbeit liegen hinter uns.
Bei 28 beteiligten Staaten und noch vielen weiteren Akteuren ist jedoch klar: Ein Ergebnis, das gleichermaßen
alle Wünsche und Vorstellungen berücksichtigt, ist per
se nicht denkbar. Das Ergebnis muss vielmehr ein Kompromiss sein. Meines Erachtens ist der vorliegende Entwurf ein sehr gut ausbalancierter Kompromiss; denn es
handelt sich keinesfalls um ein Minimalergebnis auf
kleinstem gemeinsamen Nenner. Es handelt sich vielmehr um einen fairen Interessenausgleich, der vor allen
Dingen - das war der schwierigste Punkt - bis zum
Schluss die Belange der kleinen wie der großen Mitgliedstaaten in Betracht zieht.
({2})
Bei der künftigen europäischen Verfassung geht es
um zwei zentrale Aspekte. Zum einen geht es um ein
Mehr an Transparenz, an Bürgernähe und an Demokratie
in Europa. Hier sieht der Entwurf unter anderem eine
klare Kompetenzordnung vor. Lassen Sie mich an dieser
Stelle die Subsidiaritätsklausel erwähnen. In der Subsidiaritätsklausel wird gleichzeitig ein Verfahren definiert,
in dem die Kontrollfunktionen der nationalen Parlamente im europäischen Gesetzgebungsverfahren festgeschrieben sind. Das heißt, es liegt in den Händen der
europäischen Nationalparlamente, mit dem Subsidiaritätsgebot im Gesetzgebungsverfahren tatsächlich ernst
zu machen.
Neben der klaren Kompetenzordnung, die ich gerade
erwähnt habe, will ich noch die Gewährleistung bürgernaher Entscheidungen, ein neues Bürgerbegehren, das es
EU-Bürgern ermöglicht, die Kommission zu einem Gesetzesvorschlag aufzufordern, die enge Einbeziehung
der nationalen Parlamente, die Stärkung der Rechte und
damit - ich will das hinzufügen - die größere Verantwortung des Europäischen Parlaments sowie die Festigung
der Europäischen Union als Wertegemeinschaft nennen.
Zum anderen geht es um die Verbesserung der
Handlungsfähigkeit der Union. Das institutionelle
Dreieck in der erweiterten Union der 25 und mehr wird
insgesamt gestärkt, dabei vor allen Dingen diejenigen
Institutionen, die das Gemeinschaftsinteresse vertreten:
das Europäische Parlament und die Kommission.
Darüber hinaus werden vorgeschlagen: Instrumente
für eine handlungsfähigere Außen- und Sicherheitspolitik unter Einschluss eines europäischen Außenministers,
sodass es eine klarere europäische Stimme nach außen
geben wird, die Ausweitung der Entscheidungen mit
qualifizierter Mehrheit und nicht zuletzt die spürbare
Vereinfachung aller Instrumente und Verfahren.
Beides, mehr Bürgernähe und Demokratie sowie
eine größere Handlungsfähigkeit, waren Kernanliegen
Deutschlands bei den Verhandlungen. Daher können wir
mit dem jetzt offiziell vorliegenden Resultat zufrieden
sein. Deutschland kann über das Ergebnis nur schwerlich klagen. Das zeigen auch die positiven Reaktionen
bei uns im Land. Wir freuen uns, dass der Konventsentwurf - mit wenigen Ausnahmen - auf allgemeine Zustimmung trifft.
({3})
Ich möchte hier ganz besonders betonen, wie gut die
parteiübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der deutschen Delegation und auch zwischen Bund, Ländern und
den Regionalvertretern gewesen ist. Ganz besonders
möchte ich hervorheben, dass Ministerpräsident Teufel
als Konventsvertreter des Bundesrates und die übergroße
Mehrheit der deutschen Länder das Ergebnis sehr positiv
aufgenommen haben. Wir haben im Konvent mit ihnen
ebenso wie mit den Vertretern des Bundestages, Professor Jürgen Meyer und Peter Altmaier, eng und, wie ich
finde, sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Ich möchte
ihnen allen dafür danken.
({4})
Meine Damen und Herren, der Entwurf der europäischen Verfassung fand auch in Thessaloniki große
Zustimmung. Die Staats- und Regierungschefs der EUStaaten und der künftigen Mitglieder haben das Dokument als gute Grundlage für die Regierungskonferenz
bezeichnet. Das heißt nicht, dass es bei einigen Mitgliedstaaten keine Vorbehalte zu dem einen oder anderen
Punkt gibt. Aber wir dürfen jetzt nicht zulassen, dass die
in der Öffentlichkeit ausgehandelten Ergebnisse des
Konvents hinter den verschlossenen Türen der Regierungskonferenz wieder infrage gestellt werden.
({5})
Kurz, intensiv und ergebnisorientiert, so sollte der
Verlauf der Regierungsberatungen sein. Es ist daher folgerichtig, dass die Konferenz nur auf politischer Ebene
durchgeführt wird. Der Kompromiss, der im Konvent als
Paketkonsens erzielt wurde, muss als Ganzes Bestand
haben. Lassen Sie mich auch das klarstellen: Wer den
Konsens in einem Punkt öffnet, trägt die Verantwortung
dafür, einen neuen Konsens herbeizuführen. Ich wage
die Prophezeiung: Das wird alles andere als einfach werden.
Wir haben in Thessaloniki beschlossen, die Regierungskonferenz im Oktober dieses Jahres einzuberufen.
Sie soll ihre Arbeiten sobald wie möglich abschließen.
Denn wir müssen den europäischen Bürgerinnen und
Bürgern vor den Wahlen zum Europäischen Parlament
im Juni 2004 genügend Zeit lassen, sich mit den Ergebnissen vertraut zu machen. Wir haben weiter beschlossen, dass die zehn neuen Mitgliedstaaten gleichberechtigt an der Regierungskonferenz teilnehmen werden. Die
Beitrittskandidaten Rumänien, Bulgarien und die Türkei
werden einen Beobachterstatus besitzen.
Wir sind überzeugt, dass die Regierungskonferenz zu
einem schnellen und zufrieden stellenden Abschluss
kommt. Die europäische Verfassung, unsere europäische
Verfassung, ist ein Jahrhundertprojekt. Sie muss den
Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile Europas verdeutlichen, ihnen Vertrauen in die Europäische Union vermitteln und die Europäische Union insgesamt nach innen
und außen handlungsfähiger machen.
Der Gipfel von Thessaloniki hat gezeigt: Die von den
Skeptikern immer wieder totgesagte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU ist sehr lebendig.
Auf dem Rat wurde eine Vielzahl von außenpolitischen
Themen behandelt. Wir konnten dabei beachtliche Fortschritte verzeichnen.
Ein Kernpunkt dabei war die Sicherheitsstrategie
der Europäischen Union. Die Außenminister hatten dazu
schon im Mai die Initiative ergriffen und den Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik beauftragt,
eine solche Strategie zu erarbeiten. In Thessaloniki hat
Javier Solana dem Rat einen ersten Entwurf mit dem
Titel „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ vorgestellt. Wir waren uns alle einig: Es ist ein viel versprechendes Dokument geworden; Solana hat eine hervorragende Arbeit geleistet.
({6})
Zugrunde liegt diesem Dokument ein umfassender Sicherheitsbegriff, der die ganze Bandbreite möglicher Risiken und Gefahren für die europäische Sicherheit und
Stabilität beschreibt. Die neuen Bedrohungen sind nicht
rein militärischer Natur. Deshalb kann gegen sie auch
nicht rein militärisch vorgegangen werden. Diese Erfahrung machen wir ja gegenwärtig.
Diesem umfassenden Sicherheitsbegriff entspricht daher ein breites Spektrum von Mitteln zum Krisenmanagement und vor allen Dingen auch zur Prävention.
Auf diesen Ansatz haben wir besonderen Wert gelegt. Es
kommt darauf an, Konflikte und Krisen durch geeignete
Maßnahmen schon im Vorfeld zu entschärfen oder gar
zu verhindern.
({7})
Ziel der Europäischen Union muss bleiben, noch vor
Krisenbeginn angemessen zu reagieren. Der diplomatischen Prävention muss daher höchster Stellenwert eingeräumt werden.
Die Bedrohungsanalyse der Sicherheitsstrategie
Solanas macht drei Hauptgefahren fest: Terrorismus,
Massenvernichtungswaffen und die aus gescheiterten
Staaten resultierenden Gefahren sind die zentralen Bedrohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen. Diesen Herausforderungen muss durch eine reaktionsfähigere
Europäische Union begegnet werden, die aktiver und kohärenter handelt.
In Zukunft muss die EU bei Fehlentwicklungen früher und entschiedener aktiv werden. Aber an dieser
Stelle sei erneut deutlich gemacht: Auch wenn wir unter
den Zwangsmaßnahmen militärische im Grundsatz nicht
ausschließen können, müssen sie letztes, müssen sie allerletztes Mittel bleiben. Sie dürfen nur in Übereinstimmung mit Art. 51 und Kap. VII der Charta der Vereinten
Nationen erfolgen - und nur dann, wenn andere Maßnahmen nicht zum Ziel geführt haben. Dies war und ist
auch die Position der Bundesregierung.
({8})
Javier Solana wurde in Thessaloniki von den Staatsund Regierungschefs beauftragt, die Strategie auszuarbeiten und weiterzuentwickeln, und zwar in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und der Kommission.
Bis zum kommenden Gipfel Ende des Jahres in Rom
sollen die Arbeiten dazu abgeschlossen werden. Nach
der ermutigenden Aufnahme, die das Dokument in Thessaloniki fand, sind wir zuversichtlich, dass dem Hohen
Repräsentanten der Europäischen Union dies gelingen
wird.
Meine Damen und Herren, in Thessaloniki haben wir
uns auch mit dem Konflikt im Nahen Osten befasst. Die
EU ist ein Teil des Quartetts und war an der Abfassung
der Roadmap ganz wesentlich beteiligt. Lassen Sie
mich das sagen: Angesichts dessen, was die viel gescholtene Außenpolitik der Europäischen Union in der
jüngsten Vergangenheit im Nahen Osten geleistet hat, ist
ihre Leistungsfähigkeit bereits heute so schlecht nicht.
Umso wichtiger ist es, dass wir sie weiter verbessern.
({9})
Die so genannte Nahost-Roadmap hätte es ohne die
europäische Initiative nicht gegeben. Die Reform der palästinensischen Behörde und damit die neue Regierung
hätte es ohne den nimmermüden Einsatz vor allen Dingen des jetzt ausscheidenden Sonderbeauftragten Miguel
Moratinos nie gegeben, genauso wenig den neuen Premierminister. Deswegen möchte ich auch von dieser
Stelle aus Miguel Moratinos, dem Nahostbeauftragten,
recht herzlich für die vielen Jahre nie ermüdenden Einsatzes und nie ermüdender Arbeit danken. Er hat ganz
Entscheidendes geleistet.
({10})
Meine Damen und Herren, dasselbe gilt für die Heranführungsstrategie für die Türkei und für die Assoziationsabkommen, die wir mit Ausnahme von Syrien mit
allen arabischen Anrainerstaaten, aber auch mit Israel
abgeschlossen haben. Das gilt für den Mittelmeerprozess
mit den südlichen Anrainerstaaten - das einzige Format
übrigens, wo sich selbst in den krisenhaftesten Zeiten Israelis und Araber getroffen haben. Das darf man nicht
vergessen. Erst wenn dieser Prozess nicht mehr durch
den Konflikt im Nahen Osten blockiert wird, wird er
seine eigentliche Dynamik entfalten und das Mittelmeer
zu einem Raum des wirtschaftlichen Wachstums, der sozialen Sicherheit, des Friedens und des Wohlstandes entwickeln können.
Der Golf-Kooperationsrat, aber auch - das stellen wir
jetzt fest - die Verhandlungen mit dem Iran sind gerade
in dieser kritischen Situation, in der es zu Recht eine Debatte über das iranische Atomprogramm gibt, Instrumente europäischer Außenpolitik. Die Tatsache, dass wir
durch die Verfassung neue institutionelle Zusammenschlüsse und eine entsprechende Repräsentanz schaffen,
verdeutlicht, welche Bedeutung diese Politik für unsere
Sicherheit im 21. Jahrhundert tatsächlich gewinnen
kann.
({11})
Zurück zum Nahostkonflikt. Die Staats- und Regierungschefs waren sich in Thessaloniki einig, dass die
Roadmap eine neue und wichtige Chance darstellt, den
Frieden in dieser Region herbeizuführen. Damit diese
Chance nicht verpasst wird, muss die Roadmap innerhalb ihrer klaren zeitlichen Vorgaben umgesetzt werden.
Die Umsetzung ist der entscheidende Punkt. Darüber
war man sich in Thessaloniki einig. Andauernde Gewalt
vor Ort darf die Umsetzung nicht gefährden.
Der Rat begrüßte zudem ausdrücklich das persönliche
Engagement von Präsident Bush für die Roadmap und
unterstrich die Bereitschaft der Europäischen Union, zu
ihrer Umsetzung umfassend beizutragen.
Die Erweiterung der Europäischen Union - wie oft
haben wir in diesem Hause darüber gestritten; nicht über
die Sache als solche, sondern eher über die Zeitpläne, die
Ernsthaftigkeit und Ähnliches? - wird mit der Aufnahme
der zehn neuen Länder im nächsten Jahr noch nicht abgeschlossen sein. In Thessaloniki haben wir Rumänien
und Bulgarien nochmals bestätigt, dass unser Ziel, sie
2007 in die Union aufzunehmen, weiterhin Bestand hat.
Jetzt sind diese beiden Länder am Zuge. Sie bestimmen
mit ihren Reformen und - das ist noch wichtiger - mit
ihren innerstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen selbst
das Tempo ihres Beitrittsprozesses. Wir glauben, dass sie
es bis zu dem geplanten Aufnahmetermin tatsächlich
schaffen können, die Voraussetzungen für eine Aufnahme zu erfüllen, wenn sie sich ernsthaft engagieren.
Auf dem Westbalkangipfel, der im Anschluss an den
Rat stattgefunden hat, bekräftigten die Staats- und Regierungschefs der EU nochmals die europäische Perspektive aller Länder in dieser Region: Es liegt in der
Hand dieser Staaten, die Kriterien zu erfüllen, die ihnen
die Perspektive eines Beitritts eröffnen. Politische
Preise, politische Kulanzentscheidungen, darf und wird
es dabei aber nicht geben; denn es handelt sich um objektive Kriterien, die erfüllt werden müssen. Das wurde
im Beschluss von Helsinki für den Beitrittsprozess insgesamt fixiert. Ich finde, das war ein sehr kluger und zukunftsweisender Beschluss.
({12})
Wir wollen die Beziehungen der Länder des westlichen Balkans zur EU weiter intensivieren, bis hin zur
Perspektive einer späteren Mitgliedschaft. Die Europäische Union ist bereit, einen substanziellen Beitrag zur
Stabilisierung auf dem Balkan zu leisten. Dabei gilt für
die Länder dieser Region: Eine erfolgreiche Reformpolitik im Inneren ist die Voraussetzung für eine engere Kooperation mit den Staaten der Europäischen Union.
({13})
Die Schaffung eines starken und handlungsfähigen
Europas entspricht eindeutig unseren nationalen Interessen; denn einzelne europäische Staaten, selbst die größten, können weder für sich alleine noch in wechselnder
Allianz ihre Interessen auf Dauer wirksam vertreten. Nur
gemeinsam, als Europäische Union, haben die europäischen Staaten die Chance, das 21. Jahrhundert nachhaltig mit zu gestalten. Gerade die Krisen der jüngsten Zeit
haben gezeigt, dass dies die machtpolitische Wirklichkeit des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmacht.
Thessaloniki war ein wichtiger Schritt hin zu diesem
starken und handlungsfähigen Europa. Wir sind zuversichtlich, dass wir auf diesem Weg weiter voranschreiten
werden.
Ich danke Ihnen.
({14})
Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des
Landes Baden-Württemberg, Erwin Teufel.
({0})
Erwin Teufel, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Aus der Sicht des Landes Baden-Württemberg,
das in seiner Geschichte unter den deutsch-französischen
Kriegen und den europäischen Bürgerkriegen ganz besonders gelitten hat, bin ich ein überzeugter Europäer.
Europa ist für mich zuerst eine Friedensordnung. Weil
ich will, dass das 21. Jahrhundert so aussieht wie die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht wie die
erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, setze ich mich aus ganzer Überzeugung für Europa ein.
({2})
In diesem Zusammenhang ist die Erweiterung der Europäischen Union um zehn osteuropäische und südosteuropäische Länder ein großer Fortschritt für eine umfassende Friedensordnung.
Das europäische Projekt darf nicht scheitern. Es muss
doch jedem Europäer zu denken geben, dass Volksabstimmungen in einigen Ländern gescheitert sind und in
vielen Ländern, auch in Deutschland, die Akzeptanz der
Europäischen Union in den monatlichen Umfragen kontinuierlich auf unter 50 Prozent gesunken ist. Aus meiner
Sicht gibt es dafür einen Hauptgrund: Die Bürgerinnen
und Bürger übersehen die europäischen Angelegenheiten nicht mehr. Sie sind zu wenig transparent, zu weit
weg, zu unübersichtlich und die Bürger haben den
Eindruck, die Europäische Union kümmere sich um tausenderlei Dinge, die auf kommunaler Ebene oder Länderebene weit bürgernäher, besser, effizienter und transparenter gelöst werden könnten.
Europa muss also vom Kopf auf die Füße gestellt
werden. Nach dem Subsidiaritätsprinzip muss Europa
von unten nach oben gebaut werden mit dem Vorrang für
die jeweils kleinere Einheit. Ich bin für ein starkes Europa, aber Europa ist doch nicht dann stark, wenn es sich
um tausenderlei Dinge kümmert, sondern es ist stark,
wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert.
({3})
Die richtigen Aufgaben lassen sich ganz genau definieren. Es sind die Aufgaben, deren Bewältigung über
die Kraft des Nationalstaates hinausgehen, also Fragen
der Außen- und Sicherheitspolitik, der Verteidigungspolitik, selbstverständlich Fragen der Währungspolitik,
wenn man eine gemeinsame Währung hat, Fragen des
Binnenmarktes, wenn man einen gemeinsamen Markt
hat, Fragen der Außenhandelspolitik, Fragen der grenzüberschreitenden Umweltpolitik, Fragen der Großforschungspolitik. All das sind klassische europäische Aufgaben.
Ministerpräsident Erwin Teufel ({4})
Diese Zielsetzungen waren die Leitlinien für die Beschlüsse des Bundesrates und der Ministerpräsidentenkonferenz, das spiegelte sich in den vergangenen zehn
oder 15 Jahren nicht nur in hoher, sondern in umfassender Übereinstimmung aller 16 deutschen Länder wider.
Es ist ein hohes Gut, dass wir eine übereinstimmende
Auffassung über die Zukunft der Europäischen Union
haben. Das hat uns in den letzten 15 Jahren im Verhältnis
zum Bund geholfen und das hat uns jetzt bei den Beratungen im Europäischen Konvent sehr geholfen. Für
diese gemeinsame Zielsetzung habe ich mich aus Überzeugung eingesetzt. Ich erhielt dabei vielfältige Unterstützung von deutschen Konventsteilnehmern, beispielsweise von den Vertretern der Bundesregierung,
Professor Glotz und Außenminister Fischer, von den
Vertretern des Bundestages, Professor Meyer und Peter
Altmaier, und von den Vertretern des Bundesrates, Minister Senff und später Minister Gerhards. Dafür möchte
ich mich ausdrücklich bedanken.
({5})
An diesen Zielen messe ich jetzt auch das Ergebnis
des Konvents mit der Überschrift „Viel erreicht, aus der
Sicht der deutschen Länder aber noch einige wichtige
Fragen offen“. Aus der Sicht der Länder möchte ich zunächst einmal sagen, dass wir einige wesentliche Ergebnisse nur durch die direkte Unterstützung von Präsident
Giscard d’Estaing erreicht haben, was ich ganz besonders dankbar vermerken möchte.
Meine Damen und Herren, es wurde viel erreicht. Dafür möchte ich einige Beispiele nennen. Es gibt in der
Verfassung eine klare Kompetenzordnung. Das hätte
vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr niemand für möglich gehalten. Bisher hat Europa jede Aufgabe an sich gezogen, die es bekommen konnte.
Was waren die großen Einfallstore für immer neue
Aufgabenverlagerungen auf die europäische Ebene? Das
erste Einfallstor war der Artikel zum Binnenmarkt, der
den Wettbewerb regelt. Ich muss mich fragen, was eigentlich nicht zum Wettbewerb gehört. Auf diesem Weg
hat sich die EU in alle Bereiche eingemischt, von der
kommunalen Daseinsvorsorge über die Sparkassen bis
hin zur Kultur und zu den Medien.
Das zweite Einfallstor ist die Generalermächtigung
aus Art. 308. Mir sagten zwei Kommissare ganz offen:
Wenn wir in den Verträgen keine Kompetenz gefunden
haben, dann haben wir uns auf Art. 308 gestützt.
Das dritte Einfallstor stellen die allgemeinen Ziele
dar. Jeder europäische Vertrag beginnt auf zwei bis vier
DIN-A4-Seiten mit allgemeinen Zielen. Das ist Lyrik.
Wenn man diese allgemeinen Ziele als Kompetenzbegründung nimmt, dann gibt es kein Halten mehr, dann
gibt es keinen Bereich, für den Europa nicht zuständig
ist.
({6})
Diese Analyse über die bisher bestehenden Einfallstore
musste man im Auge haben, wenn man Verbesserungen
erreichen wollte.
Nun das Ergebnis: Allgemeine Ziele sind nicht mehr
kompetenzbegründend.
({7})
Das ist ein ganz zentraler Punkt. Wir haben die klare
Kompetenzordnung - übrigens durchaus nach dem Muster unseres Grundgesetzes - mit ausschließlicher Zuständigkeit der Europäischen Union, geteilten Zuständigkeiten und ergänzenden Zuständigkeiten.
Genauso wichtig wie diese Kompetenzkategorien ist,
dass die Europäische Union künftig bei alle Aufgaben,
die sie haben wird, drei Prinzipien beachten muss: erstens die begrenzte Einzelfallermächtigung - das ist das
Gegenmodell zu den allgemeinen Zielen -, zweitens den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und drittens das Subsidiaritätsprinzip.
Diese Prinzipien stehen - das ist außerordentlich
wichtig - nicht als hehre Ziele im Vertrag, so wie beispielsweise das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von
Amsterdam und - schon früher - im Vertrag von
Maastricht, wodurch sich allerdings überhaupt nichts geändert hat; diese Ziele sind vielmehr zum ersten Mal bewehrt. Zum ersten Mal werden die nationalen Parlamente zum Zeitpunkt einer Gesetzesinitiative der
Kommission sozusagen in einem Frühwarnsystem eingeschaltet. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Fortschritt für Bundestag und Bundesrat. Es kommt jetzt darauf an, dass wir diese Möglichkeit auch nutzen.
({8})
Bundestag und Bundesrat können im Rahmen ihrer
Zuständigkeit Einwände wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips einbringen. Zum ersten Mal bekommen sie
ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof, wenn sie
das Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung
verletzt sehen. Durch eine entsprechende innerstaatliche
Regelung kann auch das Klagerecht jedes deutschen
Bundeslandes begründet werden. Wir sind hier auf gutem Weg, und zwar einvernehmlich mit der Bundesregierung. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
({9})
All dies ist für den Bundestag und den Bundesrat, aber
auch für die Bürgernähe, für ein Europa von unten nach
oben von entscheidender Bedeutung.
Auch in einem anderen Punkt wurde viel erreicht. Die
Grundrechtecharta als Ausdruck der Wertegemeinschaft Europas wird rechtsverbindlich. Alle Teile des
Verfassungsvertrags haben die gleiche Rechtsqualität.
Das heißt, alle Vertragsänderungen bedürfen der Zustimmung aller Mitgliedstaaten.
Ministerpräsident Erwin Teufel ({10})
Zum ersten Mal wurde das kommunale Selbstverwaltungsrecht in einem europäischen Vertrag verankert.
({11})
In der gesamten europäischen Geschichte haben vor allem die Städte und Gemeinden Europa getragen. Bisher
sind sie in einem europäischen Vertrag überhaupt nicht
vorgekommen. Vor allem dafür, dass das geändert
wurde, habe ich mich eingesetzt; denn die Gemeinden
und Städte sind das Fundament einer europäischen Ordnung.
({12})
Meine Damen und Herren, es gibt keinen Artikel über
eine offene Koordinierung. Auch das ist ein wichtiger
Fortschritt. Die Regelung des Verhältnisses zwischen
Staat und Kirche bleibt Teil der nationalen Identität und
Zuständigkeit. Es gibt künftig einen Legislativrat, der
öffentlich tagen muss. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass die europäische Gesetzgebung bisher unter
Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen wurde.
({13})
Es war das einzige demokratische Parlament der Welt,
das nicht öffentlich getagt hat. Dieser Fehler ist behoben
worden und die Änderung ist nun Teil der Verfassung.
({14})
Beim Übergang zu Mehrheitsentscheidungen konnten
wir eine doppelte Mehrheit durchsetzen: Mehrheit der
Staaten und sogar eine 60-prozentige Mehrheit der Bürger. Ich glaube, gerade die Bundesrepublik Deutschland
- die Bundesregierung, der Bundestag und der Bundesrat - sollte diesen Punkt berücksichtigen und es sich
zehnmal überlegen, bevor sie das Paket wieder aufschnürt und diese Möglichkeit unter Umständen wieder
aufs Spiel setzt.
({15})
Das Europäische Parlament wurde gestärkt. Auch das
war ein wichtiges Anliegen. Als Bürgerkammer ist es
künftig ein weitestgehend gleichwertiger Gesetzgeber
neben dem Legislativrat. Auch das halte ich für einen
großen Erfolg.
({16})
Schließlich bleiben die Mitwirkungsrechte der Länder
im Ministerrat, die wir im Vertrag von Maastricht erstmals verankert haben, erhalten.
Meine Damen und Herren, nun verhehle ich nicht,
dass ich mit einigen wesentlichen Ergebnissen nicht zufrieden bin. Teilweise können sie noch geändert werden,
nämlich dann, wenn sie Teil III betreffen, über den im
Juli in drei Sitzungen beraten wird. Sie könnten auch in
der Regierungskonferenz geändert werden, falls das Paket wieder aufgeschnürt wird. Aber wie gesagt: Das sollten wir uns überlegen. Gleichzeitig sollten wir bereit
sein, unsere Änderungswünsche zu allen Teilen der
Verfassung einzubringen, wenn andere das Paket wieder
aufschnüren.
({17})
Die Aufnahme des Gottesbezugs oder auch nur eine
direkte Erwähnung des Christentums als eine der wichtigsten Wurzeln Europas in die Verfassung konnte nicht
erreicht werden.
Erfreulicherweise wurde der Schutz der Kinder aufgenommen. Er hängt aber im luftleeren Raum; denn der
Schutz der Kinder wurde ohne jeden Bezug zur Familie
oder zur Ehe verankert.
({18})
Ein ganz zentraler Punkt ist das Ausländer- und Asylrecht. Wir wollen eine europäische Einwanderungspolitik, welche das Maß der Einwanderung und des Zugangs zum nationalen Arbeitsmarkt in der Hand der
Mitgliedstaaten belässt.
({19})
Hier verlassen wir uns auch auf das entsprechende Wort
des Herrn Bundeskanzlers in Thessaloniki, das ich mit
besonderer Aufmerksamkeit gehört habe.
({20})
Meine Damen und Herren, die Flexibilitätsklausel in
Art. 17 ist zwar nicht mehr so weit gehend wie im alten
Art. 308, aber eine Flexibilitätsklausel ist im Grunde genommen auch überflüssig, wenn man eine klare Kompetenzordnung hat. Die Flexibilitätsklausel ist auf jeden
Fall zu weit gehend formuliert.
Die in den bestehenden EU-Verträgen geltenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitik, der Beschäftigungspolitik
und der Sozialpolitik müssen erhalten bleiben. Die Binnenmarktklausel in Art. III-62 des Verfassungsentwurfs, die noch zu beraten ist, muss aus unserer Sicht
präzisiert werden. Die Finanzierung der Europäischen
Union aus Eigenmitteln muss der Kontrolle durch alle
Mitgliedstaaten unterliegen. Die EU-Finanzierung muss
so ausgestaltet sein, dass finanzielle Risiken für
Deutschland begrenzt bleiben. Eine EU-Steuer wäre der
falsche Ansatz.
({21})
Zu all diesen, den Teil III betreffenden Punkten habe
ich zahlreiche konkrete Änderungsanträge für die folgenden drei Sitzungen gestellt. Gestern las ich in einer
dpa-Meldung, dass der SPD-Europapolitiker Michael
Roth Außenminister Fischer kritisiere, weil dieser für
die abschließende Beratung im Konvent 57 Änderungsanträge gestellt habe.
({22})
Ich frage mich, warum das zu kritisieren ist. Teil III der
Verfassung wurde bisher nicht nur im Konvent nicht beraten. Er wurde uns überhaupt erst vor zehn Tagen vorgelegt. Er ist noch nicht einmal im Präsidium des Konvents beraten worden. Es ist deshalb logisch, dass wir
Änderungswünsche beim Teil III haben und dass wir uns
Ministerpräsident Erwin Teufel ({23})
alle bis zur letzten Minute dafür einsetzen, unsere Wünsche tatsächlich durchzusetzen.
({24})
Abschließend möchte ich sagen: Wir haben viel erreicht und wir wollen noch einiges erreichen. Europa
muss eine gute und bürgernahe Verfassung bekommen.
Europa muss in eine gute Verfassung kommen.
({25})
Ich erteile dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Idee Europa. Entwürfe zum Ewigen Frieden“,
so lautet der Titel einer Ausstellung im Historischen
Museum. Wer den ersten Teil dieser Ausstellung betrachtet, ist auf der einen Seite von den vielen Missionen
beeindruckt, die in den letzten Jahrhunderten für dieses
Europa entwickelt worden sind. Auf der anderen Seite
aber sieht er, welche Realitäten in diesen Jahrhunderten
geherrscht haben: Angriffskriege, Kriege, mit denen
Vereinigungen herbeigeführt werden sollten, Erbfolgekriege und viele mehr. Kurzum: Kriege, Konflikte,
menschliches Leid und viele tote Menschen.
Der zweite Teil zeigt auf, wie sich Europa heute entwickelt. Das ist die Verbindung zur aktuellen Debatte im
Deutschen Bundestag. Für die SPD kann ich - auch in
Anlehnung an diese Ausstellung - sagen: Wir sind dabei,
vom Europa der Utopien zum Europa der Nationen zu
gelangen. Mehr noch: Wir wollen vom Europa der
Nationen zum Europa der Völker und der Bürger gelangen.
({0})
Auf diesem Weg - dieser Weg ist nicht immer einfach
gewesen - haben wir Erfolge zu verzeichnen. Diese
wichtigen Erfolge sind für Europa und die Zukunft unseres Kontinents von ausschlaggebender Bedeutung: die
Erweiterung der Europäischen Union und die Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses. Beide
große Themen sind zwei Seiten einer Medaille, die sich
nur zusammen zu einem Ganzen fügen. Das Erreichte
beruht auf dem Willen, die europäische Teilung endgültig zu überwinden, und auf der Einsicht, dass keiner der
Nationalstaaten fähig sein wird, die Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts im Alleingang zu meistern. Deshalb ist es gut und richtig, heute beide Themen in dieser
Europadebatte zusammenzuführen.
Die fortschreitende Einigung Europas, die Erweiterung der EU um zunächst zehn neue Mitglieder, die
Schaffung des weltgrößten Binnenmarkts und die gewachsene internationale Verantwortung stellen uns vor
neue Aufgaben, von deren Bewältigung es abhängen
wird, ob wir uns als Europäer im 21. Jahrhundert behaupten werden.
Der Bundestag - so meine ich - setzt mit der Einleitung der Ratifizierung der Beitrittsverträge wenige Wochen nach dem Treffen in Athen ein wichtiges Signal.
Die SPD-Bundestagsfraktion und auch die SPD-geführte
Bundesregierung haben von Anfang an, seit 1998, das
Projekt der Erweiterung immer wieder vorangebracht;
mit den großen und mit den kleinen Ländern und entgegen mancher Kritik aus der Opposition.
({1})
Wir haben uns diesem Projekt verschrieben. Wir haben
uns dafür eingesetzt und trotz vieler Einwendungen
- Außenminister Fischer hat das vorhin gesagt - über so
genannte Zeitpläne unser Ziel erreicht. Wir werden im
nächsten Jahr in einer feierlichen Zeremonie das Dokument über den Beitritt zehn weiterer Länder unterzeichnen.
({2})
Die entsprechende Bewertung des Verfassungskonvents durch uns ist ein wichtiges Signal für die Debatten
in den Parlamenten der Nachbarländer. Bei der Beurteilung des Verfassungsentwurfs kann nicht das im Vordergrund stehen, was vielleicht wünschenswert, aber nicht
erreichbar war. Im Vordergrund der Bewertung muss
vielmehr stehen, was erreicht worden ist; und das ist
nicht wenig.
Wer vor vielen Monaten darüber philosophiert hat,
wie der Konvent ausgehen wird, muss heute zugeben,
dass sich die Unkenrufe nicht bewahrheitet haben. In der
Tat - Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben das gerade auch bestätigt - hat der Konvent gute Arbeit geleistet.
({3})
Der hoch gelobte Verfassungsentwurf ist nach meiner
Überzeugung geeignet, eine gemeinsame Politik in einem erweiterten Europa zu gestalten, die sich durch
mehr Demokratie, mehr Bürgernähe und Transparenz
sowie größere Handlungsfähigkeit auszeichnet. Der erreichte Konsens stellt einen ausgewogenen Kompromiss
dar und ist eine gute Grundlage für die europäische Verfassung.
({4})
Viele von uns können sich andere, weiter gehende, integrationsfreundlichere Regelungen vorstellen. Aber es
geht nicht einfach darum, all unsere Positionen, die wir
in Deutschland formuliert haben, durchzusetzen. Es geht
darum, auf der europäischen Ebene mit Ländern, die andere Verfassungstraditionen haben, eine gemeinsame
Position zu finden. Deshalb bin ich froh darüber, dass
auch die Opposition und vor allem die Union wieder zu
einem vernünftigen Weg zurückgefunden hat. Denn vor
wenigen Wochen war im „Kölner Stadtanzeiger“ zu lesen, dass der Landesgruppenchef der CSU gesagt hat
- wenn es richtig zitiert ist -, dass die CSU im Grunde
keine Verfassung Europas wolle. Aber, wie so häufig,
wird Michael Glos einige Tage später von der Wirklichkeit eingeholt;
({5})
denn es heißt in einem Positionspapier von CDU und
CSU:
Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die Weiterentwicklung der europäischen
Integration und für eine bessere Wahrnehmung der
berechtigten Interessen von Bund, Ländern und Gemeinden.
Wie wahr! So schnell können sich die Zeiten ändern,
Herr Glos.
({6})
Wir sollten sorgfältiger mit dem Konventsergebnis
umgehen. Herr Ministerpräsident Teufel, es gibt sicherlich große Übereinstimmung über das, was Sie vorhin
gesagt haben. Sie haben jedoch vorhin gesagt, was die
EU-Kommission so alles macht, ohne dabei zu erwähnen, dass viele Dinge auf nationale Initiative zurückzuführen sind, die letztendlich von der Europäischen Kommission nur umgesetzt worden sind.
Sie haben beispielsweise den leidigen Bankenstreit
angesprochen. Sie wissen genauso gut wie ich, wie der
entstanden ist. Der ist nicht auf Initiative der EU-Kommission, sondern durch die Klage des Verbandes der
deutschen Privatbanken entstanden. Deshalb sollte man
klar zwischen berechtigter Kritik an der Europäischen
Kommission und ebensolcher an nationalen Institutionen
unterscheiden.
Der vereinbarte Fahrplan, so wie ihn Außenminister Fischer vorhin dargestellt hat, entspricht unseren
Hoffnungen, aber auch unseren Erwartungen. Wichtig ist
aus meiner Sicht, dass die Regierungskonferenz auf der
Ebene der Staats- und Regierungschefs und der Außenminister stattfindet. Ich sehe darin einen Garanten dafür,
dass das im Konvent erzielte Konsenspaket nicht wieder
aufgeschnürt wird.
Es ist das Schöne an diesem freiheitlichen Europa,
dass ein frei gewählter Abgeordneter auch einmal etwas
Kritisches anmerken kann, auch wenn der Außenminister vielleicht eine andere Position dazu hat. Wir haben
uns schließlich dafür eingesetzt, dies in Europa zu erreichen.
({7})
Vor dem Hintergrund der anstehenden Erweiterung ist
es zwar eine Selbstverständlichkeit, aber ich möchte es
trotzdem noch ausdrücklich würdigen, dass die zehn
Beitrittsländer von Anfang an gleichberechtigt an der
Regierungskonferenz teilnehmen und dass die übrigen
Beitrittsländer einen Beobachterstatus erhalten. Auch
wenn die Union Kritik daran übt, ist es dennoch wichtig,
dass die Türkei diesen Beobachterstatus hat.
({8})
Die Konventmethode hat sich bewährt. Zum zweiten
Mal hat ein Konvent getagt. Seine Arbeit - besser gesagt: seine Methode - wird sicherlich in naher Zukunft
vonseiten der Wissenschaft bewertet werden, die wohl
auch die eine oder andere Kritik vorbringen wird. Aber
bei aller Kritik war es wichtig und richtig, nach dem Europäischen Rat in Nizza den Weg der herkömmlichen
Regierungskonferenzen zu verlassen. Wir freuen uns
auch darüber, dass die Konventmethode immer nach
dem Motto „Mehr Demokratie und mehr Parlament wagen“ von der Bundesregierung unterstützt wurde. Heute
können wir alle feststellen: Es hat sich gelohnt.
({9})
Die Akteure, die unser Parlament vertreten haben,
sind bereits erwähnt worden. Ich möchte auch vonseiten
der SPD Professor Jürgen Meyer, der nach dem Konvent
zur Erarbeitung der Europäischen Grundrechte-Charta
schon den zweiten Konvent mit bestritten hat, für seine
Arbeit danken. Es gab aber auch - das soll nicht unerwähnt bleiben - in der Frage der Ausarbeitung der europäischen Verfassung eine gute Zusammenarbeit zwischen allen Fraktionen im Parlament. Deshalb gilt mein
ausdrücklicher Dank Peter Altmaier für die konstruktive
Zusammenarbeit.
({10})
Der Europäische Rat von Thessaloniki hat in vielen
Bereichen - bei der Einwanderung, in Grenz- und Asylfragen, aber auch in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik - zahlreiche positive Ergebnisse erzielt.
Diese sind ein Indikator dafür, dass sich allgemein die
Einsicht durchsetzt, dass Politik gerade auch in diesen
Bereichen nur im gesamteuropäischen Kontext möglich
ist.
Wir wissen, dass Europa gestaltungsfähiger Akteur
werden muss, der mehr kann, als nur seine wirtschaftlichen Interessen zu vertreten. Gleichzeitig ist aber das zusammenwachsende Europa verpflichtet, angesichts der
Gefahren des internationalen Terrorismus und der internationalen Kriminalität nicht nur seinen eigenen Bürgern
das höchstmögliche Maß an Sicherheit zu gewähren.
Deshalb muss die EU bereit sein, einen Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen. Europa
muss den ökonomischen, politischen, aber auch ideologischen Gefahren politisch begegnen. Die Entwicklung
einer neuen europäischen Sicherheitsstrategie entspricht diesen Notwendigkeiten.
Der jetzt gebilligte Entwurf legt eine detaillierte Bedrohungsanalyse vor und definiert die strategischen Ziele
der Europäischen Union. Er kommt zu dem Ergebnis,
dass keine der neuen Bedrohungen rein militärischer Natur ist und deshalb auch nicht rein militärisch bekämpft
werden kann. Dieser umfassende Sicherheitsbegriff entspricht unserem Anliegen. Unsere Vorstellungen decken
sich auch mit den strategischen Zielen der Europäischen
Union. Diese sind auf die Ausdehnung des Sicherheitsgürtels in und um Europa, auf die Stärkung der Weltordnung und die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ausgerichtet.
Die Schaffung der Beitrittsperspektive für die Westbalkanstaaten hat die Befriedung der Region zweifellos
gefördert. Der von der Europäischen Union in Gang gesetzte Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess hat die
Rahmenbedingungen für Stabilität und Sicherheit auf
dem Balkan geschaffen.
Der Westbalkangipfel vom 21. Juni 2003 hat konsequenterweise die Beitrittsperspektive für diese Staaten
bekräftigt und die materiellen Voraussetzungen für die
Heranführung an die EU verbessert. Dies ist ein wichtiges politisches Signal. Die Balkanländer haben es nun in
der Hand, das Tempo der Annäherung an die Europäische Union selbst zu bestimmen.
Die EU pflegt seit geraumer Zeit enge, auf Zusammenarbeit ausgerichtete Beziehungen im Rahmen des
Barcelonaprozesses. Ich denke, das ist gerade in diesen
Tagen von Bedeutung, in denen eine Parlamentarierdelegation aus Marokko im Deutschen Bundestag zu Gast
ist. Ich glaube aber, dass wir es nicht allein bei dieser
Strategie belassen können. Auch hier müssen wir - dazu
hat die Kommission auch Vorschläge unter-breitet - völlig neue Wege beschreiten, die zwar nicht zur Aufnahme
dieser Länder in die Europäische Union führen sollen,
durch die aber diese Nachbarschaft entsprechend gestärkt wird.
Wir haben es nun in der Hand - der Gesetzentwurf
liegt uns heute zur ersten Beratung vor -, den Ratifizierungsprozess maximal zu beschleunigen und als Deutscher Bundestag dazu beizutragen, dass der Europäischen Union zum 1. Mai 2004 zehn neue Mitglieder
beitreten können.
Damit sprechen wir auch unsere Anerkennung für die
erheblichen Transformationsprozesse in den zehn Beitrittsländern aus. Die Regierungen, aber auch die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder haben enorme Anstrengungen unternommen. Die positiven Ergebnisse der
bisherigen Volksabstimmungen in den Beitrittsländern
sollten uns ein zusätzlicher Ansporn sein, den Beitrittsvertrag noch vor der Sommerpause zu ratifizieren.
Europas Aufgabe liegt nicht mehr darin und wird
nie wieder darin liegen, die Welt zu beherrschen, in
ihr mit Gewalt seine Vorstellung von Wohlstand
und Gut zu verbreiten oder ihr seine Kultur aufzuzwingen, nicht einmal darin, sie zu belehren.
So schreibt Vaclav Havel 1996. Er fährt fort:
Die einzige sinnvolle Aufgabe für das Europa des
nächsten Jahrtausends besteht darin, sein bestes
Selbst zu sein, das heißt, seine besten geistigen Traditionen ins Leben zurückzurufen und dadurch auf
eine schöpferische Weise eine neue Art des globalen Zusammenlebens mitzugestalten.
Ich glaube, der Gipfel unter griechischer Präsidentschaft,
die vom Konvent erarbeitete Verfassung und der bevorstehende Beitritt von zehn neuen Ländern zur Europäischen Union werden dieser Aufgabe gerecht.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liberale Außenminister und die FDP-Bundestagsfraktion haben sich jahrzehntelang für die Einheit
Europas in Frieden und Freiheit eingesetzt. Wir haben
die Osterweiterung gegen heftige Kritik auch aus diesem
Haus immer vorangetrieben und immer auf feste Termine gedrängt. Heute ist die erste Lesung zur Ratifizierung des Beitrittsvertrages. Gerade das ist auch ein Erfolg liberaler Politik der letzten Jahrzehnte in der
Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Wir wollten als Liberale immer mehr Europa in denjenigen Bereichen, in denen die Nationalstaaten nicht
mehr in der Lage sind, die globalen und internationalen
Herausforderungen wirklich anzunehmen und ihnen zu
begegnen. Das sind die Bereiche der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik. Aber natürlich spielen auch Fragen der inneren Sicherheit, der Innenjustiz
und der Rechtspolitik eine große Rolle.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist der jetzt vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung ein entscheidender Schritt für das Zusammenwachsen Europas.
Dieser Entwurf bietet die bislang grundlegendste Antwort der Europäischen Union auf die großen Herausforderungen Erweiterung, Demokratisierung und die dringend notwendige Bürgernähe. Nur mit den jetzt in einer
Verfassung festgelegten rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen und Kompetenzverteilungen kann die
Europäische Union mit 25 - und auch mit mehr - Mitgliedstaaten handlungsfähig sein. Nur dann, wenn wir
eine wirklich gute Verfassung bekommen, ist ein Gelingen der Osterweiterung möglich, die wir alle, glaube ich,
inzwischen wollen.
({1})
Genscher hat Recht: Thessaloniki wird in die Geschichte
der Europäischen Union als ein wichtiges Datum eingehen.
Natürlich gibt es auch berechtigte Kritik. Das muss
sein. Auch der FDP-Bundestagsfraktion geht der Verfassungsentwurf in einigen wesentlichen Punkten nicht weit
genug. Aber es darf jetzt nicht aus taktischen oder innenpolitischen Motiven versucht werden, den vorliegenden
Kompromiss von über 200 Konventmitgliedern, ordentSabine Leutheusser-Schnarrenberger
lichen und stellvertretenden, aus 25 Staaten kleinzureden. Im Gegenteil: Es sollte in den Beratungen über den
dritten Teil der Verfassung das hervorgehoben werden,
was gelungen ist, und es sollten Chancen zur Verbesserung dort genutzt werden, wo es noch möglich ist; denn
bei diesen Beratungen wird nicht nur über technische
Fragen verhandelt werden.
Die Vorlage eines im Konsens gefundenen Verfassungsentwurfs ohne Optionen ist für die Regierungskonferenz Verpflichtung, die ersten beiden Teile nicht generell wieder aufzuschnüren; denn dann kommt im
Zweifelsfall weniger an Demokratie, Transparenz und
Effizienz für Europa heraus, als wir wollen. Dann kann
auch das Gelingen der Osterweiterung wieder gefährdet
sein.
({2})
Wir wollen, dass gerade die Grundrechte-Charta so
schnell wie möglich Wirkung für die Bürgerinnen und
Bürger entfaltet; denn sie stellt eine Wertebasis dar, auf
der Identität und Identifikation mit der Europäischen
Union von unten her, von den Bürgern, entwickelt und
verbessert werden können.
Für uns hat immer im Mittelpunkt gestanden, die Demokratiedefizite in der Europäischen Union - sie sind
unstreitig vorhanden - zu beseitigen. Das kann natürlich
nur in einem gewissen Umfang, aber nicht vollkommen
gelingen. Das Europäische Parlament soll gestärkt
werden und in Gesetzgebungsverfahren - sie sollen einfacher werden - endlich das Recht der vollen Mitentscheidung erhalten. Das wäre für uns ein großer Erfolg.
Wir waren schon immer der festen Überzeugung, dass
der Präsident der Europäischen Kommission vom Europäischen Parlament gewählt werden muss, damit er eine
größere Legitimation, aber auch eine größere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber dem Europäischen
Parlament erhält. Entsprechende Schritte werden jetzt
gemacht. Wir begrüßen die Verbesserungen gerade im
Bereich der Demokratisierung.
({3})
Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben durch die
ausführliche Bewertung der im derzeitigen Entwurf enthaltenen Kompetenzordnung verdeutlicht, dass die Europäische Union durch seine Umsetzung transparenter
werden wird. Wir unterstützen das, was Sie durch Ihren
Einsatz in den Verhandlungen erreicht haben. Wir, die
Liberalen, wissen, dass es in Ihrer „Familie“ eben nicht
so leicht ist, dies durchzusetzen, weil immer äußerst kritische, sehr einseitige Töne - gerade aus dem Freistaat
Bayern von Ministerpräsident Stoiber - kommen. Das
hat Ihnen Ihr Geschäft nicht erleichtert. Wir begrüßen,
dass diese Kompetenzordnung jetzt deutlich klarer und
verständlicher ist. Im politischen Geschäft in Europa
wird man nämlich merken, dass gerade Ziele nicht mehr
kompetenzbegründend sind. Man wird in Zukunft ganz
besonders merken, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht
nur auf dem Papier steht, sondern auch wirklich besser
eingefordert und durchgesetzt werden kann.
({4})
Wir von der FDP-Fraktion haben immer gesagt: Der
Bundestag muss diesbezüglich - auch durch ein Klagerecht - die Kontrolle haben, aber auch - entsprechend unserer internen Verfassungsordnung - der Bundesrat und
damit die Bundesländer. Wir kritisieren, dass in diesem
Zusammenhang die Landtage nach wie vor keine Rolle
spielen; aber wir werden durch eine Debatte über eine europäische Verfassung nicht auch noch die Verfassungsordnung in Deutschland verbessern und ändern können.
In einer erweiterten Europäischen Union ist es dringend notwendig, Mehrheitsentscheidungen zuzulassen,
um mehr Effizienz zu erreichen. In diesem Bereich geht
uns der Verfassungsentwurf eindeutig nicht weit genug.
Gerade auf dem Gebiet der Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik sehen wir die große Gefahr, dass
Initiativen durch einen europäischen Außenminister
zwar eingebracht werden können, aber dass es letztendlich sehr schwer sein wird, hier zu einem stärkeren gemeinsamen Handeln Europas zu kommen. Wir wünschen uns natürlich, dass bei den noch anstehenden
Verhandlungen zum dritten Teil der Verfassung diesbezüglich Verbesserungen erreicht werden. Wir wollen natürlich nicht das ganze Paket aufschnüren; aber wir wollen die Weichen richtig stellen, damit wir uns 2006 nicht
gleich mit der ersten Verfassungsänderung befassen
müssen; denn das könnten wir den Bürgerinnen und Bürgern nicht vermitteln.
Wir wollen den Bürgerinnen und Bürgern diese europäische Verfassung nahe bringen. Deshalb haben wir
heute einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Volksabstimmung über die europäische Verfassung eingebracht. Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an
dem wir uns nicht mehr damit herausreden können, dass
der Bürger nicht mündig genug sei, dass dies nicht gehe,
weil es das Grundgesetz nicht vorsehe. Wir wollen in unserer Verfassung die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die Bürgerinnen und Bürger - begrenzt auf diesen
Komplex - beteiligt werden.
({5})
Wir beklagen doch, dass es zu wenig europäische Öffentlichkeit und zu wenig Kenntnis über die europäischen Grundlagen gibt. Umso mehr müssen wir diesen
Prozess, der jetzt, nach dem Vorliegen einer endgültigen
und umfassenden europäischen Verfassung, beginnt,
durch eine Einbeziehung der Bürger stärken.
Deshalb fordere ich alle auf, diesen Gesetzentwurf zu
unterstützen. Ich kann eigentlich nicht sehen, dass SPD
und Grüne etwas dagegen haben könnten; denn sie haben in der Legislaturperiode viel weiter gehende Anträge
vorgelegt. Ich freue mich darüber, dass es doch viele
Stimmen gerade aus dem Süden gegeben hat, unter anderem von Ministerpräsident Stoiber, die Bürger zu befragen, und zwar richtig zu befragen und nicht nur eine
konsultative Meinungsbildung herbeizuführen, die letztlich nicht verbindlich ist. Wir haben keine Angst vor der
Meinung der Bürgerinnen und Bürger.
({6})
Zweifellos sind wir mit dem Verfassungsentwurf jener Vorhersage und Vision George Washingtons, des
Gründungspräsidenten der Vereinigten Staaten von
Amerika, ein gutes Stück näher gekommen. Es war dieser große amerikanische Präsident, der vor weit mehr als
200 Jahren an seinen Freund und Mitstreiter für die amerikanische Unabhängigkeit, den französischen Marquis
de Lafayette, die tröstlichen Worte schrieb - ich
zitiere -:
Eines Tages werden sich nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika die Vereinigten Staaten von Europa bilden... ({7}) der Gesetzgeber aller
Nationalitäten sein.
Ich würde mir wünschen, der derzeitige Präsident der
Vereinigten Staaten würde sich dieser Worte erinnern,
sie ständig präsent haben und den Prozess der europäischen Einigung unterstützen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile der Kollegin Anna Lührmann, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Freude, schöner Götterfunken“ heißt es in
der „Ode an die Freude“, unserer Europahymne. Als
Friedrich Schiller diese Zeilen 1786 schrieb, hat er wohl
kaum daran gedacht, dass sich Europa einst eine Verfassung geben würde. Trotzdem passen diese Worte exzellent auf das, was hier heute zur Debatte steht: die erste
europäische Verfassung.
Die Verfassung ist ein Meilenstein in der Geschichte
der europäischen Integration. Es gibt Skeptiker, die
vom Konvent enttäuscht sind, weil sie den Konvent an
der amerikanischen verfassunggebenden Versammlung
von Philadelphia messen. Solche Vergleiche, glaube ich,
helfen uns hier jedoch nicht weiter, weil die Europäische
Union eine andere Qualität als die Vereinigten Staaten
von Amerika hat. Auf die Europäische Union trifft eher
das Sprichwort zu, dass auch Rom nicht an einem Tag
erbaut wurde. Es ist eben ein Wesensmerkmal der Europäischen Union, dass sie sich schrittweise entwickelt:
von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
über die Zollunion zum Binnenmarkt und zur Währungsunion. Jetzt haben wir die europäische Verfassung, die
sich auch in Zukunft sicherlich immer weiter entwickeln
wird.
Das Gleiche kann man auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beobachten, die sich mithilfe
des europäischen Außenministers - so hoffen wir doch
alle - immer weiter integrieren wird. Wir sind also noch
lange nicht am Ende der Integration in Europa angekommen. Das finde ich auch nicht schlimm. Die Diskussionen über die Finalität der Europäischen Union halte ich
ohnehin für nicht wirklich zielführend. Sie sind deshalb
nicht zielführend, weil wir der jungen Generation und
den künftigen Generationen nicht vorschreiben dürfen,
wie sie Europa eines Tages gestalten.
({0})
Insgesamt war es die Aufgabe des Europäischen Konvents, dafür zu sorgen, dass die Europäische Union endlich auch den grundlegenden Prinzipien entspricht, die in
den vergangenen mehr als 2 000 Jahren in Europa entwickelt wurden, nämlich Demokratie, Gewaltenteilung und
Achtung der Menschen- und Bürgerrechte. Mit der Verfassung nähern wir uns diesem Ziel des Europas der Bürgerinnen und Bürger mit einem großen Schritt an. Endlich ist Europa in guter Verfassung.
Die Konventmethode haben meine Vorredner und
Vorrednerinnen schon zu Recht gewürdigt. Zum ersten
Mal hatten alle Menschen in Europa die Möglichkeit,
eine Verfassungsdiskussion zu verfolgen und sich aktiv
an ihr zu beteiligen. Noch nie wurde die Europäische
Union in einer so transparenten Art und Weise reformiert. Aber nicht nur das Wie, sondern gerade auch das
Was der Reform ist ein großer Schritt für das Europa der
Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. Die Stärkung
des Europäischen Parlaments ist der zentrale Punkt.
Die Wahl des Kommissionspräsidenten oder der Kommissionspräsidentin und die Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments sind
hierbei die wichtigen Punkte. Endlich legt die Verfassung ein Gesetzgebungsverfahren als Regelfall fest, bei
dem Parlament und Rat gleichberechtigt entscheiden
können. Leider gibt es von dieser Regel auch noch einige Ausnahmen. Trotzdem kann das Europäische Parlament, wie ich denke, als der große Gewinner der neuen
Verfassung angesehen werden.
({1})
Eine weitere positive Neuerung in der europäischen
Verfassung, die Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern
näher bringen wird, ist die Einführung des Unionsbürgerbegehrens. So können 1 Million Bürgerinnen
und Bürger bei einem ihnen wichtigen Anliegen die
Kommission zum Handeln auffordern. Das ist ein sehr
guter Schritt hin zu mehr direkter Demokratie, die Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch
endlich hier in Deutschland zulassen sollten.
({2})
Apropos direkte Demokratie: Damit die Verfassung
die größtmögliche Legitimation erhält, würden wir es
uns wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger sie in
einem Referendum annehmen können.
({3})
Bekanntermaßen fehlen dazu in Deutschland noch die Voraussetzungen im Grundgesetz. Die rot-grüne Koalition
hat ja schon in der letzten Legislaturperiode in diesem
Hause den Antrag eingebracht, direkte Demokratie im
Grundgesetz zu verankern. Ich denke, Frau LeutheusserSchnarrenberger, wir dürfen direkte Demokratie nicht
nur auf diesen einen Punkt beschränken.
({4})
Wir als rot-grüne Koalition wollen immer noch
Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid im
Grundgesetz verankern. Dazu gehört auch die Möglichkeit, ein Referendum über die europäische Verfassung zu veranstalten. Sie können davon ausgehen, dass
entsprechende Anträge auch noch kommen werden.
({5})
- Natürlich rechtzeitig, wir haben ja noch ein bisschen
Zeit. - Wir befürchten jedoch leider abermals die Blockade der CDU/CSU. Deshalb wollen wir das sorgfältig
vorbereiten. Ich appelliere nochmals an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Finden Sie den
Mut, den Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss zu geben. Lassen Sie uns die Demokratie in Deutschland und
in Europa auf eine breitere Grundlage stellen! Ich würde
mich freuen, wenn Sie sich in dieser Frage bewegen
würden.
({6})
Mehr Europa für die Bürgerinnen und Bürger, das
heißt auch, dass die Konstruktion der Europäischen
Union endlich transparenter werden muss.
({7})
Nur wenige Spezialisten haben bislang verstanden, was
es mit den verschiedenen Verträgen und den drei Säulen
auf sich hat. Jetzt haben wir eine Verfassung aus einem
Guss, die mit diesem Chaos aufräumt. Allerdings gibt es
noch immer Sonderbestimmungen für die Justiz- und Innenpolitik sowie im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, sodass die Säulen immer noch nicht ganz verschwunden sind.
Dazu kommt noch der Euratom-Vertrag, den ich hier
einmal als Leftover des verfassungsgebenden Prozesses
bezeichnen möchte. Dieses Fossil bleibt nach wie vor
neben der Verfassung bestehen und widerspricht so dem
Ziel einer einheitlichen Verfassung für Europa. In Anbetracht der Tatsache, dass die große Mehrheit der aktuellen und der zukünftigen EU-Mitgliedstaaten entweder
noch nie Atomkraftwerke hatte, wie Deutschland aus der
Atomenergie ausgestiegen ist oder zumindest beschlossen
hat, keine neuen Atomkraftwerke zu bauen, ist Euratom
nicht mehr zeitgemäß.
({8})
Deshalb sollte dieser Vertrag baldmöglichst nach dem
Konvent abgewickelt werden.
Im Gegensatz zum Euratom-Vertrag hat die neue europäische Transparenz vor dem Rat nicht Halt gemacht.
Die Verfassung legt fest, dass der Rat bei der Gesetzgebung künftig öffentlich tagt. Auch die neu eingeführte
doppelte Mehrheit ist ein großer Schritt, um die Arbeit
des Rates für die Bürgerinnen und Bürger verständlicher
zu machen. Leider wurde die Möglichkeit zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit nicht auf alle
Bereiche ausgedehnt; ausgenommen bleiben Teile der
Außen- und Sicherheitspolitik sowie Teile der Justizund Innenpolitik.
Festhalten möchte ich: Trotz mancher Mängel ist die
europäische Verfassung das beste Fundament, auf dem
das europäische Haus je gestanden hat.
({9})
Die Regierungskonferenz ist deshalb gut beraten, den
Verfassungsentwurf nicht wieder ganz neu aufzumachen
und sich schon beim Europäischen Rat in Rom im Dezember politisch zu einigen. Ich finde es jedoch gut, dass
die Verfassung erst nach dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten unterzeichnet werden soll.
Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von
Thessaloniki legen fest, dass dies „so bald wie möglich
nach dem 1. Mai 2004“ geschehen soll. Dafür mache ich
Ihnen, Herr Außenminister, jetzt einen konkreten Terminvorschlag: den 9. Mai.
({10})
Es gibt keinen besseren Tag als den 9. Mai, denn an
diesem Tag hat Robert Schuman 1950 seinen Plan zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl vorgestellt. An diesem denkwürdigen 9. Mai
hat die europäische Integration begonnen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen 1985 in Mailand beschlossen, dass der 9. Mai zukünftig „Europatag“ heißen soll. Welches Datum wäre
also angemessener für die Unterzeichnung der europäischen Verfassung als der 9. Mai? Dann werden wir den
9. Mai nicht nur als den Tag feiern, an dem die Grundlage für mehr als 50 Jahre Frieden und Wohlstand zumindest im westlichen Teil Europas gelegt wurde, sondern wir werden den 9. Mai auch als den Tag feiern, an
dem sich das neue, größere Europa eine Verfassung gegeben hat.
({11})
Ich bin mir sicher, dass zu einem solchen Feiertag
auch Herr Minister Clement nicht Nein sagen wird.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hintze, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister scheint von der
Idee, die Frau Kollegin Lührmann hier angesprochen
hat, ganz angetan zu sein;
({0})
er kann ja dann Festredner für diesen neuen Feiertag
werden. Die Opposition wird diesen Vorschlag kritisch
würdigen, liebe Frau Kollegin.
Meine Damen und Herren, es war ein Akt der politischen Klugheit, dass wir die neue Verfassung für Europa
mehrheitlich in die Hände von Parlamentariern gelegt
haben, und es ist eine beachtliche Leistung von Valéry
Giscard d’Estaing, dass er sich der Suche nach dem
kleinsten gemeinsamen Nenner verweigert hat, zugunsten einer Regelung, die für Europa einen echten Fortschritt bedeutet. Wir können feststellen: Die Konventsarbeit war interessant und wichtig; sie hat gute
Ergebnisse gebracht. Nie war so viel Demokratie in der
Europäischen Union wie heute.
({1})
Für mich ist das ein Sieg der Demokratie über die Diplomatie hinter verschlossenen Türen.
({2})
Auch wir von der CDU/CSU-Fraktion danken Jürgen
Meyer und Peter Altmaier, die den Bundestag im Konvent vertreten haben.
({3})
Ebenso richte ich ein ausdrückliches Wort des Dankes
an Erwin Teufel, der nicht nur als Ministerpräsident an
dem Verfassungsentwurf mitgewirkt und dabei die Interessen der Bundesländer wirksam vorgebracht hat, sondern mit seinem Parlamentarierherzen - er hat ja auch
heute gesprochen - dafür gesorgt hat, dass wir auch zukünftig Raum für genügend eigene Arbeit haben. Man
wird Erwin Teufel nach diesem Verfassungsprozess mit
Fug und Recht den Vater des Subsidiaritätsgrundsatzes
in der europäischen Verfassung nennen können. Dafür
meinen herzlichen Dank!
({4})
Wenn wir heute eine Bewertung vornehmen, dann
müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es um die
Bewertung des ersten großen Hauptwerkes, aber noch
nicht um die Abschlussbewertung geht. Diese können
und wollen wir erst vornehmen, wenn auch der dritte Teil
dieser Verfassung seinen Abschluss gefunden hat. Trotzdem können wir auch jetzt schon sagen, dass Beträchtliches erreicht wurde, und dies unter nicht ganz einfachen
Bedingungen. Nie zuvor waren an einer Weiterentwicklung der Europäischen Union so viele Staaten beteiligt
wie heute: neben den 15 Mitgliedstaaten die zehn künftigen Mitgliedstaaten sowie die Bewerberstaaten.
Die Tatsache, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas
und des Mittelmeerraumes, die im nächsten Jahr dazukommen werden, an der Arbeit des Konventes bereits
mitwirken konnten, war ein wichtiges Signal an die
neuen Mitgliedstaaten: Über die gemeinsame Zukunft
wollen wir auch gemeinsam entscheiden.
Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche Verfassung einen Kompromiss darstellt - Erwin Teufel hat
darüber schon gesprochen -, allerdings einen Kompromiss, dessen bloße Existenz für mich schon an ein kleines Wunder grenzt. Was haben wir vor Beginn des
Konventes nicht alles gehört! Es sei unmöglich, die divergierenden Interessen zusammenzuführen. Was haben
wir in früheren Regierungskonferenzen erlebt! Man hat
immer weniger verhandelt und erst ganz zum Schluss
wurde dürftigst der kleinste gemeinsame Nenner vereinbart.
Hier hat der Konvent etwas ganz anderes geliefert. Er
hat in einem überschaubaren Zeitraum eine Verschmelzung der Verträge und eine Generalrevision mit dem Effekt von mehr Transparenz, mehr Effizienz und mehr
Demokratie vollbracht. Ich denke, wir können auf unsere
Parlamentarier im Konvent gemeinsam stolz sein.
({5})
Bei der Bewertung ist für uns eine Frage wichtig: Ist
der Zustand mit dieser Verfassung besser als vorher oder
nicht? Ich habe dazu eine klare Meinung: Wir können es
uns nicht erlauben, die Zukunft der Europäischen Union
mit 25 Mitgliedstaaten in das Regelwerk von Nizza einzusperren. Mit dem Vertrag von Nizza ist man damals
eindeutig zu kurz gesprungen. Es war das Scheitern einer Verhandlung, die allein auf Regierungsebene stattfand. Wir müssen erkennen, dass diese Verfassung ein
deutlicher Fortschritt gegenüber dem ist, was die Regierungen allein zustande gebracht haben.
({6})
Wir haben in diesen Debatten oft darüber diskutiert,
dass mehr für den Bürger in Europa herauskommen
muss. Das haben wir geschafft. Wir haben die Grundrechtecharta rechtsverbindlich aufgenommen. Zum ersten Mal erhalten die Bürgerinnen und Bürger verbriefte
Abwehrrechte bezüglich des Handelns der europäischen Institutionen, die sie vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen können.
Der Kommissionspräsident muss in Zukunft vom Europäischen Parlament gewählt und entsprechend dem Ergebnis der Europawahl ausgewählt werden. Damit haben
die Bürger ebenfalls zum ersten Mal mit ihrer Wahlentscheidung Einfluss auf die politische Spitze, die Exekutive in Europa. Das ist ein weiterer Fortschritt für die
Bürgerinnen und Bürger im Land.
({7})
Wir müssen allerdings, Frau LeutheusserSchnarrenberger, aufpassen, dass wir hier keine Scheinfortschritte einbauen. Ich bin ausgesprochen skeptisch,
ob es klug ist, eine Frage, die man in Wahrheit nur mit Ja
beantworten kann, zum Gegenstand einer Volksbefragung zu machen. Die Länder, die das einmal versucht
haben, haben damit böseste Erfahrungen gemacht. DenPeter Hintze
ken wir an die Volksbefragung zum Vertrag von
Maastricht in Frankreich. Ich fürchte, wir machen mit einem solchen Vorschlag ein Forum für die Falschen auf.
Aber das werden wir in diesem Hause noch in Ruhe miteinander besprechen.
({8})
Zu einer bürgernahen Union gehört, dass jeder weiß,
wer für was zuständig ist. Es ist gelungen, eine klare
Kompetenzordnung, eine klare Normenhierarchie und
vor allen Dingen klare Kompetenzausübungsregeln aufzustellen. Ich denke, das ist ein Stück Arbeit, in das unser Kollege Peter Altmaier besonders viel Herzblut investiert hat. Er hat sich hierüber mit den Kollegen im
Europaausschuss permanent ausgetauscht, wie das auch
unserer früherer Kollege Jürgen Meyer stets getan hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein wichtiger Punkt - ein Einzelpunkt, aber unerlässlich für mehr
Demokratie - ist das Konzept der qualifizierten Mehrheit, wie es sich nun im Vertrag findet. Nach den komplizierten und - so muss man sagen - fast verkorksten
Regelungen, die in den Vertrag von Nizza Eingang gefunden haben, haben wir nun eine klare Regelung:
Mehrheit muss jetzt immer Mehrheit der Bürger in Europa bedeuten. Das wird zu Transparenz und Akzeptanz
führen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, wie man in Europa
in Zukunft die gemeinsame Außenpolitik gestaltet. Ein
Fortschritt ist ohne Frage die Einführung des Amtes eines europäischen Außenministers. Das ist ein sichtbares Signal dafür, dass Europa in der Außenpolitik in
Zukunft mit einer Stimme sprechen möchte. Meine
Hoffnung ist, dass der künftige Inhaber dieses Amtes
({9})
klug ausgewählt wird und er durch seine Person und sein
Handeln gewährleistet, dass Europa einig handelt und
man fair miteinander umgeht, dass sich Europa in einer
engen transatlantischen Partnerschaft mit unseren Freunden und Partnern in den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada versteht
({10})
und dass die praktizierten Leitideen der europäischen
Außen- und Sicherheitspolitik, die über Jahrzehnte unsere Sicherheit und unseren Erfolg bewahrt haben, eine
kluge Fortsetzung finden. - Das wären meine Auswahlkriterien für dieses Amt. Es mag jeder für sich entscheiden, welche Kriterien er zur Beurteilung diverser Kandidaten anlegt.
({11})
- Der Kollege Gloser hat mich mit dem Zwischenruf
provoziert, ob das eine Bewerbung sei.
({12})
Was die Bewerbung angeht, will ich sagen: Wir haben
im Europaausschuss in öffentlicher Sitzung am 21. Mai
von Herrn Bundesaußenminister Fischer ein sehr starkes
und absolut glaubwürdiges Dementi gehört. Er hat betont, dass er dieses Amt nicht übernehmen wolle und
dass er einem entsprechenden Ruf nicht folgen werde.
Später hat das Auswärtige Amt erklärt, seine Ausführungen in öffentlicher Sitzung seien scherzhaft gemeint gewesen.
({13})
Ich muss sagen: Das ist eine interessante Aussage; denn
eigentlich erwarten wir vom Bundesaußenminister im
Europaausschuss keine Aussagen, die zunächst ernst gemeint sind und nachher als Scherz qualifiziert werden.
Es gibt schon einen Unterschied zwischen ernsthaften
und scherzhaften Äußerungen.
Herr Bundesaußenminister Fischer, ich finde es auch
interessant, dass Sie gestern im Ausschuss kein Wort zu
dem folgenden Punkt gesagt haben: Unter den 57 Anträgen, die Sie für die Schlussrunde des Konvents gestellt
haben - viele Anträge beinhalten Wünsche diverser Ressorts; darüber ist hier bereits gesprochen worden; Herr
Kollege Roth hat schon einen kleinen Rüffel des Bundeskanzlers bekommen -,
({14})
befindet sich ein Antrag zur beachtlichen Aufblähung
und zur Ausweitung des europäischen diplomatischen
Dienstes. Das bestärkt mich in der Vermutung, dass Sie
doch noch interessiert auf dieses europäische Amt
schauen und dass Sie Ihre Tätigkeit im Konvent jetzt
dazu nutzen wollen, dieses Amt entsprechend auszugestalten. Das ist zwar nicht unzulässig. Aber unsere Bitte,
Herr Bundesaußenminister, ist, dass Sie jetzt nicht in Erwartung eines neuen Amtes die Hände in den Schoß legen und eine gewisse demonstrative Lustlosigkeit bei
der Vertretung der wahren deutschen Interessen an den
Tag legen, sondern dass Sie die deutschen Anliegen gerade in der Schlussphase der Konventsberatung - da geht
es um die letzte Abgrenzung und um eine Kompetenzregelung; das sind alles Punkte, die Erwin Teufel genannt
hat - als wirklicher Sachwalter deutscher Interessen vertreten. Das ist meine Aufforderung an Sie.
({15})
Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass es nicht gelungen ist, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zur qualifizierten Mehrheit überzugehen. Das
Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip wird die künftige Gestaltung einer Außenpolitik in Europa mit 25 oder
gar mehr Staaten erschweren.
Ich will dazu noch einige kurze Bemerkungen machen.
Bundesminister Fischer hat heute Morgen das SolanaPapier angesprochen; es ist ein interessantes und lesenswertes Papier. Ich bitte die Bundesregierung, es gründlich zu lesen. Gerade dem Bundeskanzler kann ich diese
Lektüre nur empfehlen. Neben der großen Übereinstimmung mit der amerikanischen Außenpolitik, die sich in
diesem Papier findet, gibt es den wichtigen Hinweis,
dass die Verteidigungsetats in Europa für diese neuen
Aufgaben nicht ausgelegt sind. Wenn der Bundesverteidigungsminister mitteilt, der Verteidigungsetat werde
erst im Jahr 2007 erhöht, dann spricht er zum einen von
einem Zeitpunkt, zu dem diese Regierung hoffentlich
längst abgewählt ist,
({16})
und zum anderen ist dieser Zeitpunkt deutlich zu spät für
eine Erhöhung des Verteidigungsetats.
Lassen Sie mich noch ein Schlusswort zur Erweiterung sagen. Wir begrüßen von ganzem Herzen die
Erweiterung der Europäischen Union um die neuen
Mitglieder. Es ist ein politischer, wirtschaftlicher und ein
kultureller Gewinn. Wir werden das im Deutschen Bundestag durch unsere Zustimmung zur Erweiterung zum
Ausdruck bringen.
({17})
Ganz getrennt davon ist die Frage zu betrachten, nach
welcher Vorschrift des Grundgesetzes wir diesem Beitritt zustimmen sollen. Ich persönlich bin der Auffassung, dass die Zustimmung mit verfassungsändernder
Zweidrittelmehrheit erfolgen sollte, damit der besonderen Qualität dieser Erweiterung Rechnung getragen
wird. Diese Erweiterung führt nämlich zu einer Vergrößerung der Europäischen Union und auch zu einer
grundlegenden Gewichtsverlagerung in den Institutionen, die sich unmittelbar auf das relative Stimmengewicht Deutschlands auswirken. Das bedeutet nach meiner Auffassung eine materielle Verfassungsänderung, die
erst mit diesem Zustimmungsgesetz rechtlich gültig wird
und die nicht bereits mit der Ratifizierung des Vertrages
von Nizza in Kraft trat.
Aus diesem Grund möchte ich zu bedenken geben, ob
wir nicht aus rechtlichen und demokratietheoretischen
Gründen gut beraten wären, die Zustimmung auf Grundlage des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79
Abs. 2 des Grundgesetzes zu erklären und die Eingangsformel des Gesetzes entsprechend zu ändern.
({18})
Wenn wir über die Erweiterung sprechen, dann müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass die Europäische Union nicht grenzenlos erweitert werden kann.
Wir müssen diese wichtige Erweiterung durchführen
und uns Zeit geben, über einige Jahre hinweg zu evaluieren, wie sie sich ausgewirkt hat. Vorfestlegungen dürfen
nicht bereits heute erfolgen.
Deswegen, Herr Bundesaußenminister, haben wir etwas Sorge über den Entscheid des Europäischen Rates,
dass zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen
Union die Türkei, obwohl mit ihr noch keine Beitrittsverhandlungen geführt werden, voll - wenn auch nicht
mit Stimme - an der Regierungskonferenz beteiligt wird.
Wir haben Sie im Verdacht, einen Automatismus einzuleiten, sodass Sie hinterher sagen: Daran konnten wir
jetzt nichts mehr ändern; die Dinge haben sich eben so
entwickelt.
Wir wollen, dass diese Fragen klug bedacht und richtig entschieden werden. Wir sind für eine europäische
Strategie im Verhältnis zur Türkei. Aber wir können
den Automatismus in Richtung einer Vollmitgliedschaft
heute und jetzt nicht billigen. Da hat der Europäische
Rat aus meiner Sicht einen schweren Fehler gemacht.
({19})
Wir werden auch darüber sprechen müssen, wie wir
uns im Hinblick auf die vielen Staaten des Westbalkans verhalten werden. Natürlich muss es auch hierfür
eine europäische Strategie geben. Aber mir stellt sich
schon die Frage, ob für all diese Staaten - mit Ausnahme
von Kroatien - eine Vollmitgliedschaft das letzte Wort
sein muss oder ob nicht eine spezielle Partnerschaft richtiger ist. Darüber muss man in Ruhe sprechen.
Wir fordern die Regierung auf, dem Deutschen Bundestag die Möglichkeit einzuräumen, darüber politisch
zu sprechen und zu entscheiden. Man sollte uns nicht
durch Vorfestlegungen quasi in einen moralischen Zugzwang bringen, aus dem wir nicht mehr herauskommen.
Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Sie unsere Unterstützung. Wenn Sie dagegen verstoßen, werden wir das hier im Deutschen Bundestag kristallklar benennen.
Herzlichen Dank.
({20})
Ich erteile dem Kollegen Michael Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Lieber Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen! Meine Herren! Lieber Herr Ministerpräsident, gelegentlich sagt man ja, der Teufel stecke im
Detail. So war das möglicherweise auch beim Lesen des
Presseartikels. Ich könnte eine ganze Menge dazu sagen.
Glücklicherweise bin ich mit meiner Kritik im Einklang
mit Rainder Steenblock und Anna Lührmann; da fühlt
man sich schon viel wohler.
Einmal ganz unabhängig davon: Es wurde ja der Gottesbezug angesprochen. Herr Außenminister, ich hoffe,
Sie stimmen mit mir darin überein, dass die Kritik an einem Mitglied der Regierung keine Gotteslästerung darstellt.
({0})
Vor diesem Hintergrund sehen Sie es mir also bitte nach,
dass ich gelegentlich - und hoffentlich auch zukünftig das eine oder andere sage, was vielleicht dem einen oder
anderen in der Regierung nicht schmeckt.
({1})
- Es mag für Sie, vor allem für die CSU-Mitglieder, ungewöhnlich sein, dass man ein Regierungsmitglied gelegentlich kritisiert. Aber das gehört, so glaube ich, zum
parlamentarischen Selbstbewusstsein,
({2})
zumal dieses Projekt, über das wir uns heute freuen können, maßgeblich durch Parlamentarierinnen und Parlamentarier zustande gekommen ist,
({3})
die dafür gekämpft und gestritten haben sowie Überzeugungsarbeit - gelegentlich auch bei Vertretern der Regierung - leisten mussten.
Wir auf unserer Seite freuen uns heute natürlich ganz
besonders. Denn die europäische Verfassung war und ist
ein sozialdemokratisches Projekt,
({4})
für das viele große Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten engagiert gestritten haben. Wenn man sich den
Verfassungsentwurf anschaut, dann wird man vieles lesen, was zum sozialdemokratischen Selbstverständnis gehört. In diesem Verfassungsentwurf wird ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, zur nachhaltigen
Entwicklung, zum sozialen Fortschritt abgegeben. Da
machen sich Sozialdemokraten stark für die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, für die Gleichstellung
sowie für die Solidarität zwischen den Generationen.
Deswegen sind wir sehr stolz auf dieses Verfassungsprojekt. Es ist maßgeblich durch nationale Parlamentarier
und Europaparlamentarier zustande gekommen, natürlich auch durch Regierungsvertreter, aus immerhin
28 europäischen Staaten. Sie haben im Konvent mehr erreicht als in den vergangenen Regierungskonferenzen.
({5})
Mit dieser Verfassung wird Europa - das ist nun
schon mehrfach gesagt worden - endlich handlungsfähiger, demokratischer und bürgernäher. In Europa wird
künftig besser erkennbar, wer die Verantwortung für
welche Entscheidung trägt. Was mir besonders wichtig
ist - unser geschätzter ehemaliger Kollege Jürgen Meyer
hat dafür ja sehr engagiert gestritten -: Mit der Grundrechtecharta verfügt die europäische Politik über ein eigenes, solides Wertefundament.
Mit ihren anspruchsvollen Zielen und Werten klärt die
europäische Verfassung zugleich, wo die Grenzen der
Europäischen Union liegen. Dieses ambitionierte Projekt
macht deutlich: Europa teilt Werte. Europa ist nicht nur
ein Europa der Handelsströme, des Marktes und der
Ökonomie. Das freut sicherlich viele Bürgerinnen und
Bürger, die mit Europa und mit der Union gelegentlich
nur den Binnenmarkt und irgendwelche Richtlinien bzw.
Wettbewerbsregelungen verbinden.
({6})
Nur wer bereit ist, diesem ambitionierten Wertefundament gerecht zu werden, und wer bereit und in der Lage
ist, dies in den nächsten Jahren und Jahrzehnten umzusetzen, der kann Mitglied der Europäischen Union werden.
Wir können nicht häufig genug - gerade auch in dieser
Debatte - die parlamentarische Methode des Konventes loben. Diesem Lob, das viele auf allen Seiten schon
zum Ausdruck gebracht haben, möchte ich mich ausdrücklich anschließen.
Ich beziehe da vor allem Jürgen Meyer ein, mit dem
wir hervorragend zusammengearbeitet haben, der immer
im Europaausschuss war, der immer berichtet hat, der
uns stellvertretend für den Deutschen Bundestag in dieses große Projekt eingebunden hat.
({7})
Das Lob geht natürlich auch an dich, Peter Altmaier,
der du regelmäßig im Ausschuss oder informell für die
eine oder andere zu klärende Frage zur Verfügung gestanden hast.
({8})
Lob zollen will ich aber auch Außenminister Fischer,
dem Staatsminister für Europa Bury und Klaus Hänsch,
der im Präsidium eine großartige Arbeit geleistet hat.
Ich nehme auch voller Respekt zur Kenntnis, was
Elmar Brok geleistet hat. Elmar Brok hat dem Konventspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing öfter einmal den
Marsch geblasen. Ich fand toll und eindrucksvoll, wie er
das gemacht hat. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, er
hat das sicherlich auch in unserem Interesse getan.
Herr Ministerpräsident Teufel, Sie haben vor allem
gegen Ihren bayerischen Kollegen gekämpft. Das
kommt ja nicht so häufig vor - auch dafür unseren
Respekt und unsere Dankbarkeit!
({9})
Wir sollten mit dem Selbstbewusstsein noch nicht
zum Abschluss kommen. Denn ich glaube, dass der
Konvent als mehrheitlich parlamentarisch besetztes Organ nicht nur zu mehr Demokratie und Transparenz geführt hat, sondern auch zu besseren Ergebnissen. Gerade
in der entscheidenden Endphase haben die Parlamentarier wesentlich dazu beigetragen, dass tragfähige Kompromisse erzielt wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo Licht ist, da ist
natürlich auch Schatten. Wir hatten gestern im Europaausschuss schon einmal Gelegenheit, im Gespräch mit
dem Außenminister, mit Jürgen Meyer und Peter
Altmaier darüber zu diskutieren, wo der Schatten liegt.
Michael Roth ({10})
Da möchte ich Herrn Kollegen Müller direkt ansprechen, der mir vorwarf, ich sei dafür, überhaupt nicht
mehr zu diskutieren. Selbstverständlich wird jeder hier
im Plenarsaal mindestens einen Punkt finden, wo er mit
dem Verfassungsentwurf nicht zufrieden ist. Die Frage
aber ist doch: Wie gehen wir mit unserer Kritik um? Da
wünschte ich mir vor allem auch von der CSU ein Stückchen mehr Verantwortungsethik. Denn wir alle wissen
doch: Wenn wir diesen Sack noch einmal aufschnüren,
dann wird das Ergebnis schlechter werden als das, was
wir vielleicht in einzelnen Teilen bekritteln. Ich stelle Ihnen, Herr Kollege Müller, die Frage: Was machen Sie,
wenn Ihre Kritikpunkte nicht umgesetzt werden? Ich
weiß, die CSU hat Erfahrung in der Ablehnung von Verfassungen. Sie haben ja auch das Grundgesetz abgelehnt.
Aber das sollte nicht die Grundlage für das europäische
Verfassungsprojekt sein.
Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Müller?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Roth, können Sie bestätigen, dass zu
dieser Debatte keinem Mitglied des Deutschen Bundestages der vollständige Vertragsentwurf vorliegt? Wir debattieren auf der Basis von Zeitungsberichten.
Herr Kollege Müller, Sie haben doch, ebenso wie
viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der CSU, bereits bevor das Ergebnis zum Abschluss gebracht wurde,
deutlich gemacht, dass Sie keine Verfassung wollen,
dass Sie das ganze Projekt ablehnen, dass Sie hier und
dort etwas zu bekritteln haben.
({0})
Sie müssen in Ihren eigenen Reihen klären, wohin die
Reise Ihrer Meinung nach gehen soll. Wollen Sie das
Verfassungsprojekt konstruktiv begleiten oder wollen
Sie dem Verfassungsprojekt Steine in den Weg legen?
Das ist die Frage.
Herr Kollege Müller, ich dachte bisher, dass wir in
diesem Hause alle der Meinung sind, dass es um eine
konstruktive, kritische Begleitung dieses Verfassungsprojektes geht.
({1})
Wir haben heute schon viel über Handlungsfähigkeit
gesprochen. Die Handlungsfähigkeit ist der entscheidende Lackmustest für Europa. Deswegen müssen wir
das Prinzip der nationalen Vetos überwinden. Wer
glaubt, dass wir dem nationalen Interesse dienen, indem
wir in allen Fragen auf dem Einstimmigkeitsprinzip beharren, der irrt.
({2})
Wir bringen Europa im Sinne der Bürgerinnen und Bürger nur voran, wenn wir den Mut aufbringen, auch in
vielen zentralen Politikfeldern auf das Einstimmigkeitsprinzip zu verzichten; denn ohne ein handlungsfähiges
Europa können wir die Globalisierung mit ihren Risiken
und Chancen nicht demokratisch gestalten. Das muss
uns allen klar sein. Deswegen treten wir für den Grundsatz ein - das haben wir in allen diesbezüglichen Bundestagsbeschlüssen manifestiert -, dass Mehrheitsentscheidungen die Regel sein müssen.
({3})
Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ramsauer?
Selbstverständlich, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Roth, nachdem Sie der Frage des Kollegen Dr. Müller ausgewichen sind, weil diese Frage Ihnen
und den Regierungsfraktionen - das vermute ich - unangenehm ist, möchte ich sie noch einmal stellen und präzisieren: Liegt dieses Dokument vor oder nicht? Meines
Wissens liegt es nicht vor. Außerdem möchte ich wissen,
wie Sie das Fehlen des Dokuments bewerten.
Herr Kollege Ramsauer
({0})
- ich weiche überhaupt nicht aus -, was wollen Sie denn
nun von mir?
({1})
Eben haben Sie moniert, ich kritisiere die Regierung und
den Außenminister, weil die Regierung mit Unterstützung der Ressorts 57 Änderungsanträge vorgelegt hat,
und jetzt fragen Sie mich, ob das Projekt abgeschlossen
sei. Die Verfassung liegt vor. Wir ringen noch gemeinsam darum, was im dritten Teil stehen soll.
({2})
- Herr Ramsauer, Sie waren doch gar nicht dabei. Ich
frage mich, warum Sie diese Frage stellen. Ich wende
mich an den Kollegen Müller.
Die Frage, die wir hier zu klären haben, ist: Begleiten
wir den Verfassungsprozess konstruktiv oder fangen wir
schon frühzeitig an herumzukritteln, sodass sich eine
Ablehnung abzeichnet? Das müssen Sie innerhalb der
Union klären. Das können wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten nun wirklich nicht für Sie klären.
Michael Roth ({3})
({4})
Lassen Sie mich zur Handlungsfähigkeit zurückkommen. Die Staaten, die gemeinsam handeln und gestalten
wollen, werden Wege aus der Vetofalle suchen und finden. Eine Avantgarde integrationswilliger Staaten
- innerhalb der Union hat es vor vielen Jahren Kollegen
gegeben, die ein entsprechendes Modell skizziert haben wäre die einzige Alternative zu einem Europa des Stillstandes. Wir wollen das nicht. Weil wir das nicht wollen,
müssen wir für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Europäischen Union streiten und kämpfen. Die eine oder andere Überzeugungsarbeit müssen
wir in diesem Zusammenhang noch leisten.
({5})
Mit dem Verfassungsentwurf allein ist der Reformbedarf in der europäischen Politik aber noch längst nicht
gestillt. Den Reformbedarf gibt es vor allem bei den nationalen Parlamenten, die die Rolle der Mitgestalter von
Politik innehaben.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird die Stärkung der
parlamentarischen Dimension zur Leitlinie bei der innerstaatlichen Umsetzung des Konventergebnisses machen.
Wir müssen unsere europapolitische Aufgabe im Plenum
des Deutschen Bundestages noch intensiver als bislang
wahrnehmen. Wir müssen die uns zur Verfügung stehenden Instrumente und Mechanismen konstruktiv, aber
auch entschlossen und selbstbewusst nutzen. Nur so
können wir unsere Rolle als Partner und Mitgestalter der
europäischen Politik wirklich ausfüllen.
Wer den Konvent und die parlamentarische Methode
lobt, muss auch national die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Ich schlage daher vor, dass wir unsere bisherige Arbeit kritisch hinterfragen, Konsequenzen aus der
europäischen Verfassung ziehen und Reformvorschläge
unterbreiten. Es muss darum gehen, die parlamentarische Mitgestaltung des Deutschen Bundestages in der
europäischen Politik innerstaatlich zu stärken. Auch hier
gilt es, mehr Demokratie zu wagen.
Es gibt viele Fragen, die wir beantworten müssen:
Wie behandeln wir die europapolitischen Themen hier
im Plenum? Sitzen hier nur die üblichen Verdächtigen
oder betrifft das Thema auch die anderen Fachbereiche,
die Arbeitsgruppen und die Ausschüsse? Wie effektiv
nutzt der Europaausschuss seine Kontroll- und Mitwirkungsrechte? Wie sollen wir künftig mit dem in der
europäischen Verfassung verankerten Klagerecht eigentlich umgehen? Wir müssten zu gegebener Zeit auch einmal mit dem Bundesrat besprechen, wie wir dieses Mittel konstruktiv zu nutzen bereit und in der Lage sind.
Es kann natürlich nicht darum gehen, dass sich der
Bundestag zu einem Blockadeinstrument europäischer
Politik entwickelt; das wünschen sich wohl nur manche
Kolleginnen und Kollegen aus den Reihen der CSU.
Aber wir müssen Regierungshandeln konstruktiv und
aktiv mitgestalten. Das ist eine große Aufgabe, die vor
uns steht und die wir erledigen müssen. Ich hoffe, dass
wir die Debatte um die europäische Verfassung auch hier
im Parlament dazu nutzen können, dort Fortschritte zu
erzielen, wo wir möglicherweise feststellen, dass wir
noch nicht weit genug sind. Das sollte unsere gemeinsame Anstrengung sein.
Viel ist schon über das EU-Referendum gesprochen
worden. Ich meine, dass auf Seiten dieser Koalition niemand überzeugt werden muss, wenn es um mehr direkte
Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger geht. Das fordern wir seit 1998.
({6})
Aber, Herr Kollege Löning und Frau LeutheusserSchnarrenberger, es kann doch nicht darum gehen, dass
wir diese Frage hier isoliert betrachten, wenn es um das
europäische Referendum geht.
({7})
Wer den Bürgerinnen und Bürgern in europapolitischen
Fragen mehr zutraut und ihnen mehr Entscheidungsmöglichkeiten gestatten will - da sind wir auf einer Linie -,
der muss es doch auch auf nationaler Ebene tun. Der
muss bereit sein - das ist unser Angebot an die CDU/
CSU -, auch auf der nationalen Ebene im Grundgesetz
die Instrumente für mehr direkte Demokratie zu schaffen.
({8})
In dieser Frage, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sind
wir doch überhaupt nicht auseinander und dafür müssen
wir kämpfen. Da können Sie Überzeugungsarbeit leisten, wir werden das an entsprechender Stelle auch tun.
({9})
Jürgen Meyer ist dafür schon gelobt worden. Wer hat
denn für ein Bürgerbegehren in der europäischen Verfassung gestritten? - Das waren doch Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten und niemand sonst. Mehr Bürgerbeteiligung gibt es entweder ganz oder gar nicht, das ist
unsere Position. Deswegen würden wir uns freuen, wenn
sich alle Fraktionen an einem sorgfältig geschnürten Gesamtpaket beteiligten.
Der Konvent - damit komme ich zum Fazit - hat gute
Arbeit geleistet und wir alle haben diesem Konvent zu
danken. Diese Verfassung gibt Antworten auf drängende
Fragen vieler Menschen. Wie können wir die Risiken
und die Chancen der Globalisierung demokratisch und
sozial gestalten? Und vor allem: Wie sichern wir Frieden
und Wohlstand gerechter und nachhaltig? Die europäische Verfassung, liebe Kolleginnen und Kollegen, vermag aber nur dann zu einem Projekt der Bürgerinnen
und Bürger zu werden, wenn wir Parlamentarier hier im
Michael Roth ({10})
Bundestag Europa endlich als unsere gemeinsame Aufgabe begreifen.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Sozialdemokraten als Paten des Verfassungsgedankens? Wenn ich mich recht erinnere, haben wir unseren
Freund Guy Verhofstadt, den liberalen belgischen Ministerpräsidenten, erfolgreich bedrängt, einen Verfassungskonvent in Laeken einzuberufen, als Sie noch das Ergebnis von Nizza schöngeredet haben. Das ist für mich eine
bemerkenswerte Bewertung.
({0})
Was die Frage des Referendums angeht, Herr Kollege
Roth: Ich bin schon der Auffassung, dass man nicht sagen kann, wir hätten hier eine europapolitische Entscheidung wie jede andere zu treffen. Es geht vielmehr um
eine fundamentale Entscheidung, die auf Jahrzehnte,
wenn nicht länger, die Zukunft unseres Kontinents und
auch unseres Landes bestimmen wird. Ich halte es für einen richtigen Gedanken, bei einer solchen Entscheidung
die grundsätzliche Zustimmung der Bevölkerung, des
Volkes, einzuholen,
({1})
ohne dass man grundsätzlich darüber entscheidet, wie
man sonst mit Bürgerbeteiligung umgeht.
Meine Damen und Herren, es liegt ein vorläufiges Ergebnis vor; das ist vollkommen richtig. Wir müssen auch
weiterhin aufpassen, denn es sind noch wesentliche Arbeiten zu leisten, gerade im dritten Teil. Ich denke nur an
das Thema Sozialunion. Wir müssen bis zuletzt darauf
achten, dass die Sozialunion nicht durch die Hintertür
doch in dem Vertrag festgeschrieben wird. Diese könnten wir uns nicht leisten und die Bürgerinnen und Bürger
würden sie auch nicht mittragen. Zum Beispiel vor dem
Hintergrund, dass Rot-Grün gerade angekündigt hat, die
Rentenerhöhung nicht stattfinden zu lassen, können wir
keinen großen Sozialtopf in Brüssel aufmachen. Das
wäre nicht gut.
({2})
Eine Zwischenbewertung: Das, was hier vorgelegt
wird, ist beachtlich und weit mehr, als ich bis vor kurzem erwartet habe. Denn gerade in der letzten Zeit sind
erhebliche Verbesserungen durchgesetzt worden. Das
begrüße ich außerordentlich.
Es kommt natürlich aus allen Richtungen auch Kritik,
die durchaus nachvollziehbar ist. Diese Kritik kann man
in drei Strömungen einteilen: Die erste Gruppe von Kritikern will allen Frust abladen, den sie schon immer über
Europa hatten. Darauf muss man nicht großartig eingehen.
Die zweite Gruppe bezieht ihre Kritik darauf, ob der
Text im Grundsatz und in Details Gefahren birgt. Als
Beispiel ist zu nennen, ob die Tür zur weiteren Bürokratisierung und Zentralisierung geöffnet wird. Ich denke,
das ist nicht der Fall. Ministerpräsident Teufel hat überzeugend dargestellt, wie durch die Kompetenzordnung,
aber auch durch die Subsidiaritätsregelung tatsächlich
eine gute Barriere geschaffen worden ist, um Schlimmes
zu verhindern.
Ich denke, Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen im
Deutschen Bundestag, sind sich noch nicht darüber im
Klaren, was auf Sie zukommt.
({3})
Das bedeutet richtig viel Arbeit. Frau Präsidentin, das
Präsidium des Bundestages muss sich einmal damit befassen, wie diese geleistet werden soll. Mit der klassischen Methode des Europaausschusses, der sich einmal
in der Woche von der Bundesregierung informieren lässt
und ein paar Dinge durchwinkt, wird es in Zukunft nicht
getan sein. Das wird für den Deutschen Bundestag eine
ganz andere Qualität der Arbeit in der Europapolitik bedeuten.
({4})
Die dritte Kritik betrifft den Punkt - auch ich habe
mich das gefragt -, ob dieser Text weit genug geht.
Diese Kritik nehme ich am wichtigsten, weil sie mir natürlich auch am sympathischsten ist. Ich hätte natürlich
weiter gehende Ambitionen gehabt und hätte mir gewünscht, man hätte Europa vollständig föderal durchdekliniert. Ich hätte mir natürlich eine geradezu architektonische Ästhetik und bestechende Schlichtheit wie die der
Entwürfe von Philadelphia oder Herrenchiemsee gewünscht.
Das ist aber nicht zu erwarten gewesen, auch vor dem
historischen Hintergrund; denn es haben nicht nur die
Jeffersons, Washingtons oder die Carlo Schmids und die
Adenauers gefehlt, sondern wir sind in einer ganz anderen Situation. Das ist keine Verfassung, die nach einer
historischen Katastrophe, nach einem furchtbaren Krieg
oder nach einer Revolution entsteht, sondern eine Verfassung, die auf dem aufbaut, was ist und was die Nationen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen bewahren wollen. Das ist das Europa der Einheit in Vielfalt
und nicht der Zwietracht in Einfalt.
Es ist doch die Erkenntnis des letzten Jahrhunderts
({5})
- Herr Minister, diese Bemerkung war nicht besonders
pfiffig -, dass ein Verfassungsentwurf, der versucht, die
Vereinheitlichung, den Schmelztiegel, den melting pot,
herbeizuführen, der keine Rücksicht auf die gestandenen
Traditionen und Kulturen nimmt, der nicht erkennen
lässt, dass Europa seine Stärke in dieser Verschiedenheit,
in dieser Diversität hat zum Scheitern verurteilt ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist das, was hier vorliegt, ein
großer Entwurf.
Deswegen ist es auch völlig irrelevant, darüber zu
streiten, wo wir in der Entwicklung vom Staatenbund
zum Bundesstaat stehen. Es ist etwas ganz Einzigartiges,
was wir hier entstehen lassen. Das ist eine Herausforderung, die Europa noch nie hat bewältigen müssen. Es
geht um die Organisation der Selbstbehauptung der
Europäer im globalen Wettbewerb.
({6})
Wirtschaftlich haben wir das schon lange begriffen.
Mit den Römischen Verträgen haben ihre mutigen Väter
und Mütter etwas Erstaunliches, etwas Einzigartiges zustande gebracht. Jetzt kommt die Dimension des Rechts
und der inneren Sicherheit hinzu. Aber wenn wir die
Außenpolitik als äußere Sicherheit im weitesten Sinne
verstanden nicht dazu bringen, dann wird das Gesamtprojekt scheitern. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch
in dem Bereich der äußeren Sicherheit im weitesten
Sinne, in der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik, vorankommen, auch bei den Methoden
und den Institutionen. Das ist der Punkt, an dem ich
zwar all denjenigen voll zustimme, die sagen, das Ganze
jetzt nicht aufzudröseln - das wird hinterher eine Verschlimmbesserung geben und nichts Besseres -,
({7})
aber wenn es gelingen sollte - ich bitte die Bundesregierung, sich nach Kräften darum zu bemühen -, in den
Entscheidungsverfahren in der Außen- und Sicherheitspolitik einen großen Fehler zu vermeiden, dann sollte alles daran gesetzt werden.
({8})
Nach den Erfahrungen mit der Schlussakte von Helsinki und den damaligen Blockademöglichkeiten, die
dem einzelnen Land eingeräumt waren, kann es nicht
sein, dass Europa in diese Falle hineintappt. Wir brauchen zumindest so etwas wie n minus 1 oder eine superqualifizierte Mehrheit in der Außenpolitik.
Abschließend noch eine Anmerkung zum europäischen diplomatischen Dienst. Hier verstehe ich die Aufregung überhaupt nicht. Wenn Europa als globaler Akteur ernst genommen werden will, dann braucht es einen
wirklichen Auswärtigen Dienst.
({9})
Dabei kann es sich nicht einfach um die Übertragung der
Delegationsprinzipien der Kommission handeln.
({10})
Die Delegationsbüros der Kommission sind keine diplomatischen Vertretungen, sondern sie sind in den meisten
Fällen Handelsmissionen oder Entwicklungsagenturen.
Wir brauchen einen wirklichen diplomatischen Dienst,
der zum Beispiel auch die Konsequenzen aus dem Innen- und Rechtskapitel zieht, der Rechts- und Konsularangelegenheiten bewältigt und der für klassische Fragen
der Außen- und Sicherheitspolitik der Diplomatie zuständig ist.
({11})
Herr Müller, natürlich muss das so geschehen, dass
man Synergien schafft und vom nationalen Bereich
Dinge auf die europäische Ebene überträgt und zusammenführt.
({12})
Vertun wir uns aber nicht: Die Betonmischer sind schon
überall am Werke, sowohl in der Kommission als auch
in den nationalen Regierungen.
Meine Damen und Herren, die Europäer leisten sich
einen insgesamt doppelt so großen Auswärtigen Dienst
wie die Amerikaner.
({13})
Bei uns sind es 40 000 Personen, bei den Amerikanern
sind es 20 000.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Meine Redezeit ist zu Ende. Deswegen werde ich dies
nicht weiter ausführen.
Wenn es uns nicht gelingt, diese Synergien zwischen
der nationalen und der europäischen Ebene zustande zu
bringen, dann wird ein ganz wesentliches Element, nämlich die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen
Union, ein Torso bleiben.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Noch vor wenigen Wochen haben hier in diesem
Hause eine ganze Reihe von Kollegen das Ende der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorausgesagt. Der Gipfel von Thessaloniki hat all diesen Zweiflern und Schwarzmalern einen Strich durch die
Rechnung gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass heute
von der Opposition - auch von Ihnen, Herr Hoyer und
Herr Hintze - deutlich gesagt worden wäre, dass sich die
Befürchtungen, die Sie hier geäußert haben, nicht bewahrheitet haben.
Gerade die deutsche Bundesregierung hat es mit ihren
Initiativen und ihrer Strategie, aber auch mit ihren Inhalten geschafft, nach wenigen Wochen dieser Differenzen
eine gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie auf
den Weg zu bringen und abgestimmt vorzulegen. Das ist
ein ganz großer Erfolg, der auch von Ihnen hätte gewürdigt werden müssen.
({0})
Noch vor wenigen Jahren erschien uns allen eine europäische Sicherheitsstrategie doch als eine ferne Vision.
Jetzt haben sich die Regierungen Europas darangemacht,
dass diese Vision eine europäische Realität wird. Ich
möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Natürlich hat der
Hohe Repräsentant der EU, Solana, einen ganz wichtigen Anteil daran gehabt, aber auch die deutsche Bundesregierung und unser Außenminister haben einen ganz
wichtigen Baustein dazu beigetragen, diese Strategie zu
unterstützen. Dafür möchte ich mich im Namen meiner
Fraktion sehr herzlich bedanken.
({1})
Ich glaube, dass wir von dem, was in den letzten Wochen und Monaten in Europa in der Außenpolitik geschehen ist, nichts beschönigen dürfen. Diese sehr
schwierige außenpolitische Situation hat den Bürgerinnen und Bürgern Europa und unsere Regierungen eher
als zerstritten dargestellt. Wir müssen aber auch erkennen, dass sich die Kraft der europäischen Gedanken
durchgesetzt hat. Wir haben gesehen, was auf den Straßen und Plätzen dieses Europas los war. Die Menschen
in diesem Europa wollen eine gemeinsame Sicherheitspolitik und eine Identität Europas in dieser Frage. Wenn
wir gesehen haben, wie schnell es die Regierungen jetzt
geschafft haben, dem Weg zur europäischen Identität
und dem Wunsch der Menschen Europas, zu einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie zu kommen, zu folgen
und ihn zu realisieren, dann wissen wir, dass das den Europäern wirklich Vertrauen für die Zukunft gibt, dass
diese Kraft der europäischen Gedanken auch in Politik
umgesetzt werden kann.
({2})
In Thessaloniki hat Europa gerade in diesem Bereich
zu seinen Grundlagen zurückgefunden. Europa war und
ist ein Friedensprojekt. Friedens- und Sicherheitspolitik bedeutet für uns sehr viel mehr, als Europa nur vor
Kriegen zu bewahren. Die europäische Sicherheitsstrategie, wie sie in Thessaloniki vorgestellt wurde, geht von
einem modernen und umfassenden Verständnis von Friedens- und Sicherheitspolitik aus. Frieden und Sicherheit
bewahren heißt natürlich auch, dass wir uns den neuen
Risiken und Bedrohungen mit neuen Methoden zu stellen haben. Dafür ist kein europäischer Nationalstaat gewappnet. Das kann die Europäische Union nur als gemeinsam handelnder politischer Akteur realisieren.
Die Strategie, die Solana in Thessaloniki vorgelegt
hat, enthält die notwendige Mischung aus Instrumenten.
Sie enthält politische, ökonomische und natürlich auch
militärische Instrumente. Dieses Konzept einer umfassenden - das sage ich sehr deutlich - und mit dem
Schwerpunkt auf Vorbeugung orientierten Sicherheitspolitik, die als letzten Aspekt militärische Maßnahmen
enthält, war für die rot-grüne Koalition immer handlungsleitend. Ich bin froh, dass diese Grundlagen einer
vorbeugenden Friedenspolitik für die europäische Sicherheitsstrategie identitätsstiftend geworden sind.
Dieses umfassende Verständnis von Sicherheit basiert
auf den Prinzipien der Multilateralität. Wir müssen diese
über den europäischen Kernraum hinausgehende Strategie weiterentwickeln. Das gilt auch für unsere Nachbarn,
zu denen wir ein gutes Verhältnis entwickeln wollen und
müssen und die Teil dieser Sicherheitsstrategie sind.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Türkei
sagen. Als unser östlicher Nachbar im Mittelmeerraum
ist sie Teil dieser Strategie. Der Kollege Hintze hat heute
wieder einmal an diesem Verhältnis gezündelt und seine
populistische Argumentation mit der Frage des Beitritts
der Türkei zur Europäischen Union verbunden. Dies
halte ich für ausgesprochen gefährlich und gegenüber
den Entwicklungen, die in der Türkei zurzeit ablaufen,
für kontraproduktiv. Wenn wir ein Interesse daran haben,
diese Region zu stabilisieren und Menschenrechte
durchzusetzen, wenn das, was wir als Kopenhagener
Kriterium bezeichnen, Eingang in die Politik der Türkei
und die gemeinsame Politik der Europäischen Union finden soll, dann verbietet sich hier jede populistische und
innenpolitisch motivierte Agitation insbesondere aus
Richtung der CDU/CSU.
({3})
Wir haben ein Interesse an Sicherheit. Diese darf nicht
billigen populistischen Sprüchen geopfert werden, auch
wenn in Bayern Wahlkampf herrscht. Das geht so nicht.
Das Dach dieser Sicherheitspolitik - auch das hat
Solana sehr deutlich gemacht - ist die Stärkung internationaler Organisationen. Der Handlungsrahmen ist die
Charta der Vereinten Nationen und deren Unterstützung. Auch wenn wir militärische Gewalt als letztes
Mittel nicht ausschließen, so sagen wir doch sehr deutlich - darin sind wir uns mit allen europäischen Regierungen, die sich in diesem Bereich zusammengefunden
haben, einig -: Diese Möglichkeit bleibt an Kap. VII der
Charta der Vereinten Nationen gebunden. Ich bin zutiefst
davon überzeugt: Nur ein effektiver Multilateralismus
bewahrt auf diesem Planeten langfristig Frieden und Sicherheit.
({4})
Diese Strategie stattet uns aber auch mit etwas anderem Notwendigen aus: Wir alle haben betont, dass ein
gutes transatlantisches Verhältnis im Interesse der Europäischen Union liegt. Durch die Vorlage dieses Strategiepapiers von Solana hat die Europäische Union eine
vernünftige Grundlage erhalten, um mit unseren Freundinnen und Freunden in Amerika eine gemeinsame Sicherheitsstrategie zu entwickeln, bei der wir als EuroRainder Steenblock
päer auf der Grundlage unserer Interessen und
Vorstellungen zusammen mit den Amerikanern ein Sicherheitskonzept entwickeln. Diese Einigkeit der europäischen Staaten ist eine wichtige Voraussetzung, um
hier voranzukommen.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich
möchte auch Folgendes sagen - denn das ist ebenfalls
Bestandteil der Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union -: Wir müssen aktiver werden. Wir müssen als Europäer, als europäischer Akteur, global stärker
auftreten. Das liegt an unserer größeren Verantwortung.
Wir müssen Krisen frühzeitiger erkennen und dann handeln können. Unsere Aktionen müssen kohärenter werden. Diplomatische Bemühungen müssen am gleichen
Strang ziehen. Wir müssen eine Außenpolitik betreiben,
die mit der Entwicklungspolitik und der Handelspolitik
kohärent ist. Diese Synergieeffekte müssen wir nutzen.
Das geht nur dann, wenn wir auch einen gemeinsamen europäischen diplomatischen Dienst haben. Nur
auf diesem Feld werden wir die Möglichkeit haben, solche Strategien in den einzelnen Ländern auch materiell
umzusetzen oder auch Vorwarnsituationen schon sehr
frühzeitig politisch umsetzen. Deshalb haben wir großes
Interesse daran, dass der Antrag der Bundesregierung,
die Europäische Union bzw. den europäischen Außenminister mit einem aktionsfähigen diplomatischen Dienst
zu versehen, angenommen und dies auch durchgesetzt
wird.
({5})
- Kollege Müller, in dem Punkt, dass dies Konsequenzen für die nationalen diplomatischen Dienste haben
muss, sind wir uns überhaupt nicht uneinig.
({6})
Wenn wir in den Bereichen der europäischen Sicherheitsstrategie und der europäischen Außenpolitik eine
Priorität setzen wollen, dann müssen wir auch ehrlicherweise sagen, dass die nationalen Möglichkeiten beschränkt und begrenzt werden müssen und dass wir hier
zu Einsparungen kommen müssen. Das ist überhaupt
keine Frage.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Schluss noch einen Gedanken äußern: Im europäischen Raum von Freiheit und Sicherheit besteht ein
Problem, das wir lösen müssen. Ich hoffe, dass die deutsche Bundesregierung hier auch wieder handlungsfähiger wird. Es geht um das Thema Einwanderung und
Asyl. Wir sind - das sage ich für die Bündnisgrünen ein bisschen enttäuscht, dass wir auf diesem Gipfel noch
nicht, wie von uns gewünscht, in der Lage waren, die
Flüchtlingsrichtlinie unter griechischem Vorsitz zu verabschieden. Das wäre an dieser Stelle ein gutes Signal
gewesen. Leider sind wir durch die innenpolitische Situation blockiert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sich Folgendes überlegen: Die Situation, die wir im Bereich unserer Asyl-, Einwanderungsund Flüchtlingspolitik haben, dass wir nämlich auf europäischer Ebene an dieser Stelle von vielen als Bremser
dargestellt werden, hängt auch sehr stark damit zusammen, dass Sie nicht in der Lage sind, für die Bundesrepublik Deutschland ein fortschrittliches Einwanderungsgesetz zu realisieren.
({8})
Herr Kollege Steenblock, Ihre Zeit ist deutlich überschritten.
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Das macht sehr
deutlich, dass Sie, wenn Sie denn mitgestalten können,
nicht diejenigen sind, die nach vorne schauen, sondern
dass Sie, wenn es um konkrete Sachpolitik geht, leider
im Bremserhäuschen der europäischen Politik sind.
Wir wollen Europa gemeinsam gestalten und weiterentwickeln. Dafür stehen die Grünen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Altmaier,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen, der Entwurf des Verfassungsvertrages ist, wie er bis jetzt in den Teilen I und II
vorliegt, sicherlich weit davon entfernt, perfekt zu sein.
Es gibt vieles, was man an ihm kritisieren kann. Sicherlich gibt es auch viele Kritikpunkte, die man zu Recht an
den Konvent richten kann. Wenn ich mir allerdings ansehe, wie schwer sich nationale Regierungen bisweilen
damit tun, auch nur einen einigermaßen verfassungskonformen Haushalt vorzulegen oder sich auf das Vorziehen
einer Steuerreform zu einigen, dann, meine ich, ist das,
was der Konvent in den letzten eineinhalb Jahren zustande gebracht hat, mit Recht als historisch zu bezeichnen.
Wir haben das geschafft, und zwar entgegen vieler
Unkenrufe und vor dem Hintergrund der Zerstrittenheit
Europas in der Irakkrise, die viele dazu veranlasst hat, zu
sagen, dass die Europäische Union noch nicht so weit ist,
gemeinsam zu handeln: Sie ist an einem wichtigen Punkt
gescheitert. Trotzdem hat es der Konvent geschafft, sich
auf einen Entwurf zu einigen, der von 98 Prozent aller
Delegierten im Konvent unterschrieben werden wird.
Das heißt, mit Ausnahme eines dänischen Nationalisten und eines britischen Abgeordneten haben wir alle,
von links über die Mitte bis rechts, von den Liberalen bis
hin zu den Grünen, es geschafft, uns auf einen Entwurf
zu einigen. Das ist ungeachtet des konkreten Inhalts ein
entscheidendes Signal dafür, dass die Europäische Union
schon heute mehr ist als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Es zeigt vielmehr, dass sich die Politiker ihrer
Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union
bewusst sind.
Dass die Einigung auf den Verfassungsentwurf gelungen ist, ist zum einen dem Prinzip der Öffentlichkeit zu
verdanken. Der Europäische Konvent hat in der Öffentlichkeit, das heißt unter der Kontrolle der Medien und
der Bürgerinnen und Bürger, getagt. Das hat im Gegensatz zu Regierungskonferenzen und Verhandlungen hinter verschlossenen Türen die Möglichkeit, offensichtlich
unsinnige Positionen zu vertreten, erheblich reduziert.
Zum anderen lag der Einigung das Bewusstsein zugrunde, dass es nach dem Scheitern der Regierungskonferenz in Nizza nur diese eine Chance gab, die Europäische Union am Vorabend der Erweiterung zukunftsfähig
zu machen. Wenn der Konvent scheitern würde, gäbe es
so schnell keine zweite Chance für die Europäische
Union. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns für die ersten
beiden Teile auf ein Ergebnis geeinigt haben. Ich hoffe,
dass wir die Kraft finden, dies im Juli auch für den dritten und vierten Teil des Konvents zu erreichen.
Ich bedauere es, wie andere Redner auch, dass es
nicht gelungen ist, einen eindeutigen Bezug auf die
Transzendenz - das heißt einen Bezug zu Gott oder zu
den christlichen Traditionen und Überlieferungen Europas - in den Verfassungsvertrag aufzunehmen. Wir haben dafür gekämpft, weil wir glauben, dass dies bei allem Respekt gegenüber Andersdenkenden ein wichtiger
Beitrag gewesen wäre, um die europäische Identität nach
innen wie nach außen sichtbar zu machen.
Ich stelle fest, dass sich der Bundesaußenminister
nach seiner Audienz beim Papst - offenbar wurde er
vom Heiligen Geist überzeugt - in dieser Frage stärker
als in der Vergangenheit konstruktiv eingesetzt hat. Dafür bedanke ich mich ausdrücklich bei ihm. Ich hätte
mich allerdings gefreut, wenn es zu gemeinsamen Anträgen der Vertreter von CDU/CSU und Rot-Grün im Konvent zu diesem Thema gekommen wäre.
Trotzdem ist das, was wir erreicht haben, nicht wenig
und nicht unbeachtlich. Erstmals wird auf die religiösen
Überlieferungen Europas Bezug genommen. Es gibt einen strukturierten Dialog mit den Kirchen; des Weiteren
ist die Anerkennung ihrer rechtlichen Stellung nach nationalem Recht zu nennen.
Vor allen Dingen ist durch die Aufnahme der Grundrechte-Charta in den Verfassungsvertrag Art. 1 Abs. 1
Satz 1 der Grundrechte-Charta - er lautet: Die Würde des
Menschen ist unantastbar - rechtsverbindlich geworden.
Dieser Satz ist identisch mit Art. 1 Satz 1 des deutschen
Grundgesetzes. Das macht zusammen mit dem Wertekanon der Grundrechte-Charta insgesamt deutlich, dass
diese Europäische Union eine Wertegemeinschaft ist.
Dies wird weit über die Europäische Union hinaus auch
in der Dritten Welt und in Ländern, in denen der Demokratisierungsprozess noch im Gange ist, seine Wirkung
entfalten.
Meine Damen und Herren, wenn Sie wie die Mitglieder des Konvents in öffentlichen Veranstaltungen über
das Ergebnis reden, werden Sie feststellen, dass der
Verfassungsentwurf auf ein sehr positives Echo stößt,
auch wenn den Bürgerinnen und Bürgern die Einzelheiten nicht bekannt sind. Denn die Menschen haben das
Gefühl, dass am Vorabend der Erweiterung und angesichts der unglaublichen Veränderungen, die sich weltweit im Rahmen der Globalisierung und der kriegerischen Konflikte der vergangenen beiden Jahre ergeben,
notwendig ist, der Europäischen Union eine Verfassung
in Form eines Vertrages zu geben, die nicht nur ihre
Identität, sondern auch ihre Rechte bestimmt und gleichzeitig abgrenzt und die Sicherheit für die europäischen
Bürger und die Akteure auf europäischer Ebene vermittelt.
Wir haben mit diesem Verfassungsvertrag die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass eine europäische Öffentlichkeit zustande kommt. Die Schaffung des Europäischen Legislativrates, der in Zukunft in öffentlicher
Sitzung über die europäische Gesetzgebung zu entscheiden hat, ist ein entscheidender Schritt weg von einer undurchsichtigen Europäischen Union, in der Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden, hin
zu einer Parlamentarisierung des politischen Prozesses
in Europa.
Dass der Kommissionspräsident in Zukunft vom Europäischen Parlament gewählt wird - zwar auf Vorschlag
des Europäischen Rates, aber unter Berücksichtigung
der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament -, wird dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei zukünftigen Europawahlen auch über die europäische Regierung und über politische Alternativen abstimmen können. Das wird wiederum zu einer
politischen Debatte in Europa führen, so wie sie das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag
von Maastricht eingefordert hat.
({0})
Ich verhehle nicht, dass wir in einem Bereich nicht so
weit gekommen sind, wie ich persönlich mir das gewünscht hätte. Das ist die Ausdehnung des Prinzips der
Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit auf fast
alle Politikbereiche. Wir haben es zwar geschafft, von
dem sehr komplizierten Prinzip der Stimmgewichtung
gemäß dem Vertrag von Nizza zu einem einfachen System der doppelten Mehrheit, das heißt der Mehrheit der
Mitgliedstaaten und der Mehrheit der Bevölkerungen,
überzugehen, was dazu führt, dass auch die deutsche Bevölkerungszahl mehr als bisher ihren Niederschlag in
europäischen Entscheidungen findet. Wir haben es aber
nicht geschafft, uns zum Prinzip der MehrheitsentscheiPeter Altmaier
dung in all den Bereichen zu bekennen, die keinen verfassungsändernden Charakter haben oder die nichts mit
der Finanzausstattung der Europäischen Union zu tun
haben. Ich persönlich bin aufgrund meiner langjährigen
Erfahrungen als Beamter in der Europäischen Union und
als Abgeordneter im Europaausschuss des Deutschen
Bundestages überzeugt, dass das Einstimmigkeitsprinzip
überall dort, wo es im konkreten politischen Alltag zur
Anwendung kommt, dazu führt, dass die Entscheidungen länger dauern sowie schlechter und teurer werden.
({1})
Wir konnten in den letzten Wochen und Monaten im
Konvent beobachten, dass sich, ausgehend von den Bereichen der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik, in denen die Irakkrise die Atmosphäre vergiftet und das Vertrauen zerstört hat, zunehmend die
Erkenntnis durchgesetzt hat, dass wir noch nicht imstande sind, überall zum Prinzip der Mehrheitsentscheidungen überzugehen.
Damit komme ich zu einem Punkt, der für die abschließenden Beratungen des Konvents in den nächsten
Wochen sicherlich von großer Bedeutung sein wird. Das
ist die Frage, wie wir mit dem Bereich der Zuwanderung und des Asyls umgehen sollen. Selbstverständlich
- das bestreitet sicherlich niemand in diesem Hohen
Hause - kann man über die Fragen des Asyls von Bürgerkriegsflüchtlingen und der Zuwanderung auf europäischer Ebene diskutieren und kann die damit zusammenhängenden Probleme in vielen Bereichen nur auf
europäischer Ebene lösen. Deshalb hat die damalige
CDU/CSU-FDP-Bundesregierung in Maastricht und
Amsterdam dafür gesorgt, dass eine entsprechende Zuständigkeit in den europäischen Verträgen festgeschrieben wird.
Ich glaube allerdings - das möchte ich mit der gleichen Deutlichkeit sagen -, dass wir angesichts der enormen Unterschiede in der Wirtschaftskraft und insbesondere angesichts der augenblicklichen wirtschaftlichen
Situation der Mitgliedstaaten gut daran getan hätten, darüber nachzudenken, ob wirklich alle Entscheidungen in
diesem Bereich auf europäischer Ebene getroffen werden
müssen. Das wäre auch ein Signal dafür gewesen, dass es
möglich ist, Zuständigkeiten, die einmal auf Europa
übertragen worden sind, wieder auf die nationale Ebene
zurückzuübertragen. Zuständigkeit für Bürgerkriegsflüchtlinge? - Selbstverständlich! Zuständigkeit für
Asylfragen? - Selbstverständlich! Aber sind wir wirklich
der Auffassung, dass die Zuwanderung zum nationalen
Arbeitsmarkt für alle europäischen Länder gleich geregelt und in Brüssel zentral entschieden werden muss?
Diese Frage könnte man bejahen, wenn es überall gleiche
Wirtschaftsbedingungen gäbe. Aber in einer Situation, in
der die Arbeitslosigkeit zum Beispiel bei uns in Deutschland dreimal so hoch ist wie die in Großbritannien, Luxemburg, Portugal oder in Österreich, wäre es sinnvoll
gewesen, diese Frage - jedenfalls in den nächsten Jahren in nationaler Zuständigkeit zu belassen.
({2})
Der Umstand, dass wir im Konvent über die Frage der
gerechten Verteilung von Kompetenzen in der Sache
nicht diskutiert haben, weil es dagegen politische Widerstände gab und weil auch die Zeit gefehlt hat, hat letzten
Endes dazu geführt, dass auch wir - die Bundesregierung unterstützt diese Position - zumindest Einstimmigkeit bei zukünftigen Entscheidungen in diesem Bereich
fordern. Ich hoffe im Interesse von uns allen und der Europäischen Union, dass es uns in den nächsten Wochen
gelingen wird, die Zahl der Ausnahmen, in denen Einstimmigkeit notwendig ist, nicht zu groß werden zu lassen.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Schily?
Mit dem allerhöchsten Vergnügen.
Herr Kollege Altmaier, ich teile Ihre Auffassung, dass
wir bei der Regelung der Zuwanderung aus wirtschaftlichen, sozialen und anderen Gründen die nationalen Unterschiede beachten müssen. Mein Standpunkt in dieser
Frage kommt dem Ihren offenbar sehr nahe. Halten nicht
auch Sie es für notwendig, dass die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union ihre jeweilige Migrationspolitik
aufeinander abstimmen? Es könnten sich ja nationale
Entscheidungen durchaus auf die Situation in den Nachbarstaaten auswirken. Beispielsweise könnte Spanien
eine Immigrationspolitik mit der Perspektive betreiben,
dass die Zuwanderer spanische Staatsbürger und damit
Unionsbürger werden. Das würde auch Einfluss auf die
Situation in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten
haben. Ist es unter Beachtung der Unterschiede - Sie haben darauf hingewiesen - nicht sinnvoll, dass die Immigrationspolitik auf europäischer Ebene aufeinander abgestimmt wird?
Herr Bundesinnenminister, unsere Standpunkte liegen
in dieser Frage mit Sicherheit nicht auseinander. Man
muss allerdings zwischen der Frage, ob man etwas auf
europäischer Ebene abstimmt, und der Frage, ob man etwas auf europäischer Ebene zentral regeln muss, unterscheiden.
({0})
Was die europäische Wirtschaftspolitik angeht, enthält der Vertrag beispielsweise eine Koordinierungsmöglichkeit. Damit verbunden ist aber nicht die Möglichkeit
der Europäischen Union, rechtlich verbindliche Entscheidungen zu treffen. Aus meiner Sicht ist es deshalb
völlig in Ordnung, dass man auf europäischer Ebene beispielsweise sogar mit Verordnungen und Gesetzen darüber entscheidet, wie es mit der Freizügigkeit derjenigen
aussieht, die aufgrund nationaler Entscheidungen Zugang zum Arbeitsmarkt finden und sich anschließend
zehn, 15 Jahre oder länger rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten. Fragen dieser Art müssen europäisch geregelt werden.
Das lässt aber die Möglichkeit offen, auch in Zukunft
in nationaler Zuständigkeit zu entscheiden, wie viele
Bürger aus Drittstaaten aus Afrika, aus Asien und von
woanders - ich denke nicht an Bürger der Europäischen
Union oder der Kandidatenländer, die der Europäischen
Union zum 1. Mai nächsten Jahres beitreten werden neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Ich wiederhole: Das
soll und muss auch in Zukunft in nationaler Zuständigkeit entschieden werden können.
Als dieses Problem im Konvent erörtert wurde, war es
nicht möglich, dass die deutschen Konventsdelegierten
- in Kenntnis der Position der Bundesregierung; ich
glaube, sie ist vom Grundsatz her von der unseren gar
nicht so weit entfernt - einen gemeinsamen Brief an den
Vorsitzenden des Konvents Giscard d’Estaing schreiben,
in dem gestanden hätte: Wir treten dafür ein, dass die
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, den Zugang der Zuwanderer zu ihrem Arbeitsmarkt selbst zu regeln, von
den übrigen Regelungen unberührt bleibt.
Die jetzt vorgesehene Einstimmigkeit ist im Grunde
genommen nur die zweitbeste Lösung. Sie bedeutet, dass
in Zukunft alle 25 Mitgliedstaaten ein Vetorecht haben,
mit dem sie verhindern können, dass im Ministerrat Entscheidungen getroffen werden, die gegen die eigenen Interessen gerichtet sind. Meine Befürchtung ist: Diese
Regelung wird im besten Fall dazu führen, dass gar
nichts geregelt wird, und sie wird nicht dazu führen, dass
etwas wirklich gut geregelt wird.
({1})
Herr Kollege Altmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?
Bitte, mit dem gleichen Vergnügen.
Herr Altmaier, wir haben hier in dieser für Deutschland so zentralen Frage der Regelung der Zuwanderung
Übereinstimmung zwischen Opposition und Bundesregierung festgestellt. Wie erklären Sie angesichts dessen,
({0})
dass die Position, die Sie vertreten und die hier mittlerweile auf Zustimmung stößt, bei der entscheidenden
Debatte im europäischen Konvent vom Vertreter der
Bundesregierung nicht in einem Änderungsantrag eingebracht wurde, obwohl ein entsprechender Änderungsantrag des Bundesaußenministers mir heute - nachdem der
Gipfel getagt hat und sämtliche Beschlüsse gefasst worden sind - im Internet überraschenderweise zugänglich
war?
Herr Abgeordneter Müller, ich habe heute Morgen in
einem Interview im Deutschlandfunk gehört, wie die
Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen versucht hat, die Position der Koalition zu den anstehenden
Haushaltsberatungen zu erklären. Das war bereits
schwierig genug. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür,
dass ich mich darauf beschränke, die Position von CDU
und CSU zu erklären.
Unsere Position war in den Konventsberatungen von
Anfang an sehr klar. Wir waren bereit, Europa in allen
Bereichen zu stärken. Wir waren bereit, weitestgehend
zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen, waren aber
der Auffassung, dass in dem zentralen Bereich der Zuwanderung zum Arbeitsmarkt weiterhin die nationale
Zuständigkeit gewahrt werden sollte.
Herr Kollege Altmaier, es gibt eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Schily. - Bitte.
Herr Kollege Altmaier, zunächst einmal freue ich
mich darüber, dass wir da vom Grundsatz her offenbar
Übereinstimmung haben. Alles andere wäre von der Sache her auch gar nicht plausibel zu machen. Aber ist
nicht doch die Erklärung des Herrn Bundeskanzler „Bevor wir zur Mehrheitsentscheidung übergehen, müssen
wir uns erst einmal darüber verständigen, wie in Zukunft
im europäischen Rahmen Zuwanderungs-, Asyl- und
Flüchtlingspolitik gestaltet werden soll“ die richtige Einlassung dazu? Können wir nicht erst dann zu den richtigen Entscheidungen im Rahmen der Verfassung kommen?
Herr Bundesinnenminister, Sie werden mir sicherlich
darin zustimmen, dass die Erklärungen des Bundeskanzlers zwar von Bedeutung sind - wir alle hören sie auch
gern -, aber weder rechtsverbindlich sind, noch irgendetwas an den konkreten Beratungen des Konvents ändern.
Deshalb wird es darauf ankommen, dass wir in den verbleibenden 14 Tagen - heute Mittag tagt das Präsidium,
am 4. Juli werden wir im Plenum des Konvents diskutieren - mit Unterstützung der Bundesregierung in den öffentlichen Debatten im Konvent klar machen, dass dies
ein ganz wichtiges Anliegen ist, das wir durch geeignete
Regelungen sichergestellt haben möchten. Auf Erklärungen verlasse ich mich da lieber nicht.
({0})
Wir werden im Konvent noch zwei oder drei Wochen
lang über die letzten Einzelfragen zu reden haben. Es
sind wichtige Einzelfragen. Es geht nicht nur um Zuwanderung. Es geht auch um viele andere Fragen zur
Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der europäischen und der nationalen Ebene. Wir alle werden gut daran tun, gemeinsam daran zu arbeiten, dass das Ergebnis,
das am 10. Juli vorliegen wird und am 18. Juli der italienischen Präsidentschaft übergeben werden wird, so ausfällt, dass wir eine Tradition in diesem Haus fortsetzen
können, die wir in den 60er-Jahren begründet haben,
nämlich dass alle wesentlichen Zukunftsentscheidungen
zu Europa von allen demokratischen Parteien in diesem
Hause gemeinsam getragen werden. Für dieses Ziel
lohnt es sich, zu arbeiten. In diesem Sinne wünsche ich
uns allen einen erfolgreichen Verlauf der nächsten Wochen im europäischen Konvent.
({1})
Das Wort hat der Staatsminister für Europa Hans
Martin Bury.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa wagt mehr Demokratie - so könnte man die Arbeit des Konvents, seine Ergebnisse und deren Aufnahme beim Gipfel in Thessaloniki in einem Satz zusammenfassen. Europa bekommt eine Verfassung.
Auch wenn uns das nach den langen und intensiven Beratungen im Plenum des Deutschen Bundestags und im
Europaausschuss schon fast selbstverständlich erscheint,
so ist es am Beginn dieses Beratungsprozesses keineswegs eine Selbstverständlichkeit gewesen. Denken Sie
an Großbritannien! Die Briten kennen im eigenen Land
keine geschriebene Verfassung und mussten sich mit
dem Gedanken an eine geschriebene europäische Verfassung erst anfreunden. Auch in Deutschland gab es vor
wenigen Jahren noch kaum jemanden, der das Projekt einer europäischen Verfassung für mehr als eine kühne
Vision gehalten hätte.
Jetzt wird diese Vision Realität. Europa wird handlungsfähiger, transparenter und damit bürgernäher. Im
Verfassungsentwurf werden nicht nur die grundlegenden
Werte und Ziele der Europäischen Union, sondern auch
die Regeln und Prinzipien ihres Handelns beschrieben.
Diese für die Bürgerinnen und Bürger wesentlichen Teile
würden sogar den Jack-Straw-Test bestehen. Der britische Außenminister hat als Kriterium für eine gute Verfassung einmal genannt, dass sie in seine Hemdtasche
passen muss.
Auch wenn wichtige Themen, die im dritten Teil geregelt werden, in den abschließenden Beratungen des
Konvents noch sorgfältiger Verhandlung bedürfen, können wir heute feststellen: Deutschland hat im Konvent
zentrale Anliegen durchsetzen können. Am vordringlichsten für uns war, dass mit dem Verfassungsentwurf
die Voraussetzung für die erfolgreiche Erweiterung der
Europäischen Union geschaffen und die Handlungsfähigkeit Europas auch bei 25 und mehr Mitgliedern der
EU gewährleistet wird. So kann die Erweiterung und damit die endgültige Überwindung der Teilung Europas
jetzt zu einem guten Abschluss gebracht werden.
Deutschland hat als Land in der Mitte Europas daran ein
besonderes Interesse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in
Deutschland gute Erfahrungen damit gemacht, Entscheidungen möglichst nahe an den betroffenen Bürgern und
Unternehmen treffen zu lassen. Bürgernahe Entscheidungen und die Lösung lokaler und regionaler Probleme
direkt vor Ort sind ein Schlüssel für die Erfolgsgeschichte der deutschen Nachkriegsdemokratie und ihre
breite Akzeptanz. Im Verfassungsentwurf wird das Subsidiaritätsprinzip auch in Europa gestärkt. Es wird ein
entsprechendes Frühwarnsystem geben und für beide
Kammern der nationalen Parlamente ein Klagerecht bei
Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip, damit auf europäischer Ebene nur solche Entscheidungen getroffen
werden, die nicht auf nationaler oder lokaler Ebene besser getroffen werden könnten.
Entsprechend positiv ist die Aufnahme des Entwurfs
bei den Ländern, jedenfalls bei den meisten. Der bayerische Ministerpräsident kritisierte, dass die neue Verfassung die Hoheitsrechte der Länder missachte und ein
entschiedenes Bekenntnis zur christlichen Staatsauffassung fehle. Das klingt wie Stoiber. Die zitierte Kritik
stammt allerdings vom bayerischen Ministerpräsidenten
des Jahres 1949 und galt dem Entwurf des Grundgesetzes, dem die Mehrheit der CSU-Vertreter im Parlamentarischen Rat die Zustimmung verweigerte. Es heißt ja,
meine Damen und Herren, in Bayern gingen die Uhren
anders. Mir scheint, bei einigen dort ist die Uhr längst
stehen geblieben.
({0})
Meine Damen und Herren, wer unterschiedliche Traditionen und Vielfalt in Europa bewahren will, muss
zum Kompromiss bereit sein. Entscheidend für mich ist
nicht, ob eine Verfassung alle Partikularinteressen vollständig berücksichtigt - diesen Anspruch kann keine europäische Verfassung erfüllen -, sondern ob sie zwei entscheidenden Kriterien genügt: Sie muss eine Verfassung
der Bürger und eine Verfassung für die Bürger sein.
Eine Verfassung der Bürger ist der vorliegende Entwurf, weil er das Ergebnis einer lebendigen Diskussion
in einem Konvent ist, der die innere Vielfalt der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Das Ergebnis geht weit über
das hinaus, was in Regierungskonferenzen zuvor jemals
erreicht wurde. Die Konventsmethode hat sich bewährt
und soll daher auch für künftige Reformen genutzt werden.
({1})
- Herr Kollege Müller, es gehört ja zur Stärke des Konvents, dass neben Regierungsvertretern und Vertretern
der Kommission Parlamentarier sowohl der nationalen
Parlamente als auch des Europaparlaments an diesen Beratungen beteiligt wurden. Insofern geht Ihr Zwischenruf
völlig in die Irre.
({2})
Eine Verfassung der Bürger ist der Entwurf auch, weil
er auf bewährte Selbstregulierungsmechanismen entwickelter europäischer Gesellschaften vertraut. Er ist Ausdruck und Spiegelbild der Zivilgesellschaften der Mitgliedstaaten und verschafft diesen neue Freiräume auf
europäischer Ebene.
Herr Kollege Bury, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Müller?
Aber ja.
Herr Staatsminister, bei der Betrachtung des Konvents haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, die nationalen Parlamente sollten dort vertreten sein. Könnten Sie
dem Hohen Haus mitteilen, welches Mitglied des Deutschen Bundestages Vollmitglied - mit vollem Stimmund Sprechrecht - des 105-köpfigen Konvents war?
Herr Kollege Müller, ich habe nicht darauf hingewiesen, dass die nationalen Parlamente im Konvent vertreten sein sollten, sondern darauf, dass Parlamentarier im
Konvent vertreten sind und sogar die Mehrheit der Mitglieder des Konvents stellen. Der Deutsche Bundestag
hat entschieden, als Vertreter des deutschen Parlaments
den Kollegen Jürgen Meyer und als seinen Stellvertreter
den Kollegen Altmaier, den wir gerade gehört haben, zu
entsenden. Als föderaler Staat haben wir darüber hinaus
als Vertreter des Bundesrates Herrn Ministerpräsidenten
Teufel und als seinen Stellvertreter Herrn Minister
Gerhards in diesem Verfassungskonvent gehabt. Sie haben mit den Vertretern der Bundesregierung sehr intensiv und konstruktiv zusammengearbeitet. Ich glaube, wir
können selbstbewusst miteinander feststellen: Wir haben
bei dieser Zusammenarbeit gemeinsam viel erreicht.
({0})
Eine Verfassung für die Bürger ist der vorliegende
Entwurf, weil er die Handlungsfähigkeit der Union nach
außen und ihre Transparenz im Inneren stärkt und damit
die berechtigten Erwartungen der Europäerinnen und
Europäer an das Funktionieren der Union erfüllt. Transparenz nach innen bedeutet, dass die Union durch die geplante Verfassung bürgernäher wird. Die Anzahl der
Rechtsinstrumente wird verringert und sie werden den in
den Mitgliedstaaten vertrauten angenähert. Damit werden die Entscheidungsverfahren nachvollziehbar. Es
wird klar, wer was entscheidet - ein wichtiges Element,
um der verbreiteten Skepsis zu begegnen, die nicht zuletzt auf mangelnder Transparenz beruht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Stärkung
der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Europas können wir darauf bauen, dass sich ein gemeinsames europäisches Bewusstsein und ein abgestimmtes Handeln der
europäischen Zivilgesellschaften im Bereich der Außenpolitik bereits entwickeln. Wir haben das in der Auseinandersetzung um den Irakkonflikt in eindrucksvoller
Weise erlebt. Der Verfassungsentwurf gibt uns jetzt erste
Instrumente in die Hand, den Wunsch der Bürgerinnen
und Bürger Europas nach einer Stärkung des gemeinsamen außenpolitischen Handelns Europas schrittweise
umzusetzen.
Durch die Schaffung des Amts eines europäischen
Außenministers geben wir der europäischen Außenpolitik ein Gesicht. Damit die gemeinsame europäische
Außenpolitik auch mit einer Stimme sprechen kann,
brauchen wir darüber hinaus eine Ausweitung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit, auch und gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.
Noch scheinen einige Partner nicht so weit zu sein. Ich
sage: „Noch nicht“, weil ich sicher bin, dass sich schrittweise die Erkenntnis durchsetzen wird, dass ein Europa
mit 25 und mehr Staaten bei Beibehaltung des Vetorechts jedes einzelnen Mitgliedstaates den Erwartungen
seiner Bürgerinnen und Bürger auf Dauer nicht gerecht
werden könnte.
Auch die Fähigkeit Europas zur Durchsetzung seiner
sicherheitspolitischen Interessen muss verbessert werden. Europa hat deshalb mit der Ausarbeitung einer
Sicherheitsstrategie begonnen, deren erster Entwurf in
Thessaloniki vorgestellt wurde. Auf Grundlage der spezifischen europäischen Erfahrungen sieht sie ein breites
Spektrum möglicher Maßnahmen vor: von der Ausweitung der Zone der Sicherheit und Stabilität in Europa
über die Stärkung der internationalen Ordnung bis hin zu
einer möglichst frühen Bekämpfung konkreter Bedrohungen mit den jeweils am besten geeigneten Mitteln.
Militärische Gewalt kann dabei nur das letzte Mittel
sein.
Europas Außenpolitik kann in Krisensituationen jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn wir in der Lage
sind, unsere Forderungen notfalls mit einer Androhung
und im Extremfall, im letzten Fall, auch mit dem Einsatz
militärischer Gewalt durchzusetzen. Europa muss deshalb auch seine militärischen Fähigkeiten ausbauen.
Wichtig ist daher, dass im Bereich der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Instrument
der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden kann
und eine Avantgarde der Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhält, die Integration auch in diesem Bereich voranzutreiben: nicht als Closedshop, nicht als exklusiver Prozess, sondern in einem offenen Prozess, an dem sich alle
heutigen und alle zukünftigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligen können, nicht gegen die
NATO, sondern zur Stärkung des europäischen Pfeilers
der transatlantischen Partnerschaft.
Meine Damen und Herren, Europa ist dort stark, wo
die Integration bereits fortgeschritten ist, etwa im Bereich der Handels- und Währungspolitik und beim Binnenmarkt. Hier spüren die Bürgerinnen und Bürger
unmittelbar, dass Europa funktioniert. Der Verfassungsentwurf ist ohne Zweifel ein Kompromiss, aber ein, wie
ich meine, guter Kompromiss und auf jeden Fall ein geStaatsminister Hans Martin Bury
waltiger Schritt nach vorn, ein Schritt, der vor wenigen
Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Er ist aber vor
allem nicht der Endpunkt der europäischen Integration,
sondern der Rahmen für die erfolgreiche Entwicklung
der Europäischen Union, die auch in Zukunft weiter zusammenwachsen muss und weiter zusammenwachsen
wird.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn diese Verfassungsdebatte von historischer
Bedeutung sein soll, dann muss dieses Parlament sie
auch ernst nehmen. Dazu müsste - so sollte man annehmen - der Vertragstext, über den wir diskutieren, den
Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorliegen.
Das ist aber eine falsche Annahme: Keinem Mitglied des
Hauses liegt der Text, über den wir reden, vor.
Meine Damen und Herren, der Bundesaußenminister
nimmt dieses Parlament nicht ernst. Wir haben gestern
eine Schlussdebatte über die Ergebnisse des europäischen Gipfels am Wochenende und über den europäischen Verfassungsvertrag geführt. In dieser Debatte
hieß es, in der Juli-Sitzung seien nur noch technische
Veränderungen nötig. Es war nicht, Herr Bundesaußenminister, von den 57 Änderungsanträgen die Rede, die
Sie in der Nacht via Internet für die Konventsitzung eingebracht haben.
Mit dem Inhalt dieser Änderungsanträge bestätigen
Sie in vielen Punkten den Kurs unserer Partei: Sie greifen die Koordinierung der Wirtschaftspolitik auf, Sie
stellen den Antrag, die Zuwanderung in der Kompetenz
der Mitgliedstaaten zu belassen, Sie stellen einen Antrag
zum Thema Kernenergie usw. Ich stelle mir die Frage:
Warum sind Sie nicht zu dem Zeitpunkt aktiv geworden,
als die Themen im Konvent verhandelt wurden und als
noch etwas zu bewegen war? Was Sie jetzt machen, ist
Schaumschlägerei.
({0})
Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lührmann?
Ja, bitte.
Herr Müller, wenn ich mich richtig entsinne, dann
waren Sie gestern bei der Sitzung des Europaausschusses anwesend. Wenn ich mich weiter richtig entsinne,
dann lag in dieser Sitzung der Entwurf für die europäische Verfassung vor uns auf dem Tisch. Ich gehe davon
aus, dass die Mitglieder des Europaausschusses Bundestagsabgeordnete sind. Daher möchte ich Sie fragen, wie
Sie zu dem Schluss kommen, dass keinem Mitglied dieses Hauses der Entwurf für eine europäische Verfassung
vorliegt.
({0})
Der Verfassungsvertragsentwurf, wie er in Thessaloniki behandelt wurde, liegt den Mitgliedern des Deutschen Bundestages einschließlich mir nicht vollständig
vor.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der entscheidende Bereich III, in dem es um die Kompetenzfestlegung geht, soll im Juli noch einmal verhandelt werden. Dazu liegen die 57 Änderungsanträge vor. Die
Staats- und Regierungschefs hingegen haben gesagt, es
gehe nur noch um technische Veränderungen.
Ich wiederhole meine Feststellung: Wenn es ein historischer Vertrag sein soll, muss man anders miteinander
diskutieren. Wir wollen über die Inhalte diskutieren.
Das jetzt vorliegende Ergebnis ist ambivalent. Wir sehen die vielen positiven Vorstöße und Vorschläge von
Herrn Teufel, Herrn Altmaier, unseren Vertretern im
Konvent. Sie finden Anerkennung. Die Weiterentwicklung zur doppelten Mehrheit, die Reform des Ministerrats, das Subsidiaritätsprinzip, das sind wichtige und
richtige Punkte. Aber - Herr Teufel, ich greife gerne auf,
was Sie in Ihrer Rede gesagt haben - die Allzuständigkeit der Europäischen Union war in der Vergangenheit
das Hauptärgernis. Dies war auch der Auslöser, den Auftrag zu einer klaren Kompetenzabgrenzung zu geben:
Was macht zukünftig Brüssel, was macht Stuttgart und
was macht Berlin, wo liegen die Zuständigkeiten?
In dieser Frage der Kompetenzabgrenzung ist der
Entwurf absolut nicht befriedigend. Es wird jetzt eine
neue Aufteilung geben - Sie haben das dargestellt -:
ausschließliche und geteilte Zuständigkeiten, koordinierende Funktion, Unterstützungs- und Ergänzungsfunktionen; kaum noch Durchsicht, kaum noch Transparenz.
Dahinter, so sagen Sie, Herr Teufel, stecke das Bundesstaatsmodell für Europa, ein Aufbau, wie wir ihn in
Deutschland kennen. Da frage ich: Was ist bei diesem
Bundesstaatsmodell der konkurrierenden Zuständigkeiten in Deutschland den Landtagen noch verblieben außer
dem Erziehungs- und Unterrichtsgesetz? Ich meine nicht
die Landesregierungen - Sie verstehen mich -, sondern
die Landtage.
So wird auch der Prozess in Europa angelegt. Wir
werden uns in fünf Jahren fragen: Was bleibt bei diesem
Modell in Zukunft noch der Ebene der nationalen Parlamente? Die Länder, in Deutschland die Bundesländer,
haben relativ gut abgeschnitten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Abgrenzung der Zuständigkeiten war eigentlich der Kernpunkt.
Ursprünglich sollte - auch das wurde hier angesprochen - die Ermächtigungsklausel abgeschafft werden.
Eingeführt wurde aber eine Supergeneralklausel, die
Herr Bundesaußenminister Genscher in einem Änderungsantrag herauszubringen versucht.
({0})
- Bundesaußenminister Fischer, ja. Ich denke bei Europa
natürlich an die großen deutschen Außenminister wie
Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel und andere.
({1})
Da fällt mir natürlich weder im Unterbewusstsein noch
im Bewusstsein Joschka Fischer ein.
Wir alle sind angeblich gegen eine europäische
Steuer. Dennoch bekräftigen wir die entsprechende
Rechtsgrundlage.
Europa soll sich auf das Große beschränken und den
Mitgliedstaaten die Regelung der Details überlassen.
Das war immer unsere Vorgehensweise. Der neue Verfassungsvertrag schafft neue Zuständigkeiten für die
Europäische Union - damit mich jeder richtig versteht:
das kann man wollen, aber man muss wissen, über was
man entscheidet; natürlich kann man diesen Weg gehen,
aber man muss auch wissen, wohin er führt - in den Bereichen Gesundheitspolitik, berufliche Bildung, Jugendpolitik, Sport, Kultur, Zivilschutz, Energiepolitik, Forschungspolitik, Innen- und Justizpolitik, Koordinierung
der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie neue Zuständigkeiten in Bezug auf die Zuwanderung in die EU.
Da stellt sich natürlich die Frage: Was bleibt überhaupt noch in nationaler oder in Länderkompetenz? Ich
sehe überhaupt keinen Bereich mehr, in dem es Kompetenzen ausschließlich der Mitgliedstaaten und der Länder gibt. Das heißt, in Zukunft wird es keinen Politikbereich mehr geben, in dem die Europäische Union nicht
mitentscheidet und Kompetenz hat. Das kann man zwar
wollen - aus der Sicht von Brüssel ist das vielleicht der
richtige Weg -, aber es ist der Weg in Richtung Zentralisierung der Entscheidungsebenen. Wir sind für einen
Weg der klaren Abgrenzung und für einen Weg des Föderalismus, der der Zentralisierung entgegensteht.
({2})
Für mich ist wichtig, noch auf einen weiteren Punkt
hinzuweisen: Die christlichen Grundwerte und der
Gottesbezug fehlen. Die Präambel ist praktisch inhaltsund wertlos. Jean Monnet hat einmal gesagt, dass er die
Kultur in den Vordergrund stellen würde, wenn er heute
noch einmal mit der europäischen Einigung beginnen
würde. Nur durch die Bezugnahme auf die Wurzeln der
christlich-abendländischen Kultur, die Kultur der Antike, der Römer, der Griechen, des Judentums, sowie
durch den Bezug auf den Humanismus und auf Gott bekommen wir ein inhaltliches Fundament für die europäische Einigung und schaffen die Voraussetzungen für die
Gestaltung der Zukunft. Herr Fischer, solange Sie diese
Bezüge auf Gott und auf die christliche Tradition Europas leugnen, wird Ihnen auch kein großer Schöpfungsakt
gelingen.
({3})
Die Bundesregierung hat kein Gesamtkonzept, aber
200 Änderungsanträge vorgelegt. Das Gesamtkonzept
wurde von der Union vorgelegt. Das Schäuble-BockletPapier wäre der richtige Weg gewesen. Sie verstecken
sich mit Ihren Vorschlägen hinter Frankreich. Sie machen sich mehr für türkische als für deutsche Interessen
stark.
({4})
- Natürlich muss die Frage gestellt werden, mit welcher
Berechtigung die Türkei an der Regierungskonferenz zur
Verabschiedung dieses Verfassungsvertrages teilnimmt.
Wenn wir dieses Projekt auf diese Weise zu Ende
bringen, dann habe ich hinsichtlich der Zuwanderung in
die EU die Befürchtung, dass der zukünftige Chefaußenminister Fischer in Brüssel einen türkischen Zuwanderungskommissar aus Ankara benennen wird. Ich will
nicht, dass diese Vorstellung in der Europäischen Union
in Zukunft wahr wird.
({5})
Nach meinen Ausführungen zur Kompetenzabgrenzung, zum Wertebezug und Gottesbezug möchte ich
noch eine Schlussbemerkung machen: Schaffen wir
wirklich mehr Demokratie? Es würde sich lohnen, dazu
eine eigene Debatte zu führen. Ich bin der Meinung, wir
schaffen weniger Demokratie. Mehr Brüssel heißt weniger Volksnähe. Wir schaffen die Entparlamentarisierung der Gesetzgebung. Es ist nämlich so, dass das,
was uns an Kontrollmöglichkeiten genommen wird, dem
Europäischen Parlament nicht zufällt. Deshalb sind die
Regierungen alle so glücklich mit diesem Vertragsentwurf. Die Parlamentarier müssen endlich aufwachen und
erkennen: Dieser Verfassungsentwurf bedeutet eine Entmachtung der Parlamente.
({6})
Alle Macht der Exekutive! Dies ist eine Exekutivdemokratie. Nein, wir brauchen die Mitsprache und die Kontrolle der Parlamente im europäischen Bereich. Wir
brauchen sie weiterhin auf nationaler Ebene und auf
Landesebene. Wir wollen ein Europa, das das Volk mitnimmt und das sich von unten nach oben föderal und
nicht zentralistisch organisiert.
Deshalb setzen wir darauf, im Laufe der nächsten
Monate und im Laufe der Regierungskonferenz wesentliche Änderungen durchzusetzen. Die Schlussbewertung dieses Entwurfes bleibt deshalb offen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Joschka Fischer.
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, dass ich ganz kurz
auf den verehrten Kollegen Vorredner,
({0})
auf Herrn Dr. Müller, eingehe, der es geschafft hat, ein
weiteres Mal das Niveau dieser Debatte weit nach unten
zu drücken.
({1})
Ich lasse mir vieles gefallen. Nur, dass Sie der Bundesregierung vorwerfen - natürlich, ihr habt in Bayern
Wahlkampf -, sie vertrete keine deutschen Interessen,
sondern türkische und verstecke sich hinter Frankreich,
kann ich nicht akzeptieren.
Ich gehe einmal konkret auf das ein, was Sie gesagt
haben, nämlich dass ein möglicher deutscher Kandidat
für die Position des EU-Außenministers einen türkischen
Zuwanderungskommissar benennen würde. Das wollen
Sie nicht. Gestatten Sie mir einen Blick in den Verfassungsentwurf; niemand denkt daran, dieses System zu
ändern! Mit voller Unterstützung Ihrer Parteifreunde, die
das genauso sehen und dies wichtig finden, wird es in
Zukunft so aussehen: Der EU-Kommissionspräsident
wird - Herr Hintze hat das vorhin zu Recht angeführt; er
sieht darin einen großen Demokratisierungsfortschritt;
ich stimme ihm darin zu - im Lichte der Ergebnisse der
Europawahlen vom Europäischen Rat nominiert werden.
Dann wird dieser Kommissionspräsident vom Europäischen Parlament gewählt werden. Dieser Kommissionspräsident - und nicht der Außenminister - wird dann aus
einem ganzen Paket von Vorschlägen - pro Land drei die Kommissare auswählen.
Ich frage mich, warum Sie es nötig haben - der bayerische Wahlkampf kann so wichtig auch nicht sein -, in
einer so zentralen historischen Debatte eine solche Verzerrung der Tatsachen zum Gegenstand Ihrer Äußerungen zu machen.
({2})
Zur Beantwortung hat das Wort der Kollege Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Niveau
hin oder her: Wir müssen über diese Fragen diskutieren.
Das sind die Fragen, die das Volk interessieren.
({0})
Sie können davon ausgehen: Wenn sich der Bundesaußenminister nicht intensiv mit dieser Frage beschäftigt
hätte, hätte er sich jetzt nicht in die Debatte eingeschaltet. Ein Kernpunkt ist: Wohin steuert Europa? Wer wird
Mitglied der Europäischen Union?
Sie haben uns im Europaausschuss sehr deutlich gesagt, dass Sie mit aller Vehemenz den Weg der Türkei in
die Europäische Union befördern und unterstützen werden. Das ist nicht unsere Position. Wir sind der Meinung,
dass die Europäische Union mit 25 Mitgliedstaaten vor
eine große Herausforderung gestellt ist und dass wir jetzt
eine innere Vertiefung vornehmen müssen. Wir müssen
die nächsten zehn Mitgliedstaaten integrieren. Da haben
wir ungeheuer viele Aufgaben vor uns. Dann kann es um
weitere Schritte gehen. Sie aber haben sich dafür eingesetzt, dass die Türkei ab Oktober Mitglied der Regierungskonferenz mit Beobachterstatus wird.
({1})
Das ist die Vorstufe für eine Mitgliedschaft.
Herr Außenminister, Sie haben sich sehr differenziert
mit Ihren zukünftigen und mit Ihren nicht bestehenden
Rechten als europäischer Außenminister auseinander gesetzt. Sie haben sich diese Dinge ganz bewusst zurechtgeschneidert. Nun kann ich Ihnen sagen: Wenn die Europäische Union die Türkei als europäisches Mitgliedsland
aufnimmt, dann ist sie Mitglied im Europäischen Parlament und dann kann ein griechischer, ein spanischer
oder ein italienischer Kommissionspräsident aus dem
zweitgrößten Mitgliedsland, aus der Türkei, einen Kommissar berufen. Natürlich kann dieser für Zuwanderungsfragen zuständig sein. Die Zuwanderungsfragen
der Türkei sind dann gelöst. Denn wenn sie Mitglied ist,
kann sie sich der vollen Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union bedienen.
Das ist ein Punkt - da danke ich Ihnen für die Intervention -, über den wir mit der Bevölkerung diskutieren
müssen: ob wir diesen Weg gehen wollen. Man kann
diesen Weg ja gehen wollen, so wie Sie. Nur muss man
das dann der deutschen Öffentlichkeit sagen und ein Votum vom Volke dafür einholen, nicht von bürokratischen
Stuben der Regierungen.
Danke schön.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich will gleich mit einem weiteren Versuch des Kollegen Dr. Müller aufräumen, hier Volksverdummung zu betreiben. Die Teile I und II der Verfassung
liegen Ihnen vor und lagen in Thessaloniki vor. Die
Teile III und IV werden am 10. und 11. Juli abschließend
behandelt.
({0})
Der Entwurf liegt Ihnen ebenfalls vor. Hätten Sie Ihren
Kollegen, Ministerpräsident Teufel und allen anderen,
zugehört! Genau das ist die Grundlage unserer heutigen
Diskussion. Daran hat niemand gezweifelt.
Heute können wir wichtige und erfolgreiche Schritte
in der europäischen Entwicklung verzeichnen. Es liegt
das Ergebnis von Thessaloniki inklusive seiner sicherheitspolitischen Bereiche vor, die schon diskutiert wurden. Vor allem liegen uns der Gesetzentwurf zu dem
Vertrag über den Beitritt von zehn Ländern und der Vertrag über eine europäische Verfassung vor. Das alles ist
- das muss man deutlich sagen - keine Selbstverständlichkeit, sondern vieler Arbeit der Beteiligten im Konvent zu verdanken, insbesondere der deutschen Bundesregierung, die dieses Ergebnis von Thessaloniki mit
zustande gebracht hat.
({1})
Eine Selbstverständlichkeit ist es im Übrigen auch
nicht, dass heute der Beschluss des Agrarministerrates
zur Weiterentwicklung der EU-Agrarpolitik zustande
gekommen ist - ebenfalls eine zwingende Voraussetzung
für die Osterweiterung und die weitere Entwicklung der
Europäischen Union.
Nicht alle unsere Ziele hat der Konvent erfüllt. Schon
lange laufen die Anstrengungen, die EU-Agrarpolitik
nachhaltiger, marktgerechter usw. zu gestalten. Aber es
ist unsinnig, unrealistisch, undemokratisch und auch
fortschrittsfeindlich, zu verkennen, dass es unterschiedliche Positionen bisheriger und künftiger Mitgliedsländer
gibt, und diese zu ignorieren.
Ein gemeinsames Ergebnis muss tragfähig sein und
getragen werden. Am Konvent waren - das ist bereits
deutlich gemacht worden - 28 Regierungen, nationale
Parlamente, EU-Parlament und -Kommission beteiligt,
ebenso übrigens auch die Türkei - ohne irgendeinen
Konflikt.
Ich bin sehr beeindruckt von der Leistung der Beitrittsländer, die die Voraussetzungen für den Beitritt mit
seinen scharfen Kriterien erfüllt haben, und von ihren erfolgreichen Referenden. Die bedeuten nämlich auch,
dass die Länder ihre Bevölkerungen in diese Diskussion
einbezogen haben.
({2})
Wir sollten das als Ansporn und Verpflichtung nehmen,
unsere Bevölkerung ebenfalls für Europa und die europäischen Entwicklungen zu sensibilisieren und aktiv dafür zu werben.
Angesichts der auch in unserer Nähe weiter stattfindenden Terroranschläge und Kriege ist die Sensibilität
gewachsen. Die Sicherheit und der Frieden Europas sind
Grundvoraussetzungen und Grundmotivation. Ich darf
gleich noch einmal auf den Punkt Türkei eingehen.
Es gilt natürlich auch, die Ängste der Menschen ernst
zu nehmen - aber nicht, sie zu schüren - und eine Einheit in Vielfalt zu unterstützen, die Fragen der Erweiterung und des Europas der Bürger aufzunehmen und zu
diskutieren. Insbesondere bei meinen Besuchen in den
Beitrittsländern sehe ich natürlich, dass die Sorgen in der
ländlichen Bevölkerung sehr ausgeprägt sind. Das verbindet sich sehr stark mit der Agrarpolitik. Insofern will
ich doch noch auf den Agrarkompromiss von heute
Nacht eingehen.
Ich will in allererster Linie der Ministerin Künast dafür danken, dass sie diesen Verhandlungsmarathon erfolgreich beendet hat und dass sie dabei eine sehr erfolgreiche Vermittlerrolle gespielt hat. Übrigens bleibt es in
diesem Bereich beim Erfordernis der Einstimmigkeit.
Daran sieht man, dass die Agrarpolitik mit der Außenpolitik und der Wirtschaftspolitik schon lange sehr stark
verbunden ist. Hier gilt das, was überall gilt: Die Politik
muss gemeinsam getragen werden.
Zu dem Kompromiss insgesamt muss man sagen,
dass viele von Deutschland eingebrachte Elemente realisiert wurden. Diese Elemente bilden eine Säule der weiteren EU-Entwicklung. Dazu gehört, dass der Prozess finanzierbar ist, dass die WTO-Kompatibiliät erreicht
wurde und dass ländliche Räume stärker unterstützt werden. Das gilt insbesondere für Beitrittsländer wie Polen,
zukünftig aber auch für Rumänien, das über einen hohen
Anteil an ländlichen Räumen verfügt. Durch die Vermeidung von Überschussproduktionen wurde für mehr
Marktgerechtigkeit gesorgt. Nachhaltigkeit, Verbraucher- und Tierschutz sind ebenfalls Elemente, die erfolgreich einbezogen und umgesetzt werden konnten.
Ich verhehle nicht, dass es noch eine ganze Reihe von
Problemen gibt, die aber einen anderen Stellenwert haben und zum allergrößten Teil aus alten Beschlüssen resultieren. Die für die neuen Beitrittsländer erreichten
Übergangsregelungen sind zu implementieren und werden erfolgreich sein.
Auf der jetzt geschaffenen Grundlage kann Europa
weiter ausgebaut werden. Das gilt für Bulgarien und
Rumänien, die 2007 beitreten sollen. Die Wirtschaftsreformen, die Justizreformen und die Reformen der öffentlichen Verwaltung haben Priorität. Im Dezember dieses
Jahres wird der Europäische Rat in Rom die bisher gemachten Fortschritte bewerten.
Es geht auch um die Westbalkanländer und - das will
ich deutlich sagen - die Türkei. Herr Dr. Müller, es ist
doch verrückt, dieses Thema als deutsche Spielwiese zu
betrachten, auf der man den bayerischen Wahlkampf
austragen kann, indem man die Menschen dafür instrumentalisiert.
({3})
Es geht um die Beschlüsse von Helsinki. Die Türkei ist
ein Beitrittskandidat und soll ein ehrliches Angebot erhalten. Ansonsten würde man die Glaubwürdigkeit aller
europäischen Regierungen infrage stellen und sie völlig
diskreditieren. Die Türkei entwickelt sich in die richtige
Richtung; sie macht Fortschritte. Sie haben offensichtlich etwas dagegen.
Für uns ist es selbstverständlich wichtig, dass die
Menschenrechte gewahrt und die Kopenhagener Kriterien erfüllt werden.
({4})
Was diese Entwicklung angeht, kann man sehr positiv
gestimmt sein.
({5})
Mit dem Beitritt der Türkei - das ist ganz klar - wird die
EU und insbesondere Deutschland in ökonomischer und
sicherheitspolitischer Hinsicht gewinnen. Diesen Prozess darf die Union nicht gefährden; das dürfen auch Sie
im bayerischen Wahlkampf nicht tun.
({6})
Ich möchte eine ganz persönliche Bemerkung hinzufügen: Ich sehe enge Verbindungen zwischen der Bevölkerung unseres Landes und jener der Türkei. Auch das
ist für mich ein Grund, diese Verhandlungen zu unterstützen.
Ich will noch kurz auf die westlichen Balkanstaaten
zu sprechen kommen. Ich wage keine Vorhersage, wann
sie beitreten werden. Aber allein der Prozess des Beitritts bietet den jungen Menschen, die sich in diesen Ländern in einer sehr schwierigen Situation befinden, die
Hoffnung auf neue Perspektiven, die Chance, den Hass
und die Risse zu überwinden. Er bietet die Möglichkeit,
auch auf regionaler Ebene neue Formen der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens zu entwickeln. Das allein ist es wert, diesen Prozess zu führen.
Die Agenda von Thessaloniki stellt an diese Länder
hohe Anforderungen, die sie erfüllen wollen. Sie ist für
diese Länder eine Chance, aus ihrer jetzigen Situation
herauszukommen.
Ein Schlusssatz.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist aber überschritten.
An die CDU richte ich die Aufforderung und die
Bitte, den Ratifizierungsprozess, was die zehn neuen
Beitrittsländer und den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, nicht zu verhindern und durch unangemessene, formale Debatten zu belasten.
({0})
Mit der Zustimmung zum Vertrag von Nizza haben Sie
der Übertragung hoheitlicher Aufgaben zugestimmt.
Stimmen Sie in der nächsten Woche der Ratifizierung
zu, in Würde und im Sinne der neuen Beitrittsländer.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervension hat der Abgeordnete Pflüger.
Frau Kollegin Höfken, Sie haben eben die Behauptung aufgestellt - sie klang bereits eben in den Ausführungen des Außenministers an -, von unserer Seite
werde die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU nur
deshalb kritisch angesprochen, weil es einen Wahlkampf
zu bestreiten gebe. Ich möchte deutlich machen, dass
dieses Thema für uns ein sehr ernstes Anliegen ist und
nichts mit Wahlkampfpolemik zu tun hat.
Wenn Sie sich die Debatten ansehen, die über dieses
Thema schon lange vor diesem Wahlkampf geführt wurden, stellen Sie fest, dass es auf unserer Seite immer die
folgende Überlegung gab: Für uns ist die Türkei ein
enorm wichtiger Partner, ein befreundetes Land und ein
NATO-Partner, den wir auch in Zukunft dringend benötigen. Wir wollen die Türkei immer enger an die EU heranführen. Ich glaube, darüber gibt es in diesem Haus
Konsens. Wir kritisieren aber, dass ohne ausreichende
Diskussion in der Bevölkerung quasi eine grenzenlose
EU geschaffen wird und wir auf eine Rutschbahn kommen, sodass wir keine Chance haben, an irgendeinem
Punkt vielleicht zu sagen: Wir wollen das nicht.
Wenn die Türkei Mitglied der Regierungskonferenz
wird, wenn bereits heute quasi feststeht, dass demnächst
mit der Türkei EU-Verhandlungen aufgenommen werden - darüber haben wir bereits eine Debatte geführt -,
wenn in dieser Art und Weise an der Bevölkerung vorbei
Vorentscheidungen getroffen werden, dann muss man
das mit allem Ernst hier in diesem Parlament ansprechen.
Wir sagen nicht, dass die Türkei für alle Zeit nicht
nach Europa gehört, sondern wir sagen: Es ist angesichts
der Lage in der Türkei, angesichts der Größe und der
Schwierigkeiten dieses Landes und vor allen Dingen angesichts der enormen Aufgaben, die wir mit dem Beitritt
der zehn neuen Staaten und der eventuellen Aufnahme
der Balkanstaaten zu bewältigen haben, völlig verfrüht,
in Sachen Türkei schon jetzt vollendete Tatsachen zu
schaffen.
({0})
Jetzt sagen Sie: Es sind ja keine vollendeten Tatsachen. Dazu sagen wir Ihnen: Wenn Sie die Türkei an der
Regierungskonferenz beteiligen,
({1})
wenn Sie die Verhandlungen wegen der Aufnahme in die
Europäische Union beginnen, werden Sie irgendwann
nur mit größten Kosten diese Rutschbahn in Richtung
Vollmitgliedschaft beenden können. Wir fordern, dass
man solche weit reichenden Entscheidungen, bevor man
sie trifft, mit der Bevölkerung diskutiert; denn eine europäische Verfassung muss von der Bevölkerung getragen
werden und dann muss man auch über die Grenzen der
EU ein offenes Wort miteinander sprechen.
({2})
Das Wort zur Beantwortung hat Frau Kollegin
Höfken.
Herr Kollege Hintze, ich glaube, Sie konnten bei mir
und bei anderen die Interpretation nicht entkräften, dass
Sie den Beitritt der Türkei für Wahlkampfzwecke instrumentalisieren.
({0})
Das ist doch verrückt angesichts der Situation, dass die
Türkei schon 1963 das erste Angebot erhalten hat, der
EU
({1})
- damals der EG, ich weiß - beizutreten. Über diesen
Prozess wird mit Fug und Recht schon seit vielen Jahren
diskutiert. Ich bin nicht die Türkeiexpertin, aber ich
frage Sie - viele Menschen in unserem Land fragen sich
das auch -: Was passiert, wenn Sie der Türkei nach diesem Prozess über so viele Jahre hinweg jetzt Nein sagen
und ihr dieses Angebot, das ein ehrliches Angebot sein
muss, verweigern, wenn sie - es gibt keinen Automatismus - alle Kriterien erfüllt?
({2})
Das ist ein sicherheitspolitisches Risiko. Wir treiben ein
Land in eine Situation, die uns allen schaden wird und
die zu einem Ungleichgewicht und zu einer Gefährdung
der Stabilität führen wird. Das finde ich unverantwortlich.
({3})
Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka
Fischer.
Meine Damen und Herren von der Opposition, so wie
Sie mit der Türkei-Frage umgehen, kann das nicht stehen bleiben.
({0})
- Entschuldigung, ich meine nicht die FDP, ich meine
CDU und CSU. Das war ein richtiger Zwischenruf.
Ich finde es unerträglich, wie Sie mit diesem zentralen und wichtigen Thema umgehen. Ich will Ihnen auch
sagen, warum: Es war nicht eine rot-grüne Bundesregierung, die zu EWG-Zeiten mit dem Assoziationsabkommen Verpflichtungen eingegangen ist. Es war auch nicht
eine rot-grüne Regierung, die beim Luxemburger Gipfel
1997 die dortigen Beschlüsse mitgetragen hat. Ich habe
Herrn Glos die Beschlüsse, damals noch unter Beteiligung einer CDU/CSU-FDP-Regierung gefasst, einmal
vorgelesen und ihm aufgezeigt, welche Perspektive dort
der Türkei gegeben wurde. Sie sprechen jetzt von
„Rutschbahn“ und sagen: Es gibt kein Halten mehr bei
anderen Beitritten. Ich sage Ihnen: Es ist völlig klar, dass
wir aus Ihrer Zeit Verpflichtungen gegenüber der Türkei
haben. Das muss man hier einmal klipp und klar festschreiben.
({1})
Wir werden zukünftig in Bezug auf die Außengrenzen
im Zusammenhang mit der Ukraine, mit Moldawien und
vor allem mit Weißrussland, was die Polen zunehmend
auf die Tagesordnung setzen werden, vor schwierigen
Fragen stehen. Aber dort gibt es keinerlei Verpflichtungen, die mit denen vergleichbar sind, die Sie gegenüber
der Türkei eingegangen sind.
Im Zusammenhang mit dem Maghreb stellt sich diese
Frage nicht. Das alles weiß der Kollege Pflüger ganz genau.
Gerade die Menschen, die zugewandert sind, hoffen
auf eine Europäisierung der Türkei. Lesen Sie heute in
der „Süddeutschen Zeitung“ einmal den Artikel von
Frau Schlötzer. Darin schreibt sie, dass in der Türkei im
Rahmen des Beitrittsprozesses, um EU-kompatibel zu
werden, das Verhältnis des Militärs zu den Gesetzen
mehr und mehr im Vordergrund der Debatte stehe, dass
eine Debatte über das Verhältnis zur kurdischen Minderheit begonnen habe und das Thema nicht länger tabuisiert werde und dass die Frage der wirtschaftlichen Reformen angegangen werde. Gleichzeitig stellen Sie sich
hin und fordern, dass wir im Kampf gegen den Terrorismus energischer vorgehen sollen. Ich sage Ihnen: Die
Europäisierung der Türkei wird einer der wichtigsten
Beiträge im Kampf gegen den internationalen islamistischen Terrorismus sein.
({2})
Der formidable Herr Müller stellt sich dann hin und
fragt - das muss ich hier in diesem Hohen Hause einmal
auf den Tisch bringen -, was wäre, wenn es einen griechischen Kommissionspräsidenten und gleichzeitig einen türkischen Zuwanderungskommissar gäbe. Ich kann
Ihnen nur sagen: Das sind primitivste Vorurteile, die Sie
hier vorbringen.
({3})
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wenn die Mehrheit
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und das Europäische Parlament einen griechischen Kandidaten als
Kommissionspräsidenten benennen, dann habe ich zu
diesem Mann oder dieser Frau dasselbe Vertrauen wie zu
einem deutschen oder niederländischen Kommissionspräsidenten oder einem Kommissionspräsidenten aus einem anderen Land.
({4})
Er wird entweder der Mehrheit der Linken oder der
Rechten angehören - das ist in diesem Zusammenhang
egal - und wird denselben europäischen Verfassungsgrundsätzen und europäischen Interessen verpflichtet
sein wie alle anderen. Das gilt auch für die Kommissare,
({5})
egal aus welchem Land sie kommen, ob aus Bayern oder
einem anderen Staat.
(Weitere Zurufe des Abg. Dr. Gerd Müller
[CDU/CSU]
Ich sage Ihnen nochmals, Herr Müller: Das ist primitivstes Niveau. Sie verbreiten aus innenpolitischen
Wahlkampfinteressen letztendlich nichts anderes als
Vorurteile. Das ist das Gegenteil von dem, was wir in
Europa brauchen können.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Peter Hintze.
({0})
Herr Bundesaußenminister, Sie haben eben in der Debatte Niveau eingefordert.
({0})
Wir bitten Sie herzlich darum, das von Ihnen eingeforderte Niveau in dieser Aussprache einzuhalten.
({1})
Ich muss Ihnen allerdings sagen: Falls Sie diesen Versuch unternommen haben sollten, sind Sie dabei auf der
ganzen Linie gescheitert;
({2})
denn Sie sind hier nicht auf den politischen Punkt eingegangen, der strittig ist, sondern sind in die Rolle gefallen
- das erheitert das Parlament immer wieder -, in der Sie
Nebelkerzen in den Raum werfen.
({3})
Ich will benennen, worum es in der Sache geht. Es
geht nicht um die Frage, ob wir eine europäische Strategie für die Türkei brauchen - das hat der Kollege Pflüger
eben, wie ich finde, sehr deutlich gemacht -, und auch
nicht darum, dass die Türkei ein wichtiger Partner ist. Es
ging auch im Rahmen der Assoziierung 1963 nicht darum, dass die Türkei Vollmitglied wird. Es geht heute
auch nicht darum, dass man über diese Frage nicht so
oder so sprechen kann.
Es geht vielmehr darum, ob wir in der Europäischen
Union als Ganzer, in der Bundesrepublik Deutschland
und im Deutschen Bundestag noch die Freiheit haben,
über diese Frage zum rechten Zeitpunkt in Ruhe entscheiden und abwägen zu können, ob die Vollmitgliedschaft der richtige Weg ist oder andere Formen einer engen Partnerschaft. Ohne Ihre Fantasie überstrapazieren
zu wollen: Es besteht der Wunsch der Ukraine, in die
Europäische Union zu kommen. Der italienische Ministerpräsident, der zu unserer Parteienfamilie gehört, hat
die Diskussion angeregt, ob nicht sogar Russland dazukommen soll. Das alles sind Fragen - Sie haben sie nicht
aufgeworfen -, die damit im Zusammenhang stehen.
Wir können nicht akzeptieren, Herr Bundesaußenminister, dass Sie uns hier sagen, es bestehe eine Zwangsläufigkeit und jeder, der das infrage stelle, würde gegen
irgendwelche Prinzipien, die in Europa gemeinsam entwickelt wurden, verstoßen. So klang es.
({4})
Wir möchten gerne, dass wir uns in der Europäischen
Union darüber verständigen, wie viel Erweiterung wir
vertragen, was unsere inhaltliche Grundausrichtung ist
und ob, wann und mit wem was in Zukunft verwirklicht
werden kann. Wir haben die große Frage zu beantworten, was mit den Balkanstaaten wird; Thessaloniki hat
sie aufgeworfen. Das alles sind Dinge, die noch zu verkraften und zu überlegen sind. Deswegen bitten wir Sie,
zu sachlichen Überlegungen zurückzukommen und hier
keinen falschen Popanz aufzubauen.
Ich habe das in meiner Rede angesprochen: Es ist
nicht unproblematisch.
({5})
- Bitte?
({6})
- Das stimmt, aber weil der Einwand durchaus interessant war, will ich doch darauf eingehen. Herr Schily, Sie
haben dazwischengerufen, wir würden uns hier gegen
alle europäischen Regierungen stellen. Wenn man mit
den Vertretern der europäischen Regierungen darüber
spricht, wie das in Helsinki beispielsweise bezüglich der
Beschlüsse über den Beitrittsstatus war, dann kann sich
niemand so recht daran erinnern, weil es im Schnellgang
geschah.
({7})
- Doch, so war es. - Leider beruft sich hier jeder auf den
anderen und es tritt dann ein Automatismus ein, zu dem
wir sagen: Es ist klüger, einen solche Schicksalsfrage
Europas in Ruhe zu beantworten und sich nicht auf einen
Automatismus zu stützen.
Im Übrigen kann uns niemand das Denken und das
Entscheiden abnehmen. Wir erkennen sehr wohl, dass in
unserer Parteienfamilie dazu auch andere Auffassungen
herrschen.
({8})
Das ist absolut korrekt. Darüber sind wir uns im Klaren.
Herr Kollege Hintze, Sie haben für eine Kurzintervention drei Minuten Zeit. Sie sind schon deutlich darüber.
Ja, das ist vollkommen zutreffend. Ich komme zum
Schluss.
({0})
Ich schließe damit, dass ich die Regierung auffordere,
auch in dieser Frage zur Sachlichkeit zurückzukehren
und uns das Niveau zu bieten, das Sie Ihrerseits von uns
eingefordert haben.
({1})
Herr Außenminister, Sie können auf diese Kurzintervention antworten.
({0})
Herr Kollege Hintze, zur Richtigstellung: Diesem Beschluss haben alle Staats- und Regierungschefs in Thessaloniki zugestimmt. Ich füge aus meiner parteipolitischen Sicht hinzu: Leider gehört deren Mehrheit in
Europa heute der EVP-Familie, also der konservativen
Familie, Ihrer Familie, an.
({0})
- Sie sagen: Gott sei Dank. - Dieser Beschluss war nur
möglich, weil er einstimmig gefasst wurde, also mit den
konservativen Stimmen.
Es geht darum, weiterhin die Entscheidung umzusetzen, nach der die Kandidatenländer, die noch nicht beitreten werden, also Bulgarien, Rumänien und die Türkei,
einen Beobachterstatus haben. Aus diesem Beobachterstatus wird kein Automatismus entstehen. Insofern muss
man hier nicht über Automatismus reden. Es gibt verbindliche Zusagen aus Helsinki. Wenn die Türkei die
entsprechenden Entscheidungen nicht nur auf dem Papier und mit der Mehrheit im Parlament trifft und sie
umsetzt, dann werden die Verhandlungen mit ihr begonnen. Auf dem Gipfel in Kopenhagen wurde avisiert, dass
es nach den Europawahlen in der zweiten Hälfte des Jahres 2004 einen Bericht der Kommission geben soll.
Das können Sie beklagen, beweinen oder beschreien.
Das sind die Fakten, die jeweils einstimmig beschlossen
wurden, und zwar nicht, weil sie vom Himmel herabfielen oder weil es in Helsinki ein Polarlicht namens Türkei
gegeben hat und die Staats- und Regierungschefs nicht
wussten, was sie da in Kopenhagen und jetzt in Thessaloniki beschlossen haben. Nein, dies geschah in vollem
Bewusstsein. Die Mehrheit der konservativen Staatsund Regierungschefs, die Ihnen nahestehen, waren genau dieser Überzeugung.
Sie klagen hier die Bundesregierung an, wir seien
schuld am Untergang des europäischen Abendlandes.
Das darf doch nicht wahr sein, Herr Hintze.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
({0})
- Ich wiederhole: Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erstmals seit ihrem Bestehen droht die Europäische Union
mit der Anwendung militärischer Gewalt gegen Länder, die Abrüstungsverpflichtungen ignorieren und Massenvernichtungswaffen verbreiten.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Es gibt keine
Kurzintervention auf eine Kurzintervention.
({0})
Ich möchte nun darum bitten, dass man der Kollegin das
Mikrofon und auch das Wort überlässt.
({1})
Meine Herren, ich möchte Sie bitten, dass ich nun
meine Rede fortsetzen darf.
Der Bundesaußenminister und auch andere Redner
der Grünen haben heute Morgen versucht, uns diesen
Beschluss der EU-Außenminister als mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen in Übereinstimmung stehend zu erklären. Ich muss Ihnen sagen,
Herr Außenminister: Meine Kollegin Petra Pau und
mich haben Sie damit nicht überzeugt.
Der Konvent hat in Art. 3 Abs. 4 des Verfassungsentwurfs die strikte Einhaltung des Völkerrechts und die
Wahrung der Grundsätze der UN-Charta beschrieben.
Ich denke, dazu sind auch Sie verpflichtet.
({0})
In dieser Charta ist schon die Androhung von militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten untersagt.
Nach diesen Beschlüssen der Außenminister muss man
den Eindruck gewinnen, dass die Verfassung, bevor sie
überhaupt beschlossen wird, Makulatur ist. Das ist nicht
zu akzeptieren.
Im „Spiegel“ ist eine Umfrage zu genau diesem Beschluss der Außenminister veröffentlicht worden:
80 Prozent der Befragten haben erklärt, dass sie diese
von den EU-Außenministern verkündete Gewaltandrohungsstrategie strikt ablehnen. Nur eine verschwindende
Minderheit war dafür. Das sollte Ihnen zu denken geben.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben damit und auch
mit Ihrer Erklärung von heute Morgen den Eindruck erweckt, dass Sie sehr vieles unterschreiben würden, um
bloß den begehrten Posten des europäischen Außenministers zu erhalten.
Über den Konvent wurden heute schon viele lobende
Worte geäußert. Die Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne
Kaufmann von der PDS ist Mitglied dieses Konvents.
Ich will sie mit Erlaubnis der Präsidentin kurz zitieren:
Die wichtigsten Fortschritte sehe ich im Bereich der
Demokratie. So sind das Europäische Parlament
und auch die nationalen Parlamente deutlich gestärkt worden.
Wir von der PDS halten die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens für einen sehr wichtigen
Schritt. Von daher ist es aus der Sicht der PDS nur folgerichtig, dass die Verfassung durch ein Referendum in
allen Mitgliedstaaten der EU bestätigt werden muss.
({1})
Im Vorfeld des EU-Gipfels spielte auch die Zuwanderung nach Europa eine Rolle. Die Festlegung gemeinsamer Rechtsvorschriften in der Einwanderungs- und
Asylpolitik ist in der EU seit 1999 vorgesehen. Doch
Regelungen sind bisher unter anderem an der deutschen
Regierung gescheitert. In Großbritannien hatten einige
Regierungsvertreter sogar die Idee, Asylsuchende vor
den Grenzen der Europäischen Union in geschlossenen
Lagern zu internieren. Dieser Vorschlag ist - gelinde gesagt - nicht nur geschmacklos. Er zeigt auch, das die EU
kein vernünftiges Konzept im Umgang mit Flüchtlingsströmen hat.
Wir kritisieren, dass die EU augenscheinlich nicht bereit ist, mehr über die Ursachen dieser Flüchtlingsströme
nachzudenken. Dies sind Krieg, wirtschaftlicher Niedergang und Hunger. Die EU könnte die Ursachen zum Beispiel auch dadurch bekämpfen, dass sie sich gegen ihre
eigene Agrarlobby durchsetzen und die Einfuhren von
landwirtschaftlichen Produkten aus den armen Ländern
Afrikas zumindest erleichtern würde.
In Thessaloniki gab es einen Gegengipfel. In den Medien wurde vor allem über mehrere Hundert Jugendliche
berichtet, die Krawalle initiiert haben. Diese Krawalle
überdeckten den friedlichen Protest von 50 000 Teilnehmern des Gegengipfels. Hunderte von Veranstaltungen,
Workshops, Seminare und Jugendcamps fanden statt. Es
wurde über ein soziales Europa diskutiert. Vorschläge,
wie man auch ohne eine EU-Eingreiftruppe Konflikte in
dieser Welt lösen könnte, wurden gemacht. Doch die Regierungschefs wollten davon nichts hören.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass
diese Krawalle einigen Politikern sehr gelegen kamen,
hatten sie doch so die Möglichkeit, das Gespräch mit denen, die die Inhalte ihrer Politik kritisch betrachten, zu
vermeiden.
Norman Mailer schreibt in seinem neuen Buch „Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug“:
Demokratie ist etwas Lebendiges. Sie verändert
sich. Sie verändert sich unablässig. Demokratie darf
man nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Sie ist immer in Gefahr.
Demokratie ist heute weniger durch Bin Laden als vielmehr durch George Bush in Gefahr. Der Präsident der
USA hat sein Land in einen dauerhaften Kriegszustand
geführt und die demokratischen Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger dramatisch eingeschränkt. Wir haben
darüber viel in den Zeitungen gelesen und Erfahrungsberichte gehört.
Europa darf sich auf diese fatale Logik nicht einlassen. Deshalb, aber nicht nur deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, die Zustimmung zu präventiven Abrüstungskriegen, die in der EU besprochen wurden,
zurückzunehmen und nach europäischen Lösungen zu
suchen, die außerhalb der Logik von George Bush liegen.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Zöpel,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es gibt Debatten, an deren Beginn man
richtig optimistisch ist, dass der Fortschritt der Aufklärung und der Vernunft wirklich über die bösen Reflexe
der europäischen Geschichte siegt. Zu diesen hoffnungsvollen Reden gehörte die des Kollegen Teufel. Herzlichen Dank dafür!
In der letzten halben Stunde wird man wieder resignativ, aber man soll das überwinden.
({0})
- Auch falsche Argumente können sachlich vorgetragen
werden.
({1})
Dann wird man wieder resignativ und sieht, dass die
Aufklärung weiter ihre Aufgaben hat. Ich mache eine
ganz persönliche Bemerkung: Die Aufklärung in der
Formulierung Immanuel Kants in die Präambel zu
schreiben, das wäre mein Vorschlag für einen Zusatz zur
europäischen Verfassung.
({2})
Deshalb möchte ich noch einmal daran erinnern, was
Europa ausmacht. Europa macht aus, zu überwinden,
dass es Trennungen
({3})
aufgrund religiöser Gegensätze gibt,
({4})
dass es Trennungen aufgrund von Grenzverschiebungen
durch Militärerfolge gibt, und schließlich, dass es Trennungen durch den tragischsten Irrtum der europäischen
Geschichte gibt, nämlich dass völkische, rassistische,
ethnische Kriterien in irgendeiner Weise natürliche
Grenzen zwischen Menschen sein könnten. Dies zu
überwinden ist die Idee Europas.
({5})
Ich bin schon sensibel, wenn ich das Wort Volk höre. Es
hat seine Assoziation zu „völkisch“.
({6})
- Herr Kollege Müller, ich sehe es so. Dass Sie es anders
sehen, weiß ich. Ich halte das, was Sie sagen, im europäischen Sinne in der Tat für gefährlich. Damit müssen
Sie leben.
({7}) - Dr. Gerd Müller [CDU/
CSU]: Das ist unglaublich!)
Gestatten Sie mir einige Bemerkungen zu der Konferenz mit einigen Staaten Südosteuropas in Thessaloniki.
Ich sage bewusst Südosteuropa, weil schon die Formulierung „Westbalkan“ ein Teil westeuropäischen Hochmuts gegenüber diesen Staaten ist.
({8})
Der Balkan ist ein Gebirge in Bulgarien. Kroatien als ein
Land des Westbalkans zu bezeichnen ist geographisch
etwa so richtig, wie Niedersachsen als ein Nordalpenland zu bezeichnen.
Der zweite Gesichtspunkt ist, dass von vielen Staaten
gesprochen wird. Zumindest mit dem Verfassungsentwurf haben wir jetzt die Europäische Union der Bürger.
In der Europäischen Union der Bürger sind für mich alle
Menschen gleich: gleich vor dem Gesetz, gleich vor der
europäischen Verfassung. Nur diese Gleichheit garantiert ihnen übrigens, dass sie ihre kulturellen Unterschiede leben können.
({9})
Deswegen beachten Sie bitte, bevor wir über diese vielen
Staaten - geographisch auch noch falsch bezeichnet sprechen, die Zahlen der Bürger. 380 Millionen Bürger
hat die EU bereits. 70 Millionen sind jetzt dazugekommen. Rumänien und Bulgarien werden 30 Millionen
weitere europäische Bürger zu uns bringen.
({10})
In den südosteuropäischen Staaten, über die wir reden,
leben noch 25 Millionen Menschen. Das sind so viele
Einwohner, wie Nordrhein-Westfalen und Hessen zusammen haben. So viel zur Bevölkerungsdimension des
Problems.
Es gibt historische Verpflichtungen, diese Staaten in
die Europäische Union aufzunehmen. Diese Verpflichtungen erfordern immer wieder zu prüfen, in welcher
Form vor allem die Staaten im Zentrum Europas im Guten wie im Tragischen zum Schicksal anderer europäischer Staaten beigetragen haben. Die Staaten, von denen
ich spreche, wurden über Jahrhunderte von der Republik
Venedig, einige Zeit von Frankreich, mehrere Jahrzehnte
von der habsburgischen Monarchie und - schon in der
tragischen Phase des 20. Jahrhunderts - von dem Mittelding zwischen Königreich und Republik, das Italien damals war, beherrscht. Diese Staaten sind historisch stärker in Europa integriert als manche Staaten am
nördlichen oder westlichen Rand.
Die bestehenden Probleme lassen sich anhand der
Kopenhagen-Kriterien festmachen. Erlauben Sie mir
in diesem Zusammenhang eine prinzipielle Bemerkung.
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass diese Kriterien auf dem gesamten Territorium der Europäischen
Union gelten müssen.
({11})
Sie werden aufgrund der Verfassung auch auf EU-Ebene
gelten. Wie Günter Verheugen immer wieder betont hat,
war das bisher nicht der Fall.
Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie die Kriterien zu verstehen sind. Dienen sie zur Abwehr, mit dem
Argument: Weil sie nicht gelten, könnt ihr nicht kommen? Oder sind sie ein Instrument, mit dem weitere
Staaten in die Europäische Union hineingeholt werden
sollen? Im Interesse der Menschen in den betreffenden
Staaten und in der Europäischen Union befürworte ich
die zweite Auslegung.
({12})
Ein immer wieder vorgebrachter Einwand lautet: In
diesen Staaten herrschen Schmuggel, Drogenhandel und
Kriminalität. - Schmuggel funktioniert aber vor allem
dort, wo es überflüssige Grenzen gibt. Er wird eingestellt, wenn diese Grenzen wegfallen. Wirtschaftskriminalität auf niedriger Stufe herrscht dort, wo es wegen
mangelnder Integration in übergeordnete Märkte zu wenige wirtschaftliche Chancen gibt. Die Lösung des Problems im Interesse der Menschen dort und in der Europäischen Union besteht in der Integration. Deshalb muss
schnell gehandelt werden.
Ein weiterer Punkt sind die Statusfragen im Zusammenhang mit dem Kosovo und mit Albanien. Auch darüber führen wir absurde Debatten. Selbst wenn alle Albaner zusammen einen Staat bilden würden - was die
politisch Verantwortlichen nicht wollen -, dann hätte ein
solches Großalbanien Millionen Bürgerinnen und Bürger weniger als Bayern. Über ein Großbayern wird aber
meines Wissens nicht debattiert.
({13})
Fatos Nano, der albanische Ministerpräsident, spricht
zu Recht von fünf Staaten mit sieben Hauptstädten. Das
illustriert das Problem. Ich habe dazu einen klaren Vorschlag: Wir sollten einen Beitrittsvertrag für diese Staaten entwerfen. Dann wird nämlich deutlich, was auf bilateraler Ebene - zum Beispiel zwischen Serbien und
Montenegro - nicht mehr geregelt werden muss, weil ein
Großteil der Statusfragen bereits durch das europäische
Recht geregelt wird. Das würde diesen Vorgang erkennbar beschleunigen.
({14})
Erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung zu dem europäischen Interesse an der Integration der erwähnten
25 Millionen Menschen. In den vergangenen Wochen
haben wir wieder viel über außenpolitische Handlungsfähigkeit gelernt. Die Vereinigten Staaten haben
uns dazu veranlasst. Wir haben eines gelernt: Außenpolitische Handlungsfähigkeit verlangt die territoriale Integrität dessen, der handelt. Ich habe aus den vergangenen
Monaten die Lehre gezogen, dass die Europäische Union
die vollständige Integration des Territoriums, auf dem
der Kosovo-Krieg ausgetragen wurde, braucht, um außenpolitisch voll handlungsfähig zu werden. Alle Sicherheitspobleme in diesem Teil Europas sind Probleme
der inneren Sicherheit in Europa. Wir müssen niemanden bitten, uns dabei zu helfen.
({15})
Diese Erkenntnis ist für mich in dieser historischen Situation der entscheidende Grund, mich dafür einzusetzen,
dass wir die Mitgliedschaft der fünf südosteuropäischen
Staaten ohne Zögern befördern.
Herr Kollege Zöpel, schauen Sie bitte einmal auf die
Uhr!
Frau Präsidentin, ich danke für den Hinweis und
komme zu meinem letzten Satz.
Es gehört zu den Ritualen der europäischen Diplomatie, immer wieder mitzuteilen: Wir nennen kein Datum.
Das hat einen funktionellen Sinn, ist aber manchmal
auch überflüssig. Zumindest ein Parlament sollte manchmal den Mut haben, Daten zu nennen, vielleicht auch
symbolische Daten. Ich selber glaube, dass wir Europäer
uns vornehmen sollten - das müssen wir auch wollen -,
dass im Jahr 25 nach 1989, dem Jahr der europäischen
Freiheit, alle europäischen Länder der Europäischen
Union angehören. Ich setze nicht nur für mich, sondern
auch für viele andere das Ziel: 2014 muss das geschafft
sein.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention zuerst
dem Kollegen Pflüger und dann dem Kollegen Dr. Gerd
Müller. Auf diese beiden Kurzinterventionen wird der
Herr Kollege Zöpel zusammenfassend antworten.
Herr Kollege Zöpel, zuerst eine kurze Vorbemerkung:
Wenn Sie mit dem Ausdruck „deutsches Volk“ nichts anfangen können und dabei sofort an „völkisch“ denken,
dann ist das Ihr Problem. Wir teilen diese Sichtweise
nicht.
({0})
Es gibt ein deutsches Volk und zu ihm bekennen wir uns.
Das hat mit völkischen Traditionen nichts zu tun. Da gibt
es einen großen Unterschied.
Es geht aber eigentlich um Folgendes: Sie haben sich
- wie einige Ihrer Vorredner - erneut darüber aufgeregt,
dass wir in sachlicher Art und Weise die Frage gestellt
haben, ob es klug sei, sich schon jetzt auf eine Rutschbahn in Richtung Vollmitgliedschaft der Türkei zu begeben. Das hat nichts mit Wahlkampf und antieuropäischen Gefühlen zu tun. Ich bin mit Ihnen einer Meinung,
dass Europa dazu dient, Grenzen und Trennendes zu
überwinden sowie Frieden zu schaffen. Aber: Gilt das
für alle? Man muss die Frage stellen dürfen, wo die
Grenzen Europas liegen. Müssen wir nicht genau dann,
wenn wir wollen, dass Europa handlungsfähig wird,
ganz bestimmte Kriterien an jedes einzelne Land anlegen?
Es gibt die Kopenhagener Kriterien von 1993. Eines
dieser Kriterien - es wird sehr oft unter den Teppich gekehrt - ist die Aufnahmefähigkeit der EU. Wir haben
gerade beschlossen, zehn neue Länder in die EU aufzunehmen. Das ist eine gewaltige Aufgabe von historischer
Dimension. Meine Fraktionskollegen und ich waren die
Ersten, die gesagt haben: Dieser historischen Aufgabe
stellen wir uns. Aber ist es klug, bevor der jetzt beginnende Erweiterungsprozess abgeschlossen ist, bereits
eine neue große Aufgabe anzugehen? Darüber kann man
unterschiedlicher Meinung sein. Ich räume ein, dass es
Argumente dafür gibt. Wir haben aber auch gehört, dass
Herr Fischer gegenüber dem dänischen Außenminister
zugegeben hat, dass es Argumente dagegen gibt. Der dänische Außenminister hat uns neulich mitgeteilt, Herr
Fischer habe an einem Abend drei verschiedene Meinungen zu diesem Thema geäußert. Das macht deutlich, wie
schwierig dieses Thema ist. Deshalb bitte ich Sie, uns
hier nicht zu verunglimpfen und zu behaupten, wir wollten antieuropäische Gefühle hervorrufen oder die Türkei
ausgrenzen.
({1})
Wir stellen lediglich die Frage, ob eine so große EU
handlungsfähig sein kann und ob wir uns selbst und der
europäischen Idee einen Gefallen tun, wenn wir den Eindruck vermitteln, wir könnten jedes Land aufnehmen,
und zwar allein aufgrund des wirklich gut gemeinten
Wunsches, zu allen Staaten gute Beziehungen zu haben.
Die Kollegin Höfken hat vorhin behauptet, wir hätten
der Türkei mit dem Assoziierungsvertrag ein Beitrittsversprechen gegeben. Ich mache darauf aufmerksam,
dass dieser Vertrag mit der EWG, also mit einer Wirtschaftsgemeinschaft, geschlossen worden ist. Inzwischen - darüber reden wir doch und hier sind wir in vielen Punkten einer Meinung - gibt es aber eine EU und
eine EU-Verfassung. Das ist eine ganz andere Form der
Integration. Über die Frage, ob sich die Aufnahme der
Türkei damit verträgt, sollte jedenfalls mit der Bevölkerung diskutiert werden, bevor wir uns auf eine Rutschbahn begeben.
Ich habe gerade zur Kenntnis genommen, dass der
Kalif von Köln nicht an die Türkei ausgewiesen werden
darf, weil ihm dort angeblich Folter droht. Zum jetzigen
Zeitpunkt mit einem Land, in dem eventuell Folter droht
und aus dem Menschen kommen, die in Deutschland
Asyl begehren, Verhandlungen über einen EU-Beitritt
aufzunehmen und ein solches Land vollberechtigt an den
Regierungskonferenzen zu beteiligen ist ein Fehler. Das
sagen wir in aller Freundschaft zu den Türken und in
dem vollen Bewusstsein, dass die Türkei auch in Zukunft ein wichtiger Partner für uns sein wird.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Pflüger hat unsere Position zur Türkei dargelegt.
Der Bundesaußenminister hat diese Frage im Europaausschuss, aber auch in der Öffentlichkeit einmal abwägend behandelt. Als es vor einem Jahr um die Frage
„Beitritt der Türkei zur Europäischen Union - ja oder
nein?“ ging, kam er selbst zu der Einschätzung:
49 Prozent sprechen für den Beitritt, 51 Prozent dagegen. Mittlerweile hat er sich auf die Seite derjenigen geschlagen, die dafür sind, den Beitritt der Türkei massiv
zu befördern. Herr Zöpel, das zeigt aber doch auch, dass
diejenigen, die gegen den Beitritt der Türkei sind, nicht
ganz falsch liegen können, wenn Sie, Herr Zöpel, vor
völkischen oder nationalen Gefahren warnen. Ich gehöre
zu denjenigen, die zum Beitritt der Türkei zu diesem
Zeitpunkt Nein sagen. Der Beitritt der Türkei wird jetzt
unumkehrbar eingeleitet. Die Türkei kann dann selbstverständlich genauso wie Griechenland den Präsidenten
der EU-Kommission oder einen EU-Kommissar - dadurch, dass unter anderem Deutschland auf den Posten
eines Kommissars verzichtet, werden Plätze frei - stellen. Warum nicht? In der Türkei gibt es hoch qualifizierte Personen.
Wir, CDU und CSU, haben den jetzt anstehenden Beitritt der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vorbereitet. Es war Helmut Kohl, der die Osteuropäer erstmals
zum EU-Gipfel eingeladen hat. Damit hat er ihrem Beitritt den Weg bereitet. Zur dynamischen Gestaltung des
vor uns liegenden Prozesses sagen wir uneingeschränkt
Ja.
Ich komme auf ein anderes Reizthema zu sprechen.
Sie wollen das Volk ausschließen.
({0})
Sie wollen das Parlament an der Diskussion über diese
zentralen Fragen nicht beteiligen. Sie wollen, dass politische Entscheidungen im Hinterzimmer getroffen werden, also Geheimdiplomatie. Wir ratifizieren nächste
Woche das Gesetz, das den Beitritt von zehn mittel- und
osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union vorsieht. Die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen sind nicht bereit, zuzugestehen, dass dieser historische Schritt einer Zweidrittelmehrheit des Deutschen
Bundestags bedarf. Wir bestehen natürlich darauf, dass
diese Ratifikation mit einer Zweidrittelmehrheit erfolgt.
Auch wir wollen Ja zum Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union sagen.
Wir müssen den Blick auch darauf richten, welche
Probleme zu lösen sind. Stichwort: Agrar/Finanzen. Es
geht darum, die Frage zu beantworten, wie wir die mit
diesen Problemen verbundenen Herausforderungen
- insbesondere im Hinblick auf den Arbeitsmarkt - bewältigen. Das interessiert natürlich unsere Bürger. Wir
wollen ganz aktiv mitgestalten.
({1})
Außerdem stellt sich die Frage - Kollege Pflüger hat
auf diesen Punkt in dieser Debatte zu Recht hingewiesen -: Wo ist das Ende der Erweiterung? Wir sind der
Meinung, dass es noch andere Möglichkeiten als die
Vollmitgliedschaft gibt. Deutschland ist ein Freund und
ein Partner der Türkei. Wir sind für eine privilegierte
Freundschaft mit der Türkei und mit vielen anderen
Staaten. Die EU-Kommission ist da wesentlich weiter;
sie hat eine sehr positive Strategie entwickelt. Auf diesem Gebiet müssen wir einmal kreativ werden.
Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass eine Kurzintervention drei Minuten dauern soll!
Der Bundesaußenminister ist es eben nicht. Er ist ein
Medienmensch, er ist plakativ. Er ist ein Gaukler, der auf
der europäischen Ebene in den Medien brilliert; er brilliert aber nicht durch seine Sachkompetenz.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Zöpel, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich bin auf zwei Zusammenhänge angesprochen worden. Auf einen dieser beiden Zusammenhänge war ich gar nicht eingegangen. Das kann ich aber
jetzt tun.
Zunächst möchte ich etwas zu meiner Skepsis gegenüber dem Begriff Volk sagen. Ich kenne in der Tat nur
zwei vernünftige Kriterien für die Abgrenzung zwischen Menschen: die Sprache und die Staatsangehörigkeit. Die sprachliche Trennung wollen wir durch bilingualen, ja multilingualen Unterricht überwinden. Die
Trennung in unterschiedliche Staatsangehörigkeiten in
Europa wollen wir durch eine europäische Staatsbürgerschaft, die wir in diesem Verfassungsentwurf festgelegt
haben, aufheben. Wenn die sprachliche Trennung und
die Trennung durch unterschiedliche Staatsbürgerschaften aufgehoben sind, dann gibt es meiner Meinung nach
keine nachvollziehbaren Kriterien, Völker voneinander
abzugrenzen.
({0})
Ich stehe in der preußischen Staatstradition. Die Preußen wären nie auf die Idee gekommen, von einem preußischen Volk zu reden. Preußen war bekanntlich derjenige Staat in Europa, der am langsamsten geschossen
hat.
({1})
- Ob ich damit so allein stehe, bezweifle ich. Ich beschäftige mich viel mit Preußen. Es gibt viele, die erkannt haben, dass Vielvölkerstaaten wesentlich friedlicher als andere waren.
Herr Kollege Pflüger, es ist hochinteressant, sich damit auseinander zu setzen, was Franzosen unter „Nation“ verstehen;
({2})
denn das unterscheidet sich völlig von dem, was viele
Deutsche damit verbinden - das zeigt die Diskussion
über das Staatsbürgerschaftsrecht -: nämlich die deutsche Abstammung. Es gehört zum tragischen Versagen
der deutschen Konservativen, 200 Jahre gebraucht zu
haben, um die Vernunft des französischen Staatsbürgerschaftsrechts anzuerkennen. Es waren Sozialdemokraten
und Grüne, die das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht reformiert haben.
({3})
Wer immer noch in diesen Kategorien denkt, hinkt der
Französischen Revolution 200 Jahre hinterher. Denken
Sie einmal darüber nach!
Zur Türkei. Nachdem Sie mich darauf angesprochen
haben, obwohl ich gar nicht auf die Türkei eingegangen
war, habe ich jetzt die große Chance, etwas zur Türkei
zu sagen. Ich halte es für offen, ob die Türkei Mitglied
der Europäischen Union werden wird, und zwar deshalb,
weil ich heute nicht weiß, ob die große Mehrheit des politischen Systems und der Bevölkerung in der Türkei den
Kriterien, die eben genannt habe - Europa dient der religiösen Vielfalt, der kulturellen und sprachlichen Vielfalt,
den Entwicklungsmöglichkeiten jeder sprachlichen und
kulturellen Minderheit und dem endgültigen Überwinden der Grenzen -, genügen wird. Die Türkei ist auf dem
Wege. Die Türkei war aus tragischen Gründen an den
Irrweg der nationalen Abgrenzung - aus Europa importiert - in einer Weise gebunden, dass sie ihn bisher nicht
so überwunden hat wie die meisten Europäer. Der Diskussionsprozess ist im Gange.
Wir Europäer sollten mit der Türkei allmählich so
umgehen wie sonst mit unserer Geschichte. Da wird es
ganz merkwürdig.
Herr Kollege Zöpel, Sie haben nur drei Minuten. Sie
können nicht mehr lange Ausführungen machen.
Frau Präsidentin, ich gehe auf zwei relativ ausführliche Kurzinterventionen ein, die die Präsidentin, die vor
Ihnen die Sitzung geleitet hat, in ihrer Großmut zugelassen hat.
({0})
Ich komme aber zum letzten Satz.
Europa muss darüber nachdenken, in welchen Phasen
und Zusammenhängen die Türkei schon in die europäische Geschichte hineingezogen wurde. Das alles sollte
man mit reflektieren. Wenn man das tut, kommt man
nicht auf Abgrenzungskriterien wie die, die ich kritisiert
habe.
Die Türkei ist in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch den allerchristlichsten König von Frankreich
in die europäische Geschichte gezogen worden, der
nämlich gestützt auf das Bündnis mit dem Osmanischen
Reich die deutsche Kaiserkrone erlangen wollte. So weit
reicht das zurück. Wir sollten all das berücksichtigen,
die Kriterien, die ich eben genannt habe, im Auge haben,
mit der Türkei über religiöse, ethnische und kulturelle
Vielfalt sprechen und sie dazu auffordern, den Nationalstaat in Europa zu überwinden. Dabei sollten wir uns bewusst machen, was wir Europäer mit der Türkei schon
alles angestellt haben. Zum Beispiel hat man sich mit ihr
entgegen religiösen Gründen machtpolitisch verbunden.
Andere vergessen ihre Geschichte oft viel langsamer als
wir deutsche Europäer.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas
Silberhorn.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Der geradezu irrwitzige Beitrag des Kollegen Zöpel - er
hat mit dem Wort Volk schon deshalb Probleme, weil er
es offenbar mit völkischen Traditionen in Verbindung
bringt - zeigt, dass wir uns um etwas mehr Differenzierung in der Debatte bemühen müssen. Ich lade Sie herzlich dazu ein,
({0})
wenn ich jetzt zum Thema des EU-Verfassungsvertrags
zurückkehre und einen spezifischen Aspekt herausgreife, der meines Erachtens bislang noch nicht die gebotene Aufmerksamkeit findet, nämlich die Frage, welche Rolle wir als Deutscher Bundestag in der
Europäischen Union künftig noch spielen werden.
Der Konvent hat hier durchaus Fortschritte erzielt, die
unsere Position stärken, jedenfalls soweit es um die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips geht. Ich nenne das Frühwarnsystem, das es uns ermöglicht, an Rechtssetzungsverfahren direkt auf EU-Ebene mitzuwirken. Wenn die
Europäische Union gegen das Subsidiaritätsprinzip
verstößt, werden Bundestag und Bundesrat künftig jeweils für sich Klage beim Europäischen Gerichtshof erheben können. Diese Ergebnisse des Konvents begrüßen
wir ausdrücklich. Sie sind sicherlich eine bedeutende
Aufwertung auch für den Deutschen Bundestag.
({1})
Nach dem vorliegenden Entwurf des Verfassungsvertrags werden aber auch bestehende Rechte des Bundestags massiv beschnitten. Ich will mich hier auf nur ein
Beispiel beschränken, und zwar auf die Bestimmungen
über die Finanzmittel der EU: Der Entwurf des Konvents sieht vor, dass nur noch die Obergrenze für die Finanzmittel der Union durch einen einstimmigen Beschluss des Ministerrates und nach Zustimmung der
Mitgliedstaaten festgelegt wird. Alle anderen Beschlüsse
über die Finanzmittel können dagegen künftig im Ministerrat mit einfacher Mehrheit und ohne jede Beteiligung
von Bundestag und Bundesrat getroffen werden.
Das bedeutet für Deutschland: Wenn der Ministerrat
etwa den Mehrwertsteueranteil verändert, den alle Mitgliedstaaten an die Europäische Union zahlen, dann
müssen wir die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens zwischen Bund und Ländern zwingend neu regeln.
Denn nach unserem Grundgesetz wird das Umsatzsteueraufkommen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden
so aufgeteilt, dass Bund und Länder gleichmäßig Anspruch auf die Deckung ihrer notwendigen Ausgaben haben. Wenn jetzt die notwendigen Ausgaben des Bundes
steigen, weil der Mehrwertsteueranteil, den der Bund an
die EU abzuführen hat, erhöht wird, dann müssen auch
die Länder diese zusätzliche Belastung mittragen, weil
nur so die Deckungsquoten von Bund und Ländern wieder in Ausgleich zu bringen sind. Das heißt also: Ein Beschluss über die Finanzierung der EU kann uns zu einer
Neuregelung der innerstaatlichen Finanzverteilung
zwingen. Hierfür haben wir dann ein Gesetz im Bundestag zu beschließen, das der Zustimmung des Bundesrates
bedarf. Und dafür soll ein Beschluss des Ministerrates
genügen, der ohne jede Beteiligung von Bundestag und
Bundesrat zustande kommt und gegebenenfalls sogar gegen die Stimmen der Bundesrepublik als größtem Nettozahler innerhalb der Europäischen Union? Das ist geradezu absurd.
Es ist ganz offensichtlich so, dass diese gravierenden
Auswirkungen von der Bundesregierung überhaupt nicht
bedacht worden sind. Jedenfalls will ich es ihr zugute halten, dass sie dem nicht mit Bedacht zugestimmt hat. Das
macht die Sache allerdings auch nicht besser. Ich darf Sie
deshalb damit vertraut machen, dass Sie für solche
Schnitzer, soweit sie nicht noch repariert werden können,
einen Preis werden zahlen müssen. Dieser Preis wird darin bestehen, dass wir eine erhebliche Verstärkung der
Beteiligung von Bundestag und des Bundesrates in
Angelegenheiten der Europäischen Union fordern.
Wie unsere Vorschläge im Detail aussehen werden,
wird maßgeblich davon abhängen, in welchem Umfang
Sie unsere Anliegen im Konvent mit unterstützen und in
der Regierungskonferenz durchsetzen. SelbstverständThomas Silberhorn
lich erwarten wir vom Bundesaußenminister, dass er unsere inhaltlichen Forderungen mindestens mit der gleichen Verve verfolgt, mit der er nach dem Amt des
europäischen Außenministers trachtet.
Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung,
dass es im gemeinsamen Interesse aller Abgeordneten
des Deutschen Bundestages liegt, dass wir bei EU-Angelegenheiten künftig wirkungsvoller als bisher mitwirken
können.
({2})
Ich meine, dass wir auch diesen Schritt gehen müssen,
wenn wir die Europäische Union demokratischer und
transparenter gestalten wollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel
von der SPD.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir merken in dieser Debatte, dass Europa ein
spannendes Thema ist, und es bleibt spannend. In den
letzten 13 Jahren, in denen ich die Ehre hatte, diesem
Hohen Hause anzugehören, und in denen ich die Entwicklung nach den Umbrüchen von 1989/90 von Beginn
an miterlebt habe, hatten wir immer wieder intensive
Debatten über Europa.
Es gab diejenigen, die sich für die Erweiterung einsetzten und bezüglich der Vertiefung skeptisch waren.
Anders herum gab es eine ganze Menge derer, die sagten: Wir müssen erst einmal Europa im Westen bauen,
dann erst können wir die anderen hineinlassen, sonst gehen die nicht mit uns auf dem Weg, den wir in Europa
gehen wollen. Wir Deutschen - das kann ich wohl parteiübergreifend feststellen - waren uns tendenziell immer einig, dass beides zu erfolgen hat. Dass diese Prozesse parallel verlaufen sind, ist nicht zuletzt ein
wichtiger Erfolg aller Bundesregierungen seit 1990.
Dass wir an diesem Tag beides zusammen debattieren,
eine europäische Verfassung und die Erweiterung, hätte
sich vor einiger Zeit niemand träumen lassen. So war es
vor wenigen Jahren ein Erlebnis, als der französische
Präsident im Namen Frankreichs in diesem Hause erstmalig von einer europäischen Verfassung sprach. Damit
wurde die Möglichkeit eröffnet, den Weg zu beschreiben, den wir jetzt miteinander gegangen sind.
Dann gibt es die Staaten, in denen nicht der Westen
gesiegt hat, sondern in denen Demokratie und Freiheit
siegten und die sich auf einen langen, schwierigen Weg
eingelassen haben, der nicht nur ihre Wirtschaft, sondern
alle Bereiche ihrer Gesellschaft verändert hat, hin zu diesem institutionalisierten Europa, das wir jetzt gemeinsam gestalten. Das war kein Weg zurück nach Europa;
denn Prag, Warschau oder Budapest, aber auch Bukarest
oder Riga gehörten immer zum wesentlichen Bestand
Europas; dies war von Beginn an klar. Insofern geht es
hier durchaus um die Frage der Identität Europas. Auch
die Debatte über die Türkei hat wesentlich damit zu tun.
In einem Punkt stimme ich dem Kollegen Zöpel ganz
besonders nachdrücklich zu: Auch ich weiß nicht, ob die
Türkei dieses Ziel erreichen wird und ob es die Mehrheit in die Türkei erreichen will. Das ist die zentrale
Frage, die wir stellen müssen. Selbstverständlich ist es
richtig, dass man nicht mit einem Land Verhandlungen
beginnen kann, in das man niemanden zurückschicken
kann, weil man Angst haben muss, dass er dann Opfer
politischer Verfolgung wird. Die Todesstrafe ist zwar inzwischen in Friedenszeiten abgeschafft, aber gefoltert
wird weiterhin. Aber wer sagt denn, dass dies Ende
nächsten Jahres noch so ist?
Natürlich gehört dazu, dass in diesem Land andere
gesellschaftliche Kräfte, übrigens auch christliche Kirchen, frei agieren können. Im Augenblick ist die Türkei
auch in diesem Punkt noch weit davon entfernt, den Kriterien für die Aufnahme in die Europäische Union zu genügen.
Gleichzeitig müssen wir die zurzeit dort statthabenden Prozesse beachten. Wer von uns hätte sich träumen
lassen - der Bundesaußenminister hat es vorhin schon
erwähnt -, dass in der Türkei eine solche Debatte stattfindet, wie sie zurzeit über die Rolle des Militärs geführt
wird? Wir haben immer gesagt: Es ist schon komisch,
dass man ein Militär braucht, um Demokratie zu sichern.
Jetzt wird als Teil demokratischer Reformen die Rolle
des Militärs neu diskutiert. Diesen Prozess sollten wir
mit allen Kräften unterstützen. Es ist gut, dass die Europäische Union dies tut; denn es wird unser aller Vorteil
sein, wenn es der Türkei gelingt, auf diesem Weg erfolgreich zu sein. Davon werden auch wir in starkem Maße
profitieren.
Zu Südosteuropa hat Kollege Zöpel bereits das
Wichtigste gesagt: Es muss unser Interesse sein, diesen
25 Millionen Menschen zu helfen, so schnell wie möglich integriert zu werden. Wir sollten eben nicht abwarten und ihnen sagen: Seht einmal zu, dass ihr eure Probleme regelt! Wenn ihr den Kriterien irgendwann
genügt, könnt ihr auch Mitglied werden. - Dies ist auch
für uns ein zentrales Anliegen. Viele Probleme in dieser
Region können auf dem Weg der Integration gelöst werden, aber das ist natürlich kein Automatismus.
Als weiteren wesentlichen Punkt spreche ich die
Frage der Nachbarschaften der Länder der Europäischen
Union an. Die Kommission hat hierzu am 11. März ein
Papier vorgelegt, das ich für ausgesprochen wichtig halte
und mit dem wir uns beschäftigen sollten; denn sie versucht, genau diese Nachbarschaften stärker zu strukturieren, deutlich zu machen, dass wir als Europäische
Union strukturierte Beziehungen zu den Nachbarn brauchen. Leider hat sie den Südkaukasus vergessen. Glücklicherweise ist dies bei dem Ministertreffen im Juni und
auch jetzt beim Gipfel angesprochen worden. Natürlich
gehört der Südkaukasus, gehören Georgien, Aserbaidschan und Armenien zu den Nachbarschaftsregionen, die
wir stabilisieren müssen. Übrigens müssen wir auch in
Gesprächen mit Russland deutlich machen, dass es eine
wesentliche Verantwortung hat, zur Stabilisierung dieser
Region beizutragen. Dafür ist ein breites Spektrum an Instrumentarien vorgesehen, bis hin zu Finanzhilfen, die
angeboten werden können. Ich halte es für wesentlich,
unser Verhältnis zu den Nachbarn im Norden Afrikas, im
Nahen Osten und eben im Osten intensiv zu gestalten.
({0})
- Vielen Dank.
Als einen weiteren zentralen Punkt spreche ich die
gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik an. Ich benutze jetzt bewusst diese Reihenfolge der Begriffe, weil
ich es für sehr wichtig halte, dass wir die sicherheitspolitische Dimension klarer gestalten - dies betrifft Fragen
bis hin zu unserem verteidigungspolitischen Konzept und dazu gehören Fragen wie diese: Inwieweit sind wir
bereit, in Europa arbeitsteilig voranzugehen?
Dies ist nicht nur eine Frage der Finanzen, die wir für
das Militär aufbringen müssen - das ist nötig und wird in
den nächsten Jahren noch nötiger sein -, sondern vor allem eine Frage der Strukturen. Es kommt darauf an, dass
nicht mehr jeder alles alleine macht, sondern dass wir als
Europäer gemeinsame Strukturen, ein gemeinsames militärisches Vorgehen ansteuern und damit partnerschaftsfähig im Hinblick auf die Vereinigten Staaten werden.
Ich denke, das ist unser gemeinsames Ziel.
Das heißt, dass Sicherheitspolitik zwar auch militärisch, aber in erster Linie politisch und ökonomisch agieren muss. Weltweit kann und sollte neben den Vereinigten Staaten nur die Europäische Union in der Außenund Sicherheitspolitik tätig werden. Dafür müssen wir
das gesamte Instrumentarium der Einzelstaaten besser
koordinieren und kohärenter gestalten. Unsere Außenbeziehungen müssen von einem gemeinsamen politischen
Willen getragen sein.
Dies ist der wesentliche Erfolg, den wir mit dieser
Verfassung und einem europäischen Außenminister erzielen werden. Wir sollten alles tun, um diese Institution
zu stärken, zu der dann selbstverständlich auch Diplomaten gehören. Alles andere wäre irrwitzig.
Ich danke Ihnen und wünsche uns einen guten Erfolg
auf dem Weg in Europa.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag auf
Drucksache 15/1213. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen worden.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 15/1212
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur
Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den
Rechtsausschuss und den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1100, 15/1200 und 15/1112 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Nein.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 15/1138 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 15/918 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache
15/1139 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion
({0}) über den europäischen Verfassungskonvent vorantreiben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/942 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen
Abgeordneten gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen worden.
Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung auf Drucksache 15/1163 zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung mit dem Titel „Vermerk des
Präsidiums für den Konvent; Organe - Entwurf von Artikeln für Titel IV des Teils 1 der Verfassung“. Kann ich
davon ausgehen, dass Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben? - Gut.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 2. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1207
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 bis 6 auf:
ZP 3 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Arbeitsrechts
({1})
- Drucksache 15/1182
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Reformen
am Arbeitsmarkt
- Drucksache 15/1204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit
- Drucksache 15/1225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Rainer Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rahmenbedingungen für einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt schaffen
- Drucksache 15/590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Herr Bundesminister Wolfgang Clement.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht heute um weitere wichtige Schritte auf
dem Weg zur Modernisierung unseres Wirtschafts- und
Arbeitslebens sowie unseres Arbeits- und Sozialrechts.
Wir diskutieren diese Fragestellungen vor dem Hintergrund eines außerordentlich geringen Wachstums, einer
ausgeprägten Wachstumsschwäche, und einer außerordentlich hohen und verhärteten Arbeitslosigkeit.
Wir müssen den Teufelskreis aus schwachem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit endlich durchbrechen.
Die außerordentlich hohe und verhärtete Arbeitslosigkeit
ist zu einer Wachstumsbremse geworden. Sie bremst die
Konsummöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und
damit die Produktionskapazitäten und sie beraubt uns
nicht zuletzt, sondern zuallererst unserer Möglichkeiten,
die wir aufgrund der Qualifikation der Menschen in diesem Land haben.
Seit über zwei Jahrzehnten registrieren wir in
Deutschland Unterbeschäftigung in Millionenhöhe.
Wenn man die so genannte stille Reserve einrechnet, von
der Sachverständige sprechen, dann muss man sagen,
dass es 6 Millionen Menschen gibt, die zwar erwerbsfähig sind, aber außerhalb des Arbeitslebens stehen. Wenn
man diese Zahl zu den 37 Millionen bis 38 Millionen Erwerbstätigen ins Verhältnis setzt, dann wird klar, wie
dramatisch die Wachstums- und Wohlstandsverluste aufgrund der außerordentlich hohen Arbeitslosigkeit und
Unterbeschäftigung in Deutschland wirklich sind. Das
ist der Grund, weshalb alles auf den Prüfstand muss, was
den Zugang zu regulärer Arbeit behindern könnte.
Wir müssen registrieren, dass bis heute - mit Ausnahme der Jahre 2000 und 2001 - die so genannte Sockelarbeitslosigkeit nach jeder Phase von Wachstumsschwäche angestiegen ist. Sie hat sich gewissermaßen
von Wachstumsschwäche zu Wachstumsschwäche, von
Abschwung zu Abschwung höher aufgetürmt. Gemessen
daran - das will ich klar sagen - ist die Eingliederungsleistung unserer arbeitsmarktpolitischen Instrumente außerordentlich erfolglos. Sie sind nicht nur ineffizient,
sondern auch volkswirtschaftlich nicht mehr vertretbar.
Es ist aus meiner Sicht auch nicht gerecht, so weiterzumachen.
({0})
Aus meiner Sicht ist es demgegenüber nicht ungerecht und auch nicht unsozial, wenn wir die Arbeitsmarktförderung und das Arbeitsrecht einer strengen Erfolgskontrolle im Hinblick auf ihre Leistung bei der
Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterziehen.
({1})
Wenn es uns mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
und auch mit der Schaffung von Gerechtigkeit ernst ist
- und es ist uns bitterernst -, dann müssen wir alles tun,
um zu verhindern, dass weiterhin millionenfach Talente
und Begabungen in der Arbeitslosigkeit verloren gehen
oder vergeudet werden.
Ich verstehe die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auch als einen Beitrag zu größerer Gerechtigkeit,
weil wir so die Chancen des Einzelnen und der Einzelnen auf Arbeit, auf persönliche Entfaltung und Wohlstand verbessern und dadurch am Ende des Tages sehr
viel mehr Menschen bessere Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden können.
({2})
Für diese Flexibilisierung und Modernisierung des
Wirtschafts- und Arbeitsrechts haben wir bereits eine
Reihe von Maßnahmen unternommen. Wir haben auf der
Grundlage der Vorschläge der Hartz-Kommission mit
der Schaffung von neuen Beschäftigungsmöglichkeiten
begonnen. Dazu gehören die Minijobs und die Möglichkeit, sich im kleingewerblichen Bereich etwa in Form
der Ich-AG selbstständig zu machen. Diese Maßnahme
ist wesentlich erfolgreicher, als manche vorausgesagt haben.
({3})
Wir haben die Möglichkeiten der Leih- und Zeitarbeit,
für die es jetzt Gott sei Dank Tarifverträge gibt, die auch
angewandt werden, erweitert. Wir haben eine Reihe von
zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen.
({4})
- Wenn Sie, Herr Kollege Hinsken, daran Kritik üben
wollen, dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass allein in diesem Jahr etwa 100 000 Menschen in Deutschland den Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit gegangen sind. Die Experten rechnen mit
etwa 200 000 Menschen, die diesen Weg gehen wollen.
Nach den Erfahrungen, die wir bislang mit dem so genannten Brückengeld und mit der Ich-AG gemacht haben - beide Maßnahmen laufen parallel -, kann man sagen, dass nach etwa zwei bis drei Jahren zwei Drittel
dieser Unternehmen überlebensfähig sind. Sie sind
ebenso wie andere Existenzgründungen bestandskräftig. Das mag viele überraschen, ist aber von besonderer
Bedeutung.
Übrigens schaffen sie nach den Erfahrungen, die wir
bisher haben, innerhalb dieser Zeit zwei bis drei Arbeitsplätze. Es empfiehlt sich also, die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, die wir gemeinsam geschaffen haben,
mit einiger Zuversicht zu betrachten. Wir werden davon
weiterhin mit allem Nachdruck Gebrauch machen.
({5})
Wir haben ferner, was das Arbeitsrecht und den Arbeitsmarkt angeht, neue Vermittlungsbedingungen geschaffen: Erwartungen an die Mobilität und an die Aufnahme von zumutbaren Arbeitsplätzen, Jobs. Einiges
davon wird erst jetzt, am 1. Juli, in Kraft treten: beispielsweise die Regelung, die wenig beachtet wird, dass
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, denen gekündigt wird, unverzüglich, das heißt gewissermaßen am
Tag der Kündigung, zur Arbeitsvermittlung gehen müssen, damit keine Zeit zwischen drohendem Arbeitsplatzverlust und Vermittlung in einen neuen Arbeitsplatz versäumt wird.
Dies ist ein Thema von außerordentlicher Bedeutung,
wie ich mir vor kurzem bei einem Besuch in London in
einem dortigen Jobcenter, die wir auch in Deutschland
aufbauen werden, habe anschauen können. In Großbritannien gelingt es in der Regel, Arbeitslose innerhalb
von im Durchschnitt 21 Wochen nach dem Verlust ihres
Arbeitsplatzes in einen neuen zu vermitteln. In der
Bundesrepublik Deutschland dauert dies gegenwärtig
33 Wochen. Wer sich vor Augen führt, dass eine Woche
rein rechnerisch etwa 100 000 Arbeitslose oder einen
Kostenfaktor von knapp 1,5 Milliarden Euro ausmacht,
der weiß, dass wir hier über Themen von großer Bedeutung sprechen, die teilweise, was die gesetzlichen
Grundlagen angeht, in ihren Wirkungen unterschätzt
werden.
Heute geht es darum, diesen Prozess an zwei Stellen
fortzusetzen. Dabei geht es um das Arbeitsrecht, konkret
gesprochen insbesondere um den Kündigungsschutz,
und um Fragen des Arbeitslosengeldes, das heißt des
Leistungsrechts auf dem Arbeitsmarkt. Wir werden diese
Debatte schon morgen fortsetzen, wenn es um die Modernisierung des Handwerksrechts geht, um auch auf
diesem Sektor für Bewegung, Offenheit und Flexibilität
zu sorgen.
Wir werden dies im Rahmen der Debatte über die
nächsten Schritte nach dem 13. August fortsetzen. Ich
gehe davon aus, dass das Kabinett dann weitere Beschlüsse gefasst haben wird, die den wichtigsten Teil
dieser Reform betreffen, nämlich die Zusammenlegung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und die Zusammenführung in Jobcentern, in denen dann eine andere
Vermittlungsarbeit geleistet werden kann, als uns das
bisher in Deutschland gelungen ist. Dies geht Hand in
Hand mit einer umfassenden Reform der Bundesanstalt
für Arbeit zur Agentur für Arbeit in Deutschland. Ich
gehe davon aus, dass wir den Arbeitsmarkt mit diesen
Schritten tief greifend verändern können und der Arbeitslosigkeit auf diese Weise deutlich erfolgversprechender als bisher zu Leibe rücken.
Die Bundesregierung bzw. die Fraktionen der Regierungskoalition schlagen behutsame Veränderungen des
Kündigungsschutzes vor. Um es klar und deutlich zu sagen: Der Kündigungsschutz ist auch aus meiner Sicht
das wichtigste Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer.
({6})
Wir höhlen deshalb den Kündigungsschutz nicht aus und
beseitigen ihn nicht, sondern wollen ihn dort, wo er sich
möglicherweise als Hemmschwelle für den Eintritt in
das Arbeitsleben erweisen könnte oder erwiesen hat,
auflockern. Um es klar zu sagen: Wir sprechen hier über
Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten. Für diese
Kleinunternehmen gilt bisher kein Kündigungsschutz.
Wir wollen, dass in Zukunft Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über diese Schwelle von fünf Beschäftigten
hinaus befristet eingestellt werden können, damit sich
diese Betriebe, wenn notwendig, wenn gewünscht oder
wenn geboten, vergrößern können, ohne deshalb in den
Kündigungsschutz hineinzuwachsen.
Diese Frage so anzugehen ist deshalb vernünftig, weil
wir aus Umfragen wissen, dass eine nicht zu unterschätzende Zahl von Kleinstunternehmen bereit sein könnte,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen,
wenn die Folge daraus nicht ein Hineinwachsen in einen
dauerhaften Kündigungsschutz wäre. Ob dies so ist,
weiß niemand von uns. Es gibt dazu Umfragedaten und
oberflächliche Untersuchungen. Es gibt in keiner Volkswirtschaft - weder in der amerikanischen noch in einer
europäischen - ein klares Datenmaterial über diese
Frage.
Deshalb empfiehlt es sich, außerordentlich vorsichtig
und behutsam mit diesem Thema umzugehen. Das tun
wir mit unserem Vorschlag. Ich sehe hier - wir werden
darüber in der Folgezeit noch genauer debattieren - einen klaren Gegensatz zum Vorschlag der CDU/CSUFraktion, die vorsieht, in Unternehmen mit weniger als
20 Mitarbeitern bei Neueinstellungen den Kündigungsschutz auszusetzen. Ich halte den Weg, den Sie dazu vorschlagen, für nicht gangbar - um das deutlich zu
sagen -, weil er die Belegschaften in Beschäftigte mit
und ohne Kündigungsschutz aufspaltet.
({7})
Ich frage mich erstens, ob dies sachlich zu rechtfertigen
ist, und zweitens, ob dies verfassungsrechtlich überhaupt
haltbar ist. Ich habe da schwerste Bedenken.
({8})
Aber wir werden das sicherlich noch genauer debattieren.
Was die Bundesregierung weiter vorschlägt, ist vor
allem dem Ziel gewidmet, bei der so genannten Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen für mehr
Rechtssicherheit zu sorgen. In Zukunft sind nur noch
drei Kriterien zu berücksichtigen: Alter, Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsverpflichtungen.
({9})
Dazu sehen wir vor, dass die so genannten Leistungsträger in Betrieben und die Personalstruktur beachtet und in
die Überlegungen bei betriebsbedingten Kündigungen
einbezogen werden können. Dies ist heute schon geltende Rechtsprechung; wir übernehmen diese Regelungen ins Gesetz.
Wir schaffen einheitliche Klagefristen von drei Wochen für alle. Wir schaffen besondere Möglichkeiten für
Existenzgründer, nämlich Beschäftigungsverhältnisse in
den ersten vier Jahren nach der Existenzgründung sachgrundlos befristet eingehen zu können. Dies sind Instrumente, die die Beschäftigungsschwelle senken. Sie tragen dazu bei, Arbeitsuchenden - in Großbritannien
spricht man übrigens interessanterweise von „job seekers“ - den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.
Sie gefährden aber nicht die Rechtssicherheit derer, die
im Arbeitsmarkt sind. Das ist der Unterschied zwischen
den Vorschlägen, die zu dieser Debatte vorliegen.
Eine besonders weit reichende Reform, die wir angehen, ist die des Arbeitslosengeldes. Uns allen ist vermutlich klar, dass der Vorschlag, den wir dazu machen, nämlich die Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld in der
Regel auf zwölf Monate und für über 55-Jährige auf
18 Monate zu begrenzen, eine sehr tief greifende Veränderung bedeutet. Um dies klar zu sagen: Sie ist aus unserer Sicht geboten, weil die lange Zahlung von Arbeitslosengeld - bis zu 32 Monaten, wie es zurzeit die
Rechtslage gebietet - dazu führt, dass Unternehmen
- vor allem Großunternehmen - Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer unter Zuhilfenahme der Finanzmittel der
Beitragszahler in den vorgezogenen Ruhestand schicken.
Erstens ist es nicht in Ordnung, dass Unternehmen,
die sich über die hohen Lohnnebenkosten in Deutschland beklagen, gleichzeitig die hohen Lohnnebenkosten
durch die Nutzung dieses Instrumentariums mitverursachen. Das ist zweifellos eine Fehlnutzung dieses Instrumentariums.
({10})
Um wirklich offen miteinander zu reden: Auch ich war
daran beteiligt. Wir haben dieses Instrumentarium natürlich auch im Ruhrgebiet und in vielen anderen Regionen
genutzt, vor allem als es in der Vergangenheit um tiefe
Umbrüche am Arbeitsmarkt in den Industrieregionen
ging. Aber dieser Prozess muss nun einen Abschluss finden. Er überfordert die Kräfte der öffentlichen Kassen,
der Kassen der Beitragszahler.
Zweitens ist dieser Schritt aus unserer Sicht notwendig, weil wir erreichen müssen, dass die Tendenz zum
frühzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in
Deutschland gebrochen wird. Wir müssen erreichen,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass wir alle
länger im Berufsleben bleiben, als es heute in Deutschland Praxis ist. Wir haben eine Pensionsgrenze von
65 Jahren. Wir haben ein tatsächliches Pensionsalter
von etwa 60,5 Jahren. Dieser Durchschnitt ist in der letzten Zeit etwas angestiegen: von gut 59 auf gut 60 Jahre.
Aber wir haben uns innerhalb der Europäischen Union
verpflichtet, die tatsächliche Dauer der Erwerbstätigkeit
bis zum Jahr 2010 deutlich zu erhöhen, und zwar um bis
zu etwa fünf Jahre. Dies ist nur zu erreichen, wenn wir
den Trend zum vorzeitigen Ausscheiden durchbrechen.
Dies ist auch vor dem Hintergrund der ständig steigenden Lebenserwartung, die wir - gottlob! - in Deutschland haben, richtig und vernünftig. Auch ich freue mich
über die gestiegene Lebenserwartung und profitiere davon hoffentlich noch ziemlich lange. Aber sie bedeutet
natürlich eine gravierende Veränderung gegenüber den
Fakten, die wir zum Zeitpunkt der Entstehung unserer sozialen Sicherungssysteme hatten. Vor 30, 40 Jahren, als
die sozialen Sicherungssysteme aufgebaut wurden, hatten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Lebenserwartung, die nur vier Monate über die damalige
Pensionsgrenze hinausging. Heute liegt die Lebenserwartung der Menschen im Durchschnitt etwa 20 Jahre
über der Pensionsgrenze. Wenn man sich dies vor Augen
führt, weiß man, dass eine Reform der sozialen Sicherungssysteme angegangen werden muss.
All diese Gründe sprechen auch für eine Veränderung
beim Arbeitslosengeld. Dies kann aber nur in Verbindung mit der Reform der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, die wir im August vorlegen werden, betrachtet
werden. Hier besteht nämlich ein enger Zusammenhang.
Wir wollen, dass vor allem die über 50-jährigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Beruf bleiben
können oder, sofern sie ihren Arbeitsplatz verlieren,
rasch einen neuen finden. Wir müssen auf diesem Gebiet
eine Veränderung vollziehen. Wir müssen sie unter anderem auch vollziehen, weil die Schülerabgangszahlen ab
etwa 2006 deutlich sinken werden. Das bedeutet, dass
wir in Deutschland dann vor einer Phase des wirklichen
Fachkräftemangels stehen werden.
Wir bieten Instrumente, Gesetze an - einige haben
wir im Deutschen Bundestag bereits beschlossen, andere
befinden sich im Gesetzgebungsverfahren -, damit Menschen, die über 50 Jahre alt sind, ihren Arbeitsplatz
behalten können bzw. so rasch wie möglich vermittelt
werden können: Wir bieten die Förderung von Qualifizierungsmaßnahmen für über 50-jährige Arbeitnehmer
in kleineren und mittleren Unternehmen an. Wir bieten
beim Übergang in eine schlechter bezahlte Beschäftigung eine Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer an.
Die Bundesanstalt für Arbeit ersetzt 50 Prozent des Differenzbetrages zwischen dem vorherigen und dem neuen
Einkommen. Wir bieten den Arbeitgebern einen Beitragsbonus für die Einstellung älterer Arbeitnehmer an.
Außerdem gibt es die Sozialplanförderung und Weiteres.
Wir sind an möglichst kreativen Vorschlägen interessiert, wie wir noch bessere Instrumente entwickeln können, damit Unternehmerinnen und Unternehmer alles
tun, um die Erfahrungen und Kompetenzen ihrer älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ihr Unternehmen zu erhalten. Außerdem sind wir an Vorschlägen interessiert, die dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmer im
Arbeitsleben gehalten werden können.
Bei den weit reichenden Veränderungen, die wir vornehmen, gilt Vertrauensschutz. Es ist nicht gerechtfertigt, eine so tief greifende Veränderung wie die, die wir
beim Arbeitslosengeld vornehmen, von heute auf morgen umzusetzen. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits Arbeitslosengeld empfangen oder in
nächster Zeit Arbeitslosengeld empfangen werden, gibt
es Vertrauensschutz. Dieser Vertrauensschutz gilt - das
beruht auf dem, was die Experten entwickelt haben - für
26 Monate. Das bedeutet, dass die neuen Fristen für das
Arbeitslosengeld erst ab 2006 in Kraft treten. Wir haben
also ausreichend Zeit, um insbesondere am Arbeitsmarkt
zu den Veränderungen zu kommen, die wir heute anstreben.
Das ist der Kern unseres heute vorliegenden Gesetzentwurfs. Es handelt sich um Veränderungen im Arbeitsrecht und bezüglich des Leistungsgeldes. Das sind wichtige Veränderungen, die den Arbeitsmarkt in Bewegung
bringen sollen. Sie sollen dazu beitragen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eher in den Arbeitsmarkt vermittelt werden können, dass ältere Arbeitnehmer eher auf dem Arbeitsmarkt gehalten werden können
und dass die Arbeitslosigkeit insgesamt überwunden
wird, die zur Geißel der Bundesrepublik Deutschland
geworden ist, weil sie das Wirtschafts- und Arbeitsleben
vergiftet.
Wir stehen vor weit reichenden Anstrengungen, die
nicht allein mithilfe gesetzgeberischer Maßnahmen gemeistert werden können. Es geht darum - wir haben das
gestern anhand der Ausbildungssituation in Deutschland
diskutiert -, dass wir dem Thema Arbeit insgesamt und
der Vermittlung in Arbeit sowie der Rückgewinnung von
Arbeitsplätzen im Besonderen einen wesentlich höheren
Rang einräumen.
Eine Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Bekämpfung der in Deutschland außerordentlich stark verbreiteten Schwarzarbeit. Wir werden das morgen genauer diskutieren, wenn wir darüber reden, dass es in
Deutschland - geschätzt - 5 bis 6 Millionen Schwarzarbeiter gibt. Offensichtlich gibt es sehr wohl Beschäftigungsmöglichkeiten, diese müssen wir in die Legalität
zurückholen.
Das sind die Aufgaben, vor denen wir stehen. Wir
wollen heute einen wichtigen Schritt tun, um im Kampf
gegen die Arbeitslosigkeit voranzukommen. Ich bin
überzeugt, dass wir in diesem Kampf Erfolg haben werden. Der Erfolg wird sich nicht von heute auf morgen
einstellen; aber er wird sich einstellen.
Die ersten positiven Bewegungen, die auf das, was
wir in diesem Jahr beschlossen haben, zurückgehen, sind
spürbar und erkennbar. Sie sind natürlich noch absolut
unzureichend. Sie werden noch von der gegenwärtig
herrschenden wirtschaftlichen Wachstumsschwäche verdeckt. Wir werden auf diesem Weg aber weiter voranschreiten und die strukturellen Reformen voranbringen.
Sie sind selbstverständlich in eine Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik eingeordnet, die als Ganzes verstanden
werden muss. Dazu gehört es, dass private und öffentliche Investitionen gesteigert und verstetigt werden.
Aus diesem Grunde diskutieren wir ja über Steuerund Abgabensenkungen. Deshalb diskutieren wir darüber, wie wir die Kreditfähigkeit des Bankensektors
in Deutschland verstärken, damit die kleinen und mittleren Unternehmen Kapital aufnehmen können, und zwar
unbürokratischer und offener, als dies zur Stunde überall
gewährleistet ist. Deshalb diskutieren wir über eine Verbesserung der Investitionsfähigkeit der Kommunen.
({11})
- Ich weiß nicht, warum Sie darüber lachen. Ich kann Ihnen gern Auskunft geben über die Situation im Kreditgewerbe in Deutschland; dann würde Ihnen das Lachen
vielleicht vergehen.
({12})
Das ist nämlich eines der Probleme, mit denen wir es zu
tun haben. An diesem Problem wird übrigens deutlich,
dass es, obwohl nach Ihrem Verständnis die rot-grüne
Bundesregierung für alles verantwortlich ist, vielleicht
einzelne Sektoren gibt, in denen auch andere Mitverantwortung tragen. Deshalb sind wir darauf angewiesen,
dass der Modernisierungs- und Erneuerungsprozess die
gesamte Wirtschaft und den gesamten Wirtschafts- und
Arbeitsmarkt erreicht und alle daran mitwirken, die hier
in der Verantwortung stehen - in der Politik, in den Unternehmen, in den Verwaltungen. Darauf setzen wir.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedrich Merz
für die CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir hatten in den letzten Monaten verschiedentlich Gelegenheit, Vorschläge der Bundesregierung und
Vorschläge der Unionsfraktion zu den großen Problemen
unseres Landes zu diskutieren.
({0})
Wir hatten noch nie eine so gute Gelegenheit, dies zu
tun, wie am heutigen Tag, denn heute liegen dem Deutschen Bundestag zwei Gesetzentwürfe vor,
({1})
ein Gesetzentwurf von Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen und ein Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
({2})
- und einer der FDP -, aus denen sich eine ganze Reihe
von Gemeinsamkeiten, aber auch eine ganze Reihe von
fundamentalen Unterschieden ergeben.
Bevor ich auf das, was uns bei den Vorschlägen für
die Lösung der Probleme eint, und auf das, was uns
trennt, zu sprechen komme, erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, dass ich zunächst den Versuch unternehme, auch mit Ihnen, Herr Clement, Einigkeit in der
Beschreibung der Ausgangslage in unserem Land herbeizuführen.
Das, was Sie hier gerade gesagt haben, ist in der
Grundausrichtung nicht falsch, aber wenn Sie wiederholt
von einer Konjunktur- und Wachstumsschwäche sprechen, so wie Sie das eben auch getan haben, dann ist das
eine aus meiner Sicht viel zu optimistische Beschreibung
der tatsächlichen Lage.
({3})
Wir haben in Deutschland nicht eine Konjunkturschwäche, die sich sozusagen parallel zur Konjunkturschwäche der gesamten Weltwirtschaft darstellt, sondern wir
haben - und das ist keine Schwarzmalerei der Opposition, sondern ein Befund, den uns die Wirtschaftsforschungsinstitute und die internationalen Institutionen
sowie alle diejenigen, die sich mit der Lage unserer
Volkswirtschaft befassen, geben - eine tief greifende
strukturelle Wachstums- und Beschäftigungskrise.
({4})
Wie Sie vor diesem Hintergrund am heutigen Tag zu
der Aussage kommen können, es seien ja erste Zeichen
der Besserung zu erkennen, mit Verlaub, Herr Clement,
verstehe ich nicht.
({5})
Für drei Monate, für die Monate März, April und Mai
2003, wurde die höchste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung festgestellt. Zur Erinnerung: Auf der
Regierungsbank sitzt jemand, der der deutschen Öffentlichkeit zugesagt hat, die Arbeitslosigkeit auf unter
3,5 Millionen zu senken, und der erklärt hat, wenn er
dies nicht schaffen würde, dann habe er es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.
({6})
Ich sage das nicht, um über den vergangenen Wahlkampf
nachzukarten, aber ich möchte Sie und uns alle davor bewahren, dass wir erneut mit einer fundamentalen Fehleinschätzung über die tatsächliche Tiefe der Probleme an
die Lösung der Probleme herangehen.
({7})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich
etwas über die tatsächliche Lage sage. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und es gibt eine dramatische Verschiebung
in der Struktur der Arbeitslosigkeit: Während Arbeitslosigkeit, jedenfalls Langzeitarbeitslosigkeit, in früheren
Jahren und Jahrzehnten - wir befassen uns mit der Arbeitslosigkeit seit der Mitte der 70er-Jahre, seit der ersten Ölpreiskrise und der ersten großen Weltkonjunkturkrise - überwiegend ein Problem der älteren und der
schlecht qualifizierten Menschen war, wird sie heute
überwiegend zu einem Problem der jüngeren und der gut
qualifizierten Menschen.
({8})
Das ist eine dramatische Verschiebung innerhalb der ohnehin viel zu hohen Arbeitslosigkeit.
Vor diesem Hintergrund kann ich Sie nur zu der Einsicht beglückwünschen, die Sie - offenbar unbemerkt
von Ihrer Bundestagsfraktion - zum Besten gegeben haben. Sie haben nämlich gesagt - das habe ich mitgeschrieben -, dass die Eingliederungshilfen der letzten
Jahre außerordentlich erfolglos gewesen seien. Jawohl,
Herr Clement, das stimmt. Auch die Programme wie das
JUMP-Programm und wie sie alle heißen, die Sie und
Ihr Amtsvorgänger mit großer Emphase von diesem
Platz aus verkündet und durchgesetzt haben, sind außerordentlich erfolglos gewesen.
({9})
Wir müssen eine dramatische Entwicklung bei den
Insolvenzen verzeichnen. Sie haben in diesem Zusammenhang die Banken angesprochen. Möglicherweise
gibt es eine Kreditklemme. Aber jenseits dieser Problematik und ganz unabhängig davon, ob es genügend oder
zu wenig Darlehen für die Unternehmen in Deutschland
gibt, haben wir es mit einer katastrophalen Eigenkapitalschwäche der deutschen Unternehmen zu tun. Da hilft
Ihnen auch kein funktionsfähiger, viel besserer Kreditmarkt. Das Entscheidende ist, dass die Unternehmen in
Deutschland zu wenig verdienen, zu geringe Erträge haben, zu wenig reinvestieren können und eine viel zu
hohe Fremdkapitalisierungsquote aufweisen. Das ist das
Problem.
({10})
Bevor ich gleich auf die Arbeitsmarktreformen zu
sprechen komme, lassen Sie mich vorweg Folgendes sagen: Diese Unternehmen bekommen in doppelter Hinsicht Probleme; in einer konjunkturellen Abschwungphase, in einer Krise, sind sie viel schneller als andere
von der Insolvenz bedroht. Aber mindestens genauso
dramatisch ist, dass diejenigen, die eine solche Krise
überleben, in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht stark genug sind, um Schritt halten zu
können und sich an die Spitze zu setzen. Das ist das eigentliche Problem, das wir noch an anderer Stelle, nämlich im Zusammenhang mit Ihrer Steuerpolitik, diskutieren müssen. So wie Sie Politik betreiben, schaffen Sie
nicht das notwendige Vertrauen, damit es gerade bei
kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland wieder aufwärts geht. Diese finden so kein Vertrauen in die
Beständigkeit der Politik; aber dies an anderer Stelle.
({11})
Die Behauptung der Bundesregierung der letzten Monate und Jahre, dass sich die Stärke der deutschen Volkswirtschaft an den Exportzahlen ablesen ließe, haben
Sie, Herr Clement, von diesem Platz aus dankenswerter
Weise nicht wiederholt; denn sie ist schlicht falsch. Der
Anteil der deutschen Volkswirtschaft am Welthandel
nimmt nicht zu, sondern ab. Wir sind noch nicht einmal
in der Lage, mit der Entwicklung des Welthandels
Schritt zu halten.
({12})
Der relative Anteil der Bundesrepublik Deutschland am
Welthandel geht kontinuierlich zurück. Ich gebe allerdings zu: Das ist nicht erst seit dem Regierungswechsel
so, weist aber seit dem Regierungswechsel ein beschleunigtes Tempo auf.
({13})
Das ist ein weiteres Problem unserer Volkswirtschaft
und ihrer Wettbewerbsfähigkeit.
Letzter Punkt zu den Vorbemerkungen und zur Beschreibung der Lage - hier stimmen wir in der Tat überein -: In Deutschland gibt es Arbeit genug. Das haben
Sie in Ihrem Beitrag gerade deutlich zum Ausdruck gebracht, als Sie darauf hingewiesen haben, dass wir eine
rasant wachsende Schattenwirtschaft haben. Die rasant
wachsende Schattenwirtschaft unseres Landes zeigt,
dass wir ein viel größeres Arbeitskräftepotenzial, ja sogar ein viel größeres Wachstumspotenzial in Deutschland haben, als es gegenwärtig im regulären Arbeitsmarkt zum Ausdruck kommt und dort umgesetzt werden
kann.
Damit komme ich nun zu den Lösungen dieser Probleme. Herr Clement, zunächst will ich die Punkte vorausschicken, bei denen wir einer Meinung sind. Ich beglückwünsche Sie, dass Sie heute endlich, nach langen
Monaten der Diskussion und des Streites in der SPD,
hier einen Vorschlag zur Änderung des Kündigungsschutzes gemacht haben. Das hätten wir aber schon früher haben können. Manches von dem, was Sie hier heute
gesagt haben und was richtig ist, hätten wir seit 1998
noch immer haben können; denn es war diese Koalition,
die manches rückgängig gemacht hat.
({14})
Ich würde uns gerne davor bewahren, dieses Thema
in doppelter Hinsicht zu überhöhen. Er ist sicherlich
nicht das entscheidende Thema zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt - ich komme noch auf ein
anderes Thema zu sprechen, das ich für wichtiger halte und ganz gewiss auch nicht, wie Sie gesagt haben, das
wichtigste Grundrecht der Arbeitnehmer. Wenn das so
wäre, dann stellte sich ja die Frage, warum er in den Betrieben, die nur weniger als fünf oder sechs Beschäftigte
haben, nicht gilt.
({15})
Warum wird den Arbeitnehmern in den kleinen Betrieben das wichtigste Grundrecht der Arbeitnehmer in
Deutschland vorenthalten?
({16})
Also: Gemach, gemach. Lassen Sie bei der Beschreibung dieses Sachverhaltes die Kirche im Dorf.
Richtig ist, dass der Kündigungsschutz eine beträchtliche Eintrittsschwelle in den Arbeitsmarkt darstellt. Ich
beglückwünsche Sie zu dieser Erkenntnis. Wir helfen Ihnen auch gegen den Widerstand in Ihren eigenen Reihen
gerne dabei, eine vernünftige Lösung dazu durchzusetzen. Ich habe bereits gesagt, dass wir die Sozialauswahl,
die früher schon galt, längst hätten haben können. Sie
kommen also zum alten Recht zurück.
Ich beglückwünsche Sie auch zu der Erkenntnis, dass
Sie am Arbeitslosengeld etwas korrigieren müssen.
Dies hat über den eigentlichen Sachverhalt hinaus eine
weit reichende Bedeutung. Ich gebe zu, dass auch wir
eine sehr schwierige Diskussion dazu in unseren eigenen
Reihen geführt haben.
Entscheidend ist - das haben Sie hier richtig ausgeführt -, dass das Arbeitslosengeld keine Ersatzrentenversicherung ist. Das sollten wir all denjenigen sagen, die
sich mit dieser Thematik beschäftigen und vielleicht sogar von ihr betroffen sind. Es wird - auch wir haben
durch eigenes Tun in den letzten Jahren und Jahrzehnten
leider dazu beigetragen - häufig so verstanden, dass das
Arbeitslosengeld zulasten der Beitragszahler und der
Bundesanstalt für Arbeit sozusagen eine vorgezogene
Rentenversicherung ist. Das ist die Arbeitslosenversicherung nicht. Sie ist eine reine Risikoversicherung, die
vom ersten Tag der Beitragszahlung an eintritt. Das ist
der Sinn einer Risikoversicherung. Das Risiko der Arbeitslosigkeit wird vom ersten Tag an versichert. Die
Versicherung muss im Grundsatz und im Prinzip unabFriedrich Merz
hängig von Beitragszeiten und vom Alter des Betroffenen mit der gleichen Leistung eintreten.
So weit, so gut. Für viele Betroffene muss es aber heißen: So weit, so schlecht; denn insbesondere diejenigen,
die älter sind, arbeitslos werden und in Zukunft richtigerweise nicht mehr mit einer Arbeitslosenhilfe in dieser
Höhe rechnen können, müssen einen Vertrauensschutz in
Anspruch nehmen können, den wir alle zusammen ihnen
gegeben haben. Insofern ist auch hier eine Übergangslösung richtig.
So weit reichen die Gemeinsamkeiten zur Lösung der
Probleme. Noch einmal: Ich biete Ihnen hier ausdrücklich an, dass wir zu vernünftigen gemeinsamen Lösungen kommen. Wir liegen auch nicht so weit auseinander,
als dass es nicht möglich sein könnte, solche Lösungen
zu erzielen. Aber: Die entscheidende Herausforderung
zur Neugestaltung unseres Arbeitsrechtes haben Sie,
meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten
und den Grünen, mit Ihrem Gesetzentwurf überhaupt
nicht angesprochen.
Sie geben zu, dass der Kündigungsschutz, die Überregulierung des Arbeitsmarktes und zu kurze Arbeitszeiten ein Problem sind. Wenn dies aber richtig ist, dann
hätten Sie konsequenterweise auch eine Antwort auf die
Frage geben müssen, ob unsere Lohnfindungssysteme
in Deutschland insgesamt reformbedürftig sind.
({17})
Dass sie reformbedürftig sind, sieht man daran, was gegenwärtig in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie geschieht.
Ich will das sehr ruhig und sachlich sagen: Dass hier
in der vierten Woche für die Herabsetzung der Wochenarbeitszeit gestreikt wird, wodurch der einzige Wettbewerbsvorteil, den die ostdeutsche Industrie gegenüber
der westdeutschen Industrie noch hat, beseitigt würde,
zeigt die ganze Absurdität des ritualhaft vorgetragenen
Arbeitsstreites bzw. Arbeitskampfes in der Metallindustrie.
({18})
Wenn weniger als 10 Prozent der Beschäftigten einen
Streik auslösen können und gleichzeitig aus dem Westen
herbeigekarrte IG-Metall-Funktionäre
({19})
den Versuch unternehmen, vernünftige ostdeutsche Arbeitnehmer, die nicht streiken wollen, am Zugang zu den
Betrieben zu hindern, sodass sie einen Spießrutenlauf
machen müssen, um an ihren Arbeitsplatz zu kommen,
dann müssen wir im Deutschen Bundestag über das
Tarifvertragsrecht in Deutschland reden. Es gibt einen
erheblichen Reformbedarf.
({20})
Frau Kollegin Barnett und andere, ich habe mit diesen
Zwischenrufen gerechnet. Dass Ihnen das nicht gefällt,
kann ich verstehen und nachvollziehen. Ich will aber
daran erinnern, dass nicht wir es waren, sondern dass
der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Gerhard Schröder, vor gar nicht langer Zeit, nämlich am
14. März, diesen Reformbedarf in seiner Regierungserklärung von diesem Platz aus selbst angemahnt hat.
Ich zitiere
Ich erwarte also, dass sich die Tarifparteien entlang
dessen, was es bereits gibt - aber in weit größerem
Umfang -, auf betriebliche Bündnisse einigen, wie
das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber zu handeln
haben.
({0})
Das Protokoll verzeichnet Beifall bei der SPD und dem
Bündnis 90/Die Grünen. Warum ist das, was ich Ihnen
heute mit den gleichen Worten wie der Bundeskanzler
am 14. März sage, plötzlich bei Ihnen nicht mehr zustimmungsfähig?
({1})
Wir müssen etwas ändern. Daher machen wir an dieser
Stelle einen Vorschlag. Wir schlagen vor, das Tarifvertragsgesetz zu ändern und zusammen mit einer Änderung
im Betriebsverfassungsgesetz betriebliche Bündnisse
für Arbeit in Deutschland gesetzlich zu ermöglichen.
Ich will denjenigen, die uns zuhören und die an den unterschiedlichen Konzepten von Opposition und Regierung sehr interessiert sind, erläutern, worum es geht. Wir
wollen nicht die Tarifautonomie infrage stellen. Die Tarifautonomie hat Verfassungsrang. Selbstverständlich ergeben sich aus der Tarifautonomie - auch der Bundeskanzler hat dies so begründet - nicht nur Rechte,
sondern auch Pflichten. Daraus ergibt sich insbesondere
die Pflicht, auf die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Tarifverhandlungen und deren Ergebnisse
Rücksicht zu nehmen.
Flächentarifverträge bleiben nach unserer festen
Überzeugung auch in Zukunft das entscheidende Instrument einer weiterhin notwendigen überbetrieblichen
Lohnfindung. Nur der Flächentarifvertrag begründet die
Friedenspflicht in den Unternehmen. Wir wollen die Tarifautonomie nicht so verstanden wissen, dass in Zukunft
Tarifverhandlungen und Tarifabschlüsse nur noch auf
betrieblicher Ebene stattfinden. Aber unter dem Dach
der Flächentarifverträge muss es möglich sein, auf betrieblicher Ebene von den Kernbestandteilen der Flächentarifverträge nach unten und oben abzuweichen.
Dies betrifft Entgeltregelungen, Urlaubsregelungen und
insbesondere Arbeitszeitregelungen. Es gibt dazu eine
Vielzahl von Fällen, die Sie alle kennen und die zum Teil
Rechtsgeschichte in Deutschland geschrieben haben. Ich
will sie an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht aufzählen.
Um es klar und deutlich zu sagen: Es geht niemandem
von uns darum, in Tarifverträge in der Weise einzugreifen, dass in Zukunft niedrigere Löhne in Deutschland gezahlt werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Deutschland haben im Zweifel nicht zu hohe Löhne,
sondern viel zu niedrige Nettolöhne, weil die Schere
zwischen Netto und Brutto immer weiter aufgeht.
({2})
Auf der einen Seite stehen viel zu hohe Bruttoarbeitskosten. Auf der anderen Seite stehen im Zweifel zu
niedrige Nettolöhne der Arbeitnehmer. Es geht also nicht
in erster Linie um die Entgeltregelungen, sondern um die
Arbeitszeitregelungen.
Herr Clement, aus dem, was Sie gerade gesagt haben,
müssten Sie eigentlich auch für das Tarifvertragsgesetz
und das Betriebsverfassungsgesetz die richtige und notwendige Konsequenz ziehen. Sie lautet: Wir müssen die
gesetzlichen Grundlagen schaffen, damit die Menschen
in diesem Land zur Erhaltung des Sozialprodukts und
des Wohlstand in Zukunft wieder mehr arbeiten. Ich vermute, dass dies auch für einen großen Teil der Bevölkerung in Deutschland erklärungsbedürftig ist.
Viele Menschen in Deutschland glauben bis heute, irregeleitet durch die Propaganda eines Teils der deutschen Gewerkschaften, dass uns nur ein statisches Arbeitsvolumen zur Verfügung steht, das man möglichst
gerecht auf die Menschen verteilen müsse, um am Ende
Vollbeschäftigung zu erreichen. Das ist ein großer Irrtum, mit dem wir uns seit mehreren Jahren, vielleicht sogar seit zwei Jahrzehnten hätten befassen müssen; denn
die Politik der Arbeitszeitverkürzung hat erkennbar nicht
zu einer Lösung des Beschäftigungsproblems geführt,
sondern hat über eine kontinuierliche Verteuerung der
Arbeit in Deutschland zu dieser hohen Massenarbeitslosigkeit entscheidend beigetragen.
({3})
Es geht also darum, dass wir in Zukunft gemeinsam
wieder ein höheres Sozialprodukt erwirtschaften, indem
wir mehr arbeiten. Mehr Arbeit schafft ein höheres
Wachstum und nicht umgekehrt. Wir sind uns darüber
einig, dass Deutschland unter einer Wachstums- und Beschäftigungskrise leidet. Wir erreichen ein höheres
Wachstum aber nur dann, wenn wir zuvor gemeinsam
ein höheres Sozialprodukt durch mehr und nicht durch
weniger Arbeit erwirtschaften.
({4})
Nun gibt es auch an dieser Stelle einige, die völlig zu
Recht darauf hinweisen, dass sie schon heute weit über
die tarifliche Arbeitszeit hinaus arbeiten. Das ist zwar
wahr, aber genau an dieser Stelle schließt sich doch der
Kreis jeder vernünftigen Argumentation. Wir müssen
dafür sorgen, dass Einstellungen in den Betrieben wieder
möglich sind, sie erleichtert und nicht durch eine Überreglementierung und Überregulierung unseres Arbeitsmarktes künstlich verhindert werden. So schließt sich an
dieser Stelle der Kreis zu unseren Vorschlägen zum
Kündigungsschutzrecht. Wenn wir mehr arbeiten müssen, dann wird es auch mehr Arbeitsplätze geben. Sie
wird es nicht in der Schattenwirtschaft geben und es
wird auch nicht mehr Überstunden geben, sondern sie
wird es, wenn die Betriebe eine Perspektive erkennen, in
regulären Beschäftigungsverhältnissen geben. Dadurch
entsteht mehr Arbeit und durch mehr Arbeit entsteht
mehr Wachstum in Deutschland.
({5})
Herr Clement, nach dem, was Sie heute Morgen hier gesagt haben, müsste Ihnen das eigentlich klar sein. Ich
verstehe, dass Sie es im Augenblick in den eigenen Reihen sehr schwer haben, diese Widerstände zu überwinden, weil manches von dem, was sich da festgesetzt hat,
in einem mühsamen Erkenntnisprozess überwunden
werden muss, dem Sie ein Stück vorauseilen.
Ich biete Ihnen ausdrücklich unsere Hilfe an, dass wir
bei dem schwierigen Prozess der Modernisierung des
Arbeitsrechts einen Weg einschlagen, bei dem die Modernisierung kein Stückwerk bleibt, sondern ein wirkliches Konzept zur Modernisierung des Arbeitsrechts im
besten Sinne für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und Betriebe in Deutschland möglich wird. Wir haben
dazu heute unsere konkreten Vorschläge auf den Tisch
gelegt.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte angesichts der seit Jahren überfälligen notwendigen strukturellen Reformen zu Beginn meiner Rede einen interessanten Gedanken von Herrn Merz aufgreifen.
Natürlich geht es, wenn wir das große Projekt der Überwindung der strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt angehen wollen, auch darum, zu bilanzieren, wo Einigkeit
besteht und wo das Trennende ist. Sie haben insoweit
Recht, als bei der Analyse und bei bestimmten Vorschlägen Einigkeit besteht. Bei dem Zusammenschustern der
Minijobregelung ist das sogar Realität geworden.
Es ist klar, dass die Höhe der Lohnnebenkosten eine
eklatante Bedeutung für die Beschäftigungsentwicklung
hat. Aber, Herr Merz, ich glaube, das Trennende liegt im
Grundsätzlichen, das heißt, in der arbeitsmarktpolitischen Philosophie. Das sieht man auch daran, wie die
heute vorliegenden Anträge von Ihnen aufgenommen
werden.
Sie schreiben in Ihrem eigenen Antrag, wir müssten
mehr „Flexicurity“ am Arbeitsmarkt herstellen. Wir haben uns gefreut, als wir das gelesen haben, weil das ein
Begriff ist, den auch die Grünen verwenden. Wenn man
aber schaut, wie Sie mit dem Kündigungsschutz, dem
Vorschlag, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes zu
verändern, und dem JUMP-Programm umgehen, dann
sieht man eines: Sie haben nicht begriffen, dass „Flexicurity“ heißt, auf der einen Seite Dynamik und Flexibilität herzustellen und Barrieren zu überwinden, auf der
anderen Seite aber berechtigte Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen. Genau das
wollen Sie mit Ihren Anträgen nicht.
Beim Kündigungsschutz wollen Sie so etwas wie
eine Zweiklassenregelung in den Betrieben einführen.
Der Minister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass man
die Debatte über den Kündigungsschutz nicht überhöhen
sollte. Aber eines ist schon klar: Es muss beim Kündigungsschutz darum gehen, Einstellungen zu ermöglichen, und nicht darum, Kündigungsschutz für diejenigen, die ihn haben, abzubauen. Das tun wir auch nicht.
Es geht darum, gerade für kleine und mittlere Betriebe
eine flexible Lösung zu finden, damit diese am Arbeitsmarkt reagieren können, wenn es einen Silberstreif am
Horizont gibt. Es geht darum, eine Balance bei Beibehaltung des Kündigungsschutzes zu finden. Der Kündigungsschutz wird den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht weggenommen. Wir wollen den sozialen
Schutz sichern, gleichzeitig aber eine flexible Lösung
finden. Das würde ich „Flexicurity“ nennen. Das ist die
Idee, die dahinter steht.
Nehmen wir Ihren Vorschlag, das JUMP-Programm
zu streichen, der heute wieder gemacht wurde und den
ich zutiefst unsozial und ignorant gegenüber der jetzigen
Situation auf den Arbeitsmärkten finde. In verschiedenen Anträgen haben Sie auch ausgeführt, mit der Streichung des JUMP-Programms - das würde 1 Milliarde
Euro jährlich ausmachen - könnten die Lohnnebenkosten gesenkt werden.
Aufgrund schlimmer konjunktureller Entwicklungen
und starker struktureller Defizite gibt es in diesem Land
junge Leute, die Schwierigkeiten haben, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Sie selbst haben eben zu Recht
darauf hingewiesen, dass dies für junge Leute immer
schwieriger wird. In dieser Situation mit dem Hinweis
auf die Entwicklung der Lohnnebenkosten die Streichung von JUMP vorzuschlagen, ist ein arbeitsmarktpolitischer Irrweg, der nichts mit der Realität und ihrer Bewältigung zu tun hat.
({0})
Ich glaube, dass eines der größten Reformprojekte im
Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt vor uns liegt. Angefangen mit dem Hartz-Konzept und dem Job-AQTIVGesetz sind bereits viele Schritte unternommen worden.
Wir haben viele neue Maßnahmen eingeleitet. Heute
geht es nur um zwei Bausteine, die eher eine strukturelle
und nachhaltige Wirkung entfalten werden, als dass sie
bereits zum Jahresende Entlastungen bringen.
Ein Baustein ist die Senkung der durchschnittlichen
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Die CDU/CSU
wendet sich auch gegen diesen Ansatz. Die Dauer der
Arbeitslosigkeit beträgt in Deutschland durchschnittlich
32 Wochen. Seit Mitte der 80er-Jahre hat sich die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit immer weiter erhöht. Das ist ein Skandal. Die durchschnittliche Dauer
der Arbeitslosigkeit ist in Deutschland doppelt so hoch
wie in den Nachbarländern. Mit jedem Tag Arbeitslosigkeit mehr verringern sich für die Menschen die Chancen,
in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Deswegen müssen
wir dieses Problem angehen.
Hinzu kommt, dass die Frühverrentungsrate in
Deutschland exorbitant hoch ist. Bei uns stehen nur noch
38 Prozent der Menschen über 55 Jahre im Erwerbsleben; in anderen Ländern sind es 60 bis 70 Prozent. Die
Ursachen dafür sind nachweisbar. Das DIW hat dies soeben belegt. Die von CDU/CSU und FDP in den 80erJahren vorgenommene Verlängerung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes
({1})
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat
nachweislich dazu geführt, dass die Frühverrentungsrate
seit Mitte der 80er-Jahre gestiegen ist und dass sich die
durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit Schritt für
Schritt erhöht hat.
Sie haben die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes
verlängert, wohl wissend, dass ein solcher Effekt eintreten kann, weil Sie den Bundeshaushalt von den Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe entlasten wollten. Sie haben die Kosten für die längere Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes der Arbeitslosenversicherung aufgebürdet. Durch diese Verschiebung haben Sie den Druck
auf die Lohnnebenkosten verstärkt. Die Parteien, die
sich die Senkung der Lohnnebenkosten auf die Fahne
geschrieben haben, haben mit solchen Instrumenten erstens den Druck auf die Lohnnebenkosten so verstärkt,
dass sie gestiegen sind, und zweitens die Dauer der Arbeitslosigkeit erhöht.
({2})
Gegen unser Vorhaben, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf zwölf bzw. 18 Monate zu senken, argumentieren Sie meiner Meinung nach sehr populistisch
und vordergründig. Aber wie sehen Ihre Vorschläge aus?
Nach den bestehenden Regelungen wird nach einem
Jahr Berufstätigkeit der Anspruch auf eine Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes von sechs Monaten erworben;
nach zwei Jahren sind es zwölf Monate. Wir wollen die
Bezugsdauer grundsätzlich auf zwölf Monate begrenzen,
lediglich für Arbeitnehmer über 55 Jahre kann sie bis zu
18 Monate betragen.
Was schlagen Sie unter dem sozialen Deckmantel vor?
Nach Ihren Vorstellungen muss ein Arbeitnehmer oder
eine Arbeitnehmerin zehn Jahre arbeiten, um den Anspruch auf ein Jahr Arbeitslosengeld zu erwerben, bzw.
40 Jahre für zwei Jahre Arbeitslosengeld. Außerdem
wollen Sie noch einen Karenzmonat einführen, das heißt,
dass das Arbeitslosengeld im ersten Monat des Bezugszeitraums auf das Sozialhilfeniveau gesenkt wird.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit!
Junge Leute, die 23 Monate arbeiten und dann arbeitslos werden, würden nach Ihren Vorstellungen völlig leer
ausgehen. Leute, die einen Monat länger arbeiten, würden sechs Monate Arbeitslosengeld bekommen, müssten
aber im ersten Monat auf Sozialhilfeniveau leben.
Wo leben Sie eigentlich? Es geht doch um junge
Leute in der Phase der Familiengründung. Die jungen
Leute haben heutzutage keine bruchlose Erwerbsbiografie vor sich, wie es bei uns oder unseren Eltern noch der
Fall war. Sie müssen sich vielmehr mit Patchwork-Erwerbsbiografien auseinander setzen. Mit Ihrem Vorschlag streichen Sie diesen Menschen, wenn sie Übergangsprobleme haben und von einem Job in den anderen
wechseln wollen, auch noch die Möglichkeit auf ein anständiges Arbeitslosengeld, nur um weiterhin die Frühverrentung finanzieren zu können. Das aber ist ein Irrweg. Den Weg, den Sie bei der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes beschreiten, ist völlig falsch. Unter
dem Deckmäntelchen des Sozialen schlagen Sie hier etwas vor, was auf Kosten
Frau Kollegin, das geht jetzt auf Kosten des nächsten
Redners Ihrer Fraktion.
- der jungen Menschen und damit auf Kosten der Generationengerechtigkeit sowie zulasten des Arbeitsmarktes geht.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister Clement, ich muss zugeben, dass
Sie bei Ihrer Rede stark begonnen haben, besonders als
es um die Beschreibung der momentanen Situation auf
dem Arbeitsmarkt in Deutschland ging. Sie haben zu
Recht festgestellt, dass sich die Leistungen eines Sozialstaates nicht an der Höhe der Transferleistungen, sondern an der Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze bemessen lasse und dass ein Großteil der von der
alten Bundesregierung, aber auch viele der von der
neuen Bundesregierung mit schönen Namen versehenen
und eingeführten arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien schlichtweg gescheitert seien. Das wissen wir spätestens seit der Eingliederungsbilanz der Bundesanstalt
für Arbeit, in der nachzulesen ist, dass ohne Folgeförderung bundesweit nur 35 Prozent aller Maßnahmen dazu
geführt haben, dass ein Arbeitsloser sechs Monate nach
Maßnahmeende einen Arbeitsplatz bekommen hat. Das
ist herausgeschmissenes Geld.
({0})
All das war richtig. Ich gebe zu, dass das für einen
Minister ein starker Auftritt war. Nur schade, dass kein
einziger Kollege aus den Regierungsfraktionen applaudiert hat.
({1})
Das bestärkt mich in meiner Sorge, dass die die Regierung tragenden Fraktionen noch immer mit einem gewissen Maß an Realitätsverweigerung an die Lösung der
Probleme des deutschen Arbeitsmarktes herangehen.
Das sieht man auch daran, dass zwar vor über drei Monaten die Kanzlerrede mit viel medialem Drumherum als
großer Befreiungsschlag angekündigt wurde, dass aber
die Gesetzentwürfe, die drei Monate später vorgelegt
werden, mit der Durchschlagskraft eines Wattebäuschchens versehen sind.
({2})
Das Kündigungsschutzgesetz ist ein Einstellungshemmnis und sorgt dafür, dass die Menschen in diesem
Land oft nicht die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu finanzieren. Das sieht man an folgenden
Zahlen: In Deutschland gibt es 1,46 Millionen Betriebe
mit weniger als fünf Mitarbeitern, aber nur 260 000 Betriebe mit sechs bis neun Mitarbeitern und 200 000 Betriebe mit zehn bis 19 Mitarbeitern. Daran kann man sehen, dass es hier eine Hemmschwelle gibt, die es
erschwert, mehr als fünf Mitarbeiter einzustellen. Deshalb geht man den Weg der Zeitarbeit und der Überstunden. Man geht aber noch einen anderen Weg - diesen haben Sie schon beschrieben -: Es gab Zeiten in
Deutschland, in denen Wayss & Freytag einer der großen
Arbeitgeber war. Heute ist es „Schwarz & Samstag“.
Das hat nicht nur etwas mit dem Kündigungsschutzgesetz, sondern unter anderem auch mit den Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland zu tun, die es
attraktiver machen, in der Schattenwirtschaft und im
Graubereich als in der regulären Wirtschaft zu arbeiten.
Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzentwurf, den
Sie vorgelegt haben, nur die Durchschlagskraft eines
Wattebäuschchens. Sie haben es geschafft, sich in relativ
kleinen Schritten auf den Rechtszustand von 1998 zurückzubewegen. Im Jahre 1996 hat die alte Bundesregierung zum Beispiel drei Kriterien für die Sozialauswahl
festgelegt und - um Rechtssicherheit zu schaffen - Namenslisten eingeführt. Im Rahmen der rot-grünen Reformorgie von 1998 haben Sie das alles abgeschafft. Damit
haben Sie Ihre Versprechen eingelöst, aufgrund derer Sie
die Bundestagswahl gewonnen haben und der DGB Sie
finanziell so stark unterstützt hat. Jetzt stellen Sie sukzessive - wortgleich - den Rechtszustand von 1998 wieder her. Ich muss sagen: Willkommen im Klub! Fünf
verschenkte Jahre für Deutschland!
({3})
Den entscheidenden Schritt gehen Sie aber nicht. Die
Sozialauswahl muss zwar klar definiert werden, aber die
Betriebe - wer außer diesen könnte besser definieren,
wer Leistung erbringt und wer nicht? - müssen die Möglichkeit haben, dafür zu sorgen, dass die Leistungsträger
bleiben und dass die Luschen gehen. Es darf nicht umgekehrt sein, wie es heute oft der Fall ist.
Sie haben eine Regelung für kleine Betriebe gefunden, weil Sie festgestellt haben, dass es eine Hemmschwelle gibt, die es schwer macht, mehr als fünf Arbeitnehmer einzustellen. Aber Ihre Regelung hebt nur auf
die befristeten Beschäftigungsverhältnisse ab. Damit
verlagern Sie das Problem des Schwellenwerts in die
Zukunft, und zwar bis zum Ende des längstmöglichen
Befristungszeitraums. Spätestens da wirkt sich der
Schwellenwert wieder voll aus. Ein Arbeitgeber steht
dann nämlich vor folgender Entscheidung: Entweder er
stellt einen eingearbeiteten Mitarbeiter fest ein und anschließend genießen alle Beschäftigten denselben Kündigungsschutz oder er entlässt diesen Mitarbeiter und
muss jemand anders einstellen, der eingearbeitet werden
muss. Was Sie vorhaben, schafft keine dauerhaften, gesicherten Beschäftigungsverhältnisse. Sie fördern das, was
Ihre Kolleginnen und Kollegen immer als prekäre Arbeitsverhältnisse bezeichnet haben. Sie gehen den falschen Weg.
({4})
Im Hinblick auf den Arbeitslosengeldbezug sind Sie
endlich in der Realität angelangt. Ich bedauere sehr, dass
die Blüms und Dreßlers der beiden großen sozialdemokratischen Parteien den Weg der Ausweitung der Bezugsdauer damals - ich war damals noch nicht Mitglied
dieses Hauses - eingeschlagen haben. Wir alle wissen
jetzt: Er war falsch.
Mittlerweile wissen wir doch auch, dass sich die Arbeitslosenversicherung von ihrem eigentlichen Zweck
einer Ausfallbürgschaft zur Absicherung des Lebensunterhaltes für einen klar definierten Suchzeitraum wegund hin zu einer Daueralimentierung entwickelt hat. Das
hat dazu geführt, dass manch einer, der wirtschaftlich
klar denken kann, mit dem Klammerbeutel gepudert sein
müsste, wenn er einen Arbeitsplatz annimmt: Beispielsweise lohnt sich für einen 56-Jährigen nach zweijähriger
Arbeitslosigkeit die Annahme eines Arbeitsplatzes angesichts der Tatsache, dass er bis zu 32 Monate ein Arbeitslosengeld in Höhe von 60 Prozent seines letzten
Nettolohns beziehen kann, wirtschaftlich überhaupt
nicht; das liegt auch an der Dauer des Arbeitslosengeldbezugs. Das müssen wir ändern. Auch an dieser Stelle
gilt: Willkommen im Klub! Über die Details müssen wir
in den Ausschussberatungen noch streiten.
Nichtsdestotrotz haben Sie zwei ganz entscheidende
Punkte übersehen:
Der eine Punkt - Herr Kollege Merz hat ihn schon angesprochen; wir haben hier eine entsprechende Gesetzesvorlage eingebracht - betrifft das Tarifrecht.
Der andere Punkt betrifft die Rahmenbedingungen,
die darüber hinaus vorhanden sein müssen, damit mehr
Menschen auf dem Arbeitsmarkt wieder eine Chance haben.
Zunächst möchte ich auf das Tarifrecht eingehen. Im
Osten der Bundesrepublik Deutschland sehen wir gerade
ganz aktuell: Wenn sich weniger als 10 Prozent der in einer Branche Beschäftigten für einen Arbeitskampf entscheiden und wenn Betriebsräte von Siemens von der
IG Metall auf Solidaritätsreise in den Osten geschickt
werden, um dazu beizutragen, dass diejenigen ausgepfiffen werden, die arbeiten gehen, dann stimmt doch irgendetwas nicht mehr. „Der Spiegel“ zitiert aus dem IG-Metall-Aufruf in seiner Ausgabe vom 16. Juni folgendermaßen:
… Mitnehmen solltet Ihr … Zahnbürste und Zahncreme, Deo, Waschlappen und Handtuch zum
Frischmachen, heißt es in der Einladung.
Man muss schon feststellen, dass die Metaller, die im
Osten ihre arbeiten wollenden Kollegen ausgepfiffen haben, sehr sauber sind.
Das zeigt: Das Problem besteht darin, dass Funktionärszentralen auf beiden Seiten des Arbeitsmarktes aufgrund von Eigeninteressen oftmals gegen die Interessen
derjenigen agieren und Politik betreiben, die in den Betrieben arbeiten und ihren Lebensunterhalt erwirtschaften wollen.
({5})
Das muss sich ändern. Deswegen wollen wir, dass im
Tarifvertragsrecht und im Betriebsverfassungsrecht die
Möglichkeit von betrieblichen Bündnissen für Arbeit
festgeschrieben wird. Die Chance, an Entscheidungen
über die eigene Zukunft mitzuwirken, macht dann Sinn,
wenn andere Kollektive gegen einen arbeiten.
Was die sonstigen Rahmenbedingungen angeht, frage
ich mich, weshalb Sie heute Morgen eigentlich verhindert haben, dass wir über das Vorziehen der Steuerreform debattieren. Wir wollten gern hier, im Deutschen
Bundestag, hören, was die Bundesregierung dazu sagt.
Wir alle sind doch der Meinung, dass das Nettoeinkommen der Menschen steigen muss. Das heißt, vom Bruttoeinkommen muss ihnen mehr übrig bleiben. Um dieses
Ziel zu erreichen, muss es neben der Reform der sozialen Sicherungsysteme zu einem einfachen und gerechten
Steuersystem mit einer niedrigen Steuerlast kommen.
Ein erster kleiner Schritt in diese Richtung wäre, die
Steuerreform - sie ist überhaupt erst durch den Kollegen
Rainer Brüderle und die Vertreter der Landesregierung
von Rheinland-Pfalz im Vermittlungsausschuss möglich
geworden - vorzuziehen, damit die Menschen wieder
Luft zum Atmen und die Betriebe wieder Geld für Investitionen haben; damit sie wieder Zukunftschancen haben
und Hoffnung entwickeln. Heutzutage investieren weder
Unternehmer noch vermögende Privatpersonen, weil sie
Ihrer Politik schlichtweg nicht mehr vertrauen.
({6})
Dass die Menschen wieder Vertrauen in die Politik
haben, ist eine wichtige Voraussetzung, um wirtschaftliches Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland generieren zu können. Ihre Rede fing zwar stark an, danach
haben Sie aber leider nachgelassen. Bemerkenswerterweise haben die Sie tragenden Fraktionen genau da
applaudiert.
({7})
- Ich weiß, der Beifall war sehr vage. Wir wollen Ihnen
gern dabei helfen, Ihre Truppen hinter sich zu scharen.
Das Grundproblem besteht darin, dass sich einige wenige Mitglieder dieser Regierung, die verstanden haben,
was zu tun ist, nicht durchsetzen können und sich nicht
trauen, die Opposition zu Rate zu ziehen. Das Beste
wäre es, den Regierungsauftrag zurückzugeben und die
Wählerinnen und Wähler erneut entscheiden zu lassen.
Das Beste für Deutschland, aber auch für NordrheinWestfalen wäre, wenn es Neuwahlen gäbe.
({8})
Nur so bekommen wir Zukunftschancen für diese Republik. Nur so können wir es bewerkstelligen, dass die
Menschen, die heute außen vor stehen, wieder eine
Chance haben, selbst für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die heutige Debatte ist aus meiner
Sicht eine sehr zentrale; denn mit dem Entwurf eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt setzen wir einen
weiteren Schwerpunkt der Agenda 2010 um und zeigen
damit, wie entschlossen wir sind und wie ernst wir es mit
den Reformen in diesem Lande meinen. Zusammen mit
dem Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz, der Novellierung der Handwerksordnung, der Modernisierung
der Bundesanstalt für Arbeit, der Stärkung der Gemeindefinanzen sowie der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe haben wir damit einen Reformschwung, der von allen internationalen Instituten
unterstützt wird.
Ziel ist es, Einstellungshemmnisse im Arbeitsrecht zu
beseitigen und die Lohnnebenkosten, was den Teil Arbeitslosenversicherung betrifft, zu senken. Wir werden
den Kündigungsschutz für Unternehmer und Arbeitnehmer leichter handhabbar machen. Wir werden Einstellungen erleichtern. Handwerker und kleine Gewerbetreibende werden ermutigt, Mitarbeiter neu einzustellen.
Zumindest können insbesondere Sie von der Opposition
künftig nicht mehr auf ein zu starres Kündigungsschutzrecht verweisen.
Durch den Gesetzentwurf der Koalition bleibt der
Kündigungsschutz in seiner Substanz voll erhalten.
Heuern und Feuern wird es mit Sozialdemokraten nicht
geben.
({0})
Wir schaffen einen fairen Ausgleich zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Arbeitsuchenden. Davon kann
bei dem Entwurf, den Sie von der CDU/CSU vorgelegt
haben, freilich nicht die Rede sein. Danach soll drastisch
in Schutzrechte der Arbeitnehmer eingegriffen werden.
Lassen Sie mich dazu ganz konkret ein Beispiel nennen.
Sie schlagen vor, den Kündigungsschutz auf neu eingestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange
nicht anzuwenden, bis das Unternehmen 20 Arbeitnehmer beschäftigt. Dort, wo heute Kündigungsschutz gilt,
würde die Belegschaft aufgespalten und würden bereits
beschäftigte Arbeitnehmer mit Kündigungsschutz neben
neu eingestellten Arbeitnehmern ohne Kündigungsschutz tätig sein. Wie wollen Sie eigentlich rechtfertigen, dass neu eingestellte Arbeitnehmer bis zu einer Beschäftigungsschwelle von 20 Arbeitnehmern auf Dauer
ohne Kündigungsschutz bleiben?
({1})
Eine solche Diskriminierung belastet das Betriebsklima, Herr Göhner. Das Betriebsklima ist auch aus
wirtschaftspolitischer Sicht ganz entscheidend. Es ist ein
ganz wesentlicher Produktivfaktor.
({2})
Deshalb wenden wir uns gegen Spaltungspolitik auf der
betrieblichen Ebene. Wir sind für ein gutes Betriebsklima.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
mit Ihren Vorschlägen zum Tarifvertragsrecht erklären
Sie die Entrechtung der Arbeitnehmer zum Programm.
Ihre Vorstellungen laufen darauf hinaus, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Bittstellern gegenüber ihren
Arbeitgebern zu degradieren.
({4})
- Hören Sie gut zu! - Genau das träte ein, wenn von Tarifverträgen abweichende Regelungen ohne Beteiligung
der Tarifvertragsparteien vereinbart werden könnten.
({5})
Die Funktion der Tarifverträge würde damit ad absurdum geführt; denn auf diese Art und Weise würden
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leicht zu Tagelöhnern gemacht. Das setzt leichtfertig aufs Spiel, was
Deutschland stark gemacht hat, nämlich Stammbelegschaften, die für ihre Betriebe durch dick und dünn gehen. Wettbewerb kann doch wohl nicht allein auf die
Frage reduziert werden, wer sein Personal am schlechtesten bezahlt.
({6})
Jeder in diesem Land, der nicht ideologisch verbohrt
ist, weiß doch inzwischen, dass die Tarifverträge in den
letzten zehn Jahren erheblich flexibilisiert und auch ständig weiterentwickelt worden sind. Die Beispiele für tarifliche Öffnungsklauseln sind zahlreich: Einstiegsklauseln für Langzeitarbeitslose, Regelungen für variable
Entlohnung, Arbeitszeitkorridore, befristete ArbeitszeitKlaus Brandner
reduzierung ohne Lohnausgleich, Aussetzen von Tariferhöhungen, Härtefallklauseln für Krisenfälle. Insgesamt
kann man feststellen, dass wir insbesondere in der Arbeitszeitgestaltung die flexibelsten tarifvertraglichen Regelungen in ganz Europa haben.
({7})
- Wenn Sie den Tarifvertrag zum Sündenbock für die
Höhe der Arbeitslosigkeit erklären, dann liegen Sie natürlich nicht richtig. Dass es auch andere Faktoren für
die Höhe der Arbeitslosigkeit gibt, davon kann man
wohl überzeugt sein.
({8})
Verträge haben aber nur dann Wirkung, wenn sie für
beide Seiten verbindlich sind. Deshalb kommen für uns
gesetzliche Öffnungsklauseln nicht infrage.
({9})
Betriebsvereinbarungen dürfen nicht unterlaufen werden, auch nicht solche, die mit dem schönen Etikett „Betriebliches Bündnis für Arbeit“ versehen sind.
({10})
- Der Bundeskanzler vertritt keine andere Auffassung,
Herr Göhner.
Offenbar geht es Ihnen aber weniger um inhaltliche
Weichenstellungen innerhalb eines grundsätzlich akzeptierten Betriebsvertragssystems. Sie schüren mit Ihren
Vorhaben die Existenzängste von Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern und kündigen den gesellschaftlichen
Konsens insbesondere in Fragen der Tarifautonomie auf.
Das führt jedoch nicht zu der von Ihnen erhofften Aufbruchstimmung.
({11})
Sie zementieren alte Feindbilder, die sich längst überholt
haben, Herr Hinsken, und der politischen Gegenwart aus
meiner Sicht nicht gerecht werden. Es lohnt sich angesichts der bislang guten Erfahrungen mit der Sozialpartnerschaft schon, darüber nachzudenken, ob die Bundesrepublik Deutschland auf harten Konfrontationskurs, der
erhebliche soziale Spannungen mit sich bringt, einschwenken soll oder ob nicht doch das Erfolgsmuster
des Konsensprinzips der angemessenere Weg ist.
Sie wollen die Gewerkschaften am liebsten ganz klein
halten.
({12})
Ich zitiere als Beleg nur Herrn Merz, der sagt, er halte
nichts von Tarifverträgen. Das ist auch keine Mutmaßung, Herr Hinsken, wenn ich mich direkt auf Herrn
Merz berufe. Ich zitiere Sie doch wohl richtig, Herr
Merz, wenn ich als Ihre Aussage wiedergebe, dass Sie
mit Verweis auf die Gewerkschaften sagten: „Wenn man
einen Sumpf trocken legen will, darf man nicht die Frösche fragen.“
({13})
Was sagt Herr Laumann, was sagt Ihre Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft dazu? Wir jedenfalls stehen zu den Gewerkschaften und den Betriebsräten, weil
wir wissen, dass sie in diesem Land nicht Bremser, sondern Gestalter des sozialen Fortschritts sind. Deshalb
lassen wir nicht zu, dass sie auf diese Art und Weise in
die Ecke der Blockierer gedrängt werden.
({14})
Meine Damen und Herren, zu den Neuregelungen bezüglich der Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld
möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen. Wir nehmen
zur Kenntnis, dass die deutsche Wirtschaft Arbeitnehmer
jenseits des 50. Lebensjahrs zum alten Eisen erklärt.
Ganze Stäbe von Personalmanagern in den größeren Unternehmen haben über Jahre daran gefeilt, wie sie ältere
Arbeitnehmer möglichst kostengünstig freisetzen können. Unter kostengünstig verstehen sie dabei auch, die
eigenen Personalprobleme in möglichst großem Umfang
zulasten der Sozialversicherungssysteme und unter
Schonung der eigenen Kassen zu lösen. Auch dazu hätten wir, Herr Göhner, gerne ein offenes Wort beispielsweise der BDA, des BDI und des DIHT gehört. Wir
mussten das leider vermissen. Hier wäre ein gemeinsames Vorgehen angebracht, denn die Senkung der Lohnnebenkosten und der Missbrauch der Sozialkassen ist
keine Angelegenheit nur einer Gruppe in der Gesellschaft, sondern hier ist gemeinsames Handeln erforderlich.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, handeln entschlossen, weil wir zum einen diesen Missbrauch nicht
mehr zulassen wollen und zum anderen die Chancen für
die älteren Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt durch eine
Reihe von aktivierenden Maßnahmen erhöhen, die dazu
beitragen, dass die Beschäftigungsfähigkeit Älterer langfristig erhalten bleibt. Ich will jetzt nicht alle Maßnahmen im Einzelnen auflisten. Hier wird aber unsere Strategie klar und deutlich: Falsche Anreize, die zur
Belastung der Sozialsysteme führen, müssen weg; integrierende Anreize für mehr Beschäftigung älterer Arbeitnehmer werden konsequent aufgebaut.
Wir haben die Kohlen aus dem Feuer geholt und die
sehr schwierige öffentliche Debatte um die Agenda 2010
geführt. Wir haben Sie durch öffentlichen Druck aus der
Deckung gezwungen. Regierungstauglich - da darf ich
die FDP zitieren - sind Sie, meine Damen und Herren,
dadurch aber noch lange nicht geworden.
({15})
Richtig ist, dass die Positionen klar geworden sind - in
der heutigen Debatte ganz besonders. CDU/CSU und
FDP wollen im sozialen Bereich deutlich abbauen;
({16})
SPD und Grüne wollen den Sozialstaat umbauen. Zum
Umbauen reichen wir Ihnen die Hand; insofern sind wir
gesprächs- und konsensbereit. Zum Abbau steht diese
Koalition nicht zur Verfügung.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziel unseres
Gesetzentwurfes, den wir heute in den Bundestag einbringen, ist es, zu mehr Beschäftigung in Deutschland zu
kommen. Es ist eine Tatsache, dass wir in Deutschland
ein Wachstum von gut 2 Prozent brauchen, bis überhaupt
ein positiver Arbeitsmarkteffekt messbar ist.
({0})
Es gibt Länder, in denen das anders ist. In Amerika sagt
man, dass ein Wachstum von 0,5 Prozent ausreicht, um
einen Arbeitsmarkteffekt zu erreichen. In unserem Nachbarstaat Niederlande sagt man, 1 Prozent Wachstum reiche aus, um mehr Beschäftigung zu erreichen. Insofern
müssen wir uns in der Tat überlegen - darüber gibt es
auch viele Studien -, warum wir in Deutschland ein relativ hohes Wachstum brauchen, um überhaupt einen positiven Effekt auf dem Arbeitsmarkt feststellen zu können.
Wenn das, was die Bundesregierung sagt, zutrifft,
nämlich dass wir für dieses Jahr ein Wachstum von
0,75 Prozent bekommen, dann bedeutet das - nach dem
Zusammenhang, den ich eben erklärt habe -, dass es in
diesem Jahr mit der Arbeitslosigkeit eher schlimmer als
besser wird.
({1})
Wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
Recht hat, das sagt, die von der Bundesregierung angenommenen 0,75 Prozent stimmten gar nicht,
({2})
vielmehr müssten wir von einer schrumpfenden Wirtschaft ausgehen, dann macht dies umso deutlicher, wo
wir am Ende dieses Jahres landen werden.
({3})
Es gibt Mitglieder der Bundesregierung wie den Außenminister, der vor kurzem in einem öffentlichen Interview
die Zahl von 5 Millionen in Bezug auf die Arbeitslosenentwicklung in diesem Jahr in den Mund genommen hat.
({4})
Deswegen müssen wir, wie in unserem Gesetzentwurf
vorgesehen, Instrumente einführen, mit denen wir den
Versuch unternehmen, Wachstum über mehr Beschäftigung zu erreichen. Es ist immer die Rede davon, dass
wir für Beschäftigung Wachstum brauchen; aber vielleicht sollten wir einfach einmal überlegen, ob wir nicht
durch mehr Beschäftigung auch mehr Wachstum erreichen können.
Aus diesem Grund hat unser Gesetzentwurf im
Grunde genommen drei Ziele. Erstens geht es um Kostensenkung. Wir sind uns im Großen und Ganzen einig,
dass wir zu Einsparungen bei der Arbeitslosenversicherung kommen müssen. Frau Dückert, wir haben nur einen etwas anderen Ansatz. Sie legen bei der Tabelle, wie
Sie das Arbeitslosengeld in Zukunft gestalten wollen,
das Lebensalter zugrunde, während wir Beschäftigungsjahre zugrunde legen.
({5})
Ich bin durchaus der Meinung, dass ein Mensch, der
lange Zeit Steuern und Beiträge gezahlt hat - vor allem
im Blick darauf, dass wir die Arbeitslosenhilfe mit der
Sozialhilfe auf Sozialhilfeniveau zusammenführen -,
auch über eine längere Zeit Schutz genießen soll, bis er
in ein bedürftigkeitsabhängiges System fällt.
({6})
Dies haben wir eben in Beschäftigungsjahren gemessen.
Das kann man sehr wohl rechtfertigen.
({7})
Daneben haben wir unsere Intention in das Gesetz
aufgenommen, die Schwellenwerte, die bei der letzten
Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes von Riester
erhöht wurden, wieder auf das Niveau von 1998 zurückzuführen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir Betriebsräte für etwas Unvernünftiges hielten, aber man muss
Folgendes wissen: Vor 1998 gab es in Deutschland keinesfalls eine heftige Bewegung, aufgrund derer man die
Anzahl der Betriebsräte und der Freistellungen unbedingt hätte vergrößern müssen. Es gab damals keine
Briefe von Betriebsräten, dass das alles so kommen
müsse, sondern - erinnern wir uns! - das war das Dankeschön von Herrn Riester für die Wahlkampfunterstützung von 8 Millionen DM im Wahlkampf 1998.
({8})
Dass wir nun eine Regelung wieder abschaffen wollen, die lediglich zustande gekommen ist, weil diese Regierung den Gewerkschaften Danke sagen wollte für die
8 Millionen DM im Wahlkampf, das müssen Sie verstehen. Das erfordert schon unsere Ehre. Deswegen beabsichtigen wir, diese Schwellenwerte wieder so festzusetzen, wie sie vor 1998 galten.
({9})
Das spart natürlich auch Kosten.
Ein zweiter Grundsatz ist mehr Flexibilität. In diesem Zusammenhang ist das betriebliche Bündnis für Arbeit unstreitig ein wichtiges Thema. Lieber Herr Kollege
Brandner, Sie sind ja Bevollmächtigter der IG Metall in
Gütersloh. Ich möchte nicht wissen, wie viele solcher
funktionierenden betrieblichen Bündnisse es in Ihrem
Wahlkreis gibt.
({10})
Sie nehmen diese schlicht und ergreifend nicht zur
Kenntnis. Aber der normale Mensch muss doch vom Gesetzgeber verlangen können, dass dieser für Rechtssicherheit sorgt. Deswegen meine ich: Wenn wir wissen,
dass es viele solcher Bündnisse gibt, warum stellen wir
sie dann nicht auf rechtlich einwandfreie Füße und zeigen einen rechtlich einwandfreien Weg auf? Nicht mehr
und nicht weniger tun wir hier.
({11})
Die Gewerkschaften sagen, das sei ein Angriff auf
den Flächentarifvertrag, und lehnen das deswegen ab.
Gut; aber wenn ich mir jetzt die Diskussion über den
Streik in Ostdeutschland und die Wahrnehmung dieses
Streiks in den Medien anschaue, dann sage ich ganz offen: Herr Peters hat der IG Metall mit diesem Vorgehen
in Ostdeutschland einen Bärendienst erwiesen, denn das
war sehr ungeschickt. In einer Zeit, in der das Land über
die größte Wirtschaftskrise redet und die Menschen
diese Wirtschaftskrise immer mehr spüren, fordert man
dort, weniger arbeiten zu müssen, obwohl jeder weiß,
dass in einer schwierigen Situation mehr gearbeitet werden muss. Das ist ein Naturgesetz. Wer dagegen verstößt, muss sich nicht wundern, wenn er in eine bestimmte Ecke gestellt wird.
Aber dieses Thema macht deutlich, dass wir betriebliche Bündnisse brauchen. Überlegen Sie - auch Sie, Herr
Bundesminister - einmal, ob man durch diese Bündnisse
nicht sogar den Flächentarifvertrag in sich stärkt, weil
man die Flucht aus den tarifvertragschließenden Verbänden damit ein Stück weit verhindert. Der Tarifvertrag
wird als eine Art Richtschnur schon bestimmen, wie
hoch die Löhne sind. Aber ich finde, wenn es zur individuellen Beschäftigungssicherung notwendig ist, muss es
Abweichungen geben können. Wenn man zwei Drittel
einer Belegschaft von Veränderungen überzeugen will,
muss man sicherlich sehr gute Gründe in die Argumentation einbringen. Das scheint mir schon ein vernünftiger
Schutz zu sein.
In dem dritten Punkt in unserem Gesetzentwurf geht
es um mehr Chancen für Beschäftigung. Damit sind
wir beim Kündigungsschutz und der Schwelle von
20 Beschäftigten bei Neueinstellungen. Jeder von uns
weiß, dass die mittelständischen Unternehmen gerade
das Thema Kündigungsschutz immer als Argument dafür gebracht haben, warum sie sich mit Einstellungen so
schwer tun. Wir fordern, dass das Kündigungsschutzgesetz nicht für Neueinstellungen bei Unternehmen mit
weniger als 20 Beschäftigten gelten soll. Nun sage ich
als Vertreter der Arbeitnehmer: Liebe mittelständische
Unternehmer, jetzt beweist einmal, dass das, was ihr immer gesagt habt, wirklich euer Anliegen war! Es müssen
alle Reserven genutzt werden, um zu mehr Beschäftigung zu kommen. Das werden wir in einigen Jahren
messen können.
An dieser Frage wird sich die Glaubwürdigkeit derjenigen messen lassen, die den Kündigungsschutz zu einem zentralen Punkt beim Thema Neueinstellungen gemacht haben.
({12})
Ich glaube im Übrigen, dass es verantwortbar ist, das
Kündigungsschutzgesetz in diesen Unternehmen nicht
anzuwenden; denn meine ganze Lebenserfahrung sagt
mir: In einem Betrieb bis zu 20 Beschäftigten hat jeder
Arbeitnehmer für den Inhaber, für den Chef ein Gesicht
und ist nicht nur eine Akte. Deswegen ist die emotionale
Hürde, jemanden zu entlassen, hier mit Sicherheit genauso hoch wie die Hürde durch das beste Kündigungsschutzgesetz. Vertrauen wir also ruhig einmal auf den
gesunden Menschenverstand und ein normales Verhalten
in diesem Bereich!
Alles in allem enthält der Gesetzentwurf der Union
weit reichende Vorschläge zum Arbeitsrecht, aber es
sind auch bis ins Detail formulierte Alternativen zu dem,
was die Regierung vorlegt. Ich bin sicher, dass es für
diesen Antrag, wenn wir uns ohne Ideologie darüber unterhalten würden, im Bundestag eine Mehrheit gäbe.
Wenn wir uns mit Ideologie darüber unterhalten, werden
Ihre Trippelschritte Beschlusslage des Bundestages werden. Dann werden wir uns Weihnachten über
5 Millionen Arbeitslose unterhalten müssen.
Schönen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Kurth.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Laumann, wenn Ihre Empörung über die Verkürzung der
Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere, die Sie
schon am 20. März dieses Jahres von dieser Stelle geäußert haben, jetzt darin mündet, dass Sie in der Arbeitslosenversicherung vom Risikoprinzip zum Äquivalenzprinzip übergehen wollen, dann finde ich das schon
reichlich merkwürdig. Ich erinnere mich noch genau an
den 20. März, als Sie von hier aus versprochen haben,
uns von Podiumsdiskussion zu Podiumsdiskussion zu jagen,
({0})
um die - nach Ihren Worten - unsoziale und unanständige Politik anzugreifen.
Ich kann Ihre emotionale Empörung im ersten Moment durchaus verstehen; ich schätze auch Ihren Einsatz
in diesem Bereich. Aber ich scheue die Diskussion
nicht: Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die überlange Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als eine Scheinwohltat. Sie hat doch nicht zu einer höheren Beschäftigungssicherheit geführt, sondern zu einer gesunkenen
Erwerbsquote bei älteren Beschäftigten. Wir müssen
doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass bei den über
60-Jährigen weniger als ein Drittel noch erwerbstätig
ist.
Jetzt kann man natürlich die Auffassung vertreten
- das sagen beispielsweise Sie, das sagen auch viele in
meiner Partei -: Gerade weil ältere Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt offenbar nicht gefragt sind, müssen wir die
passiven Leistungen der Arbeitslosenversicherung für
diesen Personenkreis großzügig ausgestalten. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus: Gerade weil die passiven
Leistungen für ältere Arbeitnehmer so lange so großzügig ausgestaltet worden sind, ging ihre Zahl am Arbeitsmarkt zurück.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Laumann?
Noch einen Moment, bitte. Ich will noch eine Bemerkung machen.
Der jüngste Wochenbericht des DIW weist noch einmal darauf hin, dass 1986/87, als die Bezugsdauer ausgeweitet worden ist, die Rate für den Zugang in die
Arbeitslosigkeit dieser Personengruppe von 2,5 auf
12,9 Prozent gestiegen ist. Sie hat sich verfünffacht. Die
empirischen Belege für meinen Standpunkt liegen also
vor.
Jetzt Ihre Zwischenfrage, bitte.
Herr Kollege Kurth, die Beitragsdauer in der Arbeitslosenversicherung ist - Stichwort: Äquivalenzprinzip ein Faktor für die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld.
Geben Sie mir Recht, dass man diesen Zusammenhang
auch bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe sehen muss?
({0})
Wenn bei einer Zusammenführung auf Höhe des Sozialhilfeniveaus nur eine bedürftigkeitsabhängige Leistung erbracht wird - wobei man beachten muss, dass
Ihre Mehrheit die Vermögensfreigrenzen bei der Arbeitslosenhilfe stark abgesenkt hat -, sollte man dann nicht
denjenigen, der in Deutschland 25 oder 30 Jahre Steuern
und Beiträge bezahlt hat, länger davor bewahren, in dieses bedürftigkeitsabhängige System zu kommen, als
denjenigen, der erst wenige Jahre Steuern und Beiträge
gezahlt hat? Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir es
in Deutschland in wenigen Monaten wahrscheinlich mit
einem ganz anderen System, nämlich mit einem System,
das auf der Bedürftigkeitsabhängigkeit basiert, zu tun
haben werden! Dieses neue System gilt auch für Menschen, die in der Vergangenheit lange Jahre gearbeitet
haben. Wenn über einen langen Zeitraum Steuern und
Beiträge gezahlt worden sind, dann muss das eine Auswirkung auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes haben.
Herr Laumann, zunächst Folgendes: Die neuen Leistungen des Arbeitslosengeldes II wollen wir so gestalten
- wir haben das Problem der Altersvorsorge ganz fest im
Blick -, dass es dort noch gewisse Möglichkeiten gibt.
Aber das Prinzip der Arbeitslosenversicherung ist nicht
das Äquivalenzprinzip. Es geht auch darum, dass diejenigen, die noch nicht lange eingezahlt haben, sich auf
diesen Mindestschutz - ein Jahr lang Arbeitslosengeld verlassen können. Wenn innerhalb der Rahmenfrist eine
Beitragszeit von zwei Jahren vorliegt, dann hat man genau ein Jahr Anspruch auf Leistungen. In der Krankenversicherung ist es ja auch nicht so, dass man etwas zurückbekommen kann, wenn man lange Jahre Beiträge
eingezahlt hat und lange Zeit gesund war. Das ist nicht
das Solidarprinzip im Sozialversicherungssystem.
({0})
Es haben sich Förderketten entwickelt, die für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Orkus der
Beschäftigungslosigkeit führen: zwei Jahre Strukturkurzarbeitergeld, 32 Monate Arbeitslosengeld und dann
Frühverrentung. So wurde eine halbe Generation von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ruhig gestellt. Sie wissen auch, dass man nach 32-monatigem
Bezug von Arbeitslosengeld keine realen Chancen mehr
hat, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Wir setzen noch zusätzlich an einem anderen Punkt
an. Wir sind uns durchaus darüber bewusst, dass das
Arbeitslosengeld II eine Leistung ist, die aufgrund ihrer
Bedürftigkeitsabhängigkeit für viele Menschen eine prekäre Situation bedeutet. Aber statt einen Ausschluss vom
Arbeitsmarkt hinzunehmen, wird das Ganze um eine
aktive Förderung ergänzt. Auf diese aktive Förderung
setzen wir; die brauchen wir.
Nehmen Sie den demographischen Wandel - dies
ist schon angesprochen worden -: Ab 2006 sinken die
Schulabgängerzahlen, ab 2020 sinkt die Zahl der Facharbeitskräfte, ab 2015 besteht ein Akademikermangel.
Wenn meine Generation - ich bin Jahrgang 1966 - in
Rente gehen wird, haben wir eine riesige Bugwelle von
älteren Menschen, die arbeiten müssen. Dann muss eine
Kultur der Altersarbeit entstehen; denn wir werden einen
Arbeitskräftemangel haben. Da wird es uns um jede arbeitsfähige Person Leid tun, die wir verloren haben, weil
wir jetzt eine Förderung unterlassen haben.
Deswegen muss man nicht nur die flankierenden
Punkte im Gesetzentwurf, die Herr Clement genannt hat,
sehen, sondern auch die Programme der aktiven
Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehört selbstverständlich
auch das JUMP-Programm. Denn wir wollen keinen
Menschen unter 25 Jahre verlieren. Wir dulden nicht,
dass die Beschäftigungsfähigkeit derjenigen, die noch
40 Jahre auf dem Arbeitsmarkt vor sich haben, verloren
geht.
Ich finde es wirklich unsäglich, dass Sie das JUMPProgramm und die aktive Arbeitsmarktförderung immer
wieder verunglimpfen, statt dazu beizutragen, dass sich
das zu einem ehrlichen zweiten Arbeitsmarkt weiterentwickelt. Sie wischen den gesamten Bereich der aktiven
Förderung einfach weg und behaupten, das bringe
nichts, das sei unsinnig.
({1})
Wir müssen neben der Umstellung des passiven Leistungssystems die aktive Förderung und den aktiven
Aufbau - das gehört verzahnt - im Blick haben. Genau
darin besteht das Besondere des Umbaus des Arbeitsmarktes. Beim Umbau - Herr Brandner hat das richtig
festgestellt - sind Sie willkommen; aber beim Abbau
sind wir natürlich sehr weit auseinander.
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Leutheusser-Schnarrenberger hatte dieser Tage
empfohlen, die parlamentarische Sommerpause auszusetzen oder zumindest zu verkürzen.
({0})
Sie verwies auf den Reformstau und darauf, dass so viel
zu tun sei. Gerade das, finde ich, spricht dafür, dass wir
uns eine Besinnungspause gönnen sollten. Denn bei all
dem, was derzeit im Bundestag vorangebracht wird,
kommt nichts Gutes heraus. Der heute zu diskutierende
Gesetzentwurf im Rahmen des Hartz-Konzeptes gehört
dazu.
({1})
Sie sprechen von einer Reform des Arbeitsmarktes.
Sie versprechen damit weniger Arbeitslosigkeit. In
Wirklichkeit entlasten Sie bestenfalls die Statistik, indem Sie Arbeitslose weiter belasten. Sie laden Ihr politisches Versagen bei den ohnehin Beladenen ab. Obendrein bitten Sie diese zur Kasse. Das ist der Kern der so
genannten Reformen, die heute auf dem Tisch dieses
Hauses liegen.
Die vermeintliche Reform des Arbeitslosengeldes
zeigt dies ganz exemplarisch. Sie wollen erreichen, dass
mehr über 55-Jährige am Arbeitsleben teilhaben können;
so sagen Sie. Also denkt man mit normalem Menschenverstand: Aha, die wollen mehr Arbeitsmöglichkeiten
schaffen oder zumindest fördern. Doch Pustekuchen! Ihr
Hartz-Verstand rät, den Arbeitslosen noch tiefer in die
Tasche zu greifen, damit diese nicht übermütig werden.
Um im Bild zu bleiben: So viel Übermut war noch nie.
Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen nähert
sich inzwischen der Fünfmillionenmarke. Ihre Beschlüsse werden daran nichts ändern; denn sie lösen das
gesellschaftliche Problem nicht. Sie verlagern es nur; sie
privatisieren es.
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel demonstrieren: Beim Arbeitsamt Dortmund gibt es aktuell circa
18 500 Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld; rund 40 Prozent sind 45 Jahre und älter. Anders gesagt, Sie greifen rund 6 000 Personen im Raum Dortmund in die Tasche. Sie nehmen ihnen Ansprüche, die
sie durch Beiträge erworben haben - und das alles ohne
Gegenleistung und ohne realistische Hoffnung auf einen
neuen Arbeitsplatz. Ich finde, die Raubritter im Mittelalter waren direkter. Sie haben nie gesagt: „Wir machen
eine Reform“, sondern klipp und klar: Geld oder Leben!
({2})
Diese Ehrlichkeit unterschied sie von der SPD des
21. Jahrhunderts.
Rot-Grün hat das CDU/CSU-Bild vom oberfaulen
Arbeitslosen übernommen. Sie hören nicht einmal mehr,
wie es im Grabe von August Bebel und Willy Brandt
rumpelt. Vollends grotesk werden aber Ihre Vorschläge
angesichts der Lage in den neuen Bundesländern. In
Mecklenburg-Vorpommern gibt es derzeit knapp viereinhalb offene Stellen für 100 Arbeitsuchende. In Sachsen und in Thüringen sieht es nicht besser aus.
Die „Harald-Schmidt-Show“ hat sich in der vergangenen Woche an den Mathematikaufgaben der Klasse 5 zur
PISA-Studie versucht - mit Erfolg. Ich glaube, die Bundesregierung würde selbst an diesen Aufgaben scheitern.
({3})
Die PDS im Bundestag hat Ihnen schon mehrfach vorgerechnet, dass Ihre Hartz-Fantasien vollends ungeeignet
sind, Abhilfe zu schaffen. Denn wo keine Arbeitsplätze
angeboten und geschaffen werden, können eben auch
keine Arbeitsmöglichkeiten ergriffen werden. So simpel
ist es manchmal im richtigen Leben außerhalb dieses
Plenarsaals. Übrigens gilt diese einfache Rechnung auch
für strukturschwache Gebiete in den alten Bundesländern.
Und doch haben Ihre Anträge Methode. Sie folgen
der gleichen Philosophie, die auch Ihre Agenda 2010
durchzieht. Sie bauen den Sozialstaat ab, um die Wirtschaft zu hofieren, anstatt die Wirtschaft zu motivieren,
den Sozialstaat zu stärken.
({4})
Das alles ist ein Irrweg, allemal wenn man sich sozialdemokratisch wähnt. Innerparteilich können Sie das
vielleicht auf Parteitagen mit professioneller Regie und
mit Rücktrittsdrohungen des Kanzlers noch einmal kaschieren. Die Betroffenen Ihrer Politik können das nicht.
Sie bekommen zu spüren, was Sie als Reform feiern.
Deshalb lehnt die PDS im Bundestag diese Vorschläge
ab.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Göhner.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Wochen findet in den neuen Bundesländern ein Arbeitskampf statt, der die Frage nahe legt, ob der Gesetzgeber, wenn er eine Modernisierung des Arbeitsrechtes
diskutiert, an den Sachverhalten, die sich dort abspielen,
vorbeigehen kann.
Wir haben in Deutschland eine Krise der Tarifautonomie, die, glaube ich, unbestritten ist. Immer mehr Arbeitnehmer und Arbeitgeber entziehen sich einer Tarifbindung. Die Akzeptanz von Branchentarifverträgen
nimmt ab. Die Akzeptanz dessen, was die Tarifpartner
machen, nimmt in der Öffentlichkeit ab. Diese Erosion
des Flächentarifvertrages - eigentlich und präzise: der
zumeist regionalen Branchentarifverträge - zeigte sich
Anfang dieses Jahres auch in der Tarifflucht in einer Tarifrunde für den öffentlichen Dienst, mit verheerenden
Ergebnissen. Berlin ist seit längerem an der Spitze der
Tarifflucht.
Nun kann man sagen: Diese Entwicklung ist uns
egal. - Sie reagieren darauf mit dem Versuch, Tarifzwang zu organisieren: bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge, bei der Zeitarbeit oder durch mehr Allgemeinverbindlichkeitserklärungen und die Erweiterung gesetzlicher Spielräume dazu.
Ich glaube, der Weg aus dieser Krise der Tarifautonomie führt nur über eine Rückbesinnung auf die ordnungspolitischen Grundüberlegungen, die Grundlagen,
die im Spannungsverhältnis zwischen Tarifautonomie
und Vertragsautonomie liegen.
Die Tarifautonomie - natürlich verfassungsrechtlich
geschützt - beruht letztlich auf einem privatrechtlichen Vorgang, nämlich der Bevollmächtigung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände durch ihre
Mitglieder, die Bedingungen des Tarifvertrages für sie
auszuhandeln. Wenn nun im Vollzug dieser Bevollmächtigung ein Vertrag ausgehandelt wurde und die
Vollmachtgeber, also Arbeitnehmer und Arbeitgeber,
anschließend feststellen: „Was die da ausgehandelt haben, passt in unseren Betrieb nicht; wir brauchen hier
eine Abweichung“, dann müsste es eigentlich wie bei
jedem anderen Vertrag sein, der durch Bevollmächtigte geschlossen wird: Die Vollmachtgeber haben die
Möglichkeit, die Vereinbarung abzuändern.
Es gibt ein einziges Argument, mit dem man begründen kann, dass das bei Arbeitsverträgen anders sein
muss, nämlich dass man die Arbeitnehmer besonders
schützen will, damit sie vom Arbeitgeber nicht über den
Tisch gezogen werden können. Akzeptiert, einverstanden!
Wer wird aber über den Tisch gezogen, wenn weit
über 90 Prozent der Arbeitnehmer bei Viessmann,
Burda, Mohndruck und vielen anderen überall im Lande
sagen: „Wir wollen mehr als 35 Stunden arbeiten“, der
ganze Betriebsrat dafür ist und der Arbeitgeber den Arbeitnehmern im Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie
verspricht, betriebsbedingte Kündigungen für die Laufzeit dieser Vereinbarung ausschließt, die Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit durch zusätzliche Investitionen
verspricht und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen will?
Wer wird bei dieser Vereinbarung über den Tisch gezogen?
({0})
Wer wird eigentlich über den Tisch gezogen, wenn der
gesamte Betriebsrat von der Gewerkschaft verklagt
wird, weil er in Abweichung vom Tarifvertrag einer Verlängerung der Arbeitszeit von 35 auf 38 Stunden zugestimmt hat?
Wer die Bevormundung der Arbeitnehmer durch die
Gewerkschaften und ihre Funktionäre will, kann selbstverständlich nicht für betriebliche Bündnisse für Arbeit
sein. Bei Licht betrachtet, ist die Bevormundung der Belegschaften und der Betriebsräte der Kern der Krise der
Tarifautonomie, die zurzeit herrscht.
({1})
Diese Art der Bevormundung spiegelt dieselbe Denke
wider wie das, was wir in Sachsen erlebt haben, als
Streikposten aus Bayern und Baden-Württemberg vor
sächsischen Fabriktoren standen, um arbeitswillige Arbeitnehmer dieser Betriebe davon abzuhalten, ihrer Arbeit nachzugehen.
({2})
Das geschah nach dem Motto: „Wir Gewerkschaftsfunktionäre aus dem Westen wissen das besser als ihr Arbeitnehmer im Betrieb im Osten.“ Was für den einzelnen Arbeitnehmer im Betrieb wirklich günstiger ist, das weiß
niemand besser als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst.
({3})
Tarifautonomie - im Spannungsverhältnis zur Privatautonomie - heißt eben nicht Entmündigung der Arbeitnehmer, heißt nicht, dass man auf seinen Arbeitsvertrag keinen
Einfluss mehr haben kann, wenn man einer Tarifpartei einmal beigetreten ist. Das von der Rechtsprechung durch
Auslegung, durch Erweiterung - ich kann auch sagen:
durch Verengung - interpretierte Günstigkeitsprinzip des
Tarifvertragsgesetzes beinhaltet ein aus heutiger Sicht
geradezu skurriles Verbot: Bei Vereinbarungen zu einem
betrieblichen Bündnis für Arbeit dürfen die Auswirkungen auf die Sicherheit der Arbeitsplätze im Betrieb nicht
berücksichtigt werden.
Wenn die Arbeitnehmer eines Betriebes einzelvertraglich, aber durchaus gemeinsam mit Zustimmung des
Betriebsrates mit dem Arbeitgeber vereinbaren, dass in
einem bestimmten Punkt vom Tarifvertrag abgewichen
wird - das ist häufig bei der Arbeitszeit der Fall -, im
Gegenzug eine Beschäftigungsgarantie gegeben wird,
dann verbietet das noch geltende Recht, die Beschäftigungsgarantie bei der Abwägung, ob das für den Arbeitnehmer günstiger ist, überhaupt zu berücksichtigen. Das
ist eine verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Einschränkung der Vertragsfreiheit, die Teil der Vertragsautonomie und der Tarifautonomie ist.
({4})
Das Verbot, bei abweichenden Vereinbarungen die
Auswirkungen auf die Sicherheit der Arbeitsplätze im
Betrieb zu berücksichtigen, muss dringend vom Tisch,
weil es anachronistisch ist.
Die Krise der Tarifautonomie wird natürlich nicht allein durch eine Regelung zu den betrieblichen Bündnissen gelöst. Der Schlüssel liegt - das ist keine Frage - bei
den Tarifparteien selbst. Ohne eine Regelung, die Arbeitnehmern und Betriebsräten die Freiheit zurückgibt, bei
Vereinbarungen in ihrem Betrieb auch die Auswirkungen
auf die Sicherheit der Arbeitsplätze berücksichtigen zu
dürfen, wird sich die Krise der Tarifautonomie verschärfen. Die einzige Alternative dazu ist nämlich die Tarifflucht, der Versuch, sich der Tarifbindung zu entziehen.
Das betriebliche Bündnis bei Burda - um nur einen
prominenten Fall zu nennen - hat nur deshalb gehalten,
weil nachträglich bewiesen werden konnte, dass dieser
Betrieb nicht Mitglied des Arbeitgeberverbandes war.
Das bedeutet: Wer die Möglichkeiten der betrieblichen
Bündnisse für Arbeit ablehnt, wer eine rechtssichere
Grundlage ablehnt, begeht Anstiftung zur Tarifflucht. Jeder muss sich selbst die Frage stellen, ob dies langfristig
wirklich vernünftig ist und nicht ein Beitrag zur Verschärfung der Krise der Tarifautonomie ist. Der einzelne
Arbeitnehmer, die gesamte Belegschaft eines Betriebes,
die Betriebsräte und die Arbeitgeber wissen sehr wohl
selber am besten, was für sie günstiger ist. Unser Vorschlag einer gesetzlichen Regelung folgt eigentlich nur
einem einzigen Gedanken: Es soll nicht ein Dritter kommen, zum Beispiel eben eine Gewerkschaft, und sagen:
Das wissen wir besser als ihr im Betrieb.
Es geht darum, die Entscheidung darüber, was für sie
günstiger ist, den Betrieben, den Arbeitnehmern und den
Betriebsräten zurückzugeben. Es geht in diesem Sinne
um ein Stück Freiheit. Tarif- und Vertragsautonomie sind
nach unserem Grundgesetz Freiheitsrechte und nicht
Rechte zur Bevormundung.
({5})
Meine Damen und Herren, die beiden Gesetzentwürfe, sowohl der der Regierung als auch der der CDU/
CSU, haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die wir
jenseits dieses Streits nicht übersehen wollen. Es gibt
Nuancen bei der Frage des Arbeitslosengeldes, aber es
ist vor allem bemerkenswert, dass Sie den Versuch machen, den Fehler, den Sie nach 1998 gemacht haben, zu
korrigieren. Die Verriesterung des Arbeitsrechtes, immer
mehr Regulierung, nehmen Sie zum Teil zurück. Sie führen Regelungen, die Sie 1998 abgeschafft haben, wieder
ein, zum Beispiel bei der Sozialauswahl. Das kann man
nur begrüßen. Ich finde, dass sich diese Trendumkehr
gegenüber der Verriesterung des Arbeitsrechts, die Sie
jetzt vornehmen, auch auf das Tarifrecht erstrecken
müsste. Es würde der Tarifautonomie in unserem Lande
nutzen.
Vielen Dank.
({6})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Unser
Gesetzentwurf zeigt, dass wir im Gegensatz zur Opposition - davon bin ich fest überzeugt - bei diesen Problemen des Landes nicht jammern, lamentieren und am
liebsten, wie Sie eben wieder, alles in den Orkus kippen,
dass wir über Reformen nicht nur reden, sondern handeln. Drei Monate nach der Regierungserklärung des
Bundeskanzlers legen wir jetzt konkrete Vorschläge auf
den Tisch, wie wir arbeitsrechtliche Beschäftigungshindernisse, wo es sie tatsächlich gibt, abbauen und Lohnnebenkosten senken werden.
Jeder weiß, dass uns insbesondere die Änderungen im
Kündigungsschutz nicht leicht gefallen sind. Ich will
auch gar nicht verschweigen, das wir einzelne Vorschläge der Opposition und des Bundesrates aufgegriffen haben, die uns vernünftig erschienen. Aber frohlocken Sie jetzt nicht zu früh, denn unser Konzept
unterscheidet sich in Intention und Ziel sehr deutlich von
den Vorschlägen der Opposition,
({0})
da die CDU/CSU mit ihrem Gesetzentwurf in alle Arbeitnehmerrechte mit der Rasenmähermethode eingreifen will, statt die berechtigten Interessen der Arbeitnehmerschaft, der Unternehmen und der Arbeit suchenden
ausgewogen zu berücksichtigen. Ihren eben wieder vorgetragenen Totalangriff gegen die Gewerkschaften und
die Tarifverträge werden wir zu verhindern wissen, denn
der soziale Frieden im Betrieb ist für uns ein wichtiger
Wert. Er sollte auch für Sie ein Wert sein.
({1})
Zurück zum Gesetz. Wir schaffen den Kündigungsschutz nicht ab, sondern gestalten ihn beschäftigungsfreundlicher.
({2})
Wir haben neue Lösungen gefunden. Wir legen keinen
höheren Schwellenwert im Kündigungsschutz fest.
({3})
Sie haben vor, alle neu Eingestellten in Betrieben mit
6 bis 20 Beschäftigten - da gab es doch schon einmal etwas, das in die Hose ging - auf Dauer vom Kündigungsschutz auszuschließen, in Sachsen will man diese
Grenze sogar bei 80 Beschäftigten ziehen. Wir dagegen
flexibilisieren die Anwendungsschwelle des Gesetzes,
indem befristet Beschäftigte nicht auf den Schwellenwert von fünf Arbeitnehmern angerechnet werden.
({4})
Das nimmt keinem Beschäftigten den Kündigungsschutz
und führt auch nicht zu einer Zweiklassengesellschaft im
Betrieb,
({5})
nämlich zu Beschäftigten mit und ohne Kündigungsschutz, wie Sie das wollen.
({6})
Dass damit natürlich leichter herrschen und regieren ist
nach dem Motto „Teile und herrsche“, kann ich mir vorstellen, Herr Niebel. Aber mit uns ist das nicht zu machen.
({7})
Wir setzen genau dort an, wo die jetzige Schwelle Handwerker und kleine Gewerbetreibende oft davon abhält,
neue Arbeitnehmer einzustellen, obwohl die Auftragsbücher überquellen. Statt neue Arbeitnehmer einzustellen,
lassen die nämlich ihre Leute einfach nur länger arbeiten.
Wenn wir uns nach fünf Jahren wieder sprechen, werden Sie sehen, wie weit wir damit gekommen sind, denn
wir haben auch ins Gesetz geschrieben, dass es nach fünf
Jahren überprüft werden soll.
({8})
Vergleichen Sie doch einmal unseren Gesetzentwurf
mit Ihren Vorschlägen zur Abfindung bei Kündigungen.
Die Entscheidung eines Arbeitnehmers für einen Verzicht auf Kündigungsschutz und für eine Abfindungszahlung vor der Einstellung wäre nicht freiwillig. Dieser
Arbeitnehmer hätte in Wahrheit keine Wahl, wenn er den
Arbeitsplatz wirklich haben will. Andererseits dürfte
sich aber auch kaum ein Arbeitgeber finden, der sich auf
eine solche dubiose Abfindungsregelung einlässt; denn
im Gegensatz zum geltenden Recht müsste er bei Ihrer
Lösung befürchten, auch dann zahlen zu müssen, wenn
er zu Recht gekündigt hat. Nach dem von uns vorgeschlagenen Abfindungsmodell müssen sich Arbeitgeber
und Arbeitnehmer erst dann entscheiden, wenn eine
Kündigung konkret ansteht.
Aus der Mottenkiste sind auch Ihre Vorschläge zur
Teilzeit. Sie wollen den Teilzeitanspruch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschränken, die Kinder
bis zwölf Jahre oder pflegebedürftige Angehörige haben.
Glauben Sie wirklich, dass dieser Ansatz beschäftigungs-, familien- und gleichstellungspolitisch richtig
ist?
Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass das von uns eingeführte Teilzeitmodell ein Erfolgsmodell geworden ist.
Die Zahlen zeigen es. Im Jahr 2002 waren annähernd
7 Millionen Menschen teilzeitbeschäftigt. Das ist gegenüber den Zahlen vom 1. Januar 2001 ein Aufwuchs um
460 000 Personen. Auch hier kann ich nur sagen: Während Sie 16 Jahre lang lamentiert haben, dass die Teilzeitquote in Deutschland so niedrig sei und dass sie steigen solle - die Niederlande waren Ihr Vorbild -, aber
nichts auf die Reihe gebracht haben, haben wir gehandelt. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Die Zahlen belegen eindeutig, dass wir die richtige Strategie für den Ausbau von Teilzeit fahren.
Für viele Arbeitnehmer ist der Wunsch nach mehr
Zeit für die Familie der wichtigste Beweggrund für Teilzeitarbeit, aber neben der Kinderbetreuung kommen
auch andere Motive für die Teilzeitwünsche in Betracht.
Hierzu zählt zum Beispiel der Wunsch der Menschen,
sich nach ihren eigenen Interessen auf eigene Kosten
und in eigener Zeit weiterzubilden, aber auch der
Wunsch nach Wahrnehmung ehrenamtlicher Tätigkeiten, in denen sich viele engagieren wollen. Das führt
dazu, dass sie ihre Arbeitszeit verringern wollen. Das
kann man bei Ihrem Modell nicht, weil Sie die Möglichkeiten massiv einschränken. Glauben Sie wirklich, dass
das den modernen Frauen von heute hilft, wenn nur diejenigen einen Teilzeitanspruch haben, die Kinder bis
zwölf Jahre haben? Von Gender Mainstreaming haben
Sie auf jeden Fall noch nichts gehört.
({9})
Ebenso undifferenziert ist auch Ihr Vorschlag zu den
Schwellenwerten. Die unterschiedlichen Schwellenwerte im Arbeitsrecht rechtfertigen sich durch die unterschiedlichen Zielsetzungen der arbeitsrechtlichen Regelungen. Sie können nicht auf einen einheitlichen
Schwellenwert zurückgeführt werden. Da, wo es sachgerecht ist, muss es bei unterschiedlichen Regelungen bleiben. Wie gesagt: Die Rasenmähermethode mag wohl
Ihre Methode sein, unsere ist es nicht.
Es gibt vielmehr eine Reihe von guten Gründen, von
einer pauschalen pro-rata-Berücksichtigung der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer abzusehen. Davon sind Sie
in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit auch ausgegangen.
Was Sie jetzt reitet, das alles aufzugeben, werden Sie uns
sicherlich bei gegebener Gelegenheit erklären.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel erwähnen. Der
Betriebsrat repräsentiert die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Betriebes unabhängig von ihrem Arbeitszeitvolumen. Schließlich ist ein Teilzeitbeschäftigter von den Entscheidungen des Arbeitgebers ebenso
betroffen wie seine in Vollzeit beschäftigten Kollegen.
Dasselbe gilt übrigens auch für die Auszubildenden, die
Sie bei der Berechnung der Arbeitnehmergrenzzahlen
nicht berücksichtigen wollen. Ihr Vorschlag auf Heraufsetzung der Schwellenwerte wird die betriebliche Mitbestimmung geradewegs zurück in die 70er-Jahre katapulDoris Barnett
tieren. Denn durch die zusätzlich geforderte pro-rataAnrechnung von Teilzeitbeschäftigten und den Ausschluss von Auszubildenden bei der Berechnung der
Schwellenwerte für die Betriebsratsgröße und die Freistellung von Betriebsratsmitgliedern schwächen Sie das
wichtigste demokratische Element im Betrieb.
Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, dass wir auf die
Mithilfe der vielen engagierten Frauen und Männer in
den Betriebsräten bei der Bewältigung der drängenden
Herausforderungen in unserem Land in Zukunft verzichten können. Das wissen mittlerweile selbst die Unternehmen in diesem Land, nur Sie noch nicht. Auch die Unternehmen wollen, dass die Betriebsräte Verantwortung
bei der Sicherung und Förderung des Standortes sowie
der Zahl der Beschäftigten übernehmen. Deshalb brauchen die Betriebsräte auch ausreichende personelle Ressourcen.
Ich kann zum Schluss nur sagen: Mit der
Agenda 2010 haben wir ein Reformkonzept mit Augenmaß vorgelegt. Die Umsetzung der Vorschläge wird
dazu beitragen, die strukturellen Probleme zu lösen, die
wir zurzeit auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland haben,
allerdings nicht über Nacht.
Wenn das, was die CDU/CSU hier vorgelegt hat, moderne Arbeitsmarktpolitik sein soll, dann können wir alle
nur froh sein, dass Sie noch lange auf der Oppositionsbank bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1182, 15/1204, 15/1225 und 15/590
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 o sowie
Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Entschädigungsgesetzes
und anderer Vorschriften ({0})
- Drucksache 15/1180 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Zollverwaltungsgesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksache 15/1060 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwicklung der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben ({3})
- Drucksache 15/1181 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Zuständigkeiten im Gentechnikrecht
- Drucksache 15/1222 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 25. Februar 2002 über die Änderung
des Grenzvertrages vom 8. April 1960 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande
- Drucksache 15/1053 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. Juni 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich
Thailand über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. August 2002 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Iran über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7})
Auswärtiger Ausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 9. September 1996 über
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt
- Drucksache 15/1056 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes
zu dem Übereinkommen vom 9. September
1996 über die Sammlung, Abgabe und Annahme von Abfällen in der Rhein- und Binnenschifffahrt
- Drucksache 15/1061 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 1998 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Brunei
Darussalam über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1057 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10})
Auswärtiger Ausschuss
k) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Europawahlgesetzes und eines
Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des
Europaabgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/1205 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag
vom 5. März 2002 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schweizerischen Eidgenos-
senschaft über den Verlauf der Staatsgrenze in
den Grenzabschnitten Bargen/Blumberg, Barz-
heim/Hilzingen, Dörflingen/Büsingen, Hüntwan-
gen/Hohentengen und Wasterkingen/Hohenten-
gen
- Drucksache 15/1187 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 5. November 2002 zum
Abkommen vom 11. April 1967 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener
anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern
- Drucksache 15/1188 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Wright, Reinhard Weis ({13}), Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Franziska EichstädtBohlig, Volker Beck ({14}), Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Ergänzung der Fahrerlaubnisverordnung
- Drucksache 15/1093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Birgit Homburger, Daniel
Bahr ({16}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
ILO-Arbeiten an einem internationalen Aus-
weis für Seeleute unterstützen
- Drucksache 15/939 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 7a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Julia
Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, Ursula
Heinen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Kennzeichnung allergener Stoffe in Lebensmitteln vernünftig regeln
- Drucksache 15/1227 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({17})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({18}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Neue Chancen für die Binnenschifffahrt
- Drucksache 15/311 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({19})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1181, Tagesordnungspunkt 23 c, soll federführend im Haushaltsausschuss beraten werden. Die Vorlage auf Drucksache
15/939, Tagesordnungspunkt 23 o, soll - abweichend
von der Tagesordnung - zusätzlich und federführend an
den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 b bis 24 e sowie
Zusatzpunkt 8 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Juli
2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 15/880 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({21})
- Drucksache 15/1220 Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1220,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({22}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Verordnung
über Verbrennungsanlagen für Abfälle und
ähnliche brennbare Stoffe und weiterer Verordnungen zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksachen 15/947, 15/1038 Nr. 2.1, 15/1173 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Bierwirth
Marie-Luise Dött
Winfried Hermann
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/947 zuzustimmen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Ersten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses zu 444 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag
eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 15/1150 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Hermann Bachmaier
Hans-Joachim Hacker
Petra-Evelyne Merkel
Dr. Hans-Peter Friedrich ({23})
Thomas Strobl ({24})
Jürgen Koppelin
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 44 zu Petitionen
- Drucksache 15/1131 Wer stimmt für Sammelübersicht 44 auf Drucksache
15/1131? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 44 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Zusatzpunkt 8:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({26})
Übersicht 3
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/1161 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Streiks
in den neuen Bundesländern und deren Auswirkung auf den Wirtschaftsstandort Deutschland
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben
diese Aktuelle Stunde verlangt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Veronika
Bellmann, CDU/CSU-Fraktion.
({27})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eine Gewerkschaft vertritt die Interessen der
Arbeiter und Angestellten - normalerweise.
({0})
Beim gegenwärtigen Streik stellt sich die Frage, ob dieser nicht nur den Interessen der Gewerkschaftsfunktionäre dient.
({1})
Die Initiative zum Metallerstreik ging nicht von den Arbeitern im Osten aus, sondern er wurde von den Gewerkschaftszentralen im Westen quasi verordnet - als ob man
uns zum Jagen tragen müsste. Wenn es nicht so traurig
wäre, so könnte man auch von einem so genannten
Zahnpastastreik sprechen, denn die westdeutschen Gewerkschafter haben denen, die nach Dresden zu den
Streiks gefahren sind, Zahnpasta, Deo, Waschlappen sowie Essen und Trinken reichlich mitgegeben.
Vielleicht liegt diese vermeintliche Unterstützung der
westdeutschen Gewerkschafter an der schwachen Basis
der Gewerkschaften im Osten. Von 130 000 Metallern
haben 10 000 an der Urabstimmung teilgenommen, das
sind 7,6 Prozent; davon waren 8 000 für den Streik,
ganze 6,1 Prozent. Von diesem Minderheitenvotum auf
die Allgemeinheit zu schließen, finde ich schon abenteuerlich.
({2})
Das, was stellenweise vor den Werktoren in Dresden
passiert, erfüllt glattweg den Tatbestand der Nötigung.
({3})
Das Streikrecht ist geschützt und vollkommen legitim. Ebenso legitim ist es, sich für die Einheit der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in Ost und West einzusetzen. Aber Gleichheit ist eben nicht immer Gerechtigkeit,
zumal es hier um den Erhalt von Arbeitsplätzen und ganzen Existenzen geht. Die Frage muss erlaubt sein, ob der
Zeitpunkt und die eingesetzten Mittel angemessen sind.
Auch Tarifparteien sind dem Gemeinwohl verpflichtet.
Man muss kein Wirtschaftsexperte sein, um zu erkennen, dass gerade die geringeren Arbeitskosten bisher ein
wesentlicher Standortvorteil Ostdeutschlands waren.
Mit der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche
schwächt die Gewerkschaft diesen Standortvorteil.
({4})
Unternehmen werden sich künftig noch genauer überlegen, ob sie im Osten neu oder weiter investieren oder
nicht doch lieber in Regionen gehen, in denen sie langfristig bessere Produktionsbedingungen vorfinden. In
Polen, Tschechien und Rumänien liegt die Arbeitszeit
bei weit über 40 Stunden und die Löhne und Lohnnebenkosten sind, wie wir wissen, dramatisch niedrig. Vor diesem Hintergrund zu fordern, dass zur Angleichung der
Lebensverhältnisse kürzer gearbeitet werden muss, ist
Gift für den wirtschaftlichen Aufbau Ost.
({5})
Mühselige Investorenakquise wird mit einem Schlag
kaputtgemacht. Wer dennoch einen Streik vom Zaune
bricht, muss sich nicht wundern, für Stillstand und
Wachstumsschwäche mit verantwortlich gemacht zu
werden. Hauptverantwortlich für die schwierige Lage in
Deutschland, insbesondere im Osten, ist aber - das war
auch schon vom Kollegen Merz zu hören - die Bundesregierung.
({6})
Seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün ist der Aufholprozess Ost nachweislich ins Stocken geraten.
({7})
Nach fünf verlorenen Jahren liegt noch immer kein
ganzheitliches Konzept vor.
({8})
Selbst Schröders Agenda 2010 hat, auf Ostdeutschland
bezogen, weniger Inhalt, als 4711 Duftstoffe hat.
({9})
Das Motto dieser Bundesregierung lautet: „Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft.“
Gut ist, dass dieses Motto nicht für die unionsgeführten
Bundesländer gilt; denn sonst wäre es gerade auch in den
neuen Bundesländern nicht gelungen, zahlreiche Unternehmen der Automobil-, Metall- und Zulieferindustrie in
ihren Regionen anzusiedeln.
({10})
Als Vorbild nenne ich Sachsen mit Porsche, BMW und
VW.
Ob in Zukunft solche Ansiedlungen in Ostdeutschland noch erfolgen können, hängt entscheidend von den
Ergebnissen der morgen beginnenden Tarifverhandlungen ab. Es ist wichtig, dass eine rasche Einigung erfolgt.
Ebenso wichtig ist es, diese Entscheidung an die Verhältnisse der ostdeutschen Wirtschaft zu binden. Nach einer
Umfrage wollen 70 Prozent der Ostdeutschen länger arbeiten, um dafür ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Wenn
Hasso Düvel von der IG Metall stattdessen mit der Ausweitung des Streiks auf den Westen droht, dann schädigt
er das Ansehen und Vertrauen nicht nur in den Wirtschaftsstandort Ost, sondern in ganz Deutschland.
Es kann aber auch sein, dass sich die Gewerkschaft
für diejenigen Westdeutschen instrumentalisieren lässt,
die ganz offen sagen: Schluss mit den Wettbewerbsvorteilen Ostdeutschlands, Schluss mit den längst praktizierten Bündnissen für Arbeit und Haustarifen, Schluss
mit den Ziel-1-Fördergebieten in der EU, Schluss mit
Vorteilen bei Lohn und Lohnnebenkosten und Schluss
mit der Investitionszulage. Diesen Spaltpilzen kann der
Bundesminister für Wirtschaft, Herr Clement, am
3. Oktober getrost einen vollen Arbeitstag verordnen;
denn den Tag der Deutschen Einheit als Feiertag zu begehen, haben diese Menschen nicht verdient.
Ich komme zum Abschluss. Ich appelliere an die Gewerkschaften, ihre sozialromantischen Ideologien endlich an den Nagel zu hängen. Sie gefährden damit
Wachstum, Arbeitsplätze, den ostdeutschen Produktionsstandort und damit letztlich eine wesentliche Säule
unserer Wirtschaftsordnung, die Tarifautonomie.
({11})
Frau Kollegin, Sie müssen wirklich zum Abschluss
kommen. Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.
({0})
Ich komme zum letzten Satz: Ich plädiere für betriebliche Bündnisse für Arbeit statt Verordnung starrer Tarifregelungen für alle. Kreativität und Flexibilität statt
Klassenkampf in der Tarifpolitik,
({0})
das ist das Gebot der Stunde.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich vorab den Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP die Bedeutung des Wortes „Tarifautonomie“ erklären.
({0})
Sie verstehen es nicht und sie wollen es offensichtlich
nicht verstehen. Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes gewährt Tarifautonomie. Das heißt: Arbeitnehmer und Arbeitgeber legen in freier Vereinbarung
({1})
in den Unternehmen ohne regelndes Eingreifen des Staates die Arbeitsbedingungen fest. Auch das Bundesverfassungsgericht hat Sinn und Zweck der Tarifautonomie
sehr gut beschrieben:
Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessengegensätze in eigener Verantwortung austragen können.
({2})
Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht
werden als bei einer staatlichen Regelung.
({3})
- Das hat nicht der DGB falsch aufgeschrieben. Schauen
Sie sich einmal die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts an! Dann werden Sie es feststellen.
Viele Köche verderben den Brei. Dieses Sprichwort
trifft hier den Nagel auf den Kopf. Meine Damen und
Herren von der CDU/CSU und der FDP, kochen Sie Ihr
eigenes Süppchen und lassen Sie die Finger von der Tarifpolitik, von der Sie ohnehin nichts verstehen!
({4})
Insbesondere Sie, Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, sollten sich als Vertreter einer liberalen Partei zurückhalten, meinen Sie doch grundsätzlich, dass eine
Wirtschaftsordnung um so erfolgreicher ist, je mehr sich
der Staat zurückhält. Es ist ganz offensichtlich, warum
Sie seitens der Opposition den Streik in den neuen Bundesländern zum Thema einer Aktuellen Stunde machen.
Sie versuchen, wie schon so oft, die Tarifpolitik auszuhöhlen. Sie beabsichtigen, Tarifautonomie und Streikrecht Fesseln anzulegen. Damit begeben Sie sich auf ein
gefährliches Terrain. Sie verlassen demokratischen
Grundkonsens.
({5})
Wir haben andere Aufgaben, als uns in die Tarifpolitik der Gewerkschaften einzumischen und eine vernünftige Einigung zu erschweren. Wir haben für die Tarifvertragsparteien funktionsfähige Arbeitsbedingungen zu
setzen, nicht mehr und nicht weniger. Staatliche Politik
hat nun einmal staatliche Aufgaben zu bewältigen. Sicherlich ist der Zeitpunkt des Streiks gerade in der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Lage vielleicht nicht
optimal gewählt. Aber wann gibt es den optimalen Zeitpunkt für einen Streik?
Meine Damen und Herren der CDU/CSU und der
FDP, bevor Sie die IG Metall weiter an den Pranger stellen,
({6})
gestatte ich mir, Ihnen die Hintergründe des Streiks näher zu erläutern. Anscheinend herrscht hierüber Verwirrung. Anders kann ich mir Ihre Äußerungen nicht erklären.
({7})
Im letzten Jahr haben sich IG Metall und Arbeitgeber
vertraglich dazu verpflichtet, 2003 über einen Stufenplan
zur Angleichung der Wochenarbeitszeit zu verhandeln.
Nach neun Tarifrunden und verschiedenen Angeboten
seitens der IG Metall war die Reaktion der Arbeitgeber
weiterhin null. Ein Streik war damit unausweichlich und
auch legitim.
Anzumerken ist, dass zunächst wichtige Zulieferer
vom Streik ausgenommen blieben. Doch weiterhin keine
Reaktion bei den Arbeitgebern. Beim wichtigen
Getriebehersteller ZF wurden die Streiks nun ausgesetzt.
BMW kann also aufatmen. Die IG Metall zeigt Kompromissbereitschaft.
({8})
Nun sollte auch die Arbeitgeberseite einen Schritt nach
vorne wagen.
Polemische Zeitungsanzeigen - auf polnisch und
tschechisch wird sich für die 35-Stunden-Woche bedankt -, hollywoodreife Hubschraubereinlagen - beim
Automobilzulieferer Federal Mogul ließ die Firmenleitung Angestellte per Hubschrauber auf das Werksgelände fliegen - sind fehl am Platz.
({9})
Die IG Metall will die Angleichung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden erreichen. Das ist auch
sinnvoll. Die Einkommensunterschiede zwischen West
und Ost sind immer noch offensichtlich. Allein schon als
ermutigendes Signal gegen die hohe Abwanderung sind
Angleichungsschritte wichtig. Dafür haben sich auch
Politiker ausgesprochen.
Ich will die Notwendigkeit einer Angleichung konkretisieren. Im Jahr 2001 verdienten die ostdeutschen
Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie etwa 73
bis 75 Prozent des westdeutschen Niveaus. Die Arbeitszeit der ostdeutschen Beschäftigten ist jedoch um 7 bis
8 Prozent länger als die der westdeutschen Beschäftigten.
Was will die IG Metall? Sie will nichts sofort und auf
einmal. Es geht vielmehr um einen Stufenplan und um
eine Regelung, die es den Betrieben ermöglicht, gegebenenfalls schrittweise unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten zu handeln. Sie ist mit einer Revisionsklausel einverstanden.
Ich rate beiden Seiten, Kompromissbereitschaft zu
zeigen. Aber die Anliegen der IG Metall sind legitim.
Mischen Sie sich hier bitte nicht ein!
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man in diesen Tagen nach Deutschland blickt, meint
man, hier würde absurdes Theater inszeniert. Die Arbeitslosigkeit steigt von Monat zu Monat. Für 20 Prozent
der Bürgerinnen und Bürger in Deutschlands Osten beträgt die Arbeitszeit null Stunden. Ihnen bieten sich
keine Chancen und Möglichkeiten.
Bei der VW-Tochter Skoda in unserem Nachbarstaat,
der Tschechischen Republik, beträgt die Wochenarbeitszeit 42,5 Stunden bei einem Stundenlohn von 3 Euro. Die
IG Metall aber hat nichts Besseres zu tun, als dem Osten
mit eingeflogenen Gewerkschaftsfunktionären - freigestellten Betriebsräten aus dem Westen - mit der 35-Stunden-Woche ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm aufzudrängen. Das ist unglaublich!
({0})
In der heutigen Ausgabe der „FAZ“ wird der Streikführer und Gewerkschaftsoberbonze Düvel zitiert.
({1})
- Ich kann ihn nicht anders bezeichnen; er richtet sich
schließlich gegen die Interessen der Arbeitnehmer.
({2})
Düvel sagte der „FAZ“ zufolge:
Die Einführung der 35-Stunden-Woche müsse …
von einem finanziellen Förderprogramm der Banken und der öffentlichen Hand begleitet werden.
Jetzt sollen also die Steuerzahler den Irrsinn noch finanzieren. Wir sind doch hier nicht im Irrenhaus! Das ist
eine wirtschaftspolitische Tollwutpolitik!
({3})
Herr Peters hat erklärt, Deutschland sei eine Bananenrepublik, weil die Arbeitszeit im Osten und Westen nicht
gleich ist. Die IG Bergbau, Chemie, Energie hat aus
guten Gründen bis 2009 die 40-Stunden-Woche festgeschrieben. Sind das denn alles Idioten, wenn sie im
Chemiesektor die 40-Stunden-Woche festschreiben?
Wissen nur die Oberbonzen von der IG Metall, wie man
es richtig macht? - Absurdes Theater von A bis Z!
Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Klemm von
Daimler-Chrysler hat Herrn Peters als tarifpolitischen
Geisterfahrer bezeichnet.
({4})
Für Bundeswirtschaftsminister Clement ist das ein Streik
zur falschen Zeit am falschen Ort für das falsche Thema
und den falschen Weg. Damit hat er völlig Recht.
Meine Damen und Herren, welches Fehlverhalten zulasten der Steuerzahler und der Arbeitnehmer müssen
wir uns denn noch gefallen lassen?
({5})
Durch den Irrsinn, der in den neuen Bundesländern
geschieht, gibt es in Bayern und Niedersachsen Kurzarbeit. Die anderen Arbeitnehmer und auch die Steuerzahler zahlen für diesen Blödsinn. Die Bundesanstalt für
Arbeit zahlt pro Woche 10 000 Personen Kurzarbeitergeld in Höhe von insgesamt 1,7 Millionen Euro.
Es kann nicht so weitergehen, dass sich einige, die die
Welt nicht verstanden haben und nicht wissen, wie ein
Arbeitsplatz entsteht, zulasten der Allgemeinheit - dazu
gehören die Steuerzahler wie auch diejenigen, die keinen
Arbeitsplatz haben, und die, die durch Zwangskurzarbeit
Einkommen verlieren - austoben.
({6})
Meines Erachtens müssten die Gewerkschaften jetzt
am Defizit der Bundesanstalt für Arbeit finanziell beteiligt werden.
({7})
Es müssen für solche Fälle Haftungsgrundsätze erarbeitet werden; denn es kann nicht angehen, dass eine Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwingt. Im Osten
Deutschlands sind schließlich weniger als 8 Prozent der
Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Den Gewerkschaften laufen Monat für Monat die Mitglieder
weg. 300 000 bis 500 000 Mitglieder treten jedes Jahr
aus dem DGB aus, weil sie von einer Politik, die sich gegen die elementaren Rechte und Belange der Arbeitnehmer richtet, die Schnauze voll haben.
({8})
Es ist unglaublich, was sich einige Gewerkschaftsfunktionäre in diesem Land erlauben und wie sie sich austoben. So können wir jedenfalls keine Perspektiven eröffnen. Wie wollen wir eine Angleichung zwischen Ost und
West schaffen, wenn wir dazu noch nicht einmal eine
Chance geben?
Einer der wenigen Wirtschaftssektoren, der zur Erfolgsstory der neuen Bundesländer gehört, ist die Automobilindustrie. Die Ansiedlung von Automobilbetrieben
in den neuen Bundesländern war strategisch wichtig.
Hier sind Paradeinvestitionen getätigt worden. Aber ausgerechnet die Automobilbetriebe, die sich dort angesiedelt haben, sollen für ihren Mut abgestraft werden, indem man sie zwingen will, den ihnen noch verbliebenen
kleinen Vorteil bei der Arbeitszeitgestaltung aufzugeben.
Ich wiederhole: Bei der VW-Tochter Skoda in der
Tschechischen Republik, nur wenige Stunden von den
neuen Bundesländern entfernt, werden 3 Euro pro Arbeitsstunde verdient und gilt die 42,5-Stunden-Woche.
Vor diesem Hintergrund ist das, was die Gewerkschaften
vorhaben, ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Das
wissen auch Sie. Selbst der Bundeskanzler hat das schon
gerügt. Tun Sie bitte also nicht so, als ob bei Ihnen alle
über diesen Unfug glücklich wären. Wenn einige völlig
die Balance verloren haben und die Realität nicht mehr
erkennen, muss man doch die Kraft haben, Korrekturen
vorzunehmen. Ich sage Ihnen: Jede Stunde des jetzigen
Streiks ist ein Schlag in das Gesicht der Arbeitslosen in
der Bundesrepublik und insbesondere in den neuen Bundesländern und verringert die Chancen, in den neuen
Bundesländern Betriebe anzusiedeln.
Man darf nicht vergessen, dass die ganze Welt über
diesen Streik informiert ist. Man wird sich im Ausland
fragen, was bei uns los ist, ob wir den Bezug zur Realität
völlig verloren haben und ob wir nicht mehr wissen, dass
zwei plus zwei vier ist. Was muss denn noch geschehen,
bis endlich etwas geschieht? Ich sage Ihnen: Das Tarifvertragsrecht muss so geändert werden, dass die Rechte
der Arbeitnehmer gestärkt werden.
({9})
75 Prozent der Arbeitnehmer wollen eigene Regelungen
haben. Sie müssen das Recht haben - es geht schließlich
um ihren Job, ihr Leben und ihre Lebensperspektive -,
eigene Entscheidungen zu treffen. Sie wollen nicht mehr
durch Gewerkschaftsfunktionäre fremdbestimmt werden. Es darf nicht sein, dass man - ich wiederhole das durch Gewerkschaftsbonzen,
({10})
die nicht wissen, wie die Realität aussieht, daran gehindert wird, eine vernünftige Regelung zu erarbeiten.
Damit muss Schluss sein. Dafür schreie ich. Wenn Sie
etwas anderes vertreten, dann sollten Sie sich dafür schämen.
Herr Kollege Brüderle, Sie müssen zum Schluss kommen. Gleiches Recht für alle! Diesen Grundsatz pflege
ich einzuhalten.
Frau Präsidentin, ich komme sofort zum Schluss.
Aber Sie haben Ihre Parteigenossen ein bisschen länger
reden lassen.
Herr Kollege Brüderle!
Ich finde zwar, dass Sie bei anderen ein bisschen
großzügiger waren. Aber ich gehe schon.
({0})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Opposition hat die heutige Aktuelle Stunde beantragt, um
etwas über die Haltung der Bundesregierung zu den
Streiks in der ostdeutschen Metallindustrie zu erfahren.
Aber Ihre Worte, Kollege Brüderle, lassen bei mir eher
den Eindruck aufkommen, dass es Ihnen nicht darum
Werner Schulz ({0})
geht, die Sichtweise der Regierung zu erfahren, sondern
darum, die Gewerkschaften zu beschimpfen, was Sie
auch getan haben.
Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie nicht wissen, was
Tarifautonomie ist. Sie wissen das sehr wohl. Wenn Sie
aber auf die Zeit zurückschauen, in der Sie selbst Regierungsverantwortung hatten - das ist zwar schon ein paar
Jahre her; aber man kann sich durchaus noch erinnern -,
dann werden Sie feststellen, dass die Wortwahl ganz anders war, als Anfang der 90er-Jahre die Arbeiter in Ostdeutschland gestreikt und protestiert haben, weil der
Aufbau Ost nicht vorankam - die damalige Regierung
hatte keine Mittel dafür eingestellt - und weil die Löhne
hinten und vorne nicht ausreichten. Damals hieß es:
Die Bundesregierung sieht mit großer Sorge, dass
die Tarifauseinandersetzungen in einen Konflikt geführt haben. Es liegt im Interesse der Bundesregierung, dass sich die Tarifpartner möglichst schnell
auf eine tragfähige und wirtschaftlich vernünftige
Lösung verständigen.
Diese Haltung hat man offenbar, wenn man in der Regierung ist. Wenn man aber in die Opposition kommt, dann
wird man auf einmal radikal. Ich verstehe ja, dass man,
wenn man nie in seinem Leben radikale Neigungen
hatte, wenigstens einmal radikal werden und ein bisschen über die Stränge schlagen möchte.
({1})
- Das kommt noch. Dafür verbleibt mir noch genügend
Redezeit.
Das momentane Problem ist folgendes: Die Tarifpartner sind gerade dabei, sich zu einigen und den Streik zu
beenden, der in der jetzigen Situation sicherlich
schmerzhaft ist. Auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass diese Gewerkschaft 13 Jahre nach der deutschen Einheit endlich die Angleichung der Arbeits- und
Lebensbedingungen verlangt, die die Politik den Menschen von Anfang an versprochen hat.
({2})
Frau Bellmann, in der letzten Legislaturperiode - Sie
waren damals noch nicht Abgeordnete - hat Ihre Fraktion - es ist nur zwei Jahre her - einen Antrag mit dem
Titel „Leitbild für ein modernes Deutschland“ eingebracht. Dieser Antrag formulierte das Ziel, eine stufenweise Angleichung der Tarife im öffentlichen Dienst in
Deutschland bis 2007 zu erreichen. Warum sollte gerade
der öffentliche Dienst Schrittmacher dafür sein? Warum
sollte das, was dem öffentlichen Dienst recht ist der Privatwirtschaft an dieser Stelle nicht billig sein? Das ist
doch der Punkt.
Der Weggang junger Leute ist doch auch das Ergebnis
dessen, dass die Standortfaktoren des Ostens für die Beschäftigten offenbar nicht so attraktiv sind und dass man
die Arbeits- und vor allem die Einkommensverhältnisse
im Westen als etwas attraktiver empfindet. Das ist die
Kehrseite dieses Standortfaktors.
Eigentlich geht es nicht um die 35-Stunden-Woche.
Die Arbeitgeber würden 35 Stunden gern bezahlen,
wenn dafür 40 Stunden gearbeitet würden. Ich glaube,
das ist der eigentliche Punkt, um den es in dieser Auseinandersetzung geht. Bei dieser ganzen Auseinandersetzung um Arbeitszeitverlängerung geht es im Grunde genommen um Lohnkürzungen. Egal ob Feiertage
abgeschafft werden, ob Zuschläge reduziert werden sollen, zum Beispiel das Weihnachtsgeld: In Wirklichkeit
geht es um Lohnkürzungen. Ich frage Sie: Auf welches
Niveau müssten die Löhne Ihrer Meinung nach sinken,
damit wir wettbewerbsfähig sind? Auf polnisches, auf
ukrainisches oder auf chinesisches vielleicht?
({3})
Eine Diskrepanz in diesem Land besteht darin, dass
sich Unternehmensvorstände an internationalen Spitzenwerten orientieren, während sich die Belegschaft die Gehälter von Arbeitern in weniger entwickelten Ländern
zum Vorbild nehmen soll.
({4})
Ich kenne die ideologischen Auseinandersetzungen
um die 35-Stunden-Woche. Man kann sich darüber trefflich streiten. Ich glaube, dass beide Seiten die Effekte
der 35-Stunden-Woche überschätzen. Aus der Einführung der 35-Stunden-Woche per Gesetz in Frankreich
können wir erkennen, dass sie Effekte hat: Es sind zwar
nicht, wie man sich erhofft hatte, 700 000 Arbeitsplätze
entstanden, aber immerhin knapp 400 000. Der französische Unternehmerverband - er war anfangs sehr skeptisch und gegen die Einführung - verteidigt heute die
35-Stunden-Woche. Sie hat zu einer Modernisierung der
Gesellschaft und zur Belebung der Dienstleistungsbranche geführt. Sie hat in einer gewissen Weise auch etwas
für das Familienleben und für die Konkurrenzfähigkeit
dieses Land getan.
({5})
Sie sollten Ihr Augenmerk nicht nur auf die Senkung
der Lohnkosten richten. Ökonomisch betrachtet, sind
nicht nur die Lohnkosten, sondern auch die Energiekosten, die Materialkosten, die Produktivitätsentwicklung
und die Arbeitsproduktivität, also die Lohnstückkosten,
entscheidend. Was diese Bereiche angeht, hat der Osten
in den letzten Jahren enorme Vorteile erzielt. Das Niveau
im Osten liegt heute 10 Prozent unter dem im Westen.
Die entsprechenden Mittel können schon verteilt werden. Die Gewerkschaften fordern keinen Ruck, sondern
einen Stufenplan, also das, was man unter Planungssicherheit versteht. Die Gewerkschaften sind in einer gewissen Weise moderat vorgegangen, indem sie gesagt
haben: Für schwächere Betriebe sollen längere Fristen
gelten; wir haben eine Revisionsklausel vorgesehen usw.
- Es ist keine starre Situation.
Herr Kollege Schulz, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Die Politik wäre gut beraten, sich aus diesem Konflikt
herauszuhalten und darauf zu setzen, dass sich die beiden Tarifpartner vernünftig einigen, wie es auch der Fall
war, als Sie regierten.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kollegin Kramme, ich kann eigentlich nur hoffen,
dass die Mehrzahl der Mitglieder Ihrer Fraktion Ihren
Thesen hier nicht folgt. Schauen Sie doch einmal nach
draußen!
Wir haben in unserem Land zurzeit eine Abfolge von
Geschehnissen, die sich einer rationalen Nachvollziehbarkeit entziehen und die in der Summe eigentlich nur
noch bezeichnet werden können als Drama - aus meiner
Sicht mit einem Hang zur tragischen Komödie, die bekanntlich mit der Niederlage des Helden, motiviert
durch seine menschlichen Schwächen, endet. Das lässt
Interpretationsspielraum.
Mir geht es um den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Wir sind das Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum in
Europa.
({0})
Der Wirtschaftsminister kündigt für dieses Jahr inzwischen ein Nullwachstum an. Die Arbeitslosenzahlen sind
auf einem Rekordniveau seit der Wiedervereinigung.
Die Bundesanstalt für Arbeit benötigt über 8 Milliarden
Euro Zuschuss aus dem Bundeshaushalt, Tendenz weiterhin steigend. Die Arbeitslosenzahlen werden im Winter möglicherweise - das wäre erschreckend - auf über
5 Millionen steigen. Unsere Sozialsysteme haben die
Grenzen ihrer Finanzierbarkeit schon weit überschritten.
Wir haben eine katastrophale Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Und da wird in einer Zeit, in der wir über
mehr Arbeit und über Mehrarbeit diskutieren, um die
Wirtschaft in Deutschland wieder voranzubringen, ein
Arbeitskampf geführt, der die wirtschaftlich schwächste
Region in Deutschland noch schwächer machen wird!
({1})
Eine Reduzierung der Arbeitszeit von 38 Stunden auf
35 Stunden bei Lohnausgleich wird den Wirtschaftsplatz
Ostdeutschland zum Verlierer im Wettbewerb um Unternehmensansiedlungen, zum Verlierer im Wettbewerb um
Arbeitsplätze und zum Verlierer bei der Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit machen. Das kann nicht unser
Ziel sein. Deshalb müssen wir auch von dieser Stelle aus
deutlich sagen, dass wir eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit ablehnen. Die Reduzierung der Arbeitszeit bedeutet eine Erhöhung der Lohnkosten um - das muss
man sich auf der Zunge zergehen lassen - 8,6 Prozent.
({2})
Das gefährdet kurzfristig 20 000 Arbeitsplätze - vom
langfristigen Schaden für die Region ganz zu schweigen.
Der letzte wichtige, entscheidende Standortvorteil
Ostdeutschlands, nämlich die längere Arbeitszeit, darf
nicht dem Machtspiel zwischen den Gewerkschaftsbossen zum Opfer fallen. Ich sage „Gewerkschaftsbosse“. Andere sprechen von tarifpolitischen Geisterfahrern. Sie kennen sie alle. Im Ergebnis werden die wirtschaftlichen
Probleme im Osten größer werden. Die Arbeitslosigkeit
wird steigen. Die Abwanderung der mobilen Arbeitnehmer
nach Westdeutschland wird ebenfalls steigen. Dabei darf
man nicht vergessen - das ist schon erwähnt worden -: Die
Mehrzahl der Arbeitnehmer will diesen Streik nicht und
trägt diesen Streik nicht mit. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom Februar dieses Jahres waren
86 Prozent der Metaller im Osten mit ihrer Arbeitszeit zufrieden. Gleichzeitig wird bei allen Umfragen festgestellt,
dass der Erhalt des Arbeitsplatzes heute zum wichtigsten
Thema geworden ist, was bei 40 000 prognostizierten
Unternehmenspleiten ja auch verständlich ist.
Die 35-Stunden-Woche in Deutschland hat noch nie
einen einzigen Arbeitsplatz geschaffen. Das Versprechen
der Gewerkschaften in den 80er-Jahren, durch Umverteilung von Arbeit neue Arbeitsplätze zu schaffen, wurde
nie eingelöst. Ich garantiere Ihnen: Was im Westen nicht
funktioniert hat, wird auch im Osten nicht funktionieren.
Sinkende Arbeitszeiten führen zu steigenden Arbeitskosten. Steigende Arbeitskosten führen zu Rationalisierungen und zum Arbeitsplatzabbau. Zusätzlich bringen sie
Leistungsverdichtung und Stress für die Arbeitnehmer
mit sich. Das sind die Auswirkungen der 35-StundenWoche.
({3})
Ich bin froh darüber, dass sich diese Erkenntnis langsam durchzusetzen scheint und auch unser Bundeswirtschaftsminister die Auffassung vertritt: In Deutschland
muss wieder mehr gearbeitet werden.
({4})
Ich muss dem Herrn Wirtschaftsminister allerdings sagen: Wir brauchen keine Feiertagsdiskussion. Wir müssen über höhere Wochenarbeitszeiten nachdenken, um
die Produktionskosten in Deutschland maßgeblich zu
senken und somit wieder wettbewerbsfähiger zu werden.
({5})
Das schafft mittel- und langfristig die Arbeitsplätze, die
wir brauchen. Wir müssen neue Arbeitsmodelle mit Zeitkorridoren für den flexiblen Einsatz der Arbeitskraft finden. Damit werden unsere Unternehmen wieder leistungsfähiger und es entstehen neue Jobs in Deutschland.
Es wird Zeit, dass alle Beteiligten begreifen: Das Projekt 35-Stunden-Woche ist gescheitert. Wenn die Gewerkschaften jetzt eine vertretbare Lösung für Ostdeutschland propagieren wollen, dann müssen sie die
Forderung nach der 35-Stunden-Woche aufgeben, sich
für den Erhalt der bestehenden Arbeitsplätze einsetzen,
endlich das Prinzip der Umverteilung von Arbeit aufgeben und nach dem Prinzip „Arbeit schafft Wachstum und
Wachstum schafft Arbeit“ handeln.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Wend, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Natürlich ist dieser Tarifkonflikt einer Bewertung zugänglich. Bei näherer Betrachtung muss man sagen, dass es gute moralische Argumente für die
IG Metall gibt, diesen Tarifkonflikt zu führen, es aber
auch gute ökonomische Argumente gibt, diesen Tarifkonflikt nicht zu führen.
Es ist richtig, dass sich Arbeitgeber und IG Metall am
18. Mai 2002 in Berlin darauf verständigt haben, über
eine schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit in Ostdeutschland zu verhandeln. Vor diesem Hintergrund sind
die Forderungen der IG Metall zu verstehen. Wahr ist
auch, dass die IG Metall eine schrittweise Einführung
der 35-Stunden-Woche bis zum Jahre 2009 verlangt und
bereit ist, bei Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch an diesem Zeitkorridor noch Veränderungen zuzulassen. Das zeigt also: Wer angesichts dieses
Tarifkonflikts ausschließlich von Verantwortungslosigkeit aufseiten der Gewerkschaften spricht, vergisst, dass
diese aktuelle Auseinandersetzung in bestimmten früheren Vorgängen wurzelt.
Die ökonomischen Gründe, die aufgeführt wurden,
lassen es aber auch aus meiner Sicht nach einer differenzierten Bewertung am Ende unvernünftig erscheinen,
diesen Tarifkonflikt zu führen. Das will ich nicht verschweigen.
({0})
Ich möchte auf drei Dinge hinweisen, die mich in dieser
heutigen Debatte stören.
Punkt Nummer eins: Es wurde mehrfach gesagt, Gewerkschaftssekretäre aus dem Westen werden eingeflogen, um vor den Toren der Betriebe in Ostdeutschland
Streikbrecher am Betreten zu hindern.
({1})
Es wird gesagt, dass in den Gewerkschaftszentralen im
Westen entschieden wurde, ob dieser Arbeitskampf geführt wird oder nicht.
({2})
Dazu will ich Ihnen sagen: Wenn wir einen Streik in
Bayern oder Baden-Württemberg hätten und aus Schleswig-Holstein Streikposten kämen
({3})
oder in Frankfurt entschieden würde, ob gestreikt wird
oder nicht,
({4})
würde keiner davon reden, dass der Norden dem Süden
einen Streik aufzwingt. Sie beleben an dieser Stelle - das
werfe ich Ihnen vor - wieder Vorurteilsstrukturen und
bauen in den Köpfen wieder Mauern zwischen West und
Ost auf. Das weisen wir an dieser Stelle zurück.
({5})
Die zweite Sache, die ich Ihnen vorwerfe - das hat
insbesondere Herr Göhner beim vorherigen Tagesordnungspunkt getan -, ist, dass Sie die auch nach meiner
Meinung schwierige tarifpolitische Auseinandersetzung
dazu benutzen, um die Tarifautonomie insgesamt infrage
zu stellen. Dazu sage ich Ihnen ein bisschen selbstironisch, dass es sich mit der Tarifautonomie wie mit der
Demokratie verhält: Wie oft habe ich mir nach Kommunal- oder Landtagswahlen, die schlecht für uns ausgingen, gewünscht, dass man es vielleicht mit der Demokratie nicht so ganz ernst nehmen müsste. So ist das auch
mit der Tarifautonomie. Nur weil einem einmal ein Ergebnis nicht gefällt, kann man nicht das bewährte Prinzip der Tarifautonomie aufs Spiel setzen.
({6})
Damit hängt auch die Bewertung der Vergangenheit
zusammen. Sehen Sie sich doch einmal an, wie die Gewerkschaften in dieser Republik mit Tarifverträgen umgegangen sind: Die tarifpolitische und die lohnpolitische
Zurückhaltung der letzten Jahre war angesichts unserer
gesamtökonomischen Situation vorbildlich. Tarifverträge bilden seit den 50er- und 60er-Jahren ein sinnvolles Rückgrat unserer Ökonomie. Von daher sollten Sie
nicht der Versuchung erliegen, um eines kurzfristigen
Vorteils willen eine schwierige tarifpolitische Situation
auszunutzen und die Tarifautonomie insgesamt infrage
zu stellen. Das wäre schädlich.
Dritter Punkt - hier liegt vielleicht die größte Gefahr -: Ich greife Ihr Wort, Herr Brüderle, von den Gewerkschaftsbonzen auf. Ich will nun nicht über Begrifflichkeiten streiten - hier liegen mir Worte auf der
Zunge, die ich lieber herunterschlucke, weil ich auch
weiß, dass Sie, Herr Brüderle, sonst ein ganz netter
Kerl sind -, aber ich habe das Gefühl, es geht CDU/
CSU und FDP hier um etwas anderes. Sie wollen die,
wie auch ich finde, schwierige wirtschaftliche Situation, die tarifpolitische Situation und die - auch das
räume ich ein - suboptimale intellektuelle Beweglichkeit einiger Gewerkschaftssekretäre
({7})
nutzen, damit am Ende der politische Einfluss der Gewerkschaften in dieser Republik auf null zurückgefahren
wird. Das werden wir Sozialdemokraten nicht zulassen;
da können Sie sicher sein, meine Damen und Herren.
({8})
Gewerkschaften sind nicht immer einfach. Das wissen wir Sozialdemokraten aus den letzten Wochen. Ich
sage Ihnen aber eines: Eine Demokratie, wie sie in unserem Lande mithilfe von Gewerkschaften aufgebaut
wurde, ist stabil.
Ich wünsche mir Gewerkschaften, die die Reformnotwendigkeiten verstehen, die auf dem sozialen Ausgleich
bei diesen Reformen bestehen, die ein wichtiger politischer Faktor in unserer Republik sind und nicht, wie von
Ihnen gewünscht, beiseite gestellt werden, die vielmehr
mit dabei sind und Einfluss haben. Ich wünsche mir,
dass uns dies in den nächsten Monaten noch besser gelingt, als es zurzeit der Fall ist. Ich wünsche mir in diesem Sinne starke und weltoffene Gewerkschaften.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Kramme, Sie haben hier eine tolle
Lehrstunde zur Tarifautonomie abgeliefert. Ich stelle die
Frage: Wann waren Sie zum letzten Mal im Osten und
haben sich die Realität vor Ort angeschaut? Denn darum
geht es doch heute.
({0})
Ich möchte damit einmal Folgendes in Verbindung
bringen: Im Osten stehen 1 Million Wohnungen leer;
62 000 Bürger haben im vergangenen Jahr zum Beispiel
mein Heimatland Sachsen verlassen.
({1})
Von der Kommunalpolitik bis zur Bundespolitik macht
man sich Gedanken darüber, wie Arbeitsplätze dort gehalten werden können. Denn wegen des Mangels an Arbeitsplätzen verlassen die Bürger ihre Heimat.
Zaghaft sind in letzter Zeit neue Ansiedlungen entstanden: in der Industrie, im Gewerbe und vor allem in
der Metall- und in der Autozulieferindustrie. Die Standorte dieser neuen Arbeitsplätze standen im harten internationalen Wettbewerb mit anderen Standorten. Es war
nicht einfach, es war keine Selbstverständlichkeit, dass
sie im Osten entstanden sind. Kollege Brüderle hat am
Beispiel der Tschechei und Polens gezeigt, wie hart dieser Wettbewerb ist. Viele haben sich für diese Standortvorteile, für diesen Standort Ost engagiert, die Kommunen durch die Ausweisung von Gewerbegebieten, die
Länder durch die Bereitstellung von Fördermitteln,
ebenso der Bund; das ist richtig. Aber nicht zuletzt haben sich auch die Arbeitnehmer mit ihrer Arbeitszeit engagiert.
Aus all diesen Gründen begann langsam etwas zu
wachsen. Es entstanden moderne, hochproduktive Betriebe. Jetzt muss man den Eindruck bekommen: Irgendjemandem scheint das ein Dorn im Auge zu sein. Wenn
man die Streiks in Ostdeutschland unter diesen Vorzeichen betrachtet, dann - so müssen Sie schon zugestehen - kann man auch auf üble Gedanken kommen.
Sehen Sie sich doch einmal die Lage der Gewerkschaften an; Sie haben anhand der Situation bei sich zu
Hause geschildert, wie deren Lage dort ist. Im Osten
sind 30 Prozent der Arbeitnehmer im Metall- und Elektrobereich gewerkschaftlich organisiert. 8 Prozent haben an dieser Abstimmung teilgenommen. Selbst wenn
ich davon ausgehe, dass in einem Betrieb 30 Prozent der
Arbeitnehmer organisiert sind und 80 Prozent dafür gestimmt haben, so haben keine 25 Prozent der Belegschaft für diesen Streik gestimmt. So sieht die Realität
vor Ort aus.
({2})
Angesichts dessen muss man sich schon die Frage gefallen lassen: Wenn es die Gewerkschaften im Osten auf
diese Weise nicht schaffen, einen Streik auf die Beine zu
stellen, wie machen sie es dann? Dann werden eben busseweise die Leute angekarrt, von Frankfurt oder Düsseldorf dirigiert; sie stehen vor den Werktoren, sie sind
streikerfahren und sie verwehren im Regelfall denen, die
arbeiten wollen, den Einlass in den Betrieb.
({3})
Meine Damen und Herren, ich sage es ganz deutlich:
Mit dieser Aktion haben sich die deutschen Gewerkschaften aus der gesellschaftlichen Verantwortung für
den Aufbau Ost verabschiedet.
({4})
Das kann man auch ganz deutlich an den Reaktionen
in der Presse und im Fernsehen der letzten Tage verfolgen: Von internationalen Investoren in Aussicht genommene oder in Vorbereitung befindliche Objekte werden
storniert. Die Investoren überlegen, ob sie den Schritt
nach Ostdeutschland unter den jetzigen Bedingungen
noch tun sollen. Das bedeutet weniger Arbeitsplätze in
den neuen Bundesländern. In diesem Zusammenhang
kann durchaus die Frage gestellt werden: Ist das vielleicht eine gewollte Aktion? Will die Gewerkschaft dadurch im Endeffekt den Aufbau von Arbeitsplätzen im
Joachim Günther ({5})
Osten verhindern, um ihren Einfluss im Westen konstant
zu halten?
({6})
Ich lehne diese Klientelpolitik auf dem Rücken des
Wirtschaftsstandortes Ost eindeutig ab, meine Damen
und Herren.
({7})
Es ist höchste Zeit, dass wir über diese Art von Arbeitskampfritualen nachdenken. Es ist höchste Zeit, dass wir
dem Osten eine faire Chance für die Entstehung von Arbeitsplätzen geben, damit nicht noch mehr Menschen
dieses Gebiet verlassen. Entsprechend lautet meine Aufforderung an die Bundesregierung - weil Sie gefragt haben -: Nehmen Sie Stellung, wie Sie Einfluss darauf
nehmen wollen, dass es zu keinem weiteren Abbau in
dieser Richtung kommt.
({8})
Deshalb wollen wir uns aus den starren Flächentarifverträgen verabschieden. Wir wollen den Beschäftigten
in den Betrieben mehr Spielraum geben. Wenn es gelingt, dass die Mehrheit in einem Betrieb für etwas eine
Entscheidung trifft, dann muss dies allgemein akzeptiert
werden. In diesem Sinne stehen wir hinter den Arbeitnehmern in Ostdeutschland und in diesem Sinne blockieren wir nicht den Aufbau Ost.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke,
eben ist zu Recht in den Vordergrund gestellt worden,
wie wichtig die Tarifautonomie der Gewerkschaften und
der Arbeitgeber ist. Daran führt kein Weg vorbei und
darüber brauchen wir hier auch nicht zu streiten.
Auf der anderen Seite muss es erlaubt sein und ist es
notwendig, dass sich dieses Parlament mit Fehlentwicklungen in diesem Bereich befasst. Deshalb halte ich die
heutige Aktuelle Stunde zu diesem Thema nicht unbedingt für falsch. Es ist aber ein völlig falscher Ansatz
- das kam eben ganz stark aus den Reihen der FDP, teilweise auch aus den Reihen der CDU/CSU -, die Gewerkschaften hier insgesamt zu attackieren. Dass man
Gewerkschaftsfunktionäre wie Herrn Peters wegen der
völlig falschen Linie, die er vertritt, brandmarkt, kann
ich nachvollziehen. Das sage ich als jemand, der seit
30 Jahren Mitglied der IG Metall ist. Aber Peters steht
nicht für die ganze IG Metall; dort gibt es auch Leute,
die andere Positionen vertreten.
({0})
- Wie gesagt, ich kritisiere Herrn Peters ganz offen,
deutlich und laut von dieser Stelle aus.
Man muss sich einmal klar machen - damit komme
ich zum Thema -, wie die Gesamtsituation in Deutschland im Moment aussieht. Wir sind in einer ganz schwierigen wirtschaftlichen Situation. Aber im Moment sieht
man einen Silberstreif am Horizont, und zwar aufgrund
verschiedener Anzeichen: Der Ifo-Geschäftsklimaindex
weist nach oben, der Leitzins hat mittlerweile ein historisches Tief erreicht, die Steuerreform wird vermutlich
vorgezogen, die Aktienkurse haben sich von ihrem Tiefstand wieder erholt, auch dort sieht es langsam wieder
besser aus. In dieser Situation einen solchen Streik zu inszenieren ist einfach falsch; das muss man offen sagen.
({1})
Das Ziel, das dabei verfolgt wird, nämlich die 35-Stunden-Woche, ist im Westen bereits 1984 durchgesetzt worden. Man muss sich einmal genau anschauen: Wozu hat
denn die 35-Stunden-Woche im Westen geführt? Für die
Facharbeiter hat sich dadurch nicht viel verändert. Das
Problem bestand darin, dass die gering qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt wurden.
({2})
Diese Gefahr besteht auch jetzt, wenn man die Linie verfolgt, die 35-Stunden-Woche im Osten einzuführen. Der
Standortvorteil, den der Osten heute noch hat, ginge dabei verloren; das ist nun einmal Fakt.
({3})
Wie soll man denn ein Unternehmen im Westen heute
noch motivieren, sich im Osten anzusiedeln, wenn auch
der letzte Vorteil wegfällt?
({4})
Der Osten hat ein Sonderproblem, nämlich die Produktpalette. Die Produktpaletten in vielen Betrieben im
Osten sind heute nicht mehr weltmarktfähig. Wir brauchen im Osten neue, innovative Betriebe. Aber innovative Betriebe müssen insbesondere im Bereich Forschung
und Entwicklung einiges zu bieten haben. Gerade Forschung und Entwicklung sind jedoch nun einmal ein so
genannter Engpassfaktor, der durch die Arbeitszeitverkürzung noch verstärkt würde. So kann es nicht gehen.
({5})
Man muss einmal ganz nüchtern die entsprechenden
Zahlen betrachten: Die gesamtwirtschaftliche Produktivitätslücke zwischen dem Westen und dem Osten beträgt
40 Prozent. Wenn sich die Gewerkschaften mit ihrer
Forderung durchsetzen würden, würde diese Lücke noch
größer werden.
Man muss die Dinge so sehen, wie sie sind: Die IGMetall-Forderung macht einfach keinen Sinn.
({6})
Mit Blick auf die Gesamtsituation muss man sagen, dass
es der falsche Zeitpunkt ist. Mit Blick auf den Osten
muss man sagen, dass es der falsche Ort ist. Angesichts
der Auswirkung auf den Westen kommt man ebenfalls
zu der Schlussfolgerung, dass diese Forderung völlig
falsch ist und keinen Sinn macht.
Wir brauchen die 35-Stunden-Woche im Osten genauso wenig wie ein Loch im Kopf.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich
kann dem Kollegen Ulrich in vielen Punkten nur beipflichten. Die IG Metall hat einen Streik vom Zaun gebrochen, der volkswirtschaftlich völlig sinnlos ist und
der vor allen Dingen den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland massiv schädigt und dort den Verlust von
Arbeitsplätzen bewirkt.
({0})
Wir von der Union halten es deshalb mehr mit den
Forderungen des Bundeswirtschaftsministers: Um die
Krise in Deutschland zu überwinden, ist es notwendig,
dass wieder mehr und nicht weniger in Deutschland gearbeitet wird.
({1})
Mehr arbeiten bedeutet natürlich Vollbeschäftigung.
({2})
- Darauf komme ich gleich noch, Frau Kollegin Wolff.
Ich möchte einmal zurückblicken. 1960 hatten wir unter Ludwig Erhard Vollbeschäftigung. Die Deutschen haben damals 90 Tage mehr gearbeitet. Dies ist ein Beleg
dafür, dass die 35-Stunden-Woche gescheitert ist; denn
wir werden bei 5 Millionen Arbeitslosen anlangen ({3})
so die Prognose der Bundesregierung für den Winter dieses Jahres. Wir müssen also zur Vernunft zurückkehren.
Der Streik, den die IG Metall vom Zaun gebrochen hat,
ist zu verurteilen.
Ich glaube, dass vor allen Dingen die IG Metall eine
große Doppelzüngigkeit an den Tag gelegt hat. Sie streitet für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland. Es gibt
angeblich eine Gerechtigkeitslücke, weil es im Westen
eine 35-Stunden-Woche und im Osten eine 38-StundenWoche in den Metall- und Elektrobetrieben gibt. Ich als
Niederbayer kann mich noch gut daran erinnern, wie unterschiedlich die Arbeitszeiten früher in der Bundesrepublik Deutschland waren. Wir haben über 30 Jahre gebraucht, bis Bayern den Anschluss an Westdeutschland
erreicht hatte. Es wird immer unterschiedliche Arbeitszeiten in Deutschland geben.
({4})
Ich betrachte es als Zynismus, wenn die Gewerkschaft vorgibt, sie würde für Gerechtigkeit streiten, sie
aber in Wirklichkeit für Arbeitsplätze im Westen und gegen Arbeitsplätze im Osten streitet. Heute wurde an die
Belegschaft des BMW-Werks in Dingolfing von der
IG Metall ein Flugblatt verteilt, in dem es unten ganz
plakativ heißt: „35-Stunden-Woche sichert 2 000 Arbeitsplätze bei BMW in Dingolfing“.
({5})
Die Begründung unter der Überschrift „Was haben wir
vom Arbeitskampf?“ lautet:
Immer mehr Unternehmen führen Vergleiche …
durch, um herauszufinden, wo am billigsten produziert werden kann. Wenn gleiche Arbeitsbedingungen bestehen, können Belegschaften an verschiedenen Standorten nicht mehr gegeneinander
ausgespielt werden.
({6})
Die Forderung der IG Metall ist sozusagen, keine Arbeitsplätze im Osten entstehen zu lassen, sondern alle an
bestehenden Standorten zu konzentrieren. Dies passt
nicht damit zusammen - die Gewerkschaften gehen ja
immer so großartig mit dem Wort „Solidarität“ um -,
dass man Solidarität üben und einen Beitrag für den Aufbau Ost leisten will. Das ist eine falsche Politik.
({7})
Wie der Streik von den Menschen in Deutschland bewertet wird, hat die IG Metall erfahren. Ich habe mich
erst heute mit Betriebsräten von BMW in Dingolfing,
die der Christlichen Gewerkschaft
({8})
angehören, unterhalten. Sie sagten, bei der IG Metall
würden die Austrittsscheine nur so gesammelt werden.
({9})
Darüber hinaus kommt die Position der Menschen auf
der Homepage der IG Metall zum Ausdruck.
Gestern wurde in der „Welt“ getitelt: „Gewerkschaftsdeppen ab nach Kuba.“
({10})
Dies zeigt sehr deutlich, wie sich die Bevölkerung und
vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen den Druck und die Bevormundung der Gewerkschaften gegenüber arbeitswilligen Menschen wehren. Dies muss für die Gewerkschaften ein Alarmzeichen
sein. Diese haben auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung und eine Verantwortung für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb sind sie aufgefordert, diesen nutzlosen Streik sofort abzubrechen
({11})
und darüber hinaus dafür zu sorgen, dass zukünftig wieder einheitliche Lebensverhältnisse in Deutschland geschaffen werden. Dafür steht unsere Politik. Deshalb
sind die Gewerkschaften aufgefordert, einen Beitrag zu
leisten und den Streik zu beenden.
({12})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer der Debatte zuhört, stellt fest, dass hier, politisch beabsichtigt, massiv geholzt wird.
({0})
Das ist legitim; das ist zulässig. Man kann Tarifauseinandersetzungen bewerten, wie man möchte. Es ist legitim, eine politische Bewertung der Tarifauseinandersetzungen vorzunehmen.
Ich will erstens festhalten: In der Debatte zuvor hat
der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSUFraktion erklärt: „Die Tarifautonomie hat Verfassungsrang.“ Er hat darüber hinaus erklärt: „Flächentarifverträge bleiben … das entscheidende Instrument einer …
Lohnfindung.“ Wer den Verfassungsrang der Tarifautonomie ernst nimmt, muss natürlich zur Kenntnis nehmen, dass zur Tarifautonomie zwei Tarifparteien gehören, dass diese Tarifparteien ihre Angelegenheiten
autonom bestimmen und aushandeln können
({1})
und dass es in diesem Land nach Art. 9 des Grundgesetzes im Rahmen der Tarifautonomie ein entwickeltes Arbeitskampfrecht gibt, für das ganz bewusst kein einziger
Satz gesetzlich fixiert worden ist. Es gibt ein Richterrecht, das sich entwickelt hat und bestimmte Regeln und
Bedingungen festhält. Dass dies so richtig ist, ist die ausdrückliche Haltung der Bundesregierung. Denn wir sind
der Auffassung, dass es zur Tarifautonomie keine Alternative gibt und sich die Tarifautonomie in diesem Lande
bewährt hat.
({2})
Zum Zweiten muss man festhalten: Wenn man sich
die Entwicklung der Tarifautonomie im Verlauf der Jahrzehnte anschaut, dann stellt man fest, dass wir bestimmten Bedingungen und Veränderungen unterworfen sind.
Auch in der Debatte zuvor haben manche Redner von
der Krise der Tarifautonomie gesprochen. Das kann sich
in vielerlei Dingen ausdrücken, zum Beispiel darin, wie
stark die Tarifbindung in bestimmten Bereichen ist, wie
viele Arbeitgeber auf der einen Seite überhaupt noch zu
Arbeitgeberverbänden gehören und welche Bindekraft
auf der anderen Seite Gewerkschaften haben, wie sich
Gewerkschaften organisieren können und ob Gewerkschaften überhaupt in der Lage sind, tarifliche Forderungen durchzusetzen. Das sind ganz wichtige Fragen, die
eine Rolle spielen, wenn hier Gewerkschaftsorganisationen kritisiert werden. All diese Fragen spielen eine
Rolle. Man muss sie sich, wie ich finde, sehr genau anschauen. Wer die Tarifautonomie will, wer die Tarifautonomie für richtig hält, der muss ein Interesse daran haben, dass es Tarifparteien gibt, die in der Lage sind,
etwas durchzusetzen, dass es Tarifparteien gibt, die auf
gleicher Augenhöhe miteinander umgehen können.
({3})
Wenn das nämlich nicht mehr gewährleistet ist, dann
setzt sich eine der beiden Tarifvertragsparteien durch
und die Tarifautonomie verkommt zur Farce.
Damit bin ich beim dritten Punkt - meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will dem überhaupt nicht
ausweichen; ich finde das völlig richtig -: Der Bundeskanzler hat am Rande des Gipfels in Thessaloniki erklärt, die Tarifparteien täten gut daran, sich lieber eine
Stunde früher als eine Stunde später zu einigen; denn die
ökonomische Entwicklung im Osten könnte Schaden
nehmen.
Die Haltung der Bundesregierung ist - ganz besonders in der gegenwärtigen ökonomischen Situation -,
dass jede Stunde, die der Streik länger dauert, schädlich
ist. Deswegen wäre es ganz wichtig, dass sich die Tarifvertragsparteien auf den Weg machen, zu Gesprächen
kommen und sich verständigen.
Damit sind wir bei einem Prinzip, das hier gerne unterschlagen wird - manchen nehme ich das gar nicht
übel; sie sind halt so gestrickt -: Ein Streik ist ein Mittel
in einer Tarifauseinandersetzung. Es ist völlig legitim,
dieses anzuwenden. Manche, die aus den neuen Bundesländern kommen, wissen, dass sie früher in einer Gesellschaftsordnung lebten, in der aus ganz bestimmten
Gründen Streik verpönt, ja sogar verboten war, und dass
die, die gestreikt haben, mit Gefängnis und politischer
Verfolgung bedroht wurden.
Das Streikrecht ist ein legitimes Mittel in unserem
Lande. Damit ein Streik beendet werden kann, muss man
zu einer Vereinbarung kommen, die voraussetzt, dass
sich zwei Tarifvertragsparteien auf den Weg machen.
({4})
- Sie können so viel dazwischenreden, wie Sie wollen.
Sie werden mich nicht daran hindern, das zu sagen, was
ich für richtig halte - damit Sie das genau wissen, Herr
Kollege.
({5})
Deswegen sage ich: Die Bundesregierung hat ein großes Interesse daran, dass es morgen bei den Gesprächen
zu einer Einigung kommt, die möglichst dazu führt, dass
der Streik so schnell wie möglich beendet werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit bin
ich bei einer weiteren Bewertung. Was Sie hier mit der
Beantragung dieser Aktuellen Stunde abziehen, ist eine
sehr offensichtliche Angelegenheit.
({6})
Dies ist insbesondere bei Herrn Brüderle als Redner von
der FDP zum Tragen gekommen, der sich echauffiert
und aufgeblasen hat und der Menschen in einer Art und
Weise beschimpft hat, die ich überhaupt nicht unterstützen kann.
({7})
Man kann sich sachlich politisch auseinander setzen; das
ist überhaupt keine Frage. Aber diese Art und Weise! Ich
habe schon gedacht: Man muss aufpassen; sonst bekommen Sie hier noch einen Schlaganfall. - So haben Sie
sich erregt, Herr Kollege Brüderle.
Beim Nachlesen Ihrer Rede, stößt man auf ein paar
Probleme, mit denen man sich in der Tat auseinander
setzen muss. Das finde ich völlig richtig. Sie haben dreimal das Beispiel gebracht, dass in der Automobilindustrie in Tschechien, bei Skoda, 3 Euro Stundenlohn gezahlt werden. Gut, Herr Brüderle, was lehrt uns das?
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus? Ich kann
Ihnen eine Schlussfolgerung nennen, die ich daraus
ziehe und die die Bundesregierung ziehen muss: Die
Standortvorteile, die es in manchen Regionen der Bundesrepublik Deutschland gibt, muss man nicht nur zwischen Ost und West abwägen.
Ich kann viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in den neuen Bundesländern verstehen, die darüber verbittert sind und das auch öffentlich vortragen, dass es
13 Jahre nach Herstellung der staatlichen Einheit in vielen Fragen noch Unterschiede gibt. Das kann ich verstehen und das muss man auch öffentlich aussprechen können.
({8})
Deswegen ist nicht alles Quatsch, was streikende Metaller erklären. Sie beziehen sich nämlich auf eine Vereinbarung zwischen den Arbeitgebern in der Metall- und
Elektroindustrie und der IG Metall, abgeschlossen am
14. Mai dieses Jahres, über Arbeitszeitverkürzungen in
Stufen zu verhandeln. Ich will Sie darauf aufmerksam
machen, dass es für die Stahlindustrie bereits eine solche
Arbeitszeitverkürzung gibt. Eine stufenweise Arbeitszeitverkürzung wurde zunächst bis zum Jahr 2009 verabredet. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass davon abgewichen werden kann, wenn die ökonomische Entwicklung
eine solche Arbeitszeitverkürzung nicht möglich macht.
Ich bitte Sie sehr herzlich, auch das zur Kenntnis zu nehmen.
Ich will aber meinen vorherigen Gedanken fortsetzen:
Selbstverständlich konkurriert ein bestimmter Industriebereich in den neuen Bundesländern
({9})
nicht nur mit den Bedingungen, die im Westen herrschen. Vor dem Hintergrund der Erweiterung der Europäischen Union gibt es auch einen Standortwettbewerb
mit den östlichen Beitrittsländern.
({10})
Das muss man im Auge behalten und damit muss man
sich auseinander setzen. Das bedeutet, dass man auf die
Andeutung von Herrn Brüderle bezüglich der 3 Euro
Stundenlohn reagieren muss. Man kann so etwas in den
Raum stellen; entscheidend ist aber, wie man darauf reagiert.
Ich will auf einen Punkt zu sprechen kommen, der
nicht neu ist. Ich kann mich daran erinnern, dass wir uns
vor zwei Jahren in einer Aktuellen Stunde - das können
Sie in den Parlamentsprotokollen nachlesen - zu den Tarifverträgen - Stichwort „5 000 mal 5 000“ - in Wolfsburg auseinandergesetzt haben. Damals haben Sie sich
über das Verhalten der IG Metall aufgeregt. Damals
durfte ich hier reden und habe auch über Tarifautonomie
gesprochen. Ich habe zum Ausdruck gebracht, dass ich
mir sehr sicher bin, dass die Tarifvertragsparteien zu einer Lösung kommen werden und es zu einem Tarifvertrag zu der Bedingung „5 000 mal 5 000“ kommt. Das
hat Sie aber nicht daran gehindert, das Thema aufzublasen und propagandistisch so zu nutzen, wie Sie das auch
heute hier wieder tun.
Meine politische Bewertung lautet wie folgt: Wer in
der jetzigen Situation, in der die Tarifvertragsparteien
angekündigt haben, miteinander zu reden, eine Aktuelle
Stunde in der Form nutzt, wie Sie das getan haben, der
zeigt, dass er nur ein Interesse daran hat, ordentlich Öl
ins Feuer zu gießen, und kein Interesse an einer vernünftigen Regelung zwischen den Tarifvertragsparteien hat.
({11})
Ich will einen letzten Gedanken hinzufügen: Wir haben in den letzten Wochen erlebt, dass in Frankreich, in
Österreich und in Italien große Streikbewegungen stattgefunden haben. Jeder, der sich die Entwicklung der
Streiktage in Deutschland im internationalen Vergleich
in den letzten zehn Jahren ansieht, der stellt fest, dass
wir dabei auf dem drittletzten Platz landen. Auch das beruhigt mich.
Ich fordere die Tarifvertragsparteien auf, morgen zu
einer Einigung zu kommen.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Luther,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Andres, Sie haben mir ein Stichwort geliefert: 13 Jahre nach der deutschen Einheit müssen endlich gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen in Ost und
West geschaffen werden. Das sei eine Sache der politischen Vernunft und Gerechtigkeit. Das sagte gestern in
einem Interview der designierte IG-Metall-Vorsitzende
Jürgen Peters.
Geht es wirklich darum, dass den so ungerecht behandelten Arbeitnehmern bei VW in Zwickau jetzt endlich
auch die 35-Stunden-Woche zugestanden werden muss?
Ist das die entscheidende Gerechtigkeitslücke, für die es
sich lohnt, ungeachtet der Folgen für den Wirtschaftsstandort neue Bundesländer, ungeachtet der Folgen für
den Wirtschaftsstandort Deutschland, ungeachtet der Folgen für die wichtigste Wirtschaftsbranche in Deutschland,
nämlich die Automobilindustrie, diese lahm zu legen? Ich
beantworte diese Fragen wie folgt - Herr Schulz, ich
komme auf das zurück, was Sie gesagt haben -: Die Gerechtigkeitslücke, die größte soziale Ungerechtigkeit
zwischen Ost- und Westdeutschland, ist die im Osten
doppelt so hohe Arbeitslosigkeit.
({0})
Man kann natürlich auf die Idee kommen, dass hinter
diesem Streik vielleicht das Bestreben steckt, durch die
35-Stunden-Woche mehr Arbeitsplätze in Deutschland
zu schaffen. Bringt die 35-Stunden-Woche mehr Arbeitsplätze? Ich will aus der „Süddeutschen Zeitung“
von gestern zitieren:
Aber was hat den Westdeutschen die 35-StundenWoche gebracht? Deutschland hat heute die kürzesten Arbeitszeiten und das niedrigste Wachstum in
der EU, die Beschäftigtenzahlen werden im internationalen Vergleich immer schlechter, die Arbeitslosigkeit wird sich im nächsten Winter der Marke von
fünf Millionen nähern.
Das kann es also auch nicht gewesen sein; denn die Erfahrungen mit der 35-Stunden-Woche in Deutschland
zeigen: Sie bringt nicht mehr Arbeit.
Ich denke, das weiß die Gewerkschaft. Deshalb halte
ich die Argumentation von Herrn Peters für vorgeschoben. Worum geht es dann? Lassen Sie mich noch einmal
aus einer Zeitung zitieren, dieses Mal aus der „Frankfurter Rundschau“, die wahrlich nicht als unionsnah bekannt ist. Sie bringt es auf den Punkt, indem sie sagt:
Der IG Metall kommt „der Streikzeitpunkt kurz vor einem Führungswechsel an der Gewerkschaftsspitze für
den künftigen Chef gerade richtig“.
({1})
Es geht also nicht um die Arbeitnehmer, sonst würde
man wesentlich stärker für mehr Arbeitsplätze in den
neuen Bundesländern streiten. Ich glaube, es geht hier
um die Profilierung einzelner Gewerkschaftsbosse.
({2})
Dieser Streik kommt zur Unzeit. Wir müssen die wirtschaftliche Lage in Deutschland und vor allem die katastrophale Lage der Wirtschaft in den neuen Bundesländern betrachten. Wir alle diskutieren hier im Deutschen
Bundestag darüber, dass wir mehr Reformen und Entlastungen bei den Lohnkosten brauchen, weil die Lohnkosten je Arbeitsstunde zu hoch sind. Für mich ist es ökonomisch nicht einzusehen, weshalb man die Arbeitszeit von
38 auf 35 Stunden pro Woche verringern muss. Was die
Menschen in den neuen Bundesländern brauchen - ich
rede nicht von 3 Euro -, sind auskömmliche Einkommen.
Ob man diese auskömmlichen Einkommen in 35, 38
oder 40 Stunden pro Woche verdient, ist möglicherweise
eine wichtige Frage; aber das ist in dieser Situation
zweitrangig und nebensächlich.
({3})
Die Lohnkosten und die Lohnnebenkosten müssen
absolut erarbeitet werden. Bei den Beiträgen zur Rentenund Krankenversicherung kommt es darauf an, dass sie
Woche für Woche erarbeitet werden. Bei einer längeren
wöchentlichen Arbeitszeit würden sich die Kosten besser verteilen und Deutschland bekäme wieder einen
Standortvorteil. Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir in
Deutschland Abschied nehmen von dem Holzweg zu
kürzerer Arbeitszeit. Wir müssen endlich wieder zurück
auf einen richtigen Weg, nämlich zu vernünftigen Arbeitszeiten in Deutschland. Das ist aus meiner Sicht ganz
bestimmt nicht die 35-Stunden-Woche.
({4})
Deshalb will ich an dieser Stelle ganz deutlich an die
Gewerkschaften appellieren: Kommen Sie wieder zur
Vernunft.
({5})
Kommen Sie zu vernünftigen Entscheidungen in Ihrer
Politik. Stellen Sie diesen Streik ein, bevor es zu spät ist.
Ich habe jetzt noch ein Zitat vorzutragen, das ich gestern in der „Welt“ gefunden habe:
Bis heute ist nicht vergessen, wie die britische Premierministerin Maggie Thatcher in den 70er-Jahren
dem hochmütigen Führer der Bergarbeitergewerkschaft, Scargill, die Stirn bot.
({6})
Nach wochenlangem Streik, während Frau Thatcher
hart blieb, gaben die Bergarbeiter auf. Damit wurde
die Wende zu einem neuen Aufbruch Großbritanniens eingeleitet.
Meine Damen und Herren, ich halte viel von Tarifautonomie und ich halte viel von starken Gewerkschaften.
Wenn aber die Gewerkschaft auf dem jetzigen Weg weiter geht, befürchte ich, dass auch wir zu einer englischen
Lösung kommen. Das will ich nicht. Deswegen fordere
ich die Gewerkschaft zur Vernunft auf.
Danke schön.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Schreck,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich gebe zu: Ich stehe hier heute mit einem gewissen Unbehagen. Das liegt nicht am Thema, zu dem ich wohl
eine Meinung habe, die ich auch sagen werde, sondern
das liegt am Ort. Ich bin wie einige meiner Vorredner der
Meinung, dass wir uns in diesem Hause aus aktuellen
Tarifauseinandersetzungen heraushalten sollten.
({0})
Das sage ich auch in Richtung meiner eigenen Partei und
in Richtung unseres Koalitionspartners.
Ich habe zu dem Thema einen ganz persönlichen Bezug. Als Abgeordneter aus dem Osten und als Betriebsrat der ersten Stunde habe ich schon vor der Wende Gewerkschaftsarbeit gemacht. Sie können sich vorstellen,
dass das nicht immer leicht war; denn wir hatten große
Probleme. Eines der Hauptprobleme, das mich am meisten gestört hat, war die ständige Einmischung der allgegenwärtigen und scheinbar allmächtigen Partei. Ich erinnere mich daran, dass wir zur Zeit der Wende Stunden
und Tage über das Streikrecht diskutiert haben. Zum
Glück haben wir jetzt andere politische Verhältnisse, wir
haben Freiheit und Demokratie. Wir haben heute große
Vorzüge. Ein ganz wichtiger Vorzug ist für mich die Tarifautonomie. Ich bin dafür, dass wir dieses Grundrecht
gemeinsam hochhalten, und fordere Sie auf, das zu unterstützen.
({1})
Zu meinen eigenen Erfahrungen beim Thema Tarifangleichung im Osten nur so viel: Ich bin Betriebsrat in einem großen europäischen Unternehmen. Der deutsche
Teil besteht aus vier Unternehmen - sie wachsen in dieser Zeit zusammen -, und wie der Teufel es will, kommen zwei aus dem Westen und zwei aus dem Osten. Wir
haben die Probleme, über die gegenwärtig diskutiert
wird, im eigenen Haus: Die Arbeitszeiten in den vier
Teilfirmen liegen zwischen 35 und 38 Stunden, nach wie
vor gibt es große Differenzen in der Bezahlung.
Aufgrund der kurz bemessenen Zeit möchte ich nur
zwei Stichworte nennen und kurz darauf eingehen.
Stichwort Produktivitätsunterschied zwischen Ost und
West. Gott sei Dank gibt es inzwischen Branchen, in denen die produktiveren Unternehmen im Osten stehen.
Diese Betriebe produzieren billiger, allerdings arbeiten
die Menschen mit höherer Arbeitszeit und geringerer
Bezahlung. Ich sage Ihnen: Es ist nicht einfach, darauf
Antworten zu finden, wenn man nach dem Warum gefragt wird.
Ich will in diesem Zusammenhang auf ein anderes
Phänomen hinweisen. In dieser Stadt sitzen Kolleginnen
und Kollegen aus Ost und West an einem Schreibtisch;
er müsste eigentlich ein Gefälle aufweisen, da es ein Tarifgefälle gibt. Der Kollege aus dem Westen verdient bei
kürzerer Arbeitszeit mehr als der Kollege aus dem Osten. Ich sage Ihnen: Das wird nicht so bleiben. Zudem
habe ich schon Verständnis für unsere Kollegen. Diese
Zustände, wie eben beschrieben, werden im Osten als
tiefe Ungerechtigkeit empfunden.
In Kürze, am 1. Juli, begehen wir einen sehr markanten Tag - Sie werden sich sicherlich erinnern -, den
13. Jahrestag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Ich bin der Auffassung, dass es unser gutes Recht
ist, über diese Themen auch auf der Ebene der Gewerkschaften zu debattieren.
({2})
Auch den Ost-West-Konflikt, den Sie mit Ihrer Diskussion hervorgerufen haben - darauf hat der Kollege Wend
schon hingewiesen -, empfinde ich genauso, ich will
dieses Thema aber nicht weiter ausführen.
Zum Stichwort Standortvorteil: Natürlich sind im Osten Bezahlung und Arbeitszeit wichtige Standortvorteile.
Aber wenn sie so wichtig sein sollen, wie hier immer gesagt wird, dann muss ich mich schon wundern, dass wir
im Osten, nachdem dieser Zustand so lange angehalten
hat, nicht mehr Betriebe und mehr Unternehmensansiedlungen aufweisen können.
Ich möchte mich in den Bereich der Kollegen der
IG Metall keinesfalls einmischen. Ihre Diskussion kann
ich verstehen. Ich weiß aber auch, dass andere Branchen
und andere Gewerkschaften einen anderen Stil pflegen.
Man kann sich seinen Sozialpartner aber nicht aussuchen. Ich bin aber auch der Auffassung, dass die Kollegen der IG Metall zum Beispiel beim Abschluss in der
Stahlindustrie verantwortlich gehandelt haben. Es ist
schon angesprochen worden: 2009 - also 19 Jahre nach
der deutschen Einheit - wird es, wenn es bis dahin keine
Zwischenfälle gibt, die gleiche Arbeitszeit geben. Ich
denke, das ist vernünftig.
Ich möchte meine Hoffnung aussprechen, dass das
heutige Spitzengespräch und die morgige Verhandlung
erfolgreich sein werden. Ich hoffe, dass wir am Wochenende eine entsprechende Lösung haben werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Argumente gegen den Streik, die auch heute in dieser Debatte vorgetragen wurden, will ich gleich ausräumen. Das erste Argument lautet, es sei die falsche Zeit.
Richtig ist: Ich habe von Arbeitgeberseite noch nie gehört, jetzt sei die richtige Zeit für einen Streik. Das wäre
auch schizophren.
({0})
Das zweite Argument lautet, der Streik vernichte Vorteile des Ostens. Richtig ist: In den neuen Bundesländern
wird für weniger Geld mehr gearbeitet als in den alten
Bundesländern. Die Arbeitslosigkeit ist dennoch immens höher.
({1})
Die Logik der Billiglohnpropheten stimmt auch hier
nicht. Es muss wohl noch andere Standortfaktoren geben, die einwirken.
Mich bewegen in dieser Debatte ganz andere Fragen.
Zum Beispiel: Die Forderung „gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ ist zwar uralt, aber mitnichten überholt.
({2})
Was also setzt die Streikenden vermeintlich ins Unrecht,
obwohl sie nichts anderes wollen als gleichen Lohn für
gleiche Arbeit?
Zweitens. Die Angleichung der Ostlöhne an die im
Westen üblichen ist ein erklärtes Ziel der rot-grünen Regierung. Warum wenden sich also auch Minister der rotgrünen Bundesregierung flugs gegen die Streikenden?
({3})
Drittens. Das Grundgesetz gilt für alle. In ihm wird
gefordert, dass alle gleich behandelt werden. Gilt dieses
Gebot für Ossis nicht?
({4})
Meines Erachtens ist der Oststreik auch ein Westproblem. Das gilt aber nicht so sehr, weil jetzt Zulieferketten reißen, sondern vielmehr, weil die gegenwärtigen
Ostmissstände künftig zur Westregel werden könnten.
Wir haben unter einem der vorangegangenen Tagesordnungspunkte gerade darüber debattiert. Auch der Parlamentarische Staatssekretär hat das nicht dementiert und
der Wirtschaftsminister schon gar nicht, weil er ja offensichtlich als soziale Abbrechstange berufen worden ist.
Er leistet zum Beispiel mit der Umsetzung der Hartz-Gesetze ganze Arbeit. Dann brauchen wir allerdings auch
solche Tarifauseinandersetzungen nicht mehr.
Ein letzter Punkt: Zeitgleich zum Streik und zu den
Auseinandersetzungen um diesen Streik gab es die Debatte um mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche und
um eine Ausbildungsplatzabgabe. In diesem Fall wollte
die Bundesregierung nicht Partei ergreifen. Sie meinte,
dass das die Tarifpartner klären sollten. Ich finde, das ist
scheinheilig; denn es gehört auch in diesen Konflikt hinein. Sie haben im Moment kein soziales und auch kein
demokratisches Profil, da Sie sich mit den aktuellen Fragen der Arbeitsmarktpolitik sowohl für Jugendliche als
auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht auseinander setzen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Manfred Grund, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehrere
Redner - zuletzt der Kollege Schreck, aber auch der
Kollege Andres - haben hier mit Verweis auf die Tarifautonomie die Frage gestellt, warum sich das Parlament
überhaupt mit Tarifauseinandersetzungen beschäftigt.
Das ginge uns doch eigentlich nichts an. Meine lieben
Freunde, ich glaube, es geht uns eine ganze Menge an,
weil die Politik im Zweifel für die Folgen verantwortlich
gemacht wird.
({0})
Im Zusammenhang damit, dass jemand für Tarifabschlüsse verantwortlich gemacht wird, erinnere ich an
den ersten Tarifabschluss in der ostdeutschen Wirtschaft
nach der Wende. Damals wurde in der Wirtschaft derselbe Tarif angenommen wie im öffentlichen Dienst. Das
hat dazu geführt, dass trotz der Arbeitsproduktivität von
nur ungefähr einem Drittel im Vergleich zum Westen ein
Lohnniveau von zwei Dritteln - also von 66 Prozent des Westniveaus erreicht wurde, wodurch in den neuen
Bundesländern massenhaft Arbeitsplätze verloren gegangen und uns die Probleme vor die Haustür gekehrt
worden sind. Wir sind also gut beraten, uns hier damit zu
beschäftigen.
({1})
Dieser Tarifabschluss 1990/91 war im Nachhinein
fast wie eine Verabredung von Politik, Gewerkschaften
und Wirtschaft gegen den Standort Ost. Die Politik - alle
mit eingeschlossen - wollte Wähler, die Gewerkschaften
wollten Mitglieder und die Wirtschaft West wollte keine
Konkurrenz im Osten. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns heute wieder.
Der Kollege Wend, Vorsitzender des Ausschusses für
Wirtschaft und Arbeit, hat in seiner bemerkenswerten
Rede von vorhin bezogen auf die Gewerkschaftsfunktionäre den Begriff der „suboptimalen Beweglichkeit“ geprägt. Er hat in Richtung der Opposition gesagt, dass sie
eigentlich das Geschäft der Ost-West-Spaltung betreibt.
Kollege Wend, dazu braucht es in diesem Haus nicht die
Opposition;
({2})
denn dazu hat schon das geführt, was Gewerkschaftsfunktionäre mit diesem unsäglichen Streik in Ost und
West herbeigeführt haben.
({3})
Vor einigen Tagen war in einer Münchener Abendzeitung zu lesen: Weil Ossis streiken, muss BMW kurzarbeiten. Meine Damen und Herren, ich möchte es hier
noch einmal festhalten: Es ist kein Streik der Ossis und
es ist erst recht kein Streik der Ossis gegen BMW. Die
Metaller im Osten sind nicht im Streik, sie werden bestreikt. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
({4})
- Das ist kein Unsinn, meine liebe Kollegin.
Man sieht das zum Beispiel vor den Werkstoren von
Federal-Mogul in Dresden. Von den 300 Beschäftigten
in diesem Betrieb sind ganze 25 vor den Toren. Am Dialekt - man hört ihn, wenn Interviews gegeben werden und an den Autokennzeichen aus Stuttgart, Schweinfurt
und Göttingen erkennt man, von wo die Leute herbeigekarrt worden sind, um die Betriebe zu bestreiken, in denen die eigenen Leute lieber arbeiten würden, als für
35 Stunden einzutreten.
({5})
Hier wird davon gesprochen, dass Streikende aus dem
Stuttgarter Raum vor den Toren stehen und damit einen
Zulieferer für ein Konkurrenzunternehmen in München
eine Zeit lang aus dem Markt herausnehmen; das ist pikant. Daran kann man erkennen, welche Auswirkungen
dieser Streik mit der herbeigerufenen Streikhilfe aus
Westdeutschland tatsächlich hat. Das kann es weiß Gott
nicht sein.
Man fragt sich: Warum wurde dieser Streik jetzt begonnen, vom Zaun gebrochen? Warum eskaliert er?
Wem nutzt er? Wer hat davon einen Vorteil? Nutzt er den
Beschäftigten der ostdeutschen Metallbranche,
({6})
die froh sind, einen Arbeitsplatz zu haben und
38 Stunden arbeiten zu können? Sie gehören nämlich
mit einem Arbeitsplatz in den neuen Bundesländern zu
den Privilegierten. Nutzt er dem Standort neue Bundesländer insgesamt,
({7})
wo wir um jeden Arbeitsplatz Klimmzüge machen, um
an Investitionen zu kommen? Oder, Herr Kollege Ulrich,
nutzt er möglicherweise dem designierten IG-MetallVorsitzenden Peters auf seinem Weg an die Gewerkschaftsspitze?
({8})
Ich glaube, solche Fragen beantworten sich eigentlich
selbst.
Ein weiterer Punkt. Der Kollege Luther hat erklärt:
Dieser Streik wird unter dem Thema Gerechtigkeitslücke geführt. Tatsächlich ist es so: Wir haben im Osten
Gerechtigkeitslücken. Dazu gehört an erster Stelle die
Arbeitsplatzlücke in Form der doppelt so hohen Arbeitslosigkeit. An zweiter Stelle steht die Ausbildungsplatzlücke. An dritter Stelle ist die Frage der Vermögensbildung zu nennen. Die Ostdeutschen sind nach 14 Jahren
immer noch weit davon entfernt, Vermögen als Altersvorsorge für später zu bilden. Dabei hat doch heute der
Bundesfinanzminister - ich habe diese Nachricht zumindest gelesen - beschlossen, den Rentnern im nächsten
Jahr eine Nullrunde zu verordnen. Man fragt sich: Wer
wird von dieser Nullrunde bei den Renten am stärksten
betroffen sein? - Das werden wohl die sein, die keine eigene Vorsorge haben treffen können. Dieser Streik wird
also zur Unzeit und am falschen Platz geführt.
Ich habe vorhin die Frage gestellt: Wem nutzt dieser
Streik? Dabei dürfen wir in dieser ganzen Diskussion eines nicht vergessen: In der unzweifelhaft wirtschaftlich
dramatischen Situation, in der sich Deutschland im Moment befindet, wird es zu einer Frage der Legitimation,
im Osten 38 Stunden zu arbeiten, was möglich ist, und
im Westen nur 35 Stunden. Wirtschaftsminister Clement
hat mit Verweis auf die Feiertage vorgeschlagen, man
solle versuchen, Probleme durch mehr Arbeit zu lösen.
Wir sind der Meinung: Die wirtschaftlichen Probleme in
Deutschland sind durch mehr und nicht durch weniger
Arbeit zu lösen.
({9})
Die Gewerkschaften verweisen bei der Gerechtigkeitsdiskussion immer wieder auf den Vergleich von Ost
und West. Hier ist auch vom Kollegen von der FDP darauf hingewiesen worden, dass das eigentliche Problem
im Osten liegt. Die Sonne geht zwar tatsächlich im Osten auf, aber 80 Kilometer von hier entfernt beginnt ein
ganz anderer Osten, wo die Sonne früher aufgeht. Dort
sind die tatsächlichen Herausforderungen für die Betriebe in den neuen Bundesländern. Auch das sollte von
der IG Metall bedacht werden.
Herr Kollege Grund, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
All die, die zum Streik aufgerufen haben, leisten dem
Osten einen Bärendienst. Lassen Sie davon ab!
Herzlichen Dank.
({0})
Letzte Rednerin dieser Debatte ist die Kollegin
Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Eine Frage, die mir immer und immer wieder
gestellt wird, wenn ich in meinem Wahlkreis in SachsenAnhalt unterwegs bin, ist: Wann kommt denn nun die
Angleichung des Ostens an den Westen?
({0})
Ich weiß nicht, ob die Kollegen von der Opposition aus
den neuen Bundesländern, die hier gesprochen haben,
andere Wahlkreise haben. Ich will nur sagen: Alle Menschen warten auf die Angleichung.
({1})
Zum Thema: Streik ist schlecht. Wenn man Menschen
nach ihrer Meinung fragt, dann ist diese ganz eindeutig:
Streik verhindert Produktion, Streik kostet viel Geld und
zieht oft Unbeteiligte in Mitleidenschaft, Streik verunsichert, reibt Nerven auf und entzweit, Streik schädigt momentan die Volkswirtschaft. All das ist richtig. Aber
richtig ist auch, dass Streik das allerletzte Mittel von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist, um nach unendlichen Versuchen der Konsensbildung ihren berechtigten Forderungen Ausdruck zu verleihen.
({2})
Nicht umsonst gibt es in Deutschland ein Streikrecht.
Glaubt irgendjemand hier im Hause, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern leicht fällt, gerade in dieser Arbeitsmarktsituation die Arbeit niederzulegen?
({3})
Ich finde es schon sehr überheblich und anmaßend, den
Streikenden in Ostdeutschland Leichtfertigkeit zu unterstellen.
({4})
Gewerkschaften erfüllen keinen Selbstzweck, sondern sie setzen sich für die Rechte der arbeitenden Bevölkerung ein.
({5})
Was war noch einmal die Forderung? Die Forderung
war: Angleichung der Arbeitszeit. Wann wurde dieses
Versprechen gegeben? Im Einigungsvertrag. Wir sind
heute im Jahr 14 nach der Wende. Wenn der sächsische
Wirtschaftsminister die gebotene Neutralität vermissen
lässt und sich in ganz plumper Weise auf die Seite der
Arbeitgeber schlägt, dann, finde ich, hat er seine Aufgabe weit verfehlt.
({6})
Viel wichtiger wäre es gewesen, dass er als Moderator
die Verhandlungspartner wieder an einen Tisch geholt
hätte. Deshalb gehört, auch wenn es hier nicht jedem gefällt, das Thema Arbeitszeit auf den Tisch. Nur durch
Wachstum allein werden wir die Arbeitslosigkeit in den
neuen Bundesländern nicht bekämpfen.
({7})
Jeder kann selber nachrechnen: Für Vollbeschäftigung in
den neuen Bundesländern brauchen wir ein Wachstum
von 50 Prozent, und zwar sofort.
Was kenne ich aus meinem Bundesland und auch aus
Niedersachsen? Arbeitszeitverkürzung hat Lehrern und
Erziehern Arbeitsplätze gerettet. Herr Hartz - das ist
vorhin auch schon einmal angesprochen worden - hat
zusammen mit der IG Metall durch Arbeitszeitverkürzung Zigtausende von Arbeitsplätzen gerettet. Das
wurde damals von allen gefeiert. Ist das heute nicht mehr
wahr?
({8})
Niedrigere Löhne, längere Arbeitszeit und EUHöchstfördergebiet sollen Standortvorteile für Ostdeutschland sein. Wenn das stimmen würde, hätten wir
nicht eine solche hohe Arbeitslosigkeit. Außerdem
müssten die Investoren noch heute Schlange stehen und
nicht in Frankfurt am Main oder München, wo alles sehr
viel teurer ist. Ostdeutschland ist als Dumpingsektor
nicht erfolgreich gewesen. Das hat sich nicht bewährt.
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle ermittelte, dass die Arbeitsproduktivität im Osten bei
90 Prozent liegt, die Arbeitskosten dagegen bei
73 Prozent. Das führt dazu - das ist auch schon einmal
gesagt worden -, dass die Lohnstückkosten in den neuen
Bundesländern circa 10 Prozent unter denen der alten
Bundesländer liegen, Tendenz fallend.
Wir alle beklagen die Abwanderung junger qualifizierter Menschen aus den neuen Bundesländern. Wie
aber wollen wir Perspektiven schaffen, wenn Unternehmen nicht einmal bereit sind, gleichen Lohn und gleiche
Arbeitszeit zu gewährleisten? Soll weiterhin die Devise
gelten: Abwanderung muss sich lohnen?
Zuletzt komme ich zum Gipfel der Infamie. Manche
Arbeitgeberfunktionäre und Politiker - das hat sich
heute auch in dieser Debatte gezeigt - versuchen, wieder
die Mauer in den Köpfen hochzuziehen. Die Streikenden
im Osten werden wegen des Stillstandes der Produktion
Waltraud Wolff ({9})
im Westen an den Pranger gestellt. Ich frage: Würde jemand diese Debatte hier führen, wenn es sich, wie mein
Kollege schon gesagt hat, um Hamburg, Dortmund oder
eine andere Stadt handeln würde?
({10})
Ganz sicher wäre diese Debatte nicht begonnen worden.
({11})
Es liegt auch nicht in der Verantwortung der Arbeitnehmer, dass die Wirtschaft immer enger verflochten ist.
„Just in time“ ist der Ausdruck der Rationalisierung und
Kostensenkung als unternehmerischer Strategie. Das
weiß doch jeder. Auch die Sachsen, die eigentlich die
Einigung blockieren und die IG Metall an dieser Stelle
vorführen wollen, sollten sich das einmal durch den
Kopf gehen lassen. Sie beklagen selbst das, was sie geschaffen haben. Mit dieser neuen Ost-West-Spaltung
agieren solche Arbeitgeber aus meiner Sicht politisch
sehr gefährlich.
Morgen werden die Verhandlungen auf Initiative der
IG Metall fortgesetzt. Ich wünsche mir von Herzen, dass
sie zu einer guten Einigung kommen, dass sie es schaffen, eine stufenweise Angleichung in dieser Frage zu bekommen.
Herzlichen Dank.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatzpunkt 10 auf:
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Griefahn, Eckhardt Barthel ({0}), Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Antje Vollmer, Claudia Roth ({1}),
Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
50 Jahre Deutsche Welle - Zukunft und Modernisierung des Deutschen Auslandsrundfunks
- Drucksache 15/1214 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Neumann ({4}), Günter Nooke, Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
50 Jahre Deutsche Welle - Perspektiven für
die Zukunft
- Drucksache 15/1208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der sehr
intensiven Debatte in der Aktuellen Stunde haben wir
jetzt ein schönes Thema zu diskutieren: Am 3. Mai
jährte sich die Gründung der Deutschen Welle zum
50. Mal. Morgen werden wir dieses Ereignis gemeinsam
mit Bundespräsident Rau in Bonn feiern.
In diesen Tagen wird viel über die Deutsche Welle berichtet, die sonst in der Öffentlichkeit ein eher unbeachtetes Dasein fristet.
({0})
Wir sind uns nach Jahren der Diskussion in diesem
Hause weitgehend einig, wie das Deutsche-Welle-Gesetz
novelliert werden muss.
Heute steht die Deutsche Welle als Auslandsrundfunksender vor neuen Herausforderungen. Mit dem Umzug in das neue Funkhaus in Bonn, das wir morgen
einweihen dürfen, ist die Deutsche Welle dabei, in technischer Hinsicht zum modernsten Sender Europas zu
werden. Beides zusammengenommen hebt die Deutsche
Welle aus der deutschen Rundfunklandschaft heraus.
Gleichzeitig bedarf der Sender der Neuregulierung, die
wir nach der Sommerpause gemeinsam angehen werden.
Ich möchte der Deutschen Welle heute für die in den
vergangenen 50 Jahren geleistete Arbeit danken. Sie hat
in dieser Zeit sehr viel dazu beigetragen, das Bild
Deutschlands im Ausland positiv zu prägen.
Die Arbeit des jetzigen Intendanten und seiner Vorgänger sowie aller seiner 1 500 Mitarbeiter weltweit
trägt täglich dazu bei, die Menschen in über 60 Ländern
zu verschiedenen Zeiten in rund 30 verschiedenen Sprachen mit Informationen aus und über Deutschland zu
versorgen und vielfach auch dafür zu sorgen, dass die
Menschen etwas über ihre eigene Region erfahren.
So hilft die Deutsche Welle in Afghanistan, einen
Fernsehsender aufzubauen. Im Kosovo wurden Familien
zusammengeführt. Auch wird durch die Programme der
Deutschen Welle die Informationsfreiheit in vielen
Ländern gewahrt. Die Deutsche Welle wendet sich an
Menschen in aller Welt, die Interesse an Deutschland
und Europa - ich glaube, das ist heutzutage besonders
wichtig - haben, wie auch an Multiplikatoren und die so
genannten Infoeliten.
Für Deutsche, die zeitweise oder auf Dauer im Ausland leben, ist die Deutsche Welle eine Brücke zur Heimat geworden. Das zunächst in den USA als Pay-TV
neu gestartete German TV wird demnächst über Kabel in
verschiedenen Regionen der USA ausgestrahlt, damit
noch mehr Menschen erreicht werden. Des Weiteren
wird zurzeit erprobt, auch Kanada zu erreichen.
1953 startete die Deutsche Welle mit den guten Wünschen von Theodor Heuss, zur Entkrampfung der deutschen Außenbeziehungen beizutragen. Dies ist gelungen. Seit 1959 tragen arabische Radioprogramme zur
Erfüllung dieses Wunsches bei. In den 60er-Jahren
wurde das Angebot um mehr als 20 Sprachen erweitert.
Seit 1966 hat die Deutsche Welle 17 000 Rundfunkfachkräfte aus Entwicklungsländern und Osteuropa ausgebildet, die heute zum Teil als Botschafter, Intendanten
oder Minister in ihren Heimatländern arbeiten. Insofern
hat die Deutsche Welle einen bedeutenden Beitrag zur
Meinungsvielfalt geleistet.
Zwei Drittel der Menschheit leben in autoritär oder
totalitär regierten Staaten, in denen die fehlende Meinungsfreiheit den Informationszugang erschwert. Diese
Menschen können sich durch die Deutsche Welle intensiv informieren.
Während der Regierungskrisen in der Tschechoslowakei und in Griechenland 1968 und 1969 hat die Deutsche
Welle ihre erste Bewährungsprobe als Krisenrundfunk
bestanden, was bis heute den guten Ruf des Senders als
freies Informationsmedium in Krisen und Konflikten begründet und seine Fortsetzung in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien ebenso wie derzeit in Afghanistan gefunden hat.
Sie ist als einziger Fernsehsender mit dem Wiederaufbau des afghanischen Fernsehens beauftragt. Darüber hinaus produziert die Deutsche Welle eine tägliche
Nachrichtensendung in den Landessprachen Dari und
Paschtu für Kabul, Kandahar und Djalalabad und andere
afghanische Regionen sowie ein Programmfenster in
arabisch für die arabischen Staaten.
Begeistert hat mich das neue Projekt „100 Klassenzimmer für Afghanistan“, mit dem über das Internet
Spenden gesammelt werden, um konkrete Ausbildungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler in Afghanistan zu schaffen. Das zeigt, wie das neue Medium Internet praktische Hilfe vor Ort leisten kann.
({1})
Zwar gab und gibt es immer wieder Debatten über
Sinn und Unsinn der Deutschen Welle im Ausland, über
ihre Programme und Zielgruppen. Solche Debatten sind
aber notwendig; denn ohne sie kann die Deutsche Welle
nicht das leisten, was sie leisten soll. In den letzten Jahren hat sie sich zu einem modernen Sender entwickelt,
der in der so genannten medialen Außenrepräsentanz der
Bundesrepublik eine entscheidende Rolle spielt. Dieser
Begriff besagt allerdings nicht allzu viel. Es geht nun darum, der Deutschen Welle eine zeitgemäße Basis zu
geben, die den Herausforderungen der internationalen
Politik und vor allen Dingen der internationalen Kulturbeziehungen gerecht werden kann. Vor allem der
Programmauftrag im Deutsche-Welle-Gesetz muss darauf ausgerichtet und entsprechend konkretisiert werden.
Wir brauchen auch bei der Deutschen Welle das, was
wir in der allgemeinen auswärtigen Kulturpolitik als Ziel
verankert haben: eine Zweibahnstraße mit Fernsehen,
Hörfunk und Internet, das das ideale Medium für den
Dialog zwischen Deutschland und den anderen Ländern
ist. Allein durch die Kooperation mit anderen europäischen Auslandssendern hat die Deutsche Welle bereits
gezeigt, dass sie dafür gerüstet ist. So wird sie heute zusammen mit Radio France International in Paris mit dem
Deutsch-Französischen Journalistenpreis 2003 in
der Kategorie Hörfunk für die Produktion einer CD
zum 40-jährigen Jubiläum des Élysée-Vertrags ausgezeichnet. Dazu kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch!
({2})
Die deutsche Sprache bleibt für die Deutsche Welle
das wichtigste Verständigungsmittel. Auch das ist wichtig zu wissen. Die Kooperation mit dem Goethe-Institut
zur Entwicklung und Verbreitung von Deutschkursen
über das Internet ist ein anderes Beispiel für erfolgreiche
Zusammenarbeit, mit der diejenigen Menschen erreicht
werden, die vor Ort kein Goethe-Institut, keine deutsche
Schule oder eine andere deutsche Einrichtung haben.
Das sind Bausteine, die helfen, dass die Deutsche Welle
nicht mehr nur ein reiner Nachrichtensender ist, sondern
dass sie auch - im Austausch mit den Hörern, Zuschauern und Onlinenutzern - ein Forum des Dialogs in und
über Deutschland ist, eine Vermittlerin für Wirtschaft,
Politik, Kultur und Wissenschaft. So erfahren wir die
Ansichten der anderen und können gleichzeitig im Dialog unsere Sichtweisen mitteilen und darstellen. So stelle
ich mir einen modernen Auslandsrundfunk vor, der eben
nicht mehr ein reines Transportmittel für „deutsche Auffassungen zu wichtigen Fragen“ - so ist es in § 4 des
Deutsche-Welle-Gesetzes noch beschrieben - ist. Die
globale Präsenz der Deutschen Welle trägt dazu bei,
kulturelle Brücken zwischen Deutschland und der Welt
zu bauen. Auch das müssen wir nach der Sommerpause
in dem neuen Gesetz verankern.
({3})
Unkenntnis ist immer ein Grund für Vorurteile, Hass
und Intoleranz und macht Verständigung unmöglich. Wir
brauchen aber die geistig-kulturelle Verständigung und
den Austausch. Das hilft nämlich auch beim wirtschaftlichen Handeln. Wenn das Bild Deutschlands nicht von
der Vergangenheit, sondern von dem, was heute passiert,
bestimmt ist, dann haben wir die Chance, ein zeitgemäßes, der Lebenswirklichkeit nahe kommendes Image zu
etablieren. Ich glaube, dass das sehr wichtig ist; denn in
vielen Ländern, die man heutzutage als Deutscher besucht, wird man gefragt, ob es denn noch Hitler gebe.
Selbst in uns nahe stehenden Ländern wie den USA oder
Frankreich ist das Bild und das Wissen übereinander
manchmal erschreckend lückenhaft, wie eine gerade erschienene Studie des Deutsch-Französischen Jugendwerks wieder zeigt. Zwar haben seit 1963 circa 7 Millionen Jugendliche am deutsch-französischen Jugendaustausch teilgenommen. Trotzdem haben sie noch immer
Vorurteile übereinander, auch wenn sie die Beziehungen
zwischen Frankreich und Deutschland als gut bis sehr
gut einschätzen. Ihr Wissen ist zum Teil sehr stark von
Stereotypen geprägt, wie „Baguette“, „Eiffelturm“ und
„Käse“ auf deutscher Seite und „Zweiter Weltkrieg“,
„deutsche Automarken“ und „deutsche Küche“ auf französischer Seite. Hier ist noch viel zu tun. Deswegen darf
der Dialog nie aufhören.
({4})
Vor diesem Hintergrund ist auch die Zielgruppenorientierung sehr bedeutsam. Das Internet ist gerade für
Jugendliche ein wichtiges Medium. Die Präsenz der
Deutschen Welle in den Telemedien ist entscheidend,
wenn es darum geht, Multiplikatoren zu gewinnen und
- das gilt besonders für den Jugendbereich - den Dialog
über Deutschland zu führen. Mit Radio und Fernsehen
alleine lässt sich das nicht erreichen.
Der krisenpräventive Bereich ist ebenfalls sehr wichtig. Wir haben immer zeigen können, dass die Deutsche
Welle ein ehrlicher Makler ist. Das wollen wir mit der
Internetpräsenz noch verstärken. Dafür ist es aber auch
notwendig, eine enge Zusammenarbeit mit den Verfassungsorganen zu organisieren. Bisher stellte die Zuleitung der jährlichen Aufgabenplanung an den Bundestag
quasi Anfangs- und Endpunkt der Zusammenarbeit dar.
Die Formalien waren eingehalten.
Wir wollen zukünftig einem transparenten Prozess,
der es der Deutschen Welle in einer Art Selbstevaluation
ermöglicht, in Konsultationen mit dem Bundestag, mit
der Bundesregierung und mit der Öffentlichkeit über
Zielgruppen, Aufgabenplanung, Sendegebiete und Vertriebswege zunächst selbst zu bestimmen und dann in
einem offenen Prozess zu justieren. Das Parlament
bekommt somit die Möglichkeit, sich mit der Arbeit der
Deutschen Welle intensiver als bisher auseinander zu
setzen, sich in diesen Prozess einzuklinken und darüber
zu diskutieren, wo die Schwerpunkte der Zukunft liegen.
Sicherlich muss auch das im Gesetz geregelt werden.
({5})
Die Deutsche Welle soll sich weiterhin bei der Verbreitung von Sprachkursen engagieren. Wichtig ist außerdem, dass sie mittelfristig Planungssicherheit bekommt. Das Parlament will ihre Arbeit weiterhin
wohlwollend begleiten. Dafür muss aber ein Dialog mit
dem Parlament vorhanden sein. Die Vermittlung von
Demokratie und Menschenrechten und ihre praktische
Umsetzung in der täglichen medialen Arbeit sind eben
ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen die technischen
Entwicklungen genau beachten und in die Arbeit einbeziehen. Wir müssen auch im Auge behalten, wie sich
insbesondere vor dem Hintergrund der Konvergenz der
technischen Medien das interaktive Fernsehen entwickelt. Für alle diese Entwicklungen brauchen wir einen
modernen, leistungsfähigen Auslandsrundfunk.
Ich glaube, dass beide hier vorgelegten Anträge und
das Gesetz, das wir in der zweiten Jahreshälfte hoffentlich gemeinsam auf den Weg bringen, eine gute Grundlage sind. Ich wünsche der Deutschen Welle alles Gute,
viel Erfolg für die Zukunft und eine gute Zusammenarbeit mit diesem Parlament zum Wohle unserer Auslandsrepräsentation.
({6})
Nächster Redner ist der Abgeordnete Bernd
Neumann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre
Deutsche Welle, bei einem solchen Jahrestag steht logischerweise eher das Geburtstagskind, also die Deutsche
Welle, und nicht der politische Gegner im Mittelpunkt.
({0})
- Vorsichtig! - Dennoch werden sich auch bei diesem
Thema einige Anmerkungen zur Verantwortung von
Rot-Grün nicht vermeiden lassen. An sich ist es angenehmer, Geburtstagsreden auf Empfängen zu halten;
denn da sind einfach mehr Menschen, die zuhören.
({1})
Ich danke Ihnen allen sehr herzlich, dass Sie hier sind,
obwohl dieser Empfang nicht mit einem Buffet verbunden ist.
({2})
Zum Geburtstagskind: Herzlichen Glückwunsch den
1 500 Mitarbeitern der Deutschen Welle und ihrem Intendanten Erik Bettermann! Die Deutsche Welle ist mit
30 Hörfunkprogrammen in 30 Sprachen, die weltweit
empfangen werden können, sowie mit dem seit 1992
hinzugekommenen Fernsehprogramm, das dreisprachig
- ebenfalls weltweit - ausgestrahlt wird, der entscheidende Faktor außenmedialer Repräsentanz der Bundesrepublik Deutschland. Man schätzt, dass die Deutsche
Welle weltweit etwa 30 Millionen Menschen über Hörfunk und 25 Millionen Menschen über das Fernsehen erreicht. Diesen Menschen wird ein umfassendes Bild
Deutschlands vermittelt. Die Deutsche Welle ist deshalb
ein unverzichtbarer Eckpfeiler im Rahmen auswärtiger
Kulturpolitik.
Ich habe noch Verständnis dafür, dass die zuständige
Ministerin, die Staatsministerin im Kanzleramt für die
Bernd Neumann ({3})
Angelegenheiten der Kultur und Medien, heute nicht auf
der Regierungsbank sitzt, weil sie sich mit den Ministerpräsidenten trifft, um über ein vergleichbares Thema zu
sprechen. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis
dafür - die Deutsche Welle ist ein wichtiger Faktor der
auswärtigen Kulturpolitik -, dass noch nicht einmal ein
Staatssekretär aus diesem Ressort - Herrn Fischer habe
ich ohnehin nicht erwartet; er versteht davon auch zu
wenig - hier anwesend ist. So missachten Sie den
50-jährigen Geburtstag einer Rundfunkeinrichtung, die
sie selbst finanzieren. Ich finde, das ist unmöglich.
({4})
50 Jahre Deutsche Welle, das ist ein Grund, einmal
die Leistungen der Vergangenheit herauszustellen; es ist
aber natürlich auch Anlass, lieber Kollege Marschewski,
nicht über Ihre, sondern über die Zukunft der Deutschen
Welle nachzudenken.
({5})
Die gravierenden politischen und kulturellen Veränderungen und Umbrüche in Europa und in vielen Teilen
der Welt, auch die Veränderungen im Bereich der Kommunikationstechnologie, stellen die Deutsche Welle vor
neue Herausforderungen und Aufgaben, die eine Novellierung des Deutsche-Welle-Gesetzes unverzichtbar
machen. Umso mehr bedauern wir, verehrte Kollegin
Griefahn, dass die in der Koalitionsvereinbarung von
1998 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angekündigte und von der Bundesregierung mehrfach zugesagte
Neugestaltung des deutschen Auslandsrundfunks bis
heute nicht erfolgt ist. Seit fünf Jahren versprochen bisher nicht vorgelegt. Das ist kein gutes Zeichen zum
50. Geburtstag.
({6})
Wir haben in dem vorliegenden Antrag unsere Positionen zur Zielsetzung der Novellierung klar gemacht.
Lassen Sie mich einige Anmerkungen dazu machen:
Die Hauptzielsetzung des Auslandsrundfunks muss
die Vermittlung eines umfassenden Bildes des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in
Deutschland mittels Hörfunk, Fernsehen und neuerdings
natürlich auch Internet sein und bleiben. Nichts gegen
den Dialog der Kulturen - er gehört dazu -, aber er ist
nicht prioritär; prioritär ist die Vermittlung eines Bildes
von Deutschland in der Welt.
({7})
In Ländern ohne oder mit eingeschränkter Informationsfreiheit kann die Deutsche Welle als Stimme der
Freiheit eine zusätzliche wichtige Aufgabe wahrnehmen.
In diesem Zusammenhang kommt der Deutschen Welle
nämlich die wichtige Aufgabe zu, gerade nach dem Ende
des Kalten Krieges Programme in die Länder Ost- und
Südosteuropas auszustrahlen. Weder in Russland noch in
der Ukraine oder gar in Weißrussland herrscht Pressefreiheit, wie wir sie im Westen Europas kennen. In der
Regel sind die elektronischen Medien in den meisten
GUS-Republiken staatlich gelenkt. Folglich sind die
Menschen in diesem für Deutschland wichtigen Teil
Europas auf die Programme der Deutschen Welle oder
anderer westlicher Auslandssender angewiesen, wenn
sie beispielsweise mehr über den wahren Verlauf des
Krieges in Tschetschenien, die Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten oder auch die deutsche Position
zum Beispiel in der so genannten Beutekunstfrage erfahren wollen.
Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union
werden die Länder Ukraine, Weißrussland oder auch das
Gebiet Kaliningrad an die EU grenzen. Deshalb fördert
das russisch- und das ukrainischsprachige Hörfunkprogramm der Deutschen Welle den Demokratisierungsprozess. Mit diesen Programmangeboten leistet die Deutsche Welle einen wichtigen Beitrag zur Integration des
Europas der 25.
Ausdrücklich begrüßen möchte ich das Engagement
des deutschen Auslandssenders in den zentralasiatischen
GUS-Ländern, in denen, wie Sie wissen, die Pressefreiheit unterdrückt wird, ehemalige sowjetische KP-Funktionäre die Macht in den Händen haben und islamistische Gruppierungen Zulauf erhalten.
Es war richtig, dass die Deutsche Welle gleich nach
den Ereignissen des 11. September 2001 Programme für
die 60 Millionen Menschen in den zentralasiatischen
GUS-Staaten eingerichtet hat. Dieses Programm erreicht
die Multiplikatoren in dieser Region und gilt bei allen
Hörern als seriöse Informationsquelle. Bei Krisen und
Konflikten in anderen Ländern - Frau Griefahn hat das
angesprochen - sollte in einzelnen, politisch begründeten Fällen die Deutsche Welle als Krisenpräventionssender wirken. Das geht sicherlich nicht überall; denn
dazu haben wir zu viele Krisengebiete. Frau Kollegin
Griefahn, dass sich die Deutsche Welle in Afghanistan
engagiert, ist aber zu loben.
({8})
Beim künftigen Auftrag der Deutschen Welle, den wir
neu formulieren wollen, müssen die Förderung der deutschen Sprache und ihre Bedeutung als Vermittlungsinstrument im Hörfunk- und Fernsehprogramm im Gesetz
unmissverständlich verankert werden.
({9})
Ich sage dies deshalb, weil in einem Nida-Rümelin-Papier - Nida-Rümelin war der frühere BKM - im Jahr
2002 entgegengesetzte Zielsetzungen formuliert waren.
Man hatte vorgesehen, das deutschsprachige Programm
zu reduzieren. Das ist inakzeptabel. Der umgekehrte
Weg ist der richtige.
Ein ganz wichtiger Punkt ist die Staatsunabhängigkeit der Rundfunkanstalt Deutsche Welle. Diese muss
auch in Zukunft gewährleistet sein. Die Deutsche Welle
hat zwar einen gesetzlich definierten Auftrag im Dienste
der Bundesrepublik Deutschland zu erfüllen. Sie ist aber
als Mitglied der ARD eine Rundfunkanstalt, bei der der
Staatseinfluss den verfassungsrechtlichen Kriterien genügen muss. Hiermit meine ich die Rundfunkfreiheit,
wie sie in Art. 5 Grundgesetz normiert ist. Auch wenn
Bernd Neumann ({10})
die Deutsche Welle aus dem Bundeshaushalt finanziert
wird, muss die Staatsferne ihres Programms gewährleistet sein. Aussagen wie jene aus einem Papier des früheren BKM - der heutige ist leider nicht vertreten - vom
September 2000, in denen die Meinung vertreten wird,
die Deutsche Welle habe „politische Überzeugungsarbeit
zu leisten“ und die Programmangebote müssten sich an
„politischen Leitentscheidungen ausrichten“, sind völlig
abwegig.
({11})
- Es ist ja schön, dass das Schnee von gestern ist. Das
ändert aber nichts daran, dass einer Ihrer Staatsminister
so gedacht hat. Allein der Gedanke ist abwegig. Sie sollten solche Gedanken gar nicht äußern.
({12})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da einige von Ihnen gleich noch reden werden, muss jetzt nicht alles
gleichzeitig vorgetragen werden.
Die Wahrheit ist manchmal unangenehm; sie darf
aber nicht verschwiegen werden. Deshalb ist die Deutsche Welle in vielen Ländern vertreten.
Natürlich muss das Parlament im Deutsche-WelleGesetz den Rahmen, wenn auch weit gefasst, für den
Programmauftrag festlegen. Die geplante Selbstevaluation der Ziele und Aufgaben der Deutschen Welle sollte
selbstverständlich in regelmäßigen Abständen in Konsultation mit dem Bundestag und der Bundesregierung
stattfinden; aber Eingriffe in die Programmverantwortung und Einflussnahme auf das Programm seitens der
Politik sind unzulässig. Um dies sicherzustellen, treten
wir in Abstimmung mit unseren Haushaltspolitikern dafür ein, dass die Finanzierungshöhe wie bei den Landesrundfunkanstalten von einer unabhängigen Kommission
ermittelt wird. Das Ergebnis kann dann dem Parlament
als Anhaltspunkt für seine Beschlussfassung dienen.
({0})
Um die Unabhängigkeit des Auslandsrundfunks von
aktuellen politischen Lagen sicherzustellen, muss wie
bei den Landesrundfunkanstalten eine mittelfristige, das
heißt mehrjährige, Finanz- und Planungssicherheit gewährleistet sein. Ohne Finanz- und Planungssicherheit
kann man eine Rundfunkanstalt im Grunde genommen
nicht führen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu missbilligen - ich kann es Ihnen nicht ersparen -, dass unter
Ihrer Verantwortung, also unter der Verantwortung der
rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen, in den letzten Jahren bei der Deutschen Welle
ohne jedwedes Konzept und ohne Aufgabenkritik ein finanzieller Kahlschlag erfolgt ist, und zwar von 1999 bis
2003 in einer Größenordnung von insgesamt mehr als
135 Millionen Euro. Dieses Vorgehen passt nicht zu Ihren schönen Worten zum 50. Jahrestag der Gründung der
Deutschen Welle.
({1})
Ich komme zum Schluss. Um deutlich zu machen,
dass die Deutsche Welle nicht der verlängerte Arm der
jeweiligen Parlamentsmehrheit ist, wäre es wünschenswert, dass die gravierenden Veränderungen am Deutsche-Welle-Gesetz, die jetzt bevorstehen, von einer breiten Mehrheit getragen werden. Das war in der
Vergangenheit so; so sollte es aus unserer Sicht auch
bleiben. Dies setzt allerdings voraus, dass im Hinblick
auf die von mir dargestellten Essentials ein Konsens erreicht wird. Bei den Verantwortlichen bei der Deutschen
Welle selbst ist er vorhanden. Das Eckpunktepapier vom
BKM geht in dieselbe Richtung. Daher bin ich optimistisch - Sie haben es zum Schluss auch zum Ausdruck
gebracht, verehrte Frau Kollegin Griefahn -, dass wir die
Deutsche Welle durch eine Entscheidung in einem großen gemeinsamen Konsens unter veränderten Bedingungen noch zukunftsfähiger machen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Antje Vollmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geburtstagsreden im Parlament sind immer leicht problematisch. Man ist in der Gefahr, sich erstens zu wiederholen und zweitens, wie Herr Kollege Neumann eben
bewiesen hat, sie parteipolitisch zu missbrauchen und
damit der Geburtstagsrede einen Tort anzutun. Ich werde
versuchen, beides zu vermeiden.
Auch ich übermittle natürlich herzliche Glückwünsche. Morgen wird die erste Sendung der Deutschen
Welle aus dem Schürmannbau in Bonn gesendet - auferstanden aus den Fluten. Fast genau vor 50 Jahren lief die
erste Sendung der Deutschen Welle. Vieles hat sich seit
dieser Zeit verändert: Die Sendungen richten sich nicht
mehr nur an die lieben Landsleute in aller Welt, wie
Theodor Heuss sich damals ausdrückte. Sehr bald stellte
sich heraus, dass auch in anderen Sprachen über
Deutschland informiert werden kann. Das Fernsehen
kam hinzu, ebenso das Internet als drittes wesentliches
Standbein. Mittlerweile sendet die Deutsche Welle in
30 Sprachen über das Radio sowie in drei Sprachen im
Fernsehen und ist in 31 Sprachen im Internet vertreten.
Die Deutsche Welle ist ein modernes, international agierendes Unternehmen geworden.
Pünktlich zum Geburtstag beschäftigt sich nun auch
das Parlament mit diesem Sender. Alle Beteiligten wissen, dass wir noch im Herbst das Gesetz über die Deutsche Welle gründlich reformieren und in diesem Zusammenhang auch über Detailfragen reden wollen, die wir
heute nur anreißen können. Natürlich muss sich das Parlament mit der Deutschen Welle beschäftigen; denn immerhin macht das Budget der Deutschen Welle von in
diesem Jahr 277 Millionen Euro ungefähr ein Drittel des
gesamten Kulturhaushalts des Bundes aus. Das ist ein erheblicher Batzen, den man nicht kleinreden sollte, zumal
in heutigen Zeiten.
({0})
- Wir leisten uns damit auch etwas. Aber nicht nur aus
diesem Grunde beschäftigen sich die Parlamentarier damit, sondern auch, weil sie eine wichtige mediale Visitenkarte für die Bundesrepublik ist.
Damit nicht nur Schönes und Gutes gesagt wird,
wozu es viel Grund gibt, möchte ich auch einige Punkte
festhalten, über die wir ernsthaft und teilweise auch kritisch miteinander diskutieren müssen.
Die Finanzen sind nicht nur heute, angesichts unserer
Gesamtlage, ein zentraler Punkt. Ich verstehe das Bedürfnis des Senders nach möglichst langfristiger Planungssicherheit und einem großzügigen Budget natürlich sehr gut. Jeder von uns möchte das, gerade die
Institutionen, die vom Bund auf doch relativ sicheren
Grund gestellt werden. Allerdings muss inzwischen auch
allen Beteiligten deutlich geworden sein, wie knapp unser Haushalt ist. Es gilt also, mit den vorhandenen Mitteln sehr sorgfältig umzugehen. Genau dies bietet aber
immer die Chance, Prioritäten zu setzen, und über diese
Prioritäten müssen wir sehr offen diskutieren.
Wir müssen darüber diskutieren, in welche Richtung
sich die Deutsche Welle eigentlich entwickeln soll, welche Zielgruppen auf welchen medialen Kanälen und zu
welchem Zweck angesprochen werden sollen. Hier ist
meines Erachtens eine Besinnung auf relativ wenige
Grundaufgaben und eine Schwerpunktsetzung auf bestimmte Regionen notwendig, nämlich auf die Regionen,
in denen das Interesse an Deutschland eine ganz besondere Rolle spielt. In diesem Zusammenhang denke ich in
erster Linie an Asien, an Zentralasien und an Osteuropa.
Dort gibt es ein riesiges Bedürfnis, Kontakt zu unserem
Land zu haben, und eine ebenso starke Orientierung auf
unser Land hin. Dies müssen wir auch in der Bildungspolitik berücksichtigen, weil so viele Eliten zu uns kommen wollen. Für sie ist die Deutsche Welle häufig das
Einstiegstor.
In diesem Zusammenhang bitte ich die Verantwortlichen aber auch um Mut und Ehrlichkeit in der Einschätzung des Projektes German TV. Nach einer sehr harten
Anfangszeit sind die ersten 5 000 Abonnenten in den
USA gewonnen.
({1})
Ein Konkurrent, der Pleite ging, mag auch dazu beigetragen haben. Die darüber hinaus notwendigen 65 000 Abonnenten müssen in den nächsten Jahren noch gewonnen
werden. Wenn das gelingt, ist es schön; gelingt es nicht,
sollten wir daraus allerdings ehrlich Konsequenzen ziehen. Ich weise darauf hin, dass wir diesem Projekt von
Anfang an sehr kritisch gegenübergestanden haben.
({2})
Der Prozess des Prioritätensetzens ist meist schmerzhaft, aber sehr heilsam. Er wird auch der Qualität des
Journalismus der Deutschen Welle einen Schub geben.
Im Zusammenhang mit der Prioritäten- und Zielsetzung weise ich noch einmal auf die bereits diskutierte
Rolle der deutschen Sprache hin.
Die Deutsche Welle sollte sich nicht von der deutschen
Sprache verabschieden. Für manche Zwecke, zum Beispiel zur Aufklärung in Krisengebieten, mag die englische Sprache erste Priorität haben. Aber für das, was wir
langfristig aufbauen wollen, nämlich Interesse an unserem Land, Elitenkontakte, Kontakte zu den Menschen,
für die das Modell Deutschland zur Überwindung eines
totalitären Regimes und zum Aufbau einer stabilen demokratischen Kultur wichtig ist, hat die deutsche Sprache eine besondere Bedeutung. Deshalb müssen wir die
Verbreitung ausbauen. Das unterstützt auch die Sonderstellung dieser unserer Deutschen Welle.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe drei Minuten, um diesem großartigen Sender meine
Reverenz zu erweisen. Bitte, lieber Herr Bettermann, gehen Sie davon aus: Ich schließe mich allen guten Worten
und Dankesworten an die Kolleginnen und Kollegen bei
der Deutschen Welle von Herzen an.
Ich möchte mich auf einige wenige Punkte konzentrieren. Man könnte jetzt natürlich auch etwas zu der
schwierigen Stellensituation und zu der schwierigen Situation der freien Mitarbeiter sagen. Aber all das kann
jetzt hier nicht hinreichend gewürdigt werden.
Die Deutsche Welle ist ein Instrument der Außenpolitik. Das ist ein wichtiger Punkt. Natürlich ist sie im
Besonderen ein Instrument der auswärtigen Kulturpolitik, aber ihre Existenz begründet sich nicht auf dem
Grundversorgungsauftrag der übrigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Das muss man immer im Kopf
behalten. Das heißt nicht, dass man irgendeine Einschränkung an Grundprinzipien wie der Rundfunkfreiheit vornehmen dürfte; das würden Liberale nie tun.
Aber der Auftrag ist ein außenpolitischer, der, wie ich
denke, im Wesentlichen hervorragend wahrgenommen
wird. Die Flexibilität, die die Deutsche Welle in Krisensituationen aufgebracht hat, nach dem Umbruch im
Osten, auf dem Balkan in den 90er-Jahren, jetzt in Zentralasien und überhaupt im asiatischen Bereich, in AfDr. Werner Hoyer
rika, ist eine hervorragende Leistung. Damit wird auch
der außenpolitische Auftrag erfüllt.
Deshalb bin ich der Auffassung: Wenn wir über das
neue Gesetz sprechen, müssen wir darüber reden, ob es
richtig ist, die Deutsche Welle, die früher dem BMI zugeordnet war, jetzt beim BKM anzusiedeln, oder ob
nicht eine Ansiedlung beim Auswärtigen Amt konsequenter und angemessener wäre.
({0})
- Das ist allerdings der Hammer. Wenn ich so scharf darauf wäre, die Deutsche Welle in meinen Bereich hinüberzuziehen, wie der Bundesaußenminister, der das ganz
gerne sehen würde, dann hätte ich dafür gesorgt, dass
das Auswärtige Amt heute hier vertreten ist. Das kann
ich nur deutlich unterstreichen.
({1})
Die große Rolle der Deutschen Welle ist auch nicht
dadurch kleinzureden, dass man fragt: Wer hört denn
heute noch Kurzwelle oder Mittelwelle? Die Menschen,
die in Unfreiheit leben, die sehr daran interessiert sind,
eine glaubwürdige Informationsquelle geboten zu bekommen, nutzen jedes Medium, das ihnen zur Verfügung
steht. Wenn sie das Internet nutzen können, nehmen sie
diese Möglichkeit sicher gerne wahr, aber sie werden im
Zweifel auch auf Langwelle, Kurzwelle oder Mittelwelle
zurückgreifen. Nicht immer wird die Möglichkeit bestehen, mit einem örtlichen UKW-Anbieter zusammenzuarbeiten. Auf jeden Fall darf man diese Aufgabe der Deutschen Welle nicht kleinreden. In manchen Gebieten ist
dieses Medium nach wie vor als seriöse und überaus
wichtige Informationsquelle erforderlich.
Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Vollmer hat
zu Recht angesprochen, dass es Fehlentwicklungen gibt;
diese sehe auch ich. Ich bin nicht glücklich darüber, wie
schwer es seit vielen Jahren ist - das weiß ich auch
durch meine frühere Tätigkeit im Verwaltungsrat der
Deutschen Welle -, die Synergieeffekte zwischen der
Deutschen Welle und den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu organisieren,
({2})
und wie gemauert wird, wenn es im Hinblick auf Rechte
darum geht, aus dem Programm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in die Deutsche Welle einzuspeisen. Es ist sehr viel besser geworden; komischerweise war German TV dabei eine Brücke, die
beschritten worden ist.
({3})
Es ist in der Tat sehr ärgerlich, dass die Zusammenarbeit erst funktioniert, nachdem es zu der Fehlentwicklung
des German TV gekommen ist. Das ist ein Skandal.
({4})
Ich finde es ziemlich unerträglich, dass wir die Welt über
German TV mit deutschen Seifenopern beglücken und
dass wir damit in erheblichem Maße Steuergelder binden, was nicht durch Grundversorgung oder irgendetwas
anderes zu rechtfertigen ist.
({5})
Diese Gelder werden auf Dauer bei der normalen Fernsehversorgung durch Deutsche Welle TV und eines Tages möglicherweise sogar im Rundfunkbereich fehlen.
Jetzt hören wir, wir hätten von den 65 000 - andere
sagen 80 000 - erforderlichen Abonnenten gerade einmal 5 000 gewonnen. Das war schon mühsam genug.
Leute, begrabt das Projekt und steckt das Geld dahin, wo
es bei der Deutschen Welle dringend gebraucht wird!
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1214 und 15/1208 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann ({0}), Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Fusion der Kulturstiftung der Länder und der
Kulturstiftung des Bundes
- Drucksache 15/1099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({2}), Helga Daub, Rainer
Funke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Fusion der Kulturstiftung des Bundes mit der
Kulturstiftung der Länder
- Drucksache 15/1113 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch
dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile als erstem Redner dem Kollegen Günter
Nooke, CDU/CSU, das Wort.
({4})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Dass
gerade heute im Deutschen Bundestag ein wichtiges
Thema der Kulturpolitik auf der Tagesordnung steht, ist
kein Zufall. Dass die Debatte verhältnismäßig früh - bei
Tageslicht - stattfindet, unterstreicht zusätzlich, dass es
uns mit diesem Thema ernst ist. Wenn noch dazu zwei
Anträge der Opposition - aber kein Antrag der Regierungskoalition - die Gründe für die Debatte sind, dann
weiß jeder: Hier ist Gefahr im Verzug, aber es besteht
noch eine kleine Chance, das Schlimmste zu verhindern.
Worum geht es? Es geht darum, die seit vielen Jahren
erfolgreich arbeitende und vom Bund und den 16 Ländern gemeinsam finanzierte Kulturstiftung der Länder
und die erst vor einem Jahr gegründete Kulturstiftung
des Bundes zu fusionieren. Ihre Fördermaßnahmen überschneiden sich teilweise. Das allein wäre ein Grund für
eine Zusammenführung. Aber auch die Wahrnehmung
ihrer Aktivitäten könnte bei einer Zusammenlegung verbessert werden. Wir haben also nichts gegen eine Fusion. Ich denke, alle hier im Haus sind der gleichen Meinung.
Doch was in dem Eckpunktepapier der Staatsministerin für Kultur und Medien vorgeschlagen wird, ist aus
unserer Sicht die schlechteste der denkbaren Möglichkeiten, diese Fusion zu gestalten. Im Prinzip soll nämlich
alles beim Alten bleiben. Es soll nur ein neues gemeinsames Dach entstehen.
Wir debattieren heute und zu dieser Stunde darüber
im Bundestag, weil dieses Eckpunktepapier am späteren
Nachmittag, also zur selben Stunde, Grundlage der Beratungen der Ministerpräsidenten beim Kanzler über die
Stiftungsfusion ist. Insofern haben wir ein gewisses Verständnis, dass die Staatsministerin nicht anwesend ist.
Aber dieses Verständnis hält sich in Grenzen, weil es
besser gewesen wäre, wir hätten erst einmal im Parlament über diese Punkte gesprochen, ehe man sich anhört, was die Wünsche der Ministerpräsidenten sind.
({0})
Es ist unnötig, zu betonen, dass unser Antrag die bessere Grundlage für diese Beratung ist. Zusätzlich muss
man betonen, dass unser Antrag auch die bessere Grundlage für die Position der Bundesregierung in den Verhandlungen mit den Ländern wäre; denn wir vertreten
keineswegs nur Länderinteressen. Auch die Länder haben ein Eckpunktepapier vorlegt, das der ehemalige
Staatsminister für Kultur und Medien, Herr Naumann,
heute in der „Zeit“ als „bürokratisches Monstrum“ bezeichnet hat. Wenn man sich dieses Papier ansieht, dann
muss man sagen, dass es sich nicht nur gegen die Kulturförderung in Deutschland richtet, sondern auch alle
Hoffnungen auf eine Reform des Föderalismus ad absurdum führt. Wir wollen nicht ausschließen, dass unsere Debatte noch dazu beiträgt, dass die Einsicht an einer anderen Stelle in dieser Stadt noch zunimmt und
etwas Vernünftiges aus dieser Fusion der Kulturstiftungen hervorgeht.
Es ist wichtig, festzustellen, dass 50 Millionen Euro
verteilt werden. Damit handelt es sich um die größte
Kulturstiftung in Europa überhaupt. Die Gelegenheit der
Zusammenführung sollte genutzt werden, um die inhaltliche Ausrichtung der künftigen Stiftung und ihr Förderprofil unter die Lupe zu nehmen, anstatt kritiklos die
Aufgaben der beiden bisherigen Stiftungen einfach zu
addieren: auf der einen Seite die Aufgaben der Kulturstiftung der Länder, die vom Bund und den Ländern finanziert werden, und auf der anderen Seite die Aufgaben
der Kulturstiftung des Bundes, für die der Bund zahlt
und auch inhaltlich verantwortlich ist.
Das Interessante ist, dass nach den jetzigen Plänen
noch ein Aufgabenbereich hinzukommt, in dem man
sich um diejenigen Fälle kümmern will, bei denen nicht
ganz klar ist, wer sich eigentlich darum kümmern soll.
Fest steht: Der Bund bezahlt, entscheidet aber nicht unbedingt. So habe ich mir die Wahrung und Wahrnehmung der durch die Verfassung festgelegten föderalen
Ordnung nicht vorgestellt. Sicher, in der Außenwahrnehmung und für die meisten Projektantragsteller wird das
keine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund der seit Jahren
kontrovers diskutierten Entflechtung von Zuständigkeiten in der Kulturförderung ist mit diesem Vorschlag
aber eben keiner Seite gedient. Im Gegenteil: Hier wird
erneut verflochten - und das auf eine Weise, die keiner
mehr versteht.
({1})
Die Kulturstiftung soll die Kulturnation Deutschland
nach innen und außen repräsentieren. Gerade deshalb ist
die paritätische Vertretung der Zuwendungsgeber in den
Gremien notwendig und sinnvoll. Sie beinhaltet aber,
wenn man sie für notwendig und sinnvoll hält, wiederum
eine Folgerung: eine paritätische Finanzierung. Ich
möchte die Länder ausdrücklich ermutigen, sich an der
neu entstehenden Stiftung mit erkennbarem Engagement
zu beteiligen,
({2})
anstatt weiter wie zuletzt im Mai dieses Jahres - das
habe ich schon erwähnt - Papiere zu erstellen, in denen
komplizierteste Konsultationsverfahren für den Fall konstruiert werden, dass der Bund die Kultur überhaupt fördern wolle.
Wo, wenn nicht in der entstehenden Stiftung, könnte
unser föderales Prinzip der Kulturförderung sinnfälliger
gemacht werden? Wir sollten uns gemeinsam von der
Frage leiten lassen: Was dient der Kulturförderung in
Deutschland am besten? Denn am Ende wird sich die
Zusammenführung der Stiftungen daran messen lassen
müssen, ob sie zur Förderung von Kreativität in
Deutschland einen Beitrag geleistet hat. Es geht im
Grunde um nichts anderes als um Kulturförderung im
weiten und besten Sinne.
Um unseren Antrag nicht zu wiederholen, greife ich
nur kurz einige Aspekte auf, die uns bei der Zusammenführung der beiden Stiftungen wichtig sind: Um eine
dauerhafte Konkurrenz zu dieser Förderung durch andere bestehende und künftige Förderinstrumente, vor
allem im Rahmen des Hauptstadtkulturfonds, auszuschließen, sind Modalitäten zu formulieren, die eine unbürokratische und sich ergänzende Arbeit überhaupt
möglich machen. Bestehende andere Förderinstrumente
sind im Zuge der Neugestaltung daraufhin zu überprüfen, ob sie Teil der Stiftung werden und in das neue Gebilde mit eingebaut werden könnten. Bei internationalen
Projekten ist die Abstimmung mit den Trägern der auswärtigen Kulturpolitik und auch der Bildungspolitik zu
gewährleisten.
Besonders wichtig ist aus unserer Sicht: Das Instrument der allgemeinen Projektförderung muss erhalten
bleiben, also die Möglichkeit von Künstlern, Kultureinrichtungen und anderen, Anträge zur Förderung zu stellen. Das ist im Eckpunktepapier der Staatsministerin
nicht mehr vorgesehen.
({3})
Der derzeit bestehende grundsätzliche Ausschluss der
institutionellen Förderung im Rahmen der Kulturstiftung
des Bundes ist nicht in die neu entstehende Stiftung zu
übernehmen.
Ich wünsche mir alles in allem, dass sich diese Gesichtspunkte in den künftigen Gesprächen wiederfinden.
({4})
Das würde die Chance erheblich erhöhen, dass es künftig eine gemeinsame Stiftung von Bund und Ländern
und darüber hinaus eine von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam beschlossene Deutsche
Kulturstiftung gibt.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Barthel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Nooke, ich weiß nicht, warum es mir so geht;
aber jedes Mal, wenn ich Sie höre - ich will Ihnen einen
Tipp geben -, habe ich das Bedürfnis, Ihnen zuzurufen:
Denken Sie doch bloß einmal positiv!
({0})
Wir haben vorhin Geburtstagsreden zum 50-jährigen
Bestehen der Deutschen Welle gehört. Was wir jetzt machen, könnte man vielleicht so beschreiben: Wir befinden uns in einer Geburt, die bereits seit 30 Jahren andauert.
({1})
Jetzt schaffen wir es endlich, etwas umzusetzen, was
wir, zumindest die Kulturpolitiker auf Bundesebene,
aber auch viele Kulturpolitiker auf Landesebene, schon
immer umsetzen wollten. Darüber sollte man, zum Donnerwetter, auch einmal fröhlich sein!
({2})
Seit 30 Jahren wird diese Diskussion geführt. Was
weiß ich, wer sich alles damit schon beschäftigt hat! Ich
nenne nur Günter Grass und Willy Brandt. Viele haben
es versucht und nicht viel erreicht. Vor zwei Jahren kam
es zu dem Beschluss, die Bundeskulturstiftung zu
gründen. Darüber waren wir wirklich sehr froh. An der
Resonanz haben wir gesehen, wie wichtig das für viele
war. Es war eine gewaltige Kraftanstrengung. Wir haben
dies jetzt erreicht und darüber bin ich froh.
Bereits bei der Entscheidung damals war es das
Ziel - ich bitte Sie, daran zu denken -, beide Stiftungen
zu fusionieren. Wir sind jetzt in der letzten Etappe auf
dem Weg zu diesem Ziel hin.
Warum hat das so lange gedauert? Das sollte man sich
ein bisschen vergegenwärtigen, übrigens auch um die
Probleme, die aus meiner Sicht im Eckpunktepapier enthalten sind, verstehen zu können. Es hat so lange gedauert, weil wir all die Jahre diesen verteufelten Kompetenzstreit mit den Ländern in Fragen der Kulturpolitik
und der Kulturförderung hatten. Übrigens bestand der
Konflikt in der Regel - das muss ich differenzieren nicht mit allen Ländern, sondern nur mit den reichen
Ländern. Es ging immer um die Kulturhoheit - welch
schreckliches Wort! -, wobei bislang in der Regel die
Hoheit gesiegt und die Kultur verloren hat.
({3})
Ich weiß, dass ich nicht der Einzige hier im Saal bin,
der es zutiefst bedauert hat, dass wir diesen Föderalismusstreit ausgerechnet auf dem Rücken der Kultur ausgetragen haben.
({4})
Da bin ich mit vielen einig. Insofern finde ich erfreulich,
dass dieser Streit in letzter Zeit durchaus etwas abgeklungen ist und dass, während wir hier über Verfahrensund Gestaltungsanträge debattieren, der Bundeskanzler
und die Bundesregierung mit den Regierungschefs der
Länder über eine Systematisierung - ich lege Wert auf
dieses Wort anstelle von „Entflechtung“ - diskutieren
und versuchen, den erforderlichen Rahmen zu schaffen.
Ich bin eigentlich ziemlich sicher: Es wird ein positives
Ergebnis geben. Das werde ich an den Umständen bzw.
den Kräfteverhältnissen der beiden Parteien messen.
Im Rahmen dieser Systematisierung bekennen sich
der Bund und die Länder zu einer engen Zusammenarbeit in der Kulturförderung. Diese Aussage ist schon
sehr schön. Ich darf zitieren:
Die Stärkung der Kulturstaatlichkeit Deutschlands
und die Förderung des kulturellen Lebens im Innern
und nach außen ist gemeinsame politische Aufgabe
von Bund und Ländern
Eckhardt Barthel ({5})
- und jetzt kommt etwas, was mich in der Erwartung bestärkt, dass der Kompetenzstreit auch in Zukunft nicht
gänzlich verfliegen wird im Rahmen ihrer jeweiligen Verantwortung.
Darüber werden wir uns im Einzelfall sicher noch häufig
zu unterhalten haben.
Bei allem, was man an diesem Eckpunktepapier kritisieren kann, hoffe ich aber, dass Auseinandersetzungen
in Zukunft - wenn es sie schon gibt - wenigstens rationaler als bisher werden. Ich will in dem Bild bleiben:
Vielleicht gelingt es, dass bei solchen Konflikten der
erste Blick der Kultur und erst der zweite der Hoheit gilt.
({6})
In den parallel zu unserer Debatte laufenden Gesprächen geht es um die Festlegung von Eckpunkten für die
Systematisierung der Kulturförderung von Bund und
Ländern und ganz konkret und logischerweise um die
Eckpunkte für die Fusion beider Stiftungen. Es geht um
Eckpunkte, um nicht mehr und nicht weniger.
Dann stellt sich logischerweise die Frage - das klang
bei Herrn Nooke an; auch andere werden das fragen -:
Welche Rolle spielt der Bundestag in diesem Prozess?
({7})
- Das ist sowieso vorausgesetzt, weil von dort die Finanzierung kommt, die übrigens Sie und die FDP eigentlich
abschaffen wollen; Sie wollen eine Sockelfinanzierung.
({8})
Sie haben 2 Milliarden Euro vorgeschlagen. Ich kenne
keinen hier im Raum, der dem nicht sofort zustimmen
würde. Aber sagen Sie uns dann bitte auch, woher das
Geld kommen soll.
({9})
Die CDU war in diesem Punkt ehrlicher. Sie hat gesagt:
Das machen wir längerfristig. Ein gewisser Realitätssinn
ist dem nicht abzusprechen. Aber Sie von der FDP wollen ja gleich 2 Milliarden Euro. Das ist mehr als das
Doppelte des Haushaltes der BKM.
Man muss ehrlich sagen: Wir sind bei dieser Konstellation nicht Herr des Verfahrens. Über Ihre Klage, Sie
würden zu wenig beteiligt, will ich doch meine Verwunderung ausdrücken. Auch Sie - wir alle im Kulturausschuss - kannten das Eckpunktepapier.
({10})
- Sie sind gar nicht im Kulturausschuss. Herr Otto kennt
es.
({11})
- Das reicht manchmal nicht.
({12})
Das Eis, auf dem Sie laufen wollen, ist ein bisschen zu
dünn.
Alle wussten seit Wochen, dass heute die Veranstaltung mit dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten stattfindet. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass erst
jetzt diese beiden Anträge gekommen sind. Das hat mich
überrascht.
Auch wir haben ein riesiges Interesse daran - ich
glaube, hier decken sich unsere Vorstellungen -, dass wir
an dem Prozess der Ausgestaltung dieser Eckpunkte intensiv beteiligt werden.
Über manche Punkte des Antrages der CDU/CSU bin
ich doch ein wenig erstaunt. Haben Sie mit den Ministerpräsidenten der unionsgeführten Länder darüber gesprochen? Ich würde gern wissen, was sie Ihnen dazu gesagt
haben. Ich habe das Gefühl, Ihnen sind die Rahmenbedingungen, unter denen wir diese schwierige Geburt bewerkstelligen müssen, ziemlich egal. Ich will Sie davor
warnen, die Latte zu hoch zu hängen: Es kann einen
Punkt geben, wo man von der Frage, wie es gemacht
wird, auf die Frage, ob es gemacht wird, kommt.
Schließlich gibt es einen Konsens darüber, dass diese
Fusion stattfinden soll.
Über die Projektförderung - es gibt noch andere
Punkte -, die die FDP in ihrem Antrag nennt, müssen
wir in der Tat noch reden. Ich habe ein paar Bedenken
- das gestehe ich ganz offen -, dass durch diese Konstruktion zu viel bürokratischer Sand ins Getriebe gestreut wird.
({13})
Mit der Fusion der Stiftungen ist nämlich auch das Ziel
verbunden - jedenfalls glaube ich das -, die Worthülse
„kooperativer Kulturföderalismus“ mit Inhalt zu füllen.
Ich zitiere den von mir hoch verehrten Michael Naumann:
Es darf „kein neues bürokratisches Monstrum des Föderalismus“ dabei herauskommen. Diese Meinung teile
ich. Es wird unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass
das nicht passiert.
Nebenbei bemerkt: Ich bin froh darüber, dass unsere
Partner in Zukunft nicht mehr die Staatskanzleien, sondern für Kultur Verantwortliche sein werden. Ich glaube,
das wird die Arbeit mächtig erleichtern.
({14})
Ich kann es mir nicht verkneifen, zum Antrag der
FDP noch ein Wort zu sagen: Sie hat in ihrem Antrag geschrieben, sie wolle die „Konkurrenzen zwischen Bund
und Ländern in der Kulturförderung beenden“. Dazu
sage ich Ihnen - es ist erstaunlich, dass ich das an die
Adresse der FDP sage -: Ich habe gar nichts gegen Konkurrenz.
({15})
Ich hatte kein Problem mit der Konkurrenz, sondern mit
der Blockierung von Vorhaben des Bundes durch die
Eckhardt Barthel ({16})
Länder. Das ist der Punkt. Die Blockade muss beendet
werden, nicht die Konkurrenz.
({17})
Ich weiß nicht, warum ich mich jetzt an der FDP aufhänge; vielleicht, weil es so schön ist. Einiges ist merkwürdig: Vor vier Wochen haben Sie eine Presseerklärung
herausgegeben, die sich inhaltlich auf das bezieht, was
heute verabschiedet werden soll. Ich zitiere:
Der Grund für die Einbeziehung der Stiftung Kulturfonds ist nicht ersichtlich.
Im Antrag schreiben Sie:
Die Integration der Stiftung Kulturfonds ist denkbar.
Sie sollten sich besser abstimmen. Ich halte die Integration der Fonds in diese Stiftung in der Tat für sinnvoll,
weil das die Arbeit gewaltig erleichtert.
Mit dieser Fusion schaffen wir die größte Kulturstiftung Europas. Es ist in der Tat richtig, dass der Bund
38 Millionen Euro zahlt, weitere 8 Millionen Euro werden über die Länderstiftung eingebracht. Herr Nooke
- leider telefonieren Sie gerade -, ich wünschte mir
auch, dass sich aus dieser ungleichen Verteilung der Mittel auch eine ungleiche Entscheidungskompetenz ergibt. Bei einigen Säulen ist das ja so; das sollte man
nicht ganz vergessen. Trotzdem hätte ich mir ein stärkeres Gewicht gewünscht.
({18})
In der Politik habe ich aber gelernt, dass man erst das
Problem erkennen muss, bevor man es lösen kann. Dementsprechend wird unsere Arbeit an diesem Eckpunktpapier aussehen. Wir werden dieses Thema aufnehmen und
diskutieren. Ich bin mir sicher, dass wir an viele Punkte
noch ein Fragezeichen setzen werden.
In der Grundtendenz sind wir uns aber darüber einig,
dass wir diese Fusion wollen. Wir wissen, dass wir sie
nur - ob uns das gefällt oder nicht - zusammen mit den
Ländern erreichen können. Ich glaube, dass am Ende ein
positives Ergebnis herauskommen wird. Die CDU/CSU
und die FDP begrüßen in ihren Anträgen die Fusion.
({19})
- Ja, das haben Sie aber nicht geschrieben. Herr Nooke,
das ist eine schöne Arbeitsteilung: Wir machen die Fusion und Sie begrüßen sie. Das ist eine schöne Regelung.
Danke.
({20})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Pieper von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Barthel, mich wundert und enttäuscht Ihr Vorwurf meiner Person gegenüber, ich hätte mich für die
Kultur zu wenig engagiert.
({0})
- Gut, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie das zurücknehmen. Ich will Sie nur daran erinnern, dass wir beide zu
dem Thema schon Podiumsdiskussionen geführt haben,
dass ich neben meinem Kollegen Otto Initiatorin des Antrages zu dem Thema „Kulturstiftung des Bundes“ bin
und dass wir in der Sache an sich an einem Strang gezogen haben, sonst hätten wir wahrscheinlich das Thema
„Kulturstiftung des Bundes“ heute nicht auf der Tagesordnung.
Lassen Sie mich noch einmal sagen: Für mich ist es
verwunderlich, dass das Hohe Haus, das Parlament, bei
dieser Debatte über die Fusion der Kulturstiftung des
Bundes mit der Kulturstiftung der Länder nicht beteiligt
wird. Das hat der Kollege Nooke zu Recht angemahnt.
Von daher kann ich nur sagen: Um Kultur muss sich jeder Abgeordnete dieses Hauses kümmern. Ein Eckpunktepapier, das von der zuständigen Staatsministerin
vorgelegt und dann nicht mit den Kulturpolitikern im
Parlament diskutiert wird, finde ich schon eigenartig.
({1})
- Dann legen Sie es bitte auch dem Parlament vor und
betrachten es nicht nur als ein Dokument, mit dem Sie
im Kulturausschuss umgehen.
Meine Damen und Herren, ich will mich zur Sache
äußern und ganz klar sagen: Die geplante Fusion der
Kulturstiftung des Bundes und der Kulturstiftung der
Länder wird von der FDP-Bundestagsfraktion grundsätzlich begrüßt.
({2})
Zu denken gibt uns aber, was wir aus den Staatskanzleien der Länder hören. Auch Äußerungen der Staatsministerin sind für uns eher unbefriedigend. Heute warnt
ihr Vorgänger in der „Zeit“ sogar vor einer Fusion. Er
schreibt, sie könne zur Entwertung der Bundesbehörde,
des Staatsministers für Kultur, führen. Michael Naumann nennt die Tatsache, dass der Kulturausschuss bisher in die Konsultationen nicht einbezogen wurde, sogar
einen „Skandal im Skandal“. Recht hat er und wie Recht
er hat, zeigt sich heute. Frau Weiß - ich sagte es schon hat offensichtlich kein Interesse daran, sich in der Sache
mit dem Parlament auseinander zu setzen.
({3})
- Was wahr ist, muss wahr bleiben. Wir glauben, dass
die Fusion in die falsche Richtung geht. Deshalb haben
wir unsere Forderungen zu Papier gebracht.
({4})
- Frau Griefahn, es wäre besser, Sie hörten sich an, was
die Opposition dazu zu sagen hat.
Frau Kollegin Pieper, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Barthel?
Nein, ich möchte meine Gedanken zur Fusionsdebatte
hier fortführen und vortragen können, Herr Präsident.
Erstens. Die Aufgaben und Ziele der Deutschen Kulturstiftung müssen nach unserer Auffassung aus den bisherigen Stiftungszwecken der Kulturstiftung des Bundes
und der Kulturstiftung der Länder resultieren. Notwendig erscheint uns aber auch die Evaluation der bisherigen
Arbeit beider Stiftungen, und zwar vor deren Zusammenschluss und durch ein unabhängiges, mit Kunst- und
Kultursachverständigen besetztes Gremium.
Zweitens. Der institutionellen Kulturförderung
müssen Bund und Länder weiterhin gerecht werden, wobei eine Kontrolle der Mittelvergabe durch die jeweiligen Parlamente gewahrt bleiben muss.
Drittens. Ein für die Liberalen entscheidender Punkt
ist, dass weder der Bund noch die Länder oder die Gemeinden Antragsteller sein dürfen. Antragsteller müssen
die Produzenten, die Künstler oder die Beteiligten an einem zu fördernden Projekt sein.
({0})
Nur so ist gewährleistet, dass alle sich um Förderung bemühenden Projekte von der Stiftung auch begutachtet
werden.
({1})
Viertens. Die Arbeit der Stiftung muss transparent
sein. Die Vergabe von Mitteln durch die Stiftung muss
klar und nachvollziehbar sein. Deswegen fordern wir,
dass die Vergabe finanzieller Mittel auf ein unabhängiges Kuratorium übertragen wird. Bei der Schaffung der
Kulturstiftung dürfen wir es nicht versäumen, effiziente
Strukturen aufzubauen. Es muss eine neue Personalstruktur aufgebaut werden - das sage ich ganz klar zur
Regierungskoalition -, weil es nicht sinnvoll ist, die Personalstellen aus beiden Stiftungen einfach nur zu addieren. Wie bei der Fusion des Goethe-Instituts mit Inter
Nationes muss die so genannte Fusionsrendite nach unserer Auffassung aber der Kultur erhalten bleiben.
Frau Kollegin Pieper, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme gleich zum Ende, Herr Präsident.
Fünftens. Herr Barthel, wir glauben - das möchte ich
nur noch ganz kurz sagen -, dass der beste Weg, um eine
größtmögliche Unabhängigkeit der Kulturstiftung zu erreichen, eine haushaltsunabhängige Finanzausstattung
ist.
({0})
Deswegen fordern wir vehement ein Stiftungskapital.
Dafür kämpfen wir. Das würde neue Finanzierungsmöglichkeiten für die Bundesstiftung eröffnen.
Als Letztes möchte ich folgenden Punkt erwähnen:
Wir wissen, dass nicht alle Länder dieser Fusion zustimmen werden. Ich habe aus dem Kultusministerium in
Sachsen-Anhalt gehört, dass eine Zustimmung infrage
gestellt wird, und weiß, dass es einige Länder gibt, die
zur Bedingung machen werden, dass der Sitz der künftigen Stiftung nach Berlin kommt. Ich hoffe, dass sich die
Bundesregierung der herausragenden Rolle Halles, des
kulturreichen Standortes in Mitteldeutschland mit seinen
Francke’schen Stiftungen, bewusst ist und dass Sie, Herr
Barthel, sich auch weiterhin für diesen Ort einsetzen
werden.
Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Rücksichtnahme.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Antje Vollmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Pieper, die Staatsministerin befindet sich
im Moment mit den Ministerpräsidenten in der Verhandlung, über die wir die ganze Zeit gesprochen haben. Das
hat sie dem Kulturausschuss vorher mitgeteilt. Sie ist
also wirklich entschuldigt.
Auch an dem parlamentarischen Prozess gibt es
nichts zu kritisieren. Wir alle, auch Ihre Kollegen, haben
das Eckpunktepapier rechtzeitig bekommen. Wir haben
noch in der gestrigen Sitzung einen Sachstandsbericht
bekommen. Es wurde angekündigt, dass uns in der
nächsten Sitzung ein Bericht über diese Verhandlung
vorgelegt wird. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass
wir noch eine Anhörung durchführen werden. Sorgfältiger kann man einen Prozess in dieser Phase parlamentarisch nicht begleiten.
({0})
Weil das so aktuell ist, denke ich manchmal sogar, wir
sollten einige Kerzen anstecken; denn man muss übersinnliche Kräfte haben, um diesen unglaublich hartnäckigen Widerstand der Ministerpräsidenten und der Länder endlich zu überwinden. Ich finde, es spricht für die
Kompetenz und den Charme der Staatsministerin, dass
sie geschafft hat, woran so viele Männer vor ihr gescheitert sind.
({1})
Mit der Fusion werden wir die größte Kulturstiftung
Europas bekommen. Ich freue mich, dass das auch die
Opposition grundsätzlich begrüßt. Die Fusion war überfällig. Wir alle haben aber noch über den Prozess und die
weiteren Inhalte zu diskutieren und darüber, dass es, wie
Michael Naumann in einem wirklich brillanten Artikel
in der aktuellen Ausgabe der „Zeit“ geschrieben hat,
nicht zu einer bloßen Scheinehe zwischen zwei extrem
verfeindeten Bürokratien kommen wird. Es wird viel
von den Beteiligten abhängen, wie sich das entwickeln
wird.
Es ist deswegen, glaube ich, das Beste, an den Gründungsmythos dieser Stiftung zu erinnern. Die Grundideen wurden 1973 von Willy Brandt und Günter Grass
formuliert und 1998 von Michael Naumann - unterstützt
von Gerhard Schröder - wieder aufgenommen. Es ging
im Wesentlichen um den Erhalt des kulturellen Erbes
Deutschlands und um unser Agieren im europäischen
Raum. Ich stimme, wegen der Erinnerung an den Gründungsmythos auch dem Teil des Antrags der CDU/CSU
zu - ich finde ihn interessant -, der von „Bewahrung und
Rückerwerb national wertvollen Kulturgutes“ als einer
zentralen Aufgabe der neuen Stiftung ausgeht, was bisher immer Aufgabe der Länderstiftung gewesen ist.
In Zeiten, in denen uns in den Städten und Kommunen Kulturinstitutionen reihenweise wegbrechen, in Zeiten, in denen Theater und Museen ums Überleben kämpfen, müssen wir von einer flüchtigen Eventkultur
wegkommen, welche das publikumswirksame Ereignis
höher schätzt als die gewachsenen kulturellen Traditionen und Institutionen unseres Landes.
({2})
Es macht Sinn, dass wir die größte Kulturstiftung Europas bekommen, weil wir auch die größte und traditionsreichste Kulturlandschaft Europas haben. Dass wir
inzwischen in allen Bereichen, in den Bereichen Musik,
Theater und Museum, Ausbildungsstätte vieler junger
Talente sind - sie kommen vor allem aus Osteuropa -,
hat damit zu tun. Das heißt, wir müssen auch das Bewusstsein für diese Kulturlandschaft stärken. Die Aufgabe der gemeinsamen Stiftung muss genau dem dienen.
Während in der Gegenwartskultur eine Vielzahl von
zivilgesellschaftlichen Förderungen vorhanden ist, ist
der Staat beim Erhalt des kulturellen Erbes der zentrale
und maßgebliche Akteur. Deswegen und weil daraus alles in allem schließlich auch ein bedeutender Wirtschafts- und Standortfaktor für Deutschland herauskommt, muss der Wert der Kulturpolitik auch in den
parlamentarischen Debatten steigen. Das, was wir getan
haben und was wir unter anderem demnächst mit der
Einrichtung der Enquete-Kommission tun werden, dient
genau dieser wachsenden Bedeutung.
Ich finde, es ist auch ein guter Vorschlag im Antrag
der Opposition, zu überlegen, ob die Förderung der im
Blaubuch aufgeführten einzelnen Kulturstandorte nicht
auch in die deutsche Kulturstiftung überführt werden
könnte. Ich halte das jedenfalls für eine interessante
Überlegung, über die wir dann auch diskutieren können,
wenn wir demnächst die Anhörung darüber durchführen.
Im Übrigen wünsche auch ich mir bei der Ausarbeitung der gemeinsamen Satzung eine Einbeziehung und
Beschlussfassung dieses Parlaments. Ich glaube, das ist
das gemeinsame Interesse aller Parlamentarier. Ich
finde: Wenn dieses Haus in so schwieriger Zeit schon
eine so große Anstrengung unternommen hat, um diese
Bundeskulturstiftung zu schaffen, dann gehört auch eine
faire Beteiligung des Parlaments an der Arbeit dieser
Stiftung, aber auch an der Beschlussfassung über ihre
Satzung auf jeden Fall dazu. Ich denke, dass sich alle
Parlamentarier darin einig sind, dass wir dies an dieser
Stelle einfordern.
In dem Sinne hoffen wir, dass diese extrem schwierige Geburt, dieses mittelalterliche Eheritual, wie
Eckhardt Barthel es genannt hat, nicht weit von uns jetzt
wirklich stattfindet.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn das Anliegen nicht so ernst und seine Behandlung
nicht so zäh wäre, dann könnte man die gleichzeitige Behandlung dieses unendlichen Themas Kulturstaat
Deutschland und Kulturstiftung des Bundes und der
Länder heute Nachmittag an zwei Orten mit unterschiedlichen Akteuren, bei denen die einen in einer Pressekonferenz in wenigen Minuten sagen, was sie tun wollen,
während wir hier darüber debattieren, wie es vielleicht
besser wäre, für eine Operette halten. Nur: Operetten
sind in der Regel auch deshalb unterhaltsam, weil man
ihren Inhalt besser nicht allzu ernst nehmen sollte.
({0})
- Ihren Zwischenruf nehme ich als Motivationshilfe besonders gerne zur Kenntnis.
({1})
In der jungen Formation des Bundestages in der Kulturpolitik bin ich lange genug persönlich engagiert, um mir
die Zuversicht auf eine am Ende halbwegs überzeugende
Lösung bewahrt zu haben.
Das Anliegen, über das wir reden, ist in der Tat ernst.
Wir können es gar nicht ernst genug nehmen. Ich habe
auch bei niemandem, der heute dazu gesprochen hat, den
Eindruck gewonnen, als wolle man das mal eben ein wenig herunterfahren. Im Kern reden wir über die Zukunft
des Kulturstaates Deutschland, und zwar nicht deswegen, weil die Kulturstiftung des Bundes oder gar die
Kulturstiftung der Länder, die bei genauerem Hinsehen
die erste Kulturstiftung des Bundes war, Kerne des deutschen Kulturstaates wären oder werden könnten, sondern weil deren beabsichtigte Fusion im Kontext einer
angestrebten Entflechtung von Zuständigkeiten und einer Systematisierung der Aufgabenstellung von Bund
und Ländern liegt, wobei es im Übrigen schon eine subtile Logik hat, dass gemäß ein und demselben Eckpunktepapier der erste konkrete Beitrag zur Entflechtung der
Zuständigkeiten die Zusammenführung von zwei Stiftungen des Bundes und der Länder unter gemeinsamer
Verantwortung sein soll.
Das soll vielleicht nur ein weiterer Hinweis an alle
Beteiligten dafür sein, dass man die Veränderungswut
nicht mit fundamentalistischem Eifer betreiben sollte,
schon gar nicht, wenn man beim ersten konkreten Beispiel zu besseren Einsichten kommt.
({2})
Ich möchte gerne das aufgreifen, was auch mehrere
meiner Vorredner angesprochen haben. Wie halten wir
es mit dieser Systematisierung? Wir haben dazu schon
bei früherer Gelegenheit eine Debatte geführt. Dabei haben wir mehr oder weniger übereinstimmend zu Protokoll gegeben, dass es für eine stärkere Entflechtung von
Bundes- und Länderaufgaben sicher manche gute Argumente gibt. Ich wiederhole, dass mich bis heute niemand
davon hat überzeugen können, dass diese Entflechtung
im Kulturbereich besonders dringlich wäre
({3})
und dass mit der angestrebten Entflechtung eine Verbesserung der Kulturförderung in Aussicht stünde. Ich sage
voraus: Am Ende dieser Entflechtung wird es nicht mehr
Geld für die Förderung von Kunst und Kultur geben.
Aber es wird mehr Bürokratie in Form von mehr Gremien, Genehmigungs-, Antrags- und Anzeigeverfahren
geben, was wir in diesem famosen Eckpunktepapier
nachlesen können.
Die Lösung, die hier angestrebt wird, ist sicher gut
gemeint. Sie ist aber so, wie sie jetzt konzipiert ist, hoffnungslos misslungen. Damit keine Missverständnisse
entstehen, sage ich noch einmal: Wir sind für eine Zusammenführung dieser beiden Stiftungen, weil es sich
bei genauem Hinsehen ohnehin um zwei Bundeskulturstiftungen handelt. Aber wir sind nicht bereit, die Addition von zwei unbefriedigenden Zuständen für die Lösung zu halten.
({4})
Hier geht es wirklich nach dem Prinzip: manches anders, aber nichts besser. Herr Kollege Barthel, ich kann
buchstäblich nichts erkennen, was nach dem jetzt vorliegenden Vorschlag besser werden soll, zumal die Skurrilitäten des Status quo, dass sich nämlich die Kulturstiftung der Länder vornehmlich mit Aufgaben beschäftigt,
die man für originäre Bundesaufgaben halten könnte,
während sich die später gegründete Kulturstiftung des
Bundes gewissermaßen kompensatorisch um Aufgaben
kümmert, die eigentlich Länderangelegenheiten sind, auf
Dauer beibehalten werden sollen. Es sollen nämlich
„Sektionen“ gebildet werden, deren Zuständigkeiten genau so konserviert werden sollen, wie wir sie schon bei
der Gründung der Kulturstiftung des Bundes für veränderungsbedürftig gehalten haben.
({5})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, so, wie
es hier geplant ist, darf es nicht werden. Leider ist der
Verdacht nur allzu berechtigt, dass es bei diesem Papier,
mit dem sich - das muss man zur Verdeutlichung der
Ausgangslage vielleicht sagen - nicht die Kulturminister
der Länder, sondern die Chefs der Staatskanzleien beschäftigt haben, mehr um das Austragen von Eitelkeiten
und Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern geht als um die Beförderung der Anliegen und Interessen der Kultur. Ich jedenfalls bin nicht bereit, mich an
dieser Art von grandioser Umkehrung der eigentlichen
Aufgabenstellung zu beteiligen.
({6})
Herr Kollege Barthel, wenn Sie Ihre im Unterschied
zu meinen schlappen fünf Minuten üppige Redezeit von
elf Minuten dazu genutzt hätten
({7})
- ich gönne sie Ihnen durchaus -, den heutigen „Zeit“Artikel von Michael Naumann hier vorzulesen, dann
hätten wir im Protokoll stehen, warum es nicht so werden darf, wie es die Bundesregierung - möglicherweise
gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder vorschlägt. Das, was hier vorliegt, ist die Selbstpersiflage des deutschen Kulturföderalismus. Ich kann nur
alle, die die Kultur ernst nehmen und für nicht weniger
wichtig als die Politik halten, herzlich bitten, sich an dieser drohenden Fehlentwicklung nicht zu beteiligen.
Wenn im Übrigen das, was hier vorgeschlagen wurde,
die Systematisierung der Kulturförderung in Deutschland ist, dann gebe ich hier zu Protokoll, dass ich ein leidenschaftlicher Anhänger einer unsystematischen Kulturförderung bin.
Nun befinden wir uns glücklicherweise am Beginn
dieses Verfahrens. Die vorliegenden Anträge werden in
die Ausschüsse überwiesen. Ich habe noch in lebhafter
Erinnerung - darauf will ich mich gerne beziehen, Herr
Kollege Kubatschka -, dass gerade die Kulturpolitiker
aller Fraktionen im Regelfall sehr kooperativ miteinander umgehen und sich um eine gemeinsam tragfähige
Lösung bemühen. Diese muss ich allerdings ausdrücklich einfordern. Wir dürfen uns - mit oder ohne polemische oder unfreundliche Bemerkungen über den bisherigen Verfahrensgang - bei der geschilderten Sachlage
nicht zum Notar von Regierungsvereinbarungen machen
lassen. So richtig es ist, dass die Ministerpräsidenten der
Länder und auch der Regierungschef des Bundes nicht
unbedingt den Empfehlungen der Parlamentarier folgen
müssen, so gilt dies bitte schön auch umgekehrt.
Ich jedenfalls mache mir diese Eckpunkte ausdrücklich nicht zu Eigen. Ich werde mit Nachdruck dafür
kämpfen, dass es zu einer völlig anderen Lösung kommt
als der, die jetzt vorgesehen ist. Bevor diese beschlossen
wird, bin ich eher bereit, den bisherigen Zustand noch
eine Weile zu ertragen.
({8})
Eine Kurzintervention des Kollegen Barthel.
Herr Kollege Lammert, Ihr Kampf, den Sie uns gezeigt haben, macht Sie mir sehr sympathisch. Aber ich
finde, dass wir bei der Frage der Fusion bzw. Nichtfusion auch daran denken müssen, wer die Spieler in dieser
Arena sind. Sie wissen genau, dass dann, wenn wir die
Fusion der Kulturstiftung der Länder und der des Bundes
alleine herbeiführen könnten, die Lösung anders aussehen würde als die, die jetzt aufgrund des notwendigen
Kompromisses mit den Ländern entstehen kann.
({0})
- Ich traue mir viel zu, aber ich möchte am Ende ein positives Ergebnis haben. Trauen ist die Voraussetzung,
aber Ergebnis ist das Ziel. Deswegen kann man hier so
locker sagen, dass man dieses andere auch möchte.
({1})
Ich habe mich etwas gewundert, Herr Lammert, dass
Sie die beiden Stiftungen, so wie sie jetzt funktionieren,
so negativ sehen. Man kann immer an der Vergabepraxis
für dieses oder jenes Projekt Kritik äußern. Aber unter
dem Strich - das bestätigen alle, die diese beiden Stiftungen beobachten - sind es positive Stiftungen. Ich wundere mich, dass Sie gesagt haben, dass es um die Zusammenlegung von zwei negativen Stiftungen geht.
Ihre Fraktion hat über das Eckpunktepapier anders
gesprochen, als Sie es jetzt getan haben. Das möchte ich
einmal festhalten. Sie vertreten eine Einzelmeinung, für
die Sie erstaunlicherweise von den Leuten Beifall erhalten, die im Ausschuss ganz anders geredet haben. Das ist
eine merkwürdige Konstellation.
({2})
Was geschieht, wenn das Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten negativ ausgeht?
({3})
Dann bleibt es so, wie es ist. Damit sind Sie ja zufrieden.
Aber diese eine Stiftung, die wir wollten, ist weg.
Jetzt sage ich einmal, was ich zufällig erfahren habe:
Dieses Gespräch ist geplatzt. Es ist am Widerstand des
Landes Bayern gescheitert.
({4})
Ich finde nicht, dass das ein positives Ergebnis ist. Alle
haben hier den Wunsch bekundet, die beiden Stiftungen
zu fusionieren. Was wir gerade gehört haben, ist keine
frohe Botschaft und dient nicht unserem gemeinsamen
Ziel.
({5})
Herr Kollege Barthel, erstens ist die Verkündung froher Botschaften nicht die vorrangige Aufgabe parlamentarischer Debatten.
Zweitens käme ich als einer der Väter und Mütter des
neuen Stiftungsrechts gar nicht auf die Idee, irgendeine
der bestehenden Stiftungen als „negative Stiftung“ zu
bezeichnen. Ich habe das nicht andeutungsweise getan.
Vielmehr habe ich gesagt, dass der Zustand der beiden
nebeneinander operierenden Stiftungen unbefriedigend
ist und dass dieser unbefriedigende Zustand durch Addition nicht besser wird. Ich will aber - wenn Sie das für
notwendig halten - gerne klarstellen, dass ich der Kulturstiftung der Länder wie der des Bundes im Prinzip
vorzügliche Arbeit attestiere und dass es nicht um die
Beurteilung der Leistungsfähigkeit dieser beiden Stiftungen, sondern um die Zweckmäßigkeit der Bedingungen
ihrer Zusammenführung geht, um nicht mehr und nicht
weniger.
Drittens könnte ich Ihrem Argument, was die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Länderinteressen
betrifft, vielleicht folgen, wenn es die Kulturstiftung des
Bundes noch nicht gäbe und es jetzt um die Bedingungen ihres Zustandekommens unter Berücksichtigung
verfassungsrechtlicher Einwände der Länder ginge. Das
ist aber doch nicht die Lage. Beide Stiftungen bestehen.
Bevor wir sie in einer nun wirklich miserablen Weise zusammenführen, ziehe ich die Aufrechterhaltung des Zustandes, den wir jetzt haben, einer auf Dauer angelegten
miserablen Lösung vor; nicht mehr und nicht weniger.
Wenn wir im Übrigen in einer in der Vergangenheit
bewährten Kooperation einen wirklich konstruktiven
Aufstand des Parlaments gegenüber einem nicht ausreichenden Verhandlungsstand der Regierungschefs hinbekommen sollten und das in der Weise konkretisieren
würden, wie es durch diese Debatte interfraktionell erkennbar wurde, dann hätten wir gemeinsam einen famosen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit des deutschen Kulturstaates geleistet.
({0})
Ich erlaube mir, noch einmal an meine Bemerkung
über die beiden Kerzen zu erinnern. Manchmal sind
doch höhere Mächte notwendig.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/1099 und 15/1113 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 15/1113 soll zusätzlich an
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Änderung der Verpackungsverordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Anfang des Jahres wird vollzogen, was unter Klaus Töpfer
verabschiedet worden ist, nämlich die Einführung der
Pfandpflicht für Einwegverpackungen. Festzustellen
ist, dass die Pfandpflicht wirkt. Das Gesetz wirkt genau
so, wie es diejenigen, die es seinerzeit verfasst haben,
beabsichtigt haben.
Anders, als vor einem Vierteljahr von einigen Unternehmen behauptet wurde, ist nicht etwa massenhaft
Mehrweg ausgelistet und Einweg eingelistet worden.
Vielmehr stellen Supermarktketten, die noch vor einem
Jahr erhebliche Mengen an Einweg ausgelistet haben, inzwischen komplett auf Mehrweg um.
Die Pfandpflicht wirkt, weil sie den Prozess der Vernichtung von Zehntausenden von Arbeitsplätzen in den
kleinen Brauereien und in den mittelständischen Getränkefachhandlungen gestoppt hat.
({0})
Im Gegenteil: Nach Auskunft des Verbandes des Deutschen Getränke-Einzelhandes und des Bundesverbands
des Deutschen Getränkefachgroßhandels sind in den
kleinen und mittelständischen Brauereien seit Jahresbeginn 10 000 neue Arbeitsplätze entstanden.
({1})
Warum haben die großen Handelsunternehmen denn
über all die Jahre hinweg massenhaft Mehrweg
ausgelistet? - Weil sie die Kosten für Rücknahmesysteme sparen wollten. Diesen Trend haben wir mit dem
Vollzug der Pfandpflicht gestoppt bzw. umgekehrt.
({2})
Wir haben einen Entwurf zur Änderung der Verpackungsverordnung vorgelegt, den wir bereits im Februar mit den Bundesländern und den Fraktionen besprochen haben. Wir haben dann diese Eckpunkte zu der
Verordnung 1 : 1 umgesetzt. Diese Verordnung hebt
nicht mehr - wie es noch unter Frau Merkel üblich war auf den Getränkeinhalt ab. Es kommt nicht mehr darauf
an, ob eine Dose Cola auch Schnaps enthält oder nicht.
Wenn Cola in der Dose ist, dann wird sie entsprechend
bepfandet, und zwar nicht aus Willkür, sondern weil die
Dose gegenüber Mehrwegverpackungen in ökologischer
Hinsicht eklatant nachteilig ist.
({3})
- Dazu gibt es ausführliche Ökobilanzen, Herr Kollege.
Das können Sie gerne nachlesen.
({4})
Wenn sich heute noch jemand in diesem Hause dafür
stark macht, dass Blech ökologisch vorteilhafter ist als
Mehrweg, dann verkneife ich mir die Bemerkung, dass
das, was Sie dazwischenrufen, Herr Kollege, auch Blech
ist.
({5})
Was wir erreichen müssen, meine Damen und Herren,
ist Investitionssicherheit für die Wirtschaft. Mit der
Änderung der Verpackungsverordnung wollen wir - deswegen haben wir sie mit den Ländern abgestimmt - auch
Sicherheit für die Verbraucher erreichen. Die Änderung der Verordnung zielt nicht auf eine Ausweitung der
Pfandpflicht; im Gegenteil: Sie begrenzt sie. Wenn wir
zuwarten würden, wenn wir also den Fehler wiederholen
würden, den der Bundesrat schon 2001 gemacht hat,
dann würden aller Voraussicht nach zum nächsten Jahreswechsel auch Kartons und Weinflaschen der Pfandpflicht unterliegen. Das kann niemand ernsthaft wollen.
Weil wir das nicht wollen, haben wir uns mit den Ländern auf die vorliegende Novelle verständigt. Dabei haben wir die Erkenntnisse gerade jener Ökobilanzen berücksichtigt, deren Richtigkeit Sie immer so gerne
bezweifeln, zum Beispiel den Umstand, dass heutige
Kartonverpackungen und Mehrwegverpackungen in
ökologischer Hinsicht gleichwertig sind.
({6})
Deswegen stellt die vorliegende Novelle zur Verpackungsverordnung auch ein Stück Innovation dar.
Was bedeutet das für die Verbraucher? Die Verbraucher werden ab kommenden Herbst ein Rücknahmesystem an allen Kiosken, Tankstellen und Bahnhöfen
(Zuruf der Abg. Tanja Gönner ({7})
- das gilt auch für den Bahnhof in Hannover, werte Kollegin - vorfinden. Soweit sie mobil sind, können sie es
also gut erreichen. Aber auch bei den Discountern wie
Spar und Netto wird es ein solches System geben. Wir
werden erleben, dass Mehrweg eine neue Chance hat.
Seit der Einführung der Pfandpflicht gibt es zum Beispiel wieder Erfrischungsgetränke in 0,5-Liter-Mehrwegflaschen. So etwas gab es jahrelang nicht mehr.
Schließlich wird es dort, wo der Vormarsch von Einweg
organisiert wurde, nämlich in den großen Einkaufsmärkten, fast nur noch Mehrwegverpackungen geben.
In diesem Sinne stellt die Novelle zur Verpackungsverordnung einen Schritt nach vorne dar. Wir haben damit unseren Teil der Vereinbarung umgesetzt. Ich erwarte vom Bundesrat und auch von der Wirtschaft, dass
sie ihre Zusagen vom Dezember letzten Jahres mit der
gleichen Beharrlichkeit und Vertragstreue umsetzen, wie
es der Bundesumweltminister mit seinen Zusagen getan
hat.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Tanja Gönner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der
heutigen Debatte geht es einmal mehr um die unendliche
Geschichte des Dosenpfandes. Wir diskutieren zum
wiederholten Mal über ein Gebiet der Abfallpolitik, das
sage und schreibe 4,3 Prozent des Hausmülls ausmacht.
Herr Minister Trittin hat aber die Dose zum Staatsfeind
Nummer eins erklärt.
({0})
Scheinbar gibt es in der Umweltpolitik kein dringenderes Thema mehr. Da dem nicht so ist, möchte ich Ihnen einige wichtige umweltpolitische Themen ins Gedächtnis rufen. Eine grundsätzliche Novellierung des
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes sollte dringend
in Angriff genommen werden. Aber nein, hier wird kein
Bedarf gesehen. Wir diskutieren lieber noch immer über
die Pfandregulierung. Des Weiteren steht die Novelle
des EEG vor der Tür. Aber nein, Herr Trittin, Sie müssen
erst davon überzeugt werden, dass Ihr Verpackungsverordnungsentwurf in der jetzigen Fassung nicht tragbar
ist. Die Umsetzung des Kioto-Protokolls, Klimaschutz,
Emissionshandel und Nachhaltigkeitsstrategie sind die
weiteren Themen, mit denen wir uns momentan auseinander setzen sollten. Stattdessen beißt sich der Umweltminister an der Dose fest und verschiebt die wirklichen
Herausforderungen auf morgen.
({1})
Hätte sich der Minister offen gegenüber konstruktiven
Vorschlägen gezeigt, könnten wir heute schon einen großen Schritt weiter sein. Die Herausnahme der Milchprodukte aus der Pfandpflicht war im Laufe der bisherigen
Diskussion ein erfreuliches, wenn auch leider seltenes
Beispiel dafür, dass Sie manchmal Argumenten doch
noch zugänglich sind.
Im Übrigen war die Einführung der Verpackungsverordnung durch CDU/CSU und FDP 1991 ein großer
Durchbruch. Sie legte den Grundstein dafür, dass das
Ende der Ex-und-hopp-Gesellschaft eingeläutet werden
konnte. Produzenten und Verbraucher wurden damals
aufgefordert, Umweltschutz aktiv in ihr Leben zu integrieren. Dieses Konzept wurde akzeptiert und setzte sich
durch. Deutschland entwickelte sich in wenigen Jahren
zum Mülltrennungsweltmeister.
({2})
Vermeidung und hochrangige Verwertung von
Verpackungsabfällen waren die Ziele, die sich Klaus
Töpfer und Angela Merkel gesetzt haben. Die Verpackungsverordnung hat diese hoch gesteckten Ziele ohne
Zweifel erreicht. Wenn das Ziel erreicht ist, dann ist es
an der Zeit, mithilfe der gesammelten Erfahrungen und
der neuen technischen Erkenntnisse einen Schritt weiter
zu gehen und neue Ziele zu definieren. Die Rahmenbedingungen für die Verpackungsverordnung und den Entsorgungsmarkt müssen zukunftsfähig gestaltet werden.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass
die CDU/CSU-Fraktion wie im Übrigen auch die unionsgeführten Länder im Bundesrat in der letzten Novellierungsdebatte - sie fand 2001 statt - durchaus für eine
grundlegende und umfassende Novellierung eingetreten
sind.
({3})
Sie, Herr Minister, waren derjenige, der sich diesem
Weg verweigert hat - nicht der Bundesrat.
Unsere Aufgabe ist es nun, Schadensbegrenzung zu
betreiben. Wir brauchen schnellstmöglich eine zweckmäßige Lösung im Interesse des Verbrauchers und der
Wirtschaft. Deswegen hat die Union die jetzige Debatte
konstruktiv begleitet
({4})
und vier Mindestanforderungen vereinbart, und zwar
mit den Ländern, mit denen Sie keinerlei Einigung erzielt haben, auch wenn Sie das hier immer anders darstellen.
({5})
Erstens. Wir wollen für alle der Pfandpflicht unterliegenden Getränkeverpackungen im Interesse der Verbraucher ein einheitliches Pfand in Höhe von 25 Cent.
({6})
Zweitens. Wir wollen, dass Einweggetränkeverpackungen mit einem Füllvolumen von mehr als drei Litern ebenfalls von der Pfandpflicht freigestellt werden.
({7})
Drittens. Sie haben alle Einwegverpackungen für
Milch von der Pfandpflicht bereits freigestellt. Viertens.
Wir wollen, dass im Rahmen einer so genannten Innovationsklausel Möglichkeiten geschaffen werden, dass
ökologisch vorteilhafte Verpackungen anerkannt und
dann aus der Pfandpflicht herausgenommen werden.
({8})
Noch nicht einmal diesen Mindestanspruch erfüllt der
vorliegende Entwurf.
({9})
Um den für uns ganz zentralen Punkt herauszugreifen, möchte ich auf die Innovationsklausel noch einmal
eingehen. Der Begriff „ökologisch vorteilhaft“ ist in der
Novelle noch nicht einmal ansatzweise definiert.
({10})
Stattdessen soll der Status quo, der anhand statischer und
rückwärts gerichteter Kriterien misst, welche Verpackungen der Mehrwegglasflasche als Grundlage der Beurteilung gleichkommen und welche nicht, festgelegt
werden. Gerade die Einweggetränkeverpackungen wurden in den letzten Jahren ökologisch immer besser. Wollen wir diese Entwicklung in Zukunft wirklich dadurch
stoppen, dass wir der Industrie keine kalkulierbare Möglichkeit einräumen, ihre Verpackungen auch künftig
ökologisch zu optimieren?
Nach den Vorstellungen des Bundesumweltministers
müssen Bilanzen erstellt werden und muss jede einzelne
neue Verpackung ein langwieriges Prüfverfahren und
das gesetzgeberische Verfahren durchlaufen, um neu
eingestuft zu werden. Der Zeitraum, bis eine neue Verpackung Marktreife erlangt hat, wird sich vervielfachen.
Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen und unterbindet
jeden Anreiz zu Innovationen.
({11})
Gerade kleine und mittelständische Unternehmen, die
den Verpackungsmarkt prägen, werden durch diese
Hemmnisse geschwächt.
Wir befinden uns mit dieser Regelung in der geradezu
grotesken Situation, dass neue Verpackungsformen, die
wir heutzutage im Übrigen noch nicht einmal kennen,
von vornherein als schlecht eingestuft werden.
({12})
Nehmen wir also einmal an, dass die Bewertung und
Kontrolle von Verpackungsinnovationen durch Sachverständige und durch vom Umweltbundesamt anerkannte
Institute durchgeführt wird. Nennen Sie mir ausreichende Argumente dafür, dass eine Verpackung noch
den in dieser Novelle vorgesehenen Weg durchlaufen
soll, bevor sie den Status „ökologisch vorteilhaft“ erhält!
({13})
Lassen Sie mich einige weitere Schwachpunkte dieser Novelle ganz kurz ansprechen. Die Entscheidung des
Lenkungsausschusses, die Vorbereitungen für ein einheitliches Rücknahmesystem einzustellen, zeigt, dass
sich Handel und Wirtschaft mit der bestehenden Rechtsunsicherheit nicht abfinden wollen. Es geht um erhebliche Summen, die in das Rücknahmesystem investiert
werden müssen. Die Beteiligten haben ein Recht auf
klare Zukunftsperspektiven und stabile Rahmenbedingungen. Investitionen setzen Planungssicherheit voraus.
Wenn man dies als Gesetzgeber nicht leisten kann, dann
bekommt man die Quittung dafür.
({14})
Herr Minister, es ist eine Unverfrorenheit, den
schwarzen Peter einfach weiterzuschieben und den Handel des Rechtsbruchs zu bezichtigen. Sie, Herr Minister, sind momentan nicht in der Position, andere Menschen über einen Rechtsbruch zu belehren.
({15})
Nach der aktuellen Rechtslage müssten Getränkeverpackungen durchaus bepfandet werden. Dass Sie - in diesem Fall aber auch erfreulicherweise - in Absprache mit
der betroffenen Wirtschaft beschlossen haben, in diesem
Fall eine Ausnahme zu machen, heißt noch nicht, dass
Sie sich im Einvernehmen mit dem Recht befinden.
({16})
- Sie sollten nur nicht beim einen etwas tun und beim
anderen nicht. Man sollte vorsichtig sein, jemanden des
Rechtsbruchs zu bezichtigen, wenn man selbst das Gesetz nicht einhält, Herr Minister.
({17})
Es zeigt sich, warum die Union immer eine große Novelle wollte.
({18})
Im Übrigen: Die SPD-Kollegin Conrad, Umweltministerin in Rheinland-Pfalz, bemerkte zutreffend: Aus meiner Sicht ist eine große Novelle unverzichtbar. - Als
Union können wir uns dem nur uneingeschränkt anschließen.
Ein weiterer erstaunlicher Aspekt: Glasrecycling.
Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, dass ein
grüner Umweltminister gerade das altbewährte und gut
funktionierende Glasrecycling mit Rücklaufquoten von
90 Prozent gefährdet. Der erwartete Rückgang beläuft
sich auf 30 Prozent. Es wird zu einem Downrecycling
kommen. Es wird nicht mehr sortenrein eingesammelt
werden. Das bedeutet, dass ein hochwertiger Rohstoff
nur noch unter großen Qualitätsverlusten wieder verwerTanja Gönner
tet werden kann. Auf diese Weise verliert man wertvolle
Rohstoffe und verschwendet zusätzliche Energien.
({19})
Wie viele Fehlschläge wollen Sie eigentlich noch hinnehmen, bevor Sie ernsthaft handeln? Sie haben die Insellösungen und die Auslistung vieler Einwegprodukte
hingenommen. Die Verwirrung und Zusatzbelastung der
Verbraucher haben Sie stoisch hingenommen. Sie haben
hingenommen, dass es kein einheitliches Rücknahmesystem geben wird und damit der Verbraucher in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Gefährdung von Arbeitsplätzen im Einweg- und Brauereibereich ebenso wie die
Gefährdung des etablierten Glasrecyclings berühren Sie
kaum. In diesem Zusammenhang geht es darum, den
Saldo bei den Arbeitsplätzen im Blick zu haben.
({20})
Sie dürfen nicht nur gucken, wie viele Arbeitsplätze im
Bereich Mehrweg entstehen, sondern Sie müssen auch
sehen, wie viele Arbeitsplätze bereits vernichtet worden
sind.
({21})
Glauben Sie wirklich, dass alle diese Aspekte und die
entstehenden Parallelstrukturen im Sinne der Umwelt
und der Nachhaltigkeit sind? Im Gegenteil: Mit Ihrer Haltung gefährden Sie sogar die Erfolge, die Klaus Töpfer
und Angela Merkel für die Umwelt bereits erzielt haben.
({22})
Wir müssen heute mit Rücksicht auf alle drei Säulen
der Nachhaltigkeit die Ziele einer Verordnung ganz
klar festlegen. Der Ansatz der vorgelegten Novelle geht
viel zu kurz und wird diesem Anspruch in keiner Weise
gerecht.
({23})
Ich fordere Sie auf, Herr Minister: Zeigen Sie Verantwortung und prüfen Sie die Möglichkeiten für die von uns
geforderte Innovationsklausel! Die CDU/CSU bietet gern
ihre konstruktive Mitarbeit an. Ich zitiere erneut Ihre Kollegin Conrad, die gerade erst bestätigte: Die Innovationsklausel ist gewollt. - Erzählen Sie uns also nicht, es gäbe
keine Möglichkeiten für eine derartige Klausel!
Wir sollten gemeinsam prüfen: Gibt es ein Verfahren,
durch das die Überprüfung eines Antrags in einer bestimmten Zeit nach definierten Vorgaben stattfinden
kann? Gibt es die Möglichkeit, Kriterien festzulegen, aus
denen sich klar ergibt, wann eine Verpackung ökologisch vorteilhaft ist und wann nicht? Ist für eine solche
Innovationsklausel eine Kombination aus beidem, Verfahren und Kriterien, denkbar? Alle drei Möglichkeiten
führen für sich allein zu einer sinnvollen und zuverlässigen Bewertung von innovativen Produkten.
Herr Minister, wenn der Bundeskanzler Sie im Kabinett schon aufgefordert hat, mit dem Bundesrat ein vereinfachtes Verfahren zu entwickeln, mit dem dem Anliegen der Innovationsklausel inhaltlich voll Rechnung
getragen werden soll, dann sage ich zu Ihnen: Nehmen
Sie das Parlament ernst und bringen Sie diesen Aspekt
jetzt in die laufenden Beratungen des Bundestages ein!
In diesem Fall wären wir bereit, dem Verordnungsentwurf zuzustimmen, um zu retten, was zu retten ist. Ansonsten können Sie nicht mit der Zustimmung der Union
zu dieser Novelle rechnen.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer
ersten hier vorgetragenen Rede; Sie haben, glaube ich,
schon einmal eine Rede zu Protokoll gegeben.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Friedrich
Bollmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wieder einmal sprechen wir über die
Pfandpflicht für Getränkeverpackungen. Der heutige
Anlass ist das Einbringen der Novelle der Verpackungsverordnung durch die Bundesregierung. Wir sind der
Meinung, diese Novelle schafft ökologisch und ökonomisch sinnvolle Regelungen und ist verbraucherfreundlich. Vor allen Dingen aber hoffen wir, dass wir mit dem
Einbringen der Novelle die Diskussion versachlichen
und zügig eine einvernehmliche Regelung verabschieden können.
({0})
Bevor ich näher auf die Verpackungsnovelle eingehen
werde, möchte ich jedoch zunächst noch einige deutliche
Worte zu dem Streit der letzten Wochen sagen. Dieser
Streit um das Dosenpfand, der auch die Bürger unseres
Landes bewegt, ging von Handel und Industrie aus. Die
beteiligten Kreise der Wirtschaft sind zu Recht - im Übrigen auch von CDU-Ministern wie der Umweltministerin von Sachsen-Anhalt - kritisiert worden. Man kann
sogar mit Fug und Recht behaupten: Was sich die Vertreter von Handel und Industrie erlaubt haben, hat unsere
Republik noch nicht erlebt.
({1})
Über zehn Jahre sank trotz der Pfanddrohung in der
unter Umweltminister Töpfer verabschiedeten alten Verpackungsverordnung der Mehrweganteil kontinuierlich.
Die Wirtschaft hatte es damals selbst in der Hand, das
Pflichtpfand zu vermeiden. Der Markt wurde jedoch mit
in Dosen und Plastikflaschen abgefüllten Getränken
überschwemmt; mit anderen Worten: Die Wirtschaft hat
das Pfand selber ausgelöst.
({2})
Nachdem der Mehrweganteil unter 72 Prozent gesunken
war und Anfang 2002 feststand, das Pfand würde kommen, legten Handel und Industrie demonstrativ die
Hände in den Schoß. Statt mit dem Aufbau eines einheitlichen Rücknahmesystems zu beginnen, setzten sie auf
Konfrontation und versuchten mit zahlreichen Klagen,
die Einführung des Pfandes zu verhindern.
({3})
Erst nachdem klar war, dass das Pflichtpfand nicht
abzuwenden sei, lenkten sie ein. Im Dezember letzten
Jahres verpflichtete sich die Wirtschaft, bis zum
1. Oktober 2003 ein einheitliches Rücknahmesystem
aufzubauen. Die Bundesregierung ist dabei der Wirtschaft entgegengekommen, indem sie eine neunmonatige Übergangsfrist zur Installierung eines einheitlichen
Pfandsystems gewährt hat. Mit ihrer Ankündigung, den
Aufbau eines solchen Systems zu stoppen, brachen Teile
von Handel und Industrie ihre verbindliche Zusage und
geltendes Recht. Sie veranstalteten ein absurdes Theater,
um sich ihren Verpflichtungen zu entziehen.
({4})
Besonders grotesk waren die Begründungen für den
Bruch der Vereinbarungen. In irreführender Weise wurde
ein Brief der Brüsseler Umweltkommissarin Margot
Wallström als Beweis für fehlende Rechtssicherheit herangezogen. Darin hatte Frau Wallström im Gegenteil den
zügigen Aufbau eines Rücknahmesystems gefordert und
nur die jetzige, wenig verbraucherfreundliche Übergangsregelung kritisiert. Frau Wallström hat auch sofort
klargestellt, dass ihr Brief vollkommen missverständlich
interpretiert worden sei und sie nichts gegen das Dosenpfandmodell als solches habe.
({5})
Ebenso wenig greift das Kostenargument: Erstens
spart die Getränkeindustrie seit Januar dieses Jahres die
Lizenzgebühren für den Grünen Punkt, circa 160 Millionen Euro pro Halbjahr. Zweitens verdient der Handel
durch den Pfandschlupf zurzeit circa 50 Millionen Euro
pro Monat.
({6})
Durch das jetzige, verbraucherunfreundliche System
werden also von Januar bis Juni 2003 dem Bürger rund
300 Millionen Euro vorenthalten.
({7})
Drittens werden sich die Kosten für ein Rücknahmesystem auf maximal 1 Cent pro Dose belaufen.
({8})
Ein Finanzierungsproblem dürfte also für Handel und Industrie nicht gegeben sein.
Der geschätzte Pfandschlupf bei einem funktionierenden Rücknahmesystem beläuft sich dagegen auf circa
100 Millionen Euro pro Jahr. Der Aufbau eines einheitlichen Rücknahmesystems kommt also dem Verbraucher
zugute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verurteilen diesen Bruch von Vereinbarungen und das Verhalten von
Teilen der Wirtschaft aufs Schärfste.
({9})
Es darf in unserer Republik nicht zur Gewohnheit werden, dass bindende Zusagen, Vereinbarungen und Gesetze nach Gutdünken aufgekündigt werden. Als Konsequenz daraus müssen wir uns überlegen, ob in Zukunft
das Instrument der Selbstverpflichtung der Wirtschaft
noch akzeptiert werden kann.
({10})
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
auch bei unterschiedlichen Auffassungen in Einzelfragen sollten wir dieses Verhalten der beteiligten Wirtschaftskreise gemeinsam verurteilen.
({11})
Teile des Handels haben inzwischen eingesehen, dass totale Verweigerung und Gesetzesbruch der falsche Weg
sind, und den Aufbau eines Rücknahmesystems angekündigt.
({12})
Mit der heute eingebrachten Novelle zur Verpackungsverordnung sorgen wir für die nötige Rechtssicherheit
und schaffen eine ökologisch sinnvolle und verbraucherfreundliche Regelung beim Dosenpfand. Grundsätzlich
gilt dann, dass auf alle Einwegverpackungen Pfand erhoben wird. Ausgenommen davon sind nur ökologisch vorteilhafte Verpackungen wie Getränkeverbundkartons,
Schlauchbeutel und Folienstandbeutel sowie Wein, Spirituosen, diätetische Getränke, Milch und Milchmixgetränke mit einem Mindestanteil von 50 Prozent Milch.
Damit wird die von allen Seiten als unübersichtlich und
verbraucherunfreundlich kritisierte bisherige Regelung
verbessert. Zukünftig wird sich die Pfandregelung nicht
mehr am Getränkeinhalt orientieren, sondern an der Verpackungsart. Unser Ziel ist es, Mehrwegsysteme und
umweltfreundliche Verpackungen zu fördern.
({13})
Meine Damen und Herren, mit dieser Regelung schaffen wir eine für den Verbraucher übersichtliche Regelung. Genau das ist es, was die Bürger unseres Landes
wollen.
({14})
Die überwiegende Mehrheit begrüßt das Dosenpfand,
aber die Bürger wollen vor allem klare Regelungen bezüglich der Pfandpflicht und der Rückgabemöglichkeiten.
In der Novelle wird klar geregelt, dass alle Vertreiber
von pfandpflichtigen Getränkeverpackungen mit einer
Verkaufsfläche von mehr als 200 Quadratmetern die
pfandpflichtigen Verpackungen zurücknehmen müssen.
Kleinere Läden und Vertreiber von Verkaufsautomaten
haben sicherzustellen, dass in zumutbarer Entfernung
eine Rückgabemöglichkeit vorhanden ist.
({15})
Mit diesen Vorschriften haben wir eine eindeutige
Grundlage geschaffen; nun muss der Handel entsprechende Rücknahmesysteme aufbauen.
Ich begrüße hier ausdrücklich, dass die Firma
Lekkerland ein Rücknahmesystem für Kioske, Tankstellen und kleinere Läden aufbauen will.
({16})
Ich bin überzeugt, dass sich weitere Händler diesem System anschließen werden. Ich fordere die Verweigerer von
Handel und Industrie auf, ihre destruktive Blockadehaltung aufzugeben und sich zugunsten des Verbrauchers am
Aufbau eines Rücknahmesystems zu beteiligen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heute vorgelegte Novelle beruht auf den Vorstellungen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen sowie auf den Vereinbarungen
des Bundesumweltministeriums mit den Bundesländern.
({17})
Wir Sozialdemokraten sind überzeugt, dass das Pflichtpfand im Sinne der Verbraucher sowohl ökologisch als
auch ökonomisch die beste Lösung ist. Bereits jetzt zeigen sich ökologisch positive Effekte: Der Dosenmüll in
der Landschaft ist zurückgegangen.
({18})
Der Anteil von Mehrwegverpackungen hat wieder zugenommen. Ich empfinde die gestern öffentlich gewordene
Nachricht, dass Deutschlands Brauereien aktuell unter einem akuten Mangel an Mehrwegflaschen leiden und dass
den rund 1 200 Braustätten insgesamt 1 Million Leergutkästen fehlen, als eine durchaus positive Nachricht. Die
Nachfrage nach Bier in Pfandflaschen ist im Jahr 2003 erheblich gestiegen. Genauso wichtig ist es, dass der durch
die Dosenflut hervorgerufene Wettbewerbsnachteil mittelständischer Brauereien aufgehoben wird.
({19})
Gleichzeitig gibt es aber noch große Unsicherheit bezüglich der Zukunft des Pfandes. Ich appelliere an Sie,
meine Damen und Herren von Union und FDP sowie an
die unionsgeführten Bundesländer, konstruktiv und vor
allem rasch an einer einvernehmlichen Lösung mitzuarbeiten. Eine schnelle Lösung liegt im Interesse des Verbrauchers und der Verpackungsindustrie. Der mit den
Bundesländern ausgehandelte Kompromiss, der die
Grundlage für die Novelle der Bundesregierung bildet,
bietet dafür eine gute Basis.
Ich weiß, dass es noch einige streitige Punkte gibt.
Insbesondere wird eine Innovationsklausel gefordert.
Wir Sozialdemokraten lehnen eine Innovationsklausel
ohne Beteiligung des Parlaments ab.
({20})
Unserer Auffassung nach darf die parlamentarische Zuständigkeit nicht ausgehöhlt werden. Dafür gibt es auch
gute Gründe. Ökobilanzen werden nach naturwissenschaftlichen Kriterien erarbeitet, aber die Gewichtung
der Kriterien ist eine politische Aufgabe. Die Ergebnisse
von Ökobilanzen, aber insbesondere die Prioritäten der
Kriterien müssen politisch bewertet werden.
({21})
Eine demokratische Kontrolle ist daher unerlässlich.
({22})
Ebenso ist die Pfandhöhe umstritten. In der Tat liegen die Pfandbeträge in den europäischen Nachbarländern niedriger. Wir haben aber bewusst die Bevorzugung
der Mehrwegsysteme über die Pfandhöhe gewählt; denn
das Ziel der Verordnung sind die Stützung und der Ausbau von Mehrwegsystemen.
Meine Damen und Herren, trotz dieser Streitpunkte
und einiger weniger Einzelpunkte ist diese Novelle zwischen Parlament, Bundesregierung und Bundesländern
konsensfähig.
({23})
Ich denke, dass wir uns über die streitigen Punkte einigen können. Eine schnelle Einigung ist im Interesse der
Verbraucher und der Wirtschaft. Die Verpackungsindustrie, zum Beispiel auch die Dosenhersteller, brauchen
dringend Planungs- und Investitionssicherheit.
Ich habe vor einiger Zeit mit den Betriebsräten und
den Besitzern der Firma Nacanco in Gelsenkirchen gesprochen. Sie haben gesagt: Wir brauchen dringend klare
Angaben, wie das Rücknahmesystem demnächst funktionieren soll, wir brauchen Planungs- und Investitionssicherheit. - Ich denke, dafür werden wir sorgen, insbesondere mit dieser Novelle.
({24})
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass die
Novelle der Bundesregierung eine gute Lösung ist, und
bitte um Ihre Zustimmung.
Danke schön.
({25})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute endlich über die Novelle der Verpackungsverordnung. Ich frage mich, Herr Minister
Trittin, warum Sie diese Novelle eigentlich nicht früher
vorgelegt haben, wenn Sie hier so stark betonen, dass es
um Investitionssicherheit für die Wirtschaft gehe.
({0})
Sie verschweigen bei dieser Gelegenheit nämlich,
dass Investitionssicherheit mit dem Verfahren, das Sie
vorhaben, überhaupt nicht erreicht wird.
({1})
Denn selbst wenn der Bundesrat, der sich damit ebenfalls noch befassen muss, über die Novelle in der nächstmöglichen Sitzung abschließend beraten würde, was gar
nicht zu erwarten steht, weil es Änderungswünsche gibt,
dann wäre das erst am 26. September und mithin vier
Tage vor dem 1. Oktober. Nun frage ich Sie, was das für
eine Investitionssicherheit für die Betriebe sein soll,
wenn diese erst vier Tage vor der Umsetzung vielleicht
wissen, um was es geht!
({2})
Deswegen müssen Sie sich schon Folgendes anhören:
Im Februar haben Sie hier einen Kompromiss mit den Ländern verkündet - den es so nicht gibt, wie wir wissen -, der
dem entspricht, was in diesem Entwurf steht. Heute führen wir eine vereinbarte Debatte über dieses Thema.
Nächsten Freitag soll abschließend darüber beraten werden. Am nächsten Mittwoch soll es dazu von 10 bis
13 Uhr eine Anhörung im Ausschuss geben. Nach einer
Pause von zwei Stunden wird dann um 15 Uhr darüber
entschieden.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen, Herr Minister Trittin:
Ich finde, Sie legen im Umgang mit diesem Hause eine
unglaubliche Arroganz an den Tag.
({3})
Ich verstehe nicht, warum die Kolleginnen und Kollegen
von der SPD und den Grünen sich von Ihnen dazu missbrauchen lassen, dieses Thema im Schweinsgalopp
durch den Deutschen Bundestag zu peitschen.
({4})
Dabei gibt es erheblichen Klärungsbedarf; das wissen
auch Sie. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit hat angekündigt, es wolle eine Studie in Auftrag geben, um die Kosten für die Rücknahmesysteme zu klären, weil es da unterschiedliche Zahlen gibt. Wie soll
denn das funktionieren? Wenn wir dieses Thema schon
am 4. Juli abschließend im Bundestag beraten, sollten
Sie die Kosten für dieses Gutachten sparen und sich lieber in der Regierung einigen.
({5})
Es geht nicht nur darum, was ökologisch vorteilhaft ist, es
geht - die Innovationsklausel wurde angesprochen - auch
um Transparenz. Ihre Regelung ist nicht transparent und
schon gar nicht unbürokratisch, sondern sie ist sehr bürokratisch. Angesichts dessen frage ich mich, warum Sie
den offensichtlichen Klärungsbedarf verneinen. Selbst
der Herr Bundeswirtschaftsminister Clement hat im Kabinett eine Protokollnotiz abgegeben, in der es heißt,
dass es in diesem Punkt ein Problem gibt. Wieso lassen
Sie uns im Deutschen Bundestag nicht vernünftig darüber beraten?
({6})
Es gibt nach wie vor kein flächendeckendes Rücknahmesystem. Auch das müssen Sie einräumen. Sie haben keine Klarheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher geschaffen. Stattdessen gibt es das Problem
mit den Insellösungen, von denen wir hier schon gehört
haben. Damit haben Sie in der Tat ein europarechtliches
Problem;
({7})
denn Frau Wallström hat schon deutlich gemacht, dass
sie nur ein bundeseinheitliches Rücknahmesystem und
nichts anderes akzeptieren wird.
({8})
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Verwirrung hört nicht
auf. Sie verlagern die Verwirrung zwischen Cola und
Whiskey-Cola sozusagen ins Kühlregal zu Kefir und
Molke. Da gibt es dasselbe Problem mit der Verpackung:
Die eine Verpackung wird bepfandet und die andere
nicht. Auch was Sie zur Vermüllung der Landschaft gesagt haben, stimmt in dieser Form nicht. Genauso wenig
stimmt die generelle Aussage, dass das Pfand wirkt.
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Noch eine letzte Bemerkung, Frau Präsidentin. - Herr
Minister Trittin, Sie vergessen nämlich, dass sich die Situation wieder ändern wird, wenn erst einmal Rücknahmeautomaten installiert sind. Deswegen fordere ich Sie
auf: Machen Sie den Menschen draußen im Lande nicht
ein X für ein U vor! Nutzen Sie die Chance für eine umfassende Novelle der Verpackungsverordnung!
({0})
Ich schließe die Debatte. Da es eine vereinbarte Debatte war, gibt es keine Überweisung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Hartmann ({0}), Gudrun Kopp,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Otto Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bergschäden regulieren - kohlepolitische Weichenstellung vornehmen
- Drucksache 15/475 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Abgeordnete Christoph Hartmann für die FDP.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Stellen Sie sich vor, es gäbe heute hier einen
Antrag, der folgendermaßen lauten würde: Wir fordern
eine Beschäftigungsoffensive für 43 000 Arbeitsplätze,
die 3 Milliarden Euro kostet. Das bedeutet eine staatliche Subvention pro Arbeitsplatz von 70 000 Euro. - Sie
würden den Antragsteller - offen gestanden - für verrückt erklären, und das vollkommen zu Recht.
Aber die Realität ist, dass wir genau dieses in Deutschland im Moment haben. Trotz leerer Haushaltskassen leisten wir uns eine Alimentierung einer sterbenden Industrie.
3 Milliarden Euro könnte man besser ausgeben, als die
deutsche Steinkohle damit zu subventionieren.
Das häufig angeführte Argument, dass wir die deutsche Steinkohle zur Energiesicherung brauchen, trägt
nicht mehr. Denn nur knapp über 10 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs in Deutschland werden von der heimischen Steinkohle gedeckt. Durch Importkohle aus krisensicheren Ländern wie Australien, Polen oder
Südafrika könnte die heimische Steinkohle substituiert
werden. Importkohle ist preisgünstiger, sie ist qualitativ
hochwertiger und sie ist umweltfreundlicher
({0})
als die Steinkohle, die wir in unserem Lande aus der
Erde holen.
Es gibt immense Schäden durch den Abbau der Steinkohle. Der Kohleabbau unter dem Rhein, der Schäden
wie Absenkungen von Deichen hervorruft, ist nicht verantwortbar; das Elbehochwasser sollte jedem von uns
noch im Gedächtnis sein. Zu den umweltpolitischen Problemen kommen die Eigentumsschäden hinzu, die die
persönliche Lebensumwelt und die wirtschaftliche Lage
der betroffenen Bewohner stark beeinflussen.
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus meiner saarländischen Heimat nennen. Fürstenhausen ist ein Stadtteil
von Völklingen. Völklingen hat 50 000 Einwohner und
liegt in der Nähe von Saarbrücken. Laut einem Brief des
Oberbürgermeisters von Völklingen an Bundeswirtschaftsminister Clement wurden allein im letzten Jahr
34 Millionen Euro unter diesem Stadtteil verbuddelt,
nämlich für die Regulierung von Bergschäden. Es gibt in
Fürstenhausen 720 Gebäude. Das heißt, pro Haus und Jahr
werden für Schadensregulierung mehr als 47 000 Euro ausgegeben. Das alles ist aber nur Statistik. Es geht um die
Einzelschicksale, die dahinter stecken, um Menschen,
die sich ihre Häuser mühsam aufgebaut haben.
({1})
Zu dem, was heute als „kleinere Schäden“ betrachtet
wird, liegt mir ein Beispiel vor: Seit 1995 wurden mehr
als 100 000 Euro für ein einziges Haus aufgewendet.
Wenn das kleinere Schäden sind, was sind denn dann
mittlere Schäden, was große Schäden? 80 Prozent der
Häuser in Fürstenhausen haben eine Gaswarnanlage. Die
Preise der Immobilien, die die Altersvorsorge der betroffenen Menschen darstellen, sinken dramatisch. Die Menschen wandern aus den betroffenen Gebieten ab, allein
im Bereich Fürstenhausen in den letzten zehn Jahren
12 Prozent. Wer kümmert sich eigentlich um die Einbuße an Lebensqualität in diesem Bereich?
Deswegen stellen wir heute in diesem Zusammenhang einen Antrag. Er kommt zum richtigen Zeitpunkt.
Denn es geht derzeit um die Verhandlungen über eine
Anschlussregelung der Steinkohlefinanzierung. Wir
wollen Gerechtigkeit, und zwar nicht nur für die betroffenen Mitarbeiter, sondern endlich auch für die betroffenen Bewohner.
({2})
Unser Antrag stellt keine Maximalforderung dar. Wir
wollen lediglich zum ersten Mal über alle Aspekte des
Bergbaus sprechen, also auch über die Belange der Bergbaubetroffenen.
Die Bundesregierung erklärt immer, sie sei für Sozialverträglichkeit. Dabei meint sie aber immer nur die Mitarbeiter im Bergbau. Wenn wir über Sozialverträglichkeit sprechen, dann wollen wir, dass dies auch für die
vom Bergbau betroffenen Menschen gilt.
({3})
Deswegen haben wir in unserem Bundestagswahlprogramm die Forderung des Abbaustopps unter bewohntem Gebiet festgeschrieben. Unseren Ankündigungen
lassen wir Taten folgen. Das unterscheidet uns von den
Grünen. Die hatten in ihrem Bundestagswahlprogramm
die gleiche Forderung. Der Kollege Ulrich im Saarland
schreibt auf seine Plakate: „Abbaustopp sofort!“ Aber
wenn diesen Worten Taten folgen sollen, dann fallen die
Grünen um. Sie müssen jetzt beweisen, ob es sich dabei
nur um Lippenbekenntnisse handelt oder ob Sie wirklich
etwas für die betroffenen Menschen in der Region tun
wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht um
einen Paradigmenwechsel in der deutschen Steinkohlepolitik. Es geht darum, die Umwelt und die betroffenen
Bewohner vor weiteren Schäden zu schützen. Geben Sie
unserem Antrag Ihre Stimme!
Christoph Hartmann ({4})
Vielen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ulrich
das Wort.
Lieber Kollege Hartmann, Sie sagen es natürlich richtig:
({0})
Wir als Grüne im Saarland haben Positionen, die sich in
weiten Teilen mit dem decken, was Sie in Ihrem Antrag
formuliert haben. Der deutsche Steinkohlebergbau richtet in der Tat sowohl an der Saar als auch an der Ruhr
enorme Schäden an - so enorme Schäden, dass auch ich
der Meinung bin, dass das in dieser Art und Weise nicht
weiter tragbar ist. Aber deshalb treten die Grünen sowohl hier im Deutschen Bundestag als auch in Nordrhein-Westfalen und im Saarland dafür ein, dass der
Steinkohlebergbau bis zum Jahre 2010 gegen null gefahren wird.
Was in den Gebieten geschieht, wo unter bewohntem
Gebiet abgebaut wird, ist ein Sonderproblem. Man sollte
sich das - ob das in Nordrhein-Westfalen oder im Saarland ist - einmal anschauen.
Herr Kollege, Sie dürfen hier nicht einfach eine Rede
halten. Sie sollten schon irgendwie auf den Kollegen
Hartmann eingehen.
Ich komme gleich zum Kollegen Hartmann. - Diese
Menschen dort leiden unter echtem Psychoterror; das
kann man nicht von der Hand weisen.
Nur, Herr Hartmann - jetzt komme ich zur FDP -, man
muss einmal die Frage stellen: Wer hat uns denn diese
ganzen Steinkohlesubventionen mit eingebrockt? Als die
Steinkohlesubventionen hier im Deutschen Bundestag
beschlossen wurden, war ein FDP-ler Bundeswirtschaftsminister. Als der Kohlepfennig vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde, hat ein FDP-Bundeswirtschaftsminister dafür gesorgt, dass diese Gelder fortan
aus dem Bundeshaushalt geflossen sind - ohne dass es
eine Deckung gegeben hätte. Die FDP ist also einer der
ursprünglichen Verursacher der Steinkohlesubventionen.
({0})
Insofern ist es schon ein wenig heuchlerisch, wenn
Sie heute hier so tun, als seien Sie der Kämpfer für den
Abbau der Subventionen im Steinkohlebergbau. Sie
selbst haben das verursacht, worunter wir heute in diesem Lande leiden.
({1})
Herr Kollege Ulrich, für wen reden Sie eigentlich?
Reden Sie für sich oder reden Sie für Ihre Fraktion?
Denn für Ihre Fraktion redet, glaube ich, gleich die Kollegin Hustedt, die eine ganz andere Position vertritt.
Diese Regierungskoalition wird - so haben Sie schon
verlauten lassen - unserem Antrag nicht zustimmen.
({0})
Sie sind also in Ihrer Fraktion isoliert. Wenn Ihnen das,
was die grüne Fraktion hier erzählt, nicht gefällt, dann
können Sie gerne aus den Grünen austreten.
Es geht jetzt endlich um die Frage, was wir für die
Menschen in diesem Land tun können. Deswegen geht
es nicht mehr um Worte, sondern um Taten. Wir haben
diesen Antrag gestellt, weil endlich Taten folgen müssen
und weil es mit den Lippenbekenntnissen endlich vorbei
sein muss.
({1})
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat der
Abgeordnete Dieter Grasedieck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nicht alles darf man kritisieren, was die alte
FDP eigentlich ganz gut gemacht hat: die Einstielung der
Subventionen. Genau hier wollen wir in den nächsten
Jahren weitermachen. Darauf legen wir Wert.
Vor allem aber finden wir, dass die Diskussion, welche
die FDP heute führt, nur zur Verschleierung beiträgt. Ihr
Oberziel ist die Streichung der Kohlesubventionen; nur als
Nebenprodukt sprechen Sie den Bergschaden an. Die Probleme des Bergschadens werden natürlich auch vom Bergbau gesehen. Er bietet Problemlösungen an und bemüht
sich nach Kräften. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Hartmann,
wohne ich in einem Bergschadensgebiet. Ich sehe die vielen Bemühungen des Bergbaus und weiß, wie verantwortlich unser Bergbau bei Schadensregulierungen vorgeht:
({0})
Zum Beispiel baut man in Wohngebieten flächig ab,
Bruchkanten sind so ausgeschlossen. Das wissen Sie
vielleicht nicht. Schauen Sie sich das etwas genauer an!
Schäden an Wohngebäuden, die auf Bruchzonen basieren, will der Bergbau so vermeiden. In Waldgebieten
und Weidegebieten versucht man, den Bergbau durch
ökologische Planungen zu begleiten. Man hat viele gute
Ansätze wie die Haldenbegrünung gefunden. Ich meine,
unser Bergbau geht da wirklich verantwortlich vor.
Seit einigen Jahren sind auch Servicezentren in den
Bergwerken eingerichtet. In dem großen Servicezentrum
in Duisburg zum Beispiel können Fragen und Probleme
erläutert werden, immer mit dem Ziel, die Bergschäden
möglichst schnell zu regulieren. Genau das wird auch erreicht.
Herr Hartmann, Sie führen jetzt eine große Debatte
über die Streichung der Kohlesubventionen. Vielleicht
wissen Sie nicht, dass die Kosten für die Regulierung der
Schäden sowieso weiter übernommen werden müssen;
diese liegen bei etwa 1,5 Milliarden Euro. Ein Teil der
Subventionen muss allein für diesen Bereich eingesetzt
werden.
Unser Bergbau steht zu seiner Verantwortung. Die
FDP hingegen sieht nur die Probleme, nicht die Stärken
des Bergbaus: Der Mittelstand wird durch unseren
Bergbau gefördert.
({1})
Das ist ein Vorteil. Weitere Beispiele sind zu nennen:
Beim Bau des Tunnels zwischen Dover und Calais wurden deutsche Bergmaschinen eingesetzt und sind deutsche Firmen bei der Vermessungstechnik beteiligt. Deutsche Unternehmen produzieren auch die Maschinen für
den Gotthardtunnel.
Unser Bergbau treibt Innovationen voran. Der Drehstrommotor des ICE ist für den Bergbau entwickelt worden. Auch das muss gesehen werden. Unser Bergbau
fördert und sichert Arbeitsplätze, sowohl im Osten als
auch im Westen, sowohl im Norden als auch im Süden.
Der Mittelstand wird so unterstützt.
Unser Bergbau fördert auch die Zukunft. Betrachten
wir den Quantensprung bei der Hobelmaschine! Sie ist
ein Exportschlager: 40 Prozent höhere Geschwindigkeit
beim Abbau.
Das bedeutet natürlich Vorteile. Dadurch wird der
Mittelstand gefördert. Die Mittelstandsförderung ist
doch ein Spezialthema - offensichtlich eher ein Scheinthema - der FDP. Die Hobelanlage ist ein Exportschlager: Amerikaner, Russen und Chinesen sind daran beteiligt. In der Bergtechnik hat das Markenzeichen „Made in
Germany“ wirklich noch einen guten Ruf. Das ist keine
Frage.
({2})
Die FDP spricht in ihrem Antrag von klaren Rahmenbedingungen für die Zukunft. Natürlich brauchen wir
diese Planungssicherheit für unseren Bergbau auch über
2010 hinaus. Wir brauchen auch für unseren Mittelstand
Planungssicherheit über 2010 hinaus, weil viele Betriebe
Teile für unsere Bergmaschinen produzieren.
Im Bergbau gibt es 7 500 Ausbildungsplätze. Dort
werden Industriemechaniker, Elektroniker und IT-Kaufleute ausgebildet. Die Qualität der Ausbildung steht außer Frage; sie ist allgemein anerkannt. Die ausgebildeten
jungen Leute werden von der Industrie übernommen.
Zusammenfassend können wir feststellen:
Erstens. Unser Bergbau steht bei Bergschäden zu seiner Verantwortung.
Zweitens. Unsere Bergmaschinen werden ständig
schneller, stabiler und mit feinster Elektronik ausgestattet. „Made in Germany“ hat in diesem Bereich noch einen hohen Stellenwert.
Drittens. Unser Bergbau macht junge Menschen fit
für die Zukunft.
Deshalb brauchen wir unseren Bergbau auch nach
2010.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Pfeiffer.
({0})
Frau Kumpf, auch Sie sollten wissen, dass Bergbau
etwas mit Energie zu tun hat.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte einige grundsätzliche Bemerkungen
zur Steinkohle machen. Die Rolle und Bedeutung der
Steinkohle hat sich in den letzten Jahrzehnten bekanntermaßen drastisch verändert. Einst war die Steinkohle von
herausragender nationaler strategischer Bedeutung für
die Energie- und Wärmeerzeugung, sowohl was die
Wirtschaft und die Haushalte betrifft als auch was die
Versorgungssicherheit generell betrifft als auch zur Sicherung der Unabhängigkeit vom Ausland. Vor allem
war sie aber ein dominanter Wirtschafts- und Beschäftigungsfaktor.
Hierzu nenne ich nur einige Zahlen und Fakten: 1960
gab es im Steinkohlebergbau in Deutschland noch
600 000 direkt Beschäftigte. In über 150 Bergwerken
wurden circa 150 Millionen Tonnen Steinkohleeinheiten
gefördert. Wie war die Entwicklung? 1980 waren es nur
noch rund 190 000 Beschäftigte; heute sind es knapp
50 000 Beschäftigte. Bis zum Jahr 2005 wird ein weiterer Rückgang auf 36 000 Beschäftigte prognostiziert. Im
gleichen Zeitraum sank die Förderung von 87 Millionen
Tonnen 1980 auf 26 Millionen Tonnen im Jahr 2002. Die
Anzahl der Zechen sank von den genannten 150 auf 39
im Jahr 1980 und auf 10 im Jahr 2002. Die Schließung
zweier weiterer Zechen steht bereits fest.
Warum erzähle ich Ihnen das? Weil im Ergebnis festzustellen ist, dass die wirtschafts- und beschäftigungspolitische Bedeutung des Steinkohlebergbaus nicht nur in
der nationalen Dimension sehr viel geringer geworden
ist, sondern er und die mit ihm verbundenen Implikationen mittlerweile nur noch von regionaler Bedeutung
sind.
({0})
Sie beschränken sich im Wesentlichen auf zwei Bundesländer, nämlich auf das Saarland und NordrheinWestfalen. Das Saarland hat den Mut zum konsequenten Strukturwandel. Der Steinkohlebergbau wird im
Saarland auslaufen. Die neue Regierung unter Peter
Müller stellt sich dieser unangenehmen Wahrheit
({1})
und ist dabei, dem Wirtschaftsstandort Saar ein neues,
zukunftsfähiges Profil zu geben.
({2})
Das Thema Steinkohle befindet sich dort sozusagen in
Abwicklung und ist abgehakt. Es bleibt NordrheinWestfalen. In Nordrhein-Westfalen wird der heimischen
Steinkohle eine, wenn auch zunehmend weiter schwindende, Zukunft gegeben.
Vor diesem Hintergrund stelle ich mir die Frage: Welche Rolle soll bzw. muss der Bund in einer ehemals nationalen, jetzt aber überwiegend regional - politischen
Themenstellung überhaupt noch spielen? Kommt ihm
dabei überhaupt noch eine Rolle zu?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Ulrich?
Nein.
Darüber hinaus ist in der Schule die Frage zu beantworten, welche Zukunftsoptionen es gibt.
Klar ist - auch das ist angeklungen -, dass der Steinkohlebergbau in Deutschland allein aus tektonischen
Gründen auf dem Weltmarkt niemals wettbewerbsfähig
sein kann und sein wird. Dies ist keine Frage der Produktivität und auch keine Frage der technischen Möglichkeiten.
Welche Zukunftsfragen sind also zu klären? Erstens
geht es - das wurde gerade von Ihnen angesprochen um die Frage der Erhaltung und Weiterentwicklung der
Export- und Technologiekompetenz im Bergbau, der
Kernkompetenz in der Gewinnungs- und Fördertechnologie, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu bleiben.
Was ist hierfür notwendig? Brauchen wir Referenzanlagen in Deutschland und, wenn ja, wie viele?
({0})
Brauchen wir dafür einen Sockel aus heimischer Förderung und, wenn ja, wie hoch muss er sein? Müssen wir
langfristig einen Zugang zur Steinkohleförderung aufrechterhalten? Alles Fragen, die es in diesem Prozess zu
beantworten gilt.
Ein zweites Thema ist die Rolle der Steinkohle im zukünftigen Energiemix. Gegenwärtig kommt ungefähr
die Hälfte der bei der Steinkohleverstromung in
Deutschland verwendeten Kohle aus heimischer Steinkohle. Welche Rolle kann und wird diese in der Zukunft
hier noch spielen können? Versorgungssicherheit spielt
hier ebenso eine Rolle wie auch die Umwelt- und Klimapolitik. Wie sieht es mit den so genannten Clean Coal
Technologies aus? Welche Rolle kann die Steinkohlestromerzeugung, ob aus Import- oder Exportkohle, dort
in der Zukunft spielen? Alles Fragen, die dringend einer
Klärung zugeführt werden müssen.
Es gibt viele offene Fragen, aber die Bundesregierung
verweigert bisher leider den Dialog. Nicht nur hier und
im zuständigen Wirtschaftsausschuss wird ständig ausgewichen und vertröstet, auch gegenüber den Ländern,
zum Beispiel im Umgang mit dem Saarland, wird der
Dialog verweigert.
({1})
Ich fordere Sie auf: Kommen Sie Ihrer Regierungsverpflichtung nach und sagen Sie, was Sie wollen. Der
Steinkohlebergbau und die Menschen, die davon betroffen sind, haben es verdient. Die CDU war immer ein Garant dafür.
({2})
Die jetzige Regelung von 1997 kam unter Führung der
CDU zustande. Es gab Planungssicherheit. Jetzt dauert
es nur noch zweieinviertel Jahre, bis der Vertrag ausläuft, und bis heute wurde nichts vorgelegt.
({3})
Insofern stimmen wir dem Antrag der FDP zu.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bis
2005 gilt der Kohlekompromiss von 1997. Während der
Laufzeit dieses Kompromisses, also bis 2005, wird die
Kohlesubvention von 4,73 Milliarden auf 2,81 Milliarden Euro, Bundesanteil 2,17 Milliarden Euro, herunter
gefahren. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass
das durchaus ein klarer Degressionspfad ist. Er zeigt
aber auch deutlich, dass die deutsche Steinkohle im internationalen Vergleich eben nicht konkurrenzfähig ist
und deshalb die Subventionen herunter gefahren werden
müssen. Hinzu kommt noch eine so genannte Bugwelle,
nämlich die Mittel aus der Finanzverpflichtung nach
dem Steinkohlebeihilfengesetz von 1997. In den Jahren
2006 bis 2008 kommen daraus im Bund 700 bis
800 Millionen und in NRW 500 bis 600 Millionen Euro
auf uns zu.
In diesem Jahr muss die Nachfolgeregelung für die
Zeit nach 2005 gefunden werden. Die Koalition wird
deshalb über diesen Punkt verhandeln. Da wir mit dem
Steinkohlebeihilfengesetz ein Bundesgesetz ändern wollen und werden, muss das mit Zustimmung beider Fraktionen geschehen.
({0})
Dazu sage ich Ihnen, Kollege Hartmann: Anträge sind
noch keine Taten. Anträge sind Worte.
({1})
Wir werden mit unserer Mehrheit hier im Bundestag einen gemeinsamen Beschluss fassen und dann werden
unseren Worten Taten folgen. Sie werden sehen, dass wir
zum richtigen Zeitpunkt einen gemeinsamen Vorschlag
auf den Tisch legen werden.
({2})
Für uns Grüne ist das durchaus eine energiepolitisch
bedeutsame Frage. Allerdings muss man sagen: Wenn
die deutsche Steinkohle durch Importkohle ersetzt wird,
hat man natürlich umweltpolitisch auch nichts gewonnen. Viel sensibler ist die Frage: Wie viel Subventionen
können wir uns in knappen Haushaltszeiten leisten?
Diese Frage wird im Zentrum der Diskussionen stehen.
({3})
Wir diskutieren zurzeit darüber, ob wir die nächste
Stufe der Steuerreform vorziehen können. Das machen
wir davon abhängig, dass wir tatsächlich Subventionen
abbauen. Das ist also auch in diesem Zusammenhang
wichtig.
Die Grünen waren schon immer für Sinkflug und nicht
für Sturzflug. Dazu stehen wir auch weiterhin. Unser Ziel
ist - ähnlich wie das der EU-Kommission -, bis zum Jahr
2010 zu einem Abschluss zu kommen. Ich weiß, dass die
SPD in dieser Frage eine andere Position hat;
({4})
das muss ich gar nicht unter den Teppich kehren. Aber
ich bin davon überzeugt, dass wir einen Kompromiss
finden werden. Ein Kompromiss deutet sich schon darin
an, dass die EU das Jahr 2010 als Zeitfenster vorgibt. Ich
finde, auf dieses Zeitfenster sollten wir uns in den Gesprächen auch konzentrieren.
Man muss sich natürlich auch mit den Folgeschäden
auseinander setzen. Dazu zählen die deutliche Erhöhung
der Überschwemmungsgefahr, Grundwasseranstieg und
Trinkwasserverschwendung, die es in großem Maße
gibt. Außerdem sind die drastischen Absenkungen zu
nennen, die teilweise bis zu 14 Meter betragen. Wenn
man sich das konkret vor Ort ansieht, dann weiß man,
dass die Menschen, die dort Häuser gebaut haben, sehr
stark betroffen sind.
({5})
Ich bin der Meinung, dass die FDP in diesem Zusammenhang nur Krokodilstränen vergießt. Wo waren Sie
von der FDP denn bei Garzweiler II? Es ging dabei um
ganze Dörfer, die abgebaggert werden mussten. Es ging
dabei aber auch um echte Klimaschutz- und Umweltschutzfragen. Es war gerade die FDP in Nordrhein-Westfalen, die mit fliegenden Fahnen für Garzweiler II gekämpft hat. Da kann ich nur sagen: Lassen Sie Ihre
Krokodilstränen! Wenn, dann müssen Sie stringent argumentieren.
({6})
Bei einer Nachfolgeregelung zur Kohlesubvention
muss es - das sage ich ganz deutlich - einen weiteren
Degressionspfad geben. Wenn wir den bisher bestehenden Degressionspfad fortsetzen, dann bedeutet das circa
300 Millionen Euro pro Jahr weniger. Das ist die Größe,
an der wir uns messen lassen müssen.
({7})
Darüber hinaus sind wir der Meinung, dass wir bei
den Überlegungen, welche Zechen geschlossen werden
sollen, auch Qualitätskriterien berücksichtigen müssen,
also welche Folgeschäden es bei der jeweiligen Zeche
gibt. Warndt/Luisental oder Walsum sind zwei Zechen,
die besonders weit reichende Folgeschäden hervorrufen.
Ich fände es gut, wenn wir zu dem Kompromiss kommen würden, dass dies die nächsten Zechen sind, die geschlossen werden.
Abschließend komme ich auf die Rechte der Betroffenen zu sprechen. Das Bundesberggesetz stammt noch
aus preußischer Zeit. Ich glaube nicht, dass es noch unserem heutigen Demokratieverständnis entspricht. In
Nordrhein-Westfalen gibt es den scherzhaften Spruch:
Verfassung bricht Bundesrecht, Bergrecht bricht Verfassung. Ich glaube, wir sollten im Zusammenhang mit der
Steinkohlesubvention auch darüber sprechen, ob wir
nicht, was die Rechte der Betroffenen betrifft, das Bundesberggesetz an das heutige Niveau anpassen. Ich
finde, es gehört zu einem Gesamtpaket dazu, dass die
Rechte der Betroffenen gestärkt werden.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl-Josef
Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, dass es unter den heutigen Naturschutz- und Umweltschutzgesichtspunkten eine Selbstverständlichkeit sein muss und dass es an der Zeit ist,
dass sich der Gesetzgeber angesichts der Entwicklung
etwa im Abbaugebiet Dinslaken, der großen Sorgen, die
die Menschen dort haben - diese kann man nicht ignorieren; das sieht man auch an der Stärke der Bürgerinitiative -, oder auch angesichts der Auswirkungen der Untertunnelung des Rheins etwa auf den Wasserhaushalt in
der Region überlegt, wie durch ein modernes Bergrecht
diese Gedanken des Umweltschutzes, die früher bei weitem nicht die Bedeutung gehabt haben wie heute, stärker
berücksichtigt werden.
({0})
Ich vertrete einen Wahlkreis, zu dem auch das Bergbaugebiet Ibbenbüren gehört. Ich weiß sehr wohl, wie
schwer es ist, eine ländliche Region, die seit vielen Generationen vom Bergbau geprägt ist, umzustrukturieren,
um den Menschen in dieser Region auch ohne Bergbau
eine Perspektive zu geben.
({1})
Wir haben in den vergangenen Jahren vieles geschafft.
Vor 20 Jahren waren auf dem Bergwerk, von dem ich
gerade gesprochen habe, noch 8 000 Leute beschäftigt.
Heute arbeiten auf diesem Bergwerk noch 2 600 Leute.
Im Arbeitsamtsbezirk Rheine im Kreis Steinfurt - das
liegt im Tecklenburger Land - haben wir die niedrigste
Arbeitslosenquote in ganz Nordrhein-Westfalen. Das
heißt, diese Region hat einen guten Teil der Umstrukturierung mit einem lebenden Bergbau geschafft. Ich
glaube, dass diese Umstrukturierung nur Schritt für
Schritt und mit einem lebenden Bergbau möglich ist.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Als ich 1990 in
den Bundestag kam, damals war die Kohlepolitik auch
wieder einmal Thema - das ist temporär alle paar Jahre
der Fall -,
({2})
konnten wir uns - daran kann ich mich gut erinnern - eine
Ruhrkohle AG als einen der industriellen Kerne im Ruhrgebiet ohne die Steinkohle gar nicht vorstellen.
({3})
Schauen wir uns die Ruhrkohle AG heute einmal an.
Sie macht in Deutschland mehr Umsatz mit Chemie und
Immobilien als mit der Steinkohle. Es ist gut, dass ein so
wichtiger Arbeitgeber für Nordrhein-Westfalen diese
Umstrukturierung mit einem lebenden Bergbau Schritt
für Schritt geschafft hat. Für Nordrhein-Westfalen und
die Menschen, die bei der RAG beschäftigt und dort auf
Arbeit und Brot angewiesen sind, ist das eine gute Entwicklung. Im Übrigen hat die Union diese Entwicklung
bei der RAG politisch schon unterstützt, als die SPD im
Ruhrgebiet das noch für Vaterlandsverrat gehalten hat.
({4})
Natürlich hat die FDP in einem Punkt ihres Antrages
Recht: Die Bundesregierung muss mit der Deutschen
Steinkohle AG noch in diesem Jahr darüber reden, wie
es ab 2005 weitergehen soll; denn gerade im Bergbau
braucht man Planungssicherheit und vernünftige Vorläufe.
({5})
Das ist aber auch der einzige Punkt, den ich in Ihrem
Antrag unterschreibe.
Ich meine, wenn die Bundesregierung das jetzt tun will,
dann muss sie ein energiepolitisches Gesamtkonzept haben. Dieses kann ich bei der Bundesregierung zurzeit
nicht erkennen.
({6})
Ich glaube auch, dass die Steinkohle nur in einem Energiemix aus Kernenergie, fossilen Brennstoffen und regenerativen Energien darstellbar ist. Deswegen bedauere
ich es sehr, dass diese Koalition den Ausstieg aus der
Kernenergie im Grunde beschlossen hat.
({7})
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Subventionen für die erneuerbaren Energien über den Strompreis
die Subventionen für den Steinkohlebergbau im nächsten Jahr zum ersten Mal übersteigen werden.
({8})
Noch einmal ganz ruhig: Die Subventionen für die erneuerbaren Energien über den Strompreis werden die
Subventionen für den deutschen Steinkohlebergbau im
nächsten Jahr übersteigen.
({9})
- Ich habe ja gesagt: über den Strompreis.
Ich sage Ihnen: Diese Subvention, die Sie für die erneuerbaren Energien über den Strompreis organisieren,
sichert in Deutschland nur etwa ein Zehntel der Kilowattstunden, die die Steinkohle mit der gleichen Subvention produziert. Ich finde, auch das muss man dabei
bedenken.
Ich glaube auch, dass wir gut überlegen sollten, ob
wir am Ende nicht doch einen lebenden Restbergbau
über das Jahr 2010 hinaus behalten müssen,
({10})
weil es in Deutschland - das muss man bedenken - auch
Bergbautechnologie gibt.
({11})
Es ist unstreitig, dass die Steinkohle, dieser fossile
Brennstoff, in diesem Jahrhundert für die Energieversorgung dieser Erde eine enorme Bedeutung haben wird.
({12})
Wenn ich richtig informiert bin, dann liefert der deutsche
Maschinenbau etwa 45 Prozent der Bergbautechnologie,
die weltweit gekauft wird. Mir wird gesagt, dass diese
Verkäufe oft nur deswegen zustande kommen, weil die
Leute aus China, Südamerika und Russland vor Ort sehen, wie diese Maschinen arbeiten.
({13})
- Wir haben modernste Zechen.
({14})
Viele hier im Bundestag sagen, dass wir den Metrorapid in Deutschland brauchen, weil wir diese Technologie verkaufen wollen. Ich glaube, das könnte auch ein
Argument für eine weltweit so wichtige Technologie wie
die Bergbautechnologie sein, was man mit berücksichtigen sollte.
({15})
Herr Kollege Laumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ulrich?
Ich gestatte gern eine Zwischenfrage.
Wenn die Logik, die Sie für den Referenzbergbau anführen, auch für andere Zweige gilt, dann müssten wir
im Prinzip für alle Produkte, die Deutschland stark in die
Welt exportiert, Referenzanlagen vorweisen können.
Ich frage Sie: Ist das so? Ich nenne als Beispiel Meerwasserentsalzungsanlagen. Wo laufen diese denn in
Deutschland? Sie werden doch trotzdem von Deutschland exportiert. Ich halte Ihr Argument mit den Referenzanlagen für völlig falsch und an den Haaren herbeigezogen.
Ich sage noch einmal ganz ruhig: Ich glaube, dass es
sich eine Volkswirtschaft, die Wohlstand und soziale Sicherung nur über exportfähige Produkte verteidigen
kann, gut überlegen sollte, ob sie aus einem Markt, der
weltweit noch viele Jahre, wahrscheinlich noch dieses
Jahrhundert, eine riesige Rolle spielt, schlicht und ergreifend aussteigt.
({0})
Dies gilt in besonderem Maße, weil wir in diesem Bereich schon Anteile am Weltmarkt haben. In anderen Bereichen müssen wir sie uns erst erkämpfen. Dies ist zu
berücksichtigen.
Ich finde es in Ordnung - das sage ich deutlich -, dass
sich bis jetzt in Deutschland nur eine Partei klar geäußert
hat, wie sie sich das mit der Kohle in Zukunft vorstellt,
nämlich die CDU in Nordrhein-Westfalen.
({1})
Der CDU-Landesverband Nordrhein-Westfalen hat klar
gesagt, dass zwar eine weitere Degression bei den Kohlebeihilfen nötig sein wird und eine Halbierung dieser
Beihilfen bis 2010 gut vorstellbar ist, weil er sieht, dass
ein Abbau der Kohlesubventionen notwendig ist, um in
anderen staatlichen Bereichen sowohl auf der Landesebene wie auf der Bundesebene für Zukunftsaufgaben
handlungsfähiger zu werden. Aber wir werden deutlich
vor 2010 die Frage beantworten müssen: Haben wir gute
Gründe, einen Restbergbau zu behalten? Aus meiner
persönlichen Sicht gibt es schon heute dafür Gründe.
Schönen Dank.
({2})
Es ist allzu schade, dass ich zur Position der CDU in
Nordrhein-Westfalen von dieser Stelle aus nichts vortragen darf, obwohl mir dazu manches einfiele.
({0})
Nun hat die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Hartmann, der Antrag, den Sie fabriziert haben, ist - das
muss ich schon sagen - der klassische Schaufensterantrag.
({0})
In Ihrem Wahlprogramm haben Sie noch gefordert, den
Gesamtsubventionsbetrag für den Zeitraum 2002 bis einschließlich 2005 zu halbieren, danach überhaupt keine
Beihilfen mehr zu zahlen und natürlich auch betriebsbedingte Kündigungen in Kauf zu nehmen. Davon steht in
dem heute von Ihnen vorgelegten Antrag überhaupt
nichts.
Die Debatte um den Subventionsabbau wird im Übrigen sehr scheinheilig geführt. Alle sind für Subventionsabbau. Wenn es aber konkret wird, dann fällt den meisten die Steinkohlefinanzierung ein, aber nicht die
übrigen Subventionstatbestände.
Ich will noch einmal die Zahlen nennen, damit sie
endlich zur Kenntnis genommen werden: Von 1996 bis
2003 sind die Beihilfen um 2 Milliarden Euro zurückgegangen; das sind über 43 Prozent. Im Jahr 2005 wird
diese Summe bei knapp 2,1 Milliarden Euro liegen; das
ist eine Reduzierung der Subvention des deutschen
Steinkohlebergbaus von über 55 Prozent in zehn Jahren.
Alle können einmal nachrechnen, was das in anderen
Subventionsbereichen bedeutete, egal ob in der Landwirtschaft oder in anderen Bereichen. Aber falls es dazu
kommen sollte, werden hier am Pult andere stehen, um
zu erklären, warum das nicht möglich ist.
({1})
1997 waren im deutschen Steinkohlebergbau noch
78 000 Menschen beschäftigt. Die Zielgröße für 2005
liegt bei 36 000 Beschäftigten. Bei der Reduzierung des
Personals hat der deutsche Steinkohlebergbau also eine
deutliche Vorleistung gebracht. Man muss ebenfalls
erwähnen, dass all dies sozialverträglich geschehen ist.
Dies sollte auch in Zukunft so sein.
({2})
Wir dürfen nicht vergessen, dass mit den Kohlebeihilfen
nicht nur die 46 100 Arbeitsplätze bei der Deutschen Steinkohle gesichert werden, sondern dann, wenn man den Faktor 1,3 unterstellt, indirekt auch weitere 60 000 Arbeitsplätze bestehen bleiben. Das heißt, wir reden hier über
100 000 Arbeitsplätze, die direkt und indirekt von den
Kohlebeihilfen abhängen. Wer in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit meint, 100 000 Arbeitsplätze seien vernachlässigbar, der soll bitte schön mit den Menschen und ihren
Familien in den ohnehin von Arbeitslosigkeit überproportional betroffenen Regionen reden. Dort wird er anderes zu hören bekommen.
({3})
Dann kommt das beliebte Argument, das Herr
Hartmann eben auch gebracht hat, nämlich die Summe
der Kohlebeihilfen durch die Anzahl der im Kohlebergbau Beschäftigten zu dividieren. Dann kommt man auf
einen Betrag x je Arbeitsplatz. Dabei wird völlig vergessen, dass noch wesentlich mehr Arbeitsplätze in anderen
Bereichen vom Bergbau abhängen, es wird vergessen,
dass Mehrwertsteuer, Lohnsteuer und Unternehmensteuer gezahlt werden und, wenn 100 000 Leuten gekündigt würde, auch Arbeitslosengeld zu finanzieren ist.
Das fällt nicht vom Himmel. Es muss auch irgendwo
herkommen.
({4})
Vielleicht sollten Sie sich alle einmal die Mühe machen,
diese Rechnung aufzumachen. Sie werden dann sehen,
dass Sie zu anderen Ergebnissen kommen.
Es wird immer wieder gesagt, dass der Bergbau eine
Auslauftechnik ist. Ich fordere Sie auf, sich die Technik
einmal unter Tage anzuschauen.
({5})
Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal unter Tage gewesen sind. Das ist Hochtechnologie, was wir dort haben. Wenn es so ist, dass die Bergbautechnik - im Übrigen auch die Kraftwerkstechnik - in Deutschland zur
Weltspitze gehört
({6})
und wir deutliche Vorteile beim Export auf dem Weltmarkt haben, dann muss man sich vergegenwärtigen,
was das für die Zukunft bedeutet. Wenn Schwellenländer
wie China und andere in den nächsten Jahrzehnten einen
höheren Energiebedarf haben werden und diesen durch
ihre Kohlevorräte decken werden, dann wären wir doch
mit dem Klammersack gepudert, wenn wir es nicht
schaffen würden, die modernsten Anlagen der Bergbautechnik und der Kraftwerkstechnik dorthin zu exportieren. Denn das, was wir dort durch die moderne Technologie an CO2 einsparen, könnten wir hier selbst dann
nicht einsparen, wenn wir die Steinkohleverfeuerung
ganz einstellen würden.
({7})
Ich möchte noch einmal auf unser schönes Bundesland
zurückkommen, Herr Hartmann, aus dem wir beide
kommen. Dass jemand, der Landesvorsitzender einer
Partei im Saarland ist, im Zusammenhang mit der künftigen Finanzierung des Bergbaus negiert, dass insgesamt
15 000 Arbeitsplätze direkt und indirekt vom Bergbau
abhängen, finde ich schon etwas merkwürdig. Sie gehen
überhaupt nicht darauf ein, was kommen soll, wenn die
Subventionen ab 2005 wegfallen.
({8})
Ich muss eines zum Thema Planungssicherheit sagen.
Die Regierung aus CDU/CSU und FDP, die vor 1998 im
Amt war, hat alle zwei bis spätestens drei Jahre angefangen, die Vereinbarungen, die über längere Zeiträume gegolten haben, infrage zu stellen und damit Verunsicherung bei den Unternehmen, den Beschäftigten und den
Menschen in den Regionen hervorgerufen.
Diese Bundesregierung hat den Kohlekompromiss
von 1997 eingehalten. Wir werden eine tragfähige Anschlussfinanzierung finden. Darauf haben wir uns im
Koalitionsvertrag verständigt. Wenn man sich das alles
anschaut, dann ist klar, dass wirtschaftliche und individuelle Interessen vor Ort in den Bergbauregionen bei
den Bergschäden aufeinander stoßen. Ich würde mir
auch wünschen, dass es an der einen oder anderen Stelle
etwas unbürokratischer zugeht und vielleicht noch weniger als bisher von den Gerichten in der Frage der Schadenregulierung geklärt werden müsste. Aber die Alternative kann nicht sein, dass der Ausstieg aus dem
Steinkohlebergbau in Deutschland beschlossen wird. Ich
glaube, damit würden wir uns allen einen Bärendienst
erweisen.
Deshalb können wir Ihren Antrag nur ablehnen.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/475 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Verwendung von Verwaltungsdaten für
Zwecke der Wirtschaftsstatistiken ({0})
- Drucksache 15/520 Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
({1})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2})
- Drucksache 15/1229 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1237 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Kurt J. Rossmanith
Anja Hajduk
Jürgen Koppelin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Da es
dazu keinen Widerspruch gibt, ist das so beschlossen,
wenngleich wir diese damit vereinbarte Zeit vermutlich
nicht gänzlich brauchen, weil von den angemeldeten
Rednern, nämlich dem Parlamentarischen Staatssekretär
Gerd Andres und dem Kollegen Fritz Kuhn und der Kol-
legin Gisela Piltz, die sorgfältig vorbereiteten Reden zu
Protokoll gegeben werden1). Der Parlamentarische
Staatssekretär Gerd Andres hat das mit der Erwartung
verbunden, dass seine besonders sorgfältig vorbereitete
Rede in Marmor gemeißelt und in Glasvitrinen ausgestellt wird.
Das kann ich - schon wegen des Risikos von Wiederholungsfällen - ausdrücklich nicht zusagen. Dennoch
nehmen wir das Angebot, die Rede zu Protokoll zu geben, dankbar zur Kenntnis.
Ich erteile nun dem Kollegen Hartmut Schauerte das
Wort und weise ihn ausdrücklich darauf hin, dass ihm
keineswegs die gesamte eingesparte Redezeit zur Verfügung steht.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich gehöre zu der kleiner werdenden Minderheit in
diesem Haus, die dem Wort den Vorrang gegenüber der
in Marmor gemeißelten Schrift gibt.
Ich wende mich jetzt kurz dem vorliegenden Gesetz-
entwurf zu. Wir alle wollen, dass insbesondere zuguns-
ten des Mittelstands unnötiger Ballast durch statistische
Erhebungen verringert bzw. beseitigt wird. Das soll mit
dem Gesetzentwurf erreicht werden. Wir halten dieses
Gesetz für ungeeignet, um das angestrebte Ziel zu errei-
chen.
Wir haben ein besonderes Anliegen: Wir würden es
begrüßen, wenn ein solches „Gesetzchen“, um das es
heute geht und das der Zustimmung des Bundesrates be-
darf, vorher mit dem Bundesrat abgestimmt wird, damit
eine Chance besteht, dass es zur Verabschiedung kommt.
Sie beschäftigen das Parlament im zunehmenden Maße
1) Anlage 2
mit Initiativen, bei denen nichts herauskommt. Ich kann
Ihnen schon jetzt versichern, dass der Bundesrat den Gesetzentwurf nicht akzeptieren wird. Deswegen wird er
dann an den Vermittlungsausschuss überwiesen und erneut im Parlament beraten werden.
Der Gesetzentwurf ist nicht solide genug vorbereitet.
Deswegen werden wir ihn in der zweiten und dritten Beratung ablehnen.
({0})
- Wenn es darum geht, mir eine Frage zu stellen, würde
ich sie ausnahmsweise zulassen.
Nun erhält der Kollege Andres das Wort für eine in
Marmor gemeißelte Zwischenfrage.
Herr Kollege Schauerte, Sie wissen, dass ich auch darin geübt bin, frei zu sprechen. Das verleitet mich zu der
Frage, ob es möglich ist, dass Sie nicht dazu gekommen
sind oder nicht die Gelegenheit hatten, ein Manuskript
anzufertigen, und dass Sie dieser Sachverhalt zwingt,
eine Rede zu halten.
({0})
Wäre es nicht jenseits des generellen Vorwurfs an die
Bundesregierung, dass wir alles schlampig und schlecht
vorbereitet hätten, möglich, alle Redebeiträge zu diesem
Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben, weil sie
wahrscheinlich keinen Menschen mehr interessieren?
({1})
Wir hatten verabredet, dass ich Sie nur zwei Minuten
aufhalten würde, aber jetzt zwingen Sie mich, daraus
drei zu machen.
({0})
Ich sehe mich in diesem Hohen Hause absolut auf der
richtigen Seite; denn wir werden immer wieder dazu ermahnt, nicht abzulesen, wie Sie es wahrscheinlich getan
hätten, sondern frei zu sprechen.
({1})
Darum habe ich mich bemüht. Ich meine aber, dass wir
die Debatte an dieser Stelle abbrechen können. Arbeiten
Sie in Zukunft etwas weniger an der schriftlichen Vorbereitung Ihrer Reden und dafür etwas solider an den Gesetzen!
Herzlichen Dank.
({2})
Um eine völlig unnötige Kontroverse über die Geschäftsordnung zu vermeiden, weise ich zu dem Disput
zwischen den Kollegen Andres und Schauerte abschließend auf § 33 unserer Geschäftsordnung mit der Überschrift „Die Rede“ hin:
Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.
Ich füge der Vollständigkeit hinzu: Aufzeichnungen,
die man nicht hat, kann man auch nicht benutzen.
({0})
Nun schließe ich die Aussprache.
Ich komme zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Verwaltungs-
datenverwendungsgesetzes auf Drucksache 15/520. Der
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1229, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist
dieser Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit auch in
dritter Beratung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in
Bund und Ländern 2003/2004 ({1})
- Drucksachen 15/1186, 15/1223 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines... Gesetzes zur Änderung
dienstrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1021 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Versorgungsbericht der Bundesregierung
- Drucksache 14/7220 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war auch
hierzu eine Aussprache von 30 Minuten vorgesehen.
({5})
Die Kollegen Hans-Peter Kemper, Stephan Mayer,
Clemens Binninger und Ernst Burgbacher geben ihre
Reden zu Protokoll.1)
({6})
- Ich bitte um Nachsicht. Wir nehmen selbstverständlich
auch diese zu Protokoll. Ich konnte eben nur die Namen
derjenigen förmlich mitteilen, die mir annonciert waren.
Das ist einer der seltenen Augenblicke, in denen das Präsidium nicht alles weiß. Wir ergänzen aber gerne.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/1186, 15/1223, 15/1021 und 14/
7220 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Siegmund Ehrmann, Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Auf dem Weg zur Erreichung der Millennium
Development Goals ({8}) - Probleme bei
der Zielerreichung erkennen und bewältigen
- Drucksache 15/1005 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Keine Sorge, der Antrag ist in deutscher Sprache ver-
fasst.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen. -
Dazu gibt es keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Klaus Werner Jonas für die
SPD-Fraktion.
1) Anlage 3
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Nachsicht, dass
ich Sie jetzt strapaziere. Aber ich glaube, es gibt nichts
Besseres, als seine Jungfernrede in heiterer Runde zu
halten. Aus diesem Grunde habe ich mich in Absprache
mit unserer Geschäftsführung dazu entschlossen, zu reden.
Über 50 Jahre hat sich die Welt drastisch verändert.
Die Grenzen in Europa sind in diesem Zeitraum größtenteils verschwunden. Die Mauern sind gefallen. Die
neuen Informations- und Kommunikationstechnologien
bringen die Menschen näher zueinander. Es ist eine viel
versprechende Welt, aber auch eine Welt, in der leider
ein großer Teil der Menschen von den Errungenschaften
der Technologie und der Kultur ausgeschlossen ist.
Während ein Sechstel der Weltbevölkerung eine Lebensqualität genießt, wie es sie noch nie gegeben hat, leidet
ein anderes Sechstel der Weltbevölkerung unter großem
Hunger, Krankheit, Armut und höchster Unsicherheit.
1,2 Milliarden Menschen leben in unserer Welt mit weniger als 1 US-Dollar pro Tag und sind damit als extrem
arm einzustufen.
Angesichts dessen wird der eine oder andere sicherlich fragen: Was gehen uns diese Zahlen an, da wir doch
zu dem besser gestellten Sechstel der Weltbevölkerung
gehören? Obwohl wir unsere eigenen Probleme haben
- die Arbeitslosigkeit, die Entwicklung in den neuen
Bundesländern, die anstehenden Reformen in den Gesundheits- und Sozialsystemen -, gibt es in der Bevölkerung Verständnis für die Notwendigkeit der Entwicklungszusammenarbeit. Hier möchte ich ganz deutlich
feststellen: Armut, Krankheit, Kriege, ob hier oder auf
anderen Kontinenten, diese Probleme gehen uns sehr
wohl etwas an; denn sie haben Auswirkungen bis in unsere Hemisphäre. Gerade in dieser Woche haben wir im
Europarat zu diesem Thema feststellen müssen, dass die
Auswirkungen für uns von erheblicher Bedeutung sind.
Ich denke nur an das Problem des Menschenhandels in
Zentralasien. Ich nenne in Bezug auf die Umwelt als
Stichworte nur den Klimawechsel und die Umweltkatastrophen, in Bezug auf unsere Gesellschaft die Migration
und - aus ökonomischer Sicht - die Weltwirtschaftskrise.
Als die Staats- und Regierungschefs die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen unterzeichnet haben, haben sie diese Tatsache offiziell anerkannt. Nirgendwo werden die Herausforderungen, vor denen wir
stehen, besser als in dieser Millenniumserklärung beschrieben. Mit dieser Erklärung haben die Staaten einen
bemerkenswerten Schritt getan, indem sie sich verpflichteten, gemeinsam die globalen Probleme anzugehen. In
dieser Erklärung manifestieren sich konkrete und zum
Teil klar bezifferte Ziele, etwa die Halbierung der Armut
in der Welt bis 2015, aber auch die Themen Frieden, Sicherheit, Abrüstung, Demokratie, Entwicklung, Umweltschutz und Menschenrechte. Halbierung der Armut
der Welt bezieht sich auf diejenigen Menschen, die mit
weniger als 1 Dollar pro Tag leben müssen.
Die Millenniumserklärung gibt einen roten Faden vor,
an dem wir unser politisches Handeln orientieren müssen, insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der Entwicklungszusammenarbeit.
Seit September 2000 wurden konkrete Schritte eingeleitet, um die Millenniumserklärung umzusetzen und die
Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt zu stellen.
Im März 2002 fand in Monterrey eine Konferenz über
die Finanzierung der Entwicklung statt. Daraufhin verpflichtete sich die Europäische Union, die Mittel ihrer
Mitgliedstaaten für die Entwicklungshilfe auf durchschnittlich 0,39 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzuheben. Mitgliedstaaten, deren Beitrag unter diesem
Wert lag, wurden aufgefordert, ihre Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf mindestens 0,33 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes anzuheben. In diesem Kontext hat auch die Bundesregierung im Jahr 2002 die
Haushaltsmittel für die Entwicklungszusammenarbeit
auf 0,27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angehoben
und will sie bis 2006 schrittweise auf 0,33 Prozent erhöhen.
({0})
Im April 2001 wurde das Aktionsprogramm 2015
vom Bundeskabinett beschlossen, in dem Deutschland
seinen Beitrag zur Erreichung der Millennium Development Goals festlegt. Trotz der Bemühungen sowohl auf
internationaler als auch auf nationaler Ebene gibt es aber
beträchtliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung.
Aus dem Bericht des UN-Generalsekretärs vom Herbst
2002 über die Umsetzung geht hervor, dass 13 Jahre vor
der gesetzten Frist die Fortschritte in der Armutsbekämpfung weitgehend unzureichend sind. Während
davon ausgegangen werden kann, dass Teile Süd- und
Ostasiens die festgelegten Ziele erreichen können, wenn
sie ihren Kurs fortsetzen, haben Regionen wie Lateinamerika, Afrika und große Teile Zentralasiens nur kleine Fortschritte, wenn nicht sogar tragische Rückschritte zu verzeichnen. Deshalb stellen wir diesen Antrag.
Die Probleme müssen erkannt werden. Von der Bundesregierung muss erwartet werden, dass sie in ihrer Politik Fortschritte macht. Der Bundestag hat die Aufgabe,
die Bundesregierung hierbei nachhaltig zu unterstützen.
({1})
Auch der Deutsche Bundestag muss seinen Beitrag zu
der beispiellosen Anstrengung der Völker und der Staaten leisten, die Globalisierung aktiv mitzugestalten, indem er der Bundesregierung den Rücken stärkt und dort,
wo es nötig ist, auch Lösungsansätze vorträgt.
({2})
In diesem Antrag benennen wir die einzelnen anstehenden Aufgaben. Ich bitte Sie ganz herzlich: Unterstützen Sie diesen Antrag! Stimmen Sie zu! Zeigen wir, dass
der Deutsche Bundestag die Armutsbekämpfung als einen der Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik betrachtet! Wir werden in Zukunft Nutznießer sein, wenn die
Armut in der Welt nachhaltig gesenkt wird; denn es entbindet uns von vielen anderen Aufgaben.
Vielen Dank.
({3})
Herr Kollege Jonas, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen
guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nun hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort. Ich glaube, das ist mindestens schon seine zweite Rede.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Jonas, ich schließe mich der Gratulation
ausdrücklich an, auch wenn ich sagen muss: Ich hätte
mir gut vorstellen können, diese Debatte hier bei einer
größeren Präsenz - auch von meiner Arbeitsgruppe - zu
führen. Da aber der FDP-Redner noch nicht da ist,
({0})
muss ich Ihnen jetzt ziemlich langsam, aber hoffentlich
deutlich ein paar Dinge zu den Millennium Development
Goals ins Stammbuch schreiben.
CDU und CSU unterstützen die so genannten Millenniumsentwicklungsziele, die die Vereinten Nationen - es
ist schon angesprochen worden - unter anderem mit ihrer Millenniumserklärung im Jahr 2000 und auch im
Monterrey-Konsens verkündet haben. Diese Ziele liegen
inhaltlich in der Kontinuität unserer jahrzehntelang betriebenen Politik und sind für die Zukunft auch eine
durchaus nützliche, stetige Mahnung an die Menschheit,
entschieden gegen Hunger, Armut und Umweltzerstörung einzutreten.
Nun ist es sicherlich sinnvoll, sich auch ehrgeizige
politische Ziele zu setzen, wenn denn dieser Ehrgeiz
dazu führt, dass zur Zielerreichung zumindest auch das
maximal Mögliche unternommen wird. Schlecht ist
allerdings, wenn ehrgeizige, als konkrete politische
Handlungsvorgabe eher wenig geeignete Ziele lediglich
ständig propagiert werden, in der harten entwicklungspolitischen Alltagsarbeit aber keinen Niederschlag finden. Das ist nun einmal genau die Situation, die wir in
der deutschen Entwicklungspolitik festzustellen haben.
Der Versuch, insbesondere das Millenniumsziel der Halbierung der weltweiten absoluten Armut bis zum Jahr
2015 in ein nationales Aktionsprogramm zu gießen, ist
leider kläglich gescheitert. Deswegen drängt sich für uns
der Verdacht auf, dass Sie diese Ziele mehr wie eine
Monstranz vor sich hertragen, um den stetigen sowohl
finanziellen als auch qualitativen Niedergang der deutschen Entwicklungspolitik zu kaschieren. Sie werden
Verständnis dafür haben, dass wir diese Ablenkungsstrategie nicht mitmachen.
({1})
- Es ist schon so.
Sie haben zu dem Thema einen Antrag vorgelegt. Ich
weiß nicht, wer von Ihnen diesen Antrag gelesen hat. Er
ist sehr lang. Zugegebenermaßen ist es kein Vergnügen,
sich da durchzukämpfen. Ich habe das einmal gemacht
und mein Eindruck ist: Darin steht manches, was Ihre eigenen engagierten Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker nicht so schön finden, wie sich das
auf dem Papier vielleicht liest.
Ich lese da zum Beispiel:
Zur Erreichung der Millenniumsziele sind sowohl
enorme Eigenanstrengungen der von Hunger und
Elend betroffenen Nationen als auch grundlegende
Reformen auf internationaler Ebene erforderlich.
Das ist so weit richtig, ist aber auch nicht alles. Es sind
nicht nur die Empfängerländer gefordert und es sind
nicht nur internationale Organisationen gefordert, sondern auch wir selbst sind gefordert, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen. Der Dreh- und Angelpunkt dieser Debatte, die wir zu führen haben, ist - das zu hören
kann ich Ihnen auch zu dieser vorgerückten Zeit nicht ersparen -, dass die Höhe unserer eigenen entwicklungspolitischen Anstrengungen in Deutschland völlig unzureichend ist. Das ist seit Jahren so und die Tendenz sieht
nicht besser aus.
({2})
Sie bekennen sich in dem Antrag noch einmal dazu,
die öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen zu erhöhen. Sie nennen die Zahl von 0,39 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie sind bisher aber nicht einmal in der
Lage, den auf europäischer Ebene für das Jahr 2006 festgelegten Mindestzielwert von 0,33 Prozent zu erreichen.
({3})
Wir haben in einer Anfrage die Bundesregierung ausdrücklich gebeten, einmal zu konkretisieren, wie das erreicht werden soll. Nichts! Fehlanzeige! Sie sind nicht in
der Lage, Mindestziele darzustellen, und tragen doch
hohe Ziele wie eine Monstranz vor sich her.
Sie schreiben in Ihrem Antrag als Erfolgsmeldung,
dass dem BMZ die federführende Koordination für den
Umsetzungsprozess zur Erreichung der Millenniumsziele übertragen worden ist. Das klingt auch so weit gut.
Aber einig sind wir uns darüber: Besser als eine federführende Koordinierung wären mehr finanzielle Mittel
für die Entwicklungszusamenarbeit, wie Sie sie immer
versprochen haben, was Sie aber bis heute nicht eingehalten haben.
Sie haben durch Ihre Bundesministerin im letzten
Jahr wiederholt erklären lassen, Sie wollten den Entwicklungshilfeetat langsam steigern und den Anteil der
Entwicklungshilfeleistungen am Bruttoinlandsprodukt
langsam steigern. Da war von 0,28 Prozent für das letzte
Jahr die Rede. Nicht einmal das haben Sie erreicht. Sie
sind bei den 0,27 Prozent stehen geblieben. Über eines
sind wir uns sicherlich einig: Das lag nicht daran, dass
das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr so unerwartet
stark gestiegen ist. 0,2 Prozent mehr, das spricht nun
wirklich nicht dafür, dass Sie von Ihrem eigenen Wirtschaftswachstum geradezu überrascht und überwältigt
worden sind.
Wir können Sie im Übrigen auch nur davor warnen,
aus falscher Rücksichtnahme gegenüber unseren Partnerländern politische Augenwischerei zu betreiben. Es
mag ja sein, dass nach Aussagen der Afrikanischen Entwicklungsbank - Sie zitieren das in Ihrem Antrag - circa
30 effizient wirtschaftende afrikanische Staaten die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit hinreichend nutzen. Das hieße, dass in mehr als der Hälfte der afrikanischen Staaten mit öffentlichen Entwicklungshilfegeldern
effizient gewirtschaftet wird. Bei allem Respekt: Ich
glaube nicht, dass wir davon ernsthaft ausgehen können.
Es nützt auch den Menschen in Afrika nichts, wenn wir
die Illusion nähren, es wäre anders.
Die Europäische Kommission ist da übrigens in ihren
Berichten sehr viel kritischer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie als Koalitionsfraktionen eher zahme Forderungen an die eigene
Regierung stellen, ist ja durchaus nachvollziehbar. Ich
höre gelegentlich von älteren Fraktionskolleginnen und
-kollegen, dass das früher bei uns auch einmal so war.
Sie sollten aber durchaus das zur Kenntnis nehmen, was
die Regierung früher schon einmal gemacht hat. Deswegen geht Ihre Forderung an die Bundesregierung, Instrumente wie die Devisentransaktionssteuer, die Sie ja als
innovativ bezeichnen, zu prüfen, in die falsche Richtung.
Das BMZ - die Parlamentarische Staatssekretärin wird
das bestätigen können - hat genau zu diesem Thema bereits eine Studie vorgelegt. Sie müssen jetzt einfach entscheiden, ob Sie sich die Forderung nach diesem Instrument, die sich bisher immer nur die PDS auf die Fahnen
geschrieben hat, jetzt zu Eigen machen. Sie haben dazu
eine Untersuchung gemacht; jetzt müssen Sie sich entscheiden. Wir haben dazu eine klare Position und sind
gern bereit, das mit Ihnen zu diskutieren. Die richtigen
Ansätze für eine moderne Entwicklungspolitik im Interesse effizienter Armutsbekämpfung und globaler Zukunftssicherung finden sich nach unserer Überzeugung
aber in anderen Bereichen. Wir haben das bei der Debatte über die Regierungserklärung der Frau Bundesministerin bereits deutlich zum Ausdruck gebracht.
Die deutsche Entwicklungspolitik hat ja in den vergangenen Jahrzehnten überwiegend unter unionsgeführten Bundesregierungen durchaus beachtliche Erfolge bei
der Armutsbekämpfung erzielt. In unserer globalisierten
Welt gilt es nun, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit auch konzeptionell diesen veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und gleichzeitig die längst
überfällige Reform der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit aller Kraft anzugehen. Wir stellen
aber unser Konzept einer internationalen sozialen
Marktwirtschaft als globale Regelarchitektur, mit der
für Kohärenz zwischen wirtschafts-, finanz- und entwicklungspolitischen Konzeptionen, für marktwirtschaftliche Effizienz und soziale Balance gleichermaßen
gesorgt werden kann, Ihrer so genannten internationalen
Strukturpolitik, die aus unserer Sicht nach wie vor eher
ominös ist, entgegen.
An erster Stelle fordern wir Sie in diesem Zusammenhang wiederum auf, endlich Anstrengungen zu unternehmen, um mindestens das erste vereinbarte Zwischenziel
von 0,33 Prozent Anteil der Entwicklungshilfe an den
öffentlichen Ausgaben bis zum Jahr 2006 zu erreichen.
Mit einem „Weiter so wie in den letzten fünf Jahren!“,
wie Sie es hier propagieren, wird uns das nicht gelingen.
Das würde genau in die falsche Richtung gehen.
({4})
- Ja, aber das ist bei uns auch Konsens, Frau Kollegin.
({5})
Der Kollege Marschewski als mein erfahrener Ruhrgebietskollege wird sich jetzt aus Solidarität bestimmt
gleich hinsetzen.
Wir fordern Sie weiterhin auf, die Strukturen der
öffentlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu
verbessern, die Entscheidungen, die seit 1998 Fehlentwicklungen eingeleitet haben, zurückzunehmen und dabei auch verstärkt die großen Potenziale von Kirchen,
Nichtregierungsorganisationen und politischen Stiftungen zu nutzen. Wir fordern Sie auf, die richtigen Prioritäten bei unseren Kooperationssektoren zu setzen; das
heißt, verstärkt auf Bildung und Ausbildung sowie auf
die Verbesserung der staatlichen Rahmenbedingungen in
den Entwicklungsländern selbst, verstärkt auf Demokratisierung und gute Regierungsführung sowie auf eine
verstärkte Förderung gerade des mittelständischen Privatsektors zu setzen.
({6})
Wir fordern Sie auch auf, einmal den Mut zu haben,
nicht nur von Schwerpunktländern zu reden, was ja bei
Ihnen einen großen Teil der Welt umfasst, sondern wirklich den Mut zu haben, eine klare Schwerpunktsetzung
auf bestimmte Länder vorzunehmen. Außer auf Länder
mit Willen und Engagement zu guter Regierungsführung
- das wurde bereits angesprochen - müssen nach unserer
Überzeugung die Schwerpunkte auch auf islamische
Entwicklungsländer gelegt werden, um die Rahmenbedingungen dort zu verbessern und den Politik- und Kulturdialog mit ihnen zu intensivieren. Genauso wollen wir
einen Schwerpunkt auf die Wirtschafts-, Wissenschaftsund Hochschulbeziehungen mit Schwellenländern legen,
um auch hier zu einer Intensivierung zu kommen. Diese
Schwerpunktsetzung liegt im gegenseitigen Interesse.
Wir bekennen uns im Gegensatz zu Ihnen auch dazu,
dass Entwicklungspolitik den Interessen von Geber- und
Nehmerländern gleichermaßen dienen soll. Das ist unser
Verständnis von wirtschaftlicher Zusammenarbeit.
({7})
Nicht zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, fordern wir Sie als Regierungskoalition auf, endlich Ihre
Anstrengungen zur Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu intensivieren.
({8})
Es kann doch uns alle nicht ruhen lassen, was wir in diesem Bereich beobachten: Allein im Bereich der Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten - das berühmte Kernund Herzstück der europäischen Entwicklungszusammenarbeit - haben sich bereits 29 Milliarden Euro nicht
abgeflossener Mittel angestaut.
Ich will jetzt gar nicht über die Inhalte reden. Denn
natürlich geht es nicht nur darum, das Geld einfach auszugeben; vielmehr soll es für sinnvolle Projekte verwendet werden. Über die Sinnhaftigkeit muss man dann im
Einzelnen noch reden. Aber es kann nun wirklich nicht
der Sinn der Sache sein, 29 Milliarden Euro nur in der
Pipeline zu haben, die nicht für die Bekämpfung von
Hunger und Armut zur Verfügung stehen. Da dieses
Geld zu einem erheblichen Teil aus deutschen Steuergeldern stammt, meine ich, dass wir aufgefordert sind, gemeinsam etwas zu unternehmen.
({9})
Nach unserer festen Überzeugung brauchen wir einen
verstärkten deutschen Einfluss auf die Entwicklungspolitik der EU-Kommission. Die EU-Entwicklungspolitik wird nicht zukunftsfähig sein, wenn sie weiter in den
überkommenen, künstlichen und sachlich nicht zu rechtfertigenden regionalen Schubladen denkt. Wir werden
demnächst in diesem Hause auch dazu Initiativen ergreifen.
Frau Kollegin Kortmann, ich bin für Ihren Zwischenruf dankbar und hoffe, dass wir auch dann zusammenfinden, wenn es konkret wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diese Grundpfeiler unserer Entwicklungspolitik stehen nicht im Widerspruch zu den Millenniumsentwicklungszielen der Vereinten Nationen; im Gegenteil: Nach unserer festen
Überzeugung fördern sie deren Erreichung. Nur ist es
jetzt eben Ihre Aufgabe, neben der Propagierung dieser
hehren Ziele im internationalen Bereich auch national
Ihre Hausaufgaben zu machen. Dazu fordern wir Sie auf;
CDU und CSU werden Sie dabei weiter kritisch begleiten, möglicherweise auch - der Redner der FDP ist
mittlerweile auch eingetroffen - die gesamte Opposition.
Herzlichen Dank.
({10})
Bevor dieser nun das Wort erhält, ist aber zunächst
der Kollege Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grünen an
der Reihe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Brauksiepe, ich habe eben gedacht, wir befänden uns bereits in der Haushaltsdebatte; es geht heute jedoch um die Millenniumsziele und nicht um die Finanzierung des Einzelplans 23. Aber ich kann Sie auch in
dieser Hinsicht beruhigen: Wir bleiben auf dem Kurs.
Wir werden das 0,33-Prozent-Ziel erreichen. Die Klausur steht jetzt bevor; ich denke, dort wird hart darum gekämpft werden, dass der Etat für die Entwicklungszusammenarbeit nicht gerupft wird.
Darauf will ich jetzt aber nicht eingehen, auch nicht
darauf, dass hier ständig die bilaterale gegen die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit ausgespielt wird;
das kommt immer wieder. Heute geht es um die Millenniumsziele. Hinsichtlich ihrer Erreichung muss es in der
Tat Fortschritte geben, und zwar nicht im Schneckentempo, sondern in einer Geschwindigkeit, bei der wirklich deutlich wird: Es geht vorwärts.
Kofi Annan hat im Herbst einen Zwischenbericht zur
Umsetzung der Millenniumsziele vorgelegt. Dieser Bericht fällt je nach Region sehr unterschiedlich aus. Er
verzeichnet durchaus auch Fortschritte, so in China, in
Indien, in Thailand und Vietnam; aber es gibt auch Stillstand und dramatischen Rückschritt, ganz besonders in
Afrika südlich der Sahara.
Interessant ist übrigens, dass ausgerechnet die Länder
in den letzten Jahren eher Fortschritte gemacht haben,
die sich der Weltwirtschaft nur sehr behutsam, selektiv
und graduell geöffnet haben, während Länder wie Sambia oder Haiti oder auch Argentinien, die unter dem Einfluss des Weltwährungsfonds am schnellsten und bedingungslosesten liberalisiert haben, damit Schiffbruch
erlitten. Das sei besonders denen gesagt, die sehr einseitig auf die Heilkraft des Marktes vertrauen und glauben,
dass der Freihandel allein alle Probleme löse. Hierbei
kommt es auf die Rahmenbedingungen an, auf die Spielregeln, auf das richtige Tempo und die richtige Dosierung von Liberalisierung.
Wir haben in unserem Antrag deutlich gemacht, dass
auf zwei unterschiedlichen Ebenen sehr viel mehr geschehen muss, wenn die Millenniumsziele nicht nur in
einigen Regionen, sondern weltweit verwirklicht werden
sollen. Es sind sowohl enorme Eigenanstrengungen der
Länder notwendig, die von Hunger und Elend betroffen
sind; aber mindestens genauso wichtig sind grundlegende Reformen auf internationaler Ebene. Wir brauchen eine Globalisierung, bei der es nicht nur um Profitmaximierung für die transnationalen Konzerne geht,
sondern um eine Weltwirtschaftsordnung mit stabilen
sozialen und ökologischen Leitplanken.
({0})
Die WTO-Verhandlungen stecken in der Krise. Vor
allem die USA, aber auch die Europäische Union muss
sich bewegen, besonders beim Subventionsabbau; sonst
kann die Doha-Runde ihrem Anspruch, Entwicklungsrunde zu sein, nicht gerecht werden.
Um die Millenniumsziele zu erreichen, bedarf es großer Anstrengungen und Aktivitäten in vielen Bereichen.
Ich möchte angesichts meiner kurzen Redezeit nur zwei
Bereiche herausstellen.
Erstens: zum Energiebereich. Es gibt Entwicklungsländer, die mittlerweile 80 bis 100 Prozent ihrer gesamten Exporterlöse für die Einfuhr von fossilen Energieträgern, also für Erdöl und Gas, ausgeben. Der Ölpreis wird
weiter steigen. Die Preise für Nichtenergierohstoffe, also
für Produkte, die die meisten Entwicklungsländer exportieren, sind in den letzten 20 Jahren um rund 50 Prozent
gefallen. Daran wird deutlich, dass die Abhängigkeit
vom Öl für viele Entwicklungsländer zu einer furchtbaren Armutsfalle geworden ist. Daraus folgt, dass auch im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit eine Politik
weg vom Öl und hin zu den erneuerbaren Energien von
ganz zentraler Bedeutung ist.
({1})
Ich freue mich, dass in genau einem Jahr - im Juni
nächsten Jahres - die große Weltkonferenz zum Thema
erneuerbare Energien hier in Deutschland stattfindet und
dass sich bereits jetzt, im Vorfeld dieser Konferenz, interessante Kontakte zwischen der Bundesregierung und
vielen Entwicklungs- und Schwellenländern anbahnen.
So wird beispielsweise zwischen Brasilien und Deutschland über eine strategische Partnerschaft auf diesem Gebiet geredet. Eine Delegation aus Brasilien war jetzt sogar in meiner Heimatregion, in Ostfriesland, und hat sich
dort über die Anwendung der Windenergie informiert
und viele Anregungen mit nach Hause genommen.
Zweitens: zum Bereich Landwirtschaft. Um die Zahl
der Hungernden deutlich zu senken, brauchen wir keinen
genmanipulierten Mais, also nicht die Art von Nahrungsmittelhilfe, die momentan durch George Bush propagiert wird, sondern wir brauchen Strukturreformen im
internationalen Agrarhandel und eine Trendwende in der
bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit, hin zu einer stärkeren Förderung des ländlichen
Raumes.
({2})
Dort leben mehr als 70 Prozent - fast 80 Prozent - der
Hungernden, aber dort liegt auch das Potenzial, durch
eine nachhaltige und angepasste Landwirtschaft die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu
sichern und regionale Märkte wieder aufzubauen und zu
stärken.
({3})
Sowohl in der Energiepolitik als auch in der Agrarpolitik gilt, dass wir nur dann die Länder des Südens davon
überzeugen können, hier Reformen in Angriff zu nehmen,
wenn wir selber mit gutem Beispiel vorangehen. Energiewende - weltweit und bei uns! Agrarwende - weltweit
und bei uns! Das haben wir uns vorgenommen. Auf diesem Weg gibt es natürlich viele Hindernisse. Zu diesem
Weg, nämlich Politik so zu gestalten und so zu leben,
dass die Menschheit überleben kann, gibt es aber keine
Alternative.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Markus
Löning, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP
unterstützt das Millenniumsentwicklungsziel, die absolute Armut in der Welt bis 2015 zu halbieren, selbstverständlich; denn ein Leben ohne Armut und ein Leben
ohne Hunger ist ein Leben in Würde. Es ist das Ziel jeder Entwicklungspolitik, ein solches Leben für die Menschen in den Entwicklungsländern zu erreichen.
({0})
Sie setzen allerdings mit diesem Antrag aus unserer
Sicht falsche Prioritäten, Sie setzen falsche Akzente an
dieser Stelle. Ich will anhand von drei Beispielen versuchen, das deutlich zu machen.
Eines der wichtigsten Entwicklungsziele, die in den
Millennium Development Goals genannt werden, ist die
Bekämpfung von Aids. In Ihrem Papier taucht zwar das
Wort „Aids“ auf; in den 17 - ich betone: 17 - konkreten
Forderungen, die Sie stellen, taucht die Aidsbekämpfung
aber nicht auf.
({1})
Ich weiß nicht, ob das vorauseilender Gehorsam gegenüber der Bundesregierung ist, die sich an dieser Stelle
nicht gerade mit Ruhm bekleckert, da sie die zugesagten
Mittel an den globalen Aidsfonds nicht fließen lässt
({2})
und da sie jetzt - wir haben es gerade wieder erlebt blockiert, dass aus Europa 1 Milliarde Euro an zusätzlichen Mitteln für die Bekämpfung von Aids zur Verfügung gestellt werden. Die FDP fordert die Regierung
und die sie tragenden Fraktionen auf: Sorgen Sie dafür,
dass dieses Geld fließt, damit Aids gerade im südlichen
Afrika wirkungsvoller bekämpft werden kann!
({3})
Aids ist dort eine der wichtigsten Ursachen für die Armut.
Es gibt noch andere Punkte, die ich erwähnen möchte. Sie
setzen sich sehr unkritisch mit dem Thema Entschuldung
auseinander. Herr Hoppe, Sie haben vorhin die TobinTax angesprochen. Sie sollten sich einmal anschauen,
was passiert ist. Man muss doch aus dem, was geschehen
ist, Lehren ziehen und versuchen, es in Zukunft besser
zu machen. Sie können doch nicht einfach sagen, dass es
so, wie es in Bolivien gelaufen ist, auch in Zukunft
laufen soll. Es hilft den Armen dort nicht und kostet den
deutschen Steuerzahler viel Geld. Das muss anders,
nämlich besser geregelt werden.
({4})
Das Wichtigste ist: In dem gesamten Antrag wird
kein roter Faden und kein Konzept deutlich. Es wird eine
Vielzahl von Einzelforderungen aufgezählt. Aber auf die
wichtigen Forderungen, auf die es ankommt, wird kein
Akzent gesetzt.
Es kommt eben darauf an, Rechtsstaatlichkeit und
Demokratie zu fördern. Es kommt darauf an, in den Entwicklungsländern Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Es kommt auch - Herr Hoppe, das ist so, so Leid
es mir tut - auf Marktwirtschaft und freien Handel an.
Ich erinnere zum Beispiel an die Gespräche mit dem Direktor des UNDP, der diese Punkte deutlich genannt hat.
Das sind die Säulen für Entwicklung. Es bedarf eben
auch der Marktwirtschaft und des freien Handels.
Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, Herr Hoppe, muss
ich Ihnen sagen: Das sind die Voraussetzungen dafür,
dass sich die Länder der Dritten Welt ihren Wohlstand
aus eigener Kraft erarbeiten können.
({5})
Dafür setzen wir uns ein. Wir fordern Sie auf, das ebenfalls zu tun.
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Brauksiepe und
Herr Löning, ich habe Sie während der Ausschussarbeit
als durchaus vernunftbegabte Menschen kennengelernt.
({0})
Aber hier habe ich nur rituelles Gemäkel bemerken können.
({1})
Das hat mich doch sehr erstaunt.
Ich will konkret werden. Wer hat denn dieses heterogene Geflecht Ihrer bilateralen Aktivitäten strukturiert
und methodisch aufbereitet, um die Entwicklungszusammenarbeit sorgfältiger auszurichten?
({2})
Ich gebe Ihnen Recht, Herr Dr. Brauksiepe: Es gibt Probleme, was die EZ der Europäischen Union anbelangt.
Darüber haben wir gemeinsam diskutiert. Da Sie die Geberkoordination angesprochen haben, muss ich Ihnen sagen, dass Sie die Signale der letzten Tage nicht vernommen haben. Das will ich Ihnen erläutern.
Die Wahrheit ist letztendlich konkret. Bei der Auseinandersetzung mit den Millenniumszielen täte es vielleicht gut, sich daran zu erinnern, was wir gestern im
Ausschuss zu dem gesamten Komplex der Afrikapolitik
erfahren haben. Ich möchte mich ausdrücklich für den
engagierten Vortrag bedanken, den Sie, Frau Staatssekretärin Eid, dort gestern gehalten haben.
({3})
- Ja, den Vortrag haben Sie unterstützt. Auch er gehört in
den Kontext der Millenniumsziele.
Ausgehend von den MDGs müssen wir uns damit
auseinander setzen, dass wir speziell im Bereich von
Subsahara-Afrika Probleme haben. Da stellen sich natürlich die Fragen, die auch Sie formuliert haben: Sind die
Ziele realistisch? Gibt es eine Chance? Überfordern wir
uns nicht gegenseitig in dem, was wir da tun?
Ich habe gestern deutlich verspürt - daran sollten wir
uns in der Entwicklungspolitik immer gegenseitig erinnern -, dass es sich um das Bohren dicker Bretter und
um einen langfristigen Prozess handelt, der unendlich
viel Geduld erfordert. Der griechische Philosoph Epiktet
({4})
hat uns folgende weise Erkenntnis mit auf den Weg gegeben:
Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen
über dieselben beunruhigen die Menschen.
Auf die Entwicklungschancen Afrikas bezogen interpretiere ich dies so: Ja, es gibt Konflikte, die verabscheuenswürdig ausgetragen werden. In manchen Regionen
droht ein sozialer, humanitärer und ökologischer Kollaps. Und dennoch: Afrika besinnt sich auf seine vorhandenen ökonomischen und intellektuellen Energien.
Es wäre deshalb mehr als fahrlässig, die afrikanischen
Millenniumsperspektiven ausschließlich aus dem ersten
Statusbericht des UN-Generalsekretärs abzuleiten und
danach zu beurteilen. Was sich in den letzten Jahren in
Afrika auf der Ebene guter Regierungsführung entwickelt hat - Herr Löning, damit sind wir bei den Aspekten
Rechtsstaat und Menschenwürde -, ist eine gute Voraussetzung dafür, dass wir auf längere Sicht auch in Afrika
die ehrgeizigen Millenniumsziele erreichen.
Auch der internationale Dialog mit und über Afrika
hat sich weiterentwickelt. Im Juli 2001 haben die G-8Staaten in Genua auf die aus Afrika selbst erwachsene
Reformbewegung NEPAD reagiert. Die afrikanische
Selbstverpflichtung mit dem Bekenntnis zu tief greifenden wirtschaftlichen Reformen, zu Eigenverantwortung
und zur Achtung universell gültiger Werte belegt die gewachsene innerafrikanische Kooperationsfähigkeit.
Julius Nyerere hat den Begriff der Self-Reliance formuliert: Afrika mobilisiert eigene Energien und will
endgültig die langen Schatten des Kolonialismus, des
Neokolonialismus und der Despotie hinter sich lassen.
Darauf aufbauend gibt es G-8-Aktionspläne. In Evian ist
ein Statusbericht vorgestellt worden; weitergehende
Ziele sind verabredet worden. Dies alles zeigt: Es bewegt sich etwas. Die Früchte des Ringens um eine gute
Regierungsführung aus dem afrikanischen Kontext heraus sind erkennbar.
Dies wird von den Industriestaaten, von den G-8-Staaten, aufgenommen und erwidert, indem wir etwas tun,
was ich geradezu als Beleg für eine kohärente Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik im internationalen
Kontext bewerte. Wenn wir die afrikanischen Staaten befähigen, eigene Konfliktlösungsmechanismen zu entwickeln und die Konfliktprävention auszubauen, und wir
als Deutsche die Aktivitäten in der Entwicklungs- und
Bildungszusammenarbeit unterstützen, dann ist dies ein
sehr wichtiger Ansatz, an zentraler Stelle die afrikanische Stabilität demokratisch auszubauen, die Zivilgesellschaft zu stärken und auf diese Art und Weise solche
Rahmenbedingungen zu entwickeln, dass die konkrete
Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig Früchte trägt
und nicht durch wetterwendische Despoten zum Scheitern verurteilt ist.
Insofern soll mit den Millenniumszielen eine wesentliche globale Herausforderung gestaltet werden. Eine
gute Regierungsführung und die Entmilitarisierung von
Konfliktlösungen, das ist der Humus, der auch die Entwicklung in Subsahara-Afrika fördern wird.
Herr Dr. Brauksiepe, gehen wir den bisherigen Ergebnissen nicht rituell mäkelnd nach!
({5})
Gehen wir im Dialog mit den Partnern nach dem Motto:
„Stärken stärken und Schwächen schwächen - und das
mit Geduld und Optimismus“ vor, dann werden wir die
Probleme lösen und dann haben die Industriestaaten einen wertvollen Beitrag dazu geleistet, die Entwicklungsländer insbesondere im Gebiet Subsahara-Afrika auf einem richtigen Weg zu begleiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 mit dem
Zusatzpunkt 13 auf:
12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Dr. Norbert Röttgen, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Die europäische Biopatentrichtlinie von 1998
umsetzen
- Drucksache 15/1024 ({0}) Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Ulrike Flach, Daniel Bahr ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rechtssicherheit für biotechnologische Erfindungen durch schnelle Umsetzung der Biopatentrichtlinie
- Drucksache 15/1219 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war
hierzu für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Die Kollegen Christoph Strässer, Helmut Heiderich, Pro-
fessor Maria Böhmer, Dr. Reinhard Loske, Ulrike Flach
und für die Bundesregierung Frau Ministerin Zypries ge-
ben ihre Reden zu Protokoll.1))
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1024 ({4}) und 15/1219 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 15/1219 im Rahmen des Zusatzpunktes 13
soll zusätzlich an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und - abweichend von der
Tagesordnung - nicht an den Ausschuss für Kultur und
Medien überwiesen werden. Sind Sie einschließlich der
vorgetragenen Änderungen damit einverstanden? Auch das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Geschmacksmusterrechts ({5})
- Drucksache 15/1075 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Auch hierzu ist interfraktionell eine Aussprache von
30 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Frau Zypries.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Eigentlich ist es schade, dass wir um diese
Uhrzeit zu diesem Thema debattieren. Denn parallel
hierzu findet die Veranstaltung „100 Jahre Markenverband“ statt, von der ich gerade komme. Leider
musste ich vorzeitig - genauer gesagt: nach einer halben
Stunde - gehen. In gewisser Weise ist die Marke ja die
Schwester des Geschmacksmusters. Die beiden haben
eine Menge miteinander zu tun. Ich stehe hier am Geschmacksmuster Pult. Eine Marke wäre das, wenn es als
solche geschützt wäre; ich weiß nicht, ob das der Fall ist.
Das Markenrecht wird heute 100 Jahre alt. Ähnlich alt
ist das Geschmacksmusterrecht. Seit 1876 gibt es in
Deutschland ein Gesetz betreffend das Urheberrecht an
Mustern und Modellen. Damals war das ein sehr zukunftsweisendes Gesetz. 1998 hat die Europäische
Union erkannt, dass Deutschland das alles recht ordentlich gemacht hat. Sie hat eine Richtlinie erlassen, die im
Wesentlichen das deutsche Recht aufgenommen hat.
Diese Richtlinie setzen wir jetzt mit dem eingebrachten
Gesetzentwurf um. Sicherlich auch deshalb ist er von einem relativ breiten Konsens getragen. Denn wir bleiben
im Wesentlichen bei dem Recht, das wir in der Vergangenheit gehabt haben.
Es werden - das zeigt, wie akzeptiert das Geschmacksmusterrecht in Deutschland ist - im Durchschnitt jährlich 60 000 Muster oder Modelle beim Deutschen Patent- und Markenamt als Geschmacksmuster
angemeldet. Diese Zahlen belegen die erhebliche wirtschaftliche Bedeutung des Geschmacksmusterschutzes.
Die Änderungen, die wir aufgrund der Richtlinie vornehmen, sind relativ marginal. Zum Beispiel verlängern
wir die Schutzdauer von derzeit maximal 20 Jahren um
fünf Jahre auf dann höchstens 25 Jahre.
Die Verbände, die Organisationen und die übrigen interessierten Kreise haben den Gesetzentwurf sehr begrüßt. Auch die Reaktionen auf unsere Antwort zum
Thema „Schutz von Ersatzteilen“ sind insgesamt gut
und ermutigend. Sie wissen sicher, dass die Frage des
rechtlichen Schutzes von Bauteilen eines komplexen Erzeugnisses - natürlich ist dies vor allen Dingen bei den
Kraftfahrzeugersatzteilen wichtig - der schwierigste Teil
dieser Reform ist. Ausgerechnet zu diesem Thema enthält die Richtlinie keinerlei Vorgaben. Sie räumt den
Mitgliedstaaten vielmehr die Möglichkeit ein, die in ihrem Bereich bestehenden Rechtsvorschriften zunächst
beizubehalten.
In Deutschland sieht das geltende Geschmacksmustergesetz keine Einschränkungen des rechtlichen Schutzes von Ersatzteilen vor, sodass zum Beispiel Einzelteile
einer Fahrzeugkarosserie wie der Kotflügel oder die Motorhaube geschützt werden können, vorausgesetzt, sie erfüllen eigenständig - losgelöst vom Gesamtdesign des
Fahrzeugs - die Voraussetzungen des Schutzes als Geschmacksmuster. Diese Rechtslage hat sich bei uns sehr
gut bewährt. Sie hat einen freien Ersatzteilmarkt in
Deutschland ermöglicht. Diese Tätigkeit, die vor allen
Dingen den Mittelstand betrifft, wollen wir erhalten. Das
ist das Ziel unseres Gesetzentwurfes.
Ausdrücklich unterstützen uns darin zum Beispiel der
Verband der Automobilindustrie und der BDI.
({0})
- Das wundert uns nicht. Aber es ist ja auch vernünftig.
Warum sollten sie uns bei vernünftigen Sachen nicht unterstützen?
({1})
Die Automobilhersteller haben uns darüber hinaus
klar und eindeutig versichert, dass sie dem freien Handel
und Vertrieb keine Marktanteile durch unangemessene
Inanspruchnahme von Schutzrechten streitig machen
werden. Wir haben, meine Damen und Herren von der
Opposition, in der Vergangenheit mit solchen Absprachen gute Erfahrungen gemacht. Die Balance, die sich in
den vergangenen Jahren zwischen Autoindustrie und
freien Ersatzteilherstellern entwickelt hat, kann fortbestehen. Sie hat in der Vergangenheit funktioniert. Warum
sollten wir annehmen, dass sie künftig nicht mehr funktionieren wird?
Wir haben deshalb in dem vorliegenden Gesetz hinsichtlich des Schutzes von Ersatzteilen die Fortgeltung
der alten Rechtslage vorgesehen. Die Richtlinie sieht
vor, dass spätestens im Jahre 2005 eine gemeinschaftsweite Regelung verabschiedet werden soll. Bis dahin
lassen wir die Entwicklung offen. Sie ist auch in ganz
Europa offen.
({2})
- Darüber können wir vielleicht im Ausschuss diskutieren.
Ich kann Ihnen versichern, dass wir die Entwicklung
selbstverständlich - wie wir es auch sonst tun - beobachten werden. Wir werden sehen, ob es notwendig ist
zu reagieren. Gegebenenfalls würden wir - das haben
wir schon einmal getan - unsere Haltung überprüfen.
Zunächst gilt aber: Lieber keine Gesetze machen, sondern freiwillige Übereinkünfte und Absprachen treffen.
({3})
Sie wissen, dass das für alle Beteiligten besser ist. Wir
wollen Gesetze schließlich nur dann machen, wenn sie
wirklich nötig sind.
({4})
Ich gehe davon aus, dass wir über den von uns vorgeschlagenen Gesetzentwurf im Rechtsausschuss diskutieren werden und uns in dem von uns vorgeschlagenen
Sinne verständigen werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit zu dieser späten
Stunde.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Günter Krings
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren, die Sie trotz des Sommerfestes der Parlamentarischen Gesellschaft ausgeharrt haben! Der eine oder andere unserer Fraktionskollegen wäre vielleicht aus Neugier zu dieser Debatte gekommen, als er das Stichwort
„Geschmacksmusterrecht“ auf der Tagesordnung dieser
Woche sah, weil er dabei vermutlich eher an Lebensmittelpolitik dachte. Wir konnten die Kollegen inzwischen
aufklären: Es geht hier um ein wesentliches Immaterialgüterrecht unserer Rechtsordnung, um den Schutz von
Design.
In einer Konsumgesellschaft, die Produkte nicht nur
nach ihrer Funktionalität, sondern auch nach ihrem Aussehen bewertet, ist der Schutz eines bestimmten Designs
von entscheidender wirtschaftlicher und ideeller Bedeutung. Auch eine bestimmte Formgebung ist geistige
Schöpfung. Design ist sozusagen Kunst, die sich nützlich macht. Schon von daher hat der Entwerfer eines
Musters ebenso wie der Urheber oder der Erfinder Anspruch auf Schutz durch unsere Rechtsordnung. Wir begrüßen es deshalb ganz ausdrücklich, dass gemäß § 10
des Gesetzentwurfes nunmehr erstmalig auch dem Entwerfer das Recht eingeräumt wird, im Rahmen der Anmeldung genannt und gewürdigt zu werden.
Dieser Gesetzentwurf setzt die im Jahre 1998 erlassene Richtlinie der EU - Frau Ministerin, Sie wiesen
darauf hin - über den rechtlichen Schutz von Mustern
und Modellen um. Leider müssen wir übermorgen, am
Samstag, ein wenig schönes Jubiläum begehen. Dann
wird die Umsetzungsfrist für diese Richtlinie nämlich
um exakt 20 Monate überschritten sein.
({0})
Das halte ich - um beim Thema zu bleiben - für alles andere als mustergültig. Deutschland ist offenbar wieder
dabei, einen europäischen Spitzenplatz zu erobern - leider allerdings nur, was die Überschreitung der Umsetzungsfristen von EU-Recht angeht.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten,
über die Ausgestaltung des Geschmacksmusterschutzes
aber schon; denn daran hängen Unternehmen, Arbeitsplätze und Verbraucherinteressen in Deutschland. Derjenige, der in Deutschland ein Geschmacksmuster anmelden will, hat die Wahl, ob er das beim europäischen
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt in Alicante
oder beim Deutschen Patent- und Markenamt in München tut. Im ersten Fall gilt die Geschmacksmusterverordnung der Europäischen Union.
Der Regierungsentwurf tut gut daran, dem europäischen Vorbild der EU-Verordnung in fast allen Punkten
zu folgen. In einem entscheidenden Punkt tut er das aber
nicht: Anders als die EU-Verordnung enthält er keine
Reparaturklausel für die Hersteller und Händler von
Ersatzteilen. Während sich die Europäische Union bei
ihrer Verordnung ebenso wie die Mehrzahl der Mitgliedstaaten, die die Richtlinie bereits umgesetzt haben, für
die rechtliche Absicherung des freien Ersatzteilemarktes
entschieden haben, ermöglicht der Entwurf der deutschen Bundesregierung weiterhin die Bildung von Monopolen. Damit setzt er in zentraler Hinsicht ein falsches
Signal.
({1})
Es geht hier um die Frage, welchen rechtlichen
Schutz ein Einzelelement in einem komplexen Gesamtprodukt erfährt. Spannend wird das natürlich - wie
könnte es anders sein? - bei Ersatzteilen von Kraftfahrzeugen. Nicht etwa der Wortlaut des geltenden Geschmacksmustergesetzes, sondern lediglich ein nicht unumstrittenes Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem
Jahre 1986 hat den Weg dafür geebnet, dass jetzt in
Deutschland vermehrt Scheinwerfer, Karosserieteile,
Fensterformen und andere Gestaltungselemente von Autos geschmacksmusterrechtlich in München angemeldet
werden. Die deutsche Rechtslage droht von der europäischen wegzudriften, eine nicht gute Entwicklung.
Entscheidet sich ein deutscher oder ausländischer Autohersteller, den mit Gebühren in München erkauften Designschutz auch auszuüben, so ist die Folge vorprogrammiert:
Er wird, sozusagen über Nacht, seinen Ersatzteilmarkt monopolisieren und der Verbraucher ist ab dem Kauf eines
Fahrzeugs seinem Produzenten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, weil er alternative Produkte eben nicht mehr bekommen kann. Das verstehen wir als CDU/CSU nicht unter
Verbraucherschutz.
({2})
Meine Damen und Herren, lieber Kollege
Manzewski, wir wissen und Sie wissen aus der Urheberrechtsdebatte, dass ich mich für den Schutz geistigen
Eigentums sehr engagiere.
({3})
Ich engagiere mich für den Schutz geistigen Eigentums,
aber nicht für den Schutz von Monopolrenten. Darum
geht es an dieser Stelle. Das Auto unterscheidet sich von
der Musik und vom Buch dadurch, dass es bei der Musik
und beim Buch keinen Ersatzteilemarkt gibt. Wenn
meine Musik-CD defekt ist, kaufe ich eine neue. Ist aber
mein Auto defekt, beispielsweise der Außenspiegel abgebrochen, kaufe ich normalerweise kein neues Auto
und entsorge das alte, sondern lasse den Spiegel reparieren.
({4})
Für Ersatzteile, für die es aus technischen Gründen
keine Designalternative gibt, enthalten die deutsche
und die europäische Rechtsordnung aus gutem Grund
die Aussage: keine Designalternative - kein Schutz.
Wenn Sie, etwa nach einem Unfall, den linken Kotflügel
Ihres Autos austauschen müssen, sind technisch viele
Möglichkeiten denkbar. Ich bin aber überzeugt, dass jedermann hier im Saal niemals einen linken Kotflügel
einbauen ließe, dessen Design nicht dem des rechten
Kotflügels entspricht.
({5})
Jeder wird auf ein Produkt zurückgreifen, das wie das
Original aussieht. Es gibt also praktisch und ökonomisch
keine Alternative. Deshalb verstehen wir nicht, warum
nicht auch hier der Grundsatz gilt: keine praktische
Designalternative - kein Schutz.
({6})
Nun wissen wir, dass der amtierende Bundeskanzler
sich besonders wohl fühlt in der Nähe der Automobilindustrie. Das ist an sich an dieser Stelle nicht zu kritisieren. Allerdings kritisieren wir, wenn ein Autokanzler
Schröder diese Chance der ersten grundlegenden
Neufassung des Geschmacksmusterrechts nach 125 Jahren verstreichen lässt, ohne der Ersatzteileindustrie
endlich Planungssicherheit für ihre Investitionen zu geben. Diese Chance wird vertan, aber das werden wir als
Opposition so nicht durchgehen lassen.
({7})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu der Aussage der Regierung - Frau Ministerin, Sie haben das
freundlicherweise selbst schon vorgetragen, ich wiederhole es trotzdem -, die Automobilindustrie habe ihr, der
Bundesregierung, gegenüber - ich zitiere wörtlich aus
dem Gesetzentwurf - „klar und eindeutig erklärt, dass es
ihr nicht darum geht, den Wettbewerb und den Ersatzteilmarkt zum Nachteil der Ersatzteilehersteller und des
Handels zu beeinträchtigen.“
Es geht ihr also nicht darum, aber wenn es passiert, ist
es wahrscheinlich einfach Pech für den Ersatzteilehandel. Im Klartext soll das wohl heißen: Die Automobilindustrie will von dem gesetzlichen Musterschutz eigentlich keinen Gebrauch machen.
Als Rechtspolitiker habe ich meine Probleme damit,
wenn die Bundesregierung uns einen Musterschutz für
Ersatzteile vorschlägt und ihn damit rechtfertigt, die Industrie wolle ihn ja gar nicht nutzen.
({8})
Das Versprechen seiner Nichtanwendung, egal ob es
sich um ein altes oder ein neues Gesetz handelt, ist immer eine denkbar schlechte Begründung für ein Gesetz,
unabhängig von der bisherigen oder zukünftigen Rechtslage. In ein neues Gesetz sollten wir Rechte, die niemand
haben will, auch nicht hineinschreiben.
({9})
Der von mir eben zitierte Satz aus der Vorlage ist wenig geeignet, uns zu beruhigen; er stimmt uns in der Tat
eher misstrauisch. Ich frage: Welche Rechts- und Planungssicherheit bieten Sie, meine Damen und Herren
hier links im Saal, eigentlich den mittelständischen Ersatzteileproduzenten für ihre Investitionen, wenn Sie
ihre Geschäftstätigkeit vom guten Willen der Automobilhersteller abhängig machen wollen?
Ich darf mit einer Bitte schließen, die ich vor allem an
die Verbraucherschutzpolitiker der Koalition richte:
Ignorieren Sie nicht die Problematik des Geschmacksmusterrechts. Nicht nur die Lebensmittelbranche, sondern auch die Autobesitzer in Deutschland verdienen
Ihre Aufmerksamkeit. 47 Millionen Verbraucher profitieren von der Möglichkeit der Auswahl unter verschiedenen Produkten, nicht nur beim Kauf, sondern auch bei
der Reparatur ihrer Wagen.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Jerzy Montag,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Ihrer
Bemerkungen zu der Rede der Frau Ministerin verdienen
Erwähnung. Die Frau Ministerin hat gesagt, dass wir für
dieses Gesetz von der Automobilindustrie gelobt werden. Das fanden Sie unanständig. Ich hoffe, dass sich die
Automobilindustrie das merkt.
({0})
Unsere Überlegungen, zuerst auf den freien Markt
und auf Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zu setzen,
quittieren Sie damit, dass Sie nach einem Gesetz rufen.
Das werden wir Ihnen in den Wirtschaftsdebatten der
kommenden Wochen entgegenhalten können. Es war
eine interessante Erfahrung, das von Ihnen zu hören.
Zur Sache. Das Geschmacksmustergesetz stammt
- die Ministerin hat es ausgeführt - aus dem Jahre 1876.
Ihm haftet durchaus nicht der Ruf eines gesetzgeberischen Jahrhundertwerkes an. Es gilt in der Praxis als antiquiert und unübersichtlich und war den europäischen
Anforderungen nicht gewachsen. Deswegen ist es zu begrüßen, dass die Bundesregierung die EU-Richtlinie
über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen
zum Anlass genommen hat, das Gesetz zu modernisieren.
Ich persönlich hätte mir auch eine Modernisierung
des Titels gewünscht. Es wäre vielleicht besser gewesen,
anstatt von Geschmacksmuster von einem Design- oder
Gestalt- und Formenmuster zu sprechen. Aber das nur
am Rande.
({1})
Das Gesetz wird Innovation und Kreativität in der
Produktgestaltung fördern, indem es durch einen weiten
Schutzumfang die notwendigen Anreize schafft. Ich will
einige Beispiele dazu nennen:
Das neue Geschmacksmusterrecht stärkt die Rechtsstellung des Rechteinhabers. Er erhält ein Ausschließlichkeitsrecht, darf alleine über sein Muster verfügen
und es wirtschaftlich verwerten. Damit wird der Schutzumfang, verglichen mit dem bisherigen Schutz vor
Nachahmung, erweitert.
Die Höchstschutzdauer wird von 20 auf 25 Jahre verlängert.
Bei der Beurteilung der Neuheit und der Eigenart des
Musters bleiben künftig nicht sechs, sondern zwölf Monate vor der Anmeldung außer Betracht. Dies schützt
den Entwerfer vor missbräuchlichen Handlungen Dritter
in dieser Zeit.
Das Merkmal der Eigentümlichkeit des Erzeugnisses
wurde durch das Merkmal der Eigenart ersetzt. Damit
wird es für eine Rechtsbegründung ausreichend sein,
wenn noch kein identisches Muster offenbart worden ist.
Das ist zu begrüßen; denn die schützenswerte Innovation
beginnt jetzt da, wo eine gestalterische Neuheit geschaffen wird, ohne dass daran überzogene Anforderungen
gestellt werden.
Das Geschmacksmusterrecht wird sich mit dem vorliegenden Gesetz zu einem eigenständigen gewerblichen
Schutzrecht emanzipieren. Das Gesetz ist aber auch deswegen zu begrüßen, weil es Rechtsklarheit schafft. Es
enthält Legaldefinitionen für wichtige Begriffe wie Muster, Erzeugnis und andere. Es befähigt damit die vom
Gesetz betroffenen Personen, die Schutzrichtung des Gesetzes konkret und klar zu ermessen. Es ist deswegen
anwenderfreundlich.
Dies alles erwähne ich, um klar zu machen, dass es
nicht nur um die Reparaturklausel geht, über die es in
den letzten Wochen Auseinandersetzungen gegeben hat.
Damit bin ich bei dem Thema Reparaturklausel, zu dem
auch ich einiges sagen will. Der Gesetzentwurf enthält
tatsächlich keine Reparaturklausel. Deswegen können
äußerlich sichtbare Ersatzteile eines Autos auch weiterhin als Geschmacksmuster geschützt werden.
In der Diskussion um die Reparaturklausel werden
die Ersatzteilehersteller nicht müde, zu betonen, dass
durch diese gesetzgeberische Entscheidung der freie Ersatzteilemarkt zerstört werden würde.
({2})
Das ist alleine schon deswegen nicht richtig, weil das
Gesetz überhaupt keine Änderung der Rechtslage vorsieht.
In diesem Gesetz gibt es keine Regelung für das auch
bisher ungelöste Problem. Die Interessenvertreter des
Großhandels für Kfz-Teile beziffern ihren Anteil an dem
entsprechenden Markt selber zurzeit mit 40 Prozent.
Deswegen vermag ich auch nicht zu erkennen, warum
der Ersatzteilemarkt durch das Gesetz nachteilig verändert oder zerstört werden sollte.
Der Verzicht ist ja auch nicht endgültig. 2005 wird die
Kommission dazu Stellung nehmen. Dann wird der
nationale Gesetzgeber, auch in Deutschland, das Geschmacksmusterrecht in eine vereinheitlichte Form bringen. Es ist sicherlich richtig, dass der Gesetzgeber beobachten muss, ob die Selbstverpflichtung des Marktes
und der Automobilindustrie, diese Schutzrechte nicht
vermehrt in Anspruch zu nehmen, eingehalten wird; das
werden wir auch tun. Herr Kollege Dr. Röttgen, wenn es
hier zu dramatischen Änderungen kommt, dann werden
wir - da können Sie sich sicher sein - schneller sein als
Sie und die Maßnahmen ergreifen, die nötig sind, um
den Ersatzteilemarkt zu schützen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz Innovation und Kreativität bei der Produktgestaltung fördern wird. Es wird
jetzt an den kreativen Gestaltern und Designern liegen,
die Rechte, die durch das Gesetz gewährt werden, in Anspruch zu nehmen und so bei diesem Gesetz im wahrsten
Sinne des Wortes auf den Geschmack zu kommen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses
Gesetz ist trotz des etwas altertümlichen Namens wirtschaftspolitisch sicherlich ganz besonders wichtig. Hier
geht es unter anderem darum, einen Milliardenmarkt
zu verteidigen bzw. aufzuteilen.
In meinen Augen kommt diese Reform viel zu spät.
Wir diskutieren über dieses Gesetz schon „seit Jahrenden“, wie wir in Hamburg sagen würden. Wegen der Reparaturklausel wurde darüber bereits in den Jahren 1994
bis 1998 intensiv mit der Europäischen Union diskutiert.
Diese Reparaturklausel war in der Bundesregierung immer streitig. Die Haltung richtete sich immer danach, ob
darüber im Bundeswirtschaftsministerium oder im Bundesjustizministerium verhandelt wurde.
Das Bundesjustizministerium hat bis zur jetzigen Vorlage durch die Ministerin immer die Auffassung vertreten, dass der Mittelstand und die Teileverkäufer aus ordnungspolitischen Gründen besonders geschützt werden
müssen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat immer
die Interessen der geringen Zahl an Großbetrieben auf
diesem Gebiet vertreten. Nunmehr ist das BMJ offensichtlich dem Drängen des Bundeswirtschaftsministers
erlegen. Es hat ein Geschmacksmustergesetz vorgelegt,
das mit der Reparaturklausel nichts im Sinn hat.
Wenn keine Reparaturklausel in dieses Gesetz aufgenommen wird, dann werden wir von der FDP es aus ordnungspolitischen Gründen - wir wollen nämlich den
Mittelstand schützen - ablehnen,
({0})
obwohl es sonst, Frau Ministerin, durchaus unsere Zustimmung finden könnte; denn es enthält in der Tat eine
Reihe von guten Regelungen. Die grundlegende Frage
der Reparaturklausel ist aber nicht geregelt. Aus diesem
Grunde müssen wir dieses Gesetz ablehnen.
Die Bundesregierung verweist auf die Zusage der Automobilhersteller.
({1})
- Ich habe keine Zweifel, dass sie durchaus in der Lage
sind, eine solche Vereinbarung einzuhalten. Diese Vereinbarung könnte man aber doch auch in Gesetzesform
gießen.
({2})
Ich sehe überhaupt nicht ein, warum das nicht geschieht.
Es muss andere Gründe dafür geben, dass die Reparaturklausel nicht in Gesetzesform gegossen worden ist. Das
macht mich natürlich sehr skeptisch.
Sie sprechen immer von einer Art Revisionsklausel
für das Jahr 2005. Das stimmt nicht ganz. Wenn Sie die
Richtlinie der EU lesen, stellen Sie fest, dass die Zeitbefristung für das Jahr 2005 vom Jahr 2001 an zählt. Es
geht also um eine Revisionszeit von vier Jahren. Da aber
diese Richtlinie bisher noch nicht von allen umgesetzt
worden ist, wird diese Revisionsklausel allenfalls im
Jahr 2007 zur Anwendung kommen. Ich meine, dass die
Zeit bis dahin vertan wird.
Herr Montag, Sie hören doch sonst immer auf die
Verbraucherschutzverbände. Sie wissen doch, dass der
ADAC und andere Verbraucherschutzverbände die Reparaturklausel fordern. Wir sollten im Rechtsausschuss
hierüber etwas intensiver diskutieren. Vielleicht kommen wir dann zu einem vernünftigen Ergebnis.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Manzewski für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über das Geschmacksmusterreformgesetz.
Im Grunde genommen ist bei diesem Gesetz - das hat
man den Redebeiträgen entnehmen können - nur eine
Frage streitig, und zwar die so genannte Reparaturklausel. Über die weiteren Maßnahmen streiten wir nicht.
Kollege Krings, ich hatte bei Ihrer Rede den Eindruck, als hörte ich einen Vortrag des Gesamtverbandes
Autoteile-Handel. Sie haben im Grunde genommen das
vorgebracht, was der Verband in seinem an uns alle gerichteten Schreiben gefordert hat.
({0})
- Sie werden sich wundern, wie diese Verbände in der
Anhörung, die wohl bald stattfinden wird, reagieren werden. Es wäre schön gewesen, Kollege Krings, wenn Sie
die Behauptungen nicht einfach übernommen, sondern
auch überprüft hätten. Dann ergibt sich nämlich eine etwas andere Rechtslage.
Es wird zum Beispiel vom GVA behauptet, dass die
Reparaturklausel im Widerspruch zur Gruppenfreistellungsverordnung der EU im Kraftfahrzeugsektor stehe.
({1})
- Kollege Krings, ich habe gesagt, dass dies von der
GVA, vorgebracht wird, nicht, dass Sie es vorgetragen
hätten. Diese Behauptung ist völliger Quatsch, weil das
eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat. Bei
der Gruppenfreistellungsverordnung der EU geht es allein um Wettbewerbs- und Kartellrecht. Es wird überhaupt keine Aussage zum geistigen Eigentum gemacht.
Sie haben eine weitere Behauptung übernommen,
Kollege Krings. Sie haben erklärt, die Einheitlichkeit der
EU-Rechtsordnung sei gefährdet, weil die Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung eine entsprechende Klausel enthalte. Das stimmt nicht.
({2})
- Lassen Sie uns darüber diskutieren. Diese Verordnung
enthält keine Reparaturklausel. Kollege Krings, Sie müssen bedenken, die Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung - auch auf EU-Ebene gilt nämlich vorrangiges
Recht - ist gegenüber der Richtlinie nachrangig. In der
Richtlinie wird aber über die Reparaturklausel nicht entschieden. Daher sind auch in der Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung dazu keine Regelungen getroffen worden. Es wird abgewartet, was auf der Ebene
des höherrangigen Rechts beschlossen wird. Die Entscheidung, abzuwarten, was in der Richtlinie im
Jahr 2005 entschieden wird, war vernünftig.
Kollege Krings, Sie haben wahrscheinlich etwas
falsch verstanden. Da ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster innerhalb der gesamten EU Geltung hätte, sollen
Ersatzteile aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen
Beurteilung, die auch Sie erwähnt haben, hiervon zunächst ausgenommen bleiben. Das ist vollkommen
schlüssig.
Nehmen wir einmal Ihr Beispiel auf: Sie melden in
Alicante ein Geschmacksmuster für einen Kotflügel an.
In der Konsequenz würde dieses Geschmacksmuster bei
einem positiven Entscheid auch zum Beispiel in Großbritannien Geltung haben. Sie wissen aber, dass in Großbritannien bereits eine Reparaturklausel gilt. Da dies im
Widerspruch zu dem Entscheid stände, wird in Art. 110
der Richtlinie geregelt, dass eine Entscheidung bis zum
In-Kraft-Treten der Richtlinie abgewartet werden muss.
Ansonsten funktioniert das Ganze nicht. So muss man
den Art. 110 interpretieren, nicht anders.
({3})
Mir ist offen gestanden völlig unverständlich, warum
Sie die Reparaturklausel präferieren. Sie vertreten damit
eine Maximalposition. Erst einmal hat der GVA - und
Sie haben es auch so gesagt, so habe ich es jedenfalls
verstanden, Kollege Krings - einfach behauptet, wir
würden Designschutz schaffen. Der Kollege Montag
und die Ministerin haben darauf hingewiesen, dass wir
diesen nicht zu schaffen brauchen, weil er bereits existiert. Designschutz für Ersatzteile gibt es bei uns bereits.
Das heißt, wir verändern am Status quo überhaupt
nichts. Das ist momentan die Praxis.
Wie sieht es auf EU-Ebene aus? Wir haben dort völlig
unterschiedliche Positionen. Auf der einen Seite ist
Großbritannien, das als einziges Land die Reparaturklausel tatsächlich positivrechtlich verankert hat. Auf
der anderen Seite ist Frankreich, das momentan den umfassendsten rechtlichen Schutz von Ersatzteilen hat.
Ganz interessant ist es, dazu die Renault-Rechtsprechung zu lesen.
Wir müssen uns einmal vergegenwärtigen, um was es
eigentlich in diesem Zusammenhang geht. Als Geschmacksmuster wird, vereinfacht gesagt, die äußere
Formgebung von Erzeugnissen geschützt. Es geht hier
also um geistiges Eigentum. Sie haben immer nur die
Wirtschaftsbelange angesprochen. Mich hat gewundert,
dass Sie den Begriff des geistigen Eigentums hier überhaupt nicht erwähnen.
({4})
Mir ist nicht klar, warum der Kotflügel eines fabrikneuen Fahrzeuges dem Schutz unterliegen soll, dieser
Schutz aber bei einem unfallbedingten Ersatz verloren
gehen soll. Das ist für mich unter der Prämisse des geistigen Eigentums nicht erklärlich.
({5})
Sie mögen mir einmal - das werden Sie vielleicht
nächste Woche tun, wenn wir im Rechtsausschuss darüber diskutieren - die Rechtssystematik dazu erklären,
auch im Zusammenhang mit dem bisherigen deutschen
Geschmacksmusterrecht.
Sie verweisen einfach auf England oder andere Länder. Ich empfehle Ihnen, sich anzuschauen, wie diese
Problematik dort geregelt ist. Wir können unsere Situation nicht mit dem britischen Rechtssystem vergleichen.
Dort sieht es völlig anders aus, Kollege Krings. Das ist
auch das große Problem der entsprechenden Richtlinien,
über die wir heute debattieren, weil die Systeme des
Schutzes völlig unterschiedlich sind. Die Briten - das ist
das Entscheidende - lassen zum Beispiel noch nicht einmal die Zulassung des Geschmacksmusters auf alle Originalteile und dementsprechend natürlich auch nicht auf
Reparaturteile zu. Das muss man wissen.
Herr Kollege Manzewski, möchten Sie kurz vor Ende
Ihrer Redezeit
({0})
dieselbe durch eine Zusatzfrage des Kollegen Funke verlängern lassen?
Vom Kollegen Funke immer, weil ich dann noch die
Chance habe, etwas einzuflechten.
Herr Kollege, Sie sind, wenn ich das recht verstanden
habe, bislang gegen Monopole. Meinen Sie nicht, dass
es vielleicht auch für den Verbraucher gut wäre, wenn er
nicht dem Monopol, Daimler-Benz beispielsweise, ausgeliefert wäre, sondern für die Reparatur seines Fahrzeugs zwischen mehreren Lieferanten auswählen dürfte?
({0})
Kollege Funke, ich würde da schon differenzieren.
Ich kann das nicht so stehen lassen, wie Sie das sagen.
Es ist ja auch vom Kollegen Krings behauptet worden,
dass ein Monopol auf die Ersatzteilproduktion bestehen
würde, wenn wir diese Reparaturklausel nicht einführen
würden.
({0})
Das würde gegenüber den Einzelteilherstellern ausgenutzt
werden, was wiederum zu Arbeitsplatzverlust führen
würde. Der Kollege Montag hat aber schon darauf hingewiesen, dass gerade der boomende Ersatzteilhandel in
Deutschland genau das Gegenteil zeigt.
({1})
Die Automobilhersteller, Kollege Funke, haben aus uns
Juristen bekannten Gründen kein großes Interesse - bleiben Sie bitte stehen, ich bin mit der Beantwortung der
Frage noch nicht fertig; ich will das noch ein bisschen
ausnutzen, weil sonst meine Zeit abgelaufen wäre -,
({2})
dieses geltend zu machen. Wir wissen doch, dass das Geschmacksmusterrecht - so deutlich muss man das sagen ein Anmelderecht ist. Es erfolgt keine Überprüfung.
Eine Überprüfung würde erst stattfinden, Kollege Funke,
wenn es tatsächlich zu einem Verfahren kommt. Das
heißt, dass es ganz schnell passieren kann, dass der Kläger zum Beklagten wird. Aus diesem Grund ist es auch
erklärlich, dass in den letzten Jahren nur ganz wenige
Verfahren tatsächlich betrieben worden sind.
Herr Kollege Manzewski, jetzt muss ich Sie doch darauf aufmerksam machen, dass ich Ihre Redezeit nicht so
lange verlängern kann, wie Sie den Kollegen Funke
gerne stehen ließen.
({0})
Herr Präsident, ich lasse ihn ja nicht im Regen stehen.
Ganz kurz noch zwei Sätze dazu. Kollege Funke, wir
sind ja Rechtspolitiker. Das ist eigentlich für mich bei
dieser Frage das entscheidende Argument.
Das wäre eigentlich ein schöner Schlusssatz gewesen.
({0})
Nein. - Kollege Funke, die Liberalisierung vermeintlicher Monopole kann doch nicht die Aufgabe des
Geschmacksmusterrechts sein.
({0})
Hier geht es um die Frage des Schutzes von geistigem
Eigentum und von nichts anderem. Mich wundert schon
sehr, dass diejenigen, die beim Urheberrecht hier noch
die Rächer der Enterbten gegeben haben, weil wir im
Rahmen der zulässigen Schrankenregelung, immerhin
unter Beibehaltung des Urheberrechtsschutzes, für Bildung und Forschung Ausnahmen gemacht haben, nun
das geistige Eigentum wegen des schnöden Mammons
verhökern wollen. Das kann ich offen gestanden nicht
nachvollziehen.
({1})
- Jetzt darf er sich setzen. Ich komme auch gleich zum
Schluss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe bereits
dargestellt - Sie wissen es auch selbst -, dass innerhalb
der EU sehr verhärtete Fronten bestehen. Ich glaube offen gestanden nicht, dass sich eine der Maximalpositionen durchsetzen wird. Ich glaube nicht, dass es zu einem
so weit reichenden Schutz wie in Frankreich kommen
wird. Ich glaube allerdings auch nicht, dass eine Reparaturklausel nach britischem Vorbild eingeführt wird, und
zwar schon deshalb nicht, weil die EU-Richtlinie in
Art. 3 Abs. 3 von einer selbstständigen Schutzfähigkeit
von Ersatzteilen ausgeht. Ich befürchte fast, dass Sie das
übersehen haben.
Meiner Auffassung nach wird das Ergebnis irgendwo
dazwischen liegen. Denkbar wäre zum Beispiel eine Lösung - meines Wissens haben Sie, Herr Kollege Funke,
das in der Vergangenheit präferiert - in Form von Lizenzgebühren. Das würde aber bedeuten, dass der
Schutz weiterhin den Automobilherstellern obliegt.
Eine andere Lösung, die ich mir vorstellen könnte,
wäre ein befristeter Rechtsschutz, der, meine ich, in
Griechenland bereits praktiziert wird. Dort läuft der
Rechtsschutz fünf Jahre nach dem In-Verkehr-Bringen
eines Fahrzeugs aus. Griechenland soll damit gute Erfahrungen gemacht haben.
Ich komme zum Schluss. Einer Entscheidung der EU
vorzugreifen, um nach kurzer Zeit wieder zurückrudern
zu müssen, halte ich unabhängig von der Frage des geistigen Eigentums derzeit nicht für vernünftig. Ich plädiere
dafür, dass wir gemeinsam dem Vorschlag der Bundesregierung folgen, den ich für sehr vernünftig halte. Ich
sehe dazu keine Alternative.
Ich danke Ihnen.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Kurt Segner für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das über
125 Jahre alte Geschmacksmustergesetz soll durch ein
neues Gesetz abgelöst und der Richtlinie der Europäischen Union angepasst werden.
({0})
Dieser Gesetzentwurf hat eine große Bedeutung für unsere heimische Wirtschaft.
Wir begrüßen den Gesetzentwurf im Ansatz, da es
sich bei dem Geschmacksmuster um ein ausschließliches
Recht mit Sperrwirkung handelt. Damit verbleibt dieses Schutzrecht in der Tradition des deutschen gewerblichen Rechtsschutzes.
Erfinderische und gestalterische Leistungen werden
als ein absolutes Recht festgelegt. Mit der EU-Verordnung wurde ein für die gesamte EU wirksames Gemeinschaftsgeschmacksmuster mit einer Reparaturklausel
zum Schutz des Ersatzteilmarktes eingeführt.
In dem vorliegenden Gesetzentwurf hat Rot-Grün leider auf die Einführung einer Reparaturklausel verzichtet.
({1})
Damit geht Rot-Grün wieder einen eigenen Weg
({2})
und schadet Handwerk, Handel und Verbrauchern.
Durch die Nichtübernahme der Reparaturklausel wird
der Wettbewerb auf dem deutschen Ersatzteilmarkt weitgehend ausgeschaltet. Freie mittelständische Zulieferer
oder Teilehersteller - wie viele von Ihnen sie in Ihrem
eigenen Wahlkreis haben - verlieren ihren Absatzmarkt.
Der Jobmotor Mittelstand wird dadurch weiterhin geschwächt,
({3})
und das bei einer Zahl von mehr als 4,7 Millionen Arbeitslosen. Aber der Gesetzentwurf ohne ReparaturklauKurt Segner
sel hat auch Auswirkungen auf die 48 Millionen Autobesitzer als Verbraucher in Deutschland.
Ich frage mich, ob es die Absicht der rot-grünen Bundesregierung ist, den Verbraucher zu bevormunden.
({4})
Wir von der CDU/CSU jedenfalls wollen den Verbraucher selber entscheiden lassen, welches Produkt er
in sein Fahrzeug einbaut. Wir von der CDU/CSU wollen
den mündigen Verbraucher und nicht den „gefesselten“
Verbraucher.
({5})
Denn ohne die Reparaturklausel schaffen Sie weniger
Wettbewerb. Wir wollen dagegen mehr Wettbewerb und
weniger Bürokratie.
Nach Aussage der Bundesregierung sollen die Auswirkungen der Richtlinie Ende 2004 von der Europäischen Kommission überprüft werden und eventuell soll
2005 die Reparaturklausel übernommen werden.
({6})
Ich frage Sie: Wollen Sie wirklich in zwei Jahren schon
wieder einen Gesetzentwurf vorlegen und damit die Bürokratie aufblähen?
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, geben Sie
sich einen Ruck und machen Sie ein Gesetz aus einem
Guss!
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1075 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es offenkundig keine anderweitigen Vorschläge.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Siegfried Kauder ({0}), Dr. Nobert
Röttgen, Andreas Storm, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
- Drucksache 15/1002 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell sind für die Aussprache 30 Minuten
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
Erstem dem Kollegen Siegfried Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich über Margery Fry und Ingeborg Geisendörfer
berichten und lassen Sie mich außerdem für diejenigen
sprechen, die im Ausland Opfer von Straftaten geworden
sind. Ich finde es betrüblich, dass niemand vom zuständigen Fachministerium Solidarität mit diesen Opfern
zeigt; denn man muss wissen, dass die zuständige Fachministerin nicht die Frau Justizministerin - sie ist dankenswerterweise anwesend -, sondern die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung ist.
Lassen Sie mich die Geschichte der Opferentschädigung in drei Bildern schildern. Wenn man diese drei
Bilder nebeneinander hält, stellt man fest, dass sie nahezu Kopien voneinander sind. Im Jahr 1957 berichtete
Margery Fry, die erste Frau, die in England zum Richteramt zugelassen wurde, unter der Überschrift „Justice for
Victims“ im „Observer“ über einen dramatischen Fall.
Das Opfer eines Überfalls war erblindet. Das englische
Zivilgericht hatte dem Opfer eine Entschädigung von
11 500 Pfund zugesprochen, für die die beiden Täter aufkommen sollten. Da sie aber im Gefängnis saßen, wurde
ihnen zugestanden, diese Summe in monatlichen Raten
von je 20 Schilling zu zahlen. Danach hätte das Opfer
erst nach 422 Jahren seine gesamte Entschädigung gehabt.
So etwas kann noch heute deutschen Staatsbürgern
und ihnen gleichgestellten EU-Ausländern zustoßen;
denn das deutsche Opferentschädigungsgesetz deckt
Schäden im Ausland nicht ab.
Der erwähnte Artikel von Margery Fry hat England
und viele andere Länder dazu bewegt, Opferentschädigungsgesetze zu verabschieden. Sie waren aber nicht
Vorbild für Deutschland. Konnten wir zu wenig Englisch? Es war wieder einmal die Presse, die auf die besondere Gefahren- und Gefährdungslage der Opfer von
Straftaten hingewiesen hat. Es war im Jahr 1970, als
„Quick“ anklagte: Der Staat lässt hilflose Menschen im
Stich! Wir müssen Ingeborg Geisendörfer dankbar sein,
dass sie im selben Jahr eine Anfrage in den Deutschen
Bundestag eingebracht hat, in der sie von der damaligen
Bundesregierung wissen wollte, wie sie dieses Problem
beurteilt. Die Antwort war so, wie ich es auch heute immer wieder erlebe. Der zuständige Parlamentarische
Staatssekretär erklärte der Kollegin Geisendörfer, man
habe sich im Ministerium der Justiz seit längerem dieses
Problems angenommen. Dann war Ruhe. Doch Ingeborg
Geisendörfer hakte nach.
Im Jahr 1971 bat sie um Auskunft darüber, ob die
Probleme im damaligen Justizministerium - es war unter
Siegfried Kauder ({0})
der Regierung Brandt/Scheel - inzwischen behoben
seien. Sie waren aber nicht behoben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legte deshalb am
27. Juli 1971 mit einem Gesetzentwurf zur Entschädigung von Opfern nach. Grundlage war der Gedanke,
dass man Opfer in ihrer sozialen Not, in die sie aufgrund
einer Straftat geraten seien, nicht allein lassen dürfe. Es
ging bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 1972
nicht weiter. Dann war alles versackt.
Im Jahr 1974 ging man dieses Problem noch einmal
an. Es dauerte aber bis zum 16. Mai 1976, bis in
Deutschland das Opferentschädigungsgesetz erlassen
worden ist. Man hat sich an das Verbrechensentschädigungsgesetz, das bereits wenige Jahre vorher in Österreich erlassen worden war, gehalten. Das österreichische
Gesetz enthielt allerdings eine wichtige Abweichung:
Österreich gewährte schon damals auch den Opfern von
Straftaten, die im Ausland Opfer geworden sind, eine
Entschädigung. In Deutschland hat man das Territorialitätsprinzip vorgezogen: Nur wer in Deutschland Opfer
einer Straftat wird, kann eine Entschädigung erhalten.
Ich habe einen Fall betreut, in dem es um eine junge
Deutsche ging, die auf einem Campingplatz in Spanien
vergewaltigt worden ist. Sie hat bis heute keine Opferentschädigung erhalten, obwohl es in Spanien ein Entschädigungssystem gibt, das allerdings anders als in
Deutschland ausgestaltet ist. Diese Lücke gilt es zu
schließen.
In der letzten Legislaturperiode gab es mehrfach Anfragen und Anregungen, allerdings im Wesentlichen auf
die Opfer von terroristischen Gewalttaten fokussiert. Für
das Opfer ist es aber völlig egal, ob der Täter Terrorist,
rechts- oder linksradikal ist. Für das Opfer ist der Ausgleich der sozialen Notlage, die durch die Straftat entstanden ist, entscheidend.
Wir haben am 11. April 2003 über die Opferentschädigung diskutiert. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen Antrag eingebracht, der bewirken sollte,
dass die Bundesregierung das Opferentschädigungsgesetz korrigiert. Wie schon in zurückliegenden Zeiten
kam der Einwand, das alles sei so schwierig und furchtbar kompliziert; man kenne das Problem und werde es
bearbeiten. Diese Reaktion war mir durch das, was ich
gerade geschildert habe, noch in Erinnerung. Deswegen
befürchtete ich, alles werde genauso wie damals bei
Ingeborg Geisendörfer ablaufen: dass man über die Angelegenheit diskutiert und dass irgendwann am Ende der
Legislaturperiode alles versackt.
Im Hinterkopf hatte ich immer noch den Fall der
Deutschen, die in Spanien Opfer einer Verbrechens geworden ist. Dieser Frau konnte ich bis heute nicht helfen.
Das hat mich bewegt. Ich kam zu dem Ergebnis: Wir
dürfen es nicht dabei bewenden lassen, zu sagen, das alles sei so schwierig und kompliziert. Deswegen habe ich
am Ende dieser Debatte zugesagt, kurzfristig, am nächsten Tag - zugegebenermaßen war es der übernächste
Tag; denn es war ein Sonntag, Herr Kollege Montag ({1})
einen ausformulierten Änderungsantrag einzureichen.
Dieses Versprechen habe ich gehalten.
Ich bin der Meinung, dass Opferentschädigung und
das Schicksal von Tatopfern kein parteipolitisches
Thema sein sollte.
({2})
Dieses Hohe Haus ist herausgefordert, die Lücke im
Opferentschädigungsgesetz zügig zu schließen.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben
uns sehr viel Mühe gegeben, das zu berücksichtigen, was
Abgeordnete anderer Fraktionen in diese Debatte eingebracht haben. Wir haben versucht, einen ausgewogenen
Gesetzentwurf vorzulegen, durch den nicht nur den deutschen Staatsangehörigen nach einer Straftat im Ausland
eine Entschädigung zugestanden wird, sondern auch ihnen gleichgestellten ausländischen Mitbürgern, die bereits eine gewisse Zeit in Deutschland leben.
({3})
- Man kann das Fass ganz aufmachen; aber beim Erlassen eines Gesetzes spielen auch fiskalische Gesichtspunkte eine Rolle. Das wissen Sie so gut wie ich.
({4})
Deswegen haben wir gesagt: Nicht alle deutschen Tatopfer im Ausland, nämlich nicht diejenigen, die ihren
ständigen Wohnsitz im Ausland haben, sondern nur diejenigen, die noch einen engen räumlichen Bezug zum
Heimatland haben - grob gesagt: die Touristen -, sollen
entschädigt werden. Ich bin der Meinung, dass dieser
Entwurf wohl ausgewogen ist.
Nun kann man die Einwendung erheben, das sei für
die ausländischen Behörden, für die Konsulate, ein zusätzlicher personeller Aufwand. Wir haben uns in unserer
Fraktion kundig gemacht und haben einen Sachbearbeiter der zuständigen Behörde aus Österreich - österreichische Staatsangehörige können nach dem dortigen Recht auch als Opfer im Ausland eine
Entschädigung erhalten - bei uns gehabt. Nach dessen
Informationen sind es nur wenige Fälle, die zu bearbeiten
sein werden. Man darf auch nicht verkennen: Der Aufwand ist schon heute vorhanden. Wohin anders als an die
im Ausland befindlichen deutschen Behörden soll sich
ein deutsches Tatopfer im Ausland wenden?
Wir wissen, dass diese Gesetzesänderung Kosten verursacht. 40 Prozent der Opferentschädigung trägt der
Bund, 60 Prozent tragen die Länder. Ich danke der Frau
Bundesjustizministerin, dass sie hier ist. Wir wissen, dass
es zwei Titel im Haushalt des Bundesjustizministeriums
gibt, die nicht ausgeschöpft sind. Das betrifft den Fonds
für die Opfer terroristischer und rechtsextremer Gewalttaten. Dieses Geld steht den Opfern zu. Ich bin der Meinung, dass man mit den Ländern verhandeln kann und
dann, wenn ein gesetzlicher Anspruch begründet wird,
einen Teil dieser Fondsmittel auf sie übertragen kann.
({5})
Siegfried Kauder ({6})
Auch wenn es nur wenige sind, die von dieser Änderung profitieren, wäre es ein deutliches Zeichen dafür,
dass sich der Deutsche Bundestag der Bedürfnisse von
Tatopfern gewärtig ist, dass er bereit und in der Lage ist,
kurzfristiger als in den Anfängen der Opferentschädigung solche Gesetzgebungsvorhaben umzusetzen. Ich
freue mich auf die Diskussion in den Ausschüssen.
Vielen Dank.
({7})
Nun hat der Kollege Karsten Schönfeld für die SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kriminalstatistik zeigt: Deutschland ist eines der sichersten Länder in der Welt. Doch auch wenn wir statistisch
von einem Rückgang der Zahl schwerer Straftaten sprechen können, so dürfen wir nicht vergessen, dass hinter
jeder Zahl ein Einzelschicksal steht.
Viele Tausende von Menschen werden jedes Jahr direkt oder indirekt Opfer von Gewalt und Kriminalität. Es
ist schwer vorstellbar, was viele dieser Opfer durchgemacht haben und oft ein Leben lang durchmachen müssen. Wenn wir von Opferhilfe sprechen, dann geht es dabei nicht allein um Geld. Die Menschen brauchen
seelischen und psychischen Beistand. Viele Organisationen nehmen sich dieser Aufgabe an. Bundesweit einzigartig ist sicherlich der Weiße Ring. Seit seiner Gründung
vor 25 Jahren wurden über 150 000 Gewaltopfer, Geschädigte vom Weißen Ring materiell unterstützt. Mindestens ebenso wichtig ist aber auch die psychische
Betreuung der Opfer und deren Angehörigen. Hierbei
leisten Organisationen wie der Weiße Ring eine hervorragende Arbeit.
Wir dürfen Verbrechensopfer nicht allein auf die
rechtlichen Ansprüche gegenüber den Tätern verweisen;
denn dann würden sie wohl oft ganz leer ausgehen, wie
auch das Beispiel, das Sie, Kollege Kauder, angesprochen haben, belegt.
Mit dem Opferentschädigungsgesetz hat die Bundesrepublik ein Rechtsmittel geschaffen, um für die Betroffenen eine schnelle Hilfe unabhängig von ihren Rechtsansprüchen zu gewährleisten. Wie sich an den Zahlen
zeigt, ist dies nicht nur ein Lippenbekenntnis. Fast
10 000 Anträge werden jedes Jahr gestellt und Mittel in
Höhe von über 100 Millionen Euro werden von Bund
und Ländern bereitgestellt. Dennoch: Wir müssen auf
diese Zahlen nicht stolz sein. Mir wäre es lieber - das
gilt, glaube ich, für uns alle -, wenn weniger Menschen
einen Antrag stellen müssten.
Leider erleben wir in jüngster Zeit immer öfter, dass
deutsche Staatsangehörige Opfer von Straftaten oder von
Anschlägen im Ausland werden. Der Terroranschlag von
Djerba ist ein solch erschreckendes Beispiel; das trifft
ebenso auf die Anschläge von Bali oder jüngst auf die
Entführung von Saharatouristen in Algerien zu.
Das Auswärtige Amt geht von einer fortbestehenden
weltweiten Gefahr von terroristischen Anschlägen aus.
Das betrifft nicht nur die Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Eine terroristische Bedrohung besteht
ebenso in Europa und nach wie vor natürlich in den
USA. Von Reisen in elf Länder rät das Auswärtige Amt
derzeit ganz ab. Darunter befinden sich nicht nur offensichtlich gefährliche Staaten wie Afghanistan und Irak,
sondern auch Haiti oder der Jemen, wo sich jedes Jahr
sehr viele Touristen aufhalten.
Geltungsbereich des OEG ist das Territorium der
Bundesrepublik. Vor dem eben geschilderten Hintergrund sehen wir einen zunehmenden Handlungsbedarf;
denn immer mehr Deutsche werden im Ausland Opfer
von Verbrechen. Die Regierungskoalition hat sich dieses
Problems aufgrund seiner Dringlichkeit angenommen.
Wir haben bereits am 11. April einen Antrag im Bundestag eingebracht, in dem wir die Bundesregierung auffordern, entsprechende Möglichkeiten zu prüfen. Wir wissen, dass das nicht nur ein Problem ist, das in den
Aufgabenbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung fällt; es ist natürlich auch ein
juristisches Problem. Ich glaube, dass es deshalb auch
gut ist, dass die Bundesregierung mit der Bundesjustizministerin und der Parlamentarischen Staatssekretärin
im Bundesgesundheitsministerium hier vertreten ist.
Es geht insbesondere um die Frage, ob der Geltungsbereich des OEG auf Straftaten, die an Deutschen im
Ausland begangen werden, ausgedehnt werden kann
oder ob diesen Opfern in anderer Weise ein Anspruch
auf Entschädigung zuerkannt werden kann. Die derzeitige Prüfung, ob die Stellung der Opfer verbessert werden kann, findet nicht nur auf Bundesebene statt. Diese
Frage hat zumindest eine europäische Dimension.
Auf der Grundlage des Grünbuchs „Entschädigung für
Opfer von Straftaten“ hat die EU-Kommission im Herbst
letzten Jahres eine Richtlinie zur Harmonisierung der
Opferentschädigung erlassen. Dabei werden von der
Kommission drei zentrale Forderungen erhoben: erstens
die Gewährleistung, dass Opfer in der Europäischen
Union eine staatliche Entschädigung erhalten können, das
heißt ein Sicherheitsnetz für alle, die in der Europäischen
Union ihren Wohnsitz haben; zweitens die Aufhebung
von Ungerechtigkeiten, die sich aus dem unterschiedlichen Entschädigungsniveau in den einzelnen Mitgliedstaaten für die Bürger ergeben - es darf zukünftig eben
nicht mehr entscheidend sein, ob man in Österreich, in
Spanien oder in Deutschland lebt - und drittens die Erleichterung des Zugangs zu staatlicher Entschädigung für
Opfer in Situationen mit grenzüberschreitenden Bezügen.
Das heißt, für eine Entschädigung darf es keine Rolle
spielen, in welchem Land die Straftat begangen wurde.
Die Richtlinie wird derzeit in den Ländern der Europäischen Union kontrovers diskutiert. Vor allem Länder
wie Italien oder Griechenland, die bislang noch gar
keine Opferentschädigung kennen, müssen hier mit ins
Boot geholt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns bewusst, dass das Thema sehr wichtig ist, zu wichtig, um
es weiter auf die lange Bank zu schieben. Unabhängig
von den derzeitigen rechtlichen Überlegungen hat die
Bundesregierung deshalb schnell auf aktuelle Ereignisse
reagiert. Das Kabinett hat unmittelbar nach den Anschlägen von Djerba am 11. April letzten Jahres als Zeichen
der Solidarität mit den Opfern einen Hilfsfonds eingerichtet. Im Bundeshaushalt 2002 wurden dafür außerplanmäßige Mittel in Höhe von 10 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt; in diesem Haushaltsjahr sind es
9 Millionen. Zahlungen aus dem Fonds können rückwirkend für Fälle ab dem 1. Januar 2001 geltend gemacht
werden, sodass Betroffene und Angehörige der Anschläge vom 11. September, von Djerba, von Bali und
zuletzt auch Entführungsopfer aus der Sahara entschädigt werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns wohl
darin einig, dass in einer Zeit, in der sich Bundesbürger
auf der ganzen Welt bewegen, die aber durch größere
weltweite Gefahren gekennzeichnet ist, etwas für die
Opfer von Verbrechen im Ausland getan werden muss.
Ich glaube jedoch, dass wir den vorliegenden Entwurf
der Union kritisch betrachten müssen; denn er enthält einige Problempunkte, die hier noch zu klären sind. So
stellt sich die Frage, ob wir wirklich alle Straftaten im
Ausland aufnehmen wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauder?
Ja, bitte.
Herr Kollege, sind Sie mit mir einig, dass erhebliche
Bedenken in Bezug auf die Regelungskompetenz der
europäischen Ebene hinsichtlich der Opferentschädigung bestehen? Weder die sozialrechtlichen Vorschriften
sind einschlägig, weil diese Entschädigung nicht mit
dem Arbeitsmarkt in Zusammenhang steht, noch ist der
interjustizielle Bereiche betroffen, weil Opferentschädigung nicht mit strafrechtlichen Sanktionen, sondern mit
Sozialrecht zusammenhängt; auch die Subsidiaritätsklausel spielt eine Rolle.
Sind Sie mit mir einig, dass aus dem von Ihnen erwähnten Fonds das von mir angesprochene Opfer, dem
in Spanien eine Straftat widerfuhr, nicht entschädigt
werden kann?
({0})
Da ich den konkreten Fall des von Ihnen angesprochenen Opfers in Spanien nicht kenne, kann ich auf diesen Punkt nicht eingehen. Ich glaube dennoch, dass es in
Zeiten zunehmender europäischer Harmonisierung darauf ankommt, hierzu eine europäische Regelung zu treffen; darauf richtet sich auch unser Bemühen.
Aber noch einmal zurück zu Ihrem Antrag: Wenn wir
alle Straftaten im Ausland aufnehmen, werden wir am
Ende wahrscheinlich große Schwierigkeiten bei der Abgrenzung und Aufklärung bekommen! Fraglich ist auch,
ob eine bewusste Selbstgefährdung von Touristen berücksichtigt werden sollte. Ich habe von den Warnungen,
die vom Auswärtigen Amt herausgegeben werden, gesprochen. In diesem Zusammenhang muss man auch die
Frage erörtern, ob Straftaten an Menschen, die sich ganz
bewusst in Regionen bewegen, in denen Gefahren bestehen, genauso bewertet werden sollen wie entsprechende
Straftaten in Frankreich oder Italien.
Lassen Sie noch eine Zusatzfrage des Kollegen
Kauder zu?
In meiner restlichen Redezeit möchte ich gerne im
Zusammenhang vortragen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss an die
Menschen appellieren, sich der Risiken einer Reise im
Vorfeld bewusst zu sein. Dazu gehört auch, sich darüber
Klarheit zu verschaffen, ob der Versicherungsschutz, den
man in Deutschland genießt, im Ausland gleichermaßen
gilt oder ob man sich oder seine Familie zusätzlich
schützen muss, beispielsweise durch eine Unfall- oder
Auslandskrankenversicherung. In einer Zeit, in der viel
über die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme
geredet wird und gerade von Ihnen in der Union mehr
Eigenverantwortung gefordert wird, kann es nicht sein,
dass der Staat eine Pauschalversicherung für Abenteuertouristen übernimmt.
({1})
Was ich in Ihrem Entwurf ebenfalls nicht nachvollziehen kann, ist die Dreimonatsausschlussfrist. Das Kriterium des vorübergehenden Aufenthalts für längstens drei
Monate scheint - Sie haben es in Ihrer Rede bestätigt,
Herr Kollege Kauder - weitgehend auf Touristen zugeschnitten zu sein. Eine plausible Begründung dafür, warum ein deutscher Staatsbürger, der sich länger im Ausland aufhält, keinen Anspruch auf Opferentschädigung
haben soll, gibt es nicht. So hätte beispielsweise ein Arbeitnehmer, der für länger als drei Monate - sei es auch
nur für ein halbes Jahr - von seinem Arbeitgeber ins
Ausland entsandt wird, keinen Anspruch auf Opferentschädigung, seine Familie, die ihn für ein paar Tage oder
Wochen besucht, aber gleichwohl.
Sie sehen, es gibt noch viel zu klären. Dazu werden
wir das parlamentarische Verfahren nutzen. Ich wünsche
mir, dass wir möglichst bald eine Regelung - möglichst
eine EU-einheitliche Regelung - hinbekommen.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits im
April des vergangenen Jahres wurde von der FDP-Fraktion eine Ergänzung des Opferentschädigungsgesetzes
beantragt, weil angesichts der internationalen Terroranschläge in den vergangenen Jahren offenkundig wurde,
dass davon betroffene deutsche Opfer keine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz erhalten
konnten. Hier besteht nach wie vor eine Regelungslücke,
die angesichts der Belastung der Opfer nicht länger hinzunehmen ist. Dementsprechend hat die FDP-Fraktion
im November des vergangenen Jahres die Bundesregierung erneut aufgefordert, das Opferentschädigungsgesetz zugunsten von Opfern von Terroranschlägen im
Ausland zu ergänzen. Wir verlangen weiter, zu prüfen,
ob die Opfer bei der Durchsetzung rechtlicher Ansprüche durch die Bundesregierung oder die deutschen Botschaften unterstützt werden können.
Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion hat die von der FDP-Fraktion verfolgte Zielsetzung
aufgegriffen. Die Bundesregierung hat noch in der vergangenen Legislaturperiode erklärt, dass sie die erste
Initiative der FDP-Fraktion ebenfalls unterstütze.
Es wird ständig über terroristische Übergriffe im Ausland berichtet, sodass es deutschen Bürgerinnen und
Bürgern nicht länger zuzumuten ist, im Ausland hinsichtlich ihrer Opferentschädigungsansprüche schlechter
gestellt zu sein als in Deutschland, nur weil sie nicht in
Deutschland Schaden erleiden. Wie in der Begründung
zum Antrag auch ausgeführt, handelt es sich aber eben
nicht nur um die Entschädigung von Terroropfern, sondern auch von Opfern allgemeiner Straftaten. Als Beispiel wird unter anderem der Fall einer traumatisierten
Mutter angeführt, die vom Bundessozialgericht keine
Opferentschädigung zuerkannt bekam, nachdem ihre
Kinder vom Vater im Ausland ermordet wurden. Aufgrund entsprechender Traumatisierung hätte sie wohl
eine Opferentschädigung bekommen, wenn sich dieser
Fall in Deutschland, also im Inland, ereignet hätte.
Herr Kollege Kauder, Sie haben auch sehr persönlich
von Fällen gesprochen, die Sie selbst begleitet haben.
Ich habe einen solchen Fall wie den gerade geschilderten
selbst in meiner beruflichen Praxis begleitet. Ich muss
sagen, es ist einer der dramatischsten Fälle, die ich erlebt
habe, gerade auch angesichts der Hilflosigkeit solcher
Opfer, die auf weitere Begleitung und Hilfestellung
staatlicherseits angewiesen sind. Nur weil das Ausland
der entscheidende Faktor ist, bekommen sie keinen Anspruch auf Entschädigung zuerkannt. Solche Konsequenzen sind Opfern von Gewalttaten nicht vermittelbar.
Für sie ist es unerheblich, wo sie betroffen werden; sie
müssen letztendlich eine angemessene Versorgung haben, unabhängig vom Ort der Straftat.
Die FDP hat in ihrer Aufforderung an die Bundesregierung, gesetzgeberisch tätig zu werden, auch die Unterstützung der Opfer bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche
im Ausland für erforderlich erachtet. Ich halte diese Forderung nach wie vor für dringlich und würde es sehr begrüßen, wenn im Interesse der Opfer auch dieser Gesichtspunkt Eingang in die Gesetzgebung finden könnte.
Die Durchsetzung von Ansprüchen vor Ort kann nämlich
von Fall zu Fall im Rahmen einer Kollisionsregelung
Ansprüche nach deutschem Opferentschädigungsrecht
nachrangig gestalten, sodass eine effektive Unterstützung der Durchsetzung von Ansprüchen im Ausland
gleichermaßen im Interesse von Opfern und deutschem
Fiskus sein kann.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf § 2 des Opferentschädigungsgesetzes hinweisen: Es gibt auch Versagungsgründe; man muss sich im Ausland kümmern
können und braucht dazu von Fall zu Fall Unterstützung.
Ich gehe davon aus, dass in diesen Detailfragen in der
Ausschussberatung vernünftige Lösungen zu finden sind
und Opfer von Straftaten im Ausland letztendlich eine
Entschädigung bekommen können, sofern die Voraussetzungen für eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz vorliegen.
Wir diskutieren über eine Regelungslücke, die bei
entsprechender Initiative der Bundesregierung längst geschlossen sein könnte. Die FDP-Fraktion begrüßt eine
baldige Lösung dieses Problems.
Ich danke Ihnen.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Kauder, aus Ihren Zwischenfragen und Zurufen kann man ein wenig den Eindruck gewinnen, dass
Sie es als Aufgabe des Deutschen Bundestages ansehen,
Ihre Opfer - damit meinen Sie wohl die von Ihnen vertretenen Opfer - zu versorgen, also für sie eine Regelung
zu finden.
({0})
Das Problem ist aber wesentlich umfassender und weist
sehr viel mehr Details auf.
({1})
Ich habe vor etwa zehn Jahren die Angehörigen der
türkischstämmigen Opfer des Anschlages von Mölln anwaltlich vertreten.
({2})
Wir mussten feststellen, dass die Angehörigen der
Nichte - bei den Angehörigen der ermordeten Mutter lag
der Fall anders -, die dort zu Besuch war und ebenfalls
bei dem Brandanschlag ermordet worden ist, keine Entschädigung bekommen konnten, weil die Regelung in
Deutschland vorsieht, dass man mit dem getöteten Familienangehörigen in gerader Linie verwandt oder mit ihm
verheiratet sein muss. Das war bei der Nichte nicht der
Fall. Deswegen bekamen ihre Angehörigen keine Entschädigung. Wir haben uns Mitte der 90er-Jahre an die
damalige Bundesregierung und auch an den Bundestag
gewandt, weil den Angehörigen nur sehr schwer zu vermitteln war, dass es diese Unterscheidung gibt.
Sie erkennen also, dass auch ich einen Regelungsbedarf sehe. Die Koalition hat bereits im letzten Jahr die
Initiative ergriffen und eine Reihe von Forderungen aufgestellt. Auch wir sehen natürlich nicht ein, warum Opfer einer Tat in Deutschland, zum Beispiel auf Sylt, entschädigt werden, aber Opfer einer Tat auf Mallorca - das
war ein konkreter Fall -, einer Tat auf Djerba oder auf
Bali nicht entschädigt werden bzw. keinen Rechtsanspruch auf Entschädigung haben. In dem konkreten Fall
ist versucht worden, zu helfen. Das war richtig, aber
trotzdem muss man nachbessern.
Herr Kollege Kauder, man kann es sich aber nicht so
leicht wie Sie machen. Es sind schon eine ganze Reihe
von Problemen aufgezeigt worden. Es gibt beispielsweise fiskalische Probleme, die man natürlich im Auge
haben muss. Wir können nämlich nicht Geld versprechen und Ansprüche schaffen, die nachher nur schwer
oder überhaupt nicht erfüllt werden können. Dieser Aspekt muss also genau überdacht werden.
Es muss aber auch überlegt werden, wer unter eine
solche Regelung fallen soll. Sie haben einen Vorschlag
gemacht, der - wenn ich das richtig verstanden habe einen Schritt weiter geht als der Vorschlag, den Sie in
der letzten Debatte gemacht haben. Jetzt wollen Sie EUBürgern aus Deutschland, die im Ausland betroffen sind,
einen Anspruch auf Entschädigung zubilligen.
Aber Sie gehen diesen Schritt nicht weit genug. Wir
meinen, dass auch Nicht-EU-Bürger, die in Deutschland drei Jahre oder länger wohnen und die während eines Urlaubs nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen Ländern wie beispielsweise Griechenland von
einer Tat betroffen sind, nicht anders behandelt werden
sollen als der Deutsche oder der EU-Bürger aus der
Nachbarschaft, der mit ihm zusammen dort Urlaub
macht. Es gibt also vieles zu bedenken, um eine gerechte
und richtige Lösung zu erreichen.
Es ist auch zu überlegen, ob etwa mit den Ländern, in
denen sich viele Deutsche aufhalten, weil sie dort bevorzugt Urlaub machen, Gegenseitigkeitsregelungen getroffen werden können, was eine Erstreckung deutscher
Regelungen auf diese Länder überflüssig macht. All das
müssen wir beobachten, prüfen und im Ausschuss erörtern.
Dann sollten wir zu einer Regelung kommen, die über
das hinausgeht, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf in Bezug auf einen Paragraphen vorgelegt haben.
Ich muss Ihnen zugestehen, dass das aus CDU/CSUSicht ein Schritt in die richtige Richtung gewesen ist.
({3})
Denn vorher haben Sie nur von denjenigen Deutschen
gesprochen, die, wenn sie im Ausland durch eine Gewalttat einen Körperschaden erleiden, entschädigt werden sollen. Lassen Sie uns also gemeinsam in diese
Richtung weitergehen!
({4})
Lassen Sie uns ein Gesetz finden, das zu einer gerechten
Lösung führt! Da können wir zusammenarbeiten. Sie
sind aufgerufen, daran mitzuwirken.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1002 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Clemens
Binninger, Wolfgang Bosbach, Hartmut
Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Sicherheit im Luftverkehr
- Drucksache 15/747 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hierzu geben die Kollegen Frank Hofmann
({1})1), Clemens Binninger, Silke Stokar von
Neuforn, Dr. Max Stadler und für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper
ihre Reden zu Protokoll2).
Bevor ich Tagesordnungspunkt 16 aufrufe, sollten wir
der Ordnung halber die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/747 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse beschließen. Dazu besteht offenkun-
dig Einverständnis. - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Hubert Hüppe, Thomas
Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
1) Wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
2) Anlage 5.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Gentests in Medizin, Arbeitsleben und Versicherungen
- Drucksache 15/543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die hierzu vorgesehenen Redner Wolfgang Wodarg,
Katherina Reiche, Jerzy Montag und Detlef Parr geben
ihre Reden ebenfalls zu Protokoll1).
1) Anlage 6.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/543 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche den verbliebenen Kollegen und Kolleginnen einen schönen Rest dieses Abends.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Juni 2003, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.