Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Anträge zur Bestimmung des
Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der
Fraktionen sowie um den Antrag zur Einsetzung von Ausschüssen zu erweitern und jetzt anschließend als Zusatzpunkte 1 bis 3 zu beraten. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 1 bis 3
auf:
ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - Drucksache 15/18 ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - Drucksache 15/17 ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP
Einsetzung von Ausschüssen - Drucksache 15/19 Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wählerinnen und Wähler haben der SPD und den Grünen am 22. September den Auftrag gegeben, die Regierungsgeschäfte hier in diesem
Hause weiterzuführen und dafür die durch die Wahl erhaltene Mehrheit in Anspruch zu nehmen.
({0})
Dieser Auftrag gilt, auch wenn er bei einigen in der Opposition noch nicht ganz angekommen zu sein scheint.
Nach den klaren Regelungen unserer Geschäftsordnung
hat das unmittelbar zur Folge, dass sich diese Mehrheit in
allen Ausschüssen und Gremien des Deutschen Bundestages widerspiegeln muss. Denn Mehrheit muss Mehrheit
bleiben. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot.
Genau diesem Ziel dient der vorliegende Antrag der
Koalitionsfraktionen, der heute zur Abstimmung vorgelegt wird. In § 12 unserer Geschäftsordnung ist vorgesehen, dass die Zusammensetzung der Ausschüsse im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen
ist. Ergänzend ist in § 57 festgelegt, dass der Bundestag
das System bestimmt, nach dem das Stärkeverhältnis der
Fraktionen zueinander Berücksichtigung zu finden hat.
({1})
Diese so genannten Zählverfahren, Herr Funke, sind dabei lediglich Hilfsmittel, um die Abbildung der Mehrheit
im Einzelfall im jeweiligen Ausschuss zu gewährleisten.
Sie haben ausschließlich den Zweck, die vom Wähler getroffene Mehrheitsentscheidung in jedem Gremium umzusetzen.
Diese Grundsätze, insbesondere der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit, sind vom Verfassungsgericht in mehreren
Entscheidungen ausdrücklich bekräftigt worden. Ich weise
auf das uns aus anderen Zusammenhängen hinlänglich bekannte Wüppesahl-Urteil und das PDS-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus vergangenen Wahlperioden
hin.
Nun stellt sich bei einer Reihe von Gremien heraus,
dass die bekannten Zählverfahren St. Lague/Schepers,
d’Hondt oder Hare/Niemeyer bei bestimmten Gremiengrößen nicht geeignet sind
({2})
- das ist eben so; das alles hat mit Rechnen zu tun; das ist
doch völlig klar;
({3})
wenn Sie nicht rechnen können, ist das Ihr Problem und
nicht meines -,
({4})
Präsident Wolfgang Thierse
eine Zusammensetzung der Gremien so zu ermöglichen,
dass eine Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse
- was, wie ich bereits betont habe, das oberste Prinzip
ist - zustande kommt.
Dies ist insbesondere beim Vermittlungsausschuss
der Fall.
({5})
Kein Verfahren kann gewährleisten, dass die Mehrheitsverhältnisse auf der Bundestagsbank abgebildet werden.
Damit käme es zu einer Pattsituation, die mit der Geschäftsordnung des Bundestages nicht im Einklang stünde.
Als pragmatischer Ausweg lässt sich auch nicht daran denken, die Gremiengröße zu verändern, um auf diesem Wege
zu einer Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse zu
gelangen. Diesen Weg wählen wir zwar oftmals; aber hier
ist er uns verwehrt, weil die Größe des Vermittlungsausschusses verfassungsrechtlich festgelegt ist.
Aus diesem Grund benötigen wir ein System, das in
solchen Fällen die Umsetzung des Wählerwillens gewährleistet.
({6})
Ein solches abstraktes System schlagen wir mit diesem
Antrag vor. Es stellt einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Ziel der Abbildung der Mehrheit einerseits und
der angemessenen Berücksichtigung aller Fraktionen andererseits dar.
({7})
Dies ist im Übrigen auch der große Unterschied zur damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition. Sie standen in der
13. Legislaturperiode vor genau demselben Problem wie
wir heute. Auch Sie wählten ein Verfahren, um die Mehrheit im Vermittlungsausschuss für sich zu sichern. - „Hört!
Hört!“, hätte ich beinahe hinzugefügt.
Ihr Verfahren führte aber dazu, dass nicht alle Fraktionen bzw. Gruppen im Vermittlungsausschuss vertreten
waren. Unser Verfahren stellt im Gegensatz dazu sicher,
dass auch die kleinste Fraktion im Hause, nämlich die
FDP, auf der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss
vertreten sein wird. Insofern ist die FDP von diesem Antrag überhaupt nicht negativ betroffen, Herr Funke.
Der durch die Verfahrensweise der CDU/CSU und der
FDP ausgeschlossenen PDS, die daraufhin das Verfassungsgericht anrief, verdanken wir im Übrigen eine wesentliche Klarstellung: Das Bundesverfassungsgericht hat
im so genannten PDS-Urteil - gerade bezogen auf die
Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss - explizit den
Grundsatz der Abbildung der politischen Mehrheit in
den Ausschüssen bekräftigt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, vor diesem rechtlich klaren Hintergrund und diesem Verlauf ist mir
unverständlich, aus welchem Grund Sie gegen diesen Antrag vor das Verfassungsgericht ziehen wollen, wie man der
Presse entnehmen konnte. Sie treten insoweit in die Fußstapfen der schon damals erfolglosen PDS und dürften - genauso wie diese - an der geltenden Rechtslage scheitern.
({8})
Akzeptieren Sie endlich, dass Sie in der Opposition sind!
Hören Sie auf, gegen die vom Wähler gewollten Mehrheitsverhältnisse vor das Verfassungsgericht zu ziehen! Spielen
Sie nicht länger die beleidigte Leberwurst in diesem Hause!
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ronald Pofalla,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler will sich persönlich um eine Verbesserung des Verhältnisses zur Opposition bemühen.
({0})
Das waren noch in der letzten Woche die hehren Worte
von Bundeskanzler Schröder. Die Koalition führt nun vor,
was sie unter fairer Zusammenarbeit versteht. Als Ouvertüre dazu dient ihr die Besetzung der Bundestagsbank des
Vermittlungsausschusses. Eiskalte Machtpolitik überlagert die süßlichen Sirenentöne des Bundeskanzlers.
({1})
Herr Schmidt, es gibt drei anerkannte und etablierte
mathematische Berechnungsverfahren, die allesamt zu
Sitzanteilen im Verhältnis von sieben Sitzen für die SPD,
sieben für die CDU/CSU, einem für Bündnis 90/Die Grünen und einem für die FDP und damit zu einem Patt zwischen Regierung und Opposition auf der Bundestagsbank
des Vermittlungsausschusses führen. Jede Abweichung
davon ist Willkür.
({2})
Deutlicher als in Ziffer 2 des Antrages der Koalitionsfraktionen kann man die Willkür nicht ausdrücken. Wenn
einem das Ergebnis der anerkannten Verfahren nicht passt,
zimmert man sich ein abweichendes Verfahren und behauptet, nur durch seine Ergebnisse spiegle sich die politische
Mehrheit auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses wider. Noch nie ist in einer Bundestagsdrucksache
so offen der Gedanke der Willkür formuliert worden.
({3})
Wir fordern den Bundeskanzler und die Koalitionsfraktionen auf, diesen verfassungswidrigen Antrag ersatzlos
zurückzuziehen und unserem Antrag zuzustimmen.
({4})
Bei der von Rot-Grün beantragten Verteilung würde
die SPD mit acht Sitzen genau 50 Prozent der Plätze im
Vermittlungsausschuss beanspruchen, obwohl sie nur
über 41,6 Prozent der Mandate im Bundestag verfügt und
lediglich 38,5 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl erhalten hat.
Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, zwischen
den drei verschiedenen vom Verfassungsgericht anerkannten Zählsystemen zu wählen, ist nach den Aussagen
des Bundesverfassungsgerichts auf genau diese drei Zählsysteme beschränkt. Nur durch Auswahl eines dieser Zählsysteme und nicht - so machen Sie es, Herr Schmidt durch die Veränderung eines einzelnen Zählsystems kann
den politischen Mehrheitsverhältnissen im Plenum Rechnung getragen und der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit
verwirklicht werden. Alles andere, meine Damen und
Herren der Koalitionsfraktionen, ist verfassungswidrig.
({5})
Es ist sonnenklar, dass die rot-grüne Mehrheit den Bundestag ausschließlich für ihre parteipolitischen Zwecke
instrumentalisieren will. Der Vermittlungsausschuss wird
dadurch diskreditiert und denaturiert. Der Vermittlungsausschuss ist ein Gremium singulärer Prägung; so hat es
das Verfassungsgericht festgestellt. Seine Aufgabe liegt
darin, einen politischen Kompromiss zu suchen und diesen Kompromiss im Bundestag und im Bundesrat mehrheitsfähig zu machen. Dies kann nur im Konsens und
nicht durch unechte Vermittlungsergebnisse geschehen.
({6})
Sollte Rot-Grün heute sein verfassungswidriges Vorhaben durchdrücken,
({7})
wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unverzüglich das
Bundesverfassungsgericht anrufen, um den Schröder-Plan
zu stoppen. Unsere Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.
({8})
Dann wird eben Karlsruhe die Fairness herstellen, von
der der Bundeskanzler auch in anderen Zusammenhängen
so viel redet. Die Worte Gerhard Schröders sind das eine,
die Taten das andere.
({9})
Bei der Besetzung des Vermittlungsausschusses wird
Gerhard Schröder notfalls in Karlsruhe zu spüren bekommen, dass sich die Unionsfraktion ein solches Verhalten
hier im Plenum des Deutschen Bundestages durch die Koalitionsfraktionen nicht gefallen lässt.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Herr Kollege Pofalla, so weit geht die Liebe nicht. Wir bieten Ihnen eine faire Zusammenarbeit an; aber dass wir Ihnen
unsere Mehrheit als Morgengabe darbieten, ist nun wirklich ein bisschen zu viel verlangt.
({0})
§ 12 unserer Geschäftsordnung regelt die Stellenanteile
der Fraktionen. Dazu gibt es zwei Rechtsgrundsätze. Zum
einen muss das Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen durch Anwendung von Zählverfahren abgebildet
werden. Dabei sind wir um eine proportionale Abbildung
bemüht. Zum anderen müssen bei diesem Verfahren auch
die Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages in
all seinen Gremien und Ausschüssen abgebildet werden.
Diesem Ziel dient der vorgelegte Antrag.
Wir haben als Bundestag in der Vergangenheit auch im
Falle knapper Mehrheiten die Zählverfahren geändert und
gewechselt, um die Mehrheitsverhältnisse des Deutschen
Bundestages in allen Ausschüssen und Gremien entsprechend abzubilden. Das haben wir in der 13. und 14. Wahlperiode getan und das ist auch zulässig.
Im Wüppesahl-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht 1989 klar festgestellt, dass die Ausschüsse die Zusammensetzung des Plenums verkleinert abbilden und die
Vorbereitung von Entscheidungen und Beschlüssen des
Plenums die Erarbeitung mehrheitsfähiger Entscheidungsgrundlagen voraussetzt. Damit wäre schwerlich vereinbar,
wenn sich die politische Gewichtung innerhalb des Parlamentes in den Ausschüssen nicht widerspiegeln würde.
- Das führte das Bundesverfassungsgericht 1989 aus.
1997 wird das Gericht im zweiten PDS-Urteil noch
einschlägiger:
In der Abweichung von dem üblicherweise bei der
Gremienbesetzung angewandten Verfahren ... liegt
keine missbräuchliche Handhabung der Geschäftsordnungsautonomie.
Und:
Ein Wechsel des Zählsystems mit dem Ziel, die
Mehrheitsverhältnisse des Plenums in der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses wiederzugeben,
({1})
ist verfassungsrechtlich unbedenklich.
So das hohe Gericht, das Sie anzurufen gedenken.
({2})
Da wir hier scheinbar vor Gericht sind - wenn auch
nicht im Strafprozess -, rufe ich jetzt den damaligen
Parlamentarischen Geschäftsführer Joachim Hörster in
den Zeugenstand. In der 13. Wahlperiode, am 16. Februar 1995, sagte er:
Bei der Besetzung der Ausschüsse und Gremien des
Deutschen Bundestages muss sich diese vom Wähler
getroffene Entscheidung widerspiegeln, dass heißt,
Mehrheit muss Mehrheit bleiben. Dies ist ein verfassungsrechtliches Gebot.
({3})
Und weiter:
Um dem Wählerwillen Rechnung zu tragen, ist es erforderlich, das Zählverfahren auszusuchen, das die
Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt.
Recht hat er.
({4})
Nirgendwo steht geschrieben, dass die Zahl der Zählverfahren endlich ist. Wir legen hier eine allgemein anwendbare Regel vor.
({5})
Wir wollen sie nur dort anwenden, wo es unbedingt erforderlich ist. Dies war nach Ihrer Meinung in der Vergangenheit richtig. Auch das Bundesverfassungsgericht hat es so
gesehen. Ich bedaure, dass Herr van Essen heute nicht nach
mir reden kann. Ihm will ich aber sozusagen meine Schlussworte überlassen. Er äußerte in der gleichen Debatte:
Aber der Gedanke, der dabei
- in einem Gutachten des Bundestages geäußert worden ist, ist einleuchtend: Zum Demokratieprinzip gehört auch das Mehrheitsprinzip. Deshalb kommt diese wissenschaftliche Arbeit zu dem
Ergebnis, dass der Bundestag nicht gezwungen werden kann, bei der Besetzung des politisch so bedeutsamen Vermittlungsausschusses auf eine Abbildung
seiner Mehrheitsverhältnisse, hier also der Mehrheit
der Koalition, zu verzichten.
({6})
Dabei bleiben wir. Wir bleiben Ihren Grundsätzen treu.
Wir sind uns sicher, dass Sie vor dem Bundesverfassungsgericht eine Niederlage erleiden werden.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke, FDP, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem
Antrag der Koalitionsfraktionen handelt es sich um eine
schlichte, machtpolitisch motivierte Trickserei.
({0})
- Ich werde gleich darauf eingehen.
In diesem Land bestand immer Konsens darüber, dass
der Vermittlungsausschuss ein eigenständiger und herausgehobener Ausschuss ist, in dem Vertreter aus Bundestag
und Bundesrat gemeinsam versuchen - oft unabhängig
von der Parteidisziplin -, tragfähige Lösungen zu finden.
Diesen Konsens möchte Rot-Grün nach langer Tradition
aufkündigen.
Nach allen zur Verfügung stehenden Berechnungsverfahren müsste es bei der Ausschussbesetzung bei einem
Patt von 7 : 7 : 1 : 1 bleiben. Die Koalition möchte daher
durch eine Änderung der Geschäftsordnung erreichen,
dass eine rot-grüne Mehrheit auf Bundestagsseite im Vermittlungsausschuss gesichert ist.
Dies zeigt deutlich, dass es hier nicht um die Herrschaft
des Rechts geht, wie es dem Sinn unserer Geschäftsordnung, die wir uns selber gegeben haben, entspricht, sondern vielmehr um die rücksichtslose Durchsetzung von
Machtinteressen.
({1})
Wenn Sie auf die Mehrheitsverhältnisse abstellen, können Sie nicht sagen, dass es noch gerecht wäre, wenn die
Koalition neun Stimmen bekäme und die Opposition sieben. Ihr Antrag würde aber zu diesem Ergebnis führen.
Eine solche Abweichung vom bisherigen Zählsystem
wäre in sich nicht logisch und im Übrigen auch unsystematisch. Dies weiß auch Herr Schmidt, der Geschäftsordnungsexperte ist.
Falsch ist meines Erachtens auch der Verweis auf die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht hat sich bisher nur mit der Frage befasst,
ob es zulässig ist, einen Wechsel in den bekannten Zählverfahren oder aber im Einzelfall eine Abweichung zugunsten einer anderen mathematischen Proportion vorzunehmen. Hier liegt aber keine Abweichung von der
mathematischen Proportion vor. Es ist kein anerkanntes
Zählverfahren, das Sie anwenden wollen, sondern das ist
reine Willkür.
({2})
Das Gericht hat sich aber nie mit der Frage befasst, ob
der Bundestag auch die Befugnis besitzt, die Mehrheitsfrage mit einem gesonderten, nicht unter die bekannten
Zählverfahren fallenden Schlüssel zu beeinflussen.
Es kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, Kollege
Schmidt. Es wäre verfehlt, davon auszugehen, der Vermittlungsausschuss sei mit den Ausschüssen des Bundestages vergleichbar und man könne daher bei der Frage der
Besetzung die gleichen Maßstäbe anlegen. Die Andersartigkeit des Vermittlungsausschusses ergibt sich bereits daraus, dass er eigenen geschäftsordnungsmäßigen
Regelungen unterliegt
({3})
und sich eine vom Bundestag und vom Bundesrat getragene Geschäftsordnung gibt, die im Übrigen in beiderseitigem Einvernehmen bestimmt wird und auch nur in beiderseitigem Einvernehmen geändert werden kann. Die
besondere Stellung des Ausschusses kommt auch dadurch
zum Ausdruck, dass die Mitglieder des Bundesrates an
Weisungen und Aufträge nicht gebunden sind. Bewusst
soll im Vermittlungsausschuss nicht entlang von Parteiproporzen gearbeitet werden.
Sie weichen von diesen Grundsätzen, die wir uns alle
selbst gegeben haben, ohne erkennbaren Sinn ab. Ich
glaube, wir würden viel besser fahren, wenn wir im Vermittlungsausschuss gemeinsam daran arbeiten würden,
vernünftige Gesetze durchzusetzen, statt Gesetze durchzupeitschen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 15/18. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bestimmung des
Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 15/17. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur
Einsetzung von Ausschüssen auf Drucksache 15/19. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zur
Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Ich erinnere noch einmal daran, dass wir gestern für die
heutige Aussprache neun Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zu den Themenbereichen Wirtschaft
und Arbeit. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich mich sehr
freue, dass ich ab heute die Möglichkeit habe, wenn auch
ohne Mandat als Bundestagsabgeordneter, mit Ihnen zu
diskutieren, zu debattieren, mich auseinander zu setzen
und zu sprechen. Das Feld, auf dem ich mich in der nächsten Zeit zu tummeln beabsichtige, gehört sicherlich zu den
wichtigsten Aufgabenfeldern, die wir gemeinsam zu beackern haben.
Ich habe das Amt, das mir der Bundeskanzler angeboten hat, angenommen, weil ich mich der Aufgabe, für
mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, verpflichtet fühle. Ich habe mich dieser Aufgabe verschrieben, weil
ich sie schon in Nordrhein-Westfalen, einem wunderbaren und dem größten Land der Bundesrepublik Deutschland - es ist nicht überall bekannt, dass das so ist -, wahrgenommen habe und sie jetzt in größerer Verantwortung
für die Bundesrepublik wahrnehmen möchte.
({0})
Sicher wird Sie, sofern Sie noch nicht oft in NordrheinWestfalen gewesen sind, mein Nachfolger gerne einladen
und Ihnen das Ergebnis der Entwicklung dieses Landes
von einem klassischen Industrieland hin zu einem Land
der industriellen Dienstleistungen zeigen. Es wird bestimmt sehr beeindruckend für Sie sein, das zu sehen.
({1})
Sie können davon ausgehen, dass ich dieses Amt übernommen und mein Herz über die Hürde geworfen habe,
weil ich überzeugt bin, dass wir auf diesem Feld Erfolg
haben müssen, Erfolg haben können und Erfolg haben
werden.
({2})
Die Lage ist nicht einfach. Aber ich denke, wir haben
keinen Grund zur Schwarzmalerei. Um das einmal klar zu
sagen: Die meisten Völker auf der Welt beneiden uns um
die Probleme, die wir haben.
({3})
Die meisten Völker auf der Welt, all diejenigen, die uns national wie international beobachten, bewundern die Leistung, die wir in Deutschland vollbringen, um unter schwierigen weltwirtschaftlichen Bedingungen die deutsche
Einheit herzustellen, und zwar mit aller Kraft, die dazu
nötig ist, und ohne irgendeinen Abstrich. Wir, das deutsche Volk, die deutschen Unternehmen, die deutschen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, leisten zur Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands mehr, als
irgendwo sonst auf der Welt geleistet werden muss.
Dies tun wir allerdings in einer Stimmungslage in Wirtschaft und Gesellschaft, die - das ist meine Wahrnehmung - durch hohe Unsicherheit gekennzeichnet ist. Hier
spielen, wie schon oft gesagt, die Ereignisse des 11. September 2001 wie auch andere geopolitische Risiken hinein. Sicherlich ist die Kriegsgefahr in Nahost eines der
Hauptmomente, die die weltwirtschaftliche Stimmungslage nachteilig beeinflussen. Diese weltwirtschaftlichen
Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben, wirken
sich natürlich auch auf das deutsche Wirtschaftsgeschehen aus. Dies zeigen der Kurssturz an den Börsen, die
hartnäckige Bodenhaftung der Aktienkurse bei uns und all
die Punkte, die auch gestern in den Debatten angesprochen wurden.
Hierzulande allerdings wird die Stimmungslage nach
meinem persönlichen Eindruck noch zusätzlich belastet
durch den bemerkenswerten Hang bei uns, die Welt grau
in grau zu malen, durch eine Sorge um die Zukunft, die
nicht begründet ist, wie ich empfinde, und gelegentlich
sogar fast durch Zukunftspessimismus. Verstärkt wird all
dies durch die Dauerdiskussion im politischen Raum, die
sich - Sie erlauben, dass ich das sage; ich bin schließlich
neu hier - nach meinem Eindruck nach der Wahl genauso
anhört wie vor der Wahl und die damit nicht sehr viel weiter führt.
Dies ist keine Kritik an der Kritik als solcher; es ist
vielmehr eine Kritik an der Art, wie man Kritik übt, an einer Kritik, die einzureißen droht und die keine sachliche
Basis hat.
({4})
Ich will ein Beispiel nennen. Der Wirtschaftsprofessor
Sinn erklärte, ohne auf irgendeine konkrete Einzelheit
einzugehen, das Hartz-Konzept kürzlich für unseriös,
nicht umsetzbar und jenseits von gut und böse. Er ist damit in Deutschland flächendeckend in die Schlagzeilen
gekommen. Diese Art der Kritik kritisiere ich.
({5})
Hier ist auch die unzutreffende Behauptung zu nennen, die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen
Steuerentlastungen für die Jahre 2004, 2005 ff. benachteiligten den Mittelstand. Ich will einmal darauf hinweisen, dass der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Herr
Professor Wiegard - das Jahresgutachten ist ja mehrfach
angesprochen worden -, kürzlich in der „Zeit“ deutlich
gemacht hat, dass das letzte Jahresgutachten die These
gründlich widerlegt hat, Personenunternehmen würden in
Deutschland im Vergleich zu Kapitalgesellschaften steuerlich benachteiligt. Sie sollten diese Behauptung vergessen. Das war der Wahlkampf. Der ist vorbei.
({6})
Meine Damen und Herren, die uns vorliegenden objektiven Daten in Deutschland zeigen, dass es uns nicht so
schlecht geht, wie die Stimmung es vermuten lässt. Nach
allen Prognosen, die uns vorliegen, werden wir im Verlauf
des nächsten Jahres zu einer - natürlich noch zu schwachen - Wachstumsbelebung der Konjunktur kommen und
damit zu etwas mehr Spielraum für mehr Beschäftigung
und weniger Arbeitslosigkeit.
Sie kennen das aktuelle Prognosespektrum für das
Wirtschaftswachstum, das 2003 zwischen 1,4 Prozent dies sagen einige Institute - und 1,7 Prozent - dies hat der
IWF soeben gesagt - liegen wird. Die Herbstprojektion
der Bundesregierung wird morgen im interministeriellen
Arbeitskreis „Gesamtwirtschaftliche Vorausschätzungen“ abschließend erörtert. Ich stelle sicherlich keine
allzu wagemutige Prognose, wenn ich sage, dass sich die
Eckpunkte in dem genannten Spektrum bewegen werden. Das gilt auch für die erwartete Arbeitslosigkeit um
4,1 Millionen. Die Prognosen besagen allerdings, dass
sie im Verlauf des Jahres 2003 abnehmen wird. Um es
klar zu sagen: Es geht zwar zu langsam, aber es geht bergauf.
({7})
Ich finde die Bewertung, die der IWF gestern abgegeben hat, bemerkenswert. Er hat über Deutschland nämlich
gesagt, dass es sich in einem Zustand der zerbrechlichen
Erholung befinde. Ich glaube, dass diese Bewertung richtig ist, und ich meine, dass wir in Deutschland in dieser
Situation eine Allianz für Erneuerung brauchen, eine Allianz, die in unserer Gesellschaft eine stärkere Bereitschaft zur Erneuerung in allen Teilen unserer Gesellschaft
weckt und die in der Lage ist, eine Aufbruchstimmung
zu entwickeln.
({8})
Meine Damen und Herren, wir müssen vermitteln - Sie
als Opposition mögen sich da heraushalten -, dass Wandel
Fortschritt und nicht Risiko ist und dass die soziale Verantwortung Teil der Eigenverantwortung ist. Das ist bei uns
zurzeit offensichtlich alles andere als selbstverständlich.
Der französische Gesellschaftskritiker Frédéric
Beigbeder hat in der Beobachtung des gesellschaftlichen
Zustandes - nicht nur in Deutschland - kürzlich gesagt,
dass heute die Nichtteilnahme das Entscheidende ist. Ich
meine - damit knüpfe ich an das an, was der Bundeskanzler gestern in der Regierungserklärung gesagt hat -,
dass es gilt, diese Zeitströmung, wenn es sie denn gibt,
umzudrehen. Das Entscheidende - vor allen Dingen in
Deutschland - ist die Teilnahme.
({9})
Um es klar zu sagen: Deshalb werden wir auch im
Kampf um Ausbildungs- und Arbeitsplätze jetzt in die
Offensive gehen.
({10})
Deshalb werden wir versuchen, mit den Vorlagen, die aus
dem Hartz-Konzept resultieren, an alle verantwortlichen
Kräfte in der Gesellschaft zu gehen.
({11})
Deshalb werden wir mit dem Start am 13. November in
Wolfsburg, dort, wo es nicht zuletzt durch den Einsatz von
Herrn Hartz gelungen ist, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, ein Signal setzen mit der Bitte, mit der Aufforderung
und dem Appell an alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen - auf der kommunalen Ebene, auf der
Länderebene, in den Verwaltungen, in den Betrieben, in
den Betriebsräten sowie in allen Organisationen und Institutionen -, sich in den Kampf um Arbeits- und Ausbildungsplätze einzuschalten und nicht eine Politik zu betreiben, die sich darin erschöpft, die Arbeitslosenstatistiken
vorzulesen. Damit muss Schluss sein. Es ist meine Hauptaufgabe, dazu beizutragen.
({12})
Ich kann nur vor der Hoffnung warnen, irgendjemand
würde bei dieser Diskussion ausgespart. Wir werden alle
gesellschaftlichen Gruppen ansprechen. Die Parteien mögen sich verhalten, wie sie sich verhalten wollen. Ich
werde es jedenfalls nicht zulassen, dass diese Politik mit
irgendwelchen oberflächlichen Handbewegungen und
mit genereller Polemik untergraben und abgebremst wird.
Wir müssen die Menschen wieder erreichen, wir dürfen
nicht nur die Statistiken im Auge haben und wir müssen
es schaffen, dass das Problem der Arbeitslosigkeit von allen angegangen wird.
({13})
Das Hartz-Konzept ist ja von allen gesellschaftlichen
Gruppen unterschrieben worden. Es ist ein seit 20 Jahren
einmaliger Vorgang, dass es gelungen ist, das Lager- und
Interessendenken in diesem Feld des Arbeitsmarktes zu
überwinden. Ich erinnere daran, dass Hartz und seine
Kommission in ihrem Papier - in einer Arbeit, die wirklich bahnbrechend ist und Dank verdient - die „Profis der
Nation“ angesprochen haben. Das sind über sechs Millionen Menschen, die aus ihren beruflichen, politischen und
administrativen Funktionen heraus dazu beitragen können,
die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dies muss durch ganz
konkretes Handeln geschehen, beispielsweise indem man
sich um einen Ausbildungsplatz in seinem eigenen Umfeld
bemüht. Ich appelliere von hier aus an diejenigen, die sich
als Profis der Nation verstehen, an die Mutmacher in unserem Land, nicht die Miesmacher, mit anzupacken, damit
wir diese gesellschaftliche Aufgabe bewältigen.
({14})
Die Leitidee dessen, worum es auf dem Arbeitsmarkt
geht, ist klar. Es geht darum, Eigenaktivitäten auszulösen
und dafür Sicherheit einzulösen. Im Zentrum muss natürlich die eigene Integrationsleistung des oder der Arbeitslosen stehen, das Bemühen um eine Beschäftigung, die Annahme einer angebotenen Beschäftigung, die Bereitschaft,
eine Zeitarbeit zu übernehmen, die Teilnahme an Weiterqualifizierungen. Dies alles wird gestützt und abgesichert
durch Dienstleistungs- und Förderangebote, durch Beratung, durch Betreuung, durch materielle Absicherung. Es
gilt, das, was gesagt worden ist, aus der Phrase in die Praxis umzusetzen, das Prinzip des Förderns und des Forderns. Initiative wird belohnt, Passivität wird und kann
von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden.
({15})
Wenn uns das gelingt, was der Grundgedanke des
Hartz-Konzeptes ist - es wird bisher immer viel zu oberflächlich beurteilt;
({16})
ich hoffe, diese vorsichtige Bemerkung ist mir erlaubt, ich
habe mich vor Kurzem etwas gröber geäußert, ich bitte
dafür um Entschuldigung, aber ich meine immer das
Gleiche
({17})
- ich bin sicher, Sie werden dabei mitmachen, Herr
Glos -, dann werden wir nicht nur die Arbeitsvermittlung, sondern auch die Arbeitsmarktstruktur revolutionieren. Deshalb ist es Unsinn, zu schreiben, das, worum
es Hartz gehe, sei ein dritter Arbeitsmarkt oder Ähnliches. Wenn wir vom Dienstleistungsstandort sprechen,
dann geht es natürlich um den ersten Arbeitsmarkt in
Deutschland. Dort hinein müssen die Arbeitslosen gebracht werden.
({18})
Ein Erfolg des Konzeptes, um den wir uns bemühen
werden, wird nicht nur die Arbeitslosigkeit reduzieren.
Wenn wir es wirklich gemeinsam anpacken, dann wird
über diesen Prozess auch die Gesellschaft wieder enger
zusammenrücken, dann werden - um das klar zu sagen Outsider zu Insidern,
({19})
dann wird die Teilnahme am Arbeitsmarkt honoriert und
nicht die Alimentierung von Arbeitslosen finanziert. Das
ist ein Stück mehr soziale Teilhabe und spart öffentliche
Mittel, weil unterstützte Menschen in Arbeit weniger Zuschüsse als Arbeitslose benötigen.
({20})
Hier liegt mittelfristig ein erhebliches Einspar- und
Konsolidierungspotenzial. Dieses Potenzial, Herr Glos,
gibt mittelfristig Raum für eine Senkung der Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten.
({21})
- Sind Sie aus Bayern?
({22})
Wir werden mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes
sofort beginnen. Bereits morgen werden der Bundesfinanzminister und ich gemeinsam mit der Kreditanstalt
für Wiederaufbau ein neues Programm, Kapital fürArbeit,
bisher unter dem Namen Job-Floater bekannt, auf den
Weg bringen. Dieses Programm gibt namentlich mittelständischen Unternehmen Anreize, bisher nicht Erwerbstätige einzustellen. Pro eingestellten Arbeitslosen erhält
das Unternehmen Mittel in einer Größenordnung bis zu
100 000 Euro, von denen 50 000 Euro zur Stärkung der
Eigenkapitaldecke von kleinen und mittleren Unternehmen genutzt werden können.
({23})
Dies ist das erste Angebot, mit dem wir das, was die
Hartz-Kommission erarbeitet hat, in die Tat umsetzen,
und zwar 1 : 1. Die gesetzgeberischen Umsetzungsschritte
müssen - das ist meine Bitte an das Hohe Haus, das wird
auch meine Bitte an den Bundesrat sein - unverzüglich
folgen. All diejenigen, die sich für den Arbeitsmarkt in
Deutschland verantwortlich oder mitverantwortlich fühlen, sind gebeten, darauf hinzuwirken, dass die Gesetzgebung so rasch als möglich erfolgen kann, damit eine Absenkung der Arbeitslosigkeit gelingt.
Worum es geht, ist, Jobcenter einzurichten, die eine
einheitliche Anlaufstation für alle arbeitsfähigen Personen und stärker als bisher auch Dienstleister für Unternehmen sein werden.
Worum es geht, ist die Förderung von Zeit- und Leiharbeit in Deutschland durch den flächendeckenden Aufbau von Personalserviceagenturen für eine vermittlungsorientierte Arbeitnehmerüberlassung. Dies ist eines
der wichtigsten Instrumente, das die Hartz-Kommission
erarbeitet hat, um den deutschen Arbeitsmarkt in Ordnung
zu bringen.
Es ist nicht zu übersehen, dass die Bundesrepublik hinsichtlich des Umfangs der Zeit- und Leiharbeit hinter allen
anderen hoch entwickelten Volkswirtschaften zurückliegt.
Diesen Rückstand müssen wir aufholen. Der Vorschlag der
Hartz-Kommission bietet dafür eine hervorragende Vorlage.
Es muss und es wird uns gelingen, das, was an Zeitund Leiharbeit in Deutschland nach meinem Eindruck gewissermaßen in der Schmuddelecke steht, aus dieser Ecke
herauszuholen.
({24})
Dies wird uns gemeinsam mit den Arbeitgebern und den
Gewerkschaften gelingen. Daran arbeiten wir und dafür
werden wir einen gemeinsamen Vorschlag erarbeiten.
({25})
Dies wird gelingen, indem wir für entliehene Arbeitnehmer beim entleihenden Unternehmen - ({26})
- Wenn Sie ein Interesse an Sachfragen haben, Herr Glos,
dann halten Sie sich jetzt zurück. Hören Sie einfach zu
und beschäftigen Sie sich anschließend mit dieser Frage!
Das ist besser, als dauernd dazwischenzureden.
({27})
Ich bin dabei, wichtige Sachfragen zu erörtern. Sie sollten
sich das einfach zu Gemüte führen. So viel Ruhe werden
Sie wohl aufbringen.
({28})
Wir werden es schaffen, die Zeit- und Leiharbeit in
Deutschland aus der Schmuddelecke herauszuholen.
({29})
Wir werden dies schaffen, wenn wir den entliehenen
Arbeitnehmern in dem übernehmenden wie auch im entleihenden Unternehmen eine Sicherheit für Lohn- und
Arbeitszeit bieten, wenn wir das Prinzip des Equal Pay auf
diesen beiden Feldern vorsehen und eine tarifliche Sicherheit bieten.
Wenn wir dies umsetzen - ich gehe davon aus, dass wir
dafür die Zustimmung von Arbeitgebern wie Arbeitnehmern finden -, dann können wir alle einschränkenden Regulierungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die
es mit dem Synchronisationsverbot, dem besonderen Befristungsverbot, dem Wiedereinstellungsverbot und dem
Abwerbeverbot heute noch gibt, streichen. Damit können
wir die Bürokratisierung und Überregulierung in diesem
Sektor beenden und in einen Prozess eintreten, in dessen
Verlauf wir in einem nennenswerten Umfang Leih- und
Zeitarbeit in Deutschland schaffen können.
({30})
Des Weiteren wird der Vermittlungsprozess von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt beschleunigt, indem die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von Kündigung bedroht sind oder diese bereits erhalten haben, aufgefordert werden, sich umgehend der Arbeitsvermittlung
zur Verfügung zu stellen. Wir werden die Arbeitgeber anhalten, den gekündigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausreichend Zeit für die Arbeitsuche zur Verfügung zu stellen, damit sie so rasch wie möglich gelingt.
Wir werden die Regeln der Zumutbarkeit neu interpretieren. Insbesondere junge und ledige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind aufgefordert, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz unabhängig davon anzunehmen,
wo er angeboten wird. Wir werden die berufliche Weiterbildung neu ausrichten, insbesondere durch die Verbesserung des Wettbewerbs unter den Dienstleistern der Arbeitsförderung.
Wir werden uns besonders um die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kümmern und sie durch eine
Lohnversicherung und eine Erleichterung hinsichtlich der
bisherigen Regelungen der befristeten Beschäftigung fördern.
Wir werden des Weiteren Mini-Jobs in Privathaushalten fördern. Wir arbeiten derzeit zusammen mit dem
Bundesfinanzminister an der Ausgestaltung einer entsprechenden steuerlichen Förderung. Wir werden durch die
Erhöhung der Verdienstgrenze auf 500 Euro im Bereich
der haushaltsnahen Dienstleistungen zusätzliche Marktpotenziale für die in diesem Bereich bereits tätigen Unternehmen, aber auch für Newcomer, zur Verfügung stellen.
Wir sehen nicht zuletzt ein etwas unterschätztes Instrument vor, nämlich die Erleichterung des Starts in die
Selbstständigkeit durch die so genannten Ich-AGs oder
Familien-AGs. In diesem Zusammenhang sind wir mit
dem Bundesfinanzminister dabei, das Steuerrecht für
Kleinstunternehmer zu überprüfen mit dem Ziel, es so unbürokratisch wie möglich zu gestalten, um gewissermaßen
vom Start an ohne bürokratische Belastungen dem Gründer oder der Gründerin einer Ich-AG oder einer FamilienAG einen Spielraum zu bieten.
Wir werden auf all diesen Feldern alle Regulierungen
abbauen, die bürokratisch bzw. überflüssig sind. Ich sage
dies ausdrücklich auch mit Blick auf das Handwerk und
die Handwerksordnung. Als jemand, der zu denjenigen
gehört, die die Kammerorganisation im Industrie- und
Handelskammerbereich genauso wie im Handwerksbereich ernst nehmen, sage ich: Wir brauchen mehr Flexibilität im Handwerksrecht; denn sie ist notwendig, damit
wir den Gründerinnen und Gründern, die aus der Arbeitslosigkeit kommen und eine Ich-AG aufbauen wollen,
ohne Behinderung durch die Handwerksordnung den notwendigen Spielraum für ihre berufliche Selbstständigkeit
geben können.
({31})
Ich bitte das Handwerk schon jetzt um Verständnis für
diese Maßnahme und um Mitwirkung.
Nach der Vorlage des Berichts der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen beim Bundesfinanzminister
werden wir endgültig die im Hartz-Konzept - auf das stützen wir uns - vorgesehenen Voraussetzungen für die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
schaffen. Das Ziel dieser Maßnahme ist völlig klar - wir
werden es voraussichtlich zum 1. Januar 2004 erreichen -:
Wir werden auf diese Weise ineffektive und unbegründbare Doppelstrukturen und Verschiebebahnhöfe endgültig
beseitigen sowie eine neue, einheitliche Leistung für alle
erwerbsfähigen Menschen einführen. Dieses so genannte
Arbeitslosengeld II muss materiell zwischen der bisherigen Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe angesiedelt sein.
Es ist klar, dass auch die Anrechnungsmodi etwa für
Vermögen oder für das Einkommen des Partners - ich
nehme damit Bezug auf einige Pressemeldungen, die ich
heute gelesen habe - entsprechend angepasst werden
müssen. Um allen Horrormeldungen und Sorgen schon
vorab entgegenzutreten, versichere ich: Niemand wird
durch die geplanten Veränderungen aus der bisherigen Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe abgedrängt werden. Niemand wird auf Sozialhilfe angewiesen sein! Wir werden
dafür die notwendigen Vorkehrungen treffen. Aber wir
müssen den bisherigen sachlich nicht begründbaren Widerspruch zwischen der Behandlung arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und der von Arbeitslosenhilfeempfängern überwinden. Darauf zielt einer der Vorschläge der
Hartz-Kommission ab. Er ist vernünftig und liegt dem zugrunde, was wir als Arbeitslosengeld II bezeichnen. Wir
werden diesen Vorschlag in die Tat umsetzen.
({32})
Ich vermute, dass auf diesem Feld eine der wichtigsten
Aufgaben liegt.
Wir werden mit all dem, was ich hier darzustellen versuche - es gibt sicherlich noch einige Aspekte, die über
die von mir angesprochene Fragestellung hinaus gehen -,
einen erheblichen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit genauso wie der Arbeitslosenversicherung leisten. Dies muss und wird geschehen. Wir werden insbesondere durch die rasche
Realisierung dessen, was an praktischen und konkreten
Maßnahmen im Hartz-Konzept vorgesehen ist, erhebliche
Entlastungen bei der Arbeitslosenversicherung und der
Bundesanstalt für Arbeit bewirken. Das ist die Aufgabe
und das Ziel. Ich stütze mich bei all dem, was das HartzKonzept betrifft, auf die Vorarbeiten, die mein Kollege
Walter Riester und das bisherige Ministerium für Arbeit
und Sozialordnung geleistet haben. Ich habe hohen Respekt vor dieser Arbeit. Ich bin in diese Arbeit eingestiegen
und werde sie mit voller Kraft verwirklichen.
({33})
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts - um das gleich
deutlich zu sagen - ist die wichtigste Aufgabe im Kampf
gegen die Arbeitslosigkeit, die wir jetzt zu lösen haben.
Ich lese immer wieder, dass das noch nicht ausreiche. Ich
warte interessiert und gespannt auf die Beiträge zur Realisierung des Hartz-Konzepts, die sicherlich von allen Seiten kommen werden. Es werden gewaltige Schritte sein,
die tiefer gehen werden, als die meisten öffentlichen Diskussionen bisher erkennen lassen.
({34})
Ich werde auch im Bundesrat mit jedem einzelnen meiner
bisherigen Kollegen Ministerpräsidenten öffentlich debattieren. Meine Bitte ist, dass jeder und jede mitmacht
und dass sich niemand dem entzieht. Niemand hat nach
meinem Verständnis das Recht, sich aus der Lösung der
von mir skizzierten Hauptaufgabe herauszustehlen. Dies
werde ich jedenfalls nicht hinnehmen. Ich werde jeden zur
Diskussion zwingen. Ich bin jetzt alt genug, um meine
Zeit darauf zu konzentrieren.
({35})
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts ist das Wichtigste,
was wir jetzt anpacken werden. Es ist aber natürlich nur
ein Baustein in der gesamten Wirtschaftspolitik, die wir in
der vor uns liegenden Zeit machen werden. Der zweite
Schwerpunkt - ich muss mich in meiner Rede auf
Schwerpunkte beschränken - konzentriert sich auf den
Mittelstand. Das Klima für den Mittelstand, für kleine
und mittlere Unternehmen in Deutschland, ist offensichtlicher rauer geworden.
({36})
Dabei spielt nicht Ihre Polemik, sondern der konjunkturelle
Gegenwind, der den Absatz beeinträchtigt, eine Rolle. Die
Konsolidierung, die viele Großunternehmen aus Gründen
der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vornehmen,
dünnt bestehende Lieferverbindungen für kleine und mittlere Unternehmen aus. Gleichzeitig gibt es zunehmende
Probleme bei der Finanzierung und es gibt, gerade für
kleine und mittlere Unternehmen, zweifellos auch eine zu
hohe bürokratische Belastung.
Die Großbanken sind nach wie vor, ganz vorsichtig gesagt, zögerlich mit der Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen.
({37})
Die Klärung der Finanzfragen ist überlebenswichtig für den
Mittelstand. Wir sehen darin eine unserer Hauptaufgaben.
Ich sehe darin eine meiner Hauptaufgaben und ich fühle
mich in der Verantwortung, zu einer ausreichenden Finanzierung des Mittelstands beizutragen.
({38})
Ich kann jetzt nur einige Einzelmaßnahmen nennen,
meine Damen und Herren. Ich nenne die Unterstützung
der Hausbanken durch eine teilweise Haftungsentlastung
und durch bessere Anreize zur Durchleitung von Förderkrediten, damit die Hausbanken ihre Aufgabe, den Mittelstand ausreichend mit Krediten zu versorgen, besser
wahrnehmen können. Ich nenne die Zusammenlegung der
Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank, die der Bundesfinanzminister und ich gemeinsam in aller Kürze vornehmen werden. Dort werden
wir die Förderprogramme für den Mittelstand bündeln
und straffen und durch eine Mittelstandsbank des Bundes
den Mittelstand maßgeblich und wesentlich unterstützen.
({39})
Ich nenne eine Öffnung des EKH-Programms mit
staatlichem Risikokapital, das bisher auf Gründerinnen
und Gründer konzentriert ist und das wir für kleinere Mittelständler in reiferen Unternehmensphasen öffnen sollten, um insbesondere so genannte Sprunginvestitionen
möglich zu machen und zu fördern. Ich nenne die Nutzung der Erfahrungen, die wir mit den Beteiligungskapitalmodellen von KfW und DtA haben, um anlagebereites
privates Kapital auch dem breiten Mittelstand über spezielle Fonds zur Verfügung zu stellen. Oder ich nenne das
Beteiligungskapitalprogramm der BTU, mit dem wir innovative Gründungen auf den Weg bringen und Instrumente zur Anschlussfinanzierung entwickeln müssen.
Auch die Außenwirtschaftsförderung werden wir
insbesondere zugunsten des Mittelstandes, der kleinen
und mittleren Unternehmen, nutzen. Das Auslandsgeschäft wird auch für den Mittelstand in Deutschland immer wichtiger. Jedes dritte mittelständische Unternehmen
bei uns ist im Auslandsgeschäft aktiv. Wir haben gute
Chancen für eine Ausweitung des Auslandsengagements
in den nächsten Jahren. Diese Chancen ergeben sich aus
der Einführung des Euro, mit dem Wechselkursrisiken im
Euro-Raum weggefallen sind, was den Handelsaustausch
und Investitionen in anderen Euro-Staaten erleichtert. Ich
nenne die Erweiterung der Europäischen Union, für die
jetzt die Tür geöffnet worden ist und mit der sich zahlreiche neue Geschäfts- und Kooperationsmöglichkeiten bieten werden.
Um dem Mittelstand die Nutzung seiner Chancen im
Globalisierungsprozess und im erweiterten europäischen
Binnenmarkt zu erleichtern, werden wir Instrumente der
Außenwirtschaftsförderung noch stärker auf den Mittelstand ausrichten, zum Beispiel bei der Abwicklung der
Zollverfahren, zum Beispiel bei der Beratung durch die
Außenhandelskammern, zum Beispiel durch die Auslandsmesseförderung und selbstverständlich durch Hermes-Exportbürgschaften und durch Investitionsgarantien.
Wir bereiten zudem eine umfassende Initiative „Innovation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ vor, die
die Innovationskomponente der kleinen und mittleren
Unternehmen stärken wird. Das ist überaus wichtig. Unser Ehrgeiz muss sein, dass wir auf den Feldern, die für
den Weltmarkt der Zukunft entscheidend sein werden
- das sind die Kommunikationsbranche, die Biotechnologie, die Medizintechnologie, die Energietechnologie, die
Verkehrstechnologie, die Mikrostruktur- und Mikrosystemtechnologie -, in Deutschland auf Platz 1 kommen.
Wir sind auf etlichen dieser Felder auf einem sehr guten
Weg und wir werden diesen Weg fortsetzen.
({40})
Weil Investitionen der Humus für künftige Innovationen und Wachstumsimpulse sind, werden wir gerade in
den neuen Ländern die Investitionsförderung auf hohem
Niveau fortführen. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ bleibt Eckpfeiler
der Investitionsförderung in den neuen Ländern. Die
Mittel des Investitionsfördergesetzes werden wir zur Erleichterung auch der kommunalen Investitionen weiterhin
ungebunden zur Verfügung stellen.
Ich gehe davon aus - wir haben guten Grund, davon auszugehen, denn wir haben dies so vorgesehen -, dass die erfolgreiche Umsetzung des Hartz-Konzepts, die ja bedeutet,
dass arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger aus der Sozialhilfe
in die Arbeitsvermittlung kommen, weitere kommunale
Mittel für Investitionen freistellt und dass diese kommunalen Mittel tatsächlich für Investitionen genutzt werden.
Hinzu kommt, dass wir mit einem Masterplan Bürokratieabbau wuchernde Bürokratie und Verwaltungsüberbau zurückschneiden müssen.
({41})
Das ist eine wichtige Aufgabe, um so die Arbeit der kleinen
und mittleren Unternehmen in unserem Land zu fördern.
Der Mittelstand muss Kraft und Energie in die Erschließung
neuer Märkte, in die Entwicklung neuer Produkte und in die
Schaffung neuer Arbeitsplätze stecken, statt sie in Ämtern
und bürokratischen Prozeduren zu verplempern. Wir werden dazu innerhalb der Landesregierung auf allen Feldern
die Initiative ergreifen.
({42})
- Der Bundesregierung. Ich bitte um Entschuldigung. Sie
werden mir das sicherlich nachsehen. Ich bin diesem wunderbaren Amt des Ministerpräsidenten noch etwas verhaftet.
Zumindest Einzelne unter Ihnen werden Verständnis dafür
haben. Einige sollen sich ja auch schon einmal um ein solches Amt bemüht haben. Ich habe es jetzt aber abgegeben.
({43})
Ich selbst werde jeden Vorschlag zum Bürokratieabbau
prüfen, der mir genannt wird. Ich werde für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedenfalls des Bereichs, für den
ich jetzt Verantwortung trage, Boni aussetzen, um umsetzbare Vorschläge zum Bürokratieabbau, zum Abbau
überflüssiger Regularien und Bürokratien zu erhalten und
durchzusetzen.
({44})
Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich eine ganz
klammheimliche Sympathie, Herr Bundeskanzler, für einen Vorschlag habe, den Helmut Schmidt kürzlich gemacht hat, nämlich die verfassungsrechtliche Grenze für
innovative Experimente in den Ländern zu öffnen und
eine Experimentier- und Innovationsklausel für die neuen
Länder ins Grundgesetz zu übernehmen. Ich sage dies
sehr vorsichtig. Wir haben auf der Landesebene - das ist
im Moment die letzte Bemerkung als Ministerpräsident solche Experimentierklauseln für die kommunale Ebene
geschaffen. Nach unserer Erfahrung bewähren sie sich
sehr. Davon wird sehr sorgfältig Gebrauch gemacht. Es ist
ein Instrument, um Kräfte freizusetzen. Auf diese Weise
könnte man für eine überschaubare Zeit gesonderte gesetzliche Regelungen in einem Land oder auch in mehreren Ländern zulassen. Wir können daraus für weitere Prozeduren lernen; denn wir müssen den Prozess der
Überwindung von Überbürokratie in Deutschland wirklich mit neuen Ideen voranbringen.
({45})
Der Wettbewerb der Ideen ist eröffnet, auch auf diesem
Feld. Wir sollten uns nicht allzu lange mit Einzeldiskussionen aufhalten, weil uns die Zeit davonläuft. An der Allianz für Erneuerung teilzunehmen heißt auch, Neues zu
probieren. Nein gesagt worden ist jetzt genug in Deutschland. Jetzt muss auf diesem Feld im Sinne dessen, was der
Bundeskanzler gestern deutlich gemacht hat, gesagt werden, was geht. Wir werden sagen, was geht, und das werden wir realisieren.
({46})
Was geht, ist beispielsweise zum Thema Bürokratieabbau eine Vereinheitlichung von Bescheinigungen im Arbeits- und Sozialbereich. Was geht, ist eine stärkere Nutzung der elektronischen Datenübermittlung, insbesondere
zur zentralen Speicherung von Arbeitsbescheinigungen
durch die Einführung einer Jobcard. Was geht, ist die Vereinheitlichung von Fristen und ist die Anhebung von
Grenzen für die Buchführungspflicht im Steuerrecht. Was
geht, ist eine deutliche Reduzierung statistischer Meldepflichten, insbesondere durch eine stärkere Nutzung vorhandener Verwaltungsdaten. Das haben wir uns vorgenommen. Was geht, ist die flächendeckende Einführung
einer einheitlichen Wirtschaftsnummer unmittelbar nach
erfolgreichem Abschluss der Erprobung. All dies müssen
und werden wir jetzt in die Tat umsetzen
({47})
und damit neue Kräfte freisetzen.
({48})
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts und die Mittelstandsinitiative werden in ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung eingebettet sein. Sie werden in eine flexible
Konsolidierungspolitik für die öffentlichen Finanzen
eingebettet sein, die den dringend notwendigen Schuldenabbau mit bevorstehenden weiteren Steuerentlastungen in den Jahren 2004 und 2005 für Unternehmen und
Bürger, aber auch mit verstärkten Zukunftsinvestitionen
für Infrastruktur, für Bildung, für Forschung und für Familie verbindet - so wie wir es im Koalitionsvertrag vorgesehen haben. Sie sollten in eine Tarifpolitik eingebunden sein, die die Arbeitsmarktlage berücksichtigt und
- wie es bereits in Tarifverträgen geschieht, jedenfalls in
all denen, die ich kenne - die flexible Regelungen zugunsten betrieblicher Lösungen zulässt. Sie sollten in eine
Geldpolitik eingebettet sein, die sich am Stabilitätsziel
orientiert und dabei ihre Möglichkeiten zur Förderung
von Wachstum und Beschäftigung nutzt.
Sie sollte und wird eingebunden sein in weitere - ich
füge ausdrücklich hinzu: überlegte - Fortschritte bei der
Öffnung der Telekommunikations-, der Post-, der Energieund der Bahnmärkte. Sie wird eingebunden sein in eine
stärkere Berücksichtigung industrieller Interessen in Brüssel. Ich denke dabei etwa an die Chemikaliensicherheit und
anderes. Außerdem sollte sie in die Beschleunigung des
Strukturwandels hin zur Entwicklung der Informationsgesellschaft in unserem Land eingebunden sein. Ich verweise
in diesem Zusammenhang beispielsweise auf das neue Programm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“.
Es ist mir ein wichtiges Anliegen, ein in der Bundesrepublik Deutschland verbreitetes Unsicherheitsgefühl zu
überwinden: die Neigung zum Pessimismus, die Neigung
dazu, grau in grau zu malen.
({49})
Das mögen Sie, die Abgeordneten der Opposition, jetzt
halten, wie Sie es für richtig halten. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich in Deutschland eine Grau-in-grau-Stimmungslage verbreitet.
({50})
Ich jedenfalls werde meine Kraft dazu einsetzen. Um dieser
Stimmungslage entgegenzuwirken, brauchen wir selbstverständlich konkrete Maßnahmen. Ich habe Ihnen heute
eine Reihe von konkreten Maßnahmen genannt. Es handelte sich um diejenigen Maßnahmen, die wir als erste anpacken werden.
Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir auch ein
bisschen mehr Mut und ein bisschen mehr Zuversicht in
die Zukunft; deshalb ist das, was ich als „Allianz für
Erneuerung“ bezeichne, so wichtig. Mir ist es wichtig,
dass die „Allianz für Erneuerung“ gerade auf dem Feld in
Gang kommt, das uns und mir am Herzen liegt, nämlich
auf dem Arbeitsmarkt. Der Verbesserung der Situation auf
dem Arbeitsmarkt werden wir uns ab sofort mit noch mehr
Kraft widmen. Ich bin überzeugt: Wir können und wir
werden Erfolg auf diesem Felde haben, wenn wir es gemeinsam anpacken. Das zu tun ist meine Bitte an alle. Ich
setze auf den Willen zum Erfolg.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({51})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Clement, wir heißen Sie in Berlin herzlich
willkommen, wo Sie Ihrer neuen Aufgabe nachgehen.
Sie übernehmen eine wichtige, vielleicht die wichtigste
Aufgabe in dieser Bundesregierung. Sie übernehmen das
traditionsreiche Ministerium von Ludwig Erhard, das
mit wegweisenden politischen Entscheidungen in diesem Lande verbunden ist. Auf Ihnen und Ihrer Arbeit
ruht die Hoffnung vieler Menschen in Deutschland, dass
es nach vier Jahren rot-grüner Politik in diesem Lande
auch und gerade auf dem Arbeitsmarkt wieder besser
wird. Dabei begleiten Sie, wenn man so will, alle unsere
Sympathien.
({0})
Lassen Sie mich gewissermaßen als Fußnote auf Folgendes hinweisen: Sie hätten hier nicht unbedingt Nordrhein-Westfalen als Referenzwert nennen sollen;
({1})
denn Sie kommen aus dem Bundesland mit der höchsten
Arbeitslosigkeit aller westdeutschen Flächenstaaten, mit
einer der niedrigsten Investitionsquoten und mit einer der
höchsten Pleitenzahlen in Westdeutschland.
({2})
Herr Clement, das ist kein Ausweis für eine gute Politik
für ganz Deutschland.
({3})
Aber Sie tragen nun Verantwortung weit über dieses
Land hinaus. Wenn Sie dieser Verantwortung gerecht werden wollen, dann gehört dazu, dass Sie die Ausgangslage,
in der wir stehen, richtig beschreiben und daraus auch die
richtigen Konsequenzen ziehen. Herr Clement, es ist
wahr, dass es uns in Deutschland besser als den Menschen
in vielen anderen Ländern dieser Welt geht.
({4})
Es ist wohl wahr, dass es uns in Deutschland immer noch
besser geht als den Menschen in der Sahelzone oder den
Menschen in Papua-Neuguinea. Das ist alles wahr.
({5})
Wir gehören zu den führenden Industrienationen und es
geht uns im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf
dieser Welt immer noch relativ gut, und zwar nicht wegen,
sondern trotz Rot-Grün.
({6})
Das Entscheidende aber ist doch, dass wir im Vergleich
zu vielen anderen Industrienationen in Europa und außerhalb Europas in den letzten Jahren nicht nach vorn gekommen, sondern zurückgefallen sind. Die Bundesrepublik Deutschland war einst Wachstumslokomotive in
Europa und währungspolitisch ein Stabilitätsanker.
Heute, vier Jahre nachdem die Bundesregierung, der Sie
nun angehören, Verantwortung übernommen hat, ist
Deutschland im europäischen Vergleich Schlusslicht
beim Wachstum
({7})
und durch die Politik des Finanzministers zu einem ernsthaften Stabilitätsrisiko für unsere gemeinsame europäische Währung geworden.
({8})
In Ihre Verantwortung, Herr Clement, fällt nun wieder
die Zuständigkeit für die Wirtschaftsforschungsinstitute.
Sie haben nach vier Jahren richtigerweise wieder die
Grundsatzabteilung übernommen, die sozusagen die
Seele des Bundeswirtschaftsministeriums ist und die einst
durch Oskar Lafontaine in das Haus des Bundesfinanzministers übertragen wurde. Sie sind der Auftraggeber für
die Gutachten der Sachverständigen. Diese Gutachten,
für die immerhin jeweils rund 600 000 Euro pro Jahr gezahlt werden und zu denen sich die wirtschaftspolitisch
und wirtschaftswissenschaftlich Besten dieses Landes zusammenfinden, die von Ihnen mit ausgewählt werden, besagen doch genau das, was wir Ihnen seit langer Zeit vortragen.
Nach wie vor ist das trendmäßige Wachstum in
Deutschland
- so heißt es im letzten Gutachten niedriger als in fast allen Ländern des Euroraums.
Der Abstand zu den USAist noch größer. Auch ist die
Arbeitslosigkeit nach wie vor sehr hoch. Diese beiden Probleme bestehen seit langem und bisher hat
die Wirtschaftspolitik wenig zu ihrer Lösung beigetragen.
Diese Analyse schließt ein, dass die Probleme der Bundesrepublik Deutschland von der weltwirtschaftlichen
Entwicklung nicht völlig unabhängig sind. Aber die wesentlichen Probleme in Deutschland haben mit der Weltwirtschaft wenig zu tun, sie sind hausgemacht.
({9})
Wenn Sie aus diesen Problemen herausfinden wollen,
müssen Sie sich die richtigen Ziele setzen. Zu den richtigen Zielen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung gehört
eine klare Zielbestimmung über die Abgrenzung dessen,
was der Staat aus der erwirtschafteten Leistung der Menschen und Betriebe für sich beanspruchen darf, kann und
soll und was die Menschen für sich behalten dürfen und
müssen. Dies verbindet sich in der Wirtschaftspolitik mit
der Staatsquote, also mit der Frage: Wie hoch ist der Anteil des Verbrauchs der staatlichen Systeme, der Steuerhaushalte, der Haushalte der sozialen Sicherungssysteme
an der wirtschaftlichen Leistungskraft einer Volkswirtschaft?
Die Staatsquote ist unter der Verantwortung der Regierung, der Sie jetzt angehören, Herr Clement, nicht gesunken, sondern tendenziell weiter gestiegen. Das, was jetzt
an Regierungsprogrammen vorgelegt worden ist und was
der Bundeskanzler hier gestern lustlos vorgetragen hat
- im Vergleich dazu war Ihre Rede eine Rede voller Dynamik -,
({10})
deutet in allen wesentlichen wirtschaftspolitischen Bestandteilen darauf hin, dass die Staatsquote in diesem
Lande wieder über 50 Prozent steigen wird. Wenn ein
Land eine Staatsquote von 50 Prozent oder mehr hat, gibt
es aber keine soziale Marktwirtschaft mehr. Dann ist es
vielmehr eine Staatswirtschaft mit einem abnehmenden
privaten Sektor.
({11})
- Um diesem Zwischenruf gleich zu entgegnen: Die
Staatsquote ist in den 90er-Jahren, nach der deutschen
Wiedervereinigung, kurzfristig auf über 50 Prozent angestiegen, nachdem sie vorher bei 46 Prozent gelegen hat.
Helmut Schmidt hat eine Staatsquote von weit über
50 Prozent hinterlassen, ohne Wiedervereinigung.
({12})
Wir sind in den 90er-Jahren in der Lage gewesen, mit den
Wiedervereinigungskosten und -lasten die Staatsquote in
Deutschland wieder auf 48 Prozent abzusenken. Die
Staatsquote muss noch weiter herunter. Herr Clement, ich
hätte erwartet, dass Sie in Ihrer ersten wirtschaftspolitischen Rede in neuer Funktion hinsichtlich dieser wesentlichen, vielleicht der wichtigsten makroökonomischen
Größe unserer Volkswirtschaft ein Ziel bestimmen, das
Sie mit Ihrer Politik erreichen wollen, damit es in
Deutschland wieder mehr Dynamik, mehr Wachstum und
mehr Arbeitsplätze gerade in den von Ihnen zu Recht genannten mittelständischen Unternehmen gibt. Hierzu hätten Sie heute Morgen etwas sagen müssen.
({13})
Ihr Vorgänger Werner Müller hat immerhin den Mut
gehabt - wenigstens in der ersten Hälfte der vergangenen
Wahlperiode -, eine solche Zielbestimmung von 40 Prozent zu verfolgen, so zum Beispiel hat er sie in den Wirtschaftsbericht des Jahres 2000 aufgenommen. Das hat,
wenn ich die Reaktionen damals richtig verstanden habe,
auch die beifällige Zustimmung des Herrn Bundeskanzlers gefunden. Wie sieht Ihre Zielbestimmung bezüglich
der künftigen Staatsquote in Deutschland aus? Dazu haben Sie nichts gesagt. Wenn Sie jedoch zulassen, dass
durch die Politik dieser Bundesregierung die Staatsquote
noch weiter erhöht wird, dann sind all Ihre Ziele, die Sie
heute hier zum Mittelstand, zur Wirtschaft, zu Wachstum
und Beschäftigung formuliert haben, Makulatur. Diese
werden Sie dann nicht erreichen.
({14})
In diesen Zusammenhang gehört natürlich die Frage,
wie sich denn die Steuerlastquote und die Belastungen
durch die Sozialversicherungsbeiträge entwickeln sollen. Wir haben vor vier Jahren - damals noch in Bonn von der damals neuen Bundesregierung gehört, dass sie
mit dem Konzept einer so genannten ökologisch-sozialen
Steuerreform die Belastungen durch Sozialversicherungsbeiträge senken wollte. Wir haben dem, was Sie damals
versprochen haben, aus, wie sich heute herausstellt, sehr
guten Gründen nie geglaubt. Heute, vier Jahre später, erleben wir sowohl eine weitere Steigerung der Steuerbelastung der Menschen in Deutschland als auch ein Steigen
der Sozialversicherungsbeiträge, nicht zuletzt zur Rentenversicherung, die doch durch die Ökosteuer subventioniert werden sollte. Welche Konzeption verfolgt unser
neuer Wirtschaftsminister bei diesem Thema?
({15})
Herr Clement, Sie sind ja jetzt auch für die Wettbewerbspolitik zuständig. Ich habe es sehr zustimmend aufgenommen, dass Sie für mehr Wettbewerb eintreten.
Gestern hat sich hier der Bundesaußenminister, wohl in
seiner Eigenschaft als Übervorsitzender der Grünen, zur
Wirtschaftspolitik zu Wort gemeldet und sich als Kassenpatient geoutet. Ich stelle die Frage, meine Damen und
Herren, und konkret Ihnen, Herr Clement: Sind Sie der
Meinung, dass Wettbewerb zu einem tragenden Element
unserer sozialen Sicherungssysteme werden soll? Als
Bundeswirtschaftsminister müssen Sie zu zentralen wirtschaftspolitischen Themen dieses Landes etwas sagen.
Mehr Wettbewerb stellt aus unserer Sicht die einzige
Chance dar, die notwendige Effizienz in den sozialen Sicherungssystemen herbeizuführen, die wir alle wollen
und brauchen, damit die Abgabenbelastung nicht weiter
steigt.
({16})
Nun haben Sie sehr intensiv noch einmal das HartzKonzept erläutert. Wir sind auf die konkreten Gesetze gespannt, die Sie zur Umsetzung dieses Konzepts vorschlagen und dem Deutschen Bundestag vorlegen. Ich möchte
Ihnen übrigens raten, wenn ich das tun darf, die öffentliche Debatte über Sinn und Unsinn Ihrer Gesetze nicht nur
mit den von Ihnen so apostrophierten Profis der Nation im
öffentlichen Raum zu führen, sondern bitte Sie darum, die
Debatte auch hier im Deutschen Bundestag zu führen.
({17})
Hier ist das Forum der Nation, wo die grundlegenden Diskussionen über die Zukunft unseres Landes geführt werden müssen. Ich sage das deshalb, Herr Clement, weil wir
uns bei Ihrem Vorgänger zwangsläufig daran gewöhnen
mussten, dass er im Deutschen Bundestag so gut wie nie
anwesend war, außer dann, wenn im Rahmen unmittelbarer Wirtschaftspolitik einmal große politische Debatten
stattgefunden haben. Obwohl auch Sie kein Bundestagsmandat haben, sollten Sie gleichwohl häufig dabei sein,
damit diese Debatte hier vor den Augen der gesamten
deutschen Öffentlichkeit und nicht nur im Kreis des Vorstandes der Volkswagen AG geführt werden kann.
({18})
Ich will Ihnen zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission, die Sie übernehmen wollen, Folgendes sagen: Es
mag das eine oder andere dabei sein - ich komme in anderem Zusammenhang noch darauf zu sprechen -, was
durchaus richtig ist. Insgesamt gilt aber doch, dass die von
vielen Seiten, nicht nur vonseiten der Opposition am
Hartz-Konzept geäußerte Kritik unverändert richtig ist.
Mit einer besseren Vermittlung der Arbeitslosen kann man
vielleicht eine höhere Beschäftigungsquote erreichen,
aber ganz bestimmt nicht mehr Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Das ist doch der entscheidende Punkt.
({19})
Herr Clement, Sie sind heute Morgen bei Ihrer ersten
Rede hier auf viele Details eingegangen. Alle diese Details mögen mehr oder weniger richtig sein. Auch die
Frage, welche Förderung für welche Unternehmen durch
die öffentliche Hand gewährt wird und welche nicht, mag
uns im Detail beschäftigen. Der entscheidende Punkt ist
aber, dass unserer Volkswirtschaft seit längerer Zeit die
notwendige Dynamik fehlt, aus sich selbst heraus die Arbeitsplätze zu schaffen, die wir brauchen, ohne dass sie
auf staatliche Subventionen angewiesen ist.
({20})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf das letzte Sachverständigengutachten zu sprechen kommen.
Darin heißt es wörtlich:
Gleichwohl erscheint die Hoffnung der Hartz-Kommission, durch Umsetzung ihrer Vorschläge in den
nächsten drei Jahren 2 Millionen Arbeitslose in Lohn
und Brot zu bringen, als illusorisch. Die Probleme
des deutschen Arbeitsmarkts resultieren nur in geringem Maße aus einer ineffizienten Arbeitsvermittlung
und unzureichenden Instrumenten.
Herr Clement, auf dieser Basis sollten wir uns darauf verständigen, die Vorschläge der Hartz-Kommission objektiv
zu bewerten. Manches zeigt durchaus in die richtige Richtung, aber der große Wurf ist das nicht, wenn Sie die Ziele
erreichen wollen, die Sie heute Morgen hier zu Recht
apostrophiert haben.
({21})
Ich möchte Ihnen jetzt einige konkrete Fragen stellen.
Mit großer Aufmerksamkeit habe ich vernommen, dass
Sie die Tarifpolitik angesprochen haben. Herr Clement,
sind Sie bereit, gegen den anhaltenden Widerstand der
deutschen Gewerkschaften, jedenfalls großer Teile von
ihnen, dafür zu sorgen, dass das Tarifvertragsgesetz und
möglicherweise auch das Betriebsverfassungsgesetz so
geändert werden, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit
in Deutschland,
({22})
abweichend auch von Flächentarifverträgen,
({23})
möglich sind, ja oder nein? Das ist eine entscheidende
Frage für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland.
({24})
- Nicht alle Zurufe von Ihnen sind zu hören, aber aus
manchen Reihen höre ich hier ein lautes Nein.
({25})
Entscheidend ist doch, dass gesetzliche Regelungen
getroffen werden, sodass Sie nicht vom Wohlwollen von
Einzelgewerkschaften in Deutschland abhängig sind.
({26})
Entscheidend ist, dass die Gesetze geändert werden und
nicht der Goodwill einzelner Gewerkschaften in
Anspruch genommen werden muss.
Herr Clement, sind Sie bereit, in den Ausbildungsordnungen von Theorie entlastete Berufsbilder zuzulassen,
({27})
sodass Jugendliche, die weniger theoretische Fähigkeiten,
dafür aber mehr praktische Fähigkeiten haben, im Rahmen einer verkürzten Ausbildungszeit einen Berufsabschluss erreichen und anschließend auch eine qualifizierte
Beschäftigung finden können?
({28})
- Ich höre gerade, dass sogar der Präsident mit dem Begriff nichts anfangen kann. Vielleicht sollte ich ihn deshalb erläutern.
Die Gewerkschaften in Deutschland wehren sich seit
Jahren dagegen, dass solche Berufsbilder etabliert werden, weil sie der Meinung sind, dass nur eine auch in
vollem theoretischen Umfang herbeigeführte Ausbildung
auf Dauer zu Beschäftigung führt. Wir sind anderer Meinung. Es muss solche Berufsbilder geben.
({29})
Sie, Herr Clement, haben es in der Hand, solche Berufsbilder zu ermöglichen.
({30})
Sie haben die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe
angesprochen. Seit vier Jahren schlagen wir Ihnen vor,
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen
({31})
und daraus ein neues Instrument zu schaffen, mit dem insbesondere auf kommunaler und regionaler Ebene Arbeitsmarktpolitik wieder möglich gemacht wird. Was wir
in den letzten Tagen dazu gehört haben, Herr Clement,
stimmt uns nicht sehr optimistisch dahin gehend, dass Sie
das wirklich so umsetzen wollen.
Der entscheidende Punkt ist doch - lassen Sie mich
einmal sagen, wie es wirklich ist -, dass das System unserer Arbeitslosenhilfe in früheren Jahren eine Wiedereingliederungshilfe für diejenigen gewesen ist, die schon
einen Beruf oder eine neue Beschäftigung in Aussicht hatten. Daraus ist über die Jahre - das ist nicht erst mit dem
Regierungswechsel im Jahre 1998, sondern lange vorher
geschehen - eine vollständige Lohnersatzleistung geworden, die unter bestimmten Bedingungen sogar bis ans
Lebensende gezahlt wird. Dies ist ein Fremdkörper im
System. Wenn wir neben der Versicherungsleistung des
Arbeitslosengeldes eine Sozialleistung brauchen, dann ist
die Sozialhilfe die richtige. Diese Leistung ist im Sinne
von Subsidiarität - ein tragendes wirtschaftspolitisches
Ordnungsprinzip - auf kommunaler Ebene richtig angesiedelt. Wenn wir dieses Prinzip effizient ausgestalten
wollen, dann muss dies so geschehen, dass arbeitsfähige
Sozialhilfeempfänger Sozialhilfe nur dann bekommen,
wenn sie ihrerseits vorher einen aktiven Beitrag dazu
geleistet haben, dass man sie wieder in den Arbeitsprozess
eingliedern kann.
({32})
Wir haben dazu sehr konkrete Vorschläge gemacht. Wir
haben gesagt, dass arbeitslosen Sozialhilfeempfängern in
Zukunft Leistungen nur noch dann gewährt werden
sollen, wenn sie entweder eine zumutbare Beschäftigung,
wobei die Zumutbarkeitsregeln erheblich korrigiert werden müssten, bzw. eine gemeinnützige Beschäftigung annehmen oder bereit sind, eine gezielte, auf die schnelle
Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtete Fortbildung oder Umschulung zu machen. Die
Umkehr der Beweislast, dass also nicht der Staat beweisen muss, dass diese Menschen etwas schaffen können, sondern dass sie dies umgekehrt beweisen und sie
dafür Hilfe brauchen, ist eine zentrale Forderung der
Union, damit dieses System wieder vom Kopf auf die
Füße gestellt wird.
({33})
Herr Clement, Sie haben in den letzten Tagen
angekündigt, das Thema der Entbürokratisierung zur
Chefsache machen zu wollen.
({34})
Wir sind - das wissen Sie wahrscheinlich - in dieser
Beziehung etwas vorgeprägt. Wenn jemand sagt, ein bestimmtes Thema zur Chefsache machen zu wollen, dann
müssen das die Betroffenen nach den Erfahrungen, die
wir in diesem Zusammenhang gemacht haben, eher als
eine Drohung empfinden.
({35})
Wenn Sie es gleichwohl tun wollen, haben Sie eine
große Aufgabe vor sich. Bundeskanzler Gerhard Schröder
hat in seiner Regierungserklärung zur rot-grünen Koalitionsvereinbarung des Jahres 1998 im Deutschen Bundestag erklärt:
Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen
Staat. Deswegen werden wir Bürokratie abbauen.
({36})
Ich habe das einmal nachsehen lassen: Das Ergebnis
der vierjährigen rot-grünen Regierungszeit von 1998 bis
2002 zum Thema „Bürokratieabbau“ war, dass wir in
Deutschland nach diesen vier Jahren - jetzt hören Sie
genau zu; diese Zahlen haben selbst mich überrascht bzw.
schockiert - 391 Gesetze und sage und schreibe
973 Rechtsverordnungen des Bundes mehr haben.
({37})
Herr Clement, da haben Sie sich eine Aufgabe vorgenommen, im Hinblick auf deren Bewältigung ich Ihnen nur
gute Reise und viel Glück wünschen kann. Wenn Sie das
schaffen, haben Sie sich um die Zukunft unseres Landes
wirklich verdient gemacht.
({38})
Gehen Sie also ans Werk! Wir machen Ihnen ganz
konkrete Vorschläge, wie Sie das tun können. Der erste
Schritt wäre - da Sie ja schnell arbeiten wollen, wie wir
zumindest hören, können wir das unter Verzicht auf
sämtliche Fristen sofort innerhalb weniger Stunden
erledigen -: Schaffen wir gemeinsam das Gesetz zur
Scheinselbstständigkeit ab!
({39})
Das wäre ein erster guter Schritt auf dem Weg hin zum
Abbau von Bürokratie. Dann sollten wir bitte auch gleich
das Gesetz zur Betriebsverfassung, das zu einer völlig
überflüssigen Bürokratisierung geführt hat und den Mittelstand in diesem Land belastet, beseitigen.
({40})
Wir sind sofort bereit, mit Ihnen ein erhebliches Stück an
Bürokratieabbau zu betreiben.
Beschränken wir doch gemeinsam den Anspruch auf
Teilzeitarbeit auf diejenigen, die Beruf und Familie wirklich miteinander vereinbaren müssen! Beseitigen wir
diesen wirtschaftspolitisch falschen Rechtsanspruch auf
Teilzeit für jedermann in den deutschen Betrieben! Das
können Sie mit uns sofort umsetzen.
({41})
Herr Clement, Sie haben das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz angesprochen. Die in diesem Gesetz vorgesehenen Bedingungen sind in der letzten Wahlperiode
mehrfach geändert und verschärft worden.
({42})
Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, aber vermutlich wurde
es im Bundesrat auch mit Zustimmung des Landes Nordrhein-Westfalen verabschiedet. Wenn Sie dieses Gesetz
korrigieren wollen, können wir damit in der nächsten
Woche anfangen. Wir werden zustimmen, wenn Sie hier
entsprechende Korrekturen vornehmen wollen.
({43})
Sie haben das Wort „Experimentierklauseln“ verwendet.
({44})
- Es klingt in der Tat gut. - Entsprechende Gesetze,
beispielsweise zum Thema „Anwendung der Sozialhilfe
in den Bundesländern nach unterschiedlichen Vorstellungen“, haben sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag bereits vorgelegen. Sie alle sind von der rot-grünen
Mehrheit abgelehnt worden.
({45})
Wenn Sie Ihre Meinung geändert haben sollten, beglückwünschen wir Sie dazu. Unsere Zustimmung zu einer
entsprechenden Öffnung und zu zusätzlichen Kompetenzen der Länder in der Anwendung und Ausführung von
Bundesgesetzen werden Sie erhalten.
({46})
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, darauf
hinzuweisen, dass wir jenseits aller Detaildiskussionen in
der Steuerpolitik, in der Sozialpolitik und der Wirtschaftspolitik die grundlegende Notwendigkeit sehen, im föderalen
Staat zu einer Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden zu kommen. Sie haben sich
viel vorgenommen. Aber Sie werden es nicht schaffen, Herr
Clement, wenn nicht gleichzeitig im besten Sinne des Wettbewerbsföderalismus auch die Länder in Deutschland
wieder mehr Zuständigkeiten und mehr Kompetenzen auch
und gerade in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
bekommen. Wenn Sie die Experimentierklauseln in diesem
Sinne verstehen und wenn Sie sie einführen wollen, werden
Sie die Zustimmung der Unionsfraktionen für ein solches
Vorhaben mit Sicherheit finden.
Abschließend sei mir erlaubt, einen Hinweis auf einen
Sachverhalt zu geben, der nach meinem Gefühl in den letzten 24 Stunden im Deutschen Bundestag eine zu geringe
Rolle gespielt hat, nämlich die weitere demographische
Entwicklung unseres Landes. Sowohl in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom gestrigen Tag als auch
in Ihrer Rede ist dieses Thema zu kurz gekommen. Aufgrund der Entwicklung des Bevölkerungsaufbaus der
Bundesrepublik Deutschland stehen wir vor sehr schwer
wiegenden und grundlegenden Problemen in den öffentlichen Haushalten, in der gesamten Volkswirtschaft
und in der Infrastruktur. Die schrumpfende Zahl der
Bevölkerung wird erhebliche Auswirkungen auf das
Zusammenleben der Menschen in diesem Lande haben.
Von einem Bundeswirtschaftsminister und allemal von
einem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland,
die gemeinsam ein rot-grünes Jahrzehnt ausgerufen haben
und einen so umfassenden Gestaltungsanspruch für dieses
Land erheben, müsste man eigentlich erwarten, dass sie
zu diesem zentralen demographischen Problem unseres
Landes mehr zu sagen haben als nur ein paar Floskeln und
ein paar Fußnoten.
Bei der Neuausrichtung der Infrastrukturpolitik, der
Technologiepolitik und der Bildungspolitik ist es nicht
damit getan, dass Sie auf der einen Seite den Familien das
Geld aus der Tasche ziehen, indem Sie die Eigenheimzulage kürzen, und auf der anderen Seite 4 Milliarden Euro
für vier Jahre für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung
stellen. Wie müssen sich die Familien vorkommen, die
jetzt keine Häuser mehr bauen können, aber dafür für ihre
Kinder eine Ganztagsbetreuung angeboten bekommen?
Das ist doch keine Antwort auf diese Fragen.
({47})
Neben dem Problem der langfristigen Sicherung der
sozialen Sicherungssysteme stellt uns die Demographie
vor - jedenfalls vor Jahren - ungeahnte Herausforderungen und Probleme.
({48})
Wenn sich die Bundesregierung nach vier Jahren rotgrüner Wirtschaftspolitik, die unser Land nicht nach vorn
gebracht, sondern weiter zurückgeworfen hat, unter Ihrer
Mitverantwortung, Herr Clement, eines Besseren besonnen hat, dann sind wir die Letzten, die das kritisieren werden. Denn nach wie vor gilt das, was wir in den letzten
Wochen und Monaten gesagt haben - nach der
Regierungserklärung des gestrigen Tages ist es noch deutlicher und klarer geworden -: Dieses Land hat eine
bessere Politik und auch eine bessere Regierung verdient.
({49})
Ich komme zum Schluss. Herr Clement, ich wünsche
Ihnen für Ihre verantwortungsvolle Aufgabe einen guten
Start. Die SPD stellt vier neue Minister.
({50})
- Ich kann gut verstehen, dass es Ihnen nicht gefällt, wenn
ich dieses Thema anspreche. Da sitzen vier neue Minister
von der SPD auf der Regierungsbank, aber kein einziger
aus den Reihen Ihrer Fraktion. Das lässt gewisse
Rückschlüsse darauf zu, was der Bundeskanzler von Ihrer
Bundestagsfraktion hält.
({51})
Wie jeder neue Minister haben Sie Anspruch auf eine
gewisse Schonfrist. Wenn ich es richtig ausgerechnet
habe, enden die ersten 100 Tage von Wolfgang Clement
im Amt des Bundeswirtschaftsministers am 30. Januar,
einem Donnerstag. Ich schlage vor, dass wir an diesem
Tag die Debatte, die wir heute begonnen haben, fortsetzen. Ich sage Ihnen schon jetzt: Wenn es bei Ankündigungen bleibt und wenn die Politik der Bundesregierung
weiter rückwärts führt, dann wird die Stimmung etwas anders sein als heute Morgen.
Herzlichen Dank.
({52})
Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrter Herr Minister Clement, obwohl ich nur eine
kurze Redezeit zur Verfügung habe, möchte ich vorab etwas zu Ihrer Rede sagen: Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Ich glaube, mit dem, was Sie hier vorgeschlagen haben, wird es möglich sein, das Ziel zu erreichen,
das besonders wir Grüne uns gesteckt haben, nämlich Zugangsgerechtigkeit am Arbeitsmarkt herzustellen.
({0})
Lieber Kollege Merz, Ihnen muss ich allerdings sagen:
Bei Ihnen ist tatsächlich nach der Wahl vor der Wahl; denn
leider ist das, was Sie vor der Wahl gesagt haben, hier nur
wiederholt worden. Ich bin darüber entsetzt, dass Sie die
Schlusslichtdebatte, die Sie bereits im Wahlkampf geführt
haben, wieder begonnen haben. Schließlich weiß jeder
hier im Land, wann wir Schlusslicht geworden sind; das
war unter Ihrer Regierung zu Beginn der 90er-Jahre.
({1})
Ich bin auch darüber entsetzt, dass Sie die Stirn haben
- wenn auch verklausuliert -, wieder einmal Ihr 40-40-40Konzept als einzige Alternative zu unserer Politik vorzustellen, obwohl Sie ganz genau wissen, dass Sie damit die
Staatsverschuldung in die Höhe treiben würden. Sie haben für Ihr Konzept überhaupt keine Finanzierungsgrundlage vorgestellt.
({2})
Sie fragen nach den Zielen unserer Politik. Wenn Sie
den Koalitionsvertrag gelesen hätten, wären sie Ihnen ins
Auge gesprungen. Dort steht deutlich geschrieben: Erneuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Diese
sind der Kern unseres Regierungsprogramms. Sie können
darüber lachen oder sich abwenden, ich sage Ihnen aber:
Uns ist es sehr ernst damit.
Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, angesichts der
niedrigen Wachstumsprognosen und der - das ist von
Ihnen richtig bemerkt worden - demographischen Entwicklung müssen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit für
das, was wir vorhaben, nämlich Erneuerung in der Arbeitsmarktpolitik, in der Wirtschaftspolitik und bei den
sozialen Sicherungssystemen, unsere Maßstäbe sein.
Herr Merz, die Bevölkerung hat längst begriffen, dass
auf der einen Seite Reformen anstehen, dass aber auf der
anderen Seite für diese Reformen Maßstäbe notwendig
sind, die auch in schwierigen Zeiten gültig sind. Die Bevölkerung hat bei der Flutkatastrophe gezeigt, dass sie es
begriffen hat. Wir haben vor der Wahl gesagt, dass es nicht
möglich ist, eine solch außergewöhnliche Situation durch
zusätzliche Verschuldung nach Ihrem alten Konzept
„Rein in den Schuldenstaat“ zu meistern. Wir haben deutlich gemacht, dass es notwendig ist,
({3})
die geplanten - sie werden auch kommen - Steuersenkungen um ein Jahr hinauszuschieben.
Es ist wohlfeil gewesen, so zu tun - das haben Sie vor
der Wahl gemacht -, als könnten Sie für das Jahr 2003
weitere Steuersenkungen - diese haben Sie früher in unserem Konzept angegriffen - zusagen. Es ist wohlfeil gewesen. Aber die Bevölkerung hat Ihnen genau dieses unehrliche Konzept nicht abgenommen. Sie hat begriffen,
dass wir mit den Maßstäben von Nachhaltigkeit, also uns
nicht zulasten zukünftiger Generationen zu verschulden,
und Gerechtigkeit, also die Lasten je nach Stärke der
Schultern zu verteilen, den richtigen Weg eingeschlagen
haben, um schwierige Situationen zu bewältigen.
({4})
Wir brauchen uns hier überhaupt nichts vorzumachen:
Natürlich sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, mit denen wir Arbeits- und Wirtschaftspolitik betreiben wollen und müssen, schwierig. Die Wachstumsprognosen werden korrigiert und sie werden mit Sicherheit
unter der momentanen Beschäftigungsschwelle in Deutschland liegen. Die Beschäftigungsschwelle liegt bei etwa
2 Prozent. Es ist schwierig, all das, was darunter ist, in positive Beschäftigungseffekte umzusetzen.
Unter diesen schwierigen Bedingungen machen wir
uns daran, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dies stellt erhebliche Anforderungen an die Beschäftigungspolitik.
Wir stellen uns diesen Anforderungen. Ein erster Schritt
ist die Umsetzung des Hartz-Konzepts 1 : 1. Ich glaube,
konkreter kann es nicht sein.
Wir machen dies, obwohl wir wissen, dass wir wegen
der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung im nächsten
Jahr ein zusätzliches Defizit zu bewältigen haben werden.
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts entspricht einer nach
vorn gerichteten Wirtschaftspolitik, einer Wirtschaftspolitik, die auch die Voraussetzung einer konjunkturgerechten Konsolidierung erfüllt.
Vor die Sparklammer werden wir Investitionen in die
Zukunft, in den Arbeitsmarkt, ziehen. Dazu gehören zum
Beispiel Investitionen für erneuerbare Energietechniken,
die arbeitsmarktrelevant sind. Wir werden uns für die
Ganztagskinderbetreuung einsetzen. Dies ist etwas, was
Frau Merkel hier gestern noch als Brosamen bezeichnet
hat, wohl nicht wissend, dass die Beschäftigungsfähigkeit
von Frauen, von Personen mit Familie, von Erziehenden
von der Möglichkeit abhängig ist, Erwerbstätigkeit mit
Familie zu verbinden.
({5})
Herr Merz hat eben gesagt, er möchte das Teilzeitgesetz wieder
({6})
reduzieren. Auch dieses Gesetz ist ein wesentliches Element, mit dem wir Menschen, die mit Kindern leben, in
Arbeit bringen können. Diese Dinge werden wir vor die
Sparklammer ziehen. Ferner werden wir das JUMP-Programm für arbeitslose Jugendliche vor die Klammer ziehen.
Ansonsten gilt: Sowohl bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik als auch bei den notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme wird es um Effizienzsteigerungen, aber auch um Abstriche gehen. Darum kommen
wir nicht herum. Allerdings werden wir bei der Veränderung der sozialen Sicherungssysteme den sozialen Schutz
der Menschen nicht infrage stellen.
Herr Merz, Sie haben vorhin einen wesentlichen Punkt
angesprochen, nämlich die Notwendigkeit der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe. Aber
dies wollen Sie im Gegensatz zu anderen Kollegen Ihrer
Fraktion im Kern nicht. Dies haben Sie deutlich gemacht.
Sie wollen die Menschen in die Sozialhilfe abdrängen.
Außerdem wollen Sie den Bezug der Sozialhilfe zeitlich
befristen.
Wir schlagen ein neues Leistungssystem vor, in dem
die Arbeitslosenhilfe nicht auf die Höhe der Sozialhilfe
abgesenkt wird und in dem diejenigen, die heute Arbeitslosenhilfe beziehen, aktive Hilfe bekommen, um wieder
in den Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Unter den Bedingungen der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung ist eine Rundumerneuerung am Arbeitsmarkt besonders notwendig. Die Umsetzung des
Hartz-Konzepts ist ein zentraler Schritt. Es macht überhaupt keinen Sinn, dieses hier klein zu reden. Der Minister hat einzelne Punkte genannt. Es geht unter anderem
darum, die Bundesanstalt fürArbeit zu reformieren. Am
Ende dieses Prozesses wird etwas anderes herauskommen
als das, was wir heute kennen, und zwar wird es eine
Dezentralisierung mit einem höheren Entscheidungsspielraum in den Regionen und einem veränderten Aufgabenschwerpunkt in Richtung vermittlungsorientierter
Dienstleister geben.
({7})
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch,
dass wir wesentliche Elemente zur Senkung der Dauer der
Arbeitslosigkeit entwickeln und umsetzen werden, und
zwar unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung.
Diese sind: schnellere Vermittlung durch Prävention, eine
neue Balance zwischen Fördern und Fordern, Hilfe aus
einer Hand, Jobcenter - die Sie auch immer gefordert haben -, schnelle Hilfe. Dies alles bedeutet auch, Herr Merz,
eine veränderte Beweislast für die Betroffenen sowie veränderte, differenziertere Bestimmungen hinsichtlich der
Zumutbarkeit für die Arbeitsuchenden.
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch
- hierin liegt eine große Chance -, dass wir die Zeitarbeit beherzt fördern, allerdings tarifvertraglich gesichert.
Damit haben wir ein Instrument, mit dem die Arbeitslosen auf der einen Seite ihren Kündigungsschutz behalten
und die Unternehmen auf der anderen Seite die notwendigen Flexibilitäten bei den Einstellungen bekommen
können.
Herr Merz, ich weiß, Sie sind recht neu in dem Bereich
der Arbeitsmarktpolitik und der Umsetzung des HartzKonzepts.
({8})
Deswegen ist Ihnen vielleicht entgangen, dass die Veränderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die wir in
der letzten Legislaturperiode gemacht haben, zu erheblichen Erleichterungen geführt hat, so zum Beispiel zu einer Verlängerung der Überlassungsfrist.
({9})
Ich bin froh, dass der Minister hier deutlich gemacht hat,
dass wir durch die tarifvertragliche Sicherung auch dazu
kommen können, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
insgesamt vollständig zu entbürokratisieren und abzubauen.
Der nächste Punkt betrifft ein wichtiges Element bei
schwierigen wirtschaftlichen Entwicklungen. Wir werden
der Schwarzarbeit zu Leibe rücken, und zwar nicht, indem wir verbieten oder kontrollieren, sondern indem wir
den Menschen die Hand reichen und ihnen die Möglichkeit geben, aus der Schwarzarbeit heraus und in legale Beschäftigung zu kommen. Das betrifft viele Bereiche, zum
Beispiel die Haushalte. Es ist vernünftig, in diesem Bereich die Minijobs einzuführen.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir
überprüfen werden, ob diese Heraufsetzung der Geringfügigkeitsschwelle nicht auch in anderen Bereichen arbeitsmarktpolitisch Sinn macht und sozialverträglich geregelt werden kann. Das ist bei der hohen Schwarzarbeit, die
wir in unserem Lande haben, ein sehr wichtiger Schritt.
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch
Hilfe zur Selbstständigkeit. Die Menschen sollen ihre
eigenen Schicksale in die Hand nehmen können und sich
selbstständig machen können. Nichts anderes ist die
Ich-AG.
Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet, dass wir
Wettbewerbselemente einführen. Das ist ungeheuer wichtig, gerade zur Steigerung der Effizienz noch immer sehr
bürokratischer Strukturen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Alle, die ihr Arbeitsamt vor Ort kennen,
werden sich noch die Augen reiben, wenn sie feststellen,
wie viel Selbstbestimmung durch die wettbewerbliche
Vergabe und die Anwendung von arbeitsmarktpolitischen
Instrumenten dezentral möglich ist.
Herr Merz, die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch das, was Sie zum Beispiel in Bezug auf die Qualifikation eingefordert haben. Die Qualifikation und die
Abschlüsse gerade von jungen Menschen werden vollständig verändert. Sie werden flexibilisiert und an den betrieblichen Bedürfnissen sowie den Fähigkeiten der Betroffenen orientiert. Kürzere, auch modulare Ausbildung
wird möglich sein. Das wird wichtig sein, um die Leute in
den Arbeitsmarkt hineinzubringen.
({10})
Ich gebe hier keine Prognosen ab, wie stark der Entlastungseffekt sein wird. Aber eines kann ich sagen: Wir werden es schaffen, mit diesen Instrumenten die Dauer der
Arbeitslosigkeit zu senken. Wir kommen mit ihnen an die
Schwarzarbeit heran und können so die Beschäftigungsschwelle in diesem Bereich, die heute sehr hoch liegt,
senken.
Ich nenne Ihnen zum Abschluss eines der grünen Ziele
in diesem Zusammenhang - das steht auch in den Koalitionsvereinbarungen -: Wenn es uns gelingt - da bin ich
sicher -, mit diesen Instrumenten die Arbeitslosigkeit
Stück für Stück abzubauen, die Dauer der Arbeitslosigkeit
Schritt für Schritt zu senken, dann werden die Effizienzgewinne, die wir im System haben, auch zur Senkung der
Lohnnebenkosten, zur Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge verwandt werden; denn die Stabilisierung und - in der Zukunft - die Senkung der Lohnnebenkosten sind ein ganz zentrales Element, mit dem wir die
Beschäftigungspolitik positiv flankieren können.
Danke schön.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion.
({0})
Herr Tauss, Sie sollten mal nicht nur als IG-MetallMann sprechen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Clement, Sie haben heute Ihre erste Rede als neuer Superminister gehalten. Ich darf Ihnen zu Beginn im Namen
der FDP-Fraktion für Ihre Tätigkeit ein herzliches Glückauf zurufen.
({0})
Ich will mit einem Lob beginnen. Es war richtig, dass
der Bundeskanzler die Bereiche Wirtschaft und Arbeit zusammengelegt hat. Das haben wir seit Jahren gefordert.
Im Januar dieses Jahres haben wir einen Antrag hierzu im
Parlament eingebracht. Damals hat ihn Grün-Rot mit der
Begründung abgelehnt, dies sei nicht sinnvoll. Jetzt nehmen Sie diese Zusammenlegung vor. Wir halten dies für
richtig, weil ein innerer Zusammenhang besteht. Der Arbeitsmarkt muss auch als Markt verstanden werden. Die
Bereiche Wirtschaft und Arbeit müssen ganzheitlich zusammengeführt werden. Deshalb ist diese Entscheidung
richtig. Sie ist indirekt aber natürlich auch eine Kritik an
den beiden Vorgängern und ein Eingeständnis, dass die
alte Struktur nicht die richtige war.
Dieser organisatorische Befreiungsschlag allein reicht
aber nicht. Ich habe im Koalitionsvertrag nichts zur inhaltlichen Ausgestaltung gefunden. Es muss ja doch eine
Politik aus einem Guss sein.
Mir fiel auf, dass im ganzen Kabinett kein einziger
Wirtschaftswissenschaftler sitzt. Die Regierung hat offenbar ihre Probleme mit ökonomischem Sachverstand.
Herr Clement, Ihre Kritik an dem Herbstgutachten fand
ich nicht in Ordnung. Wenn Sie diejenigen, die es erarbeitet haben, für unfähig halten und wenn Sie es an sich
für falsch halten, dann stellen Sie die Erarbeitung solcher
Gutachten doch einfach ein. Sparen Sie das Geld und geben Sie es lieber dem deutschen Handwerk. Aber Aufträge
zu erteilen und dann zu sagen, das, was geliefert wurde,
sei unnützes Zeug, ist nicht in Ordnung.
({1})
Professor Sinn, dem Chef des Ifo-Instituts, dessen
Äußerungen Sie heute Morgen - das war ein Beispiel für
unqualifizierte Kritik - abqualifiziert haben, haben Sie
Unrecht getan. Das Ifo-Institut hat am 14. August und am
10. September umfassende Studien über die Vorschläge
der Hartz-Kommission öffentlich vorgelegt. Dort ist im
Einzelnen wissenschaftlich begründet worden, wo die Bedenken liegen. Sie sollten einmal hineinschauen. Herrn
Professor Sinn sollten Sie sagen, dass er doch etwas mehr
geliefert hat als das, von dem Sie heute Morgen gesprochen haben. Ihre Kritik war nicht in Ordnung.
({2})
- Ich habe schon zugehört.
Wenn der Patient Fieber hat, dann ist die Lösung nicht,
Herr Stiegler, das Fieberthermometer an die Wand zu
knallen;
({3})
man muss vielmehr den Infekt bekämpfen, die Immunschwäche beseitigen und den Körper wieder kräftigen.
({4})
Dann kann der Gesundungsprozess eingeleitet werden.
Nicht das Fieberthermometer, sondern der Infekt ist die
Ursache dafür, dass der Patient krank ist. Dort müssen Sie
mit der Therapie ansetzen.
Das neue Ministerium darf nicht zu einem verbeamteten runden Tisch werden, an dem alle zusammensitzen.
Die Zusammenführung von Kompetenzen muss dazu genutzt werden, um verkrustete Strukturen am Arbeitsmarkt
aufzubrechen.
({5})
Das Konzept der Hartz-Kommission ist sicherlich ein Ansatz dazu. Gehen Sie das an.
Man muss vieles aber auch kritisch hinterfragen dürfen. Sie beginnen jetzt mit dem Jobfloater. Ich habe
Zweifel, ob Unternehmen nur deshalb, weil sie mehr Kredite kriegen, Menschen einstellen. Vielleicht führt das
auch zu einem Drehtüreffekt: Die Unternehmen entlassen
Mitarbeiter, holen sich bei Ihnen den Kredit ab und stellen
die Mitarbeiter dann wieder ein. Dadurch haben Sie nichts
gewonnen, Sie haben nur das Geld unter die Leute gebracht. Versuchen Sie das aber trotzdem. Wir müssen sehen, ob wir damit vorankommen.
({6})
Für mich haben Sie bei Teilen der Ansätze eine kostümierte Vorgehensweise. Sie vermitteln die Zeit- und Leiharbeit quasi vom Staat her, indem Sie Arbeitsämter zu
großen Leiharbeitsfirmen umfunktionieren. Sinnvoller
wäre es aber doch, die Bedingungen am Arbeitsmarkt
gleich so zu ändern, dass Arbeitsplätze unmittelbar dort
entstehen, wo Arbeit anfällt.
({7})
Dazu müssten Sie die Einstellungsbarrieren beseitigen,
müssten über die Überreglementierungen nachdenken,
den Kündigungsschutz überdenken und den Betrieben die
Möglichkeit geben, intern mehr entscheiden zu können.
Sie wissen genau: 60 bis 70 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in Ostdeutschland entsprechen nicht dem geltenden Tarifvertragrecht. Diese Arbeitsverhältnisse sind
alle rechtswidrig. Doch niemand, nicht einmal die Gewerkschaften, rührt an diesem Zustand. Selbst Herr Tauss
mit seinen Zwischenrufen wagt sich nicht daran.
({8})
Denn Sie wissen aus gutem Grund:
({9})
Wenn Sie da herangehen, verdoppeln und verdreifachen
Sie die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Deshalb muss die Schlussfolgerung sein: Geben Sie den Betriebsräten, den Betrieben und dem Mittelstand mehr Freiheiten, damit sie eigene Wege gehen, eigene Regelungen
aufstellen und betriebliche Bündnisse - oder wie immer
Sie es nennen wollen - eingehen können. Machen Sie das
nicht kostümiert. Geben Sie ihnen die Möglichkeit dazu.
({10})
Ich komme zu dem berühmten Mainzer Modell, das
vor der Bundestagswahl als Wunderwaffe angepriesen
wurde. Mich hat es nicht überrascht, dass nicht viel dabei
herauskam. Schon bei den Modellversuchen in Brandenburg und in Rheinland-Pfalz kam nicht viel heraus. Denn
es ist doch ein absurder Ansatz. Sie haben es durch staatliche Regelungen geschafft, die Lohnnebenkosten in
Deutschland so nach oben zu treiben, dass wir mit Steuergeldern die Lohnnebenkosten subventionieren müssen,
damit in Deutschland noch Arbeit entsteht. Es ist doch absurd, wie wir in Deutschland vorgehen. Gehen Sie doch
die Ursachen an und machen Sie es nicht kostümiert.
({11})
Was haben Sie uns beschimpft, als wir gesagt haben,
dass es in haushaltsnahen Bereichen viele Beschäftigungsmöglichkeiten gibt! Nicht Sie persönlich, aber Ihre
Genossen haben uns als eiskalte Liberale bezeichnet
({12})
und haben vom Dienstmädchenprivileg geredet. Jetzt machen Sie es kostümiert, durch eine Art 630-Mark-Regelung; es geht also um den Niedriglohnsektor. Hätten Sie
es gleich gemacht, wäre schon viel erledigt. Sie versuchen
es; unsere guten Wünsche haben Sie. Ich bin überzeugt,
dass man an viele Bereiche konsequenter herangehen
müsste.
Sie haben einen richtigen Satz an den Anfang gestellt:
Damit die Wirtschaft wieder in Gang kommt, brauchen
wir Vertrauen bei Konsumenten, Arbeitnehmern, beim
Mittelstand und bei Unternehmen. Wie kann denn Vertrauen entstehen, wenn vor der Wahl gesagt wird, die
Steuern würden gesenkt, diese nach der Wahl aber erhöht
werden? Wie kann Vertrauen entstehen, wenn vor der
Wahl gesagt wird, die Schuldenkriterien nach Maastricht
würden nicht überschritten, obwohl nach der Wahl die
Schulden erhöht werden und man über diese Kriterien
hinweggeht? Wie kann Vertrauen entstehen, wenn dadurch
die Währungsstabilität - auch des Euro - angetastet wird?
Man kann nicht nur sagen, dass man Vertrauen will. Man
muss auch eine Politik betreiben, die Vertrauen auslöst.
({13})
Die Menschen verhalten sich richtig; denn sie sind unsicher. Sie fragen sich, ob sie ihren Arbeitsplatz und ihr
Einkommen behalten, ob sie einen neuen Arbeitsplatz erhalten und ob sie mehr verdienen können. Deswegen halten sie das Geld zurück und sparen lieber; die Sparquote
geht nach oben. Der Mittelstand ist verunsichert und fragt
sich, ob die Vermögen- und die Erbschaftsteuer kommen,
ob noch mehr draufgeknallt wird, ob die Mehrwertsteuer
weiter erhöht wird und ob Sie nur warten, bis die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen vorbei sind, um
den zweiten Teil der Wahrheit, den Offenbarungseid in der
Finanzpolitik, auf den Tisch zu legen.
({14})
Das schafft kein Vertrauen. Das Vertrauen der Menschen
kann man nicht reklamieren, sondern man muss es sich erarbeiten; das ist Ihre Aufgabe.
({15})
Die Hoffnungen sind auf Sie gerichtet. Dass die Presse
so verheerend ist, ist kein böser Wille; die „Süddeutsche
Zeitung“ ist ja eher die Hauspostille dieser Regierung. Es
ist doch nicht unsere Erfindung, dass Sie dort so stark kritisiert werden. Es hat doch seinen Grund, dass Sie diese
Pressekommentare bekommen. Das ist doch keine bösartige „Kettenhund“-Inszenierung dieser abartigen Opposition, sondern das ist die Bewertung vieler draußen, die sagen, dass Ihr Einstieg nicht in Ordnung ist, er kein Vertrauen
weckt und die Wirtschaft so nicht in Gang gesetzt wird.
({16})
Deshalb müssten Sie, Herr Minister, das ordnungspolitische Gewissen sein. Der Minister für Wirtschaft und Arbeit ist mehr als ein Sonderbeauftragter zur Umsetzung
der Ergebnisse der Hartz-Kommission. Er muss der Kompass sein; Laufen allein ist nicht die Lösung.
({17})
Sie müssen wissen, wo Sie hinlaufen; Sie müssen der
Kompass in dieser Regierung der Verirrten sein.
({18})
Sie wollen die Eigenheimzulage streichen. Eine Familie mit zwei Kindern, die ein Einkommen von
35 000 Euro im Jahr hat, gehört nicht zu den Spitzenverdienern. Für diese wird es zu einer Mehrbelastung von
200 bis 400 Euro pro Monat kommen. Das sind jetzt noch
die letzten freien Einkommensteile, mit denen man etwas
bewegen kann. Deshalb ist der Ansatz, den Sie gewählt
haben, falsch. Sie müssen den Mut haben, konsequent an
die Subventionen heranzugehen. Ich hätte alle um 10 Prozent gekürzt.
({19})
Natürlich wird es für Sie, der Sie langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen waren, schwer. Die
Steinkohle ist tabu, obwohl sie ökologischer Unfug ist;
sie trägt nämlich erheblich zu den CO2-Emissionen bei.
({20})
Daran müssen Sie als Erstes herangehen, an diesen Pakt
der Unseligkeit für Europa, mit dem Sie eine Verlängerung dieser Subventionen in der Praxis erreicht haben. Im
Gegenzug dürfen die Franzosen, die Italiener und die
Holländer ihre Spediteure weiter zulasten der deutschen
Brummifahrer subventionieren.
Das ist ein falscher Pakt. Das ordnungspolitische Gewissen muss aufschreien. Sie müssen ein Gegenpol sein
und sagen - das hat auch Karl Schiller schon gesagt -: Genossen, lasst die Tassen im Schrank. - Lesen Sie wenigstens einmal, was Helmut Schmidt, die Ikone sozialdemokratischer Politik, in der „Zeit“ geschrieben hat. Ich bin
bereit, jeden Satz dieses Aufsatzes morgen früh zu unterschreiben. Er hat ja doch so Recht.
Er sagt, Ursache sei das Tarifkartell. - Gebt den Leuten doch ein wenig mehr Freiraum und denkt nicht nur an
die Funktionäre. Diese haben keine Arbeitsplatzsorgen;
sie sitzen drin, sie sind fest angestellt und werden bezahlt.
Denkt an die, die draußen stehen und hineinkommen und
die auch eine Chance haben wollen.
({21})
Der Wahlkampf ist herum. Deshalb müssen wir jetzt
gemeinsam die Kraft finden, mit einer anderen Politik
neue Chancen zu eröffnen.
({22})
- Mancher schreit, weil er nicht anders kann.
({23})
Machen Sie das doch zu Hause mit Ihrer Frau, nicht im
Parlament. Pöbeln Sie doch Ihre Frau an, nicht mich; das
ist doch viel einfacher.
({24})
Der erste Schritt muss sein, die Fehlentwicklung zu
korrigieren. Werden Sie bitte kein Monopolminister wie
Herr Müller. Er dachte nur an die Großkonzerne. Denken
Sie an den Mittelstand. Ich nenne hier nur einige Stichworte: Scheinselbstständigengesetz, Umsatzverkürzungsgesetz, Bauabzugsteuer, Verschärfung der Mitbestimmung.
Das alles ist grottenfalsch. Dadurch können Vertrauen und
eine gute Stimmung nicht entstehen.
Was hat denn der deutsche Mittelstand Grün-Rot getan,
dass er so schlecht behandelt wird? - Natürlich ist er steuerpolitisch schlechter behandelt worden. Er erhält seine Entlastung auf Raten. Sie haben gerade eine Rate dieser Entlastung mit der Begründung „Hochwasser“ verschoben.
Er wird sie allenfalls später bekommen.
({25})
Weshalb können die großen Konzerne ihre Beteiligungen
steuerfrei veräußern, während der Malermeister, der im
Malereinkauf eine Beteiligung von 50 000 DM hat, steuerlich anders behandelt wird? Deshalb ist der Ansatz, Vertrauen zu schaffen, richtig.
Wir brauchen alle Menschen, die mitmachen. Dazu
brauchen wir Glaubwürdigkeit. Herr Eichel hat einmal
ganz gut angefangen. Er hat Sozialdemokraten erklärt, wie
wichtig Sparen ist. Heute spart er nur noch an einem, an
seiner eigenen Glaubwürdigkeit. Das kann aber nicht die
Lösung dafür sein, wie wir das Vertrauen zurückgewinnen
können. Versuchen Sie, das zu leisten. Das ist einfach.
Herr Clement, Sie haben Kredit. Verspielen Sie diesen
Kredit nicht. Machen Sie das, was notwendig ist, mutig
und kräftig, damit unser Land auf einen anderen Kurs
kommt; denn das Land ist wichtiger als unsere Parteien.
({26})
Der Ansatz, der bisher von dieser Regierung mit einer langen Latte von Steuererhöhungen, Verschlechterungen,
Gleichmacherei bis hin zur Beitragsbemessungsgrenze
- alles geht nach oben - präsentiert wurde, ist nicht der
richtige. Sie müssen eine Korrektur vornehmen - und das
heute -, sonst werden Sie es nicht schaffen.
Allen Parteien insgesamt - selbst Ihnen mit Ihrer Pöbelei; wenn man nichts weiß, schreit man eben; er schreit vor
Dummheit - vertrauen nach Umfragen aller demoskopischen Institute weniger als 50 Prozent der Bevölkerung.
({27})
Wenn wir es nicht schaffen, das Vertrauen gemeinsam
zurückzugewinnen, wird es mit der Wirtschaft und dem
Staate nichts.
({28})
- Herr Schmidt, es hilft auch nichts, wenn man, wie Sie es
gestern getan haben, dazwischenschreit: Sie wissen gar
nicht, was rauskommt. - Sie haben uns offenbar ein Kostümfest präsentiert. Wir sind gespannt, was rauskommt.
Hoffentlich wird es nicht noch schlimmer, als es schon ist.
({29})
Ich erteile das Wort Kollegen Ludwig Stiegler, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPDFraktion begrüßt den neuen Bundesminister und dankt
ihm, dass er das schönste Amt, das Deutschland nach dem
des Kanzlers zu vergeben hat, verlassen hat, um hier zu arbeiten. Wir werden ihn bei seiner Arbeit unterstützen, begleiten und gelegentlich auch mit ihm streiten.
({0})
Herr Brüderle hat in einem lucidum intervallum gesagt, der Wahlkampf sei vorbei. Aber er hat, wie auch Herr
Merz, offenkundig noch die Schallplatte des Wahlkampfes aufgelegt.
({1})
Wenn ich solche Reden höre, muss ich an Kurt Tucholsky
denken. Er hat irgendwann einmal gesagt: Habe ich das
schon gegessen oder soll ich das noch essen? Mir ergeht
es so wie mit dem Lungenhaschee.
({2})
Ich muss sagen: Diese Chance war vertan. Bei Herrn
Merz erkenne ich durchaus an, dass er deutlicher als im
Wahlkampf geworden ist. Im Wahlkampf wurden die
Sozialausschüsse als Mauer vorgeschoben und ins Schaufenster gestellt. Jetzt sind sie wieder in der Requisitenkammer. Nun beginnt der Kampf gegen die Betriebsverfassung,
das Tarifvertragsgesetz sowie die Teilzeitbeschäftigung.
Herr Merz, nehmen Sie zur Kenntnis: CDU/CSU sind
nicht gewählt worden, weil sie eine Gesellschaftsordnung
wollten, die die Menschen nicht wollen. Wir wollen in den
Betrieben den aufrechten Gang und Menschenwürde. Die
Menschen haben uns gewählt, weil wir für Chancen stehen. Wir wollen keine Lösung der wirtschaftlichen
Schwierigkeiten auf Kosten der Menschen. Wir wollen
die Fasane nicht mit einem strengen Winter in die Küche
treiben. Bei uns stehen Menschenwürde und wirtschaftliche Sicherheit der Menschen im Mittelpunkt.
({3})
Herr Merz und Herr Brüderle haben um Herrn Clement
gebuhlt, weil sie meinen, er müsse jetzt schwarz-liberale
Politik machen. Nein, wir werden mit ihm zusammen sozialdemokratische und rot-grüne Politik gestalten. Wir haben die Wahlen gewonnen, während Ihre Konzeption
keine Mehrheit gefunden hat.
({4})
Die gegenwärtigen Schwierigkeiten sind weltwirtschaftlich bedingt.
({5})
Helmut Schmidt hat einst in Anlehnung an den Beitrag
von Walther Rathenau „Die Wirtschaft ist das Schicksal“
geschrieben: Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal. Auch
die Gutachter sehen die Sorgen, die wir haben: Irak, Öl,
Verfall der Aktienkurse, verbunden mit Vermögensabbau,
Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung usw.
({6})
Von außen werden insofern erhebliche Einflüsse wirksam.
Wir haben aber durchaus Möglichkeiten, uns zu engagieren. Ich erkenne ausdrücklich an, wie sich Eichel oder
Wieczorek-Zeul in den internationalen Gremien um die
Stabilisierung der Weltwirtschaft bemühen.
({7})
Wir umschwärmen auch die Europäische Zentralbank,
den Zins so festzulegen, dass er investitionsfördernd
wirkt, und wir erwarten, dass Europa immer dann, wenn
Amerika schwächelt, eine gewisse Vorreiterrolle übernimmt. Wir müssen uns auch dieser weltpolitischen
Führungsverantwortung stellen.
({8})
Meine Damen und Herren, wir alle haben uns korrigieren müssen, was die Wachstumserwartungen anbetrifft. Alle - Sachverständigenrat wie auch die entsprechenden Institute - haben ein hohes Wachstum
prognostiziert; gegenwärtig ist aber von einem Wachstum
in Höhe von nur 1,5 Prozent auszugehen. Die meines Wissens Einzige, die mit ihrer Wachstumsprognose richtig gelegen hat, ist die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk. Sie hat
uns das vor einem Jahr vorausgesagt, wir sind ihrer Einschätzung aber nicht gefolgt. Ich möchte ihr an dieser
Stelle meine Anerkennung ausdrücken.
({9})
- Was wahr ist, ist wahr.
Die Korrektur des erwarteten Wirtschaftswachstums
hat gravierende Folgen für den Haushalt und die sozialen
Sicherungssysteme. Wir werden eine ganze Menge tun
müssen, damit die Risiken, die in Sachen Irak und Öl drinstecken, nicht durchschlagen.
({10})
Deshalb bin ich dankbar, dass der Bundesfinanzminister
den mit 29 Milliarden Euro ausgestatteten großen Investitionshaushalt ermöglicht hat. Es besteht insofern kein
Problem im Zusammenhang mit den Bundesinvestitionen, sondern eher mit den Investitionen der Länder
und Gemeinden.
({11})
Wir führen das Infrastrukturprogramm durch. Die
Neuregelungen bei der Ganztagsbetreuung, die Hochwasserhilfe und die Reform der kommunalen Finanzen werden nachfragewirksam gestaltet. Auch die neuen Instrumente wie Public Private Partnership werden Wirkung
entfalten. Wir betreiben insofern eine Politik, die Investitionen fördert, und damit schaffen wir dauerhafte Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung. Das
sollten Sie unterstützen.
({12})
Wir fördern des Weiteren die Selbstständigkeit. Ich
möchte der KfW und der DtA ausdrücklich danken, dass
sie bereit sind, die Mittelstandsfinanzierung auf breitere
Grundlagen zu stellen.
({13})
Denn das Hauptproblem des Mittelstands stellen nicht die
Steuern oder die Betriebsverfassung dar, sondern es liegt
in dem vorhandenen Eigenkapital und in der Kreditfinanzierung.
({14})
Unsere Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode besteht
in diesem Bereich darin, die Kreditfinanzierung zu regeln
und mehr Beteiligungskapital - ob bei Mitarbeitern oder
bei regionalen Beteiligungsgesellschaften - zu mobilisieren, um damit möglichst vielen zu helfen. Deshalb ist
auch „Kapital für Arbeit“ so wichtig.
Dort hinten sitzt Ernst Hinsken, dem es sicherlich nicht
anders geht als mir: Jede Woche rufen Mittelständler an,
die sich darüber beklagen, dass sie keinen Auftrag annehmen könnten, weil ihre Bank die Finanzierung nicht übernehme. Wenn die Regelung der Auftragsfinanzierung gelingt, werden auch die Banken in die Puschen kommen.
({15})
Deshalb muss die Zusammenarbeit zwischen den Banken
und dem Mittelstand organisiert werden.
Es ist allgemein bekannt, welche Sorgen die Banken
derzeit plagen. Basel II stellt für die Mittelstandsfinanzierung kein Problem mehr dar. Die Konditionen stimmen.
Sorgen bereiten den Banken vielmehr die Abenteuer, auf
die sie sich in der Vergangenheit eingelassen haben. Ich
denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die
Münchener Banken. Die Hypo-Vereinsbank und die Landeshauptstadt München müssen für Stoibers Kirch-Abenteuer schwer büßen und bluten. Aber so etwas darf nicht
zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen gehen.
({16})
Zur Beschäftigungsförderung tragen der Aufbau Ost,
die Infrastrukturförderung, die Förderung der unternehmerischen Kräfte und die Fortsetzung der Gemeinschaftsaufgaben bei. Ich, der ich als Oberpfälzer in einer
Region groß geworden bin, die vergleichbare Infrastrukturprobleme hat, werde mich zusammen mit Manfred
Stolpe sowie mit den Kolleginnen und Kollegen aus den
neuen Bundesländern ernsthaft um den Aufbau Ost kümmern. Gerade als Bayer habe ich mich immer darüber
geärgert, wie sich die CSU gelegentlich gegenüber den
neuen Bundesländern aufgeführt hat.
({17})
Wir werden den Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister bei der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission unterstützen nach dem Motto: strikte Einhaltung,
volle Anwendung! Wir werden fördern und fordern und
nicht wie die FDP und die CDU/CSU quälen und jagen.
Das ist der Unterschied. Wir werden die Menschen dort
abholen, wo sie stehen, und mitnehmen. Die Einbeziehung der Menschen ist unser Programm.
({18})
Dazu wird Klaus Brandner gleich noch mehr sagen.
Unser Leitbild ist eine solidarische Leistungsgesellschaft und nicht eine Shareholder-Value-Gesellschaft, in
der alles auf Kapitalvermehrung ausgerichtet ist. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Arbeitnehmer genauso
wie die Städte und Gemeinden sowie die Kultur am Wirtschaftsgeschehen Anteil nehmen. Sie sollten den Staat
nicht wie einen ungeliebten stillen Gesellschafter der Unternehmen betrachten und meinen, dass nur das, was man
dem Staat verweigert, gut sei. Wer Bildung, Forschung,
Infrastruktur sowie innere und äußere Sicherheit will,
braucht einen handlungsfähigen und leistungsfähigen
Staat. Das geht nicht im Gegeneinander, sondern nur im
Miteinander von Staat und Wirtschaft.
({19})
In diesen Zusammenhang gehören auch eine neue
Ethik des Wirtschaftens und die Verantwortung für die
Gemeinschaft. Es würde gerade den Unionsparteien gut
anstehen, gelegentlich die Soziallehren der Kirchen nachzulesen, in denen nicht das Kapital, sondern der Mensch
und die Menschenwürde im Mittelpunkt stehen. Darauf
müssen wir im Umgang mit den Älteren und den Arbeitslosen achten. Wenn Sie von der Senkung der Lohnnebenkosten reden, dann sollten Sie daran denken, dass mit diesen die Renten unserer Eltern, der Gesundheitsschutz für
die Kranken und die Versorgung der Pflegebedürftigen
bezahlt werden.
({20})
Wer immer nur über die Lohnnebenkosten schimpft, der
verletzt unsere solidarischen Pflichten gegenüber denjenigen, die durch die Lohnnebenkosten finanziert werden.
Letztlich arbeiten wir, um uns das leisten zu können, und
nicht, um wie König Midas nur das Gold zu vermehren.
Das ist der Ansatz.
({21})
Wir sollten über die Ethik des Wirtschaftens miteinander streiten und uns über sie verständigen. Wenn man
über die Lohnnebenkosten redet, kann man natürlich auch
über die Effizienzgewinne diskutieren. Aber man darf
nicht eine älter werdende Gesellschaft beklagen und dann
die Folgen nicht tragen wollen. Wir sagen: Unser ganzes
Wirtschaften und Arbeiten dient dazu, dass wir miteinander gut leben können. Das ist der Leitsatz, an dem wir
uns orientieren.
Herzlichen Dank.
({22})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Stiegler, ich wünsche Ihnen auch in Ihrem neuen Amt
eine glückliche Hand. Ich habe während Ihrer Rede eben
versucht, herauszufinden, warum Ihr Kollege Ude, der
Münchener Oberbürgermeister, Ihnen ein Einreiseverbot
erteilt hat.
({0})
Letztlich habe ich mir das aber nicht erklären können.
Vielleicht teilen Sie mir später den Grund mit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eines müssen wir der rot-grünen Koalition lassen: Sie haben eine
enorme Geschwindigkeit an den Tag gelegt. Ich kann es
wirklich nicht fassen, in welcher Rekordzeit Sie es geschafft haben, Ihren Wahlsiegerbonus zu verspielen,
({1})
die Bürger zu enttäuschen und die Wirtschaft zu frustrieren. Ich hätte auch nicht gedacht, dass nach der Wahl ein
Aufkleber mit dem Text „Jammert mir nichts vor, ich habe
CDU gewählt“ unwahrscheinlichen Absatz findet.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben uns
einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der nicht nur überhastet erstellt wurde. Er ist mutlos, er ist kraftlos. Er basiert auf Zahlen, die nicht mehr aktuell sind. Er geht von
einem viel zu niedrigen Defizit und viel zu hohen Wachstumsraten aus. Er ist nichts anderes als ein wirres Knäuel
von irgendwelchen Notmaßnahmen, ein heilloses Durcheinander, ein hektischer Versuch, notdürftig selbst produzierte Haushaltslöcher zu schließen.
Notwendige echte Reformen fehlen vollständig. Kein
einziger Punkt darin führt zu mehr Arbeitsplätzen. Alles
geht in nur eine Richtung: mehr Schulden, mehr Steuern,
mehr Abgaben. Es zeigt sich uns ein Dokument der Visionslosigkeit, wie es schlimmer nicht sein kann.
({3})
Der Fehlstart, den Sie jetzt hinlegen, ist noch viel
schlimmer als Ihr Fehlstart 1998. Das ist doch alles ein
chaotisches Hin und Her: Finanzpläne werden beschlossen und danach wieder relativiert oder total aufgehoben.
Keiner weiß, woran er ist. Was ist jetzt mit den Spekulationsgewinnen? Was ist jetzt mit der Eigenheimzulage?
Was ist mit der Spendenabzugsfähigkeit? Klären Sie doch
endlich einmal auf! Sie hätten besser Ihre Überlegungen
angestellt, noch bevor Sie das alles in einen Koalitionsvertrag geschrieben haben. Sie sind doch nur noch ein Reparaturbetrieb.
({4})
Jeder Punkt auf Ihrer Streichliste ist beliebig angreifbar.
({5})
Warum? - Weil Sie kein Konzept haben. Sie haben keine
Strategie und Sie können nichts weiter als ratlose Flickschusterei.
({6})
- Warten Sie ab, lieber Kollege!
Wo sind denn Ihre Impulse? Wo ist denn die Aufbruchstimmung, die wir brauchen? Wo ist die Hoffnung,
die vor allem kleine und mittlere Betriebe brauchen, damit wir aus diesem Wirtschaftskoma wieder herauskommen? Sie haben doch das Vertrauen schon ganz am Anfang zutiefst enttäuscht.
({7})
Das ist das große Problem; denn wir alle wissen, dass
Wirtschaftspolitik zu 50 Prozent Psychologie ist.
Nicht nur die Stimmung des Mittelstandes ist im
Keller: Der Ifo-Geschäftsklima-Index sinkt nun zum
fünften Mal in Folge.
({8})
Die aktuelle Herbstumfrage von Creditreform zeigt,
({9})
dass die Investitionsbereitschaft der kleinen und mittleren Betriebe drastisch gesunken ist; der entsprechende
Wert liegt bei 25,8 Prozent, ein Rückgang um 17,4 Prozent zum letzten Jahr. Die DIHK-Umfrage hat ergeben:
Ein Drittel aller mittelständischen Betriebe will Arbeitsplätze abbauen, von der Schaffung neuer Arbeitsplätze
ganz zu schweigen. Sie machen genau das Gegenteil von
dem, was nötig wäre, was ökonomisch intelligent wäre.
Ihnen fehlen nicht nur die Fantasie und die Kraft, sondern
Sie sind auch noch beratungsresistent, meine Damen und
Herren.
({10})
In ihrem Herbstguthaben fordern die Wirtschaftsexperten zu Recht, weder die Steuern noch die Sozialabgaben
zu erhöhen, um die Wachstumskräfte nicht zu schwächen. Das ist ja auch logisch. Es ist doch sonnenklar:
Wenn eine Wirtschaft am Boden liegt, wenn die Konjunktur daniederliegt, darf man auf die Belastungen nicht noch
draufsatteln, sondern man muss entlasten, um einen Wirtschaftsaufschwung zu bekommen. Und was machen Sie?
({11})
Sie produzieren ein grandioses Steuererhöhungsprogramm auf breiter Front.
Meine Damen und Herren von der Regierung, so werden Sie keinen Beitrag zu dem EU-Beschluss von Lissabon
2000 leisten, wonach angestrebt wird, Europa in zehn Jahren zum dynamischsten Wirtschaftsraum der ganzen Welt
zu machen. Im Gegenteil, Ihr Programm ist kontraproduktiv. Sie arbeiten daran, dass es nicht so sein wird.
({12})
Tatsache ist doch, dass schon vorher Steuererhöhungen
beschlossene Sache waren: 12 Milliarden Euro zum 1. Januar 2003. In der nächsten Stufe der Ökosteuer in Höhe
von 2,8 Milliarden Euro kommt die Erhöhung von Tabaksteuer und Versicherungsteuer ebenso hinzu wie die
Verschiebung der Steuerreform mit einem Volumen von
6,3 Milliarden Euro. Jetzt folgt noch die Mehrbelastung
im Zusammenhang mit den Beschlüssen aus der Koalitionsvereinbarung. Allein der Bund wird in den nächsten
vier Jahren den Arbeitnehmern und den Betrieben 30 Milliarden Euro mehr aus der Tasche ziehen. Sie werden gnadenlos geschröpft.
Wir haben ein großes Problem mit unserer Binnenkonjunktur, weil keine Kaufkraft mehr vorhanden ist.
Wenn Sie den Menschen immer mehr Geld aus der Tasche
ziehen, werden Sie nicht zu einer Stärkung der Kaufkraft
beitragen.
Sie planen die Abschaffung der Ökosteuerermäßigung
für das produzierende Gewerbe. Haben Sie denn vergessen, warum das damals vereinbart worden ist? Das hing
damit zusammen, dass diese Betriebe keinen Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren ausländischen Mitbewerbern erleiden sollten. Das war der Grund. Das hing damit
zusammen, dass von diesem Bereich der Wirtschaft eine
Selbstverpflichtung betreffend Energieeinsatz und Produktion übernommen worden ist. Alles vergessen! „Pacta
sunt servanda“ hat es einmal geheißen.
({13})
- Sie wissen es auch, Herr Stiegler. Sie sind doch Jurist.
Vielleicht sollten Sie sich ab und zu einmal daran erinnern.
Zum Thema Mindeststeuer. Sie suggerieren nach
draußen, steuerfaule Unternehmen müssten sich im Interesse des Gemeinwohls auch beteiligen.
({14})
Lügen Sie hier doch nicht so!
({15})
Was Sie damit auf den Weg bringen, ist nichts weiter als
ein bürokratisches Monster. Es belastet Existenzgründer,
es belastet forschungsintensive Projekte. Damit bekommen wir eines nicht hin, was wir doch alle wollen, nämlich mehr Selbstständigkeit.
({16})
Wir wollen mehr Selbstständigkeit, die auch Arbeitsplätze
schafft. Wir wollen wieder einen Innovationsgeist in unserem Unternehmen Deutschland haben.
Wie soll denn ein Existenzgründer motiviert werden,
wenn man ihm sagt: „Wenn du deine Anfangsverluste
nicht in den ersten sieben Jahren wieder hereinholst,
bleibst du drauf sitzen“? Da ist es doch nicht motivierend,
sich selbstständig zu machen! Das ist doch unsinnig.
Ich erinnere Sie daran, dass Sie vor der Wahl im Zusammenhang mit der Eigenheimzulage von einer gesellschaftspolitischen Aufgabe gesprochen haben. Sie haben
dieser Zulage einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert gegeben. Was ist jetzt? Es gibt eine erneute Kürzung, nachdem Sie schon in der letzten Legislaturperiode
gekürzt haben. Diese Kürzung jetzt bedeutet praktisch das
Aus. Privaten Bauherren wird jeglicher Investitionsreiz
genommen. Es ist ein Tiefschlag gegen die Bauwirtschaft
ohnegleichen. Dabei liegt der Wohnungsbau ohnehin
schon am Boden und die Beschäftigtenzahl in diesem Bereich geht nach unten. Allein in diesem Jahr ist da mit einem Verlust von 60 000 Jobs zu rechnen.
({17})
Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer ohnehin
schon schlechten Lage des Mittelstandes. Völlig zu Recht
ist die geringe Eigenkapitalquote des Mittelstands - sie
liegt zum Teil unter 5 Prozent - angesprochen worden.
Für den Mittelstand gilt aber noch etwas anderes: Der
Mittelstand arbeitet immens personalintensiv. Dort sind
die meisten Menschen in Brot und Arbeit. Wenn Sie die
Arbeit teurer machen, indem Sie die Sozialversicherungsbeiträge nach oben schrauben, wie im Koalitionsvertrag
geplant, und die Lohnnebenkosten erhöhen, dann - das
wissen Sie genau - führt das zu einer zusätzlichen Belastung in dem Bereich, die viele Betriebe in der Zukunft
nicht mehr werden tragen können.
Es drohen Insolvenzen und das wissen Sie. Wenn man
schon weiß, dass Insolvenzen drohen, dann muss man
eine Wirtschaftspolitik machen, die das verhindert, und
darf nicht noch weiter draufsatteln nach dem Motto: Na
ja, wenn es noch ein paar Insolvenzen mehr werden, dann
macht das auch nichts. - Das ist Ihre Politik. Das ist eine
falsche Politik.
({18})
Allein durch die Pleitewelle in diesem Jahr haben
310 000 Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Daran
hängen Schicksale. Daran hängen Familien. Das muss
man bedenken, wenn man Gesetze auf den Weg bringt.
Ihre Koalitionsvereinbarung könnte man als eine ganz
große Tarnkappe bezeichnen. Sie tarnen Steuererhöhungen als Sparmaßnahmen, aber Sie sparen nicht. Statt zu
sparen machen Sie genau das Gegenteil. Sie betreiben
eine massive Verschuldungspolitik - weg von Ihrem so
genannten Konsolidierungspfad, den Sie immer so sehr
proklamiert haben. Dabei ist es doch notwendig, unser
Land mit Reformen fit zu machen. Jetzt haben Sie die
Chance dazu. Wann hat man die beste Chance, Reformen
anzugehen? Das ist doch am Anfang und nicht am Ende
einer Legislaturperiode der Fall. Sie dagegen erwecken
die längst begrabene Politik des Deficitspending zum Leben. Hallo, Lafontaine ist wieder da - na, wunderbar! Ich
frage mich, warum Sie ihn nicht gleich in Ihr Kabinett geholt haben.
Die staatlichen Ausgabenprogramme, die Sie jetzt
auf den Weg bringen, zeugen wirklich nicht von einem
wirtschaftspolitischen Neuanfang. Ihre Politik orientiert
sich - wie alles, was Sie bisher angepackt haben - ganz
einfach an dem Motto: Nach mir die Sintflut!
({19})
Glauben Sie denn wirklich allen Ernstes, dass die
Schornsteine wieder rauchen werden, wenn man dem
Wirtschaftskreislauf ein paar Finanzmittel zuführt? So
geht es wirklich nicht. Hinter Ihrem Vorgehen steht der für
Sie typische Glaube an die Allmacht des Staates.
({20})
Sie schaffen kein Wachstum, indem Sie den Menschen
und den Betrieben mehr Geld aus der Tasche ziehen, neue
Schulden machen und die „Maastricht-Latte“ reißen.
({21})
Sie dürfen die Leistungsträger in diesem Land nicht
verprellen; vielmehr sollten Sie darüber nachdenken, wie
wir das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen, damit
es wieder zu den notwendigen Investitionen kommt. Ich
habe bereits angesprochen, wie wichtig psychologische
Faktoren in der Wirtschaftspolitik sind. Verlässlichkeit
spielt zum Beispiel eine große Rolle. Ein Unternehmer
will sich auf die Gesetzgebung verlassen können.
Wachstum und mehr Arbeitsplätze schaffen wir nur
durch kreatives Sparen, durch eine Entriegelung des Arbeitsmarktes und durch steuerliche Entlastungen. Der
Mittelstand braucht Luft zum Atmen:
({22})
ein modifiziertes Günstigkeitsprinzip, ein modernes Kündigungsrecht, bei dem die Lage von Problemgruppen mit
bedacht ist - ich erinnere an ältere Arbeitslose und Langzeitarbeitslose, die auf dem Arbeitsmarkt wirklich keine
guten Chancen haben.
Darüber hinaus brauchen wir die Öffnung des Niedriglohnsektors. Hören Sie doch auf mit dem Alibigesetz,
das Sie zur Erleichterung der Beschäftigung von Haushaltshilfen auf den Weg bringen wollen! Das sind doch
Peanuts, das ist doch ein Tropfen auf den heißen Stein.
Es handelt sich nur um eine Neuregulierung. Neue
Streichfälle sind vorprogrammiert. Wir brauchen einen
Niedriglohnsektor auf breiter Basis.
Wir müssen zum Abbau von Einstellungshemmnissen
kommen. Wir müssen dafür sorgen, dass wieder investiert
wird; denn nur so werden auch zukünftig neue Jobs entstehen. Das Wichtigste ist: Wir brauchen eine neue Wirtschaftsdynamik, Herr Stiegler, und keinen neuen Messias
à la Hartz. Ich sage ganz offen, wie es ist: Von Hartz ist
hier ja nur noch in der Form die Rede, dass man ankündigt, die von ihm aufgestellten Forderungen im Verhältnis
eins zu eins in die Praxis umzusetzen. Sein Papier wird
hier als Bibel für den Arbeitsmarkt dargestellt. Das Ende
der Massenarbeitslosigkeit wird verkündet. Was hier abläuft, ist doch ein Riesenbluff. Es wird kein Wunder geschehen und es werden keine Jobs vom Himmel herunterregnen. Das wissen Sie ganz genau. Die Umsetzung
dieses Konzepts wird bei weitem nicht das erfüllen, was
Sie versprechen.
({23})
Es gibt einen ganz unverdächtigen Zeugen, nämlich
Wilhelm Schickler. Von ihm kommt die Idee der Personalserviceagenturen. Er, der Präsident des Landesarbeitsamtes Hessen, rechnet mit einer Vermittlung von bestenfalls 375 000 Menschen, und zwar innerhalb von
fünf Jahren.
({24})
Was verspricht Hartz? Die Vermittlung von 520 000 Menschen, und das pro Jahr. Ich stelle mir schon die Frage, wie
er auf diese Zahl kommt. Diese Wunderwaffe wird nicht
funktionieren.
({25})
Das Hartz-Konzept hat einen Geburtsfehler: Es bekämpft die Symptome und nicht die Ursachen. Durch eine
Vermittlungsoffensive allein kann der Arbeitsmarkt nicht
gesunden. Zwei Drittel der Arbeitslosigkeit sind strukturell bedingt. Da helfen nur Strukturreformen. Sie müssen
den Mut und die Kraft haben, diese Reformen anzugehen.
Haben Sie doch endlich den Mut, das zu tun, was die Menschen erwarten!
({26})
Es hilft nur eine Reform des Arbeitsrechts, die zur Entbürokratisierung führt. Das wissen Sie auch.
Wir brauchen nicht nur Jobvermittler, sondern auch
Jobschaffer. Das sind nun einmal die kleinen und mittleren Unternehmen. Sie vergraulen durch höhere Steuern
und höhere Abgaben geradezu die vielen kleinen Leistungsträger in unserem Land, also diejenigen, die hier
Arbeitsplätze schaffen wollen. Das Herbstgutachten bestätigt das. Es heißt dort:
Die Vorschläge der Hartz-Kommission können die
hoch gesteckten Erwartungen auf eine rasche Entlastung am Arbeitsmarkt nicht erfüllen. Sie können eine
ursachengerechte Therapie nicht ersetzen.
Das sagt nicht die Opposition, das entstammt dem Herbstgutachten.
Herr Clement, ich glaube, es nützt auch nichts, wenn
Sie den Gutachtern vorwerfen, sie verstünden nicht, wovon sie reden.
({27})
Ich habe das Gefühl, dass diese rot-grüne Regierung
selbst nicht weiß, was sie redet, und vor allem nicht weiß,
was sie tut. Was Sie hier als neuen Fahrplan für Ihre
zweite Amtszeit vorlegen, das ist dilettantisch, das ist
konfus, das ist konzeptionslos. Sie versuchen zu galoppieren, aber Sie galoppieren leider in die falsche Richtung. Denn Ihre Richtung heißt - auch wenn Sie es hundertmal anders beteuern -: abwärts. Sie können sich ja
ruhig abwärts bewegen, aber Sie reißen leider andere mit.
Deshalb ist das ein Problem, das uns alle hier im Hause
angeht. Dagegen werden wir uns wehren.
Vielen Dank.
({28})
Das Wort hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entschuldigen Sie, liebe Kollegin Wöhrl, aber angesichts der Vielzahl der von Ihnen schräg angesprochenen Themen und
angesichts des Kompliments, das Sie uns am Ende erteilt
haben, wir würden eine wirre und konfuse Politik betreiben, muss man wohl sagen: Das war eine echte „WöhrlPool-Rede“, die Sie gerade gehalten haben.
({0})
Ich bin im Gegensatz zu Ihnen der Auffassung, dass der
neue Wirtschafts- und Arbeitsminister mit seiner Einstiegsrede schon eine Kostprobe für mehr Wirtschaftsdynamik und politischen Führungswillen geliefert hat.
Möglicherweise hat Ihr Kollege Merz das phonetisch
falsch verstanden. Herr Clement hat nicht von „Wermut“,
sondern von „mehr Mut“ gesprochen. Merz ist ja ein
Mutexperte, er hat ein Buch geschrieben: „Mut zur Zukunft“. Mut ohne Handlungskonzept führt allerdings in
die Abenteuerliteratur.
Es ist schwierig, wenn wir unterschiedliche Wahrnehmungen schon bei der Ausgangslage haben. Dann ist die
Diskussion schräg und wird unredlich. Ich empfehle Ihnen,
sich den IfW-Bericht noch einmal genau anzuschauen.
Dort wird eben nicht von einer Rezession gesprochen, sondern von einer „fragilen Konjunkturerholung“ - aufgrund
all der Umstände, die in der Weltwirtschaft zu verzeichnen sind: Börseneinbrüche, restriktive Kreditlinien bei
den Banken und dergleichen mehr. Dagegen ist von den
Strukturdefiziten, die man natürlich auch in Deutschland
feststellen kann, nicht allein die Rede. Wer das nicht
glaubt, möge sich die Expertise von EU-Kommissar
Pedro Solbes anschauen. Dort werden ähnliche Feststellungen getroffen.
Ich sage Ihnen gleich zu Anfang - weil Angela Merkel
in ihrer gestrigen Rede die Wiederentdeckung des Politischen gepriesen hat -: Ich würde mich freuen, wenn es
auch zur Wiedererweckung der Mitverantwortung käme.
Bislang tun Sie so, als sei nach vier Jahren Rot-Grün alles
im Argen und hätten Sie im Grunde genommen mit all
dem, was bisher passiert ist, nichts zu tun.
Wir würden in einer solch schwachen Konjunkturphase sehr gern antizyklische Wirtschaftspolitik betreiben - wenn uns nicht ein so massiver Schuldenberg hinterlassen worden wäre, wenn wir nicht im Zuge der
deutschen Einheit diesen exorbitanten Anstieg der Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent, wo im Grunde die gesamten Kosten der deutschen Einheit versteckt sind, zu
verzeichnen gehabt hätten. - Sie schütteln den Kopf, aber
es ist leider so: Sie haben die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung im Zuge der deutschen Einheit erhöht.
({1})
Wie schwierig es ist, angesichts des demographischen
Wandels davon herunterzukommen, haben wir in den
letzten vier Jahren erlebt. Die Lohnnebenkosten sind
leicht zurückgegangen. Aber wir haben längst nicht das
Ziel erreicht, das wir uns vorgenommen hatten.
Im Übrigen belegt auch der Ifo-Geschäftsklimaindex,
dass der mangelnde Optimismus der Unternehmen nicht
auf die rot-grüne Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist,
sondern auf die weltweit unsichere Situation, auf die weltpolitischen Unsicherheiten und möglicherweise auch auf
die bereits getätigten Investitionen. Es gibt also eine Investitionszurückhaltung, einen Attentismus, der uns zu
schaffen macht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken?
Aber gern, bitte.
Bitte schön.
({0})
Schade, dass ich diese nicht mehr habe, sonst würde ich
sie noch einmal überreichen. Leider ist es wahr, dass wir
immer noch Schlusslicht sind.
Herr Kollege Schulz, lassen Sie mich Ihnen ganz kurz
eine Frage stellen. Sie haben genauso wie Kollege
Stiegler darauf verwiesen, dass die wirtschaftlichen Probleme, die wir haben, ihre Ursache vor allen Dingen in
weltwirtschaftlichen Faktoren haben. Worauf führen Sie
es denn zurück, dass zum Beispiel in Italien das Wirtschaftswachstum dreimal so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich viermal so hoch, in
Großbritannien fünfmal so hoch und in Irland zehnmal so
hoch ist? Ist es vielleicht darauf zurückzuführen, dass man
dort konservative bzw. liberale Regierungen und nicht
eine sozialistische Regierung wie in der Bundesrepublik
Deutschland hat?
({0})
Kollege Hinsken, Sie sind, soweit ich mich zurückerinnern kann, mindestens genauso lange wie ich im
Werner Schulz ({0})
Parlament. Sie dürften mitbekommen haben, dass wir die
deutsche Einheit zu schultern hatten. Schauen Sie sich
einmal die diesbezügliche Analyse von Pedro Solbes an:
Ein Rückgang des Wachstums um 0,5 Prozent ist allein
auf die Transferleistungen in den Osten zurückzuführen.
({1})
Wir transferieren etwa 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Jahr für Jahr in den Osten. Das wird angesichts des
Solidarpaktes so bleiben. Weitere 0,5 Prozent Wachstumsschwäche sind aufgrund der Überkapazitäten in der
Bauindustrie entstanden. Wir haben tatsächlich hausgemachte Probleme. Die haben aber Sie geschaffen,
({2})
indem Sie die Erwartung geweckt haben, dass ein zweites
Wirtschaftswunder eintreten würde. Das ist aber nicht eingetreten. Das tut mir furchtbar Leid. Nur ein Drittel unserer Probleme sind schließlich tatsächlich auf Strukturprobleme zurückzuführen, die aber auch nicht erst in den
letzten vier Jahren entstanden sind. Sie könnten berechtigterweise höchstens sagen, dass wir es in den letzten vier
Jahren noch nicht geschafft haben, diese verkrusteten
Strukturen aufzubrechen. Gerade deswegen gehen wir ja
- das unterscheidet uns von Ihnen - Strukturreformen auf
dem Arbeitsmarkt an. Das Hartz-Konzept gibt eine Antwort auf die Frage, wie es gehen könnte und was gemacht
werden muss.
Sie aber setzen nach wie vor, wenn ich das, was Sie im
Wahlkampf geboten haben, richtig einschätze, auf ein uneingeschränktes Wachstum, das durch Steuersenkungen
herbeigeführt werden könne. Das allein ist es nicht, lieber
Kollege, aber bitte schön.
({3})
Angela Merkel hat gestern die Frage gestellt, wie denn
in dieser schwierigen Situation Wachstum in Deutschland
generiert werden kann. Wenn Sie sich den Koalitionsvertrag genau durchlesen, werden Sie Antworten auf
diese Frage finden: So wollen wir die kommunale Investitionskraft im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und der Gemeindefinanzreform wieder stärken.
Wir werden möglicherweise eine Freibetragsgrenze, ab
der die Mindestbesteuerung greift, für kleine und mittlere
Unternehmen ansetzen, um ihnen eine stärkere Investitionstätigkeit zu ermöglichen.
({4})
Wir werden die Grenze für steuerfreie Einkünfte durch
Minijobs zumindest bei den haushaltsnahen Dienstleistungen auf 500 Euro anheben.
({5})
Es ist vorgesehen, das dann, wenn wir dadurch Schwarzarbeit eindämmen und die Grauzone an illegalen Tätigkeiten verringern können, auf andere Branchen auszuweiten.
({6})
Das steht, bitte schön, eindeutig als Option im Koalitionsvertrag.
Wir werden auch weiter Subventionen abbauen, auch
wenn hier einige mit den Zähnen klappern werden. Ich
denke nämlich, dass die nationalen Energiereserven in
Deutschland nicht unter der Erde zu finden sind, sondern
eher am internationalen Himmel in Form von Solarenergie zu suchen sind.
({7})
- Das weiß auch Herr Clement. Er ist einer derjenigen
- das sei zu Ihrer Ernüchterung an dieser Stelle gesagt -,
der den entsprechenden Strukturwandel in NordrheinWestfalen vorangetrieben hat. Dass es nicht einfach ist, in
einer traditionellen Bergbauregion eine moderne Industriestruktur aufzubauen, das zeigen die Versuche, die dort
mit mehr oder weniger Erfolg angestellt wurden.
Wir aber werden - das sage ich ganz klar - nicht alleine
auf Wachstum setzen können, weil das Wachstum, das
einmal die Lösung für alle Probleme bringen sollte, selbst
zum Problem geworden ist. Wachstum muss künftig mit
weniger Energie- und Rohstoffverbrauch einhergehen.
Wissenschaftler sprechen von Faktor 4 oder gar Faktor 10;
Wachstum sollte also mit nur einem Viertel der Energie,
die bisher dafür nötig ist, auskommen.
Wir müssen bei der Ressourcenproduktivität einen
ähnlichen Entwicklungsfortschritt erreichen wie bei der
Arbeitsproduktivität. Das wird die große Aufgabe für unser Land in diesem Jahrhundert sein. Das ist der ökologische Strukturwandel, die ökologische Modernisierung.
Darauf haben wir gesetzt. Hier entstehen die neuen
Arbeitsplätze. Hier haben wir in den letzten Jahren eine
Erfolgsgeschichte geschrieben. Und wie Sie von Erfolgsgeschichten nicht erst seit Harry Potter wissen, sollte so
etwas fortgesetzt werden. Daran werden wir arbeiten. Leider habe ich keine Redezeit mehr. Bei anderen Gelegenheiten werde ich Ihnen noch mehr Kapitel dieser Erfolgsgeschichte hier präsentieren.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Herr Minister Clement, heute Morgen prangerten
Sie den Zukunftspessimismus an und wünschten sich gerade auch in diesem Parlament mehr Aufbruchstimmung.
Was steckt hinter diesen beiden Begriffen? Ich nenne das
Signal, das von der Koalitionsvereinbarung in Sachen
Wirtschaftspolitik ausgeht, Zukunftspessimismus, wenn
Sie beim Problemfeld Mittelstand mit 17 Milliarden
Euro Steuerbelastungen, die es insgesamt sein werden,
starten. Das erklärt sich de facto aus den Festlegungen in
dem Koalitionsvertrag zur Verschiebung der nächsten
Stufe der Steuerreform und zur Erhöhung der Ökosteuer.
Das nenne ich ein Signal für Wirtschaftspessimismus.
Was wäre ein optimistisches Signal? Das wäre eine
gerade für den Mittelstand spürbare Steuer- und Abgabenentlastung.
({0})
Warum sollte dies so sein? Den mittelständischen Unternehmen geht es heute auch deshalb schlecht, weil sie
Schwierigkeiten haben, Eigenkapital aufzubauen. Warum
können sie das nicht? Sie bräuchten das Signal der Steuerentlastung, das heißt, Gewinne, die sie erzielen, dürften
nicht in hohem Maße weggesteuert werden, sondern es
müsste ihnen von dem, was sie erarbeiten, mehr bleiben.
Herr Clement, ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute
Morgen auch etwas zum Thema Eigenkapitalquote
gesagt hätten. Zurzeit liegt die Eigenkapitalquote bei vielen Unternehmen insbesondere in der Handelsbranche bei
unter 10 Prozent. Es gibt - das ist eine wirkliche Signalmeldung - Problembranchen, in denen die Eigenkapitalquote sogar nur 2 bis 5 Prozent beträgt. Diese Firmen
brauchen einfach ein Signal der Entlastung und nicht
eines der Belastung.
({1})
Bei der Darstellung Ihres Zukunftsentwurfs fehlte das
Thema Subventionsabbau völlig. Wir beide kommen ja
aus Nordrhein-Westfalen. Insofern hätte ich mir in Sachen
Abbau der Subventionen für den Steinkohlebergbau
schon einen mutigen Schritt nach vorn gewünscht.
({2})
Stattdessen sind hier für die Zeit von 2002 bis 2005 noch
einmal circa 12 Milliarden Euro an Subventionen vorgesehen.
({3})
- Ja, das geht runter, aber es wäre gut gewesen, Herr
Clement, wenn Sie neue Verhandlungen aufgenommen
hätten mit dem Ziel, hier zu einem Schluss zu kommen
und statt in eine Technologie der Vergangenheit besser in
die Zukunft zu investieren.
Überhaupt nicht erwähnt haben Sie auch das Thema
Privatisierung.
({4})
Die Privatisierung von Post und Bahn wären Potenziale,
die wir in diesem Zusammenhang ausschöpfen könnten.
Jetzt beziehe ich mich noch einmal auf Nordrhein-Westfalen: Herr Minister Clement, es wäre auch ein gutes Signal gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass es notwendig
sei, auch öffentliche Aufgaben zu privatisieren. Gerade in
Nordrhein-Westfalen - das gilt aber auch für andere Bundesländer und für die Bundesebene insgesamt - erleben
wir, dass viele öffentliche Aufgaben von der öffentlichen
Hand erledigt werden, womit dem Mittelstand Konkurrenz gemacht wird. Ich nenne hier als Beispiele die Pflege
von Grünanlagen, eigene Druckereibetriebe, die noch unterhalten werden,
({5})
oder Gebäudeverwaltung. Insbesondere in NordrheinWestfalen verhindert es die geltende Gemeindeordnung,
dass nur dann Eigenbetriebe gegründet werden dürfen,
wenn die öffentliche Hand nachweislich effizienter und
kostengünstiger arbeiten könnte, als dies Private tun. Es
gibt in Deutschland 100 000 Eigenbetriebe, die dem Mittelstand Konkurrenz machen und damit zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Hier den Mittelstand zu stärken
wäre ein besseres Signal gewesen.
Zu einer nötigen Gemeindefinanzreform, die Sie
auch nicht erwähnt haben. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben schon in der letzten Legislaturperiode ein ausgearbeitetes Konzept vorgelegt, in dem wir uns für den
Wegfall der Gewerbesteuer und gegen die Ausweitung
dieser Steuer ausgesprochen haben. Die Gewerbesteuer
ist ja in den anderen europäischen Ländern kaum bekannt.
Sie ist zudem konjunkturabhängig. Wir haben im Hinblick auf die Kommunen eine Erhöhung des Anteils an der
Einkommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen
Hebesatzrecht und eine Erhöhung des Anteils an der Umsatzsteuer vorgeschlagen.
Wir legen Wert darauf, dass eine Gemeindefinanzreform unter Beteiligung der betroffenen Kommunen erarbeitet und dann auf den Weg gebracht wird. Das sollte
nicht über ihren Kopf hinweg geschehen.
Die Bürokratielasten zu minimieren ist ein hervorragender Ansatz. Mein Kollege Rainer Brüderle hat vor
kurzem einen sehr guten Antrag eingebracht, in dem er
darstellt, dass zum Beispiel Umsatzsteuervoranmeldungen künftig nicht mehr jeden Monat, sondern alle drei
Monate erstellt werden und dass wir auf die jährliche Umsatzsteuermeldung verzichten könnten. Das mache bei
18 Millionen derzeitigen Umsatzsteuermeldungen nur
noch 6 Millionen, koste den Bund kein Geld und trage erheblich dazu bei, dass hier weniger Bürokratie bestehe.
Zu meinem letzten Punkt. Sehr geehrter Herr Minister
Clement, vielleicht können Sie sich mit dem Vorhaben der
FDP-Bundestagsfraktion anfreunden, wenn wir folgenden Antrag noch einmal einbringen: Wir haben gefordert,
einen Gesetzes-TÜV einzuführen, das heißt, zu fragen,
ob Gesetze nach Ablauf einer bestimmten Frist, zum Beispiel nach fünf Jahren, noch nötig sind. Das Parlament
müsste sich dann im Rahmen eines solchen GesetzesTÜVs rechtfertigen, ob ein Gesetz noch nötig ist oder abgeschafft werden kann. Wir wollen hier zu einer Automatisierung kommen und erreichen, mit weniger Gesetzen
und Verordnungen - und nicht mit immer mehr - auszukommen. Denn neben der hohen Kostenbelastung ist es
gerade die Bürokratie, die den Mittelstand stranguliert.
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss. - 30 Milliarden Euro beträgt
der Umfang an Bürokratielasten, die gerade der Mittelstand zu tragen hat.
Haben Sie Mut! Packen Sie Reformen an, auch wenn
die dafür notwendigen, hervorragenden Anträge von der
FDP-Bundestagsfraktion kommen!
Danke schön.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Wend für
die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Merz, vielen Dank - so viel Zeit muss sein - für
Ihre Fürsorglichkeit gegenüber der SPD-Fraktion im Zusammenhang mit Ministerernennungen. Wir wissen diese
Fürsorglichkeit sehr zu schätzen. Sie rührt uns deshalb so
besonders an, weil sie von einem Mann kommt, der am
besten weiß, wie es ist, wenn persönliche Blütenträume
nicht in Erfüllung gehen.
({0})
Lassen Sie mich aber in der Sache auf folgende zwei
Probleme hinweisen. Ich weiß - das ist an unsere Adresse
gerichtet -, wie schwierig es sein wird, zwei Dinge - und
dann auch noch gleichzeitig - in den Griff zu bekommen.
Das eine ist das Thema Haushaltskonsolidierung, das andere der Versuch, gleichzeitig im Rahmen unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu setzen. Ist es überhaupt möglich, in einer
solchen Situation, in der wir uns jetzt befinden, diese beiden Ziele, die Haushaltskonsolidierung und das Setzen
von Impulsen für Wachstum, miteinander zu verbinden?
Ich beginne mit der Thematik „Bekämpfung des
strukturellen Haushaltsdefizits“. Ich glaube, unter uns
ist unstreitig, dass wir uns dies vornehmen müssen, übrigens auch aus ökonomischen Gründen. Denn dauerhaft
niedrige Zinsen sind Voraussetzung für Wachstum und
Beschäftigung. Wir müssen es natürlich auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit tun.
In diesem Zusammenhang hat uns Frau Merkel gestern
vorgeworfen, wir würden bei der Haushaltskonsolidierung Vermieter, Mieter, Häuslebauer, Unternehmer, Arbeitnehmer und Arbeitslose belasten. Die bittere Wahrheit
ist: All das stimmt; das werden wir tun müssen. Deswegen habe ich drei Bemerkungen in Richtung CDU/CSU.
({1})
Erste Bemerkung. Sie haben im Wahlkampf und auch
heute in Person von Herrn Merz vorgeschlagen, die
Staatsquote auf 40 Prozent zu reduzieren. Das bedeutet,
dass der Staat jedes Jahr etwa 170 Milliarden Euro weniger ausgeben müsste als bisher.
({2})
Das ist weit mehr als das Zehnfache des Betrages, den wir
im Rahmen der Haushaltskonsolidierung einsparen wollen, was mit schmerzhaften Maßnahmen für viele Bürgerinnen und Bürger verbunden ist. Deswegen frage ich Sie:
Wie wollen Sie es schaffen, nicht nur den Konsolidierungsbetrag, den wir anstreben, sondern die von Ihnen genannten 170 Milliarden Euro jährlich einzusparen, ohne
gleichzeitig die Menschen in diesem Land zu belasten?
Mir ist es ein Rätsel, wie Sie das schaffen wollen.
({3})
Die zweite Bemerkung. Ja, es ist wahr, wir werden
ganz vielen Menschen - beispielsweise Unternehmern,
Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Vermietern und Mietern etwas zumuten müssen. Glauben Sie uns: Die Menschen
wissen, dass sich in diesem Lande etwas bewegen muss
und dass jede und jeder Einzelne seinen Beitrag dazu leisten muss. Jeder Leitartikler macht es sich zu leicht, wenn
er auf der einen Seite schreibt, dass durch unser Land ein
Ruck gehen muss und dass jeder seinen Beitrag dazu leisten muss, damit in diesem Land etwas bewegt werden
kann. Wenn es aber konkret wird und die Konsolidierungsmaßnahmen auf dem Tisch liegen, sodass man sehen
kann, an welcher Stelle jeder Einzelne belastet wird, dann
zieht man auf der anderen Seite regelmäßig den Schwanz
ein und schreibt, dass diese Maßnahmen falsch seien. Damit erzeugt man bei den Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, als ginge eine Haushaltskonsolidierung ohne Einschnitte und ohne Belastung der Menschen vonstatten.
Wer so redet, der sagt den Menschen in unserem Land
nicht die Wahrheit. Auch das muss ich Ihnen vorwerfen.
({4})
Die dritte Bemerkung. Vielleicht täusche ich mich und
Sie schaffen es, 170 Milliarden Euro weniger auszugeben
und gleichzeitig keinen einzigen Menschen in unserer
Gesellschaft zu belasten. Dann haben Sie den Nobelpreis
für Wirtschaft verdient.
({5})
Aber Sie konnten in diesem Hause noch nicht einmal eine
einzige Maßnahme nennen, mit der Sie auch nur einen
Bruchteil dieser 170 Milliarden Euro, die Sie als Einsparpotenzial bezeichnen, einsparen. Dazu ist heute Morgen
aus Ihrem Munde nichts, aber auch gar nichts gekommen.
({6})
Ich sage, dass Einsparungen, auch bittere Einsparungen, sein müssen.
({7})
Gleichzeitig aber müssen wir Impulse für Wachstum und
Beschäftigung setzen. Der neue Minister hat einige interessante Maßnahmen genannt, was die Mittelstandsförderung angeht. Ich nenne als Stichwort „Entbürokratisierung“. Warum kommen wir mit der Entbürokratisierung
nicht genügend voran?
Ich weiß, wie schwierig es ist, in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen. Daher habe ich in diesem Zusammenhang eine Bitte an die Opposition. Wenn von Entbürokratisierung die Rede ist, dann beschränken Sie sich
bitte nicht auf die Wiederholung der immer gleichen Phrasen wie Einschränkung der Betriebsverfassung, der Tarifautonomie und der Teilzeitarbeit.
({8})
Bekämpfung der Bürokratie heißt für die SPD nicht
Bekämpfung von Arbeitnehmerrechten.
({9})
Das muss Ihnen klar sein. Wir haben schon die Erwartung,
dass Sie mitarbeiten, wenn es um die Frage geht, wie wir
Genehmigungsfristen und die Zeitdauer, die die Institutionen für Entscheidungen brauchen, verkürzen können
und wie wir Mehrfachprüfungen von Behörden einschränken und verhindern können. All das sind schwierige Aufgaben, denen wir uns zu stellen haben.
Man kann sich über viele Punkte in der Rede von Frau
Kopp streiten. Aber ich bin ihr dankbar, dass sie ein paar
Anregungen für die Bekämpfung der Bürokratie gegeben
hat, die wir aus meiner Sicht in die Prüfung einbeziehen
sollten.
Meine Damen und Herren, ich will sagen: Wir wissen,
wie schwierig diese Aufgabe ist. Wir werden die Aufgaben nicht schultern können, wenn wir nur sagen, was
nicht geht. Wir werden sie aber schultern können, wenn
wir den Menschen sagen, was geht, und uns dabei auf unsere Stärken stützen. Wir haben eine starke Exportwirtschaft und sind ein attraktives Land für ausländische Investoren.
({10})
Wir nehmen nach wie vor Spitzenstellungen in unseren
angestammten Märkten ein und erobern neue Märkte. Unsere Forscher und Erfinder melden immer mehr Patente
an, inzwischen sind wir bei diesem Thema wieder Weltspitze. Das sind unsere Stärken, darauf wollen wir unsere
Reformen aufbauen, damit ein Wettstreit um die besten
Ideen entstehen kann.
Beteiligen Sie sich an diesem Wettstreit und kommen
Sie aus der Ecke der Gemütskrankheit heraus, wenn es um
die Beschreibung unseres Landes geht.
({11})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Karl-Josef
Laumann für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In den letzten vier Jahren wurden uns
von Rot-Grün im Bundestag schon viele Superprogramme zum Abbau der Arbeitslosigkeit vorgestellt. Zu
Beginn der letzten Wahlperiode war es das so genannte
JUMP-Programm, das alle unsere Probleme auf dem Ausbildungsmarkt lösen sollte. Dann war es das Job-AQTIVGesetz, danach die Umgestaltung der Bundesanstalt für
Arbeit und es hieß, allein Herr Gerster sei Garant dafür,
dass es auf dem Arbeitsmarkt weitergeht.
Tatsache ist: Rot-Grün ist es in der letzten Wahlperiode
gelungen, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei gut
4 Millionen Menschen zu stabilisieren. Nach dem, was
ich gestern und heute Morgen gehört und in Ihrem Koalitionsvertrag gelesen habe, befürchte ich, dass Sie in der
vor uns liegenden Wahlperiode das Ziel, die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau zu stabilisieren, glatt erreichen
werden.
Das Problem ist doch, dass Ihre Koalitionsvereinbarung zu einem großen Vertrauensverlust unter den arbeitenden Menschen führt, und zwar egal ob sie selbstständig oder als Arbeitnehmer tätig sind. Denn Sie haben in
Ihrer Koalitionsvereinbarung schlicht und ergreifend eine
weitere Verteuerung des Faktors Arbeit vorgeschlagen
und öffnen die Schere zwischen Brutto- und Nettolöhnen
in weiten Bereichen der Beschäftigten immer weiter.
({0})
Das führt dazu, dass die Inlandsnachfrage abnimmt.
Man muss sich nur einmal die schlechten Einschätzungen
der Institute bezüglich der Konjunkturaussichten des Einzelhandels ansehen. Die allermeisten Einzelhändler quer
durch Deutschland sagen Schlimmes voraus.
Sie müssen aufpassen, dass Sie durch die Veränderungen bei der Eigenheimzulage nicht in der Bauwirtschaft
mehr Arbeitsplätze verlieren, als Sie durch die Umsetzung
der Vorschläge der Hartz-Kommission auf der anderen
Seite überhaupt wieder gewinnen können.
({1})
Ich vertrete einen ländlichen Wahlkreis. Ich kann Ihnen
sagen, was in den Rathäusern meines Wahlkreises los ist:
Die Leute kommen ins Rathaus und sagen: Bitte, Herr
Bürgermeister, sorgen Sie dafür, dass ich noch vor Weihnachten irgendwo ein Baugrundstück in Ihrer Gemeinde
bekomme; ich muss den Bauantrag noch in diesem Jahr
stellen, weil ich ansonsten nicht mehr bauen kann. - Sie
müssen darauf achten, dass Sie am Ende nicht mehr kaputtschlagen als Sie durch großartige Reden aufzubauen
versuchen.
Wissen Sie, was Ihre Stärke ist? Sie können in neudeutschem Beraterslang mit neuen Ausdrücken Gewaltiges
ankündigen. Da ist die Rede vom neuen Bridgesystem.
Manch einer wird sich gefragt haben: Ist das ein neues
Kartenspiel aus Wolfsburg? Aber altdeutsch ausgedrückt
ist das Bridgesystem eigentlich nichts anderes, als dass
55-jährigen Arbeitslosen in den Personal-Service-Agenturen die Möglichkeit zum Ausstieg gegeben werden soll.
Anschließend würden sie in keiner Statistik mehr stehen,
obwohl niemand in Beschäftigung gekommen ist.
({2})
Da ist die Rede vom Jobfloater. Man kann sich fragen:
Sind das schwimmende Arbeitsplätze? Dabei geht es um
riesige Subventionen für Arbeitsplätze.
Dann kommt die Ich-AG: der Sohnemann als Hausmeister und vielleicht die Mutti als Aufsichtsratsvorsitzende.
({3})
Na ja. Auf jeden Fall ist es komisch, dass auf der einen
Seite Herr Eichel, Herr Schröder und Herr Clement die
menschliche Arbeit in Deutschland durch ihre Koalitionsvereinbarung wieder verteuern und Sie auf der anderen
Seite auf bestimmten Feldern riesige Subventionen geben,
um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern und Beschäftigung bezahlbar zu machen. Worin der Sinn dabei
liegen soll, bleibt zumindest mir bis heute verschlossen.
({4})
- Darauf komme ich noch.
Herr Clement, ich wünsche Ihnen für die Erfüllung Ihrer Aufgabe, einen Beitrag zur Absenkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland zu leisten, viel Glück. Ich hoffe,
dass sich durch die Zusammenführung von Wirtschaft
und Arbeit in einem Ressort und auch in einem Bundestagsausschuss Gegensätze zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik, die uns bisher vielleicht ein bisschen
gelähmt haben, politisch besser klären lassen, als dies in
der Vergangenheit der Fall war.
Aber angesichts dessen, was Sie sich in NordrheinWestfalen alles vorgenommen und nicht eingehalten haben, sollte man zumindest sehr kritisch beobachten, ob es
Ihnen gelingen wird, die Messlatte, die Sie sich selbst gelegt haben, zu erreichen. Ich weiß nur, dass Sie im Jahre
2000 in Nordrhein-Westfalen erklärt haben: Wir wollen
die Arbeitslosigkeit in den kommenden fünf Jahren deutlich senken. Damals haben Sie gesagt: Untersuchungen
zeigen uns, es sei möglich, die Arbeitslosigkeit innerhalb
von fünf Jahren landesweit auf unter 500 000, also auf
etwa 6 Prozent, zu drücken. Als Sie dies gesagt haben,
hatten wir in Nordrhein-Westfalen 760 000 arbeitslose
Menschen. Heute haben wir 800 000.
({5})
Jetzt zurück zu Hartz: Aus meiner Sicht gibt es einige
Hartz-Vorschläge, die vernünftig sind.
({6})
Diese betreffen die schnellere Vermittlung von Arbeitlosen, die Reformschritte bei der Organisation der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und zumindest im Grundsatz die Zusammenführung bzw. Angleichung von Sozialund Arbeitslosenhilfe.
Bevor wir jetzt über weitere Bestandteile des HartzKonzepts sprechen, möchte ich etwas zu diesem Politikspiel sagen.
({7})
Es ist schon komisch, dass bei einem Skandal betreffend
die Bundesanstalt für Arbeit der zuständige Minister kaltgestellt wird, eine Kommission einberufen wird und dann
hier im Bundestag von der Bundesregierung gesagt wird,
dass das, was dort erarbeitet worden ist, 1 : 1 umgesetzt
wird.
Ich möchte auch unseren neuen Ausschussvorsitzenden, Herrn Dr. Wendt, ansprechen.
({8})
Was sollen denn eigentlich Beratungen im Ausschuss,
wenn man das Konzept 1 : 1 umsetzen soll? Dazu kann ich
nur sagen: Wenn wir uns hier nicht weiterhin lächerlich
machen wollen, sorgen Sie im Ausschuss dafür, dass Expertenanhörungen nicht zur reinen Farce werden. Zwischen erster Lesung und der Einladung von Experten
muss so viel Zeit liegen, dass man sich nach Kenntnisnahme des Gesetzentwurfes Gedanken darüber machen
kann, welche Experten man überhaupt einladen möchte.
({9})
Auch die Frist zur Abgabe der Gutachten muss ausreichend lang sein.
({10})
Ich habe schon viele andere Sachen erlebt. Auch nach der
Anhörung der Gutachter müssen wir Zeit haben, um die
Ergebnisse auswerten zu können.
({11})
Ich kann Ihnen nur sagen: Ich halte es für sehr bedenklich, wenn Sie Ihre Mehrheit im Bundestag dazu missbrauchen wollen, im Schweinsgalopp und der Verfassung
sowie der Geschäftsordnung des Parlamentes gerade noch
Genüge tuend etwas im Verhältnis 1 : 1 umzusetzen, was
im nicht parlamentarischen Raum entwickelt worden ist.
Das Hartz-Konzept sagt, dass man mit diesen Vorschlägen die Zahl der Arbeitslosen in den nächsten Jahren
um 2 Millionen Menschen senken kann.
({12})
Wie dies geschehen soll, weiß ich nicht. Herr Clement
sagt: Für das Jahr 2003 prognostiziere ich euch im Jahresdurchschnitt 4,1 Millionen Arbeitslose. - Also bleiben
nur noch die Jahre 2004 und 2005, um dieses Ziel zu erreichen. Dies bedeutet, dass wir jedes Jahr 1 Million Beschäftigte mehr brauchen, die aus der Arbeitslosigkeit in
den Arbeitsmarkt kommen.
Ich glaube, dass Sie versuchen werden, die Statistiken
und Zählweisen zu ändern. Jetzt wollen wir einmal zusammen die Vorschläge durchgehen, die Sie allen Ernstes
unterbreiten. Zum einen sollen die Statistiken an das internationale System angeglichen werden, wodurch schon
einmal 1 Prozent der Arbeitslosen weg wären. Zum anderen wird man die so genannten älteren Arbeitslosen über
das Bridgesystem aus der Vermittlung, aus dem Arbeitsmarkt und damit aus der Statistik herausnehmen.
Ich habe mich gestern bei der Bundesanstalt erkundigt.
Wir haben zurzeit 564 000 Menschen über 55 Jahre in der
Arbeitslosenstatistik. Der Bundeskanzler hat gestern in
seiner Regierungserklärung über die Würde des Alters gesprochen, davon, dass das Rentenalter von 65 Jahren erreicht werden muss und dass wir darüber nachdenken
müssen, wie älter werdende Menschen auf der Höhe ihrer
beruflichen Entwicklung, ihres beruflichen Könnens weiter tätig bleiben können. Gleichzeitig wird hier ein
Bridgesystem vorgeschlagen, das die Herausnahme von
55-jährigen Arbeitslosen aus den Jobcentern vorsieht.
Hartz sagt selber, wegen der demographischen Entwicklung müsse das irgendwann wieder zurückgeführt werden. Das ist nicht mit dem in Einklang zu bringen, was wir
gestern vom Bundeskanzler in dieser Frage gehört haben.
Das sind vor allen Dingen nicht die richtigen Antworten
auf die demographischen Herausforderungen, die in unserem Land nun einmal zu bewältigen sind.
({13})
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen.
Wir schauen sehr kritisch auf die neuen Möglichkeiten
der Zeitarbeitsvermittlung, die die Personal-ServiceAgenturen erhalten sollen. Sehen Sie einmal die andere
Seite: Wir haben in Deutschland 6 000 Zeitarbeitsfirmen,
die im letzten Jahr 800 000 Menschen beschäftigt haben.
250 000 davon sind in den Entleihbetrieben in unbefristete
Arbeitsverhältnisse übernommen worden. Das ist eine gigantische Leistung. Wir wissen alle, dass dieser Integrationsprozess ein wichtiger Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik ist. Das kostet den Staat nichts; denn das wird über
private Firmen geregelt, die damit ihr Geld verdienen und
die den regionalen Arbeitsmarkt oft sehr gut kennen.
Meine Sorge ist, dass jetzt wieder sehr viel Geld und
sehr viel öffentliches Personal bei der Bundesanstalt
benötigt werden, um das zu organisieren, was über die
Zeitarbeitsfirmen schon wunderbar läuft.
Bevor Sie von Rot-Grün diesen Gedanken weiterverfolgen, denken Sie bitte einmal über das Angebot der
deutschen Zeitarbeitsfirmen nach, das der Bundesanstalt
für Arbeit seit einigen Wochen vorliegt. Das Angebot lautet, eine Zertifizierung vorzunehmen, damit die Spreu, die
es in den Firmen vielleicht noch gibt, noch besser vom
Weizen getrennt werden kann. Wenn die Leute nicht entliehen werden können, wollen die Zeitarbeitsfirmen verstärkt Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen anbieten. Denken Sie einmal darüber nach, ob wir nicht mit
einem Beitrag, von den Privaten organisiert, viel weiter
kämen, als es unter Umständen über staatliche oder
halbstaatliche Strukturen möglich wäre. Dadurch könnten
wir im Verwaltungsbereich, in der Bürokratie sehr viel
Geld einsparen.
Bei einem weiteren Punkt fragen wir kritisch nach: der
Ich-AG. Wenn ein arbeitsloser Handwerker seine Arbeitskraft demnächst mit 10 Prozent pauschaler Versteuerung in der Ich-AG anbieten können soll, dann muss man
doch wenigstens überlegen, was das für den Handwerksmeister bedeutet. Nehmen Sie als Beispiel einmal einen
Malermeister mit seinem Gesellen. In diesem Bereich
braucht man keine sehr große Ausstattung. Wie soll dieser Malermeister mit seinem Gesellen, für den er Urlaubsgeld, Krankengeld, 20 Prozent für die Systeme der
sozialen Sicherung bezahlen muss, gegenüber einem zurzeit arbeitslosen ausgebildeten Malergesellen, der seine
Arbeitskraft mit 10 Prozent pauschaler Versteuerung anbieten kann, konkurrenzfähig bleiben?
Diese Frage müssen wir uns stellen, weil die Handwerksmeister uns zu Recht fragen werden, wie sie das
durchhalten können sollen, wie sie mit diesem Konkurrenzdruck fertig werden sollen.
({14})
Es kann doch nicht am Ende so sein, dass der Handwerksmeister seinen Malergesellen entlässt, damit dieser
lange genug arbeitslos sein kann, um eine Ich-AG gründen zu können, und das benötigte Material vielleicht bei
seinem ehemaligen Handwerksmeister kauft.
Da müssen wir also nachdenken, ob diese Entwicklung
richtig sein kann, ob wir sie verantworten und zulassen
können.
Dann schlagen Sie vor, dass für haushaltsnahe
Dienstleistungen 500 Euro mit 10 Prozent Versteuerung
verdient werden dürfen. Sie beschränken das mehrfach:
Die Leute müssen haushaltsnahe Dienstleistungen erbringen und sie müssen vorher arbeitslos sein, sonst gilt diese
Regelung nicht. Warum schaffen Sie eigentlich nicht einen Bereich, in dem unkompliziert Aushilfen organisiert
werden? Diesen dürfen Sie dann nicht auf den Haushaltsbereich beschränken. Folgen Sie doch einfach unserem
Vorschlag eines 400-Euro-Vertrages. Man kann über den
Betrag auch noch einmal reden. Die FDP hat im Wahlkampf 500 Euro vorgeschlagen. Dies sollte dann aber für
alle Branchen gelten und mit 20 Prozent pauschal versteuert werden.
({15})
Dann sind übrigens auch die Einnahmeverluste bei der Sozialversicherung nicht so hoch wie bei nur 10-prozentiger
Besteuerung, wovon 5 Prozent in die Rentenkasse und
5 Prozent in die GKV fließen. Allein bei den Krankenkassen werden wahrscheinlich Einnahmeausfälle in Höhe
von 800 Millionen Euro zu verzeichnen sein. Überlegen
Sie, ob nicht wir den besseren Vorschlag vorgelegt haben.
Lehnen Sie ihn nicht nur einfach deswegen ab, weil er von
uns kommt.
({16})
Ich komme zu einem weiteren Punkt. 50 Prozent der
Arbeitslosen in unserem Land haben keine Berufsausbildung. Wir können uns noch so viel Mühe geben, viele von
ihnen sind nicht in der Lage, mit den Anforderungen der
heutigen Zeit in Sachen Theorie mitzuhalten. Für diese
Menschen brauchen wir einfache Tätigkeiten, und zwar
in allen Branchen. Deswegen lautet unser Vorschlag: Wir
müssen bis zu einer Höhe von 800 oder 900 Euro - die
FDP hat von 1 000 Euro gesprochen - die Sozialversicherungslasten absenken, damit diese Menschen netto
mehr in der Tasche haben als mit Sozialhilfe, um so das
Lohnabstandsgebot zu erfüllen.
({17})
Ist unser Vorschlag wirklich so schlecht? Ich kann nur
sagen: Sie mit Ihren 500-Euro-Jobs im haushaltsnahen
Bereich werden Ihr Ziel nicht erreichen. Denn wie werden
die Menschen reagieren? Die Aushilfe, die heute beim
Gastwirt arbeitet und deren Lohn pauschal mit 20 Prozent
besteuert wird, wird demnächst bei demselben Gastwirt
als Gärtner arbeiten, wird pauschal 10 Prozent an Steuern
zahlen, wird aber im Grunde die gleiche Tätigkeit ausüben. Das werden Sie nicht kontrollieren können.
({18})
Sie werden ähnlich wie bei der Riester-Rente komplizierteste Fördermöglichkeiten entwickeln. Die Menschen
werden mehr darüber nachdenken, wie sie in den Genuss
der Förderung kommen, als etwa darüber nachzudenken,
wie sie sich beruflich weiterentwickeln können, und irgendwelche Geschäftsideen zu entwickeln. Das ist in
sich, wie ich finde, ein falscher Ansatz von Politik.
Ich hoffe, dass wir in den Beratungen bei Ihnen in einigen Punkten Nachdenklichkeit hervorrufen können.
Mir kommt das Hartz-Konzept so vor, als dass es aus der
Sicht eines sicherlich erfahrenen Arbeitsmarktspezialisten eines Großunternehmens erarbeitet worden ist, der
aber die Vielfältigkeit gerade in den kleineren Strukturen nicht im Auge hatte.
({19})
Zum Schluss möchte ich noch einen Satz zu Ihrer Koalitionsvereinbarung sagen. An dieser hat die Wirtschaftspolitik nur einen Anteil von zweieinhalb Seiten. Sie haben
dort nicht viel geschrieben, wie Sie sich im steuerlichen
Bereich, im Arbeitsrecht und bei den Regelungen, von denen Sie wissen, dass sie den Mittelstand sehr belasten,
Entlastungen vorstellen.
Ich kann nur wiederholen: Überdenken Sie, wenn Sie
die Ich-AG wirklich wollen, Ihre Haltung zur Scheinselbstständigkeit. Überlegen Sie, wenn Sie Privilegien
im haushaltsnahen Bereich einführen wollen, ob Ihr kompliziertes 630-Mark-Gesetz aus damaliger Zeit noch passend ist.
({20})
Überlegen Sie mit uns einmal frei von jeder Ideologie, ob
man betriebliche Bündnisse für Arbeit nicht auf eine
rechtlich einwandfreie Gesetzesgrundlage stellen muss,
um aus der Grauzone herauszukommen.
({21})
Überlegen Sie mit uns, ob wir Entscheidungsprozesse, die
mit der tollen Möglichkeit der Mitbestimmung in
Deutschland zusammenhängen - ich meine toll im positiven Sinne -, von den Zeitabläufen her nicht berechenbarer machen können, indem wir mit mehr Fristen arbeiten,
bis wann entschieden werden muss, was Einigungsstellenverfahren nicht ausschließt. Ich glaube, wenn wir diesen Weg gehen würden, würden wir in Deutschland eine
gute Entwicklung einleiten. Wenn Sie weiterhin den ideologischen Weg gehen, der auch in weiten Teilen im HartzKonzept steht, befürchte ich, dass Sie Ihr Ziel erreichen
werden, die Arbeitslosigkeit auch in den nächsten Jahren
bei 4 Millionen zu stabilisieren.
Schönen Dank.
({22})
Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege
Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die derzeitigen Arbeitslosenzahlen sind für uns Sozialdemokraten in der Tat inakzeptabel.
({0})
Daran gibt es nichts zu rütteln. Deshalb haben wir in der
Koalitionsvereinbarung die Weichen auf Wachstum und
Beschäftigung gestellt.
Genauso klar ist aber auch, dass wir eben nicht
Schlusslicht in Europa sind. Im europäischen Vergleich
liegen wir im Durchschnitt und bei der Jugendarbeitslosigkeit sogar besser. Man muss Karl-Josef Laumann an
dieser Stelle ganz deutlich sagen: Gerade weil wir das
JUMP-Programm verabschiedet haben, sind zusätzliche
Ausbildungsplätze und Chancen für junge Menschen in
diesem Land entstanden.
({1})
Ohne diese Aktivität sähe die Situation ohne Frage
schlechter aus.
Unter Zugrundelegung der EU-Statistik liegen wir bei
der Arbeitslosenquote um 1,2 Prozent oder 800 000 Arbeitslose niedriger, als es unsere derzeitige nationale Statistik aufweist. Das sind die harten Fakten, an denen auch
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht
vorbeikommen.
({2})
Belegt ist damit aber auch, dass das Gerede, insbesondere
das der Union, vom angeblichen Schlusslicht Unsinn ist.
({3})
Das erinnert mich an einen schlechten Verlierer. Wie wollen Sie eine anständige Oppositionspolitik betreiben,
wenn Sie noch nicht einmal anständig verlieren können?
({4}) - Manfred
Grund [CDU/CSU]: Wie wollt ihr denn regie-
ren, wenn ihr die Wirklichkeit nicht wahr-
nehmt?)
Hören Sie auf, unser Land und seine Menschen
schlecht zu reden! Packen Sie mit an, wenn es um die gesamtgesellschaftliche Aufgabe des Kampfes gegen die
Arbeitslosigkeit geht.
({5})
Die Devise lautet jetzt: Durchstarten und Zupacken.
Schlechtreden und stundenlang konzeptionslos jammern
ist nicht hilfreich.
({6})
Verweigern Sie sich nicht dem Konsens aller maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen, wie er nach einem intensiven Ringen in der Hartz-Kommission erreicht wurde.
({7})
Wir haben mit den Hartz-Vorschlägen die Plattform geschaffen, auf der wir jetzt Gesetze für die Neuausrichtung auf dem Arbeitsmarkt zügig schaffen werden.
({8})
Sie haben die Wahl, in einer Allianz der Vernunft konstruktiv mitzuwirken oder, wie bisher, den Blockierer zu
spielen. Meine Damen und Herren, dann müssten Sie den
Menschen aber auch erklären, aus welchen kleinkarierten
und wahltaktischen Überlegungen heraus Sie uns Knüppel zwischen die Beine werfen.
Die Betriebsverfassung und die Reform der Betriebsverfassung sind nun wahrlich nicht für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich, wie es von einigen Oppositionsrednern heute dargestellt wurde. Die Betriebsräte zu
bekämpfen, die Arbeitsbedingungen der Betriebsräte zu
verschlechtern, ihnen den Boden unter den Füßen zu entziehen und auf diesem Niveau die Tarifzuständigkeit auf
die Betriebsparteien zu verlagern: Das ist in der Tat ein
Bild von Partnerschaft, das wir Sozialdemokraten - ich
bin davon überzeugt, dass das auch für unseren grünen
Koalitionspartner gilt - nicht haben.
Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie sagen, dass Sie
keine Teilhabe und keine Demokratie im Betrieb wollen.
Sie wollen den Herr-im-Hause-Standpunkt verwirklichen
und den aufrechten Gang abschaffen; Sie sind rückständig.
({9})
Lassen Sie sich das sagen: Wir brauchen starke Partner
auf der betrieblichen Ebene. Deshalb ist an diesem Punkt
auch nicht mit uns zu diskutieren.
({10})
Frau Wöhrl hat einen Vortrag gehalten, der an Klagen,
Stöhnen, Vernebeln und Schlechtreden kaum zu überbieten ist.
({11})
Ich habe keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört,
mit dem der Abbau der Arbeitslosigkeit vorangetrieben
werden könnte. Es wurde kein einziges konkretes Konzept vorgetragen; das ist die Wahrheit. Sie hat oft von Luft
geredet. Frau Wöhrl, ich finde, Ihre Rede war eine Luftnummer. Sie hat nicht dazu beigetragen zu helfen und
dafür zu sorgen, dass es in diesem Land mehr Wachstum
und Beschäftigung gibt.
({12})
Herr Laumann, in einem Punkt bin ich erfreut, weil Sie
die Einsicht vermittelt haben, dass das Hartz-Konzept zu
mehr Beschäftigung führt. Das ist eine gute Einsicht.
({13})
In diesem Zusammenhang gibt es keinen Raum für politische Spekulationen und dafür, Zeit zu verlieren. Wir
müssen das Hartz-Konzept schnell und umfassend durch
gesetzliche Maßnahmen umsetzen, damit die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden kann. Wer daran nicht
mitarbeitet, trägt Mitschuld und -verantwortung dafür,
dass die Arbeitslosigkeit nicht so schnell zurückgeführt
wird, wie es möglich wäre. Deshalb werden wir das
Hartz-Konzept stufenweise in Gesetze fassen. Wir beginnen jetzt mit den Maßnahmen, die sofort umsetzbar sind.
Ich erwarte, dass sich die Opposition diesem konkreten
und beschlossenen Konzept nicht verweigert. Sie haben
im Wahlkampf nämlich angekündigt - das hat Ihr Schattenwirtschaftsminister oft gesagt -, dass die Union an der
Seite des Kanzlers wäre und von Wahlkampfstrategien
Abstand nehmen würde, wenn Druck auf Gerhard
Schröder ausgeübt würde, damit das Hartz-Konzept zur
Chefsache und ohne Wenn und Aber in Gesetzesform gegossen wird.
Ich bin gespannt, ob Sie helfen werden, dieses 1:1-Modell, das diese Regierung angekündigt hat, so schnell wie
möglich in Gesetzesform zu fassen. Dafür werden Sie uns
den Beweis liefern müssen. Sie werden der Öffentlichkeit
sagen müssen, wie ernst Sie es mit der Hilfe meinen, die
Arbeitsmarktreform in diesem Land zügig umzusetzen.
Der Reformansatz, den wir gewählt haben, ist aus unserer Sicht kein Wahlkampfgag. Die Vorarbeiten sind weit
gediehen. In der kommenden Woche werden wir den
ersten Teil des Gesetzentwurfes in den Bundestag einbringen. Die meisten Vorschläge der Hartz-Kommission
werden in diesem Entwurf enthalten sein. Wenn die Union
- das sage ich noch einmal deutlich - mitzieht, werden die
Gesetzesmaßnahmen zum 1. Januar 2003 im Bundesgesetzblatt stehen und die ersten Veränderungen schnell
greifen können.
Die zweite Stufe, in der wir die organisatorischen
Änderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit vornehmen, braucht etwas mehr Zeit und Raum. Den Gesetzentwurf dazu werden wir im Frühjahr einbringen. Wir werden die Entbürokratisierung und Vereinfachung der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente, von denen Sie so oft
geredet haben, in diesem Teil festschreiben und auf Ihre
konstruktive Mitarbeit rechnen.
Den Abschluss der Reform bildet der dritte Schritt. Er
soll zum 1. Januar 2004 Gesetzeskraft erlangen, nämlich die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe. Mit diesem ehrgeizigen Programm führen
wir die größte Arbeitsmarktreform in der Nachkriegsgeschichte durch. Die Umsetzung der Hartz-Vorschläge
verlangt allen Interessengruppen, vor allem Arbeitgebern
und Gewerkschaften, einiges ab. Gewinnen aber werden am
Ende die Arbeitslosen und unsere Gesellschaft insgesamt.
Die Reform wird die finanziellen Belastungen durch Arbeitslosigkeit bei den Menschen, bei den Unternehmen
und auch bei Bund und Ländern deutlich verringern. Ich
bitte Sie dazu um Ihre Mitarbeit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nun hat die fraktionslose Abgeordnete Petra Pau das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über Arbeitsmarktpolitik reden, dann reden wir
über vier Millionen Arbeitslose und noch viel mehr
betroffene Menschen. Ich sage das den Statistikern. Ich
wiederhole: Es geht in dieser Debatte um Menschen und
Menschenrechte.
Wenn Minister Clement meint, wir hätten keinen
Grund zur Schwarzmalerei, dann halte ich dagegen: Wir
haben keinen Grund zur Hartz-Prahlerei, wie wir sie seit
gestern früh pausenlos hören.
({0})
Nun habe ich wohl vernommen, was gestern in der Regierungserklärung dazu gesagt wurde:
Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es
gelungen, ... ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, werden die größte Arbeitsmarktreform seit
Bestehen der Bundesrepublik bewirken.
Wahrlich große Worte. Aber reden wir konkret über die
Hartz-Vorschläge. Im September waren 290 000 Berlinerinnen und Berliner ohne Arbeit. Dem standen in der
Hauptstadt 9 000 offene Stellen gegenüber. Bislang
konnte mir niemand schlüssig erklären, wie 290 000 Arbeitslose effektiver in 9 000 offene Stellen zu vermitteln
sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war im Französischen Dom dabei, als die Hartz-Vorschläge als das Nonplusultra feilgeboten wurden. Nur einer fiel damals aus
dem feierlichen Rahmen: der Arbeitsminister von Mecklenburg-Vorpommern. Er stellte eine ganz simple Frage,
nämlich was das viel gelobte Konzept im Osten bewirken
solle oder könne. Die Antwort: Wir sind im Jahr zwölf der
Vereinigung. Er, Holter, möge endlich sein Ostdenken ablegen. Ich kommentiere das jetzt nicht. Aber ich empfehle
Ihnen, Herr Bundesminister Clement, und auch Ihnen,
Herr Ostminister Stolpe: Konsultieren Sie die PDS-Arbeitsminister in Berlin und Schwerin. Herr Wolf und Herr
Holter arbeiten intensiv daran, Ansätze aus dem HartzKonzept auch im Osten lebenstauglich zu machen.
({1})
Das eigentlich Neue am so genannten Arbeitsmarkt besteht darin, dass es Vollbeschäftigung im herkömmlichen
Sinne nie mehr geben wird. Ergo brauchen wir neue Antworten. Rot-Grün gibt diese Antworten leider nicht. Dabei
gibt es durchaus bereits diskutierte und anerkannte neue
Ansätze. Ich kann an dieser Stelle nur einige Stichworte
nennen: öffentlich geförderter Beschäftigungssektor, existenzsichernde Grundsicherung, drastische Arbeitszeitverkürzung sowie eine wirkliche Steuer- und Sozialreform.
Ein derart neues Denken vermisse ich bei Rot-Grün.
Von Schwarz-Gelb habe ich es im Übrigen gar nicht erst
erwartet.
({2})
Deshalb fragen Sie bitte nicht, Herr Bundeskanzler, was
ich für den Staat tun kann. Fragen Sie mich besser, was Sie
für die Gesellschaft tun können! Ich sage es Ihnen gerne.
({3})
Die nächste Runde der Aussprache über die Regierungserklärung wird vom Bundesminister der Finanzen,
Hans Eichel, eröffnet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Während des Wahlkampfs und nach dem Wahlkampf
haben Sie versucht, insbesondere die Finanz- und Steuerpolitik der vergangenen vier Jahre abzuqualifizieren, und
gehofft, damit in politischer Hinsicht Land gewinnen zu
können.
({0})
Meine Damen und Herren, heute ist der Zeitpunkt, über
diese Frage zu reden. Ich werde Ihnen die Widersprüchlichkeit und die völlig falschen Behauptungen
({1})
Ihrer Thesen vorhalten.
Erstens. Lassen Sie uns vergleichen, was Sie in den
letzten vier Jahren Ihrer Regierungszeit und was wir in
den ersten vier Jahren der Regierung Schröder finanzpolitisch zuwege gebracht haben. Ich halte fest, dass Sie damals in vier Jahren 230 Milliarden Euro neue Schulden
gemacht haben. Wir haben in derselben Zeitspanne - dabei habe ich die UMTS-Lizenzen schon herausgerechnet
und einen Zuschlag für dieses Jahr, dessen Höhe mir noch
nicht genau bekannt ist, einbezogen - die Neuverschuldung um weit mehr als 50 Prozent unter den Betrag gedrückt, den Sie in den vier Jahren davor erreicht hatten.
Das ist die finanzpolitische Bilanz.
({2})
Wir haben das trotz der hohen Zinsbelastung, die wir
nach Ihren Regierungsjahren vorgefunden haben, erreicht.
({3})
- Ja, die Wiedervereinigung. Sie hätten sie aber auf andere
Weise finanzieren müssen.
({4})
Sie haben die Staatsverschuldung um 20 Prozentpunkte erhöht, nämlich von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 60 Prozent. Wir haben unter wesentlich
schwierigeren Bedingungen regieren müssen. 1994 zum
Beispiel gingen noch 48 Prozent der Steuereinnahmen an
den Bund. Jetzt sind es noch ganze 43 Prozent - so viel
übrigens zu der Mär, dass wir den Bund auf Kosten der
Länder und Kommunen entlastet hätten.
Folgendes macht den Erfolg deutlich: Als ich Finanzminister wurde, wurde fast jede vierte Steuermark, die wir
einnahmen, sofort wieder für Zinsen ausgegeben. Zurzeit
ist es nur jede fünfte Steuermark. Es ist zwar ein mühseliger Prozess, aber es ist der in vier Jahren erzielte Fortschritt, der dieses Land und diesen Staat wieder handlungsfähiger macht.
({5})
Wir haben dann - anders, als Sie es als Märchen in die
Welt setzen - über die Ausgabenseite konsolidiert, übrigens bei einer Steuerquote, die einen historischen Tiefstand erreicht hat. Eine weitere Senkung ist nicht möglich.
Darüber werden wir noch zu reden haben, wenn es um die
Strategie für die Jahre 2003 bis 2006 geht.
Wir liegen in diesem und im nächsten Jahr mit unseren
Ausgaben unter dem, was wir uns 1999 in dem 30-Milliarden-Paket, dem jährlich 5 Milliarden hinzugefügt wurden, für 2002/2003 vorgenommen hatten, und zwar trotz
des Anti-Terror-Pakets.
Wir haben zudem die Qualität unserer Staatsausgaben
nachdrücklich verbessert. Das, was Sie zum Beispiel
fälschlicherweise als Sparbüchse bzw. als Kürzungsmöglichkeit genutzt haben, nämlich die Ausgaben für Forschung und Bildung, haben wir in demselben Zeitraum
um 2 Milliarden bzw. um fast 28 Prozent erhöht. Das ist
eine entscheidende Zukunftsinvestition.
({6})
Wir haben die Verkehrsinvestitionen auf einen historischen Höchststand gebracht, auf dem wir sie nicht nur
verstetigen, sondern auf dem es, allerdings in kleinen
Schritten, weitergeht. Wir haben die Energiewende mit
hohen Investitionen finanziert. Ich sage an dieser Stelle
allerdings auch - das gilt für alle Investitionen -, dass man
sie so zielgerichtet einsetzt, dass die neuen Energien wirklich marktfähig werden.
Wir haben - ich führe das an, weil Sie am liebsten auf
den Spitzensteuersatz verweisen - den Mittelstand durch
Steuersenkungen ordentlich entlastet.
({7})
1998 lag die obere Grenzsteuerbelastung des selbstständigen Mittelstandes bei 69 Prozent. Diese Zahl erhält
man, wenn man den Spitzensteuersatz, der damals bei
53 Prozent lag, den Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent
und 13 Prozent Gewerbesteuer addiert. Jetzt liegt die
obere Grenzsteuerbelastung des selbstständigen Mittelstandes bei 51 Prozent. Sie ist also im Vergleich zu 1998
um 18 Prozentpunkte gesunken. Das war möglich, weil
inzwischen die Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer
verrechnet werden kann und weil der Spitzensteuersatz
auf 48,5 Prozent gesunken ist.
({8})
Eine Senkung der oberen Grenzsteuerbelastung des
selbstständigen Mittelstandes um 18 Prozentpunkte haben
Sie in 30 Jahren Ihrer Regierungstätigkeit in der Bundesrepublik nie zuwege gebracht.
({9})
Zur Entlastung der Arbeitnehmer möchte ich Folgendes sagen: Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer, der
Alleinverdiener ist und eine Familie mit zwei Kindern
zu ernähren hat, zahlte während Ihrer Regierungszeit
6,5 Prozent Lohnsteuer. Wir haben dafür gesorgt, dass er
im Jahr 2001 nur noch 5,1 Prozent zahlen musste. Das ist
die tatsächliche Nettoentlastung der Arbeitnehmer. Es ist
ja nicht verwunderlich, dass die Staatskassen leer sind. Sie
sind schließlich auch wegen der Steuerreform leer. Irgendwo muss sich natürlich auch die Entlastung bemerkbar machen. Allerdings so leer, wie sie jetzt sind, sollten
sie eigentlich nicht sein. Das liegt an der konjunkturellen
Entwicklung.
({10})
Aber ich wiederhole: Die Steuerquote hat einen historischen Tiefstand erreicht.
Herr Merz, man kann ja über die Senkung der Staatsquote diskutieren. Auch ich möchte sie senken. Wenn sich
der Staat aber immer höher verschuldet und die Staatsquote gesenkt wird, dann kann man ihn auch gleich abschaffen. Die Senkung der Staatsquote macht doch nur
Sinn - das ist eine grundlegende Voraussetzung - im
Rahmen einer Strategie der Entschuldung des Staates. Nur
dann kann er - schließlich brauchen wir ihn für die Garantie der inneren und der äußeren Sicherheit sowie zur
Förderung der Bildung und zum Ausbau der Infrastruktur - handlungsfähig bleiben. Etwas anderes können Sie
doch ernsthaft nicht wollen.
({11})
Wir haben das alles - das ist der große Unterschied zu
Ihrer Regierungszeit - nicht in einer Phase eines andauernden Aufwärtstrends der Weltkonjunktur, vor allem
der Konjunktur in den Vereinigten Staaten, sondern - das
spüren wir jetzt schmerzlich - in einer Phase eines starken
Abschwungs, der seit dem Sommer 2000 anhält, und in einer Situation erreicht, in der das Wachstum in den Vereinigten Staaten unter dem Deutschlands liegt. Übrigens
möchte ich an dieser Stelle eine kleine Anmerkung zu der
Frage machen, wie stark Deutschland in der Welt eigentlich ist. Als wir das Jahr 2001 bilanziert haben, kam
Folgendes heraus: Ein Wachstum von 0,6 Prozent in
Deutschland ist weiß Gott kein Grund zum Prahlen. Das
ist wahr. Aber damit ist das Wachstum in Deutschland
noch immer doppelt so hoch wie das in den Vereinigten
Staaten, der größten und so gepriesenen Volkswirtschaft
der Erde. Dort liegt es nämlich bei ganzen 0,3 Prozent.
Das Wachstum in Japan ist sogar negativ. Das sind die
weltwirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen wir arbeiten müssen. Wie eng die Verflechtung mit der Weltwirtschaft ist, hat der Sachverständigenrat gerade in
seinem vorletzten Gutachten mit unüberbietbarer Deutlichkeit klar gemacht.
Wir haben außerdem den Aufbau Ost auf hohem Niveau verstetigt und in diesem Jahr mit dem Stadtumbauprogramm sogar ein neues Programm aufgelegt. Das alles
zeigt, dass wir in den letzten vier Jahren mit großen Anstrengungen ordentlich vorangekommen sind.
Jetzt möchte ich auf Ihren Vorwurf eingehen, dass ich
alles, was ich jetzt ankündige, vor der Wahl hätte sagen
sollen.
({12})
- Ich bin mir sicher, dass die Debatte noch spannend
wird. - Ich möchte nicht nur über dieses Jahr, sondern
auch über die Jahre reden, in denen Sie regiert haben.
Nicht nur Deutschland - das haben Sie vorhin falsch dargestellt - sieht sich das zweite Jahr mit einem sehr schwachen Wachstum konfrontiert. Im europäischen Vergleich
liegen zurzeit Italien und die viel gepriesenen Niederlande
beim Wachstum hinter Deutschland. Das ist die Wahrheit.
Das zweite Jahr mit sehr schwachem Wachstum haben wir
2001 haushaltspolitisch noch gut bewältigt; denn trotz
2 Prozent weniger Wachstum, als alle Institute vorausgesagt hatten, haben wir 2001 eine Punktlandung hingelegt.
Im zweiten Jahr eines so schwachen Wachstums ist das in
der Tat nicht mehr zu machen. Als ich den Haushalt einbrachte, habe ich hier an diesem Pult und in der Bundespressekonferenz gesagt: Dieser Haushalt ist auf Kante
genäht, es gibt keine Reserve mehr, wenn es konjunkturell anders läuft. Das habe ich gesagt, als ich den Haushalt
einbrachte.
({13})
Wir haben noch eine Menge beherrscht, zum Beispiel
mit den Rückflüssen aus Brüssel in Höhe von fast 5 Milliarden Euro. Die haben Sie übrigens im Sommer immer
noch ausgeben wollen, obwohl ich Ihnen bereits im Frühjahr gesagt habe, dass sie bei der weiteren Abschwächung
der Konjunktur im Haushalt bleiben müssen, weil andernfalls die Probleme gar nicht zu lösen sind.
Spannend wurde es im Sommer; Sie sagen ja, Sie hätten das alles vorher gewusst. Darauf komme ich gleich
noch zurück. Den ganzen Sommer über lagen alle Institute mit Ausnahme des DIW mit ihren Prognosen über
unseren. Die erste Korrektur nach unten fand im September statt; da senkte ein Institut seine Prognose auf 0,4 Prozent. Gleichzeitig verbesserten sich im Juli und August
die Steuereinnahmen. Das stand noch vor dem Hintergrund aller Prognosen eines richtig dynamischen Aufschwungs im zweiten Halbjahr, der nicht gekommen ist.
({14})
- Daran haben wir alle geglaubt. Alle Institute haben den
ganzen Sommer über genau das geschrieben.
({15})
- Darauf komme ich gleich.
Für mich war eines klar: Darüber darf man als Finanzminister nur dann reden, wenn man sicher ist. Dann allerdings kamen die Steuereingänge im großen Steuermonat
September, die ganz anders ausfielen als im Juli und im
August.
({16})
Bevor ein Finanzminister verlässliche Zahlen hat, darf er
über so etwas nicht reden, egal ob Wahl ist oder nicht.
({17})
Jetzt komme ich zu einer spannenden Frage an Sie. Die
Zahlen kannten wir alle - übrigens die Länder und auch
Herr Faltlhauser früher als ich, weil die Steuereinnahmen
in den Ländern eingehen und erst später an uns gemeldet
werden. Wenn Sie das schon vorher gewusst haben, wie
Sie sagen, möchte ich Sie doch eines fragen: Warum haben Sie denn ein Wahlprogramm geschrieben, in dem
Sie den Menschen Steuersenkungen zwischen 10 und
35 Milliarden Euro - bei der FDP sind es dann gleich über
70 Milliarden Euro - versprechen?
({18})
- Es kommt darauf auch gar nicht an.
({19})
Warum haben Sie denn, obwohl Sie doch angeblich alles gewusst haben, den Aufbau in den Flutkatastrophengebieten noch im September mit Schulden finanzieren
wollen? Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie damit glatt die
3 Prozent überschreiten würden.
({20})
Warum haben Sie denn ein Sofortprogramm aufgestellt,
das in den ersten 100 Tagen der neuen Wahlperiode irgendwo zwischen 10 und 20 Milliarden Euro - ich will
über die Zahl gar nicht streiten - gekostet hätte? Sie haben doch, so sagen Sie, alles gewusst. Ich sage Ihnen: Ich
hatte große Sorgen.
({21})
Ich habe deswegen eine Haushaltssperre verhängt. Ich
habe deswegen zusammen mit dem Bundeskanzler dafür
gesorgt, dass wir den Wiederaufbau in den Flutkatastrophengebieten nicht über Schulden, sondern durch Verschiebung der Steuersenkungen finanzieren.
({22})
Alles andere müssen Sie sich selbst überlegen. Sie sind
offenbar in Ihrer Wahlkampfstrategie nicht klar gekommen. Sie wussten nicht, ob Sie nun sagen sollten, die Finanzen seien im Eimer, oder ob Sie die Leute mit all Ihren
Wahlversprechungen beglücken sollten, die Sie jetzt alle
zurücknehmen müssten, wenn Sie an der Regierung wären.
Deswegen lasse ich mir an der Ecke von Ihnen überhaupt
nichts erzählen.
({23})
Eines ist klar: Nach den Steuereinnahmen im September musste man sagen, dass wir die 3 Prozent nicht halten
werden, und das habe ich dann auch sofort gesagt.
({24})
Ein anderes Verhalten des Finanzministers wäre unverantwortlich gewesen.
Ich will auch etwas zum europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt sagen. Er hat nämlich sehr wohl die zu
Recht eingeforderte Flexibilität, auf konjunkturelle Situationen auch angemessen zu reagieren. Sie hätten mit Ihrer
Politik die Entscheidung getroffen, dieses Rahmenwerk
zu brechen. Das gibt es mit uns nicht.
Deswegen sage ich Ihnen: Ja, wir werden einen Nachtragshaushalt auf den Tisch legen, wenn die Steuerschätzung im November da ist, weil man vernünftigerweise erst
dann über die Zahlen reden kann, um die es wirklich geht.
Ich will auch etwas zur europäischen Situation sagen
und festhalten: Von den zwölf Staaten der Eurozone werden - da kommen wir ans Problem - mindestens sechs
Länder stärkere, zum Teil wesentlich stärkere Abweichungen vom Stabilitätsprogramm haben als Deutschland. Das ist dort zum Teil nicht so ein Problem, weil man
dort, jedenfalls in einigen dieser Länder, bisher Überschusshaushalte hatte. Unser Problem ist, dass wir auf
halbem Weg zum ausgeglichenen Haushalt von der Konjunkturschwäche erwischt worden sind. Den Schuh ziehe
ich mir nicht an und den zieht sich auch diese Bundesregierung nicht an.
({25})
- Nein. Sie hätten schon ein bisschen früher mit der richtigen Politik anfangen müssen. Sie hätten den anderen Europäern nicht nur den Stabilitätspakt einreden dürfen, sondern hätten selbst die Politik danach machen müssen.
({26})
Ganz schlicht: Sie hätten die Wiedervereinigung seriös finanzieren müssen und nicht so finanzieren dürfen, wie Sie
es gemacht haben. Daran werden wir noch lange arbeiten
müssen.
Zur Diskussion um den Stabilitätspakt will ich noch etwas anderes sagen. Ich finde es falsch, dass wir die Diskussion, die sein muss, allein über das Defizit führen. Wer
sich die Kriterien von Maastricht und die Zugangsberechtigung zur Wirtschafts- und Währungsunion ansieht,
wer sich die wirtschaftliche Situation in Europa und die
Möglichkeiten der Geldpolitik vor Augen führt - ich
nehme hier die EZB ausdrücklich in Schutz -, der kommt
zu anderen Ergebnissen, nämlich dazu, dass wir im Interesse unserer gemeinsamen Währung auch darüber reden
müssen, ob denn andere Länder ihre völlig überhöhte
Staatsverschuldung so zurückführen, wie das im Programm vorgesehen ist.
Wir müssen aber auch darüber reden, wie es denn in anderen Ländern mit dem Beitrittskriterium Inflation aussieht. Es gibt eine ganze Reihe von Ländern, einschließlich Spanien, die Inflationsraten von bis zu 4,5 Prozent
haben. Man muss sich fragen, wie eine gemeinsame europäische Geldpolitik für den Euroraum insgesamt wirkt,
wenn Deutschland der Stabilitätsanker in der Union mit
der niedrigsten Inflationsrate ist - wir haben übrigens
auch die niedrigste Steigerungsrate bei den Lohnstückkosten - und wenn sich andere an alle diese Kriterien nicht
halten. Angesichts dessen müssen wir im Rahmen des Stabilitätspakts noch ein paar andere Fragen stellen als nur
die nach diesem Defizit. Die Frage nach dem Defizit muss
gestellt werden, aber ein paar andere Fragen müssen auch
gestellt werden.
({27})
Wir müssen zu anderen Mechanismen der wirtschaftspolitischen Koordinierung kommen. Die müssen dann in
der Tat wesentlich verbindlicher werden. Ich bin ausdrücklich der Meinung: Die Kommission soll ein Recht
haben, Early-Warning-Systeme und Excessive Deficit
Procedure selbst einzuleiten.
({28})
- So steht das nun einmal im Vertrag. Den haben nicht wir,
sondern Sie ausgehandelt. Das soll aber keine Beschimpfung sein.
Insofern kann und sollte die Kommission eine stärkere
Position haben. Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik allerdings müssen, weil es nämlich nationale Verantwortung bleibt, Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen,
weiter vom Ecofin-Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Alles andere macht keinen Sinn.
Damit, meine Damen und Herren, komme ich zur
Perspektive 2003 bis 2006. Dass uns dieses Jahr im Ergebnis sehr unbefriedigt lässt, dass man darauf hinweisen kann,
die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, dass wir
in dieser Phase nicht in die Investitionen eingreifen - das
wäre der Crashkurs, den man noch machen könnte, der
aber in dieser wirtschaftspolitischen Lage keinen Sinn
macht und auch von niemandem gewollt wird, auch in
Brüssel nicht; das ist richtig so -, heißt doch aber nicht,
dass wir die Hände in den Schoß legen können. Das heißt
vielmehr, dass wir im Sinne unserer verabredeten Politik
und im Sinne der Glaubwürdigkeit des Paktes handeln
müssen. Dahinter steht übrigens noch etwas ganz anderes,
nämlich das Problem der demographischen Verschiebung, der Alterung unserer Gesellschaft. Der Pakt ist nicht
einmal das zentrale Thema; er ist ein Paragraphenwerk.
Zentrales Thema ist, dass uns die Alterung unserer Gesellschaft in Zukunft große Lasten aufbürdet und wir bis
dahin die Schulden aus der Vergangenheit einigermaßen
abgetragen haben müssen, damit wir die neuen Aufgaben
überhaupt schultern können. Das ist der Hintergrund.
({29})
- Doch! Ich habe es Ihnen doch gerade vorgetragen: Wir
haben in vier Jahren noch nicht einmal halb so viele
Schulden gemacht wie Sie. Es passiert also, wenn es auch
mühselig ist.
Wie gehen wir jetzt vor? Erste Antwort des Koalitionsvertrags: Wir bleiben bei unserer Zusage: 2006 Bundeshaushalt ausgeglichen und gesamtstaatlicher Haushalt nahezu ausgeglichen. Da hat die Kommission übrigens sehr
vernünftig reagiert, indem sie vor dem Hintergrund der
konjunkturellen Schwäche nicht realisierbare Termine in
die Zukunft geschoben hat, von 2004 auf 2006. Damit hat
die Kommission deutlich gemacht, dass man den Pakt
nicht mechanistisch, sondern ökonomisch vernünftig anwendet. Entscheidend ist also das Jahr 2006.
Die zweite Antwort heißt: Anpassungsmaßnahmen
beginnen im Jahr 2003; denn der Weg dahin muss schließlich gegangen werden. Mittlerweile habe ich gesagt, was
wir tun. Ich frage Sie, wie Ihre Alternativen aussehen.
({30})
Angesichts eines seit zwei Jahren schwachen Wachstums
müssen wir zuallererst die ganze Finanzplanung für die
nächsten vier Jahre auf ein niedrigeres Tableau setzen. Das
heißt auch, dass wir das Thema Einsparungen über Subventionsabbau noch einmal intensiv erörtern müssen. Genau
das haben wir gemacht und es sorgt für viel Ärger im Lande.
Ein Teil der von uns vorgenommenen Einsparungen
geht auf Kürzungen im Bereich der Arbeitslosenhilfe und
auf Kürzungen der Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit
zurück. Übrigens, darüber redet fast keiner. Ich finde es
ziemlich spannend, zu beobachten, wer in diesem Land
die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und wer mit
seinen Interessen die Meinungslage zu beeinflussen versucht. Ich wiederhole: Dieser Teil interessiert fast niemanden, obwohl er eine massive Verringerung der Verteilung von Geldern bedeutet. Dies wird bestenfalls unter der
Überschrift „Man muss Subventionen abbauen oder man
muss bei den konsumtiven Ausgaben ansetzen“ abgehandelt. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich halte das, was
wir tun, für richtig. Ich bin mit dem Kollegen Clement völlig einer Meinung. Wir werden sehr eng zusammenarbeiten.
Ich sage das, damit niemand auch nur einen Moment lang
glaubt, es könnte zwischen uns Differenzen geben.
({31})
Der andere Teil unserer Sparmaßnahmen erfolgt über
den Abbau von Steuersubventionen. Dazu möchte ich
Ihnen zunächst eines sagen: Wir machen doch nur das,
was auch Sie in Ihren Parteiprogrammen fordern. In Ihren
Parteiprogrammen steht - den Extremfall stellen die Forderungen von Herrn Kirchhof dar -: Sämtliche Steuersubventionen müssen abgeschafft und die Steuersätze
müssen deutlich verringert werden. Die FDP plädiert für
Stufentarife, während die CDU - Herr Merz, ich hoffe,
dass ich es richtig sehe - einen linear-progressiven Tarif
bevorzugt. Der Kern ist aber derselbe: Sämtliche Steuersubventionen müssen abgeschafft werden.
({32})
- Verehrter Herr Thiele, Ihre Pläne sehen Steuersenkungen nur für die oberen Einkommensklassen vor.
({33})
Wenn Sie den Eingangssteuersatz nicht senken - das Gesetz schreibt eine Höhe von 15 Prozent vor -, aber die Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit - ich
nenne einmal das bekannteste Beispiel ({34})
- ich weiß, Sie mögen es nicht hören - von der Steuerfreiheit ausnehmen, dann schaffen Sie eine massive Steuerbelastung derjenigen mit geringem Einkommen. Das ist
der Sachverhalt.
({35})
Ich bestreite nicht, dass das, was wir tun, Belastungen
mit sich bringt, und zwar auf beiden Seiten des Haushalts.
Wenn man bei der Bundesanstalt für Arbeit oder bei der
Arbeitslosenhilfe Kürzungen vornimmt, etwa dadurch,
dass man dieselben Anrechnungsvorschriften wie bei der
Sozialhilfe anwendet, dann nimmt man Menschen Geld
weg. Wenn man steuerliche Ausnahmetatbestände beseitigt, weil man der Auffassung ist, dass sie ökonomisch gar
nicht gerechtfertigt sind, da andere Leute sie bezahlen
({36})
- auf die komme ich gleich zu sprechen, Herr Thiele -,
dann nimmt man Menschen in der Tat Geld weg oder man
zwingt sie, mehr zu zahlen.
Die Änderung der Eigenheimzulage ist übrigens ein
anderer Fall. Das, was da passiert, finde ich spannend.
Wenn Sie über dieses Thema reden, erfährt man nie etwas
Konkretes. Wenn es um den Subventionsabbau geht, dann
fallen Ihnen immer nur die Subventionen für den Steinkohlebergbau ein. Die Subventionen für den Steinkohlebergbau werden jedes Jahr um 250 Millionen Euro
zurückgeführt. Im Koalitionsvertrag steht, dass diese
Rückführung weitergeht.
({37})
Ich habe mir angesehen, wie Sie es mit den Finanzhilfen und mit den Subventionen gehalten haben. In den Jahren von 1994 bis 1998, in denen Sie regierten, ist der Umfang der Subventionen, der Steuervergünstigungen und
anderer Finanzhilfen von 18,1 Milliarden Euro auf 21,2
Milliarden Euro gestiegen. Wenn man dieselbe Bemessungsgrundlage für die Jahre 1998 bis 2002, also für die
Zeit, in der wir die Regierung gestellt haben, anwendet die Ökosteuer lasse ich bei dieser Berechnung außen vor,
denn sie stellt ein Problem dar; ich komme gleich auf die
Ökosteuer zu sprechen -, dann stellt man ein Absinken
des Umfangs der Subventionen, der Steuervergünstigungen und anderer Finanzhilfen von 21,2 Milliarden Euro
auf 16,8 Milliarden Euro fest.
({38})
Das ist ein schwieriges Kapitel. Ich erinnere an sämtliche
im Steuerentlastungsgesetz 1999 beseitigten Ausnahmetatbestände. Der künftige Umfang staatlicher Finanzhilfen wird genau das berücksichtigen, was wir hier vorgeschlagen haben.
Ich will nur wenige Beispiele nennen. Man muss den
Menschen im Lande schon erklären, warum wir es mit einem steuerlichen Privileg versehen, wenn man privat statt
eines Privatwagens einen Dienstwagen nutzt.
({39})
Übrigens, wir schaffen dieses Privileg gar nicht ab, sondern wir schränken es nur ein bisschen ein.
Man muss den Menschen schon erklären, warum die
Bahn bisher den vollen Mehrwertsteuersatz gezahlt hat das wird auch bis 2005 so sein -, der Flugverkehr aber
nicht. Was hat das denn mit der Gleichbehandlung der
Verkehrsträger zu tun?
({40})
Meine Damen und Herren, Sie müssen den Menschen
schon erklären - das ist gar nicht so bekannt geworden -,
warum denn diejenigen, die Kunstgegenstände kaufen,
mit dem halben Mehrwertsteuersatz bedacht werden, wobei der halbe Mehrwertsteuersatz die soziale Komponente
der Mehrwertsteuer war.
({41})
Sie können übrigens bei dieser Gelegenheit studieren,
wie über Lobbyismus ein ganzes Steuersystem kaputtgemacht wird. Das ist nämlich das Problem der Einkommensteuer und auch das Problem der Mehrwertsteuer.
({42})
Wir haben das angepackt, wir packen das jetzt auch wieder an.
Wenn Sie übrigens sagen, das müsse man mit Steuersenkungen kombinieren, muss ich erwidern: Das meiste
davon wird erst im Jahr 2004 wirksam werden. Dann
kommt die nächste Steuersenkung, also dann, wenn wir
dies machen.
({43})
Also wird Ihnen diese Ausrede auch nicht zur Verfügung
stehen.
Im Übrigen: Alles, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, steht in diesem Rahmen. Da sollte sich keiner täuschen. Das heißt nicht, dass keine konkrete Gesetzgebungsarbeit mehr notwendig sei. Wir haben ja keine
Gesetze beschlossen, sondern diese sind noch im Einzelnen auszuarbeiten. Deshalb wird es von mir so lange, bis
der Gesetzentwurf im Kabinett eingebracht ist, auch keine
öffentlichen Äußerungen dazu geben, weil das keinen
Sinn machen würde. Danach wird das alles sehr sorgfältig in den Beratungen dieses Hauses und des Bundesrates,
wo dies erforderlich ist, behandelt werden können. Dann
wird man sehen, wie sich jeder verhält.
({44})
- Nein, alles wird vor der Hessenwahl eingebracht, verehrter Herr, weil wir auch gerne vor der Hessenwahl wissen wollen, wie es weitergeht. Wir haben es sorgfältig austariert, damit es sozial gerecht zugeht und damit es in das
Konzept des Abbaus von Steuervergünstigungen und
Subventionen passt. Das ist nämlich der Satz, der dahinter steht.
Wir tun das auch, um all das durchhalten zu können,
was wir immer gewollt haben - Fortsetzung des Konsolidierungskurses, ausgeglichener Haushalt im Jahr 2006 -,
um das, was wir bisher zu Schwerpunkten gemacht haben - Bildungspolitik, Familienpolitik, Verkehrsinvestitionen, Aufbau Ost, Energiewende - auch wirklich so, wie
zugesagt, finanzieren zu können, um die Steuern in den
Jahren 2004 und 2005 senken zu können. Und das alles
- das ist schon wahr - in einer schwierigen Zeit.
Ich habe dazu gegen Ende meiner Rede bei der Einbringung des Haushalts am 12. September gesagt:
Meine Damen und Herren, wir haben die Staatsverschuldung eingedämmt. In Zukunft wird die Verfolgung dieses Zieles nicht leichter; das lässt keine
Schönwetterpolitik zu, sondern erfordert unter jeweils veränderten Rahmenbedingungen immer wieder neue schwierige Entscheidungen. Die Situation
ist schwierig: Es gibt Zusatzbelastungen, die aber,
wenn wir uns anstrengen, beherrschbar sind.
Nun, meine Damen und Herren, kommt die spannende
Frage an Sie: Wir haben ein Konzept auf den Tisch gelegt,
mit dem diese Wahlperiode mit den Schwerpunkten, die
ich eben genannt habe, mit all dem, was der Kollege
Clement heute Morgen zum Thema Arbeitsmarkt dargestellt hat, gestaltet werden kann. Dieses Konzept ist im
Bereich des Abbaus der Steuersubventionen für diejenigen, die Subventionen verlieren - ich wiederhole das -,
eine Belastung.
({45})
- Diese Definition ist neu. Solange Sie, Herr Thiele, das
in Ihrem Programm stehen hatten, nannten Sie es nicht so.
({46})
Deswegen sage ich Ihnen nur: Das ist auch ein Angebot an die Länder und Gemeinden. Denn wenn die
Steuerschätzung im November auf dem Tisch liegt, wird
sich erweisen, dass die große Mehrzahl der Entwürfe der
Länderhaushalte für 2003 verfassungswidrig ist.
({47})
Das heißt, es ist eine Menge zu tun im Gesamtstaat. Es ist
ja nicht nur eine Veranstaltung des Bundes. Die Länder
haben darauf bestanden, dass sie bei der Möglichkeit, Defizite zu machen, 55 Prozent des gesamtstaatlichen Defizits eingeräumt bekommen. Das heißt, sie haben auch
55 Prozent der Verantwortung für diese Veranstaltung.
({48})
Das heißt, sie werden die Frage beantworten müssen
- hier im Bundestag kommen Sie vielleicht so durch, aber
nicht in den Ländern und nicht im Bundesrat, in dem Sie
jetzt die Mehrheit stellen -, wie sie mit dieser Situation
umgehen. Ein Angebot des Bundes, das auch den Ländern
hilft, das auch die Kommunalfinanzen stärkt, liegt auf
dem Tisch - nicht bequem, nicht unbedingt populär, das
bestreite ich nicht. Es gibt auch kein bequemes, kein populäres Angebot in einer solchen Situation.
({49})
Aber Sie und die von Ihnen regierten Länder werden gefragt werden, wie Sie damit umgehen. Ich fürchte, Sie werden sich überlegen, die Antworten erst nach dem 2. Februar 2003 zu geben.
({50})
Unsere liegen auf dem Tisch.
Ich sage Ihnen: Alles, was Sie vor der Wahl in Ihr Programm geschrieben haben, können Sie glatt vergessen.
Familiengeld würde es, wenn Sie an der Macht wären,
nicht geben. Steuersenkungen über die hinaus, die in unserem Gesetz stehen, würde es zu keinem Zeitpunkt geben. Die Eigenheimzulage, die Sie, sehr verehrter Herr
Thiele, völlig nach oben öffnen wollten, würde es nicht
geben. Sie müssten Ihre gesamten Wahlprogramme in die
Tonne werfen. In der Situation, meine Damen und Herren,
befänden Sie sich, wenn Sie regierten.
({51})
Das alles ist nur insofern tragisch, als es zeigt, dass Ihre
Antworten in keinem Fall zu einer Lösung der Probleme
geeignet waren. Dagegen gibt das, was wir jetzt auf den
Tisch gelegt haben - auch wenn die Umsetzung schwierig ist -, Antworten auf die Probleme dieses Landes und
darauf, wie wir uns den Weg in die Europäische Union
und unsere Verantwortung für die Stabilität der gemeinsamen Währung vorstellen.
({52})
Sie, verehrter Herr Thiele, haben gestern und heute
nicht eine einzige Antwort auf die Frage gegeben, was Sie
tun würden.
({53})
Ich prophezeie Ihnen: Damit kommen Sie bis zum 2. Februar nicht durch. Sie werden zumindest in den Ländern,
in denen Sie regieren, gezwungen sein, zu sagen, was Sie
machen wollen, damit trotz der Situation, die wir heute
haben, die Zukunft gewonnen werden kann. Unser Konzept liegt auf dem Tisch.
({54})
Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege
Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat selten einen Finanzminister gegeben, der mit den Zahlen offensichtlich so auf dem Kriegsfuß steht wie der, der vor
mir gesprochen hat.
({0})
Ich muss feststellen, dass keine einzige Zahl von denen, die
Sie, Herr Eichel, bezüglich der Beschreibung der Vergangenheit und der gegenwärtigen Situation genannt haben,
zutreffend ist. Ich könnte Ihnen das jetzt dezidiert anhand
eines ganzen Katalogs von Feststellungen deutlich machen.
({1})
Das würde allerdings mein Konzept, das ich mir für heute
erstellt habe, ein bisschen durcheinander bringen.
({2})
Ich möchte allerdings das eine oder andere doch im Rahmen dieser Rede aufgreifen.
Zunächst möchte ich feststellen, dass Sie die Person
sind, an der die Wähler festmachen, dass sie bei dieser
Wahl offensichtlich getäuscht worden sind.
({3})
Vor der Wahl sagten sie: Wenn es jemanden gibt, von dem
ich erwartet hätte, dass er die Wahrheit sagt, dann dürfte
das Hans Eichel sein. Sie mussten dann aber feststellen,
dass all das, was Sie vor der Wahl zum wirtschaftlichen
Wachstum, zu den Steuereinnahmen, zur Neuverschuldung und zur Perspektive des Defizitkriteriums gesagt haben, falsch und gelogen war. Ich habe angenommen, Sie
kommen ganz klein hierher und sagen: Liebe Leute, es tut
mir Leid, ich muss mich entschuldigen; ich habe euch alle
getäuscht, das war weder Absicht noch Dummheit. - Etwas
Derartiges hätten Sie heute meines Erachtens sagen müssen.
Es kann nicht angehen, dass jemand, der eine Armee
von Mitarbeitern - 2 100 Mitarbeiter - befehligt, sagt, er
habe das alles nicht gewusst, da er sich auf die Sachverständigen beziehen und auf das vertrauen musste, was die
sagen. So werden Sie sich wahrscheinlich auch bezüglich
der Steuerschätzung im November verhalten: Wenn die
nicht mit den vorherigen übereinstimmt, sind dann wohl
wieder die anderen schuld. Ich habe zwei Mitarbeiter, Sie
haben 2 100. Diese zwei sind ehemalige Mitarbeiter des
Finanzministeriums. Ich habe den Eindruck, dass, als sie
dort weggegangen sind, mit ihnen auch der Sachverstand
verschwunden ist.
({4})
Diese Mitarbeiter und ich haben seit zwei Jahren gewarnt. Im November 2000 habe ich gesagt, es ziehen dunkle Wolken am Konjunkturhimmel auf. Da haben Sie gelacht. Als Sie von Ihrer Steuerreform als der größten
Steuerreform des Jahrhunderts gesprochen haben, haben
wir gesagt: falsch angelegt, bestraft den Mittelstand. Wir
haben vor einem Jahr gesagt, dass die Weichen in die
falsche Richtung gestellt sind und genau das eintreten
wird, was auch Sie heute beklagen, nämlich dass die
Steuereinnahmen wegbrechen.
({5})
All das kanzelten Sie als falsch und unseriös ab.
Noch wenige Tage vor der Wahl, am 12. September,
haben Sie hier gesprochen und fast die gleiche Rede gehalten; eigentlich hätten Sie nur das Datum ändern müssen. Da sagten Sie, alles das, was die Union vorschlägt,
koste viel Geld und sei falsch. Nein, Herr Eichel, Sie haben die Menschen belogen.
Im Zusammenhang mit dem Thema Wirtschaft ist gestern von Bilanzfälscherei die Rede gewesen. Die Bundesregierung hat im Juni eine Broschüre versendet. Diese
Broschüre hat sie „Geschäftsbericht der Bundesregierung“ genannt und damit so getan, als sei Deutschland
eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft. Nach den in diesem Geschäftsbericht angegebenen wirtschaftlichen Eckdaten müssten Sie angesichts dessen, was ich Ihnen gleich
vorrechnen werde, in diesem Jahr Konkurs anmelden.
Natürlich müsste man dabei auch darüber nachdenken
- leider ist es dafür jetzt zu spät; wir werden vier Jahre
darauf warten müssen -, so schnell wie möglich das
Führungspersonal auszuwechseln, und zwar Sie, Herr
Eichel, an erster Stelle.
({6})
Ich möchte Ihnen jetzt darstellen, weshalb die Neuverschuldung die genannten Konsequenzen haben müsste.
Statt der für dieses Jahr erwarteten Neuverschuldung von
21 Milliarden Euro oder 42 Milliarden DM - in Euro klingen die Beträge immer so niedlich, vor allem dann, wenn
man die jetzigen Eurobeträge mit den DM-Beträgen der
Vorjahre vergleicht - wird die tatsächliche Neuverschuldung 35 Milliarden Euro betragen. Das sind rund 14 Milliarden Euro mehr Neuverschuldung, als im Haushalt vorgesehen. Zur Größenordnung der Neuverschuldung hat
der Finanzminister übrigens keinen einzigen Satz gesagt.
Die Neuverschuldung wird sich in diesem Jahr also auf
70 Milliarden DM - den Betrag von 35 Milliarden Euro
kann man ja grob im Verhältnis von 1 : 2 in D-Mark umsetzen - belaufen. Das wird die höchste Neuverschuldung
der Nachkriegszeit sein. Für den Fall, dass dieser Betrag
vielleicht früher doch schon einmal überschritten worden
sein sollte, müsste mich der Kollegen Carstens korrigieren.
Wenn Sie in dieser Situation sagen, das, was die Opposition wolle, führe zu höherer Neuverschuldung, die
jetzige Opposition habe in früheren Jahren zu viele Schulden gemacht, dann ist das bei 35 Milliarden Euro Neuverschuldung in diesem Jahr geradezu blamabel.
({7})
Man kann auch die anderen Angaben in dem „Geschäftsbericht der Bundesregierung“ nehmen, um das zu
zeigen.
Natürlich wird die Nettokreditaufnahme deutlich über
der Investitionssumme liegen.
({8})
Der Haushalt ist also verfassungswidrig.
({9})
Das alles sagen wir Ihnen schon seit einem Dreivierteljahr. Ist das etwa unseriös gewesen?
Dabei haben wir übrigens auch dargelegt, dass sich die
Steuereinnahmen so entwickeln werden, wie sie sich
jetzt tatsächlich entwickelt haben. Bei Ihnen gibt es offenbar nur die Steuereinnahmen von September, nicht die
von Januar, Februar, März, April, bei denen diese Entwicklung auch schon festzustellen war.
Als wir rechtzeitig darauf hingewiesen haben, dass im
letzten und in diesem Jahr bei der Körperschaftsteuer ein
Loch entstehen werde, haben Sie auch das als falsch dargestellt und gesagt, das alles werde sich ändern, auch der
Sachverstand Ihres Hauses sage, dass das in diese Richtung gehe. Ich möchte Ihre Mitarbeiter nicht beleidigen.
Darunter sind viele gute Leute, auch Unionsmitglieder. Es
müssen also auch gute Leute sein. Aber wenn Sie verhindern, dass diese Leute ihren Sachverstand in die Arbeit
einbringen, dann brauchen Sie sich über das Ergebnis
nicht zu wundern.
({10})
Das gilt speziell für das Thema der Neuverschuldung.
Sie sind der Finanzminister, der in diesem Jahr einen
verfassungswidrigen Haushalt zu verantworten hat. So,
wie sich die Dinge entwickeln, wird sich das im nächsten
Jahr wiederholen. Die Investitionen gehen ja zurück.
Dann kommt Herr Müntefering und sagt: Wir machen ein
Investitionsprogramm mit 90 Milliarden Euro - nicht gesagt hat er, ob das in zehn, 20 oder 50 Jahren sein soll.
Im letzten Jahr unserer Regierungszeit - der Vergleich
zwischen 1998 und heute ist ja interessant - gab es Investitionen in der Größenordnung von 29 Milliarden Euro
und bei Ihnen sind es in diesem Jahr 25 Milliarden Euro.
Das sind 4 Milliarden Euro oder 8 Milliarden DM weniger. Wenn das im nächsten Jahr unter Berücksichtigung
der Inflationsrate auf dem gleichen Niveau bleibt, dann
werden Sie zugeben müssen, dass die Investitionen bei Ihnen ständig zurückgegangen sind bzw. zurückgehen.
Die jetzige Regierung setzt auf höhere Neuverschuldung und stärkere Belastung der Bürger. Wir haben einmal ausgerechnet, welche Belastungen die Festlegungen
in dem Koalitionsvertrag für Bürger und Betriebe mit sich
bringen. Unter Berücksichtigung der vorgesehenen Kürzungen bei den Zuschüssen an die Bundesanstalt für Arbeit, der Entwicklung bei den Steuereinnahmen usw.
kommen wir auf eine Größenordnung von 103 Milliarden Euro an zusätzlichen Belastungen von Bürgern und
Betrieben in den kommenden vier Jahren.
Die Regierung ist nicht in der Lage - das ist der entscheidende Fehler, den die Regierung macht -, ein Konzept vorzulegen, das die Perspektive erkennen lässt - der
Kollege Merz hat bereits darauf hingewiesen -, dass es
mehr wirtschaftliches Wachstum geben könnte. Jede Dynamik wird totgetrampelt,
({11})
jede Möglichkeit, das wirtschaftliche Wachstum zu stärken, wird trotz der bestehenden schwierigen Situation negiert. Angesichts dessen kann gar nichts anderes als eine
pessimistische Zukunftserwartung eintreten. Das ist das
entscheidende Problem: Wie soll die Wirtschaft bei immer
höheren Steuern, höheren Sozialabgaben und höheren Belastungen von Bürgern und Betrieben in Gang kommen?
Da Sie das genau so machen, ist es unpassend, wenn Sie
sechs Wochen nach der Wahl jetzt Hilfe suchend fragen,
was die Union meint, wie deren Alternative aussieht.
Die Alternative hat sich übrigens nicht geändert.
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen: Wir haben
vorgeschlagen, zur Finanzierung der Fluthilfe den
Bundesbankgewinn zu verwenden. Auch im nächsten
Jahr wird es einen Bundesbankgewinn geben. Dazu haben
Sie gesagt: Wenn wir diesen Gewinn einsetzen, haben wir
400 Millionen Euro mehr für Zinsen zu zahlen. - Allein
die zusätzlichen Schulden in Höhe von 14,5 Milliarden
Euro, die Sie in diesem Jahr machen, bedeuten im nächsten Jahr und bis zum Ende der Rückzahlung zusätzliche
Zinsen in Höhe von 800 Millionen Euro. Das ist das Doppelte von dem, was wir einsetzen wollten, um im Rahmen
der Flutkatastrophe zu helfen.
({12})
Sie sagen, das sei ein kleines Konjunkturprogramm.
Jedermann ist doch klar, dass Sie das, was Sie in den
neuen Bundesländern mit unserer Unterstützung ausgeben, an anderer Stelle abziehen. Dieser Konjunkturimpuls
fehlt woanders. Im Moment fragen doch die Bürger
beängstigt: Was wird denn aus unserer Ortsumgehung?
Was passiert an dieser oder jener Stelle? Was wird mit den
Einnahmen der Gemeinden?
Damit bin ich bei einem weiteren Punkt, bei der Situation der Länder und Gemeinden. Auch hierzu haben Sie,
Herr Eichel, falsche Zahlen genannt. Die Steuerverteilung
hat sich in den letzten vier Jahren so verändert, dass der
Anteil des Bundes immer fetter geworden ist und der
Anteil von Ländern und Gemeinden immer kleiner. Jetzt
wollen Sie den Gemeinden ein Geschenk machen, indem
Sie sagen: Was bei der Hartz-Kommission eingespart
wird, das dürft ihr behalten. - Das heißt, in nächster Zeit
bessert sich bei den Gemeinden überhaupt nichts.
({13})
Sie stellen weiterhin fest, dass wahrscheinlich eine
große Zahl von Ländern - übrigens meist SPD-regierte
Länder - im nächsten Jahr verfassungswidrige Haushalte
vorlegen werden.
({14})
- Herr Clement, das gilt natürlich in besonderem Maße für
Nordrhein-Westfalen.
({15})
Sie haben ja offensichtlich viel von dem, was Sie dort hinterlassen haben, abgestreift. Der Frohmut, der in Ihren
Gesichtszügen zu erkennen ist, zeigt, an welcher Dynamik es gefehlt hat.
Meine Damen und Herren, ich möchte etwas dazu sagen, was es bedeutet, dass wir die Gemeinden so schlecht
behandeln und sich ihre finanzielle Situation so schlecht
entwickelt hat. Das macht sich bei der Jugendförderung,
der Kultur, den Volkshochschulen und dergleichen mehr
bemerkbar. Es ist kein Geld mehr vorhanden; freiwillige
Leistungen gibt es nicht mehr. Die Gemeinden sind nicht
mehr in der Lage - übrigens auch die Länder -, ihren eigenen Anteil aufzubringen, um Hilfen des Bundes und der
EU in Anspruch zu nehmen.
Wozu führt das? Das führt dazu, dass Sie, Herr Eichel, die
Strukturhilfe der EU, die für die neuen Bundesländer vorgesehen war - dies war in diesem Jahr eine Größenordnung
von etwa 4,5 bis 5 Milliarden Euro -, in den Sack stecken.
({16})
Sie verringern damit die Neuverschuldung. Akzeptiert!
Aber dies bedeutet doch zunächst einmal, dass den neuen
Ländern diese Strukturhilfe, diese Unterstützung, in einer
solchen Größenordnung fehlt.
({17})
Das ist übrigens ein Betrag, der höher ist als das, was im
Rahmen der Fluthilfe wieder ausgeschüttet wird. Das
heißt, die strukturschwachen Länder werden doppelt betrogen: einmal durch Ihre saumäßige Politik und zum anderen dadurch, dass Sie ihnen die Mittel, die ihnen eigentlich zustehen, entziehen.
({18})
- Ich glaube nicht, dass bei dem Wust von Verdrehungen,
von falschen Zahlen, von dem, was den Bürgern über Monate hinweg vorgegaukelt worden ist,
({19})
irgendeine Wortwahl zu drastisch sein könnte, um die Situation zu beschreiben. Sie müssten lange darum betteln,
dass wir das vergessen. Aber wir werden es nicht vergessen.
({20})
- Herr Poß, das wäre einen Ordnungsruf wert. Aber ich
nehme Sie als Experten in diesem Bereich sowieso nicht
mehr ernst.
Ich möchte etwas zu dem Thema „3-Prozent-Kriterium“ sagen. Es wird davon gesprochen, dass wir bei der
Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes mehr
Flexibilität benötigen. Flexibilität ist vorhanden. Die Länder der EU sind berechtigt, sich pro Jahr bis zu 3 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes neu zu verschulden. Das bedeutet für Deutschland 60 Milliarden Euro. Das heißt,
ich habe in Höhe von 60 Milliarden Euro Luft, kann also
flexibel sein.
Sie haben aber einen wesentlichen Teil nicht nur dazu
beigetragen, dass diese 60 Milliarden überschritten worden sind, sondern auch dazu, dass die Länder zum Teil
nicht in der Lage waren, ausgeglichene Haushalte vorzulegen. Sie haben mit Ihrer Politik dazu beigetragen, dass
sich die Sozialkassen, deren Ausgaben in diesem Zusammenhang hinzuzurechnen sind, in einer ähnlichen Situation befinden. Wenn Sie das alles addieren, kommen Sie
auf ein Defizit von etwa 70 Milliarden Euro in diesem
Jahr. Das sind mindestens 3,5 Prozent. Diese Zahl habe
ich Ihnen zu Beginn des Jahres genannt. Sie haben sie damals aber als unseriös bezeichnet, weil Ihre Mitarbeiter sie
noch nicht bestätigt hatten oder nicht bestätigen durften.
Angesichts der Tatsache, dass wir, die wir vor Jahren
den Stabilitätspakt im Interesse einer stabilen Währung
und der Menschen durchgesetzt haben, von Ihnen vor
sechs Wochen dafür noch kritisiert worden sind und dass
Sie dieses Kriterium jetzt verletzen, können Sie sich nicht
herausreden, es habe bisher an Flexibilität gefehlt. Sie begehen einen Kardinalfehler, wenn Sie die Verschuldung
so hochtreiben, weil dadurch in der Tat die nachfolgenden
Generationen in der Zukunft belastet werden.
Das Stichwort Nachhaltigkeit taucht im Koalitionsvertrag schätzungsweise 40- bis 50-mal auf.
({21})
Ist es eine nachhaltige Finanzpolitik - Sie haben immer
davon gesprochen, dass Sie eine solche machen würden -,
wenn man die Schulden dermaßen erhöht und die Konjunktur belastet?
({22})
Konjunktur ist ein gutes Stichwort. Es wird immer davon gesprochen, dass die Weltkonjunktur auf unser Land
hereingebrochen sei. Aber merkwürdigerweise gilt das in
dem gleichen Maße nicht für andere Länder.
({23})
- Es wird doch immer gesagt, dass die Weltkonjunktur
uns besonders belastet. Warum belastet sie nicht gleichermaßen andere Länder innerhalb der EU?
({24})
Wir haben das Glück, dass wir aufgrund eines relativ hohen Exports noch gut dastehen. Aber die Probleme haben
ihre Ursachen im Inland; sie sind hausgemacht. Dafür
trägt die rot-grüne Regierung die Verantwortung.
({25})
Die Verschlechterung der Konjunktur ist im Wesentlichen auf eine Entwicklung zurückzuführen, die durch
die Verschlechterung der Rahmenbedingungen in Gang
gesetzt wurde. Insofern trägt die Regierung eine Mitverantwortung für die Konjunktur. Da hilft Ihnen auch nicht,
dass Sie auf uns zeigen und uns fragen, wo unsere Vorschläge sind.
({26})
- Das sage ich Ihnen gleich, Frau Scheel.
({27})
Ihr Finanztableau stimmt nicht. Unsere Rezepte müssen
nicht geändert werden. Wir müssen durch mutige Schritte
unsere Ziele erreichen.
({28})
Ich hätte der Regierung zunächst einmal Mut zur Wahrheit gewünscht. Sie sollten zugeben, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist.
({29})
Sie müssen jetzt sagen, wohin die Entwicklung führen
soll. Eine Haushalts- und Finanzpolitik, die sich in der Erhöhung von Steuern und Abgaben erschöpft, ist nicht geeignet, wirtschaftliches Wachstum zu fördern und mehr
für Beschäftigung zu tun.
({30})
Mit diesem Programm wird die Regierung nicht die
Kräfte entfesseln, die für den Schub, den dieses Land so
dringend braucht, nötig wären.
Wir haben vor der Wahl unsere Alternative am Beispiel
der Fluthilfe deutlich gemacht. Ich möchte sie wiederholen: Auch im nächsten Jahr wird ein Bundesbankgewinn
in erheblichem Umfange anfallen. Ich denke, dass manche Debatte, die wir in der Vergangenheit geführt haben,
wieder aufgenommen werden muss.
Ich möchte einen Punkt erwähnen, der sicherlich für
die nächste Zeit von erheblicher Bedeutung ist: Wir müssen wirklich einmal anfangen zu sparen.
({31})
Ich bin ein bisschen darüber erstaunt, wie lange Ihnen die
Menschen geglaubt haben, dass Sie es mit dem Sparen
ernst meinen.
({32})
Sparen hat zunächst einmal mit der Reduzierung von Ausgaben zu tun. Haben Sie in den letzten dreieinhalb Jahren,
in denen Sie Finanzminister sind, Ausgaben in der Summe
reduziert? Wenn ich den Vergleich von 1998 zu 2002
ziehe, dann stelle ich fest, dass der Staatskonsum ausgeweitet worden ist
({33})
und die Investitionen zurückgegangen sind. Wenn ich das
Koalitionspapier betrachte, dann kann ich keine Stelle
entdecken, an der Ausgaben begrenzt werden. Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit betreffen ja nicht direkt
den Bundeshaushalt.
Sie erhöhen Steuern und nennen das Subventionsabbau.
({34})
Sie denken sich, Gott sei Dank kann die Staatskasse saniert werden, weil die Weihnachtsbäume, Zahnprothesen
und Strohballen teurer werden. Besser kann man nicht
verdeutlichen, wie kleinkariert eine Politik ist, die auf
solche Steuererhöhungen setzt. Wenn die Mitbürger in
sechs Wochen ihren Weihnachtsbaum kaufen, dann müssen sie wissen, dass Herr Eichel mit einem Euro dabei ist.
Das ist Ihre Zukunftspolitik.
({35})
Wir fordern Sie auf, tatsächlich mit dem Sparen zu
beginnen. Das bringt nach unserer Schätzung 2 Milliarden Euro. Wir fordern eine drastische Senkung der
Steuern und eine Begrenzung der Abgaben.
Ich will Ihnen einmal vorrechnen, wie sich das Steuerexperiment mit den Kapitalgesellschaften ausgewirkt hat.
Im Jahre 2000 wurden 44 Milliarden DM an Körperschaftsteuern eingenommen. Im Jahr 2001 waren es
0 DM. Das bedeutet ein Minus von 44 Milliarden DM. In
diesem Jahr betragen die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer ebenfalls 0 DM. Das bedeutet noch einmal
ein Minus von 44 Milliarden DM. Das ergibt in der
Summe ein Minus von fast 100 Milliarden DM. Das ist
fast so viel wie der Betrag, den Sie beim Verkauf der
UMTS-Lizenzen erzielt haben.
Diesen Betrag, 100 Milliarden DM oder fast 50 Milliarden Euro, hat man durch eine falsch angelegte Steuerreform verplempert. Wenn jemand anfängt, eine Alternative aufzubauen, muss er eine Steuerreform machen, die
dazu beiträgt, dass der Mittelstand entlastet wird und
Investitionen ermöglicht werden. Die Menschen müssen
wieder Mut zum Investieren finden. Wir brauchen aber
keine Steuerreform, die Lasten nur einseitig verschiebt.
Ein ganz wesentlicher Aspekt: Wir sagen, die Steuern
müssen gesenkt werden. Es gilt eine alte Erfahrung: Je
niedriger die Steuern sind, umso mehr nimmt der Staat ein.
({36})
- Wenn Sie es denn machten, wäre es in Ordnung; aber Sie
machen es nicht.
Das kann man doch berechnen: Wie viel Steuern haben
wir 1998 eingenommen und wie viel werden wir voraussichtlich in diesem Jahr einnehmen? Von diesem Betrag
müssen wir den Anteil der Körperschaften abziehen, dann
müssen wir uns fragen: Wer hat denn die Steuern aufgebracht, die die Körperschaften nicht bezahlt haben? Das
müssen doch die Bürger und Betriebe gewesen sein.
({37})
Wenn das Steueraufkommen nicht gesunken ist, dann
muss doch einer die Differenz bezahlt haben. Die Körperschaften waren es nicht; also waren es der Mittelstand,
die normalen Bürger, die Arbeitnehmer. Genau sie haben
die Steuern bezahlt und darin liegt das Problem.
({38})
Wir sind bereit, mit Ihnen zusammen über neue Wege
nachzudenken; der Kollege Laumann hat das bereits ausgeführt. Das betrifft die Annäherung der Arbeitslosenhilfe
an die Sozialhilfe, die Begrenzung der Sachleistungen auf
Pauschalbeträge und mehr soziale Gerechtigkeit; denn
viele erhalten Unterstützungen, die sie eigentlich nicht
brauchen.
Ein weiterer Punkt unserer Alternative: Wir müssen die
Strukturhilfe der EU, wenn sie denn zurückfließt, auch denen zukommen lassen, die darauf Anspruch haben, weil
sie in strukurschwächeren Regionen wohnen.
Zu diesem Bündel von konkreten Maßnahmen - ein paar
habe ich genannt - müssen noch schnelle Schritte zum Abbau bürokratischer Hemmnisse kommen. Wir brauchen
die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und
mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Das kostet nichts.
Der Kollege Merz hat bereits darauf hingewiesen: Diese
Schritte können wir in diesem Jahr schnell machen.
Was wir aber nicht schnell durchziehen werden und
nicht wieder durchgehen lassen, ist, dass Sie eine Haushaltsberatung für den Haushalt des kommenden Jahres
durchführen, die auf falschen Daten basiert und mit der
Sie wieder einmal versuchen, das Parlament zu übertölpeln. Nein, Sie müssen bei der Wahrheit bleiben oder
- wie in diesem Fall - zur Wahrheit zurückkehren.
Mehr oder weniger offen klagen auch SPD-geführte
Bundesländer über falsche Weichenstellungen im Koalitionsvertrag. Der ganze Vertrag ist unbrauchbar, er ist kein
Wegweiser in die Zukunft. Ohne Korrekturen verschlechtern sich Beschäftigungsmöglichkeiten, Wachstumser218
wartungen und Investitionsbereitschaft. Kehren Sie um,
damit unser Land nicht weiter Schaden nimmt!
Herzlichen Dank.
({39})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Austermann hat hier „Haltet den Dieb!“ gespielt. Erinnern
Sie sich noch an den kleinen Minister, der hier gesagt hat:
Die Rente ist sicher? Erinnern Sie sich noch daran, dass
uns Ostdeutschen gesagt wurde, die deutsche Einheit
werde aus der Portokasse bezahlt? Das waren die Täuschungen und sie passierten, bevor Rot-Grün an die
Macht gekommen ist.
({0})
Diese Täuschungen werfen Sie heute dem Finanzminister vor, der als Erster damit angefangen hat, die Neuverschuldung drastisch zu senken. In vier Jahren RotGrün wurde nur ein Viertel so viel neue Schulden gemacht
wie in vier Jahren Schwarz-Gelb zuvor.
({1})
Wenn das kein deutlicher Ausweis ist, dann weiß ich es
nicht besser.
Nun behauptet Herr Austermann hier, mit den Bundesbankgewinnen hätte man die Flutschäden bezahlen können. Herr Austermann, mit den Bundesbankgewinnen
hätten Sie nur die Hälfte der Flutschäden bezahlen können. Die Finanzmittel für die zweite Hälfte hätten Sie anderweitig aufbringen müssen. Wahrscheinlich hätte das
ebenfalls 400 Millionen Euro Zinsen zur Folge gehabt
und Sie kämen damit auf die gleiche Summe wie wir. Erzählen Sie hier keine Halbwahrheiten, sondern bleiben
Sie bei der Wahrheit!
({2})
Uns ist in der letzten Legislaturperiode etwas gelungen,
was Ihnen jetzt zu schaffen macht: Unsere Regierungskoalition hat es geschafft, eine neue Kultur in der
Finanzpolitik zu kreieren, und zwar die Konsolidierungskultur. Dies tut Ihnen weh, denn in Ihrer alten Denkschule
gilt immer noch die Neuverschuldung als smartes Instrument der Finanzpolitik. Dies ist Lehrbuchwissen aus den
70er-Jahren. Wir aber reden über eine komplexe Welt, die
komplexe Antworten braucht. Wir können uns gern noch
einmal über die Neuverschuldung unterhalten. Sie ist und
bleibt aber stigmatisiert, und dies - wie ich finde - zu Recht.
({3})
Dass Sie sich darüber beschweren, dass wir die Erlöse
aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen in die Tilgung
gesteckt haben,
({4})
zeigt einmal mehr, dass Sie nicht verstanden haben, wie
peinlich es ist, sich ständig auf Kosten zukünftiger Generationen oder auf Kosten der Menschen in anderen Teilen
dieser Welt neu zu verschulden.
({5})
Der zweite Schritt steht bevor und dieser tut weh; das
kann ich Ihnen versprechen. Es geht um die Einführung
der Modernisierungskultur. Unsere Sozialpolitiker aus
beiden Fraktionen wissen ziemlich genau, was auf sie zukommt. Hier nützen auch irgendwelche Schamanen-Beschwörungen eines Herrn Austermann nichts. Die Strukturreformen sind der notwendige zweite Schritt, um aus
der Konsolidierungskultur jetzt die Modernisierungskultur zu entwickeln. Ich weiß, dies wird schwer. Ich habe die
Genossen dabei fest im Blick.
({6})
Sie haben uns in der letzten Legislaturperiode zugemutet, uns außenpolitisch den Realitäten anzupassen. Das
haben wir getan.
({7})
Das war eine schwere Belastungsprobe für unsere Partei.
({8})
- Ich weiß, dass Sie keine Nachhilfe brauchen. Ich will
Sie ermutigen, Herr Poß - Sie kommen ja aus NRW und
wissen ganz genau, was ich meine -, zu erkennen, dass die
Modernisierungsprozesse mit den Strukturreformen bei
der Rentenversicherung, bei der Krankenversicherung
und bei der Arbeitslosenversicherung notwendig sind.
Wir brauchen sie.
({9})
Der Finanzminister weiß es, wir wissen es, Sie wissen es
und ich weiß, dass es schwer wird. Es hilft aber nichts.
Wir müssen es machen.
({10})
Die Truppe auf der anderen Seite des Hauses hat es viel
schwerer. Sie hat noch nicht einmal die Modernisierungsschritte nachvollzogen. Außerdem hat sie eine FDP an der
Hacke, die es überhaupt nicht kümmert, ob dies sozial
verträglich abläuft oder nicht. Deswegen haben Sie es mit
uns viel besser. Ich hoffe, Sie merken das.
Jetzt kommen wir zu dem politischen Dreiklang bei
den Lohnnebenkosten. Wir haben ein ganz schweres
Erbe angetreten. Die beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme sind genau das Erbe, das uns jetzt vieles
schwer macht. Andere Länder - so zum Beispiel in Skandinavien - können sich viel leichter bewegen, weil sie
steuerfinanzierte Sozialsysteme haben. Wir aber haben
beitragsfinanzierte Systeme. Diese sind viel stärker an
den Faktor Arbeit gekoppelt, was uns vieles erschwert.
Wenn wir immer mehr von der Industriegesellschaft
zur Dienstleistungsgesellschaft übergehen, werden die
klassischen Wachstumspotenziale beispielsweise durch
eine Vergrößerung des Maschinenparks wegfallen. Dies
ist klar. Wir haben also auch andere Wachstumsprognosen
zu erwarten. Mit diesen müssen wir flexibel umgehen.
Das heißt, wir brauchen eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Anders wird der Übergang in eine Dienstleistungs- und Mediengesellschaft nicht zu schaffen sein.
({11})
Das heißt, erforderlich ist eine Anpassung an die Realitäten. Das steckt dahinter.
({12})
Sie von der Opposition haben die eigentliche Verantwortung. Nachdem Sie nach 1990 ziemlich lange verantwortungslos und angelehnt an Ihr veraltetes Lehrbuchwissen einfach so weiterregiert haben,
({13})
wird es langsam Zeit, dass Sie sich Ihrer Verantwortung
in diesem Lande stellen. Wenn man Ihre Wahlprogramme
- eigentlich müssen Sie sie peinlich verstecken ({14})
noch einmal hervorkramt und hineinschaut, erkennt man,
dass Sie überhaupt nicht versuchen, dieser Verantwortung
gerecht zu werden.
({15})
Sie haben nur Vorschläge gemacht, die nicht umsetzbar
sind.
({16})
Schauen Sie sich Ihre Subventionsexperten in der FDP
an. Ihr ehemaliger Wirtschaftsminister Lambsdorff war
es, der die Steinkohlesubventionen verbrochen hat.
({17})
Seien Sie bloß vorsichtig! Wir versuchen jetzt, diese jedes
Jahr weiter herunterzufahren. Dies stammt doch alles aus
Ihrer Regierungszeit.
Sie kommen mit dieser These, man könnte die Subventionen um 10 Prozent reduzieren. Bis zum 1. Januar
2003 schaffen Sie dies gar nicht, denn es gibt Verträge und
Gesetze. Außerdem gibt es Subventionen, die Sinn machen, so zum Beispiel die Unterstützung der Einführung
erneuerbarer Energien. Auch gibt es Subventionen, bei
denen ich deutlich mehr als 10 Prozent einsparen möchte.
({18})
Hier muss man doch qualitativ unterscheiden. Wie kann
man denn mit solchen Pauschalschritten versuchen, einen
Bereich zu bereinigen, der bei der Zukunftsorientierung,
Schwerpunktsetzung und Prioritätensetzung eine große
Rolle spielen soll?
({19})
Man hat in der letzten Woche im Fernsehen gemerkt,
wie groß inzwischen die Verlegenheit bei Ihren konservativen Vordenkern, wie zum Beispiel dem Herrn Miegel,
bei den populistischen und schwierigen Diskussionen
über die Staatsfinanzen ist. Herrn Miegel fiel nämlich
zum Thema Abbau der Staatsverschuldung außer der Verkleinerung des Bundestages nichts anderes mehr ein.
Nehmen Sie einmal diesen kleinen Betrag und sehen Sie
sich unsere großen Probleme an, die übrigens doppelt so
groß wären, wenn Ihr Wahlprogramm auch nur halbwegs
„in die Pötte käme“. Überlegen Sie sich bitte einmal, wie
verlegen und wortlos Sie inzwischen schon geworden
sind.
({20})
Sie haben die Definitionshoheit in der Finanzpolitik
längst verloren.
({21})
Sie kommen mit Ideen von Investitionsprogrammen.
Dies hatten wir in der Baubranche alles schon. Menschen
haben ihre Lebensläufe darauf aufgebaut, dass die Baubranche über Sonderabschreibungen und Steuersubventionen boomt. Dies hat auch einige Jahre lang funktioniert. Es hat aber nicht dazu geführt, dass die Leute ihre
Lebensplanung durchhalten konnten. Japan macht denselben Fehler. Es hat ebenfalls Investitionsprogramme gemacht. Dadurch hat das Land eine Deflation, dass es nicht
mehr über die Runden kommt.
Sie wollen zum Beispiel - was ich wirklich schamlos
finde - den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gefährden. In Ihren Reihen sitzen Leute, die dauernd
verkünden, der Wehretat müsse drastisch angehoben werden. Ich habe da etwas von 10 Milliarden Euro in vier Jahren unken hören. Überlegen Sie sich das einmal! Das ist
derselbe Fehler, den Frankreich macht. Die Franzosen haben die Chuzpe, sich in Brüssel hinzustellen und zu sagen,
sie würden das Kriterium im nächsten Jahr nicht erfüllen
können, weil sie die Verteidigungsausgaben erhöhen
müssten. Das ist im Prinzip so wie in Amerika. Die Amerikaner hatten ein „balanced budget“, ein ausgeglichendes
Budget, als Clinton abtrat. Dann hat Bush eine Steuersenkung vorgenommen, die dazu geführt hat, dass die Sozialausgaben und die Verteidigungsausgaben in 2002 auf
über 100 Milliarden US-Dollar klettern werden. Das ist
volkswirtschaftlich nicht vernünftig. Es gibt nicht mehr
den einfachen Zusammenhang zwischen Steuern senken
und Verschuldung erhöhen. Das funktioniert nicht mehr.
Die Konjunktur reagiert nicht mehr auf monokausale Zusammenhänge. Diese Annahme ist falsch.
({22})
Wir haben vorhin schon gehört, dass 13 oder 14 Bundesländer das 3-Prozent-Kriterium in diesem Jahr wahr220
scheinlich nicht erfüllen werden. Ich denke, die Information ist richtig. Das heißt aber, dass die Bemühungen der
Bundesregierung, einen nationalen Stabilitätspakt aufzubauen, der dem entsprechen soll, was wir in Brüssel vereinbart haben, richtig sind. Die Länder müssen mit ins
Boot. Auch sie müssen sich mehr anstrengen, die Neuverschuldung zu senken, statt irgendwelche folgenlosen
Selbstverpflichtungen einzugehen. Das müssen wir ein
bisschen enger fassen.
Dasselbe gilt für die Sozialversicherungssysteme. Deren Schulden machen zusammen mit den Schulden der
Länder und des Bundes den gesamten Schuldenstand aus.
Sie müssen alle mit ins Boot und an der Senkung der Neuverschuldung mitwirken.
Bei den Ländern haben Sie ja ein bisschen mitzureden.
Damit sind wir bei Ihrer Verantwortung in der Opposition.
Sie können natürlich mithelfen, das 3-Prozent-Kriterium
einzuhalten. Sie haben das durchaus mit in der Hand.
({23})
Zum Schluss. Auf uns wollen Sie ja nie hören; Sie meinen, Sie wüssten das alles aus Ihren Lehrbüchern besser.
Vielleicht hilft ja ein göttlicher Hinweis. Ich habe am
28. Oktober im „Tagesspiegel“ etwas über das Erzbistum
Berlin gelesen. Ich zitiere:
Erzbistum steht vor der Pleite
Jahrelang hat die katholische Kirche über ihre Verhältnisse gelebt ... Ursache der heutigen Finanzkrise
ist die Entscheidung der Bistumsleitung, seit Mitte
der neunziger Jahre Haushaltslücken durch Kredite
zu schließen. ... In besseren Jahren wurden keine
Rücklagen gebildet.
({24})
Das ist ein religiöser Autoritätsbeweis. Wenn das sogar
die katholische Kirche kapiert hat, dann müssten Sie dieser Argumentation eigentlich folgen.
Danke.
({25})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Günter Rexrodt,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hermenau, das waren ja gewagte ökonomische Thesen, die Sie vorgetragen haben,
({0})
um darüber hinwegzutäuschen, dass Sie mit dem Stabilitätspakt nicht klarkommen.
Aber ich möchte mich ganz an die Fakten halten, die
Sie, Herr Bundesfinanzminister, in Ihren Unterlagen veröffentlicht haben. Versprochen war der moderate Abbau
der Nettoneuverschuldung in 2002 von 22,8 Milliarden
Euro auf 21,1 Milliarden Euro und in 2003 von 21,1 Milliarden Euro auf 15,5 Milliarden Euro. Die Realität - das
sehen auch die Menschen draußen -: Der Bund wird sich
im Jahre 2002 mit mehr als 30 Milliarden Euro verschulden müssen - nicht 21,1 Milliarden Euro, sondern mehr
als 30 Milliarden Euro - und in 2003 stehen mindestens
18 Milliarden Euro Nettoneuverschuldung an. Das ist ein
Desaster.
({1})
Versprochen war ein ausgeglichener Haushalt in 2004;
jetzt wird von 2006 gesprochen. Keiner glaubt mehr daran. Versprochen waren Steuersenkungen durch die
größte und wichtigste Steuerreform seit dem Kriege. Die
Realität sind Steuererhöhungen. Allein in 2003 sind es
7 Milliarden Euro durch die Koalitionsvereinbarung,
7 Milliarden Euro durch die Verschiebung der Steuerreform und 3 Milliarden Euro durch eine weitere Stufe der
Ökosteuer. Das macht zusammen 17 Milliarden Euro, die
die Menschen und die Unternehmen weniger in den Taschen und auf den Konten haben.
({2})
Meine Damen und Herren, die Situation gleicht einem
Desaster.
({3})
Versprochen war eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge auf unter 19 Prozent. Im Moment liegen
die Beiträge bei 19,1 Prozent, 19,3 Prozent stehen im
Raum. Selbst diese Höhe ist nur durch Anbruch der Notreserve der Rentenversicherung erreichbar. Versprochen
war eine Gesundheitsreform mit der Folge stabiler
Beiträge zur Krankenversicherung. Die Beiträge liegen in
diesem Jahr bei 14 Prozent. Eine Erhöhung auf 15 Prozent
bei einigen Kassen mit nur kleinen Unterschieden steht
an. Das ist ein Desaster.
({4})
Die Lohnnebenkosten sollten auf unter 40 Prozent sinken.
Sie liegen im Moment bei 41,3 Prozent, Tendenz steigend.
Deutschland ist Schlusslicht. Es hagelt in der internationalen Wirtschaftspresse Hohn und Spott. Niemand
glaubt mehr an das Märchen, daran sei die Weltwirtschaft
schuld. Im Gegenteil: Von der Weltwirtschaft gehen Impulse für die deutsche Wirtschaft aus. In den letzten Jahren konnten wir überdurchschnittliche Steigerungsraten
beim Export verzeichnen. Die Stimmung im Lande ist katastrophal. Das alles ist hausgemacht.
Welche rhetorischen Klimmzüge hat diese Koalition,
hat Finanzminister Eichel nicht unternommen, um rotgrüne Finanzpolitik als ein Highlight dieser Koalition zu
stilisieren! Allein der Gedanke, die Kriterien von Maastricht könnten verletzt werden, war unglaublich, eine Zumutung und eine durch nichts begründete Attacke auf
diese Koalition.
Heute haben wir den Salat. Wir sind vom Konsolidierungskurs abgekommen. Es wird von einer Flexibilisierung
und von einer Interpretation des Stabilitätspakts gesprochen. Meine Damen und Herren, wer interpretiert, der
deutet um und verklausuliert die Schwäche seiner eigenen
Politik.
({5})
Schauen wir uns die Ausgabenpolitik einmal genauer an.
Seit 1990 waren im Zuge der Wiedervereinigung zunächst
enorme Steigerungen zu verzeichnen, und zwar von
194 Milliarden Euro 1990 auf 241 Milliarden Euro 1994.
Von 1995 an wurden die Ausgaben kontinuierlich zurückgeführt, von 237 Milliarden Euro auf 226 Milliarden Euro
in 1997. Dies ist eine Wiedergabe von Statistiken des Finanzministeriums. Von 1997 an stieg die Höhe der Ausgaben wieder auf jetzt 245 Milliarden Euro. Ich gebe allerdings zu, Herr Eichel, dass darin einige Sondereffekte wie
zum Beispiel die Ausgaben für die Postpensionskassen und
die Familienregelungen enthalten sind. Das wissen wir. Das
Entscheidende aber ist: Auf diesem Plafond von 245 Milliarden Euro sollen die Ausgaben bis 2006 bleiben; das weisen Ihre eigenen Papiere aus. Diese Ausgabenentwicklung
ist Ausdruck Ihrer Unfähigkeit und Unwilligkeit.
({6})
Sie müssen die Reformen der Sozialsysteme und bei
der Arbeitsmarktförderung vorantreiben, und zwar so,
dass sie ein Mindestmaß an gestalterischen Spielräumen,
an Freiheiten beispielsweise dafür schaffen, dass man aus
dem Haushalt einige Milliarden entnehmen kann, um einer Naturkatastrophe wie der Flut zu begegnen oder um
die dringend notwendige und lange angekündigte und kalkulierte Steuerreform für den Mittelstand nicht verschieben zu müssen.
({7})
Sie, Herr Eichel, haben in den ersten Jahren von der guten
Konjunktur und den Einnahmen auch aus den Privatisierungen gut gelebt. Heute haben Sie den Salat.
Ich möchte mit einem weiteren Märchen aufräumen,
nämlich mit dem, dass die rot-grüne Koalition die Konjunktur in den ersten vier Jahren ihrer Legislatur nach
oben getrieben hat. Tatsache ist, dass es in der ersten
Hälfte der 90er-Jahre exorbitante Wachstumsraten gab,
dass 1995/96 ein erster erheblicher Einbruch zu verzeichnen war und dass es ab 1997/98 konjunkturell wieder
aufwärts ging, sodass Sie im Jahre 1998 ein Wachstum
von 3,1 Prozent erben konnten.
({8})
Und wo stehen wir heute? Bei weit unter 1 Prozent. Das
sind alles Märchen, die hier erzählt worden sind.
Ich möchte noch einen Aspekt darstellen: Seit vielen
Jahren versuche ich, auf die demographische Katastrophe hinzuweisen. Damit bin ich nicht richtig durchgedrungen; andere auch nicht.
({9})
Bei den Experten ist es jedenfalls ein Thema. Obwohl die
Zeit drängt und der Spielraum für Korrekturen immer enger wird, gilt das für die Politik nicht in dem Maße, wie
wir es brauchen. Wir haben noch acht bis zehn Jahre; in
acht bis zehn Jahren beginnt sich die demographische Katastrophe richtig auszuwirken, weil die Bevölkerung
schrumpft und die Sozial- und die Bildungssysteme nicht
mehr bezahlbar sind. Mit ein wenig Anpassung hier und
ein paar Korrekturen da, so, wie Sie das vorsehen, wird
das nicht zu machen sein. Wir brauchen Reformen, die
diesen Namen verdienen.
({10})
Wir schlagen vor: Umorientierung auf Wettbewerb
- beispielsweise im Gesundheitsbereich - und mehr
Selbstverantwortung im Rentenbereich, um auch denen
helfen zu können, die dazu weniger in der Lage sind als
andere.
({11})
Rot-Grün drückt sich um diese wirklichen Reformen.
({12})
Sie werfen - das hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gestern auch wieder getan - das Problem
auf. Wenn es aber um die Lösung geht, fällt Ihnen nicht
mehr ein, als Korrekturen durchzuführen. Damit werden
wir nicht hinkommen.
Herr Kollege Rexrodt, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zu meinem letzten Satz. - Deshalb sind Sie
drauf und dran, Reformen zu versäumen und trotzdem die
Finanzen dieses Staates total zu ruinieren.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass SPD und Grüne mit der
Koalitionsvereinbarung als einzige der politischen Wettbewerber ein konkretes, an den wirtschaftlichen, sozialen
und finanziellen Realitäten orientiertes und langfristig angelegtes Politikkonzept vorlegen.
({0})
Bei aller Berechtigung mancher Einwände - der letzte
Hinweis des Kollegen Rexrodt, dass der gesellschaftliche
und demographische Wandel ein ganz wichtiges Thema
ist, war ja nicht unberechtigt -: Von Ihnen - egal, ob von
FDP oder CDU/CSU - ist kein vergleichbares Konkurrenzangebot gekommen. Das heißt, bei allen vermeintlichen Schwächen, die unsere Koalitionsvereinbarung an
dieser oder jener Stelle haben soll: Sie sind für den politischen Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland
nach wie vor geistig nicht gerüstet. Das ist die zutreffende
Beschreibung Ihrer Situation.
({1})
Frau Merkel hat vom Reich gesprochen und sich an Bibelzitaten versucht. Sie, ob Herr Austermann, Frau
Merkel oder Herr Merz heute Morgen, bewegen sich nach
wie vor in einer virtuellen Welt. Das Reich der CDU/CSU
- das der FDP sowieso - ist wahrlich nicht von dieser
Welt;
({2})
denn Sie ignorieren die konkrete ökonomische, finanzielle und soziale Realität, die vorzufinden ist. Wir befinden uns in der Situation, dass wir noch eine lange Zeit
in einem Land leben werden, in dem wir die Folgen der
Teilung auf all den Gebieten, die ich genannt habe, überwinden müssen.
({3})
Das wird auch von vielen so genannten Sachverständigen leider oftmals ausgeblendet. Wir können uns nicht
auf irgendeinem Reißbrett bewegen. Wir leben in einer
konkreten Realität. Realitätstüchtig ist nur der, der konkrete Vorschläge, die in die richtige Richtung gehen
müssen, zur Veränderung dieser Realität macht. Mit unserer Koalitionsvereinbarung machen wir solche Vorschläge.
({4})
Beschäftigen wir uns deswegen nun also ein wenig mit
der Realität. Es ist schon erwähnt worden, dass bereits
jetzt vorauszusehen ist, dass die nächste Steuerschätzung
in zwei Wochen im Ergebnis besagen wird, dass alle öffentlichen Haushalte, also nicht nur der Bund, sondern
auch die Länder und Kommunen, mit erheblich weniger
Steuereinnahmen werden rechnen müssen, als sie es bisher getan haben.
({5})
Als Folge davon wird in den meisten Bundesländern voraussichtlich die Gefahr bestehen, dass die Länderhaushalte in die Verfassungswidrigkeit rutschen.
({6})
Der Bund wird voraussichtlich gezwungen sein, für dieses Jahr einen Nachtragshaushalt vorzulegen und die
Schuldenaufnahme zu erhöhen.
({7})
Nach der Steuerschätzung in zwei Wochen wird sich
zwingend ergeben, dass weder der Bund noch die Länder
daran vorbeikommen, für die Folgejahre Konsolidierungspakete zu schnüren. Das derzeitige Hauptproblem
der staatlichen Haushaltspolitik ist damit nicht in erster
Linie die Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes,
liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielmehr geht es zuallererst darum, dass zumindest eine Reihe von Ländern
kurzfristig erst einmal die Verfassungsmäßigkeit ihrer
Haushalte sicherstellen müssen. Das ist der Hintergrund,
vor dem auf absehbare Zeit nicht nur der Bund, sondern
auch die Länder und die Kommunen ihre Politik betreiben
müssen.
Das heißt, jeder politische Vorschlag, der in dieser Zeit
vorgebracht wird, egal von welcher Seite, ist unter
Berücksichtigung dieser äußerst schwierigen Haushaltslage auf allen Ebenen zu bewerten. Dieser Maßstab muss
eingehalten werden. Weder beim Bund noch bei den Ländern noch bei den Kommunen gibt es derzeit offensichtlich irgendwelche Spielräume für zusätzliche Ausgaben
oder für Steuersenkungen, die über das bisher beschlossene Maß hinausgehen. Deswegen ist alles, was Sie hier
vorgetragen haben, Schall und Rauch und hat mit der Realität nichts zu tun. Das muss den Bürgerinnen und Bürgern
klar sein.
({8})
An dieser Stelle möchte ich kurz auf die von vielen
- nicht nur im Lager der Opposition - geäußerte Behauptung zu sprechen kommen, man müsse nur genügend öffentliche Mittel in die Hand nehmen, dann sei es
ein Leichtes, Deutschland wieder in eine Aufschwungphase zu bringen, sozusagen isoliert von der europäischen und der weltweiten Situation. Selbst wenn - ich
bin da sehr skeptisch - durch weitere zusätzliche Steuersenkungen oder auch durch spezielle Ausgabenprogramme Konsumenten und Investoren aus ihrer Zurückhaltung herausgeholt werden könnten: Solange Bund,
Länder und Kommunen an der Grenze zu verfassungswidrigen Haushalten stehen, können sie es sich allein aus
rechtlichen Gründen nicht erlauben, darauf zu warten, ob
ein solcher zusätzlicher expansiver Impuls wirklich erfolgreich wäre.
Zusätzlich hohe Schulden zu machen, wie das in den
Jahren der Kohl-Regierung üblich war, und nur auf das
Prinzip Hoffnung zu setzen, dass dabei wirtschaftlich
etwas Positives herauskommt, wäre ein Risiko, das
verantwortliche Politik nicht eingehen darf. Wir in dieser Koalition machen verantwortliche Politik.
({9})
Wer - wie es Frau Merkel gestern hier getan hat - behauptet, die Altlasten der 16 Jahre Kohl-Regierung seien
schon abgetragen und vergessen, der will nicht nur seine
eigene Verantwortung leugnen. Er zeigt auch, dass ihm
die Dimensionen dieser Altlasten der Regierung Kohl
noch immer nicht bewusst sind. Liebe Frau Merkel, auch
wenn Sie jetzt nicht in diesem Raum sind: Alle in
Deutschland werden von Ihren Hinterlassenschaften
- leider, muss man hinzufügen - noch viele Jahre betroffen sein.
({10})
Deshalb hat der Solidarpakt II eine Laufzeit bis 2019.
Diese zeitliche Reichweite macht die Aufgabe deutlich,
vor der wir stehen. Wegen der historischen Vorbelastung
und der Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftsschwäche sind in Deutschland die Verschuldungsspielräume auf allen staatlichen Ebenen in diesem und zumindest auch im nächsten Jahr mittlerweile so weit
ausgereizt, dass für Illusionen, ökonomische Träumereien
und fromme Wünsche kein Platz mehr ist. Deswegen haben wir darauf verzichtet, in unsere Koalitionsvereinbarung Illusionen, Träumereien oder fromme Wünsche hineinzuschreiben. Unser Platz ist mitten in dieser Welt. Wir
wollen mit den Fährnissen dieser Situation fertig werden.
({11})
Wenn Herr Rexrodt den Eindruck erweckt, als seien wir
mit unserer Situation isoliert, alles sei hausgemacht und
habe mit der Weltwirtschaft nichts zu tun, dann lesen Sie
einmal das Herbstgutachten. Darin ist davon die Rede, dass
der Aktienkursverfall, die Risiken des steigenden Ölpreises
und die internationale Krisenlage als Hauptursachen für die
derzeitige gedrückte Stimmung anzusehen sind.
({12})
Das Finanzpaket der Koalitionsvereinbarung ist eine
angemessene, realistische und vernünftige Reaktion auf
diese Lage,
({13})
auch wenn es die Opposition und vom Wahlausgang zutiefst enttäuschte Verbandsvertreter und Meinungsmacher
anders darstellen. Was Herrn Austermann angeht, weiß
ich nicht, was er morgens nach dem Aufstehen macht. Ich
kann mir vorstellen, dass er Übungen macht, um seinen
Ärger darüber abzureagieren, dass er keine Chance bekommen hat, auf die Regierungsbank zu kommen.
({14})
Man merkt Ihnen doch körperlich an, Herr Austermann,
wie wenig Sie mit dieser Situation klarkommen, dass Sie
auch in den nächsten Jahren noch auf den Oppositionsbänken sitzen müssen.
({15})
Sie sind der Letzte, der andere bzw. den Bundesfinanzminister zeihen könnte, fahrlässig mit der Wahrheit umzugehen. Die Kollegen Diller und Wagner haben Ihnen im
Deutschen Bundestag schon oft nachgewiesen, dass Sie
ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit haben. Dem
brauche ich kein Beispiel hinzuzufügen.
({16})
Auch wenn es die Opposition und die Verbandsvertreter also anders darstellen: Das Finanzpaket der Koalitionsvereinbarung ist kein willkürlich zusammengestelltes
Sammelsurium von irgendwelchen schikanösen Geldeintreibungen. Wir haben uns vielmehr nach klaren Kriterien
und Zielen gerichtet. So war es das Ziel der Überlegungen
- Herr Eichel hat es bereits ausgeführt -, dass das Paket
nicht nur die Haushaltslage des Bundes verbessert, sondern auch die der Länder und der Kommunen. Aus diesem
Grunde erfolgt die Schwerpunktsetzung auf den Abbau
von Steuervergünstigungen und Steuervorteilen, von
dem alle Ebenen profitieren.
({17})
Das stärkt die Investitionsfähigkeit von Ländern und
Kommunen und auch darauf kommt es an, nicht nur auf
die Investitionsfähigkeit des Bundes.
Mit dem von uns zusammengestellten Paket würden
die Länder bereits im Jahr 2003 zusätzliche Einnahmen in
Höhe von etwa 2 Milliarden Euro erhalten, die sie dringend benötigen. Entsprechendes gilt für die Kommunen.
({18})
Die noch einmal gegebene Zusicherung einer schnellen
Gemeindefinanzreform mit einer dauerhaften Stärkung
der kommunalen Finanzkraft, die beabsichtigte Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft, die Einbeziehung erwerbsfähiger Sozialhilfebezieher in ein einheitliches Leistungsrecht für Nichtbeschäftigte und ein Ertrag
aus der Abschaffung von Steuerprivilegien und Subventionen, ansteigend auf einen Betrag von etwa 4 Milliarden Euro, stellen substanzielle Verbesserungen für die
Kommunen in Deutschland dar. Deswegen haben auch
die kommunalen Spitzenverbände - einschließlich der
schwarzen Vertreter in diesen Verbänden - diese Koalitionsvereinbarung begrüßt.
({19})
Der Bundesrat trägt die große politische und gesellschaftliche Verantwortung, als Verfassungsorgan die Zustimmung zu diesem Paket zu ermöglichen, wohl wissend, vor welchem Hintergrund sich das Verfahren
abspielt. Das habe ich vorhin bereits eingehend geschildert.
({20})
Des Weiteren gehen wir mit dem Paket einen großen
Schritt weiter in Richtung einer gerechteren und gleichmäßigeren Besteuerung. Haben Sie etwas dagegen, Herr
Thiele? Durch den Abbau von Steuersubventionen, die
stärkere Einbeziehung von privaten Veräußerungsgewinnen in die Besteuerung und eine Mindestgewinnbesteuerung bei großen Kapitalgesellschaften verbreitern wir die
steuerliche Bemessungsgrundlage. Das ist eine alte Forderung aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Sie aber reden von Steuererhöhungen und argumentieren gegen Ihre eigenen Konzepte, die Sie hier in
der Vergangenheit vorgelegt haben.
({21})
Mit diesem Paket verstetigen wir die Steuereinnahmen für
Bund, Länder und Kommunen.
({22})
Wenn ich die Einlassungen von Repräsentanten der
Union im Wahlkampf und auch in den vergangenen Tagen
richtig verstanden habe, ist die Union bereit, uns hierbei
die Hand zu reichen. Ich bin gespannt, wie das konkret
aussieht.
({23})
Es scheint vernünftigerweise Konsens darüber zu bestehen, dass auch große Unternehmen, die Gewinne aufweisen, ein Mindestmaß an Steuern zahlen und damit zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen müssen.
Genauso müsste doch im Deutschen Bundestag Konsens
darüber bestehen, dass wir alle in der Verantwortung stehen, die Finanzierungsfähigkeit des Staates zu erhalten,
das heißt zu gewährleisten, dass jede Ebene die ihr überantworteten Aufgaben finanzieren und damit erfüllen
kann. Sie stehen in dieser Frage in der gleichen Verantwortung wie wir, meine Damen und Herren.
({24})
Auch vor diesem Hintergrund ist es absolut notwendig
und sehr begrüßenswert, dass die Koalitionsvereinbarung mit einer effektiven Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs und der besseren Durchsetzung der Steuerpflicht bei Kapitaleinkommen weitere Schritte zu einem
konsequenteren Vollzug des geltenden Steuerrechts
aufweist. Steuerhinterziehung bedeutet im Endeffekt
auch eine Umverteilung von den Ehrlichen zu den Unehrlichen und ist ein massiver Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip.
({25})
Die Finanzpolitiker aller Fraktionen sollten deshalb in
den nächsten Jahren im Kampf gegen die Steuerhinterziehung einen Schwerpunkt ihrer Arbeit sehen. Ich bin auf
die Beiträge der FDP, Herr Thiele, und auch auf die der
CDU/CSU gespannt. Zumindest die Teile der Koalitionsvereinbarung, die sich klar gegen Steuerhinterziehung
aussprechen, müssten unmissverständlich und einhellig
von der Opposition, den Verbänden und auch vom Bund
der Steuerzahler begrüßt werden.
({26})
Mit den finanzpolitischen Elementen der Koalitionsvereinbarung halten wir Kurs
({27})
und setzen systematisch unsere langfristig angelegte
haushalts- und steuerpolitische Strategie fort,
({28})
die wir seit der Übernahme der Regierungsverantwortung
vor vier Jahren begonnen haben. Wir bleiben konsequent
bei der Haushaltskonsolidierung, auch wenn wir in den
nächsten Jahren - das ist der konjunkturellen Situation geschuldet - die Neuverschuldung leicht modifizieren. Wir
bleiben konsequent, indem wir zukunftsrelevante Bereiche wie etwa die Familienförderung, Forschung und Bildung sowie die Infrastruktur stärken. Es ist ökonomisch
vernünftig,
({29})
wenn wir die Investitionen verstärken und die Neuverschuldung ein wenig anpassen.
({30})
In der Steuerpolitik kombinieren wir seit 1998 das
Schließen von Schlupflöchern und die Beseitigung von
Ausnahmetatbeständen mit einer langfristig angelegten
Senkung der Steuersätze insbesondere für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für Familien, aber auch
für Unternehmen. Sie reden doch nur vom Spitzensteuersatz. Von unserer Steuerpolitik haben Millionen Familien,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Mittelstand profitiert, und zwar real.
({31})
Wir setzen diese Linie fort. Es bleibt bei den Steuerentlastungsstufen 2004 und 2005.
({32})
Vor diesem Hintergrund ist es schlichtweg Unsinn, uns
eine Steuererhöhungsstrategie bzw. eine Steuerehöhungspolitik zu unterstellen. Die Steuerentlastungsstufen 2004
und 2005 werden kommen.
Jede Maßnahme zur Stabilisierung der staatlichen Einnahmebasis gleich als Steuererhöhung zu brandmarken ist
keine verantwortliche Finanzpolitik.
({33})
Selbst von Fachleuten und Fachjournalisten wird viel zu
selten darauf hingewiesen, dass die volkswirtschaftliche
Steuerquote derzeit nicht höher ist als in den 60er-Jahren
des letzten Jahrhunderts.
({34})
Das scheint also nicht unser Problem zu sein.
Denjenigen, die dem Koalitionsvertrag und insbesondere seinem finanzpolitischen Teil Wachstumsschädlichkeit unterstellen,
({35})
ist Folgendes entgegenzuhalten: Bei Verzicht auf das beschlossene Finanzpaket würde Deutschland auch im
nächsten Jahr Probleme mit der Einhaltung der im Maastrichter Vertrag vereinbarten 3-Prozent-Marke bekommen. Ein restriktiverer geldpolitischer Kurs der EZB wäre
fast zwangsläufig. Es bleibt zudem unbestreitbar: Die öffentlichen Schulden von heute sind die Steuererhöhungen
von morgen.
({36})
In einer Phase, in der es darauf ankommt, das Vertrauen
der Wirtschaftssubjekte zu stärken, kann das nicht der
Weg sein. Es kann aber auch nicht hingenommen werden,
dass Sie weiter Horrormeldungen in die Welt setzen und
Schwarzmalerei betreiben, wie Sie das bisher getan haben. Auch das, was Sie in den letzten zwei Tagen an
Beiträgen geleistet haben, ist unverantwortlich.
({37})
Die Lage ist schwierig, bietet aber keinen Grund für
Untergangsszenarien. Wo sind eigentlich Ihre konkreten
Alternativen? Von denen war weder gestern noch heute etwas zu hören. Wo sind Ihre konkreten Konsolidierungsvorschläge?
({38})
Sie können nicht Konsolidierung einfordern
({39})
und gleichzeitig jeden unserer Vorschläge madig machen
und keinen einzigen Alternativvorschlag vorlegen. So
geht das nicht.
Dann versprechen Sie auch noch - das wird oben
draufgesattelt - milliardenschwere Steuer- und Abgabensenkungen. Sie haben mit Ihrem Gerede über das, was
möglich ist und was nicht, über Monate die bundesdeutschen Wählerinnen und Wähler systematisch getäuscht.
({40})
Oder schwenken Sie jetzt auf den Kurs von Roland Koch
ein, der zusätzliche Schulden machen will?
Wie halten Sie es eigentlich mit den „3 mal 40“ in
Ihrem Programm? Wollen Sie sozialen Kahlschlag und
Einschränkungen bei den Mitteln für Forschung, Bildung
und öffentliche Investitionen? Wo sind überhaupt die konkreten Vorschläge zur Umsetzung des Programms „3 mal
40“, mit dem Sie im Wahlkampf durch alle Städte und
Dörfer gezogen sind? Sie wollten nicht nur die Staatsquote unter 40 Prozent senken - die FDP sogar auf 35 Prozent, das war aber mehr eine Nummer für den Zirkus -,
sondern auch den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und den gesamtem Sozialversicherungsbeitrag. Wo
steht denn, wie Sie das konkret und detailliert machen
wollen? Solange Sie darauf keine Antwort geben - ich
wiederhole mich -, sind Sie politisch nicht konkurrenzfähig in der Bundesrepublik Deutschland.
({41})
Wir packen die notwendigen Strukturreformen an. Das
haben wir mit unserer Koalitionsvereinbarung deutlich
gemacht. Wir halten Kurs bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, auch wenn es unpopulär ist. Wir sichern die Einnahmebasis des Staates. Es bleibt bei den
beschlossenen Steuerentlastungen, insbesondere für Arbeitnehmer, Familien und Mittelstand. Wir stellen uns den
notwendigen Sozialreformen ohne einen sozialen Kahlschlag und ohne massive Umverteilung von unten nach
oben. Meine Damen und Herren, wir halten Kurs. Die
Menschen können sich auf uns verlassen.
({42})
Ich denke, dass nach gewissen Irritationen in den
letzten Tagen, die ja nicht zu leugnen sind,
({43})
zu denen Sie aber kräftig beitragen, weil Sie das als Ihre
Oppositionsaufgabe verstehen,
({44})
sich bei den Bürgerinnen und Bürgern mehr und mehr setzen wird, dass es zu unserer Politik, deren Grundzüge ich
hier versucht habe
({45})
noch einmal zu beschreiben, keine reale Alternative gibt.
({46})
Es gibt in diesem Haus eine zunehmend verantwortungslose Opposition, aber keine reale Alternative zu unserer
Politik.
({47})
Das Wort hat der Kollege Bartholomäus Kalb,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn man sich die gestrigen Ausführungen des
Bundeskanzlers und die heutigen Aussagen des Finanzministers und von Herrn Poß zum Thema Staat, zum
Verständnis vom Staat und zu den Aufgaben des Staates
vor Augen führt, kann das im Ergebnis nur bedeuten:
mehr Schulden, höhere Steuern, höhere Abgaben, mehr
Staatsquote, insgesamt mehr Staat. Sie trauen den Menschen nicht zu, dass sie zunächst einmal ihre Aufgaben in
eigener Verantwortung lösen, dass sie in Freiheit und Eigenverantwortung ihr Leben und ihre Zukunft gestalten
wollen und sollen. Sie haben ein Bild vom Betreuungsstaat, vom Vorschriftenstaat, der regelt, der reglementiert,
der zwangsbeglückt und in dem es nicht erwünscht ist,
dass die Menschen und Bürger ihre Ideen, ihre Kräfte und
ihre Fähigkeiten frei entfalten. Aber genau das braucht
diese Gesellschaft.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
nur vier Jahre gebraucht, um ein Land aus einem starken
Aufwärtstrend an die Wand zu fahren, um den wirtschaftlichen Abschwung zu gewährleisten. Wir haben
Ihnen vor vier Jahren diese Regierung übergeben
({1})
mit einem starken Wirtschaftswachstum, mit einer steigenden Beschäftigung, mit einer sinkenden Arbeitslosigkeit, mit steigenden Steuereinnahmen, mit sinkenden
Ausgaben und mit einer stabilen Währung. So war die
Übergabebilanz.
({2})
Sie haben es bis heute fertig gebracht, dass dieses Land
wirtschaftlich an der Wand steht. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, in dieser wirtschaftlich problematischen Situation, in dieser fragilen und labilen Lage wäre
es dringend geboten, alles zu unterlassen, was irgendwie
die Gefahr in sich trägt, die Wirtschaft und die Konjunktur weiter abzuwürgen. Es wäre dringend geboten, alles zu
tun, was geeignet wäre, Wachstum zu initiieren und
Beschäftigung zu schaffen.
({3})
Sie tun aber genau das Gegenteil. Über diese Koalitionsvereinbarung herrscht bei allen Betroffenen und bei allen
Fachleuten das blanke Entsetzen. Sie tun genau das Gegenteil von dem, was notwendig wäre. Wissen Sie denn
eigentlich, wie die Lage draußen ist? Telefonieren Sie
überhaupt mit den Menschen und den Unternehmen
draußen? Die stehen alle mit dem Rücken zur Wand.
Ich sage Ihnen ein Beispiel. Mein Sohn steht vor dem
Berufsanfang. Die Berufsberaterin sagt: Was die Meldung
von Ausbildungsplätzen angeht, so haben die Unternehmer vor der Wahl gesagt, sie müssten sehen, wie die Wahl
ausgeht. Jetzt sagen die Unternehmer, sie müssten erst
sehen, wie sie über den Winter kommen. - Viele wissen
nicht, wie sie mit ihren Betrieben über den Winter kommen!
({4})
Sie wursteln vor sich hin. Sie bringen die Wirtschaft
nicht in Fahrt. Sie verunsichern. Statt klare Wachstumsimpulse zu geben, pflastern Sie die Wege mit Steuererhöhungen und mit Androhungen: Ökosteuer, Schwefelsteuer, Versicherungsteuer, Tabaksteuer, Verschiebung
der nächsten Stufe der Steuerreform und neu natürlich die
Änderungen bei den Bemessungsgrundlagen, die Sie so
schön verkleistern. In Wirklichkeit ist das auch nichts anderes als Steuererhöhung. Außerdem denken Sie über
Tobinsteuer, Europasteuer, Vermögensteuer nach.
({5})
Da sollen die Leute noch Mut haben, ihr Geld in diesem Land zu lassen und in diesem Land zu investieren!
Die Koalitionsvereinbarung ist ein Sammelsurium von
Steueränderungsvorschlägen, aber eine Linie ist nicht erkennbar. Die „FAZ“ und andere Zeitungen weisen Ihnen
nach, dass Familien durch Ihre Vorschläge im Durchschnitt mit 300 Euro monatlich negativ betroffen sein
werden.
({6})
Selbst der „Stern“ schreibt in seiner jüngsten Ausgabe
- ich zitiere -:
Katzenfutter und Zahnprothesen - nichts steht besser
für die politische Kleingärtnerei, in die sich die Koalitionäre verrannt haben.
({7})
Ich kann nur sagen: Und der Vereinsschatzmeister ist der
Herr Eichel.
Sie nennen das jetzt alles - so haben wir gestern
gehört - intelligentes Sparen. Marc Beise von der „Süddeutschen Zeitung“ hat Ihnen schon am 19. Februar gesagt, dass intelligentes Sparen notwendig sei. Er erhob
dann die Frage:
Ob der Minister Eichel dieses Kunststück beherrscht, hat er noch nicht bewiesen. Alle seine bisherigen Operationen waren ziemlich einfallslos.
Das ist es!
({8})
Jetzt will Bundeskanzler Schröder von einigen der Regelungen, die in der Koalition vereinbart wurden, nichts
mehr wissen und hat öffentlichkeitswirksam Abmilderung versprochen. Rot-Grün arbeitet nämlich nach der
Methode: zwei Schritte vor und einen Schritt zurück. Unter dem Strich bleibt es bei erheblichen Steuermehrbelastungen für die Bürger. Bis 2006 werden es selbst
nach Ihren Berechnungen insgesamt 67 Milliarden Euro
sein. Nicht in der Koalitionsvereinbarung, aber auf der
Homepage des Bundesfinanzministers kann der Bürger
sehen, was ihn erwartet. Dort ist die 21-seitige Giftliste
eingestellt. Mehr als 50 Steuervorschriften sollen gestrichen werden. Angekündigt ist das als Abbau von schädlichen Steuersubventionen. Doch unter dem Strich wird das
verfassungsrechtliche Gebot der Besteuerung nach der
individuellen Leistungsfähigkeit mit Füßen getreten.
Bereits heute beschäftigen zahlreiche Regelungen das
Bundesverfassungsgericht: die Mindeststeuer, der halbe
Steuersatz bei Veräußerungen usw. So viel ist sicher: Die
Richter in Karlsruhe werden dank Rot-Grün auch in Zukunft viel zu tun haben.
({9})
Das scheint das Einzige an Kontinuität zu sein, auf das
sich der Steuerzahler verlassen kann.
Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der einzelnen Vorschläge wurden anscheinend nicht untersucht.
Wie sonst lässt sich erklären, dass Hans Eichel mit 40 seiner 50 Vorschläge den Betrieben direkt ans Leder will? Da
wundert es nicht, dass Herr Piech dem Bundeskanzler die
Freundschaft kündigt, weil - so sagt er - „ich den Ärger
mit der Schröder-Regierung für die Wirtschaft habe kommen sehen“; so in der „Passauer Neuen Presse“ vom
14. Oktober dieses Jahres nachzulesen.
({10})
- Das war auch noch woanders nachzulesen.
Mit allen diesen Maßnahmen ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Es ist schon wiederholt darauf
hingewiesen worden: Vieles wurde von Ihnen erst nach
dem 22. September bekannt gegeben - Sie haben sich angeblich vorher nicht dazu in der Lage gesehen -; so ähnlich wird es auch nach den Wahlen in Hessen und Niedersachsen sein. Die Steuerzahler dürfen gespannt sein,
welche Botschaften am 3. und 4. Februar nächsten Jahres
bekannt gegeben werden.
({11})
Ich komme auf Ihre Regelungen zur Verstärkung von
Investitionen - Änderung der Eigenheimzulage usw. - zu
sprechen. Im Koalitionsvertrag ist von einer verstärkten
Ausrichtung auf Familien die Rede.
({12})
99 Prozent der Bürgerinnen und Bürger werden durch die
Änderung der Eigenheimzulage schlechter als bisher gestellt. Hinzu kommt, dass Sie die Regelungen zur Abschreibung von Investitionen in Gebäude verschlechtern
und dass Sie Spekulationsgewinne besteuern wollen. Dies
alles führt doch dazu, dass die Familien und die Mieter in
Zukunft schlechter gestellt werden; denn sie werden die
Zeche zu zahlen haben.
Das alles ist für die Bauwirtschaft katastrophal.
({13})
Sie liegt bereits am Boden. Sie treten denen, die schon am
Boden liegen, mit den Stiefeln ins Gesicht. Ich wiederhole, was ich bereits vorhin gesagt habe: Viele Betriebe
wissen nicht, wie sie in Zukunft überhaupt noch existieren können.
Wenn Sie nie in einem Betrieb Verantwortung getragen
haben, wenn Sie also nie dafür verantwortlich waren, für
treue Mitarbeiter ausreichend Beschäftigung zu schaffen,
indem Sie dem Betrieb zu einer ausreichenden Anzahl
von Aufträgen verholfen haben, dann haben Sie vielleicht
nicht den richtigen Zugang. Wer sich aber über viele Jahre
der eigenen Existenz und der Existenz der Arbeitnehmer
im eigenen Betrieb verpflichtet gefühlt hat, der weiß, wie
bitter es ist, wenn man nicht mehr weiß, ob der eigene Betrieb im nächsten Monat noch besteht, weil er womöglich
zahlungsunfähig geworden ist.
({14})
Das Gleiche, was Sie im Zusammenhang mit Immobilien vorhaben, sehen Sie auch für die Wertpapierbesteuerung vor. Genauso wie Gewinne aus Immobilienbesitz sollen Aktiengewinne unabhängig von Fristen
besteuert werden. Vor drei Jahren meinte Hans Eichel dazu
noch im „Stern“ - das ist mittlerweile ein guter Fundus -:
Wir haben die Spekulationsfrist gerade auf ein Jahr
verlängert. Dabei soll es bleiben. Wir dürfen den Finanzplatz Deutschland nicht schwächen. Dabei geht
es um Arbeitsplätze.
({15})
Gilt das jetzt alles nicht mehr?
({16})
Herr Finanzminister, gerade durch die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen haben Sie dazu beigetragen, dass die Kleinaktionäre kräftig zur Kasse gebeten
worden sind, da der Wert ihrer Aktien gesunken ist. Im
Übrigen haben Sie nicht gemerkt, dass auch die von Ihnen
so hoch gelobte Riester-Rente von der Neuregelung der
Wertpapierbesteuerung betroffen ist. Mit dieser Neuregelung gehen Sie den Kleinaktionären ans Portemonnaie.
Der Finanzminister verspricht die Abschaffung von
20 000 Steuervorschriften. Herr Finanzminister, das ist
ziemlich unglaubwürdig. Mit Ihnen hat man wirklich den
Bock zum Gärtner gemacht. Wer ist denn für dieses überaus komplizierte Steuerrecht, wie es in den letzten vier
Jahren entwickelt worden ist, verantwortlich? - Das waren niemand anders als Sie und Ihre Koalitionäre.
({17})
In den letzten vier Jahren hat Hans Eichel mit fast
60 Gesetzen steuerliche Vorschriften geändert bzw. neue
Steuerregelungen eingeführt. Den Steuerzahlern stand im
Durchschnitt fast alle drei Wochen ein neues Gesetz ins
Haus. Der Finanzminister hat sich bei der Benennung seiner neuen Folterinstrumente wirklich Mühe gegeben. So
hießen die einzelnen Vorhaben: Steuerentlastungsgesetz,
Steueränderungsgesetz, Steuerbereinigungsgesetz, Steuersenkungsgesetz, Steuersenkungsergänzungsgesetz und
Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz. Das letzte Werk
war dann das Flutopfersolidaritätsgesetz. Jetzt sind wir
alle darauf gespannt, welchen schönen Namen Sie sich für
Ihr „Giftlistengesetz“ einfallen lassen.
({18})
Auf die Landwirtschaft haben Sie es ganz besonders
abgesehen. Neben der Anhebung der Mehrwertsteuer, der
Abschaffung der Ökosteuerermäßigungen, der Abschaffung der Vorsteuerpauschale, der Abschaffung der Gewinnermittlungen nach Durchschnittssätzen, wie sie in
§ 13 a EStG geregelt ist, kommen auf die Landwirtschaft
erhebliche Belastungen zu, und zwar nicht nur finanzieller, sondern vor allen Dingen auch bürokratischer Art. Sie
verursachen bei den kleineren landwirtschaftlichen Betrieben Beratungskosten, die zu tragen sie in dieser
schwierigen Zeit nicht mehr in der Lage sind.
({19})
All das wird dazu führen, dass es in der Landwirtschaft
zur beschleunigten Aufgabe von Betrieben kommt. Wenn
Sie schon sonst mit der Landwirtschaft nichts am Hut
haben, dann sollten Sie zumindest in der schwierigen
wirtschaftlichen Lage, in der wir uns mit Blick auf den
Arbeitsmarkt befinden, hier nicht zusätzlich Existenzen
vernichten und Menschen in die Arbeitslosigkeit
schicken.
({20})
Wir wissen, dass Sie von der SPD eine geradezu tief
sitzende Abneigung gegen die Landwirtschaft haben. Daher verwundert es nicht, wenn sich eine SPD-Bundestagsabgeordnete vor Ort beklagt: In Berlin will keiner
über Landwirtschaft reden.
Jetzt hat die Koalition angeblich erkannt, dass bei der
Ausgestaltung der Steuerreform Fehler gemacht worden
sind. Trotz negativem Körperschaftsteueraufkommen hat
man dort bisher jeglichen Reparaturbedarf bestritten. Die
Steuerreform mit der Änderung des Körperschaftsteuersystems war insgesamt falsch konzipiert; dies unterstrich
Professor Sinn vor kurzem in einem Beitrag für eine namhafte Zeitung sehr deutlich. Jetzt erkennen Sie die Fehlerhaftigkeit und reagieren wiederum falsch. Die Systemumstellung haben Sie falsch angelegt. Vor allen Dingen
haben Sie die wirklichen Probleme des Eigenkapitalaustauschs nicht erkannt und keine entsprechende Vorsorge
getroffen.
In die steuerliche Berücksichtigung von Verlusten
wird jetzt elementar eingegriffen. Kleine wie große Kapitalgesellschaften sollen faktisch eine Mindeststeuer zahlen, unabhängig davon, was am Jahresende tatsächlich erzielt wurde. Das belastet nicht nur die Liquidität, sondern
auch die Substanz der Unternehmen bei einer insgesamt
zu geringen Eigenkapitaldecke der deutschen Betriebe.
Auch die zeitliche Begrenzung des bisher unbefristeten
Verlustvortrags auf sieben Jahre zielt in diese Richtung.
Auf der Strecke bleiben gerade Existenzgründer, die in
den ersten Jahren erhebliche Verluste machen. Der jetzige
Vorschlag ist schärfer als das, was Lafontaine damals eingeführt hat.
Hinter all dem steckt noch das verzerrte Unternehmerbild von Rot-Grün aus der sozialistischen Mottenkiste.
({21})
Wann wird diese Regierung endlich erkennen, dass es
ohne Unternehmer keine Unternehmen und ohne Unternehmen keine Arbeitsplätze gibt?
({22})
Risikobereitschaft, Kreativität und Arbeitsbereitschaft
unserer deutschen Unternehmerpersönlichkeiten müssen
besser genutzt und für mehr Wachstum und Beschäftigung eingesetzt werden. Wir brauchen Leute mit Ideen,
Leute, die bereit sind, Leistung zu erbringen und die Entwicklung sozusagen mit dem Hirn anzuschieben. Man
darf ihnen aber nicht gleichzeitig ständig auf den Kopf
schlagen.
({23})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum 1. Januar 2003 wird die nächste Ökosteuererhöhung kommen, so viel ist sicher. Aber damit nicht genug. Denn in
der Koalitionsvereinbarung heißt es im Kapitel „Ökologische Finanzreform“ wörtlich:
Im Jahr 2004 werden wir im Hinblick auf die Emission klimaschädlicher Gase den Ölpreis, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die soziale
Verträglichkeit überprüfen, ob und wie die Besteuerung unter ökologischen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln ist.
Dies steht im Gegensatz zu der Verkündung des Kanzlers,
dass nach der Ökosteuererhöhung im Jahr 2003 keine
weiteren Stufen folgen werden. Die Bürger müssen sich
also auf weitere Erhöhungen der Ökosteuer einstellen. Ich
erinnere daran, dass es Schröder war, der einmal gesagt hat:
Sechs Pfennig sind genug. Auf die Versprechungen des
Bundeskanzlers darf sich jedenfalls niemand verlassen.
Immer größere Lasten werden den Kommunen vom
Bund aufgebürdet, ohne dass ihnen ausreichende Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Das hat natürlich
Auswirkungen auf die kommunalen Investitionen, besonders im Baubereich. Beharrlich weigert sich die Koalition, diesen Zustand durch Verzicht auf die nicht mehr
gerechtfertigte Erhöhung der Gewerbesteuerumlage aufzufangen.
({24})
Inhaltlich wollten Sie ja während des ganzen Bundestagswahlkampfes keine Themen, die originär den Bund
betreffen, behandeln. Darum haben Sie sich dem Thema
Kinderbetreuung zugewendet. Diese ist eigentlich eine
Aufgabe der Länder und Gemeinden. Sie tun so, als ob Sie
jetzt für die Erfüllung dieser Aufgabe die Länder und Kommunen in den Genuss eines Geldsegens kommen lassen.
Sie versprechen 4 Milliarden, im alten Haushaltsentwurf
haben Sie gerade einmal 300 Millionen Euro für 2003 eingestellt. Das sind, wenn man diese Zahl und die 10 000 erforderlichen Stellen, die Sie ansetzen, nimmt,
30 000 Euro pro Einrichtung. Wissen Sie, wie weit man
damit kommt? Das hat doch wieder den Effekt, dass die
Kommunen zunächst unter Zugzwang gesetzt und hinterher mit der Finanzierung allein gelassen werden.
({25})
Kümmern Sie sich doch als Bundesregierung um die Aufgaben des Bundes, die Sie hier zu erfüllen haben, und statten Sie die Kommunen ordentlich aus. In eigener Verantwortung werden die Kommunen ihre Aufgaben besser
lösen können, als wenn Sie sie wieder an das Gängelband
legen.
({26})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon
viel über den Umgang mit dem europäischen Stabilitätsund Wachstumspakt gesagt worden. Hierbei handelt es
sich geradezu um ein Trauerspiel. Die Art und Weise, wie
Sie ihn jetzt neu interpretieren, stellt eigentlich eine Abkehr von ihm dar. Die Bürger in unserem Lande erwarten
aber, dass unsere Währung stabil bleibt und nicht zum
Spielball für Sie oder für andere Kräfte wird. Es ist schon
hochinteressant, wie Sie, Herr Bundesfinanzminister, da
vorgegangen sind. Ihre Meldungen zu den Defizitzahlen
haben ja das Zeug, um daraus eine Tragödie zu schreiben.
Dezember 2001: Zwei Alternativen werden nach Brüssel gemeldet, eine für gutes und eine für schlechtes Wirtschaftswachstum.
Februar 2002: Mit politischem Druck hat Kanzler
Schröder den blauen Brief aus Brüssel verhindert und dabei ziemlich viel Porzellan zerschlagen.
September 2002: Im Wahlkampf wurde die Einhaltung
der 3-Prozent-Grenze immer wieder versprochen. Die
zum 1. September vorgeschriebene Meldung aktualisierter Defizitzahlen nach Brüssel wurde aus fadenscheinigen
Gründen bis nach dem Wahltag verzögert. Am 24. September wurde dann ein Wert von 2,9 Prozent gemeldet.
Oktober 2002: Der Finanzminister erklärt bei einem
Fernsehinterview, dass er mit dem Überschreiten der
3-Prozent-Grenze in diesem Jahr rechnet.
Letzter Akt: Gegen Deutschland wird in Brüssel ein
Verfahren wegen Überschreitung der 3-Prozent-Grenze
eingeleitet.
Herr Kollege Kalb, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.
({0})
Vielen Dank, ich komme zum Schluss. - Meine sehr
verehrten Damen und Herren, Ihre Politik ist nicht geeignet, Investitionen und Wachstum zu initiieren, sondern sie
führt auf den falschen Weg. Sie ist schlecht für die Wirtschaft, schlecht für die Arbeitslosen in diesem Land. Die
von Ihnen vor der Wahl geschürte Kriegsangst hat Sie
noch einmal nach oben gespült; so haben Sie die Wahl
noch einmal gewonnen. Jetzt aber müssen die Bürger
Ihren Wahlsieg teuer bezahlen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Kalb, Sie wollen, dass wir uns darüber verständigen, welche Aufgaben dieser Staat hat. Ich möchte
sehr gerne die CDU/CSU-Fraktion zunächst daran erinnern, dass in unserer Verfassung das Sozialstaatsgebot
steht und wir den Auftrag haben, den Haushalt vernünftig zu gestalten und eine vernünftige Finanzpolitik zu
machen,
({0})
um entsprechende Ausgaben, die in diesem Land nötig
sind, auch tätigen zu können. Genau das tut diese Regierung, genau das tut Rot-Grün.
({1})
In allen Redebeiträgen des gestrigen und des heutigen
Tages haben Sie von der CDU/CSU und von der FDP wieder einmal bewiesen, dass Sie kein Konzept dafür haben,
({2})
wie wir mit dieser bekanntermaßen wirtschaftlich schwierigen Situation umgehen sollen,
({3})
wie es nach Ihrer Auffassung gelingen soll, zu mehr
Wachstum zu kommen, abgesehen von Ihren platten
Thesen: Steuern runter, Abgaben runter, Sozial- und
Staatsquote runter. So kann man in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten keine sozial verantwortliche Politik
betreiben.
({4})
Es ist völlig unbestritten, dass die Weltkonjunktur
von einem Attentismus gekennzeichnet ist.
({5})
Das bezweifelt nicht ein einziges Wirtschaftsforschungsinstitut.
({6})
Auch ist unbestritten, dass die Unwägbarkeiten, mit denen wir in der Außenpolitik leider konfrontiert sind,
({7})
mit dazu führen, dass die Wachstumsraten, und zwar in
Gesamteuropa, nicht so hoch sind, wie wir es uns gewünscht hätten.
({8})
Das ist im Rahmen einer Bestandsaufnahme eine Aussage, die auch Sie mittragen können.
Unbestritten ist die Arbeitslosigkeit in unserem Land
sehr hoch. Jeder Arbeitslose, der gern arbeiten möchte, ist
ein Arbeitsloser zu viel.
({9})
Aber allein im nächsten Jahr haben wir nach unseren Berechnungen einen Konsolidierungsbedarf von 14 Milliarden Euro zu schultern.
({10})
Die Frage ist, wie wir mit dieser Situation umgehen. Dazu
sollten Sie endlich einmal Vorschläge machen. Wir haben
eine klare Entscheidung getroffen: Es gibt keine tragfähige Alternative zur Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte. Aus diesem Grund werden wir unseren Konsolidierungskurs beibehalten, allerdings mit den geringeren Wachstumserwartungen vernünftig abgestimmt. Diesen Weg, den wir bereits vor vier Jahren eingeschlagen
haben, werden wir fortsetzen.
({11})
Das heißt erstens ganz konkret, dass wir unserer
Finanzplanung stärker belastbare Aussagen über das Wirtschaftswachstum zugrunde legen.
({12})
Es darf nämlich nicht sein, dass mit jeder Steuerschätzung
und mit jedem Konjunkturbericht irgendeines Instituts
neu über Einsparungen diskutiert werden muss.
({13})
Wir gehen daher für die nächsten Jahre von einer realistischen Berechnungsgröße aus, die auf dem durchschnittlichen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts der letzten
zehn Jahre aufbaut.
({14})
Dadurch bekommt die mittelfristige Finanzplanung mehr
Solidität.
({15})
- Das ist etwas, was Sie 29 Jahre lang versäumt haben.
({16})
- Herr Thiele, warum haben wir denn diese Probleme?
Wer hat denn die hohen Sozialabgaben verursacht? Wer
hat denn dafür gesorgt, dass wir diesen Riesenberg von
Schulden abzutragen haben? Das waren doch nicht wir,
sondern Sie. Sie waren doch über viele Jahre lang in der
Verantwortung.
({17})
Zweitens werden wir bis zum Jahr 2006 einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden vorlegen.
({18})
Das haben wir in unserem Koalitionsvertrag verankert.
Zu diesem Zweck werden wir drittens die Ausgaben im
Haushalt in einem ausgewogenen Verhältnis kürzen. Wir
werden steuerliche Subventionen reduzieren und die Nettoneuverschuldung Jahr für Jahr weiter begrenzen.
({19})
Das bedeutet für 2003 eine höhere Neuverschuldung
von 2,6 Milliarden Euro gegenüber den ursprünglichen
Planungen vom Frühjahr,
({20})
als uns alle Wirtschaftsinstitute andere Daten vorgelegt haben. Der Minister hat bereits dargelegt, wie die Berechnungsgrundlagen zustande gekommen sind. Das war doch
nicht unsere Erfindung, sondern das war das, was dieser
Regierung von den Wirtschaftsweisen und von den anderen Wirtschaftsforschungsinstituten vorgelegt worden ist.
({21})
Darauf bauen wir selbstverständlich unsere Berechnungsgrundlagen auf; anders kann man das als Regierung auch
nicht tun.
({22})
Diese höhere Neuverschuldung beträgt - um das einmal deutlich zu sagen - lediglich ein Viertel des Volumens
der Sparmaßnahmen, die im Haushalt vorgesehen sind.
Bei den Subventionen sind es 11,6 Milliarden Euro.
Meine Damen und Herren von der Opposition, dieses Verhältnis belegt eindeutig: Wir setzen den Konsolidierungskurs zwar konjunkturpolitisch begründet etwas verlangsamt - das ist richtig -, aber konsequent fort. Über diesen
Punkt haben wir hier zu sprechen.
({23})
Eine kurzfristige konjunkturbedingte Überschreitung
des Maastricht-Defizits bedeutet nicht - um das an dieser
Stelle deutlich zu sagen -, dass wir den europäischen
Stabilitäts- und Wachstumspakt infrage stellen.
({24})
Es ist völlig klar, dass die Länder zusammen mit ihren
Kommunen genauso wie der Bund gefordert sind, den
Stabilitätspakt einzuhalten.
({25})
Denn das Maastricht-Kriterium gilt ja für alle staatlichen
Ebenen. Sie tun immer so, als ob es nur den Bund berührt,
als ob nur wir große Probleme haben. Die viel größeren
Probleme liegen doch leider in den einzelnen Haushalten
der Bundesländer. Das hängt auch mit der Haushaltsgestaltung in manchen Ländern zusammen.
({26})
Wir bauen die Subventionen ab. Der Abbau steuerlicher Begünstigungen und von Subventionen
({27})
kommt allen Ebenen zugute: den Kommunen, den Ländern und auch dem Bund.
({28})
Dies führt im Ergebnis zu einer klareren Besteuerungsgrundlage und damit zu mehr Fairness im Steuersystem.
Denn es ist nicht einzusehen, dass jede Lobbygruppe in
diesem Land irgendwann einmal eine Steuersubvention in
unser Steuersystem implantiert und wir jahrzehntelang
darunter zu leiden haben, dass die Steuerbasis immer
mehr ausgehöhlt wird.
({29})
Die rot-grüne Koalitionsvereinbarung ist ein Programm für die Zukunft. Wir sparen bei den konsumtiven
Ausgaben. Wir stärken die Investitionen, wo es richtig
und notwendig ist.
({30})
Wir nehmen Strukturreformen bei den Sozialversicherungssystemen und auf dem Arbeitsmarkt in Angriff. Das
sind konkrete Vorschläge, die diese Regierungskoalition
und die die Regierung bildenden Ministerinnen und
Minister vorgestellt haben und die auf dem Tisch liegen.
Ich frage Sie noch einmal: Wo sind Ihre Konzepte, um angesichts der jetzigen Lage der Nation vernünftige Politik
zu machen?
({31})
Das Einzige, was Sie können, ist: Sie können aus irgendwelchen Zeitungsberichten zitieren
({32})
und herummeckern. Aber Meckern allein ist noch kein
Konzept; das dürfte auch bei Ihnen angekommen sein.
({33})
Es hilft auch nichts, uns gegenüber mit Prosatexten und
Vorwürfen aufzutreten. Angesichts dessen, dass für Sie
Oppositionsarbeit Verweigerung ist, ist die Arbeit dieser
Opposition nicht ernst zu nehmen. Wir wollen eine gute
Opposition haben. Tun Sie endlich einmal etwas dafür!
Legen Sie doch endlich einmal Ihre Vorschläge auf den
Tisch!
({34})
Wir brauchen Mut
({35})
für tatsächliche Reformen, wenn wir gleichzeitig unsere
sozialen Sicherungssysteme erhalten und wieder mehr
Wachstum und Arbeitsplätze schaffen wollen.
Die Kritik an unserem Sparpaket ist nicht aufrichtig.
Quer durch alle Parteien und Verbände, die Wissenschaft
und die Medien wird der Abbau von Subventionen gefordert. Aber es gibt leider keine konkreten Vorschläge.
Wenn man dann einmal bestimmte Subventionen infrage
stellt, sprechen Sie sofort von Steuererhöhungen. Ich bitte
Sie: Es ist doch von der Semantik her nicht verantwortbar,
dass man auf der einen Seite fordert, Subventionen abzubauen, und auf der anderen Seite, wenn wir diese dann abbauen, von Steuererhöhungen spricht.
({36})
Es ist nicht in Ordnung, dass Sie in dieser Situation ohne
Augenmaß vorgehen.
Wir werden dafür sorgen, dass alle einen Beitrag leisten. Ich kann nur feststellen: Steuern zu zahlen ist kein
selbstloses Geschenk an den Staat. Ganz im Gegenteil:
Steuerzahlungen sind auch dafür da - das muss man ganz
ehrlich sagen -, die notwendigen Voraussetzungen für ein
erfolgreiches Bestehen im Wettbewerb zu schaffen. Denn
mit diesem Geld wird die Infrastruktur erhalten, werden
die Kinderbetreuungsangebote finanziert, die Bildungsstandards erhöht und wird der Ausbau von Straßen und
Schienen ermöglicht. Dazu müssen alle ihren Beitrag
leisten. Keiner darf sich aus dieser Verantwortung stehlen.
({37})
Diese Fairness und Gerechtigkeit werden wir in den
nächsten Jahren wieder verstärken und zum großen Teil
wiederherstellen.
Danke schön.
({38})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hätte nicht gedacht, dass ich den früheren
Kollegen Oswald Metzger so schnell vermissen würde.
({0})
Was wir hier an Unfug zu hören bekommen, geht auf
keine Kuhhaut. Jetzt ist die Opposition für die Bilanz der
rot-grünen Regierung verantwortlich!
({1})
Sie sollten doch wenigstens den Charakter haben, sich zu
Ihrer eigenen Verantwortung zu bekennen.
({2})
Ich gestehe Ihnen ja zu, dass Sie eine schwere Erbschaft antreten. Aber es handelt sich doch um Ihre eigene
Erbschaft.
({3})
Herr Bundesfinanzminister, was Sie mit dem Koalitionsvertrag und mit der Regierungserklärung vorlegen,
ist finanzpolitisch ein Offenbarungseid. Anders kann man
es nicht bezeichnen.
({4})
Sie winden sich, wenn es um die Frage geht, wer an dieser Entwicklung schuld ist. Für Sie sind es die Weltwirtschaft, die Wirtschaftsorganisationen und die Opposition,
aber nicht Sie. Sie haben vor der Wahl am laufenden Band
die Unwahrheit gesagt und bekennen sich dazu auch heute
nicht.
({5})
Sie sind mit Lug und Trug wieder an die Macht gekommen.
Nun sind Sie an der Macht. Jetzt stehen Sie auch dazu!
({6})
Was aber machen Sie? - Sie bereiten bereits das nächste
Wählertäuschungsmanöver vor!
Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass entsprechende Maßnahmen nach den Landtagswahlen auf den Tisch kommen. Der Bundesfinanzminister hat
schon eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingerichtet. Was wird von ihr vorbereitet? Man hört,
dass die Gewerbesteuer nicht etwa abgeschafft werden
soll - obwohl das dringend notwendig wäre -, stattdessen
wird sie ausgeweitet. Die Freibeträge sollen gesenkt werden. Das heißt, auch die kleinen Handwerksbetriebe sollen einbezogen werden. Die freien Berufe sollen zukünftig gewerbesteuerpflichtig werden. Außerdem gibt es
wieder Vorschläge, das Gewerbekapital und die Lohnsumme in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Das
nächste Steuererhöhungsprogramm steht also bevor.
({7})
Der Bundeskanzler hat bereits Herrn Gabriel und
Herrn Beck aufgefordert - so kennen wir ihn; er spielt
gern über Bande -, die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Ausweitung der Erbschaftsteuer anzuregen. Die Initiative ging also von den Bundesländern und
nicht von der Bundesregierung aus. Aber die Bundesregierung wird sich gegen diese Maßnahmen natürlich
nicht wehren.
Diese Punkte müssen wir der Öffentlichkeit sagen.
Man wird am Ende auch nicht vor der Erhöhung der
Mehrwertsteuer zurückschrecken, wenn es darum geht,
die leeren Kassen zu füllen. Da sind wir beim Thema,
Herr Bundesfinanzminister. Ihnen fehlt die ordnungspolitische Richtschnur.
({8})
Ihnen fehlt eine finanzpolitische Strategie, wie Sie die
Wachstumskräfte in Deutschland wieder stärken können.
Sie werden die Haushaltsprobleme niemals lösen, wenn
Sie nicht einen Wachstumsprozess auslösen, der die Basis
für mehr Steuereinnahmen überhaupt erst schaffen kann.
({9})
Deswegen ist das, was Sie hier vorlegen und beabsichtigen, so grundfalsch. Denn genau das Gegenteil wird
eintreten: Sie belasten die Wachstumskräfte, die Wirtschaftssubjekte und die Verbraucher. Ihnen bleibt einfach
weniger Geld übrig, das sie ausgeben, konsumieren und
investieren können. Sie verschrecken die Sparer. Sie jagen sie geradezu ins Ausland. Auch mit Polizeimaßnahmen kriegen Sie das niemals in den Griff.
Wenn Sie nicht kapieren, dass wir nicht in einer geschlossenen Volkswirtschaft leben, sondern in die Weltwirtschaft eingebettet sind und uns deren Einfluss nicht
entziehen können, dann muss man Ihnen sagen, dass nur
eine Politik hilft, die die Wettbewerbsfähigkeit unserer
deutschen Wirtschaftssubjekte wie Kleinunternehmen,
mittelständischen Unternehmen, Arbeitnehmern und auch
Großunternehmen wiederherstellt. Wenn Sie das nicht
machen, wird mit mathematischer Sicherheit der Prozess
weitergehen, in dem wir nun stecken.
({10})
Argentinien ist Ihr Vorbild. Argentinien ist ein reiches
Land, das sich in einer fatalen Situation befindet. Warum? Weil es seine Strukturprobleme nicht lösen kann.
Deutschland ist jetzt schon in Westeuropa das Schlusslicht im Geleitzug. Nach der Erweiterung der Europäischen Union wird Deutschland auch das Schlusslicht in
ganz Europa sein.
Die mittel- und osteuropäischen Staaten bereiten sich
konzentriert auf die Osterweiterung vor. Die Bundesrepublik Deutschland tut so, als ginge sie das nichts an. Wir
lassen das wie ein Schicksal über uns kommen. Sie werden feststellen, dass wir in unserer Wettbewerbsfähigkeit
benachteiligt werden, wenn wir uns nicht auf die Erweiterung vorbereiten. Es ist ebenfalls in Ihrer Verantwortung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die
wirtschaftliche Entwicklung verbessert.
({11})
Was hat der bekannte Kolumnist der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Hans Barbier geschrieben?
Sie lassen das Angemessene und sie tun das Falsche.
Kürzer kann man es gar nicht sagen. Das ist eine wunderbare Kurzformel.
({12})
Was hat der bekannte Wirtschaftsjournalist Bernd
Wittkowski in der „Börsen-Zeitung“ geschrieben?
Was das Land in dieser Situation dringend bräuchte,
wäre ein Ruck, der privater Initiative und Verantwortung Raum gibt und Wachstumskräfte freisetzt.
Dazu bedürfte es spürbarer Steuer- und Abgabensenkungen, einer Entbürokratisierungsoffensive, der
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, eines Rückzuges des Staates und einer Stärkung der Kapitalmärkte. Subventionen müssten in der Tat radikal abgebaut werden, zuerst da, wo sie Industrien fördern,
die nicht konkurrenzfähig sind
- Steinkohle, Herr Clement - aber nicht, um Unternehmen und Bürger an anderer Stelle zu schröpfen, sondern um sie nachhaltig zu
entlasten.
({13})
Doch statt das unabweisbar Notwendige zu tun,
betätigt sich Rot-Grün als Konjunkturkiller. Das Programm der Koalition wird Deutschland endgültig in
die Rezession und Hunderttausende zusätzlich in die
Erwerbslosigkeit treiben.
Das war ein langes Zitat, aber ich kann jedes Wort davon
unterschreiben.
({14})
Wenn Sie das nicht erkennen und die Konsequenzen nicht
ziehen, werden Sie das Debakel nicht verhindern können.
Durch Ihre steuerpolitischen Maßnahmen und die
Steigerung der Abgaben bei der Renten- und Krankenversicherung werden dem Wirtschaftskreislauf im nächsten
Jahr knapp 30 Milliarden Euro entzogen. 30 Milliarden
Euro sind ungefähr 60 Milliarden DM.
({15})
Was glauben Sie denn, welche Auswirkungen das hat?
Glauben Sie, die Konsumenten hätten das Geld, um mehr
zu verbrauchen, mehr einzukaufen? Glauben Sie, die Binnenkonjunktur könnte in Gang kommen? Auch wenn die
Weltwirtschaft und der Export besser laufen, wird das unsere hausgemachten Probleme nicht lösen. Sie sind auf
der falschen Spur, Herr Bundesfinanzminister. Wenn Sie
das nicht erkennen und das Ruder nicht schnell herumreißen, gehen wir ganz schweren Zeiten entgegen, und
zwar schon in diesem Winter. Schon in diesem Winter
werden wir über 4,5 Millionen Arbeitslose haben.
Das verantworten Sie. Schieben Sie die Verantwortung
nicht auf uns! Wir, die FDP, haben vor der Wahl einen Vorschlag zur Lösung unterbreitet. Wir haben Vorschläge zu
Einsparungen in einer Gesamthöhe von 35 Milliarden
Euro vorgelegt. Werfen Sie uns nicht vor, wir hätten es
nicht vorher gemacht. Sie haben uns im Wahlkampf deswegen beschimpft, aber wir stehen dazu.
Jetzt sind Sie dran. Machen Sie etwas! Stehen Sie zur
Verantwortung Ihrer Politik! Wenn Sie Ihre Politik nicht
ändern, sehe ich ganz schwere Zeiten auf uns zukommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Koalition ist angetreten, um Deutschland
zukunftsfähig zu machen.
({0})
- Deswegen sind wir auch wiedergewählt worden, Herr
Kollege Thiele.
({1})
Die Erfahrung der heutigen und der gestrigen Debatten
ist, dass Sie sich geradezu beleidigt fühlen,
({2})
weil die Mehrheit der Deutschen Sie nicht gewählt hat.
Das ist aber kein Grund, beleidigt zu sein.
({3})
Sie müssten in sich gehen und sich fragen: Woran lag das?
Warum haben Sie die Mehrheit der Deutschen nicht überzeugt?
({4})
Meine Einschätzung ist die: Ein wesentlicher Grund
dafür, weshalb Sie nicht in der für eine Mehrheit ausreichenden Zahl gewählt worden sind, ist, dass die Menschen gemerkt haben, dass Sie kein solides finanzpolitisches Konzept haben.
({5})
Mit den finanzpolitischen Vorstellungen der Union verbindet man Kuddelmuddel und Schuldenmachen. Bei jeder Frage, bei jeder Schwierigkeit, die auftauchte, hatten
Sie nur ein Rezept: Schulden machen.
({6})
Es gab widersprüchliche Aussagen von Ihrem Spitzenkandidaten und anderen bedeutenden Sprechern Ihrer Partei. Kein Mensch wusste, was die Union eigentlich will.
Zu der FDP will ich gar nicht viel sagen. Sie hat sowieso
noch das Problem, dass sie von dem Image der Spaßpartei
weg muss, das ihr merkwürdiger Vorsitzender gepflegt hat.
({7})
Sie werden von den Menschen nicht ernst genommen,
weil Sie keine ernsthafte Politik geboten haben.
({8})
Wir werden die notwendige Reformpolitik deswegen
allein als Koalition in diesem Bundestag durchführen
müssen. Ich hoffe, dass die Länder zu einer ernsthaften
Zusammenarbeit bereit sein werden. Diese Opposition ist
es offensichtlich bisher nicht.
Wir haben niemals gesagt, dass der Weg, Deutschland
fit für die Zukunft zu machen, ein bequemer Weg sein
wird. Wir haben niemals gesagt, dass er nicht auch Anstrengungen und Opfer verlangt. Wir haben aber immer
versprochen, dass wir diejenigen, die diesen Weg nicht
aus eigener Kraft schaffen, nicht allein lassen. Wir werden
solidarisch zusammenstehen, weil wir Modernisierung,
soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt nicht
als Gegensatz, sondern als das Konzept für eine moderne
Gesellschaft sehen.
({9})
Zu einer solchen Politik gehört natürlich auch, dass wir
die Lasten, die es gibt, fair verteilen. Dabei gilt nun einmal: Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache,
und zwar nicht nur auf dem Papier. Dies muss auch durchgesetzt werden. Dazu gehört für uns, dass alle Einkommensarten gleich zu behandeln sind. Wir finden es beispielsweise auch nicht unfair, wenn man das geltende
Steuerrecht, das eine Einkommensteuerpflicht für
Kapitaleinkünfte begründet, in der Praxis auch durchsetzt, wie wir es auch für völlig normal halten, dass das
Arbeitseinkommen besteuert wird.
({10})
- Das werden wir sehen. Ich habe verstanden, Frau
Wülfing, dass Sie sich dem anschließen wollen.
Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie haben gar
nichts verstanden!)
Dies freut mich. Dann gibt es vielleicht doch ein paar
kluge Menschen in der Union, die dies unterstützen werden.
({11})
Noch eines gehört dazu, was wir gesagt und die ganze
Zeit im Wahlkampf angekündigt haben: Wir werden Steuerprivilegien und Subventionen überprüfen und im Zweifelsfall abbauen. Ich sage Ihnen: Wir haben auch deswegen
eine Mehrheit gefunden, weil die Menschen in Deutschland
es leid sind, dass man ihnen irgendwelche schönen Worte
erzählt. Sie wollen eine seriöse Finanzpolitik.
({12})
Sie wollen auch nicht die Vertagung von Problemlösungen. Sie wollen, dass konkret gehandelt wird. Die Vertagung von Problemlösungen auf künftige Generationen
durch immer neues Schuldenanhäufen, wie Sie dies gemacht haben, wird in Deutschland erfreulicherweise nicht
mehr honoriert.
({13})
Bundesfinanzminister Eichel hat nach der Flutkatastrophe gesagt: Wir suchen den unbequemen Weg. Weiter
hat er gesagt: Wir bürden die Bewältigung unserer heutigen Probleme nicht der künftigen Generation auf, indem
wir auf Schuldentilgung verzichten - und dennoch sind
wir gewählt worden.
({14})
In den letzten Tagen wurde, zum Teil unter Ihrer Mitwirkung, so getan, als sei der Abbau von Steuerprivilegien eine Steuererhöhung.
({15})
Wir haben die ganze Zeit, besonders von der FDP, gehört,
Subventionsabbau sei das richtige Rezept. Herr Kollege
Solms, Sie haben vorhin das schöne Wort Ordnungspolitik in den Mund genommen. Wir haben leider in der vergangenen Wahlperiode mehrfach erlebt, wie Sie all die
Durchlöcherungen, die Sie für Ihre Klientel in den früheren Wahlperioden geschaffen haben,
({16})
die wir aber 1999 abgeschafft haben, mit mehreren Anträgen erneut in das Gesetzbuch hineinbringen wollten,
mit der geradezu irrsinnigen Leitmotivüberlegung, dass
nicht Gewinnerwartungen, sondern Verlustzuweisungen
das Motiv für Investitionen sein sollten. Einen krasseren
Widerspruch zu marktwirtschaftlicher Ordnung kann es
gar nicht geben.
({17})
Dann kam die Vorstellung zum Ausdruck, es sei sozusagen Unrecht, wenn Steuerprivilegien abgebaut werden,
und es bestehe geradezu der Anspruch, dass andere einem
bei der Finanzierung eigener Aufgaben durch Erlass von
Steuern oder Zuschüsse helfen.
({18})
Woher kommt denn eigentlich das Geld? Das sind doch
nicht die Gelder der Abgeordneten oder der Ministerien,
sondern das sind die Gelder der Bürger.
({19})
Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass man andere
an der Finanzierung beteiligt, wenn man selber etwas vorhat. Das versteht kein Mensch unter Ordnungspolitik.
({20})
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Opposition in dieser Wahlperiode schon den Weg zu einer sachlichen Arbeit
gefunden hat. Man merkt, dass Sie sich noch nicht gefunden
haben. Das, was bisher gekommen ist, war nur Polemik.
({21})
Ich nenne einmal ein Beispiel. Herr Merz hat heute die
Kollegin Merkel bezichtigt, sie hätte einem Kabinett angehört, das die Bundesrepublik aus der sozialen Marktwirtschaft in die Staatswirtschaft hinübergeführt hätte.
Denn Herr Merz hat definiert: Ein Land, das eine Staatsquote - Staatsquote soll heißen: Anteil der Ausgaben der
Gebietskörperschaften und der Sozialversicherungen am
Sozialprodukt - von über 50 Prozent hat, hat keine soziale
Marktwirtschaft.
({22})
- Das hat er heute Vormittag gesagt.
({23})
In den letzten 40 Jahren gab es ein Jahr, in dem die Staatsquote mit 50,3 Prozent am höchsten war; das war 1996.
({24})
Da sieht man einmal, wie sachlich die Argumentation von
Herrn Merz und wie gut sein Verhältnis zu Frau Merkel ist.
Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass diese Opposition, was immer wir vorlegen, zunächst einmal unsachlich sein wird.
({25})
Herr Glos macht das kabarettistisch, Herr Merz macht es
giftig, Herr Rexrodt macht es so wie in seinen alten Ministerzeiten: Er beschimpft den Standort Deutschland, für
den er damals als Bundeswirtschaftsminister Verantwortung getragen hat.
Es bleibt den Deutschen aber immerhin ein Trost: Sie
haben richtig gewählt und wir werden dieses Land in eine
gute Zukunft führen.
({26})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir erinnern uns: Noch kurz vor der Bundestagswahl hat die Koalition erklärt, es werde mit ihr keine
Steuererhöhungen geben. Selbst der Bundeskanzler hat
im Juli 2002 verkündet - ich darf ihn wörtlich zitieren -:
Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deswegen
ziehen wir sie auch nicht in Betracht.
({0})
Recht hat der Herr Bundeskanzler. Doch jetzt, wo er wieder gewählt ist, hält er sich nicht daran.
({1})
Auch der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering hat
am Anfang dieses Monats gesagt, es werde keine Steuererhöhungen geben. Das ist noch nicht lange her und ist
schon jetzt hinfällig.
Noch im Koalitionsvertrag vom 16. Oktober ist zu lesen, dass Steuersubventionen abgebaut und Steuerschlupflöcher geschlossen werden sollen. Aber jetzt, wenige Tage später, kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Auf
der Homepage des Bundesfinanzministeriums kann man
lesen, Herr Eichel, dass massive Steuererhöhungen geplant sind. Diese Aussage war nicht, wie Sie sagen, von
den Septemberdaten abhängig, sondern vom 22. September, dem Wahltermin. Deshalb haben Sie das erst anschließend öffentlich verkündet.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn der Bundeskanzler
Steuererhöhungen für ökonomisch unsinnig hält, dann
frage ich mich, warum er bereit ist, in den kommenden
vier Jahren ökonomisch Unsinniges in diesem Land verantworten zu wollen. Warum sagt der Bundeskanzler
nicht Nein zu diesen Plänen, Nein zu dieser Koalitions236
vereinbarung und weist sie deutlich zurück? Er ist doch
offenkundig dieser Meinung.
({3})
Mittlerweile hat man wohl selbst in der SPD erkannt,
welch unsoziale Auswirkungen diese Koalitionsvereinbarung in einigen Bereichen hat. Sie haben zum Beispiel
doch immer gesagt, Unternehmen müssten mehr soziales
Engagement zeigen. Deswegen haben Sie wohl auch geplant, dass Spenden von Unternehmen im sozialen und
kulturellen Bereich besteuert werden sollen. Mittlerweile
dämmert Ihnen aber, dass Sie damit das soziale Engagement treffen und unsoziale Maßnahmen vorschlagen.
({4})
Nehmen wir das Thema Eigenheimzulage. Bauminister Stolpe erklärt mittlerweile - ich darf zitieren -, dass
nochmals genau über die Änderungen nachgedacht
werden müsse, wenn sie sich für die Bauwirtschaft
als nachteilig erweisen.
({5})
Herr Stolpe, ich frage mich an dieser Stelle, warum diese
Koalition nicht zu Ende denkt, bevor sie die Menschen
und die Wirtschaft in diesem Land irritiert.
({6})
Warum geht man mit halbgaren Vorschlägen nach außen?
Mit diesen halbgaren Vorschlägen gewinnen Sie keine
Akzeptanz. Denken Sie erst und handeln dann und nicht
umgekehrt. Mir ist das Schicksal der Menschen in diesem
Land zu ernst, als dass wir damit Spiele treiben könnten.
({7})
Ganz Deutschland - das können Sie heute in der Tagespresse lesen - ist durch diesen konzeptionslosen Aktionismus vollkommen verunsichert. Die Verunsicherung,
die Sie mit Ihrer Politik auslösen, kostet Arbeitsplätze und
Wachstum in diesem Land. Es ist nicht so, dass Sie, Herr
Eichel, mit Ihrer Politik auf das niedrige Wachstum reagieren; es ist vielmehr Ihre Politik, die zu niedrigem
Wachstum und zu höherer Arbeitslosigkeit führt. Das sind
die Zusammenhänge.
({8})
Wir brauchen dringend Sicherheit und klare Rahmenbedingungen für diejenigen, die in unserer Wirtschaft handeln sollen, damit Arbeitsplätze und Wachstum gesichert
werden können.
Ich frage mich: Wie lange haben Aussagen, die diese
Regierung trifft, eigentlich Bestand? Welches Verfallsdatum hat die Unterschrift unseres Bundeskanzlers? Er hat
vor weniger als zwei Wochen einen Koalitionsvertrag unterschrieben und nimmt schon jetzt Teile der Aussagen
zurück. Was ist die Unterschrift unseres Bundeskanzlers
an dieser Stelle eigentlich wert?
({9})
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Rücken
Sie endlich mit der vollen Wahrheit heraus. Die Zeit des
Tarnens und Täuschens muss schnellstens beendet werden. Herr Poß hat in seiner Rede bereits angekündigt, dass
der nächste Einschnitt kommt. Die Steuerschätzung, die
schon in zwei bis drei Wochen auf uns zukommt, wird
neue Finanzierungsaufgaben aufdecken. Welche Finanzierungsaufgaben sind das? Ist es nicht unsolide, den
Menschen zu verkünden, Sie als Koalition hätten ein Programm, und ihnen dann zu eröffnen, in zwei Wochen würden neue Programme nötig sein und es würden neue Maßnahmen ergriffen werden müssen?
({10})
Frau Scheel hat so wunderschön gesagt, dass man an
dieser Stelle eine solide Politik machen sollte. Ich frage
mich, Frau Scheel: Was hat das eigentlich mit Solidität zu
tun, wenn das, was Sie hier vorlegen, in zwei bis drei Wochen schon wieder Makulatur ist?
({11})
Ich glaube, die Aussage, die einige Kollegen in den
letzten beiden Tagen hier schon gemacht haben, dass wir
nach dem 2. Februar - nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen - neue Überraschungen erleben
werden, ist eher Realität als Vermutung; wir sollten uns
darauf einstellen.
({12})
Herr Poß hat gesagt, diese Koalition reagiert gut auf die
Lage. Herr Poß, ich will Ihnen darauf antworten: Wir
brauchen keine Koalition, die nur auf die jeweilige Lage
reagiert, sondern wir brauchen dringend eine Koalition
mit einer Zukunftsvision, mit der deutlich gemacht wird,
wohin sich dieses Land entwickeln soll.
({13})
Eine Zukunftsvision würde verlangen, dass man Signale des Aufbruchs setzt. Der Kollege Merz hat es heute
Morgen angesprochen: weniger Bürokratie, niedrigere
Steuersätze, Programm „3 mal 40“, Entriegelung des Arbeitsmarkts und mehr Flexibilität - das wären Visionen
für die Zukunft. Sie sagen aber lediglich, dass Sie auf die
Dinge, die auf Sie zukommen, reagieren.
Nehmen Sie jetzt einmal das Herbstgutachten, das
Sie ja teuer bezahlt haben; 600 000 Euro haben Sie dafür
hingelegt. Darin finden Sie eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie man Deutschland wieder an die Spitze in
Europa führen könnte. Herr Spiller, Sie fragen zu Recht,
was die Union will.
({14})
- Ich habe eben einige Maßnahmen angesprochen.
({15})
Wir wollen schlicht und ergreifend weg vom letzten Platz
in Europa. Wir haben den Anspruch, dass Deutschland in
Europa wieder Spitze ist.
({16})
Ich glaube, dass Steuererhöhungen, wenn man vom Tabellenende an die Spitze will, der vollkommen falsche
Weg sind.
Die Wissenschaftler fordern Sie in dem Herbstgutachten eindringlich dazu auf, endlich das seit langem geforderte Ziel, die Abgabenlast zu vermindern, anzugehen.
Frau Hermenau hat so schön gesagt, dass Sie jetzt eine
Kultur der Konsolidierung entwickeln wollen.
({17})
Ich darf aus dem Herbstgutachten zitieren:
Die Konsolidierungsbemühungen erwecken bislang
jedoch nicht den Eindruck von zielstrebiger Gestaltungskraft. Es ist noch nicht gelungen, die angestrebte Begrenzung der Staatsausgaben durch verlässliche Einsparkonzepte abzusichern.
Frau Scheel, ist das der Kurs, den Sie fortsetzen wollen?
Das ist das, was Herrn Eichel für die Politik der letzten
drei Jahre an dieser Stelle ins Stammbuch geschrieben
wird.
({18})
Außerdem wird davor gewarnt, die privaten Haushalte
und die Unternehmen in den kommenden Jahren noch
weiter mit Abgaben und Steuern zu belasten. Die Institute
weisen darauf hin, dass wir durch diese Politik Bremsspuren in der Konjunktur bekommen werden. Ich habe
selten ein Gutachten gelesen, in dem dem Auftraggeber
für seine verfehlte Politik Zeile für Zeile eine Ohrfeige erteilt wird.
({19})
Anstatt einer neidorientierten Politik, die nur darauf
achtet, wie man Neid in der Gesellschaft schüren kann,
brauchen wir dringend eine wachstumsorientierte Steuerpolitik; als Stichwort nenne ich das Programm „3 mal
40“.
({20})
Ich komme zu den Steuervergünstigungen, die Sie
angesprochen haben. Auch dazu steht etwas im Herbstgutachten.
({21})
Dort heißt es:
Der Abbau von Steuervergünstigungen ist geboten,
die hieraus erzielten Mehreinnahmen sollten jedoch
zur Finanzierung niedriger Steuersätze genutzt werden.
Herr Bundesfinanzminister, ich glaube, Sie sollten nicht
versuchen, von dieser Kernaussage abzulenken, indem
Sie plötzlich darauf hinweisen, dass wir über den gesamten Tarifverlauf reden müssen. Natürlich müssen wir nicht
nur über den Spitzensteuersatz, sondern auch über den gesamten Tarifverlauf reden; darin sind wir uns einig. Man
sollte von der Kernaussage aber nicht durch Neidargumente ablenken wollen. Klassenkampf-Ideen taugen aber
nicht für eine vernünftige Steuerpolitik.
({22})
Ich will hier klar und deutlich sagen, was unsere Linie
dabei ist: Wir wollen eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
({23})
Diese Verbreiterung wollen wir aber nur in Verbindung
mit einer Absenkung der Tarife. Das ist unsere Politik;
diesen Zusammenhang kann man nicht auflösen.
({24})
Herr Poß, Sie wollen die Bemessungsgrundlage verbreitern, also Steuererhöhungen durchführen, ohne den Tarifverlauf abzusenken.
({25})
Diese Steuererhöhungen wird es mit uns nicht geben.
({26})
Wenn wir uns die Ausgangsposition in dieser Legislaturperiode anschauen, sehen wir, dass die Steuerquote in
den vergangenen vier Jahren gestiegen ist. Die Abgabenquote - inklusive der Sozialversicherungsbeiträge - steigt
ebenfalls. Wenn Sie sich die Felder Gesundheit und Rente
anschauen, wird Ihnen schon jetzt klar, dass die Abgabenquote auch im nächsten Jahr weiter steigen wird.
({27})
Deshalb ist es nicht nur eine gefühlte Teuerung, sondern
die Bürger spüren eine durch Ihre Politik tatsächlich verursachte Teuerung. Die steuerpolitischen Eingriffe der
letzten vier Jahre haben neben der absoluten Höhe der
Quoten dazu geführt, dass es zu einer massiven Umverteilung gekommen ist.
Verlierer in den vergangenen vier Jahren war der Mittelstand. Der Mittelstand ist mit allerlei Dingen belastet
worden, die Sie eingeführt haben.
({28})
Sie kündigen immer an, dass die Entlastungen in der Zukunft kommen. Aber dabei tun Sie so, als ob das, was Sie
für 2004 und 2005 ankündigen, schon heute Realität ist.
({29})
Es ist einfach nicht legitim, künftige Entlastungen mit der
tatsächlichen Situation von heute zu vergleichen. Dies
führt die Menschen und die Politik in die Irre.
({30})
Sie haben erklärt: In 2004 und in 2005 wird der Mittelstand endlich entlastet werden. Diese Ankündigung ha238
ben Sie, Herr Eichel, gemacht. Ich sage Ihnen: Diese Absenkung der Steuersätze für den Mittelstand wird nicht
kommen. Ich prophezeie Ihnen, dass Sie dieses Versprechen nicht einlösen werden, und zwar mache ich das aufgrund der Politik, die Sie in den vergangenen vier Jahren
betrieben haben. Immer dann, wenn auf Sie eine neue
Herausforderung zugekommen ist, haben Sie nur eine
Antwort gehabt: Steuererhöhungen.
Ich erinnere an die Terroranschläge vom 11. September
des vergangenen Jahres. Damals wurden für die Terrorbekämpfung die Tabaksteuer und die Versicherungsteuer
erhöht. Jetzt lesen wir, dass das Geld, das Sie mit dieser
Begründung ab 1. Januar 2003 dem Bürger aus der Tasche
ziehen, gar nicht für die Terrorbekämpfung verwendet
wird. Das ist an dieser Stelle Tarnen und Täuschen. Sagen
Sie endlich die Wahrheit!
({31})
Wie war das bei der Flutkatastrophe? Als erstes Mittel wurde nach Steuererhöhungen gerufen. Sie haben einfach die Entlastung zeitlich nach hinten verschoben und
die Körperschaftsteuer erhöht. Nachdem Sie nach der
Wahl endlich die Katze aus dem Sack lassen und einräumen mussten - ich habe es vorhin angesprochen -, dass
die Einnahmen nicht den aktuellen Finanzbedarf des Bundes decken, kommen Sie mit einem Nachtragshaushalt
und der Ankündigung Ihrer Geheimwaffe: Steuererhöhungen.
In dieser Diskussion über Steuererhöhungen möchte
ich darauf hinweisen, dass eine Reihe von Steuererhöhungen bereits beschlossen sind und am 1. Januar 2003 in
Kraft treten. Auch das muss dem Bürger ab und zu in Erinnerung gerufen werden. Ich nenne die nächste Stufe der
Ökosteuer, die bereits beschlossene Sache ist und am
1. Januar 2003 in Kraft tritt. Auch die Erhöhung der Tabaksteuer ist bereits beschlossen und tritt am 1. Januar 2003
in Kraft.
Ein anderes Stichwort ist die Erhöhung der Körperschaftsteuer um 1,5 Prozent bei den Kapitalgesellschaften, die bereits beschlossen ist und am 1. Januar 2003 in
Kraft tritt. Die Entlastung für den Mittelstand ist um ein
Jahr verschoben worden und kommt eben nicht am 1. Januar 2003. Für die mittelständischen Unternehmen, die
mit dieser Entlastung schon gerechnet haben, ist es eine
Erhöhung der Steuerlast. Dies tun Sie vor dem Hintergrund von 40 000 Unternehmensinsolvenzen und über
4 Millionen Arbeitslosen in diesem Jahr.
Jetzt planen Sie weitere Steuererhöhungen. Ich nenne
einmal das Beispiel Erdgas. Gerade die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat in allen Diskussionen, an denen ich
teilgenommen habe, immer erklärt, wie umweltfreundlich
Erdgas im Vergleich zu anderen fossilen Brennstoffen sei.
({32})
Man hat also geradezu für die Nutzung von Erdgas geworben. Jetzt hingegen erhöht die Koalition unter Beteiligung der Grünen die Besteuerung von Erdgas. Was hat
das mit Konsistenz zu tun? Was ist das für ein Zukunftsprogramm, erst die Nutzung von Erdgas zu empfehlen
und dann die Steuern auf Erdgas zu erhöhen?
Ich nenne das Stichwort Ökosteuer. Auch dort hat der
Bundeskanzler angekündigt: Es gibt bei der Ökosteuer
keine weitere Stufe mehr. - Nach der Wahl wird plötzlich
in der Koalitionsvereinbarung festgehalten: Wir müssen
Ausnahmetatbestände für Unternehmen streichen. Das ist
nichts anderes als Tarnen und Täuschen. Vor der Wahl
wird anders geredet, als nach der Wahl gehandelt wird.
Die Unternehmen können sich nicht auf das verlassen,
was Sie hier ankündigen.
Ich möchte noch auf das Thema Eigenheimzulage in
der Koalitionsvereinbarung zu sprechen kommen. Sie
wollen sich bei der Eigenheimzulage auf Familien mit
Kindern konzentrieren. Nun muss man sich natürlich die
Frage stellen: Was sind bei Ihnen Familien mit Kindern?
Wenn eine Familie die Förderung behalten will, die sie
beim Neubau seither hatte, dann braucht sie mindestens
fünf Kinder. Wenn sie sich besser stellen will, dann
braucht sie sechs Kinder. Ich frage mich: Ist das eine Konzentrierung auf Familien? Was sind bei Ihnen überhaupt
Familien? Nach meiner Meinung wird damit ein massiver
Schlag gegen die Familien geführt.
({33})
Ich will Ihnen das vorrechnen. Nehmen Sie eine Familie mit zwei Kindern, die sich für einen Neubau entscheidet. Diese Familie wird in Zukunft 13 500 Euro weniger
an Förderung als bisher erhalten. Das sind 26 000 DM
- um das noch einmal in der alten Währung zu sagen -,
die man dieser Familie mit zwei Kindern wegnimmt. Das
fällt bei Ihnen unter Konzentrierung auf Familien. Das ist
ein Schlag gegen Familien, aber keine Familienpolitik.
({34})
Ihr ehemaliger Kollege Wiesehügel - ich bedaure in
diesem Zusammenhang, dass er nicht hier ist; denn er
würde dieser Debatte sicherlich mit Interesse folgen - hat
in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der IG BAU zu
Recht darauf hingewiesen, wie katastrophal die Lage in
der Bauwirtschaft ist. Wir haben in den vergangenen
sechs Jahren in diesem Sektor rund 500 000 Arbeitsplätze
verloren. Dieser Verlust ist zu einem großen Teil durch politische Maßnahmen verursacht worden, zum Beispiel im
Mietrecht. Ich nenne nur die Konditionen im freien Mietwohnungsbau und die bereits eingetretenen Verschlechterungen bei der Eigenheimzulage. All dies haben Sie politisch in die Wege geleitet. Sie haben Anteil daran, dass
500 000 Menschen ihre Arbeitsplätze verloren haben.
Aber statt diesen Weg endlich zu verlassen, kündigen
Sie weitere Verschlechterungen an, und zwar nicht nur bei
der Eigenheimzulage, sondern auch für den freien Mietwohnungsbau und durch weitere steuerliche Maßnahmen.
Das ist der falsche Weg, Herr Bundesfinanzminister. Kehren Sie um und gestalten Sie eine Politik für und nicht gegen Arbeitsplätze!
({35})
Lassen Sie mich das Stichwort „Mindeststeuer für Unternehmen“ aufgreifen. Bei diesem Vorschlag handelt es
sich meiner Meinung nach um einen kläglichen Versuch,
Ihre verkorkste Unternehmensteuerreform zu retten. Als
Folge Ihrer Unternehmensteuerreform sind die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer in diesem und im vergangenen Jahr völlig eingebrochen. Das Aufkommen ist
seit vergangenem Jahr sogar negativ, das heißt, den Betrieben wird mehr rückerstattet, als der Staat an Steuern
einnimmt.
({36})
- Dem Staat wird massiv Liquidität entzogen, Herr Binding,
und das ist eine Folge Ihrer Politik.
({37})
Ich halte diese Konsequenz für genauso wenig akzeptabel
wie Ihren Vorschlag für eine Lösung. Wir können es nicht
hinnehmen, dass dem Staat Liquidität entzogen wird. Wir
brauchen in diesem Land aber auch keine Mindestbesteuerung. Das ist der falsche Weg. Wenn Sie ihn tatsächlich einschlagen, dann haben Sie den Titel „Murks-Brothers“, der Ihnen in der vergangenen Woche von einem
großen deutschen Magazin verliehen wurde, tatsächlich
redlich verdient.
({38})
Sie haben über die Lage der Länder und Kommunen
gesprochen, Herr Bundesfinanzminister. Ich erinnere daran, dass Sie in der vergangenen Wahlperiode die Gewerbesteuerumlage erhöht haben.
({39})
Dadurch sind die Kommunen massiv geschädigt worden.
Im Bundesrat ist ein entsprechender Antrag vorgelegt
worden, um diese Maßnahme zu korrigieren. Wenn Sie
auf die Initiative des Bundesrates eingehen, bitte ich Sie:
Kommen Sie auf uns zu und helfen gemeinsam mit uns
den Kommunen, damit zumindest bei der Gewerbesteuer
und der Gewerbesteuerumlage der Finanzierungsspielraum der Kommunen wieder vergrößert wird.
({40})
Als weiteren Punkt möchte ich die Gemeindefinanzreform ansprechen. Sie haben die Einsetzung der Kommission zur Gemeindefinanzreform bis kurz vor der Bundestagswahl aufgeschoben. Zurzeit geht es durch die
Medien, dass Sie es nicht schaffen werden, im nächsten
Jahr zu Ergebnissen zu kommen, sondern dass erst im
übernächsten Jahr Entscheidungen getroffen werden.
Auch dies ist ein Vergehen an den Kommunen.
Die notwendigen Investitionen, die Sie zu Recht angesprochen haben, kommen auf kommunaler Ebene nicht
zustande, wenn es uns nicht gelingt, für die Kommunen
eine solide Finanzbasis zu entwickeln.
({41})
Deshalb ist Handeln geboten. Sie müssen in diesem Bereich Ihr Engagement verstärken.
({42})
Hinsichtlich der Mindestbesteuerung meine ich, es
geht nicht an, dass der Staat nur noch an den Gewinnen,
aber nicht an den Verlusten der Unternehmen teilhaben
will. Außerdem frage ich mich, mit welcher Begründung
bei der Einführung der Mindestbesteuerung auch der
klassische Mittelstand belastet werden kann. Denn die
Personenunternehmen sind doch für die Ausfälle bei der
Körperschaftsteuer in keinem Fall verantwortlich; sie
sind vielmehr genauso betroffen wie die anderen Steuerzahler. Das heißt, diejenigen, die bereits bestraft worden
sind, würden durch die Mindeststeuer noch einmal bestraft.
Sie haben ausgeführt, dass wir in Deutschland mehr
Selbstständigkeit brauchen. Ich stimme Ihnen darin zu.
Wir brauchen in Deutschland tatsächlich eine neue Kultur
der Selbstständigkeit. Dann dürfen Sie aber kein Scheinselbstständigengesetz verabschieden und durch die Mindestbesteuerung Existenzgründer bestrafen, indem die
Anfangsverluste nicht mehr entsprechend abgesetzt werden können. Das ist doch der falsche Weg.
({43})
Von vielen Kollegen ist mit Recht das Stichwort Demographie angesprochen worden. Wir haben im Zusammenhang mit diesem Thema die Bürger aufgefordert
- darin sind wir einer Meinung -, mehr für die Altersvorsorge zu tun, beispielsweise durch Aktienfonds, Immobilien, Wohneigentum oder Lebensversicherungen.
Was aber tun Sie? - Nachdem wir die Bürger ermutigt haben, in dieser Weise vorzugehen, schlagen Sie eine Besteuerung dieser Anlagen in Form einer Wertzuwachssteuer vor. Es ist doch ein völlig falsches Signal, wenn
derjenige, der selbst etwas für die Altersvorsorge tut,
dafür bestraft wird.
({44})
Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass eine
Wertzuwachssteuer nicht mit einer kleinen Änderung von
Fristen in den Steuergesetzen gleichzusetzen ist. Eine solche Steuer bedeutet vielmehr einen Systemwechsel im
deutschen Steuerrecht. Deshalb bitte ich darum, darüber
nicht unter dem Aspekt veränderter Fristen oder Stichtage, sondern unter dem Aspekt des Systemwechsels zu
diskutieren. - Frau Präsidentin, ich versuche, zum Ende
zu kommen.
Nein, Sie müssen ganz schnell zum Ende kommen.
Wir müssen grundsätzlich die Leistungsträger unseres
Landes ermutigen, etwas zu tun. Es muss in unserem Land
mehr Freiheit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung
geben. Der Staat darf die Menschen dort, wo Probleme
auftauchen, nicht erdrücken, lähmen und ihnen die Freiheit zum eigenverantwortlichen Handeln nehmen. Das ist
der falsche Weg. Darüber müssen wir streiten. Ich freue
mich auf die Auseinandersetzungen der kommenden Monate.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die
Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne darf ich sagen, dass ich Abgeordnete der PDS bin.
Mit Genehmigung der Frau Präsidentin möchte ich
meine Rede mit einem Zitat beginnen. In der Nr. 44 des
„Stern“ schreibt Sozialrichter Jürgen Borchert: „Reichtum ist wie Mist: Nur fein verteilt leistet er gute Dienste.“
Rund 26 Prozent des gesamten deutschen Privatvermögens konzentrieren sich derzeit auf nur 365 000 Personen.
Das ist lediglich ein halbes Prozent der Bevölkerung. Allerdings ist es nicht unbedingt so, dass diese Menschen
nicht am Gemeinwesen mitwirken wollen. Zwölf Millionäre haben vor der Bundestagswahl Bundeskanzler
Gerhard Schröder einen Brief geschrieben, in dem es
heißt - ich darf noch einmal mit Genehmigung der Präsidentin zitieren -:
Das Zahlen von Steuern gehört zu den Grundpfeilern
der sozialen Marktwirtschaft. Es beschämt uns,
wenn der Eindruck entsteht, wir Vermögenden sehen
uns wegen unseres Reichtums von der Übernahme
gesellschaftlicher Verantwortung ausgenommen.
({0})
So wie diese zwölf Millionäre gibt es wahrscheinlich
viele wohlhabende Menschen in der Bundesrepublik, die
diese Ansicht teilen. Die Losung „Fordern und Fördern“
habe ich bisher von dieser Regierung immer nur im Zusammenhang mit Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung
gehört. Warum sollte man nicht auch sehr wohlhabende
Menschen fordern und fördern? Die Wiedereinführung
der Vermögensteuer ist eine legitime Forderung.
Aber auch Fördern ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht ironisch gemeint. Wohlhabende Menschen,
die sich zum Beispiel in Form von Spenden für das Gemeinwesen einsetzen wollen, sollten in ihrem Anliegen
gefördert werden. Wenn Sie sich Berlins großartige Kulturlandschaft anschauen, dann wissen Sie, dass wir in Zukunft in viel stärkerem Maße auf großzügige Spenden angewiesen sein werden, um die Kultur trotz leerer Kassen
in dieser Stadt zu erhalten. Auch viele Abgeordnete, die
nicht aus Berlin stammen, schwärmen ja gern von der
Berliner Kultur. Tun wir also gemeinsam etwas für die
Berliner Kultur!
({1})
Es gibt ein Wahlversprechen der SPD aus dem Jahre
1998, das noch nicht eingelöst wurde. Das ist die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Nun wird versucht, die
Vermögensteuer über den Bundesrat wieder einzuführen.
Selbstverständlich unterstützen diejenigen Länder, in denen die PDS an der Regierung beteiligt ist, also Berlin und
Mecklenburg-Vorpommern, gemeinsam mit den Sozialdemokraten diese Bundesratsinitiative. Aber das ist natürlich eine Sache, die auch unglücklich ausgehen kann.
Denn wenn sich die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat
dieser Initiative verweigert, dann kann die SPD erklären,
dass sie zwar alles versucht habe, dass aber die CDU/CSU
ihre gute Politik blockiert habe. Ich hoffe, dass das Ganze
nicht zu einem Medienspektakel verkommt, sondern zu
solider Politik wird.
Ich verschweige allerdings auch nicht, dass wir von der
PDS einige Ansätze, die hier vorgetragen wurden, für positiv und begrüßenswert halten. Wir können zum Beispiel
die Vorschläge der Bundesregierung zur Mindestbesteuerung der Kapitalgesellschaften, zur Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne aus Wertpapieren und zur Schließung
von Steuerschlupflöchern nur loben. An der Ausarbeitung
vieler Punkte, die sich die Bundesregierung jetzt vornimmt, war die PDS in der vergangenen Legislaturperiode beteiligt. Einige Vorschläge sind in der vergangenen
Legislaturperiode nur von ihr in den Deutschen Bundestag eingebracht worden.
Wenn wir für die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Schließung von Steuerschlupflöchern plädieren, dann wird das von der konservativen Opposition
gern als Schikane interpretiert; mein Vorredner sprach
von einer Neiddiskussion. Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Einnahmen, um unsere sozialen
Sicherungssysteme zu erhalten und zu reformieren. Wir
können eben nicht die Hände in den Schoß legen und auf
eine baldige Konjunkturerholung hoffen.
({2})
Auch uns ist klar, dass man die Einnahmen des Staates
nicht beliebig erhöhen kann. Man muss auch Änderungen
bei den Ausgaben angehen. Doch uns scheint der Weg der
Bundesregierung problematisch. Die hohe Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Finanzminister
Eichel ein großes Loch in seiner Kasse hat. Doch allen ist
klar: Das Problem wird nicht einfach damit gelöst, dass
man die Arbeitslosen bestraft, ihnen das Arbeitslosengeld
kürzt und sie als mobile Arbeitsstationen übers Land
schickt. Besonders im Osten ist diese Strategie grundfalsch; denn die Konsequenz dieser Strategie ist die weitere Abwanderung von qualifizierten Menschen aus dem
Osten in den Westen. Das kann nicht die Lösung zur Entwicklung des Ostens sein.
Die neue Bundesregierung startet ihre Arbeit mit einem Signal der sozialen Kälte und beginnt ihre Sparpolitik mit einem Angriff auf die Schwächsten der Gesellschaft, die Arbeitslosen. Dass ausgerechnet die
Arbeitslosen mit Kindern fast 10 Prozent ihrer Lohnersatzleistungen einbüßen sollen, ist nicht nur sozialpolitisch völlig unverantwortlich, sondern widerspricht auch
dem familienpolitischen Schwerpunkt des Koalitionsvertrages,
({3})
zumal die angekündigte Leistungskürzung bereits den ersten Bruch der Wahlversprechen der Regierungsparteien
markiert. Den Gewerkschaften war bei der Diskussion der
Hartz-Konzepte ein Verzicht auf Leistungskürzungen zugesichert worden und jetzt beginnt die Umsetzung der
Hartz-Vorschläge ausgerechnet mit der Absenkung des Arbeitslosengeldes.
Frau Präsidentin, ich möchte noch einen Punkt ansprechen, den ich für positiv und begrüßenswert halte: die
Maßnahmen im Bereich der vorschulischen Kinderbetreuung. Hier haben wir ausnahmsweise die Situation,
dass der Westen Deutschlands gegenüber dem Osten deutlich aufzuholen hat. Im Osten gibt es eine umfassende
vorschulische Kinderbetreuung; doch das heißt nicht,
dass wir für diese Aufgaben kein Geld brauchen. Sie, Herr
Stolpe, wissen aus Ihrer langjährigen Arbeit als Ministerpräsident des Landes Brandenburg und aus Ihrer sonstigen Kenntnis des Ostens, dass viele Krippen und Kindergärten in den neuen Ländern sanierungsbedürftig sind.
Wir brauchen also trotz eines vorhandenen hohen Standards auch im Osten Geld für die vorschulische Kinderbetreuung.
({4})
Abschließend möchte ich an die Adresse von Herrn
Eichel bzw. dessen Vertreter sagen, dass ich noch etliche
Einsparungsmöglichkeiten im Hause sehe. Fangen wir
doch einfach einmal an -
Ich glaube, Sie haben jetzt leider keine Zeit mehr, das
noch auszuführen.
Ich bin bei meinem letzten Satz. Fangen wir doch einmal
an, die milliardenschwere Beschaffung und Umrüstung
der Bundeswehr als Interventionsarmee einzusparen. Orientieren wir uns in dieser Frage an unserem Nachbarland
Österreich. Dann wären wir einen Schritt weiter.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu den Themenbereichen Verkehr,
Bau und neue Länder.
Das Wort hat zunächst Herr Bundesminister Manfred
Stolpe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir ist Verantwortung aufgetragen mitzuhelfen: für
ein leistungsfähiges, integriertes und ökologisch belastbares Verkehrssystem, für sozialen Zusammenhalt durch
lebenswerte Städte, für angemessenen Wohnraum und für
den Aufbau Ost. Das ist Zukunftsarbeit, das stellt Weichen
bis zum Ende des Jahrzehnts und das knüpft an eine erfolgreiche deutsche Verkehrs-, Bau- und Wohnungspolitik an. Viele in diesem Haus haben daran mitgewirkt,
mehrere als Minister. Ich will meine Arbeit in Kontinuität
zu gemeinsam erarbeiteten Zielen gestalten und dabei
auch die erfolgreiche Arbeit von Kurt Bodewig weiterführen. Schönen Dank!
({0})
Der Aufbau Ost gehört zu dieser Politik; denn die Beseitigung der teilungsbedingten Rückstände bei der ostdeutschen Infrastruktur ist ein Schlüssel zum erfolgreichen Abschluss des Aufbaus Ost. Der Aufbau Ost ist mehr
als Verkehrs-, Bau- und Wohnungspolitik. Der Aufbau
Ost ist eine Aufgabe aller Ressorts. Ich werde mich dafür
einsetzen, dass in der Zusammenarbeit der Bundesregierung die konkreten Hauptziele der zweiten Hälfte des
Wegs zum Aufbau Ost entschlossen und ungekürzt vorangebracht werden.
({1})
Es geht darum, Ausbildung und Arbeit für Jugendliche
zu schaffen, um ihnen Perspektiven in der Heimatregion
zu geben und die Abwanderung abzubremsen,
({2})
Wissenschaft und Forschung in Ostdeutschland weiter
verstärkt zu fördern, um regionale Wachstumskerne zu
entwickeln, den Mittelstand, der das Herzstück unserer
Wirtschaft ist, mit Rat und Tat zu unterstützen. Die Auftragslage muss verbessert werden, die Eigenkapitalsituation muss stabilisiert werden und gegen Zahlungsrückstände muss wirksamer vorgegangen werden können;
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller
({3})
hat dazu eine operative Beratung aufgebaut, die sich vielfach bewährt hat. Es geht ferner darum, Investitionsstrategien in Ostdeutschland langfristig auf hohem Niveau
fortzusetzen. Die Erfahrung lehrt, dass insbesondere industrielle Kerne entscheidende Entwicklungshebel in benachteiligten Regionen sind.
Neue Bundeseinrichtungen und Institute müssen auf
absehbare Zeit vorrangig in Ostdeutschland angesiedelt
werden.
({4})
Die Chancen der Osterweiterung der Europäischen Union
für Ostdeutschland müssen für Wirtschaft, Wissenschaft
und Kultur umfassend genutzt werden. Die Zusagen zur
Angleichung der Löhne und Gehälter Ost an das Niveau
West bis spätestens 2007 müssen eingehalten werden.
({5})
Das ist nicht nur eine materielle Frage, sondern dabei geht
es um die Gleichwertigkeit der Ostdeutschen.
Zuallererst aber wollen wir gemeinsam mit Ländern und
Kommunen die Folgen der Hochwasserkatastrophe
beseitigen. Die Schäden sind gewaltig, aber die beglückende Solidarität in ganz Deutschland sowie die
schnelle und umfassende Bereitstellung von Hilfsmitteln des Bundes sind eine gute Voraussetzung dafür, diesen schweren Rückschlag in absehbarer Zeit aufzufangen.
({6})
Allein schon aus unserem Ministerium gehen umfangreiche Hilfen in die Behebung von Hochwasserschäden
an Wohngebäuden, in die Wiederherstellung der Infrastruktur in Gemeinden und in die Beseitigung der Hochwasserschäden an den Bundesverkehrswegen. In Kürze
wird die Bahnstrecke Leipzig-Dresden wieder durchgängig befahrbar sein. Damit wird eine der wichtigsten Schienenverbindungen wieder geschlossen und zugleich modernisiert. Weitere umfangreiche Hilfen aus anderen
Ministerien gehen an die gewerbliche Wirtschaft, an die
Landwirtschaft und an kulturelle Einrichtungen.
Die Hilfsprogramme werden professionell koordiniert.
Doch nach wie vor gibt es Informationslücken und Unsicherheiten. Deshalb nutze ich auch hier die Gelegenheit
- ich bitte um Nachsicht -, die Hochwasser-Hotline zu
nennen: 01888 - 300 30 60. Der Bedarf an Information
darüber, wie es funktioniert, ist immer noch groß.
Aufbau Ost - ich weiß, wovon ich rede. Ich gehöre zu
der Generation, die die Spaltung unseres Vaterlandes mitten durch die Familie miterlebt und miterlitten hat. Ich
habe die Hoffnung im Herzen getragen, die Willy Brandt
und Richard von Weizsäcker uns über die Mauer zuriefen:
„Die deutsche Teilung ist nicht das Ende der Geschichte.“
({7})
Die Hoffnung ging glücklicherweise und überraschend
schnell 1989/90 auf. Nun sind wir alle gefordert, die
Gnade der Geschichte zu nutzen und die Chancengleichheit aller Deutschen herzustellen.
({8})
Dabei werden Aufbau Ost und Ausbau West der Doppelhebel zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung
Deutschlands sein.
In diesem Sinne ist die Förderung der Infrastruktur
Zukunftsvorsorge und Voraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft. Ich bin froh, dass unsere Ausgangsposition gut ist: Die Bundesregierung hat für ein hohes Investitionsniveau bei den Verkehrswegen gesorgt; 2003
werden es 12 Milliarden Euro sein. Hinzu kommt noch
1 Milliarde Euro aus dem „Solidarfonds Fluthilfe“. Das ist
fast die Hälfte aller Investitionen des Bundes.
Infrastrukturinvestitionen sind Teil einer langfristigen
Vorauspolitik. Dazu gehört aber auch Planungssicherheit.
Wir wollen die Zukunftsinvestitionen mit einem langfristigen Investitionsprogramm Mobilität absichern. Insgesamt werden wir noch vor Ablauf dieses Jahrzehnts
90 Milliarden Euro in die Modernisierung des Verkehrssystems investieren.
({9})
Dieses Programm besteht aus fünf Schwerpunkten.
Erster Schwerpunkt: Engpassbeseitigung. Wir werden dazu gezielt Engpässe und Staus auf den am meisten
belasteten Autobahnen, auf der Schiene und auf den Wasserwegen beseitigen.
({10})
Auf den Autobahnen werden wir Engpässe mit dem
sechsstreifigen Ausbau von etwa 1 100 Kilometern beseitigen. Bei der Schiene können wir mit dem Programm bereits bis 2006 etwa 6 000 Schienenkilometer sanieren und
etwa 500 Kilometer neu und ausbauen.
Zweiter Schwerpunkt: Ortsumgehungen. Wir wollen
den Bau von Ortsumgehungen beschleunigt angehen. Damit erhöhen wir die Verkehrssicherheit und die Lebensqualität in den betroffenen Kommunen. Vor allem in den
neuen Ländern gibt es in dieser Hinsicht Nachholbedarf.
Seit der Wiedervereinigung wurden in Deutschland etwa
350 Ortsumgehungen gebaut, etwa 260 in den alten und
90 in den neuen Ländern. Mit dem Zukunftsprogramm
wollen wir den Bau von 300 Ortsumgehungen beschleunigen und dabei einen deutlichen Schwerpunkt im Osten
setzen.
({11})
Dritter Schwerpunkt: Stärkung des maritimen Standortes. Kern dabei ist, dass wir die deutschen Seehäfen
durch den Ausbau der Hinterlandverbindungen mit den
wichtigsten Wirtschaftszentren in Deutschland verbinden.
({12})
Vierter Schwerpunkt. Mit dem „Zukunftsprogramm
Mobilität“ setzen wir einen deutlichen Schwerpunkt auf
Stärkung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen
Ländern. Die A 14 von Magdeburg nach Schwerin, die
A 72 von Leipzig nach Chemnitz, aber auch das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ 8, die Schienenverbindung von Berlin über Halle/Leipzig, Erfurt nach Nürnberg,
werden damit auch investiv unterlegt und dauerhaft abgesichert.
({13})
Fünfter Schwerpunkt ist unsere Entscheidung zur Förderung der Technologie für die Magnetschwebebahn.
({14})
Wir wollen diese Spitzentechnologie weiter unterstützen.
Wir werden das Zukunftsprogramm auf einer soliden
Grundlage erarbeiten. Diese Grundlage ist der Bundesverkehrswegeplan. Anfang des nächsten Jahres wird der
Plan vorgelegt. Für diesen Plan haben wir umfangreiche
Analysen erarbeitet. Neben der Kosten-Nutzen-Analyse
beachten wir auch die Umweltverträglichkeit der geplanten
Maßnahmen. Besonders wichtig ist uns dabei auch die
„Raumwirksamkeit“ der Maßnahmen. Mit diesem neuen
Kriterium richten wir das Augenmerk auf zwei Fragen:
Wie können wir strukturschwache Regionen besser anbinden? Wie stärken wir die Infrastruktur in den verkehrsbelasteten Zentren?
({15})
Es geht auch um strukturelle Reformen; denn um Mobilität dauerhaft zu sichern, brauchen wir mehr als Investitionen. Dazu gehört die LKW-Maut.
({16})
Jetzt kommt die Verordnung zur Umsetzung der Maut.
Wir wollen uns an die Absprachen mit dem Güterkraftverkehrsgewerbe halten. Genauso werden wir uns an die
Zusage halten, dass die Einnahmen aus der Maut zu mehr
als 50 Prozent wieder in die Verkehrswege investiert werden,
({17})
und zwar in alle Verkehrsträger.
({18})
Wir brauchen die Nutzung und Vernetzung aller Verkehrsträger. Wir setzen auf die technologische Investitionskraft der Industrie, um die Emissionen weiter zu reduzieren. Wir werden die Verkehrsleittechnik weiter
fördern. Dabei wird das Satellitennavigationssystem
„Galileo“ eine wichtige Rolle spielen. Ab 2008 soll
„Galileo“ einsatzbereit sein. Bis zu 38 Satelliten werden
dann in 24 000 Kilometer Höhe auf genau festgelegten
Bahnen die Erde umkreisen. Ein Meilenstein der europäischen Weltraumtechnik wird damit zur Lösung künftiger
Verkehrsprobleme beitragen.
({19})
Wir wollen auch bei der Entwicklung umweltfreundlicher Kraftstoffe vorankommen. Deshalb unterstützen
wir die Forschung über alternative Kraftstoffe und wir unterstützen die Markteinführung innovativer Kraftstoffe in
enger Zusammenarbeit mit der Industrie.
({20})
Doch Mobilität, meine Damen und Herren, braucht
Akzeptanz. Denn Tatsache ist, dass der Schutz vor Verkehrslärm immer mehr zu der zentralen Akzeptanzfrage
wird. Deshalb werden wir diese Frage konzentriert in dieser Legislaturperiode anpacken:
Erstens. Wir werden erstmals ein Programm zur Verbesserung des Lärmschutzes an bestehenden Autobahnen
auflegen.
({21})
Zweitens. Das Programm zur Lärmsanierung an Schienen
setzen wir fort.
({22})
Drittens. Wir wollen die Novellierung des Fluglärmgesetzes zum Abschluss bringen.
({23})
Basis hierfür ist das Flughafenkonzept der Bundesregierung.
Das Flughafenkonzept ist zugleich auch die Basis
für die Weiterentwicklung der Luftverkehrsstandorte in
Deutschland, das heißt eine bessere Koordinierung der
Flughafenpolitik, den gezielten Ausbau von Flughäfen,
die Beachtung des Lärm- und Umweltschutzes. Hinzu
kommt eine bessere Anbindung an die Schiene. Das ist
zentraler Bestandteil unserer integrierten Verkehrspolitik.
Die Schiene wird ihre wichtige Rolle im modernen
Verkehrssystem behalten. Wir werden die Bahnreform
vollenden. Das heißt auch: Die Bahn muss und wird ein
wirtschaftliches Unternehmen werden.
({24})
Zuverlässigkeit, Servicefreundlichkeit, Kundenorientierung - das sind Aufgaben, die die Verkehrsunternehmen
zu lösen haben.
Meine Damen und Herren, eine leistungsfähige Infrastruktur heißt aber auch, dass wir lebenswerte Städte brauchen. Dazu gehört, dass wir uns auch um den sozialen
Zusammenhalt kümmern. Deshalb werden wir die Städtebauförderung, das Programm „Soziale Stadt“ und das
Programm „Stadtumbau Ost“ auf dem erreichten hohen
Niveau fortführen.
({25})
Mir ist wichtig, dass wir das Know-how und die Erfahrungen, die wir mit dem Programm „Stadtumbau Ost“
gemacht haben, nutzen, auch im Westen. Das kann dort
ebenso zu einem Erfolgsmodell werden. Denn auch in den
alten Ländern haben wir Städte, die mit Wohnungsleerstand umgehen müssen. Hier kann vom Osten lernen auch
ein echter Vorteil sein.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird
die Bildung von Wohneigentum weiter unterstützen;
aber wir wollen da Veränderungen vornehmen, wo sie
sinnvoll und machbar sind. Der Koalitionsvertrag macht
hier eine Zielvorgabe, die unstreitig ist: Die Förderung
von Neubau und Bestand soll angeglichen werden, Familien sollen stärker gefördert werden und Mitnahmeeffekte
sollen weiter reduziert werden. In diesem Sinne werden
wir das geltende Recht überprüfen. Dabei werden wir darauf achten, dass kein Schaden entsteht, nicht für die
Haushalte und nicht für die Bauwirtschaft.
({26})
Als gleichberechtigte Wohnform neben Miete und Eigentum wollen wir das genossenschaftliche Wohnen wei244
terentwickeln. Wir haben dazu eine Expertenkommission
eingesetzt. Die Ergebnisse werden wir Ende nächsten Jahres haben.
Zur Sicherung der Wohnungsversorgung in Deutschland
ist Wohngeld unverzichtbar. Deshalb geht es darum, für
eine bedarfsgerechte Anpassung des Wohngeldes zu sorgen. Mit dem Wohngeld sorgen wir dafür, dass Wohnraum
vor allem auch in den Ballungsräumen bezahlbar bleibt.
Hier wird es keine Versäumnisse geben.
Meine Damen und Herren, wir wollen Bauen in
Deutschland einfacher machen. Das gilt für den Hochbau
ebenso wie für den Tiefbau, zum Beispiel für den Bau von
Straßen und Schienen. Regulierungen müssen sinnvoll
sein. Wichtig ist: Notwendige Regulierungen dürfen das
Bauen nicht kompliziert und teuer machen.
({27})
Deswegen wollen wir das Baugesetzbuch und das Vergaberecht überprüfen. Ziel dabei ist, bürokratische Hürden
abzubauen und Investitionen zu beschleunigen. Dabei
werden wir darauf achten, dass Qualität und Umweltvorsorge erhalten bleiben.
Wir wollen die Marktchancen der deutschen Architekten und Ingenieure verbessern. Dazu werden wir eine
Stiftung Baukultur aufbauen. Diese Stiftung wird die
Qualität und Nachhaltigkeit von Bauten sowie die Leistungsfähigkeit deutscher Architekten und Ingenieure herausstellen.
({28})
Lassen Sie mich bitte abschließend noch einmal hervorheben: Aufbau Ost und Ausbau West sind für Deutschland zwei Seiten der einen Aufgabe, nämlich Zukunft
sichern und den Menschen Chancen bieten. Die Grundlagen hierfür sind gelegt. Es ist wirklich zu schaffen. Wir
alle sollten den Menschen Hoffnung geben. Das erwarten
sie von der Politik.
({29})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Arnold Vaatz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrter Herr Stolpe, gute Vorsätze haben
wir in diesem Hause schon viele vernommen. Aber jeder,
der das in den letzten Jahren miterlebt hat, musste feststellen, dass die Umsetzung derselben oft gescheitert und
am Ende im Detail nicht mehr viel übrig geblieben ist. Es
wurde ohne Ende gestrichen.
({0})
Es wird Ihnen, Herr Stolpe, auf diese Weise nicht gelingen, die Hoffnungen, die Sie verbreiten wollten, auch
wirklich zu verbreiten. Dies gelingt Ihnen nur dann, wenn
Sie den Menschen konkret sagen, wie Sie den Wunschzettel, den Sie eben vorgelesen haben, erfüllen wollen.
({1})
Wir erinnern uns: Wir hatten für den Aufbau Ost in
den letzten vier Jahren einen Staatsminister im Bundeskanzleramt. Der hatte keinen eigenen Haushalt, kein Mitzeichnungsrecht und auch sonst nicht viel zu sagen. Er
täuschte das Interesse der Bundesregierung an einem
Aufbau Ost offenbar nur vor und streute den Menschen
Sand in die Augen.
({2})
Der Wähler hat diesen Schwindel bemerkt und ihm das
Direktmandat entzogen; richtig hat er gehandelt.
({3})
Nun dämmerte offenbar dem Herrn Bundeskanzler, dass
durch potemkinsche Ministerien kein Staat zu machen ist.
Es wurde auch Zeit, dass ihm das einleuchtete. Deshalb
haben nun Sie, Herr Stolpe, die Chance. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Amt. Machen Sie etwas daraus. Ostdeutschland kann es gebrauchen.
({4})
Sie haben sich im Wesentlichen auf infrastrukturelle
Fragen konzentriert. Das ist vom Prinzip her richtig und
nicht zu beanstanden. Nur, in der Koalitionsvereinbarung
heißt es sehr richtig, dass die in Ostdeutschland erreichte
„Basis für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung“ noch nicht erreicht ist. Das wissen wir schon seit
vielen Jahren; und es bleibt richtig.
({5})
Die schlechtere Infrastruktur ist sicher einer der Gründe,
warum die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland noch nicht weiter fortgeschritten ist oder, genauer gesagt, warum sich die Schere zwischen Ost und West in den
letzten Jahren nicht geschlossen, sondern immer weiter
geöffnet hat. Ich vermisste in Ihren Ausführungen eine
nüchterne Analyse dessen.
({6})
Diese Auskunft sind Sie uns schuldig. Nur wenn man die
richtige Diagnose stellt, kann man damit rechnen, die
richtige Therapie zu finden, ansonsten nicht.
({7})
Herr Stolpe und meine Damen und Herren von RotGrün, die Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen
Entwicklung in Ostdeutschland liegen nicht in der mangelnden Effizienz der Arbeitsvermittlung. In ganz
Deutschland sind die Kosten, die die Arbeit belasten, zu
hoch und in Ostdeutschland sind sie viel zu hoch. Das ist
der Grund, weshalb das Wirtschaftswachstum stagniert.
Es betrug in Ostdeutschland im Jahre 2001 minus 0,1 Prozent und im Jahre 2002 0,2 Prozent. Das ist zu wenig.
So kann das nicht weitergehen. So entwickeln sich die
Verhältnisse in Ost und West weiter auseinander. Das ist gerade das Gegenteil der inneren Einheit, die wir anstreben.
({8})
Ich erwarte, dass die Regierung den Menschen in Ostdeutschland erklärt, wie sie diese Wachstumsdifferenz
umkehren will, kurz gesagt, wie sie die Tendenz wenden
will. Im Koalitionsvertrag wird das nicht erklärt. Wenn es
uns nicht gelingt, diese Tendenz zu wenden, dann werden
immer mehr Ostdeutsche ihre angestammte Region verlassen. Es werden keinesfalls allein diejenigen sein, die
nur deshalb gehen, weil sie in Ostdeutschland zu wenig
verdienen, sondern es werden auch viele derjenigen sein,
die in der Lage sind, ein Unternehmen zu gründen, die das
in Ostdeutschland nicht tun, weil es dort unattraktiv ist,
weil die Randbedingungen dort nicht stimmen. Diese
Menschen werden von dort weggehen. Wir werden dort
einen Kompetenzverlust erleiden, den wir nicht wettmachen können.
({9})
In Ihrer Koalitionsvereinbarung schreiben Sie, Ihr Ziel
sei es, weiterhin und in vermehrtem Umfang zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Aussage ist ja
nicht schlecht, aber der Staat kann eigentlich nur für die
Rahmenbedingungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen
sorgen. Er kann dafür sorgen, dass Arbeitsplätze entstehen
können. Arbeitsplätze unmittelbar schaffen kann der Staat
streng genommen nur im öffentlichen Dienst und bei
staatseigenen Unternehmen.
Solche staatseigenen Unternehmen gibt es. Herr
Stolpe, auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass ein
solches Staatsunternehmen die Deutsche Bahn AG ist.
Diese hat es dahin gebracht, dass alle vier sächsischen
Bahninstandhaltungswerke mit insgesamt 2 400 Beschäftigten jetzt unmittelbar vor der Schließung stehen. Dabei
ist beispielsweise das Werk in Delitzsch derzeit voll ausgelastet und in der Planung für 2003 stehen 90 Prozent
Auslastung. Trotzdem soll das Werk geschlossen werden.
({10})
Herr Stolpe, ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass
die Arbeitsplätze dort erhalten bleiben. Kommen Sie nach
Delitzsch, sprechen Sie mit den Leuten und erklären Sie
ihnen, dass sie weiter arbeiten dürfen. Das wäre eine Botschaft, die Hoffnung brächte.
({11})
Für wen soll der Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet,
denn eigentlich noch gelten, wenn er selbst für staatseigene Unternehmen offenbar keine Gültigkeit mehr hat?
({12})
Des Weiteren lese ich in der Koalitionsvereinbarung,
dass Sie in Pilotregionen integrierte Konzepte aus den Bereichen Innovation, Infrastruktur und Ansiedlungsförderung entwickeln wollen. Das klingt mir verdächtig nach
Worthülsen, die ich schon tausendmal gehört habe. Wir
brauchen für Ostdeutschland aber ganz konkrete Ansagen. Anderenfalls wird die Hoffnung in Ostdeutschland
nicht Fuß fassen.
({13})
Es gibt konkrete Projekte. Diese erfordern ein Stück
Rückgrat, möglicherweise auch einen Interessenstreit in
diesem Hause. Lassen Sie mich bei meiner folgenden
Darstellung mit einer Sache anfangen, die sicherlich sehr
streitbefangen ist.
In Kürze wird die nationale Entscheidung dafür getroffen, welche deutsche Stadt bzw. welche deutschen Städte
sich für die Austragung der Olympischen Spiele bewerben sollen. Nach einer Umfrage wird von den meisten für
die Sommerspiele Halle/Leipzig und für die Austragung
der Segelwettbewerbe die Ostseeküste favorisiert.
({14})
Herr Stolpe, bitte tragen Sie die strukturpolitischen Argumente vor, die zu der Schlussfolgerung führen, dass eine
solche Investition Ostdeutschland tatsächlich infrastrukturell nach vorn bringt. Tragen Sie auch dazu bei, dass diejenigen, die darüber zu entscheiden haben, dies in ihre Argumentation einbauen können. Das zum Beispiel wäre ein
Beitrag.
({15})
Damit komme ich zu der Frage, wie die Bundesregierung zu einem weiteren Großprojekt steht. Damit spreche
ich die Ansiedlung der geplanten europäischen Spallationsneutronenquelle an. Sie haben gerade gesagt,
Forschungsinstitute möchten Sie vorzugsweise in Ostdeutschland angesiedelt wissen. Dies ist solch ein Forschungsinstitut. Es handelt sich hierbei um Investitionen
in Höhe von 1,5 Milliarden DM und um Arbeitsplätze für
mehr als 1 000 hoch qualifizierte Wissenschaftler.
Herr Stolpe, wir erwarten von Ihnen, dass Sie erstens
dazu beitragen, dass die Bundesregierung diese Investitionen nach Deutschland holt,
({16})
und dass Sie, wenn das geschafft ist, zweitens dazu beitragen, dass diese Investitionen nach Ostdeutschland
kommen.
({17})
Wenn Sie solche Ziele vorgeben, haben Sie uns absolut an
Ihrer Seite. Wir werden Sie dabei mit all unseren Kräften
unterstützen.
({18})
Leider bäckt Ihr Koalitionsvertrag nur kleine Brötchen.
Sie kündigen zum Beispiel ein Bundesprogramm für
wissenschaftliche Kompetenzzentren an. Das hört sich
gut an.
({19})
Nur, wenn man sich die Sache genauer ansieht, dann stellt
man fest, dass im Gegenzug die Forschungsinitiativen
„Inno-Regio“ und „Wachstumskerne“ 2004/2005 auslaufen. Offenbar ist hier nichts anderes geplant, als etwas
Früheres fortzuführen und dem nur ein neues Etikett zu
verpassen. Das kann natürlich nicht der neue Aufbruch in
Ostdeutschland sein, auf den wir warten.
Nun komme ich zum Mittelstand, den Sie selber als
das Herzstück der ostdeutschen Wirtschaft bezeichnet
haben. Die meisten Mittelständler in Ostdeutschland
kämpfen mit einem äußerst geringen Kapitalstock um ihr
wirtschaftliches Überleben. Liquidität ist für viele ein
Fremdwort. Sie sorgen sich vor dem nächsten Tag und fragen sich, ob sie im nächsten Monat noch die Gehälter an
ihre Belegschaft auszahlen können.
({20})
Sie wollen ihnen durch die Bewilligung von Förderkrediten aus einer Hand und durch eine billige Kreditierung durch die Hausbanken helfen.
({21})
Das haben wir schon einmal bei der Flutkatastrophe
gehört. Da sagten die Häuslebesitzer: Jetzt wollen sie uns
noch einen Kredit aufbrummen, sodass wir das Doppelte
an Zinsen zu zahlen haben. - Das ist kein Weg.
({22})
Sie drehen fortwährend an den falschen Schrauben. Selbst
mit Förderkrediten zum Nulltarif wäre vielen nicht
geholfen.
({23})
Denn es sind die schon vorhin erwähnten Kosten der
Arbeit, die miserable Zahlungsmoral, gegen die Ihnen in
den letzten vier Jahren kein Mittel eingefallen ist, und die
gegenwärtigen bürokratischen Folterinstrumente in allen
denkbaren Bereichen, die den Mittelstand belasten. Damit
treiben Sie die mittelständischen Betriebe in die Existenznot, schaffen Sie immer mehr Schwarzarbeit und damit verwalten Sie seit Jahren den völligen Stillstand in
Ostdeutschland.
({24})
Weil dies so ist, brauchen Sie sich nicht darüber zu
wundern, warum es in Ostdeutschland so wenig Unternehmer gibt. Wir brauchen aber gerade dort Unternehmen
und Unternehmer. Denn die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen heißt, Arbeitsplätze anzubieten, und nicht, Arbeitslose
aus der Statistik zu entfernen, indem man sie in PersonalService-Agenturen Warteschleifen drehen lässt, wie das
Herr Hartz vorschlägt.
({25})
Arbeitsplätze haben mit Aufträgen und Aufträge haben
mit Kaufkraft zu tun. Nun lese ich in der Presse, Sie, Herr
Minister Stolpe, seien über die Kürzung der Eigenheimzulage nicht glücklich. Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht.
({26})
Sie stehen damit in Ihrer Partei nicht allein. Herr Bökel
aus Hessen warnt laut dpa seine Freunde in Berlin davor,
auch nur im geringsten den Eindruck zu erwecken, die
SPD würde den Traum eines Eigenheims für eine normale
Arbeiterfamilie nicht mehr möglich machen. Der Herr
Oberbürgermeister Ude aus München kündigt massiven
Widerstand an
({27})
und warnt vor den Risiken und Nebenwirkungen Ihrer
Koalitionsvereinbarung.
({28})
Herr Stolpe, ich kann Sie nur auffordern: Ändern Sie diese
Pläne! Wir unterstützen Sie dabei.
Ich sage dazu noch etwas: Die Eigenheimzulage muss
nicht nur ungekürzt beibehalten, sondern sogar auf die
Förderung des Erwerbs von sanierungswürdigem Altbaubestand ausgedehnt werden.
({29})
Wenn Sie das täten, würden Sie sehr schnell sehen, dass
damit durchaus Kosteneinsparungen verbunden sein können, nämlich dann, wenn dieser sanierungswürdige Altbau aus kommunalem Vermögen gekauft wird und die
Kommunen nicht mehr auf der Sanierungsaufgabe sitzen
würden und dadurch entlastet werden könnten.
({30})
Ich komme jetzt auf verschiedene Verwaltungsvereinbarungen zu sprechen.
Erstens. Herr Bundesminister, Sie sind für Verkehr und
Bauwesen in ganz Deutschland zuständig. Als ehemaliger
Ministerpräsident von Brandenburg erinnern Sie sich sicherlich noch daran, welchen enormen Wert das von der
Regierung Helmut Kohl durchgesetzte Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hatte. Dieses Gesetz soll ab
2004 nicht mehr gelten. Ich biete Ihnen erneut meine Zusammenarbeit an. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass dieses Gesetz 2004 nicht nur im Osten weiter gilt, sondern
auch im Westen eingeführt wird.
({31})
Dann hätten Sie einen Beitrag dazu geleistet, dass der
Westen vom Osten lernen kann.
Zweitens. Gewinnen Sie Ihre grünen Partner dafür,
dass die Verbandsklagerechte dort ausgesetzt werden, wo
keine konkreten Rechtsverletzungen vorliegen. Dann
gäbe es wesentlich kürzere Prozesse und sie könnten nicht
als Verhinderungsinstrumente beim Infrastrukturaufbau
missbraucht werden.
({32})
Drittens. Sie haben von Planungssicherheit gesprochen.
Schaffen wir also gemeinsam mehr Planungssicherheit bei
Genehmigungsverfahren! Planfeststellungsbeschlüsse sollten in Ostdeutschland nicht nur fünf, sondern zehn Jahre gelten. Damit wäre meines Erachtens mehr Planungssicherheit
besonders für die Kommunen gegeben.
Herr Stolpe, Sie haben angekündigt, dass es keine Kürzungen beim Aufbau Ost geben wird. Das ist das Mindeste, was wir von Ihnen erwarten können. Es gab nämlich enorme Kürzungen im Vorfeld. Ich darf daran
erinnern, dass in dem Finanzplan des Bundes 2002 bis
2006 ganz andere Summen vorgesehen waren, als sie im
Bundeshaushalt 2002 und im Entwurf des Bundeshaushalts 2003 veranschlagt waren.
({33})
Diese Kürzung schlägt vor allen Dingen bei der GAFörderung zu Buche. Aber auch das Programm „Kultur in
den neuen Ländern“, der Goldene Plan Ost und viele andere Maßnahmen sind davon betroffen. Diese wurden mit
großem Optimismus, wie er auch in Ihrer Rede durchklang, in diesem Haus verkündet, dann aber bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzen. Machen Sie dies
nicht noch einmal!
({34})
Herr Stolpe, Sie waren zwölf Jahre lang Ministerpräsident von Brandenburg. Ich bin nicht sicher, ob Sie angesichts Ihrer Vorleistungen der richtige Mann für diesen
Job sind. Ich erkenne Ihre Arbeit bei EKO oder bei
Schwarzheide durchaus an. Aber im Fall des Halbleiterwerkes Frankfurt/Oder ging der Versuch, die industriellen
Kerne zu retten, lange Zeit in die Hose. Es wurden Summen in Millionenhöhe ohne Erfolg eingesetzt. Dies änderte sich erst 1999 mit Beginn der großen Koalition in
Brandenburg.
Ich erinnere an den Flop Lausitzring. Dort wurden
120 Millionen Euro für 40 Arbeitsplätze eingesetzt. Ich erinnere ferner an Cargo-Lifter: vom Luftschiff zum Windei.
({35})
Herr Stolpe, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Amt,
für das Sie sich aus dem Ruhestand haben holen lassen,
nachdem der Leipziger Oberbürgermeister gekniffen
hatte. Er sah offenbar keine Chance, sich in dieser Bundesregierung zu profilieren. Denn wo Mittel, Konzepte
und politischer Wille fehlen, da kann man nichts gestalten. Dieses Ministerium erwartet die Rolle eines Moderators des Stillstandes.
({36})
Wenn Sie ein Moderator des Stillstandes werden wollen,
haben Sie mit unserem massiven Widerstand zu rechnen.
({37})
Wenn Sie tatsächlich nach Wegen suchen, den Abstand
zwischen Ost und West zu verringern, dann können Sie
mit unserer Hilfe rechnen.
Jetzt haben Sie eine Schonfrist von 100 Tagen. Nach
dieser Zeit sehen wir einmal, was aus Ihren Vorstellungen
geworden ist.
Vielen Dank.
({38})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mobilität ist Bewegungsfreiheit, und zwar eine Freiheit,
die im Osten unseres Landes - das sollten wir nie vergessen - als Reisefreiheit friedlich erkämpft worden ist. In einer offenen Gesellschaft ist Mobilität eine Grundbedingung
für individuelle Entfaltung und soziale und wirtschaftliche
Teilhabe. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite lautet: Mobilität ist leider mit Verkehr
verbunden, und zwar mit all seinen negativen Folgen wie
enormen Infrastrukturkosten, Lärm, Landschafts- und
Flächenverbrauch, CO2-Emissionen, Unfallopfern usw.
Deshalb ist es die Kernaufgabe einer zukunftsfähigen,
einer nachhaltigen Mobilitäts- und Verkehrspolitik, einerseits diese Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, andererseits aber die belastenden Folgen des Verkehrs zu begrenzen und zu verringern. Mit dem Konzept einer
nachhaltigen Mobilität sind wir im Wahlkampf angetreten, dieses Konzept ist erfolgreich bestätigt worden und
deswegen steht dieses Konzept als Leitmotiv über dem
Koalitionsvertrag in Sachen Mobilität.
({0})
Der Verkehrsbereich wird damit erstmals in eine langfristig angelegte Politik der ökologischen und sozialen
Modernisierung ausdrücklich einbezogen. Deshalb legt
der Koalitionsvertrag einen wesentlichen Schwerpunkt
auf den Ausbau der öffentlichen Vekehrssysteme und auf
neue effiziente Automobiltechnik.
Einer der ersten Schwerpunkte ist natürlich mehr
Chancengleichheit für die Schiene. Bahn fahren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, muss attraktiver werden, das
heißt auch, Bahn fahren muss billiger werden. Dazu
braucht die Bahn mehr Chancengleichheit.
({1})
Deshalb setzt der Koalitionsvertrag trotz aller Kritik,
Herr Kollege Goldmann, die man an einzelnen Regelungen haben kann, insgesamt auf den Erfolg des neuen
Fahrpreissystems der Deutschen Bahn, eines Systems,
das insbesondere Familien und Kleingruppen Fernreisen
zu Traumpreisen ermöglichen wird.
({2})
Darüber hinaus aber - das ist der einzige Punkt, an dem
die Politik den Fahrpreis beeinflussen kann - wollen wir
2005 die Mehrwertsteuer auf Fernverkehrstickets
mehr als halbieren, das heißt auf 7 Prozent senken, wie
das im Nahverkehr übrigens schon der Fall ist.
({3})
Damit wird die Fahrkarte nochmals um ein Zehntel billiger. Das ist in Zukunft der rot-grüne Rabatt auf Fernverkehrstickets.
({4})
Das verbessert die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn und
schafft zusätzlich eine wesentliche Voraussetzung dafür,
dass vernetzte Angebote zwischen ÖPNV und dem Schienenfernverkehr - Stichwort: Cityticket - endlich möglich
werden.
Auch Flüge ins europäische Ausland sollen - wie
Bahnreisen - künftig mehrwertsteuerpflichtig werden.
Damit übernehmen wir eine europäische Vorreiterrolle für
mehr Chancengleichheit zugunsten der Bahn. Wir werden
uns darüber hinaus für die Einführung einer europaweiten
Kerosinsteuer sowie einer flugstreckenbezogenen Emissionsabgabe innerhalb der EU und eine weitere Differenzierung von Start- und Landegebühren nach Emissionen
einsetzen.
Die Investitionen bilden nach wie vor einen wichtigen
Aspekt.
({5})
Dem weiterhin großen Nachholbedarf der Schiene bei Investitionen wird Rechnung getragen.
({6})
Trotz der offenkundigen Einsparzwänge im Bundeshaushalt, über die wir in diesen Tagen diskutieren, sollen die
Bahninvestitionen, die Verkehrsinvestitionen generell auf
dem erreichten Rekordniveau fortgeschrieben werden.
Das schafft Planungssicherheit, um die Runderneuerung
der Bahn konsequent fortzuführen. Damit verbindet sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Erwartung,
dass die Deutsche Bahn die verfügbaren Investivmittel
zeitgerecht und vollständig abruft und nachvollziehbar
umsetzt.
({7})
Die Investitionen in Straße und Schiene werden auch
künftig über alle Töpfe hinweg gleichgewichtig verteilt.
Bis zum Ende dieses Jahrzehnts - Herr Minister Stolpe,
Sie haben das angesprochen - werden die Verkehrsinvestitionen auf 90 Milliarden Euro beziffert. Das bedeutet
eine Fortschreibung des Rekordniveaus an Investitionen,
das wir bereits in der letzten Legislaturperiode erreicht haben.
Im Mittelpunkt stehen ausdrücklich - bei Straße und
Schiene - die Bestandserneuerung und die gezielte Engpassbeseitigung. Auch die bereits beschlossene LKWMaut leistet ihren Beitrag
({8})
und - das hat der Minister noch einmal bestätigt - wird
verkehrsträgerübergreifend zu gleichen Teilen für Straße
und Schiene/Wasserstraße verwendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verkehrswegeplanung heißt in erster Linie Fertigstellung des Bundesverkehrswegeplans. Auch hier müssen wir zum Abschluss
kommen. Wir werden die vorliegenden Ergebnisse der
Aktualisierung der Kostenansätze und der Bewertungskriterien in puncto Wirtschaftlichkeit, Raumerschließung
und Umweltverträglichkeit in einem Abwägungsprozess
bei jedem einzelnen Projekt, über das wir zu diskutieren
und entscheiden haben, gründlich umsetzen.
Wir wollen und müssen aber für einen fairen Wettbewerb im öffentlichen Verkehr auf der Schiene sowie im
ÖPNV sorgen, und zwar nicht aus ideologischen Gründen, sondern im Interesse der Fahrgäste. Ein geregelter
Wettbewerb, der sich an klar definierten Qualitätskriterien ausrichtet, sorgt für günstigere Preise und für mehr
Angebote. Daher wollen wir auch im öffentlichen Verkehr
für alle Anbieter einen fairen Marktzugang unter Beachtung ambitionierter und verbindlicher Umwelt-, Sozialund Qualitätsstandards.
({9})
Ebenfalls im Fahrgastinteresse liegt ein möglichst
flächendeckendes Angebot von Bus und Bahn mit durchgängig gültigen Fahrscheinen und integrierter Fahrplanauskunft, um jedem Fahrgast alle Verbindungen aus einer
Hand zugänglich zu machen. Deswegen wird dieser Punkt
im Koalitionsvertrag eigens angesprochen.
({10})
Wenn ich sage, wir wollen den uneingeschränkten und
diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur, dann meine ich keine Einbahnstraße. Dies muss für
Deutschland wie für unsere europäischen Nachbarn gelten.
({11})
Dementsprechend werden wir die Ergebnisse der Taskforce Schiene und des Eisenbahnpakets der EU konsequent umsetzen, das Eisenbahnrecht entbürokratisieren
und auf Symmetrie zu unseren Nachbarländern und den
Nachbareisenbahngesellschaften achten.
({12})
Die Verantwortung für das Schienennetz muss nach
unserer Auffassung in öffentlicher Hand verbleiben, um
die Wiederholung des britischen Fehlers, nämlich die materielle Privatisierung und damit eine Ausbeutung öffentlicher Infrastruktur durch private Shareholder, zu vermeiden.
Auch das Thema Magnetbahntechnik wird im Koalitionsvertrag angesprochen. Hier wird noch einmal die
prinzipielle Zusage des Bundes zur Bezuschussung der
beiden Länderprojekte bestätigt. Es ist allerdings für uns
eine Selbstverständlichkeit, dass eine Freigabe dieser Zuschüsse durch den Haushaltsausschuss wie bei anderen
Albert Schmidt ({13})
Albert Schmidt ({14})
Projekten auch nur vorstellbar ist, wenn belastbare Finanzierungs- und wirtschaftlich selbst tragende Betriebskonzepte vorgelegt werden. Dies genau ist das Problem, welches wir noch nicht gelöst sehen.
Ein zentraler Punkt im Koalitionsvertrag ist eine, beinahe hätte ich gesagt: Revolution in der Binnenschifffahrt. Damit wird ein Schritt vollzogen, für den Grüne
und Umweltverbände seit Jahren gekämpft haben.
({15})
Mit der nun vereinbarten Flusspolitik sind die Ausgangsbedingungen für eine naturnahe Binnenschifffahrt geschaffen worden. Dies führt zu einer Schiffbarkeit der Donau ohne Staustufen. Das Gleiche - keine Staustufen - gilt
für die Saale und die untere Havel, die renaturiert werden
soll. Es gibt auch eine entsprechende Festlegung für die
Elbe. Flüsse bleiben endlich Flüsse und der Umbau zu
aufgestauten und begradigten Wasserstraßen ist gestoppt.
Dies ist insbesondere nach dem Hochwasser dieses Sommers ein wichtiges Signal.
({16})
Wir werden erhebliche Anstrengungen für mehr Energieeffizienz, für erneuerbare Energien auch im Verkehrssektor sowie die Umsetzung des Masterplans Fahrrad unternehmen. Dies sind alles Punkte, auf die ich aus
Zeitgründen nicht näher eingehen möchte.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Dieser Koalitionsvertrag liefert eine gute Grundlage, um die
schon bisher erreichten Erfolge für eine ökologisch verträgliche Mobilität zu einem verkehrspolitischen Aufbruch zu verdichten und weiterzuentwickeln. Wir werden
jedenfalls intensiv an der Umsetzung der konkreten
Schritte arbeiten.
Herr Minister, wir freuen uns auf eine gute und konstruktive Zusammenarbeit - hoffentlich von allen Seiten
dieses Hauses - zur Umsetzung dieser Ziele.
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man nehme einen Ministerpräsident a. D., ernenne ihn zum
Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, gebe ihm
als i-Tüpfelchen noch den Schwerpunkt Aufbau Ost und
hoffe, dass damit alle Probleme gelöst werden. Ja, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wenn es denn so einfach wäre.
In der letzten Legislaturperiode haben wir das zweifelhafte Vergnügen eines einzigartigen Rekordes in diesem
Ministerium gehabt: drei Minister - darunter ein Ministerpräsident a. D. - und zehn Staatssekretäre in einer Legislaturperiode. Dies hat es noch nie zuvor gegeben.
Deswegen, Herr Minister: Sie sind jetzt gewissermaßen wie das Kaninchen aus dem Zylinder gezaubert
und präsentiert worden, weil es keine Alternative mehr
gab. Dabei wurden Sie offensichtlich selber von dem
neuen Amt überrascht. So war auch die Qualität Ihrer ersten Rede hier.
({0})
Allerdings - so viel Fairness haben Sie verdient - sollten
Ihnen 100 Tage zugestanden werden, bevor wir Ihre Arbeit inhaltlich kritisieren.
Ansonsten kann man zu dem, was in der Koalitionsvereinbarung über die Bereiche Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie Aufbau Ost geschrieben steht, eigentlich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Entweder es ist Lyrik nach Art eines psychologischen
Selbstfindungsprozesses - „Gut, dass wir einmal darüber
geredet haben“ - oder es wird an der falschen Stelle agiert,
meistens zulasten der Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft.
({1})
Das ist der eigentliche Pferdefuß Ihrer Koalitionsvereinbarung. Denn es nützt ja nichts, wenn Sie, Kollegen
und Kolleginnen von der Koalition, Ihr 90-MilliardenEuro-Aufbauprogramm wie eine Monstranz vor sich her
tragen, wenn gleichzeitig Franz Müntefering und Fritz
Kuhn das Ganze öffentlich unter absoluten Finanzierungsvorbehalt stellen. Wie wollen Sie denn Finanzierungssicherheit darstellen, wenn Sie noch gar nicht wissen, wie Sie die Mittelaufbringung sicherstellen wollen?
Eigentlich muss über dieses Thema der Finanzminister
entscheiden. Wie verlässlich der agiert, haben wir bei den
Kriterien zu Maastricht, bei dem, was er dazu vor und
nach der Bundestagswahl gesagt hat, gesehen.
Im Einzelnen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
als CDU/CSU-FDP-Koalition haben 1998 rechtzeitig vor
Ende der Periode der deutschen Seeschifffahrt mit der
Einführung der Tonnagebesteuerung ein Signal gegeben. Was muss die Seeschifffahrt jetzt lesen? Einer der
ersten Punkte auf Ihrer Streichliste zum angeblichen Abbau von Subventionen ist die Wiederabschaffung der
Tonnagesteuer, nachdem Sie fast zwei Jahre gebraucht
haben, um die Verordnung auf den Weg zu bringen, damit das Gesetz überhaupt sanktioniert werden kann. Es
greift mittlerweile offensichtlich so gut, dass es wenigstens noch ein paar deutsche Schiffe gibt, die unter deutscher Flagge auf den Weltmeeren umherfahren. Aber
wenn Sie die Tonnagesteuer, die den deutschen Unternehmern eigentlich nur eine Wahlmöglichkeit einräumt,
jetzt wieder abschaffen, werden Sie nicht die Beschäftigung deutscher Seeleute auf deutschen Schiffen erreichen, sondern das Gegenteil. Sie werden den Trend zur
Ausflaggung weiter verstärken.
({2})
Das nächste Thema: Kürzung der Eigenheimzulage im
Wohnungsbau. Es ist schon viel darüber gesagt worden.
Bei Ihnen, Herr Minister, scheint das Hexeneinmaleins der
Mathematik gegriffen zu haben. Wenn Sie weniger Geld
zur Verfügung haben, dann nützt es nichts, dass Sie sagen:
Wir wollen, dass die Familien im Ergebnis nicht geschädigt werden. Wenn Sie weniger Geld haben, können Sie
auch nur weniger Geld ausgeben. Herr Müntefering hat
gestern öffentlich bestätigt, dass es bei der Kürzung der
Eigenheimzulage bleibt. Was denn nun?
({3})
Hat der Fraktionsvorsitzende der SPD Recht oder wissen
Sie als Minister bereits, wie Sie Ihre Aussage im zukünftigen Haushalt in Heller und Pfennig umsetzen können?
({4})
Bereits jetzt gibt es Berechnungen von Unternehmen, die
die Konsequenzen der Kürzung der Eigenheimzulage für die
Arbeitsplätze ausdrücken. Die Einschränkung der Eigenheimzulage wird zum Beispiel laut Verband Klimaleichtblock GmbH zu 250 000 zusätzlichen Arbeitslosen führen,
({5})
die Abschaffung der degressiven Abschreibung auf vermietete Gebäude zu weiteren 50 000 und die Aufhebung
der bisherigen Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen
bei Immobilien zu zusätzlichen 100 000 Arbeitslosen. Eigentlich waren Sie ja angetreten, sich an der Zahl der Arbeitslosen messen zu lassen. Offensichtlich haben Sie die
Skala aber umgedreht: Sie wollen sich nach oben hin messen lassen und da einen neuen traurigen Rekord aufstellen.
Thema Bahn: Der Koalitionsvertrag weist aus meiner
Sicht und aus Sicht der FDP den Weg zurück in die Staatsbahn. Es klingt unheimlich gut, wenn Sie, Herr Kollege
Schmidt, andeuten, die Reduzierung der Mehrwertsteuer ab 2005 auf Reisen über 150 Kilometer sei der rotgrüne Rabatt. Ganz abgesehen davon, dass ich gerne einmal wissen würde, ob es sich mit dem deutschen
Rabattgesetz vereinbaren lässt, dass ein rot-grüner Rabatt
auf der Fahrkarte steht,
({6})
verbinden Sie dieses Rabattangebot mit dem Zwang für
die Bahn, diese Mehrwertsteuerreduzierung tatsächlich
im Fahrpreis an die Kunden weiterzugeben.
Wenn ich die Bahnreform richtig begriffen habe, die
damals auch mit Zustimmung von SPD und Grünen beschlossen wurde, dann wollten wir uns aus wirtschaftlichen Entscheidungen der Bahn heraushalten. Jetzt fangen
Sie wieder an, der Bahn Vorschriften für ihre Preise zu
machen. Dann wäre es doch konsequenter, die Bahn
gleich wieder komplett in die Staatshoheit zurückzunehmen. Wir zahlen bereits derzeit über alle Ebenen hinweg
mehr Geld an die Deutsche Bahn, als es 1992, auf dem
Höhepunkt der Bahndefizitrisiken in der Vereinigung von
Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn, den
Steuerzahler gekostet hat.
({7})
Der ewige Kampf um die Trennung von Netz und Betrieb sowie um mehr Wettbewerb auf der Schiene wird
von Ihnen zugunsten der Bahn und zulasten der Mitbewerber so geführt, dass im Endeffekt alles darauf angelegt
ist, wirkliche Konkurrenz auf dem deutschen Schienennetz zu verhindern. Sie bauen das Schienennetz nach den
Geschäftsplänen der Deutschen Bahn aus.
Ich freue mich, dass auch Sie mittlerweile erkannt haben - ich war der Erste, der das öffentlich gesagt hat, und
wurde dafür von Ihnen noch kritisiert -, dass die Bahn
nicht in der Lage ist, das ihr zur Verfügung gestellte Geld
auch tatsächlich zeit- und bedarfsgerecht auszugeben. Ich
höre jedes Jahr seit diesem Zeitpunkt, dass es die Bahn
wieder nicht geschafft hat, das Geld auszugeben. Wahrscheinlich wird es auch in diesem Jahr so sein. Deswegen
sollte man über dieses Thema nochmals neu nachdenken.
({8})
Zum Thema LKW-Maut: Herr Stolpe, vor Ihrem
neuen Ministerium stand, als Herr Bodewig noch Minister
war, ein großes Plakat mit der Aussage: „LKW-Maut - Unser Weg aus dem Stau!“ Hinter diesem Satz stand ein Ausrufezeichen und kein Fragezeichen. Ich gehe davon aus,
dass Sie das tatsächlich geglaubt haben. Nur ergibt sich
mir nicht schlüssig, meine Damen und Herren, wie Sie zu
diesem Ergebnis kommen. Wie soll diese LKW-Maut, die
Sie ansetzen, auch nur annähernd ein Weg aus dem Stau
sein? Ganz zu schweigen davon, dass die Logistikprozesse in Deutschland offensichtlich anders laufen,
als Sie meinen. Es wird Ihnen nicht gelingen, mit der ohne
Not geborenen Verteuerung eines Verkehrsträgers, nämlich des Verkehrs auf der Straße, zu erreichen, dass ein anderer Verkehrsträger, der offensichtlich Probleme hat, logistikfähig wird und dass tatsächlich mehr Güter auf die
Schiene verlagert werden.
({9})
Das alles sage ich vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Diese stellt uns wegen der Sozialkosten und
der Löhne in den dortigen Ländern vor ganz neue Herausforderungen. Die Qualität der Transporte wird dort
ähnlich sein. Ich sage Ihnen voraus: Sie legen auch auf
diese Weise die Axt an die Wurzeln des deutschen Transportgewerbes. Sie werden dadurch erreichen, dass diejenigen, die es sich leisten können, ihre Fahrzeuge ausflaggen und dass sich diejenigen, die es sich nicht leisten
können, still und leise aus dem Markt verabschieden werden. Denn die Menge der Transportunternehmer ist zu
klein, als dass der Kanzler aufnahme- und werbewirksam
mit dem Hubschrauber einfliegt und eine Bürgschaft hinterlegt wie bei Holzmann oder anderen.
Ein letztes Wort zum Thema Aufbau Ost.
({10})
Sie haben vorhin angesprochen, der Stadtumbau Ost
solle auf hohem Niveau fortgeführt werden. Wo aber kein
Niveau ist, kann man es auch nicht fortführen.
({11})
Fangen Sie erst einmal an, das Thema umzusetzen. Lassen
Sie uns zu diesem Thema eine Bestandsaufnahme machen,
die konkret etwas aussagt. Lassen Sie uns Verbesserungsmöglichkeiten beim Wohnungsmarkt durchgehen. Die
FDP hat in der letzten Wahlperiode aus ihrer Sicht wegweisende Konzepte zu diesem Thema vorgelegt,
({12})
auch was den Leerstand angeht. Sie haben sich dieser Einsicht bisher verweigert.
Wir bleiben dabei: Sie werden ohne Rücksicht auf Verluste diese Spirale weiter drehen, im Übrigen auch dadurch, dass Sie weitere Stufen der Ökosteuer beschließen.
Ich glaube, die FDP hatte und hat im Bereich Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen sowie beim Aufbau Ost die
besseren Konzepte. Das werden wir beweisen.
Danke sehr.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach den Beiträgen der Opposition ist es wieder einmal
klar und deutlich geworden: Die Wähler haben richtig entschieden.
({0})
Verkehrspolitik, Bau- und Wohnungspolitik sowie der
Aufbau Ost sind bei Rot-Grün sehr gut aufgehoben. Das
war in den letzten vier Jahren so und gilt auch für die Zukunft.
({1})
Zu Beginn der letzten Legislaturperiode hat die rotgrüne Bundesregierung mit der Zusammenlegung der
beiden Häuser Verkehr und Bau der engen Verknüpfung
von Verkehr- und Raumordnungsfragen Rechnung getragen. Die Erweiterung um den Schwerpunkt Aufbau Ost ist
eine richtige und logische Folge der bisherigen Arbeit.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, unterstützen, dass sich
dieser Zuständigkeitsbereich jetzt ganz deutlich in diesem
Ministerium wieder findet.
Angriffe gegen Rolf Schwanitz muss ich natürlich
zurückweisen. Der Aufbau Ost ist mit seinem Namen über
vier Jahre hinweg verbunden gewesen.
({2})
Das war eine gute Zeit für den Osten. Ich danke ihm von
dieser Stelle.
({3})
Der Aufbau Ost ist aber auch verbunden mit dem jetzigen Minister, mit Manfred Stolpe. Wir freuen uns, Herr
Minister Stolpe, auf die Zusammenarbeit. Wir sind uns sicher, dass du eines nicht wirst, nämlich ein Moderator des
Stillstandes. Du wirst ganz klar ein Motor für den Aufbau
Ost und für einen Ausbau West sein. Daran werden wir
mithelfen.
({4})
Mobilität trägt entscheidend zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen bei. Mit der Globalisierung
haben sich die Distanzen verändert. Mobilität wird zunehmend auch ein entscheidender Standortfaktor. Bei
der Ansiedlung eines neuen Unternehmens zählt nicht zuletzt eine leistungsfähige Infrastruktur zu den zentralen
Entscheidungsmotiven. Deshalb werden wir die Investitionen in Infrastruktur trotz der angespannten Haushaltslage auf dem erreichten Rekordniveau fortsetzen. Damit
leisten wir gleichzeitig einen Beitrag zur Schaffung neuer
Arbeitsplätze; denn durch 1 Milliarde Euro können etwa
25 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert werden.
Durch die Koalitionsvereinbarung haben wir daher
deutliche Wachstumsimpulse im Verkehrsbereich und
gleichzeitig klare Signale für den Arbeitsmarkt gesetzt.
({5})
Dieser Bereich ist von keiner Haushaltssperre betroffen.
Ich denke, das sollte man noch einmal deutlich sagen. Wir
setzen auf Investitionen im Verkehrsbereich.
Die Globalisierung der Märkte, die europäische Integration und die Zunahme des Handels mit Osteuropa - all
dies sind Faktoren, die das Verkehrsaufkommen erheblich anwachsen lassen werden. Dies stellt hohe Ansprüche
an die Verkehrspolitik und an das wichtige Transitland
Deutschland. Über die EU-Osterweiterung wird in der
Mitte dieser Legislaturperiode entschieden. Deshalb beeinflusst Europa unsere verkehrspolitischen Schwerpunkte:
den Aufbau und den Erhalt einer umweltverträglichen
Verkehrsinfrastruktur, die Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen und die Neugestaltung des Schienenverkehrs in Europa.
Nun kann man über die Bahn und den Schienenverkehr in Deutschland eine lange Vergangenheitsbewältigung betreiben. Ich meine, dass wir heute auch sagen
sollten, in welche Richtung wir in diesem Bereich weiterarbeiten werden. Der Schienenverkehr in Europa steht vor
einer grundlegenden Neugestaltung. Nach Jahrzehnten
der europäischen Kleinstaaterei im Bahnsektor wird der
Zugang zum grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr auf einem noch näher zu bestimmenden Netz ab dem
kommenden Jahr gewährleistet.
Wir werden in den kommenden Monaten mit der parlamentarischen Beratung eines entsprechenden Transformationsgesetzes beginnen. Das ist der erste Schritt, dem
bis zum Jahr 2008 die völlige Öffnung der Schienennetze
für den grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr folgen wird.
({6})
Ich bin sicher, dass in den kommenden Jahren weitere
Liberalisierungsschritte im Schienenverkehr auf europäischer Ebene gemacht werden.
Die Europäische Kommission hat erst kürzlich einen
Richtlinienvorschlag vorgelegt, der Regelungen über den
Netzzugang in allen Bereichen des Schienenverkehrs
enthält. Mit dem neuen Vorschlag sollen der Bezug auf
das transeuropäische Güternetz beseitigt und gleichzeitig
die Beschränkung auf den Grenzübertritt aufgehoben
werden. Das bedeutet, dass der gesamte Schienenverkehr
in der EU mit dem Inkrafttreten und der Umsetzung dieser Richtlinie liberalisiert sein wird.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Debatte, die
wir zu führen haben, zukunftsweisend ist und ich gehe davon aus, lieber Herr Friedrich, dass wir unsere Diskussion
um die Trennung von Netz und Betrieb ganz hinten anzustellen haben; denn die Perspektiven, die sich dabei auftun, sind ganz andere.
({7})
Ein weiterer Schwerpunkt in dieser Legislaturperiode
wird die Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplanes sein. Hier stehen schwierige Entscheidungen an.
Wer das schon einmal mitgemacht hat, weiß, dass das Verfahren inhaltlich nicht einfach sein wird und dass es uns
von daher auch im Ausschuss eine ganze Zeit beschäftigen wird.
Bezüglich der Festlegung der Finanzierungslinie, des
Verhältnisses von Aus- und Neubau zu den Vorhaben zur
Bestandserhaltung und natürlich der Aufteilung auf die
Regionen und Länder stehen schwierige Entscheidungen
an. Ich freue mich, dass in der Koalitionsvereinbarung
hierzu klar Stellung bezogen wurde.
({8})
Schwerpunkte werden der beschleunigte Ausbau der
Ortsumgehungen zur Entlastung der Ortskerne und
natürlich der Aufbau Ost sein. Hier sind auch alle Bundesländer gefordert, ihre Prioritäten zu setzen; denn wir
wollen dies in enger Absprache mit den Ländern gemeinsam regeln.
Im Zeichen des größer werdenden Europas steht auch
die Entscheidung, den maritimen Standort Deutschland
mit einem gezielten Ausbau der Hinterlandverbindungen und der Verbindung zu den Wirtschaftszentren in
Deutschland weiter zu stärken. Für die Ostseehäfen ist
die EU-Osterweiterung eine große Chance.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen, dass meine Fraktion die Initiativen von Bundeskanzler Schröder mit den Maritimen Konferenzen in
Emden und Rostock und dem Maritimen Bündnis
für Ausbildung und Beschäftigung als Baustein dieser
Politik ausdrücklich begrüßt.
({9})
Wir stehen zum Maritimen Bündnis. Die Optimierung der
Schiffssicherheit, die erst mit uns einen Riesenschritt vorangekommen ist, wird weiterhin ständiges Thema bleiben. Daran werden wir weiter arbeiten.
Die Schiffbarkeit der Wasserstraßen wird unter Wahrung der Interessen der Binnenschifffahrt gewährleistet.
Vor dem Hintergrund der Hochwasserkatastrophe an Elbe
und Donau werden wir ganz besonders darauf achten,
dass alle damit zusammenhängenden Maßnahmen den
berechtigten Belangen von Umwelt und Hochwasserschutz genügen.
Ein weiterer Schwerpunkt in unserer Arbeit wird das
Thema Lärm sein. Eine Folge des Verkehrswachstums ist
die Zunahme der Belastung der Bevölkerung durch Verkehrslärm. Mehr als 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, so eine Studie des Umweltbundesamtes, sehen ihre
Gesundheit durch Verkehrslärm gefährdet. Wir stehen vor
der Herausforderung, den Schutz der Bevölkerung vor der
Lärmbelästigung deutlich zu verbessern.
Ein erster Schritt ist mit dem Sonderprogramm Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen bereits gegangen
worden. Wir werden ein weiteres Programm auflegen,
und zwar zur Lärmsanierung an bestehenden Bundesautobahnen.
({10})
Das, meine ich, ist ein wichtiges Zeichen für die Zukunft;
denn es gilt, die Frage der gebündelten Verkehre zu
thematisieren. Es kann nicht sein, dass jeder Verkehr lediglich seine eigene Dezibelzahl misst und dann keine Lärmschutzwand aufgestellt wird. Lärmschutz ist ein Thema,
das für die Bürgerinnen und Bürger hauptsächlich in unseren Städten von großer Bedeutung ist.
Im Bereich des Luftverkehrs werden wir angesichts erheblicher Zuwachsraten der letzten Jahre das Fluglärmgesetz ebenfalls mit dem Ziel eines deutlich verbesserten
Lärmschutzes novellieren. Dabei werden wir einen Weg
finden, der die Interessen der Wirtschaft, insbesondere
von Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften, wie auch
der betroffenen Anwohner und Gemeinden zu einem fairen Ausgleich bringt.
({11})
Die Koalitionsvereinbarung widmet einem weiteren
Schwerpunktthema viel Raum: der Herstellung fairer
Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger. Wegen des anhaltenden Dumpingwettlaufs bei unseren europäischen Nachbarn ist es gerade in den letzten Jahren in
manchen Bereichen zu einer Schieflage gekommen. Die
Koalitionsvereinbarung macht deutlich, dass wir entschlossen sind, diese Ungleichgewichte zu beseitigen,
und dass wir bei der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen weiterkommen wollen und müssen. Dies wird
nicht einfach sein. Dieses Problem ist nicht von einem Tag
auf den anderen zu lösen. Aber wir sagen der Bundesregierung weiterhin eindeutig unsere Unterstützung zu.
({12})
Rot-Grün hat in der vergangenen Legislaturperiode in
der Verkehrspolitik entscheidende Weichen neu gestellt.
Dies gilt für die Verwirklichung eines integrierten Verkehrssystems. Dieses System setzt optimale Schnittstellen voraus. Hier haben wir mit der Förderung des kombinierten Verkehrs viel erreichen können. Die KVTerminals leisten einen wichtigen Beitrag zur Verlagerung von Güterverkehr auf Schiene und Wasserstraße.
({13})
Künftig werden wir uns über erweiterte Fördermöglichkeiten zu unterhalten haben.
Eine Neuorientierung in der Verkehrspolitik bedeutet
auch die Einführung der entfernungsabhängigen
LKW-Maut.
({14})
Mit der Maut beschreiten wir neue Wege in der Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, weg von der reinen Steuerfinanzierung, hin zur Nutzerfinanzierung beim LKW.
({15})
Die Maut wird insgesamt zu einer gerechteren Anlastung der Wegekosten führen und die ausländischen Mitbewerber stärker als bisher an den Kosten beteiligen. Das
ist ein klares und deutliches Signal für die Infrastruktur.
Es ist allgemein bekannt, dass wir mit Haushaltsmitteln allein an dieser Stelle nicht weiterkommen. Wir haben die rechtliche Basis dafür geschaffen, dass privates
Geld in die Infrastrukturfinanzierung einfließen kann.
Wir sind uns einig, dass die LKW-Maut wie beschlossen - das bedeutet: inklusive des substanziellen Harmonisierungsschrittes bei der Steuer- und Abgabenlast in Höhe
von 300 Millionen Euro - eingeführt wird.
Was Ihre netten Zurufe angeht, Herr Oswald, empfehle
ich Ihnen abzuwarten. Wir werden die LKW-Maut 2003
einführen; darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.
Dann werden wir uns alle freuen, dass wir ein paar Mark
mehr zu verteilen haben.
({16})
Es geht uns aber nicht nur um den Straßengüterverkehr,
sondern wir wollen bei allen Verkehrsträgern die Ungleichgewichte bei der Kostenbelastung abbauen. Die
Senkung des Mehrwertsteuersatzes im Schienenpersonenfernverkehr auf 7 Prozent hat für uns zentrale Bedeutung. Auch das ist ein wichtiges Zeichen in Richtung
Schiene.
({17})
Denn damit wird erstmals die Verkehrsverlagerung auch
steuerpolitisch unterstützt.
Wir werden bei unseren europäischen Partnern darauf
drängen, alle auf europäischer Ebene nicht harmonisierten Subventionen innerhalb der einzelnen Verkehrszweige abzubauen.
Bei den weiteren europäischen Liberalisierungsschritten im Personennahverkehr mit Bus und Bahn wird es
darauf ankommen, unsere hohen deutschen Qualitäts-,
Sozial- und Umweltstandards zu erhalten. Nur so können
wir die Attraktivität unseres öffentlichen Verkehrssystems
erhalten und verbessern. Wir werden daher die Bundesregierung, die sich in den europäischen Gremien sehr nachdrücklich gegen ein Sozial- und Umweltdumping ausgesprochen hat, weiterhin in dieser Haltung unterstützen.
({18})
Was für die Verkehrspolitik gilt, trifft auch auf unsere
Wohnungs- und Städtebaupolitik zu. Auch hier werden
wir uns an der Nachhaltigkeit orientieren und deutliche
Wachstumsimpulse setzen. Unser Ziel ist es, unsere
Innenstädte zu beleben sowie das urbane Wohnen und
den Umbau von Beständen zu stärken. Dies geht mit der
Verbesserung der Attraktivität des Wohnens insbesondere
für Familien einher. Ein wesentlicher Baustein war und ist
die bedarfsgerechte Anpassung des Wohngeldes, die wir
vorgenommen haben.
Die Bildung von Wohneigentum werden wir weiter
unterstützen. Hierbei wollen wir uns aber stärker auf die
Förderung von Familien mit Kindern konzentrieren. Bei
der Umsetzung unserer Überlegungen zur Reduzierung
der Eigenheimzulage werden wir sehr genau darauf achten, dass es zu einer zielgerichteten Förderung kommt.
Ein Schwerpunkt in der Wohnungs- und Städtebaupolitik wird selbstverständlich im Aufbau Ost liegen. Die
Bekämpfung des Leerstandes und die zukunftssichere
Entwicklung der Städte im Osten hat für uns nicht erst
nach der aktuellen Neustrukturierung des Ministeriums
Priorität. Deshalb werden wir künftig das Programm
„Stadtumbau Ost“ auf hohem Niveau verstetigen.
Gleiches gilt für das neu zu schaffende Programm
„Stadtumbau West“ und das bereits bestehende Programm
„Soziale Stadt“. Wir werden die Programme konsequent
fortführen.
({19})
Unser Ziel ist es natürlich auch, Bürokratie abzubauen. Das bedeutet für uns den Auftrag, Bauen künftig
zu vereinfachen. Diesen Auftrag nehmen wir ganz ernst.
Daher werden wir auch das Vergaberecht dahin gehend
überprüfen, nach welchen Verfahren wir schneller und unkomplizierter bauen können.
Darüber hinaus wollen wir auch in der Baupolitik neue
Wege der Finanzierung prüfen. Im Bereich des öffentlichen Hochbaus werden wir verstärkt öffentlich-private
Partnerschaften angehen. Zu diesem Zweck wollen wir
ein Kompetenzzentrum aufbauen, das die Unternehmen
und die Kommunen bei der Planung und Durchführung
von Maßnahmen unterstützen soll.
({20})
- Ich weiß schon jetzt, wer die ersten Anträge stellen wird,
ein solches Kompetenzzentrum zu erhalten, Herr Friedrich.
Sie würden mit Ihrem Wahlkreis sofort auf der Matte stehen.
Die Verkehrspolitik, die Wohnungs- und Baupolitik sowie der Aufbau Ost haben während der letzten vier Jahre
von Rot-Grün große Fortschritte gemacht. Wir haben die
richtigen Signale gesetzt. Wir werden unsere Politik kontinuierlich fortsetzen. Ich sage ganz klar und deutlich: Der
Aufbau Ost und der Ausbau West sind die Aufgabe, der
wir uns weiterhin konsequent annehmen werden.
Danke schön.
({21})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Oswald.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Faße, das, was Sie hier angekündigt haben,
war ja schon eine kleine Regierungserklärung, die eigentlich der Bundesminister hätte abgeben müssen. Ich sage
Ihnen aber: Alles, was Sie aufgezählt haben, werden Sie
mit der Koalitionsvereinbarung, die Rot-Grün geschlossen hat, auf keinen Fall umsetzen können. Das ist völlig
klar.
({0})
Als Rot-Grün vor vier Jahren die Regierungsverantwortung übernommen hat
({1})
- der gefürchtete Zurufer Tauss ist da; um Gottes willen -,
({2})
wurde von Ihnen keine Gelegenheit ausgelassen, unter
Hinweis auf die zurückliegenden Jahre die scheinbare Erblast aus Unionszeiten zu beklagen. Vier Jahre hatten Sie
nun Gelegenheit, die Verkehrs- und Baupolitik nach Ihren
Vorstellungen auszurichten. Wir haben zwar jetzt den
vierten Verkehrsminister und auch wieder neue Staatssekretäre. Aber ob Sie dadurch endlich neuen Schwung in
die Verkehrs- und Baupolitik bringen, ist nach dem, was
wir bisher und auch heute gehört haben, mehr als zu bezweifeln.
({3})
Sie haben nicht erkannt, welche Möglichkeiten diese
beiden großen Politikbereiche bieten, Zukunft zu gestalten.
Sie wollen das Verkehrs- und Bauministerium offenbar
auch in den nächsten Jahren nur verwalten. Ihnen fehlt es
an Visionen - diese sind Ihnen ja auch von der Fraktionsführung verboten worden - und an Ideen für die Weiterentwicklung der Verkehrs- und Baupolitik. Die Akzente,
die Sie setzen, lassen Sie sich weitgehend vom Finanzminister diktieren, der über die Einnahmen aus dem Straßenverkehr seinen Haushalt aufbessern will. Ich sage Ihnen:
Wir werden nicht zulassen, dass die Autofahrer in unserem
Land von Ihnen weiter so abkassiert werden.
({4})
Am 1. Januar 2003 satteln Sie bei der Ökosteuer noch
einmal drauf. Wir misstrauen den Zusicherungen von
Herrn Schröder, dass man auf weitere Erhöhungen verzichte. Hinter den Hecken lauern doch Ihre Ideologen, die
ihre alten Forderungen nach 5 DM pro Liter Kraftstoff
noch nicht aufgegeben haben.
({5})
Das ist doch die Wahrheit.
({6})
Statt für Investitionsanreize zu sorgen, schaffen Sie ein
Klima allgemeiner Verunsicherung.
({7})
Immer wenn es unruhig ist, weiß ich, dass ich Recht habe.
({8})
Wir müssten in der Verkehrs- und Baupolitik mit voller
Schubkraft durchstarten;
({9})
denn Mobilität ist Voraussetzung für Wirtschaftswachstum. Aber wer wie Sie jetzt auf die Mobilitätsbremse tritt,
blockiert die wirtschaftliche Entwicklung und fügt dem
Standort Deutschland nachhaltig Schaden zu.
({10})
Dort, wo Impulse für die Wohnungs- und Bauwirtschaft so dringend notwendig sind, stellen Sie die Weichen falsch, und zwar zum Nachteil für die vielen Menschen, die auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum
sind, und zum Nachteil für die Bauwirtschaft, die Sie mit
einer investitionsfeindlichen Politik in eine schwere Krise
manövriert haben.
({11})
Ihre wohnungs- und städtebaupolitischen Vorhaben wir haben jetzt alles darüber gehört; es gab ja auch ein
regelrechtes Rauschen im Blätterwald - entsprechen
nicht der Bedeutung, die diese Politikbereiche für die
Wohnungsversorgung, die Stadtentwicklung, die Bauwirtschaft, die soziale Sicherheit und die Altersvorsorge
haben müssten.
Offenbar hat nun Minister Stolpe bei der Eigenheimzulage den Rückzug angetreten; Frau Kollegin Faße und andere Redner haben noch etwas anderes gesagt. Was gilt
nun eigentlich?
Wenn die von der rot-grünen Koalition beabsichtigten
Einschnitte bei der Eigenheimzulage Wirklichkeit werden, werden sich viele Familien und vor allem Arbeitnehmerfamilien den Traum von den eigenen vier Wänden
nicht mehr leisten können. Das ist Realität.
({12})
Beim Neubau würden Familien mit weniger als sechs
Kindern - das sind über 99 Prozent aller Familien mit
Kindern - zu den Verlierern gehören. Junge Ehepaare, die
für die Familiengründung Wohneigentum erwerben wollen, erhielten nach diesen Plänen künftig keinen Euro Förderung mehr.
Wir lehnen die Einschnitte bei der Eigenheimzulage
strikt ab,
({13})
weil sie Gift sowohl für die Bauwirtschaft als auch für die
Häuslebauer sind. Unser Ziel ist es, die Förderung des
Wohneigentums in Neubau und Bestand zu stärken, die
Eigenheimförderung familienfreundlicher zu gestalten
und das Wohneigentum wirksam in die Förderung der privaten Altersvorsorge einzubinden.
({14})
Sie verkennen mit Ihrer Entscheidung, dass der Bau
von 10 000 Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern
knapp 44 000 Arbeitsplätze schafft. Von den dadurch erzielten höheren Steuereinnahmen und Sozialabgaben profitiert der Staat. Nach gesicherten Erkenntnissen erbringt
der Bau von 10 000 Wohnungen über 1 Milliarde Euro
staatliche Einnahmen. Das ist die Realität.
Sie sollten Wohneigentum möglich machen und nicht
verhindern. Sie sollten den Wohnungsbau fördern und
nicht blockieren. Denn Wohnungsknappheit führt zu
Mietsteigerung und damit zu einer wirtschaftlichen Verschlechterung für die Mieter. Das ist die Wahrheit, meine
Damen und Herren.
({15})
Das, was im Baubereich von der Koalition beschlossen
worden ist, wird übereinstimmend als katastrophal für
Konjunktur und Arbeitsmarkt bezeichnet. Die Branche
spricht übereinstimmend von einem Kahlschlag in der
Bau- und Wohnungswirtschaft. Wenn Sie den Verbänden
und der Wirtschaft nicht glauben wollen, dann hören Sie
doch auf Klaus Wiesehügel. Was der gesagt hat, wissen
Sie am allerbesten.
Mit der Erhöhung der Ökosteuer zum 1. Januar nächsten Jahres verteuern Sie nicht nur das Wohnen, sondern
auch die Mobilität. Unsere Forderung heißt: Mobilität
muss für jeden bezahlbar bleiben und darf nicht weiter
verteuert werden.
({16})
Nach vier Stufen Ihrer so genannten Ökosteuer beträgt der
Steueranteil inklusive Mehrwertsteuer je Liter Benzin mit
77 Cent heute bereits drei Viertel des Gesamtpreises. Bei
einer einzigen 50-Liter-Tankfüllung fallen über 38 Euro
Steuern an. Insgesamt zahlen die Straßenbenutzer in
Deutschland über Sonderabgaben jährlich rund 50 Milliarden Euro. Aber nur rund 16 Milliarden Euro werden
für den Bau und den Unterhalt von Straßen ausgegeben.
({17})
Sie müssen jetzt mit der Vorlage des Bundesverkehrswegeplans Farbe bekennen. Jetzt nützt Ihnen keine Programmvielfalt, kein Programmwirrwarr. Sie wissen ganz
genau, dass Ihr Mobilitätsprogramm mit den ausgewiesenen 90 Milliarden Euro für zehn Jahre nichts anderes ist als
die Haushaltsansätze für diesen Zeitraum. Jetzt hilft kein
Nebel, kein Schleier, jetzt müssen die Fakten auf den Tisch.
({18})
Die Herausforderungen sind groß. Vordringlich müssen 2 800 km bestehende Autobahnen auf sechs oder acht
Streifen ausgebaut werden. 2 400 km Lückenschlüsse und
Netzergänzungen sind notwendig.
({19})
Wenn Sie hier nicht zulegen, gibt es keine Mobilität und
wir fahren in Deutschland geradewegs in den Stau.
({20})
Allein für den Bundesfernstraßenbau haben die Länder
eine Finanzierungslücke in Höhe von jährlich rund 2 Milliarden Euro errechnet. Sie wissen ganz genau, dass die
Finanzierung des Anti-Stau-Programms 2003 nicht gesichert ist, weil die Mittel aus der LKW-Maut frühestens in
der zweiten Hälfte 2003 fließen werden. Hier müssen Sie
Klarheit schaffen.
Sie haben die Rahmenbedingungen für das LKWGewerbe in den letzten Jahren derart verschlechtert, dass
die Zahl der Insolvenzen in dramatischer Weise zugenommen hat.
({21})
Warum sagen Sie eigentlich nichts zum LKW-Gewerbe?
Hier wären klare Aussagen notwendig. Wie wollen Sie
denn den Güterverkehr auf der Schiene bis zum Jahr 2015
verdoppeln, wenn Sie tatenlos zusehen, wie sich die Bahn
überall zurückzieht und immer mehr Verladestellen geschlossen werden? Wie soll denn die Bahn Transportvolumen vom LKW übernehmen, wenn sie an den Grenzen
weiterhin aufgehalten wird? So gibt es viele Dinge.
Wir brauchen eine Offensive für den Schienenverkehr.
Sie dürfen die Bahn nicht weiter vernachlässigen; hier
helfen keine schönen Worte.
({22})
- Natürlich! - In unserem Land sind Defizite bei Infrastruktur und Mobilität Alltagswirklichkeit. Staus sind an
der Tagesordnung. Züge fahren unpünktlich. Die Binnenschifffahrt hat leider an Bedeutung verloren.
({23})
Es gibt erhebliche Kapazitätsprobleme im Luftraum und
auf den großen deutschen Verkehrsflughäfen.
({24})
Die Herausforderungen sind groß, aber Ihre Antworten
unzureichend. Wir sind zur Zusammenarbeit in unserem
Ausschuss bereit. Es ist unsere gemeinsame Infrastruktur.
Nach unserer Vorstellung muss ein zukunftsfähiges Verkehrswesen, ein zukunftsfähiges Infrastruktursystem individuelle Mobilität garantieren, die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland sichern und zugleich den
wachsenden Anforderungen an den Schutz der Umwelt
vor Lärm und Schadstoffemissionen Rechnung tragen.
({25})
Deshalb: Korrigieren Sie Ihre Beschlüsse!
({26})
Unser Wirtschafts- und Arbeitsstandort Deutschland wird
es Ihnen danken.
({27})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister Stolpe, ich freue mich sehr,
dass Sie jetzt in unserer Mitte sind, und begrüße Sie ganz
herzlich. Ich freue mich auf gute Zusammenarbeit.
Mir persönlich ist es auch ein wirklich großes Anliegen, dass der Aufbau Ost in unsere Themen - Bauen und
Verkehr - integriert wird. Ich widerspreche all denen, die
behaupten, das wäre dann nur Bau- und Verkehrspolitik
Ost, deutlich. Gerade für die Stabilisierung der ostdeutschen Städte ist das Zusammenführen von wirtschaftspolitischen Impulsen und städtebaulichen Zielen ganz wichtig. Der Stadtumbau Ost braucht das. Von daher finde ich
es sehr toll, dass wir hierbei einen deutlichen Schritt nach
vorn gekommen sind.
({0})
Ich möchte meine Rede im Übrigen auf den aktuellen
Punkt, nämlich die Eigenheimzulage, konzentrieren, weil
sowohl Herr Minister Stolpe als auch die Kollegin
Annette Faße schon das Wichtigste zu unseren baupolitischen Zielen gesagt haben. Sie haben nur leider einen
Punkt ausgelassen, der mir besonders am Herzen liegt,
nämlich das Thema Klimaschutz am Bau. Auch da werden wir sehr aktiv weiter vorangehen.
({1})
Nun zur Eigenheimzulage. Ich habe heute sowohl in
der finanzpolitischen Debatte als auch jetzt sehr aufmerksam zugehört. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen,
dass Sie von der Opposition das Thema „leere Staatskasse, knappe Kassen, hohe Schulden“ überhaupt nicht
registrieren wollen und dass Sie der Bevölkerung versprechen, man könnte durch Steuersenkungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung hoher Subventionen und hoher sonstiger staatlicher Leistungen die Probleme in unserem Land
lösen. Das ist ein falsches Versprechen. Ich fordere Sie sehr
eindringlich auf, nicht weiter in dieser Richtung zu agieren,
sondern den Bürgern gegenüber sehr viel mehr Ehrlichkeit
an den Tag zu legen und in der Argumentation Klarheit darüber zu schaffen, was unser Staatswesen bei den gegebenen Problemen leisten kann und was es nicht leisten kann.
({2})
Niemand von uns kürzt gern deutlich bei der Eigenheimzulage.
({3})
Gerade wir Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker haben
gehofft, da besser wegzukommen. Aber wenn wir das tun
müssen, dann - das halte ich für wichtig - sollten wir der
Bevölkerung auch reinen Wein einschenken und ehrlich
mit dem Problem umgehen; denn wir alle kommen um
den Spar- und Konsolidierungskurs nicht herum. Was Sie
heute und auch gestern schon vorgetragen haben, würde
bedeuten, dass wir bei den Maastricht-Kriterien bald bei
5 bis 6 Prozent wären
({4})
und der Staat praktisch pleite wäre. Insofern muss man da
endlich Tacheles reden.
Aus diesem Grund werbe ich nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern dafür, mit
dieser wirklich nicht leichten Entscheidung ernsthaft und
konstruktiv umzugehen. Wir haben gesagt: Wir müssen
und wollen dann auch die Förderung auf Familien mit
Kindern konzentrieren. Wir wollen - das will auch ich als
Bau- und Stadtpolitikerin -, dass diese Förderung ökologisch und städtebaulich sinnvoll ausgestaltet wird und
entsprechende Anreize bietet.
({5})
Ich möchte erklären, warum ich der Meinung bin, dass
es durchaus vertretbar ist - wie gesagt, immer unter den
gegebenen Notwendigkeiten -, die Eigenheimzulage ein
Stück weit zu verschlanken. Im überwiegenden Teil
Deutschlands ist der Wohnungsmarkt entspannt. Sie haben in den 90er-Jahren den Wohnungsbau in Ostdeutschland durch die Möglichkeit von Sonderabschreibungen so
aufgebläht, dass wir uns nun in der absurden Situation befinden - ich glaube, Sie haben es noch immer nicht gemerkt -, den Abriss von Wohnungen fördern zu müssen.
Wollen Sie dieses Modell auf Westdeutschland übertragen? Wollen Sie wirklich, dass wir die Konjunktur da stimulieren, wo es keinen Bedarf gibt?
Wir haben es schon in der letzten Legislaturperiode immer wieder gesagt: Wir müssen zwischen den Regionen
unseres Landes deutlich unterscheiden. Die Situation in
München ist ganz anders als die in Nord- und Westdeutschland und insbesondere als die in Ostdeutschland.
Ich möchte ein Land wie Bayern, das weiß Gott nicht
solche Finanzprobleme wie andere Länder hat, auffordern, das Geld, das das Land einspart, einer Förderung zukommen zu lassen, die den Münchenern und der Region
München dabei hilft, ihre baupolitischen Probleme konstruktiv zu lösen. Dazu sind im Zweifelsfall sowohl Bayern als auch Baden-Württemberg finanziell in der Lage.
Dasselbe gilt gegebenenfalls auch für Hessen. Die reichen
Länder sollten sich durchaus darüber klar werden, wie sie
mit dieser Lage konstruktiv umgehen können.
({6})
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen.
Die Zinssätze sind zurzeit niedrig; insofern bestand gerade in den letzten Jahren das Problem, dass Bau- und Bodenpreise künstlich hochgehalten werden, weil jeder, der
mit Immobilien zu tun hat, in seine Gesamtkalkulation das
einbezieht, was die Eigenheimzulage an Vorteilen bringt.
Auch von daher sind wir gehalten, Mitnahmeeffekte abzubauen, wenn wir angesichts des hohen Schuldenbergs
volkswirtschaftlich dazu genötigt sind.
Ich möchte noch etwas zu den Problemen in der Bauwirtschaft sagen. Ich glaube, dass man diese Probleme
sehr ernst nehmen muss. Die Bauwirtschaft darf da, wo
gesättigte Märkte sind, nicht künstlich aufrechterhalten
werden. Nachdem die Bauwirtschaft in Ostdeutschland in
den 90er-Jahren aufgebläht worden ist, muss sie - das ist
nolens volens ihr Problem - verschlankt werden. Auch darum kommen wir nicht herum. Ich bitte darum, mit der
Bauwirtschaft ehrliche Worte zu reden und keine falschen
Versprechungen zu machen.
({7})
Wo es konkreten Bedarf gibt, da engagieren wir uns in
besonderem Maße. Das heißt konkret: Wir treiben ökologische Innovationen im Baubereich und energetische Sanierungen aktiv voran. Der Hauptbedarf liegt bei der Infrastruktur in den Kommunen. Wir haben ein Programm
aufgelegt, das den Umbau von Schulen in Ganztagsschulen
vorsieht.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin gleich fertig. - Für dieses Programm geben wir
4 Millionen Euro im Jahr aus. Das wird der Bauwirtschaft
ganz konkret helfen und die Kommunen werden gute Auftraggeber sein.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen.
Nein, Frau Kollegin, das geht wirklich nicht. Sie haben
Ihre Redezeit schon zu weit überschritten.
Ich wünsche mir eine gute Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode. In allen Debatten wünsche ich mir von
beiden Seiten etwas mehr Ehrlichkeit im Umgang mit den
Problemen und Herausforderungen in diesem Lande. Zur
Lösung dieser Probleme haben wir alle keine einfachen
Rezepte. Vor uns liegt die Bewältigung schwerer Aufgaben. Dem sollten wir uns gemeinsam stellen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Frau Eichstädt-Bohlig, ich meine, dass es der
Glaubwürdigkeit der Koalition in dieser Legislaturperiode mehr dient, den Begriff Ehrlichkeit in Ihren Reden
zu vermeiden.
({0})
Der normale Mensch hat von Ehrlichkeit eine völlig andere Vorstellung als die, die Sie zu Beginn dieser Legislaturperiode an den Tag gelegt haben.
({1})
Herr Minister Stolpe, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer
Ernennung. Zu dem, was die rot-grüne Vorgängerregierung Ihnen hinterlassen hat, kann ich Ihnen leider nicht
gratulieren.
Ich nehme von der Kollegin Faße das Stichwort Lärmbekämpfung auf. Ich muss Ihnen sagen: Wenn Sie an das
Fluglärmschutzgesetz herangehen - es war in der letzten
Legislaturperiode versprochen worden, es wird jetzt wieder
versprochen -, treffen Sie auf Trittin-vermintes Gelände.
Herr Bodewig kann Ihnen Auskunft geben. Wenn das so ist,
wartet der Bürger in Erfüllung der Koalitionsvereinbarungen auf tatkräftiges Handeln und eine Entscheidung des
Bundeskanzlers Schröder. Aber der geht dann natürlich auf
Tauchstation. Wenn es irgendwo in einem Ressort Konflikte gibt, gibt es allenfalls eine Zukunftskommission, die
vor der nächsten Wahl ihren Bericht vorlegen soll, aber
keine Entscheidung des Kabinetts und des Bundeskanzlers.
Zweites Thema: Lärmsanierung Schiene.
({2})
In der letzten Koalitionsvereinbarung versprochen: im
Jahr 100 Millionen DM für die Lärmsanierung Schiene.
({3})
In den Jahren 1999 bis 2001 - ich habe mir die Zahlen
eben noch einmal zurufen lassen - haben Sie 300 Millionen DM versprochen und 52 Millionen DM umgesetzt.
Der Berg kreißte und die Maus war geboren.
Drittes Thema - so steht es in der Koalitionsvereinbarung -: Lärmsanierung an den Bundesautobahnen. Ich
möchte Sie daran erinnern, dass es Anfang der 80er-Jahre
ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gab, das den
Bund verpflichtete, an den Bundesfernstraßen Lärmsanierung zu betreiben und genau definierte Dezibelwerte einzuhalten. Dies geschieht seither. Das haben Sie offenbar
gar nicht mitbekommen. Sie schreiben es in die Koalitionsvereinbarung und eilen den Tatsachen hinterher.
Nach der Beschreibung der zukünftigen Verkehrspolitik im Koalitionsvertrag muss man feststellen, dass in
Wahrheit diese rot-grüne Bundesregierung entgegen anderen Bekundungen doch an ihrer mobilitätsfeindlichen
Politik festhalten will. Das geht eindeutig gegen Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Wir haben ein Dokument der
Planlosigkeit und Perspektivlosigkeit zu lesen. Neue Mobilitätsangebote werden nicht gemacht. Es wird vor allem,
wie auch in anderen Bereichen, abkassiert.
({4})
Kennzeichnend ist doch, dass die Problematik des
Güterkraftverkehrs in der Koalitionsvereinbarung nur
lapidar und nicht angemessen behandelt wird, obwohl
dieser Bereich es in einem EU-weit nicht harmonisierten
Markt äußerst schwer hat, sein Überleben zu sichern. Ihm
wird kaum Beachtung geschenkt. Der Überlebenskampf
der Unternehmen - wir haben es neulich in einer Diskussion gemeinsam erlebt - hat wahrscheinlich zur Folge,
dass mehr und mehr Unternehmen ausflaggen werden.
Das heißt, Arbeitsplätze und Steueraufkommen in unserem Land gehen verloren. Der deutsche Markt wird dann
von deutschen Unternehmen vom Ausland her bedient.
Dies ist eine dramatische Situation. So, wie Sie diesen Gewerbezweig mit seinen Problemen abhandeln oder auch
nicht berücksichtigen, wird dieser Prozess weiter beschleunigt werden. Das können wir auch den Presseverlautbarungen entnehmen.
Erstes Beispiel: LKW-Maut. Der Verkehrsträger Straße
erbringt eine Verkehrsleistung, die rund achtmal so hoch
ist wie die der Schiene. An Investitionen bekommen beide
ungefähr das Gleiche. Mit den Mauteinnahmen wird dieses Missverhältnis noch deutlicher. 3,4 Milliarden Euro
werden jährlich zusätzlich zu den bereits von dem Gewerbe erbrachten 45 Milliarden Euro für Mineralölsteuer
und darauf lastende Umsatzsteuer gezahlt und nur ein
Bruchteil des zusätzlich geschöpften Geldes wird zweckgebunden auch zusätzlich der Straße für Erhalt, Erneuerung und Ausbau zur Verfügung gestellt.
({5})
Der Güterverkehr auf der Straße ist sozusagen nur als
Schröpfbereich interessant, aber nicht als Gewerbezweig
unserer Volkswirtschaft.
({6})
Schon heute ist der Werteverzehr durch Verschleiß und
Abgang bei der Straße größer als der Wertezuwachs durch
Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen. Am Ende dieser
Verkehrspolitik wird eine in Grund und Boden gewirtschaftete Straße, die die steigenden Anforderungen nicht
mehr erfüllen kann, sowie eine weiterhin - leider Gottes,
sage ich - ineffiziente Schiene stehen.
({7})
Denn die Ineffizienz der Schiene liegt eindeutig in der
ordnungspolitisch unzureichenden Aufstellung dieses
Verkehrsträgers begründet,
({8})
weil - ein Sachverständiger hat uns das im Ausschuss
vorgetragen - dort, wo kein Wettbewerb ist, auch kein
Wachstum ist.
Wettbewerb ist also die zwingende Voraussetzung für
höhere Effizienz, bessere Leistung und Wachstum. Auf
fast allen Märkten der Welt wird der Beweis erbracht, dass
Wettbewerb das geeignete Mittel für Wachstum ist. Warum
sollte dies ausgerechnet bei der Schiene in Deutschland
anders sein? Ohne Wettbewerb gibt es zwar möglicherweise einmal konjunkturelle Schwankungen wie im Jahr
2000, aber dauerhaft findet kein reales Wachstum statt.
({9})
Meine Damen und Herren, dieser Wettbewerb setzt
diskriminierungsfreien Netzzugang für alle Schienenverkehrsunternehmen voraus. Besonders wichtig ist, dass
sämtliche Diskriminierungspotenziale vom Wettbewerb
fern gehalten werden. Das gelingt nicht, wenn man Wettbewerber mit ihren eigenen Investitionsmöglichkeiten in
Wahrheit vom Markt fern hält und verschreckt.
({10})
Auch im öffentlichen Personennahverkehr finden wir
leider noch ähnliche Monopolstrukturen. Per neue Vergabeverordnung, die während des Wahlkampfes camouflageartig durchgepeitscht wurde, ohne dass wir die
Chance der Beratung hatten, droht die Gefahr, dass das
zarte Pflänzchen des aufkommenden Wettbewerbs bei
Nahverkehrsleistungen wieder zertreten wird.
({11})
Die dortige Verkehrsleistung ist, gemessen an den Subventionen, die gezahlt werden, viel zu gering. Wegen des
ausbleibenden Wettbewerbs werden den bestellenden
Ländern gar nicht erst unterschiedliche Angebote gemacht. Sie sind also letztlich auf Gedeih und Verderb auf
die DB AG angewiesen. Damit werden sich die Monopolstrukturen verfestigen.
({12})
Zudem wird Schieneninfrastruktur - wir kennen ja die
entsprechenden Mechanismen - nur dort ausgebaut und
ertüchtigt, wo es den Interessen der DB-Unternehmen
dient. Würde sie etwa Konkurrenten dienen und nutzen,
wäre dies aus DB-Sicht gefährlich. Deswegen darf der
Ausbau nicht stattfinden, obwohl er volkswirtschaftlich
ein hochwillkommener Vorgang wäre.
Ich sage hier ausdrücklich - Kollege Steenblock war
eben noch anwesend -: Ich lobe das Beispiel SchleswigHolstein, über das ich mich freue. Denn Schleswig-Holstein
Dirk Fischer ({13})
Dirk Fischer ({14})
mit einer rot-grünen Landesregierung hat in einem in
Deutschland im Prinzip noch monopolistisch geprägten
Umfeld
({15})
wettbewerbsgerechte Teilnetze ausgeschrieben und vergeben,
({16})
sodass dort mittlerweile zwischen fünf Unternehmen
Leistungswettbewerb stattfindet, der den Kundennutzen
mehrt. Das ist im Grunde genommen die buntscheckige
Landschaft, die wir uns wünschen, damit in einem Land
auch mehrere Unternehmen zeigen können, was sie draufhaben, und sich für einen weiteren Ausschreibungswettbewerb profilieren. Ich glaube, so muss es sein. Alles andere führt uns nicht weiter.
({17})
Im deutschen Schienenverkehr besteht im Übrigen
eine faktisch nahe bei 100 liegende Monopolsituation,
und zwar in allen Bereichen: dem Personenfern-, dem
Personennah- und dem Güterverkehr. Die Grundsätze der
Bahnreform, die unverändert richtig sind, werden nicht
konsequent umgesetzt, teilweise sogar in ihr Gegenteil
verkehrt. Mit dieser Bahnreform sollte der Kundennutzen
durch mehr und besseren Schienenverkehr erhöht und der
Aufwand des Steuerzahlers gemindert werden. Von beiden Zielen sind wir unverändert weit entfernt.
({18})
Die Osterweiterung der EU soll im Jahre 2005 stattfinden. Das heißt, diese Aufgaben müssen in dieser Legislaturperiode bewältigt werden. Gegenüber den Beitrittskandidaten, vor allem jenen an unseren östlichen
Grenzen, hat Deutschland auch eine Infrastrukturverpflichtung.
({19})
Die erfolgreiche Integration gelingt nur, wenn leistungsfähige Verbindungen geschaffen werden. In der letzten
Legislaturperiode hätte hier Entscheidendes passieren
müssen. Das haben Sie verschlafen. Deswegen werden
wir hier Probleme bekommen. Denn was steht im Koalitionsvertrag? Ich sage einmal: viel Wischiwaschi, Finanzvorbehalte und nichts Verbindliches. Zur Vorbereitung der
Osterweiterung hätte Analoges zu den Verkehrsprojekten
„Deutsche Einheit“ geschehen müssen. Es ist bedauerlich, dass Sie hier nichts getan haben.
Im Koalitionsvertrag wird der Osten unseres Landes
besonders hervorgehoben. Das ist eine Selbstverständlichkeit und keine besondere Gunst. Denn auch von der
CDU/CSU und der FDP geführte Bundesregierungen haben alles Notwendige getan,
({20})
die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zügig geplant,
solide durchfinanziert
({21})
und weitgehend gebaut. Über die Jahre haben wir eine
Verdopplung der Mittel für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz erreicht. Deswegen ist das eine Normalität, die wir für den Integrationsprozess in unserem Lande
leisten müssen.
({22})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, angesichts der insgesamt unzureichenden Investitionsmittel verkommt die Verkehrsinfrastruktur im Westen, also in den alten Bundesländern, immer mehr. Dort
also, wo volkswirtschaftlich die höchste Wirtschaftsleistung erbracht wird, wird die Infrastruktur vernachlässigt,
was zur Folge haben kann, dass das Geld, das wir in den
neuen Ländern zusätzlich einsetzen müssen, nicht erwirtschaftet wird. Mit dem 90-Milliarden-Euro-Programm
- der Kollege Oswald hat das schon angesprochen - werden jetzt auch noch die vorhandenen Haushaltsansätze
unter Finanzierungsvorbehalt gestellt. Das ist also keine
Verbesserung, sondern eine Verschlechterung des Status
quo. Das ist wirklich ein tolles Ding. Wenn das so durchgeführt wird, dann versündigt man sich an dem Land.
Zur Magnetschwebebahn möchte ich eigentlich gar
nichts sagen.
({23})
In Schanghai wird die Bahn jetzt gebaut. Bald werden wir
dorthin fahren, um die Anwendung des Transrapid zu studieren.
({24})
In der Koalitionsvereinbarung wird so getan, als wenn die
Projekte in Nordrhein-Westfalen und in Bayern - wobei
wir das Projekt in NRW verkehrspolitisch nicht für sehr
sinnvoll halten - vorangingen. Der Kollege Schmidt hat
sich als Koalitionär der Grünen öffentlich so geäußert,
dass sich das Thema sowieso erledigt habe, da die verantwortlichen Länder die Komplementärfinanzierung aus
Privatmitteln nicht zustande brächten, und er davon ausgehe, dass sich daran in Zukunft nichts ändern werde. Der
Koalition fehlt also völlig der Gestaltungswille. Deswegen glaube ich, dass es das Drama Transrapid auch in Zukunft geben wird.
Lassen Sie mich einen abschließenden Satz sagen,
Frau Präsidentin. Diese Koalitionsvereinbarung ist nicht
die richtige Antwort auf die Probleme und Herausforderungen der deutschen und der im Hinblick auf die Osterweiterung notwendigen europäischen Verkehrspolitik,
die jetzt volkswirtschaftlich so dringend notwendig wäre.
Dies ist schlimm für die Menschen in Deutschland und in
der Europäischen Union und besonders schlimm für unsere Betriebe und ihre Arbeitnehmer.
({25})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu dem Themenbereich Bildung und
Forschung. Das Wort zur Eröffnung hat Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es ist gut, dass die Bildungspolitik in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt ist.
({0})
Wir brauchen in Deutschland die besten Bildungschancen für unsere Kinder. Nur dann, wenn unsere Kinder bereits in der Grundschule ausreichend gefördert
werden, werden sie auch in unseren Hochschulen ankommen. Nur dann, wenn in Deutschland mehr Fachkräfte und mehr junge Akademiker ausgebildet werden,
bleiben wir weltweit Spitze. Eine gute Bildung und Ausbildung ist für unser Land so wichtig wie die Luft zum
Atmen.
Aber in keinem anderen Land hängen die Chancen der
Kinder so stark von ihrer sozialen Herkunft ab wie bei
uns.
({1})
Das hat die jüngste internationale Studie der OECD zum
Bildungssystem, die der Öffentlichkeit gestern vorgestellt
worden ist, noch einmal deutlich gezeigt. Wir müssen dies
in einer gemeinsamen Kraftanstrengung ändern. Bund,
Länder, Kommunen, Eltern und Lehrer müssen dies gemeinsam ändern.
({2})
Die Bundesregierung hat die Weichen für die Erneuerung des Bildungssystems gestellt. Mit dem Programm
„Zukunft Bildung und Betreuung“ machen wir einen
entscheidenden Schritt, damit Deutschland in zehn Jahren
im internationalen Vergleich wieder unter den ersten fünf
ist und wir wieder einen Spitzenplatz erreichen.
Ganztagsschulen mit einem neuen pädagogischen
Konzept sind ein wichtiges Mittel für die Verbesserung
unseres Bildungssystems. Der Bund hat deshalb für den
Aufbau von 10 000 Ganztagsschulen 4 Milliarden Euro
bereitgestellt.
({3})
Dieses Programm zielt auf die bedarfsgerechte Ausweitung des Angebots an Ganztagsschulen mit Schwerpunkten der individuellen Förderung und des sozialen
Lernens. Dieses Konzept bezieht sich keineswegs nur auf
Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwächeren
Familien, auf Familien, in denen nur ein Elternteil erzieht,
oder auf Familien mit Migrationshintergrund. Gefördert
werden sollen alle Begabungen. Eine bessere individuelle
Förderung ist das A und O für eine bessere Bildungspolitik. Das wiederum erfordert Zeit. Deshalb sind Ganztagsschulen ein entscheidender, wichtiger Schritt für die Verbesserung unseres Bildungssystems.
({4})
Der Ausbau von Ganztagsschulen ist ein ganz entscheidender Teil unserer Strategie. Dies ist aber nur ein erster
Schritt.
Wir brauchen zweitens nationale Bildungsstandards,
die in allen Ländern gleichermaßen verbindlich gelten.
Alle Kinder in Deutschland müssen unabhängig vom
Wohnort ihrer Eltern die gleichen Bildungschancen haben.
({5})
Deshalb geht es jetzt darum, nationale Bildungsstandards zu entwickeln. Ich bitte alle in diesem Hause, daran mitzuwirken und mitzuarbeiten und keine ideologischen Gründe gegen die Entwicklung von bundesweiten,
nationalen Bildungsstandards anzuführen.
({6})
Wir brauchen sie, damit Kinder - egal ob in München, Hamburg, Cottbus oder Aachen - die gleichen Bildungschancen haben. Das muss unser gemeinsames Interesse sein.
({7})
Nur so - das sage ich ganz klar - hat der deutsche Länderföderalismus in Zukunft Chancen.
Die Einhaltung dieser Bildungsstandards muss drittens
regelmäßig durch eine unabhängige nationale Evaluationseinrichtung überprüft werden. Denn die regelmäßige Evaluierung, die regelmäßige Bewertung, sich also
zu fragen, wo die Stärken und wo die Schwächen sind,
({8})
ist ein wichtiger Schlüssel für ein erfolgreiches Bildungssystem. Deshalb muss das, was in anderen Ländern, die
bei der PISA-Studie sehr gut abgeschnitten haben, schon
längst zum Standard gehört, auch bei uns gelten.
({9})
Wir werden viertens in unserem Land die Erstattung eines nationalen Bildungsberichtes etablieren. Er soll durch
einen unabhängigen „Rat der Bildungsweisen“ erstellt
werden. Nur so sind wir ständig im Bilde und können
schnell dort nachsteuern, wo schlechte Ergebnisse festgestellt worden sind, und die Situation verbessern.
({10})
Schließlich wird die Gründung einer bundesweiten Stiftung „Bildung und Erziehung“ einen weiteren wichtigen
Beitrag zur Neuorientierung unseres Bildungssystems leisten.
({11})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wir sind bereits auf dem Weg. Bund und Länder haben
sich im vergangenen Juni in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung auf
die Umsetzung besonders wichtiger Handlungsfelder verständigt. Hierzu zählen die Förderung von Sprach-, Leseund Schreibkompetenz - und auch die des Zuhörens, sehr
geehrter Herr Kollege Schirmbeck.
({12})
- Richtig.
({13})
- Wenn Sie eine Frage haben, dann stellen Sie sie bitte.
Ich werde Ihnen dann gerne sagen, dass Niedersachsen
das Land ist, das inzwischen die meisten der von mir angesprochenen Beschlüsse gefasst hat.
({14})
Wir werden eine frühe und individuelle Förderung einführen.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schirmbeck?
Aber sicher.
Bitte schön.
Frau Bulmahn, wenn ich richtig informiert bin, sind Sie
doch Landesvorsitzende der SPD in Niedersachsen.
({0})
Wenn ich ebenfalls richtig informiert bin, regiert die SPD
in Niedersachsen seit zwölf Jahren. Können Sie uns einmal
sagen, wie die Unterrichtsversorgung in Niedersachsen im
Vergleich zu der in Bayern und Baden-Württemberg ist?
Sie brauchen keinen neuen Arbeitskreis einzurichten, sondern sollten dort, wo Sie die Verantwortung tragen, konkret
etwas tun. Was tun Sie? Das sollten Sie uns einmal sagen.
({1})
Lieber Herr Kollege, wenn Sie sich informiert hätten,
dann wüssten Sie, dass das Land Niedersachsen eines der
ersten Bundesländer ist, das die volle Halbtagsschule eingeführt hat.
({0})
Wir haben in Niedersachsen in diesen vier Jahren rund
15 000 neue Lehrer eingestellt, davon 3 500 zusätzlich.
Diese Zahl kann sich sehen lassen. Wir haben in Niedersachsen beschlossen, dass wir den Ausbau der Ganztagsschulen vorantreiben. Wir fangen damit an. Wir haben in
Niedersachsen beschlossen, dass wir eine regelmäßige
Evaluierung der Lehrleistung durchführen. Wir fangen
damit an. Wir haben gesagt, dass das Land Niedersachsen
die bundesweiten Bildungsstandards, die wir bekommen
werden, übernehmen wird.
Lieber Herr Kollege, ich würde mir wünschen, dass
auch die Oppositionskollegen ihren Beitrag dazu leisten,
dass in den CDU-regierten Ländern nicht die Ideologie an
erster Stelle steht,
({1})
sondern das Ziel, ihren Schülerinnen und Schülern die
besten Bildungschancen zu geben, wie das in den SPDregierten Ländern der Fall ist. Darauf werden wir im Bundestag drängen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir an
diesem Punkt nicht nachlassen werden, sondern Maßnahmen für die Verbesserung der Bildungschancen einfordern und eigene Maßnahmen umsetzen werden.
Wir haben uns in der Bund-Länder-Kommission darauf verständigt, dass wir die Förderung von Sprach-,
Lese- und Schreibkompetenz, die Förderung von Migrantinnen und Migranten sowie die Förderung der mathematischen-naturwissenschaftlichen Kompetenz gemeinsam
durchführen werden.
({2})
Hierbei soll der frühen und individuellen Förderung und
der Förderung von Jugendlichen mit Lernschwächen eine
ganz besondere Beachtung geschenkt werden; denn in
diesem Bereich liegen besondere Probleme.
Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Volquartz?
Selbstverständlich.
Frau Volquartz, bitte schön.
Frau Ministerin, in welchem Zeitraum hat das Land
Niedersachsen 3 500 neue Planstellen an den Schulen geschaffen?
Wir stellen zusätzliche Lehrer in einem Zeitraum von
fünf Jahren ein. Wir haben damit bereits begonnen. Der
Zeitraum erstreckt sich bis zum Jahre 2004. Das heißt, bis
zum Jahre 2004 haben wir diese zusätzlichen Lehrerstellen geschaffen.
({0})
Wir haben bereits zwei Drittel dieser Stellen geschaffen.
({1})
- Liebe Frau Kollegin, ich sage es noch einmal:
({2})
Wir haben insgesamt 15 000 neue Lehrer eingestellt, davon 3 500 Lehrer zusätzlich.
({3})
- Zusätzlich heißt: neue Planstellen. Anders geht es nicht.
({4})
- Bitte.
({5})
Erste wichtige Schritte sind getan. Doch auf der
Strecke zu einem leistungsfähigen Bildungssystem, das
allen eine gerechte Chance gewährt, haben wir noch Meilen zurückzulegen. Wer glaubt, dass sich unser Bildungssystem innerhalb eines halben Jahres oder auch in ein bis
zwei Jahren grundlegend verbessern lässt, der ist naiv,
weil sich ein Bildungssystem eben leider nicht einfach auf
einen Schlag durch ein Gesetz oder einen Verwaltungsakt
verändern lässt. Denn um ein erfolgreicheres, ein besseres Bildungssystem zu erhalten, das Kindern die besten
Bildungschancen gibt, brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen. Wir haben bereits wichtige Entscheidungen getroffen und die Weichen richtig gestellt. Aber
auch die Menschen müssen sich ändern. Lehrer und Eltern
müssen für Neues bereit sein. Die Bundesregierung wird
sie dabei unterstützen; denn wir wollen unser Ziel erreichen.
({6})
Eine gute Ausbildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt und zur gesellschaftlichen Anerkennung. Eine
moderne Berufsausbildung bleibt das Kernstück unserer Bildungspolitik. Auch in Zukunft gilt: Jeder junge
Mensch, der arbeiten will und kann, soll einen Ausbildungsplatz erhalten.
({7})
Die Wirtschaft trägt dabei eine ganz besondere Verantwortung. Schon in wenigen Jahren werden nicht die Ausbildungsplätze, sondern die Bewerber für die vorhandenen Stellen knapp. Wer heute nicht ausbildet, sägt sich
deshalb im sprichwörtlichen Sinne den Ast ab, auf dem er
morgen sitzen will.
({8})
Deshalb appelliere ich nachdrücklich an die Wirtschaft,
sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, sich ihr zu
stellen und sich ihr nicht zu entziehen. Keiner in diesem
Land darf sich dieser Verantwortung entziehen.
({9})
Jugendlichen mit schlechteren Startchancen und Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung wollen wir den Einstieg in einen Beruf mit einem System von
Qualifikationsbausteinen erleichtern. Das Ziel bleibt,
über diese Qualifikationsbausteine am Ende zu einer vollwertigen Berufsausbildung zu kommen. Wer dieses Ziel
- aus welchen Gründen auch immer - nicht erreicht, steht
in Zukunft nicht mehr ohne Abschluss da, sondern kann
Teilqualifikationen nachweisen und damit seine Chancen
auf dem Arbeitsmarkt verbessern.
Wir gehen daher über das, was Sie vorschlagen, nämlich die verkürzte Berufsausbildung - Herr Merz hat heute
Morgen noch davon gesprochen; offensichtlich weiß er
überhaupt nicht, dass wir diese schon eingeführt haben -,
hinaus, weil wir wissen, dass wir Jugendlichen unterschiedliche Einstiege in das Berufsleben ermöglichen müssen.
Wir werden das Berufsbildungsgesetz mit dem Ziel
novellieren, die duale Ausbildung zu stärken, mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen zu schaffen und
die berufliche Bildung weiter zu internationalisieren.
({10})
Ein exportorientiertes Hightechland wie Deutschland,
meine Herren und Damen, braucht aber nicht nur gut ausgebildete Fachkräfte, sondern auch mehr und gut ausgebildete Hochschulabsolventen. Hier haben wir Fortschritte erreicht. Allein in den letzten vier Jahren ist die
Zahl der Studienanfänger - übrigens zum ersten Mal seit
vielen Jahren - um knapp 5 Prozent gestiegen.
({11})
Wir müssen aber diesen erfolgreichen Weg, den wir eingeschlagen haben, weitergehen. Wir haben das endgültige
Ziel noch nicht erreicht, sondern sind jetzt mit 32,4 Prozent Studienanfängern noch immer deutlich unter dem
OECD-Durchschnitt. Auch hier gilt: Man kann nicht innerhalb von drei, vier Jahren das nachholen, was über
viele Jahre hinweg versäumt worden ist. Wir müssen den
Weg, den wir eingeschlagen haben, fortsetzen und werden
das auch tun.
({12})
Wir müssen besonders für diejenigen, die bereits eine
berufliche Ausbildung haben, die Hochschulzugänge verbessern. Mir kommt es darauf an - uns ist wichtig, dass
wir dieses Ziel erreichen -, dass es insgesamt mehr gut
ausgebildete Menschen in unserem Land gibt. Dabei ist es
egal, ob die Menschen den Weg der beruflichen oder der
schulischen Ausbildung gehen. Wir brauchen mehr sehr
gut ausgebildete Menschen.
({13})
Junge Menschen erwarten zu Recht, dass sie in unseren Hochschulen auf hohem Niveau praxisorientiert und
international ausgebildet werden. Umfassende Rankings
sollen in Zukunft das Studienangebot transparenter machen. Dabei dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass heute rund ein Drittel aller Studierenden das
Studium abbricht und viele Studierende den Abschluss in
der Regelstudienzeit nicht schaffen.
Wir müssen gemeinsam für mehr Qualität in Lehre und
Forschung sorgen. Mit der Dienstrechtsreform haben wir
einen ganz wichtigen Schritt gemacht,
({14})
weil in Zukunft die Lehre regelmäßig evaluiert wird und
sich ein Teil des Gehaltes an der Leistung in Lehre und
Forschung bemisst, Frau Flach.
({15})
Wir werden diesen Weg fortsetzen; denn wir brauchen
Studienbedingungen, die zu besseren Leistungen motivieren. Ohne den gemeinsamen Willen zur Veränderung ist
das nicht zu schaffen.
Die Bundesregierung wird deshalb den Ländern einen
Pakt für Hochschulen anbieten. Kernpunkte dabei sind
die Verbesserung der Qualität des Studiums, die Einführung eines gestuften Systems von Studienabschlüssen,
eine geschlossene Nachwuchsförderung aus einem Guss
und eine stärkere internationale Ausrichtung unserer
Hochschulen.
({16})
Damit entsprechen wir nicht nur den Erwartungen der Studierenden und der Wirtschaft, sondern erleichtern zugleich
die internationale Einbindung unseres Hochschulsystems.
Wissenschaft, Forschung und Entwicklung in Deutschland haben heute wieder Weltruf. Diese Position will ich
sichern und ausbauen.
({17})
Ich will erreichen, dass bis zum Jahr 2010 mindestens
3 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts durch öffentliche und private Aufwendungen in Forschung und
Entwicklung investiert werden.
({18})
Hier sind Staat und Wirtschaft gleichermaßen gefordert.
Wir werden die Innovationsförderung vor allem für
kleine und mittlere Unternehmen konsequent ausbauen
und einen Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft legen.
({19})
Auch hier haben wir in den vergangenen vier Jahren deutliche Erfolge verzeichnet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die an der Forschungsförderung meines Hauses teilhaben, hat sich unter meiner Amtsführung
um 60 Prozent erhöht.
({20})
Das kann sich durchaus sehen lassen. Ich sage aber auch
ganz klar: Dies ist überhaupt kein Grund zum Ausruhen
und Zurücklehnen.
({21})
Ich werde die Anstrengungen fortsetzen, damit wir auf
diesem Weg weiter vorankommen.
Zukunftstechnologien wie Neue Materialien, Nanotechnologie, Biotechnologie, Mikrosystemtechnik sowie
Informations- und Kommunikationstechnik werden wir
weiterhin fördern, denn von ihnen hängen die Wachstumschancen wichtiger Wirtschaftsbranchen ab.
Forschungsergebnisse müssen den Menschen und der
Gesellschaft unmittelbar zugute kommen. Der Kampf gegen weit verbreitete Volkskrankheiten und die Erhaltung
einer lebenswerten Umwelt haben dabei höchste Priorität.
({22})
Deshalb wird die Bundesregierung die Umwelt- und
die Gesundheitsforschung weiter stärken. Neue produktionsorientierte Technologien und Verfahren, die an den
Ursachen der Umweltzerstörung ansetzen, haben dabei
eine ganz hohe Priorität und werden besonders gefördert.
In der Gesundheitsforschung will ich die Entwicklung
neuartiger Arzneimittel und Therapieansätze vorantreiben. Maßgeschneiderte Therapien für den einzelnen Patienten versprechen einen Qualitätssprung in der medizinischen Versorgung. Diese Chance werden wir mit unserer
Forschungs- und unserer Gesundheitspolitik ergreifen.
({23})
Forschungsförderung ist Wirtschaftsförderung. Dies
gilt für Deutschland insgesamt, aber insbesondere für die
neuen Bundesländer. Hier ist es uns in den letzten Jahren
mit Initiativen wie Inno-Regio und Regionale Wachstumskerne gelungen, wichtige Zukunftsfelder zu erschließen.
In den nächsten Jahren werden wir die Hochschulen und
Forschungseinrichtungen in Deutschland zu Leuchttürmen der Wissenschaftslandschaft mit internationaler Ausstrahlung ausbauen.
({24})
Damit geben wir wichtige Impulse für wirtschaftliches
Wachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze. Ich bin davon
überzeugt, dass die Menschen in den neuen Bundesländern
wissen, dass sie sich dabei auf uns verlassen können.
({25})
Wir wollen nämlich, dass junge Talente in den neuen Bundesländern bleiben,
({26})
dass sie attraktive Arbeitsmöglichkeiten an den Hochschulen und in den Forschungseinrichtungen haben. Deshalb werden wir dieses dritte Standbein, das ich beschrieben habe, entwickeln und aufbauen.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, Erneuerung,
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind die Leitlinien
unserer Politik in den nächsten vier Jahren. Wir wollen
unseren Kindern optimale Startchancen für ihre Zukunft
geben und mit einer nachhaltig angelegten Forschung das
Leben auf unserem Planeten auch für die kommenden Generationen lebenswert erhalten.
({27})
Wir werden unser Bildungssystem modernisieren und
zukunftsfähig machen. Wir wollen unseren Forscherinnen
und Forschern und dem wissenschaftlichen Nachwuchs
die bestmöglichen Bedingungen schaffen. Wir wollen die
bestmögliche Bildung für alle Menschen in unserem Land
und wissenschaftlichen Fortschritt, der allen Menschen
zugute kommt. Mit dieser Politik werden wir unser Land
weiter voranbringen.
Vielen Dank.
({28})
Das Wort hat jetzt die Kollegen Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
möchte ich eine Berichtigung einer Aussage der Ministerin vornehmen. Sie hat gerade behauptet, dass in Niedersachen 3 500 neue Lehrerstellen geschaffen wurden.
Es sind aber nur 2 200 Beamtenstellen und 900 Angestelltenstellen. Dies macht zusammen bloß 3 100 Stellen
und davon sind auch noch sage und schreibe 700 Stellen
bis zum 31. Juli 2004 befristet und fallen dann wieder
weg.
({0})
Das Ganze ist also wirklich nur ein Wahlkampfbluff; es
sind potemkinsche Dörfer. Wenn dies die Politik in Niedersachen ist, tun mir die Schülerinnen und Schüler und
vor allem die Eltern schon jetzt Leid.
({1})
Bildung und Forschung sind im Prozess der Globalisierung die wichtigsten Güter überhaupt. Angesichts dieser allgemein anerkannten Tatsache ist der Koalitionsvertrag von Rot-Grün ein trauriges Dokument ideologischer
Irrwege. Rot-Grün setzt die gescheiterte Bildungspolitik
fort, die von TIMSS und PISA bis jetzt zur OECD-Studie
durchgehend mangelhafte Zeugnisse erhalten hat. Sie
sind eben immer noch Ihren alten Dogmen verhaftet. Das
Leitmotiv Ihrer Absichtserklärungen lautet: Zentralismus,
Bevormundung und Nivellierung nach unten.
({2})
Nicht umsonst sind in den letzten vier Jahren private
Eliteschulen wie Pilze aus dem Boden geschossen, zum
Beispiel in Bremen, in Köln oder in Berlin direkt vor den
Toren des Kanzleramtes. Sie schaffen mit Ihrer Politik ein
Zweiklassenbildungssystem:
({3})
Diejenigen, die es sich leisten können, bekommen eine
erstklassige Ausbildung; alle anderen, die aus schwächeren Einkommensverhältnissen kommen, haben das Nachsehen. Das nennen Sie sozial gerechte Bildungspolitik.
({4})
Sie haben mit Ihrer Bildungspolitik in den letzten vier
Jahren die Abwanderung qualifizierter Nachwuchswissenschaftler ins Ausland nicht zu stoppen vermocht.
({5})
Kein einziger Nobelpreis ging in den letzten Jahren an
deutsche Forscher. In Sachen Bildung kommt Deutschland aus den Negativschlagzeilen nicht heraus. Nach den
ernüchternden Ergebnissen von TIMSS und PISA verweist die gestern vorgestellte OECD-Studie das deutsche
Bildungswesen erneut auf die hinteren Ränge. Das Zeugnis der OECD lautet: Defizite im Grundschulbereich,
schlechte Lernstimmung und zu wenige Hochschulabsolventen.
({6})
Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie
findet eben nicht nur in Schulen und Hochschulen, sondern auch bereits im Elternhaus statt.
({7})
Wer hier nur auf den Staat setzt und sich zentralistischen
Regelungsfantasien hingibt, der hat die Zeichen nicht erkannt
({8})
und kapituliert vor dem Megathema Bildung.
({9})
PISA hat zwei Ergebnisse: erstens das Fehlen einer individuellen und leistungsgerechten Förderung und zweitens den unwürdigen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Viele der erkannten Defizite
ließen sich beheben, wenn Sie, meine Damen und Herren
von der Koalition, den Blick nach Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen wagen würden.
({10})
PISA belegt, dass diese Länder in der Bildungspolitik erfolgreich sind.
({11})
Als weitere Antwort auf das deutsche Abschneiden in
der PISA-Studie haben Sie, Frau Bulmahn, gerade wieder
angekündigt, nationale Bildungsstandards einzuführen
und eine Evaluationsagentur auf den Weg zu bringen.
Bloß hinken Sie damit aktuellen Ergebnissen hinterher.
Die Kultusministerkonferenz hat bereits im Mai 2002 die
Einführung dieser bundesweit geltenden Bildungsstandards verabredet und regelmäßige vergleichende Tests beschlossen.
({12})
Sie hat sogar vor 14 Tagen ihre Ziele konkretisiert. Selbst
SPD-geführte Länder haben sich die Einmischung vom
Bund verbeten, weil sie sie als Bedrohung empfinden.
({13})
Zum Glück hat der Bürgermeister von Bremen nach
PISA festgestellt - ich zitiere aus der Presse -:
„Die SPD ist seit 1947 verantwortlich für die Bildungspolitik ... Pisa ist die Quittung dafür.“ Dem
schlechten Ergebnis müsse sich die Politik nun stellen.
Jetzt hören Sie mir einmal zu:
„Die SPD hat ihre Bildungspolitik teils gegen den
hartnäckigen Widerstand der CDU durchgesetzt.“ ...
Nun müsse sie „die Kraft haben“, aus ihren Fehlern
zu lernen.
Recht hat der Mann.
({14})
Auch die Etablierung einer unabhängigen, international besetzten Expertenkommission zur Erarbeitung von
Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungswesens und die Vorlage eines nationalen Bildungsberichts
sind bereits überholt, da die KMK auch dies beschlossen
hat. Im Herbst 2003 kommt der erste Bericht.
({15})
Meine Damen und Herren, nach Jahrzehnten des Irrwegs einer verordneten Einheitsschule droht nun der
Rückfall in alte ideologische Reflexe. Einigkeit haben wir
in der Frage, dass wir bei der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf dringend weiterkommen müssen. Aber wir unterscheiden uns in einem zentralen Punkt.
Frau Kollegin Reiche, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dümpe-Krüger von Bündnis 90/Die
Grünen?
Ich würde gerne fortfahren.
({0})
Sie wollen fortfahren. Keine Zwischenfrage.
Sie wollen die Kindererziehung in die Hände des Staates geben. Wir wollen Wahlfreiheit für die Familien.
({0})
Sie kündigen erneut 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen an. Damit sollen aber nur die Investitionen finanziert werden. Das ist wie das 70er-Jahre-Schwimmbadmodell: Da investiert der Bund in Beton und die Länder
und Kommunen bleiben auf den Folgekosten sitzen.
({1})
Sie können mit 100 000 Euro pro Schule zwar die Suppenküche einrichten, haben dann aber schon keinen mehr,
der diese betreibt. Sie wollen eine Suppenküche aber nur
dann einrichten, wenn ein pädagogisches Konzept angewandt wird, das der SPD passt.
({2})
Sie misstrauen den Eltern und den Verantwortlichen vor
Ort und bilden sich ein zu wissen, was das Beste für die
Schüler und die Familien ist.
Wir lehnen eine verordnete Zwangsverschulung in
den Ganztagsschulen ab.
({3})
Wir setzen auf eine bedarfs- und kindgerechte Ganztagsbetreuung. Wir wollen eine Vielfalt an qualitativ hochwertigen Betreuungsangeboten.
({4})
Für leistungsschwache Schüler ist die individuelle Förderung auch durch zusätzlichen Unterricht am Nachmittag
durchaus sinnvoll.
({5})
Aber als Einheitsmodell für ganz Deutschland lehnen wir
das ab.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn
Deutschland in der internationalen Liga mitspielen soll,
dann müssen wir die Herausforderungen der Zukunft annehmen. Deswegen müssen wir in der Forschungsförderung klare Prioritäten setzen und geeignete Forschungsstrukturen schaffen.
({7})
Zum Stichwort Schlüsseltechnologien. Die beabsichtigte Förderung von Informations- und Kommunikationstechnologien, von Nano- und Biotechnologie, von Umwelt- und Energietechnik findet unsere Unterstützung.
Hier dürfen wir den Anschluss an die internationale Entwicklung nicht verpassen. Sonst ist der Zug für viele Bereiche in Deutschland abgefahren.
Für mich zum Beispiel liegt bei der Biotechnologie ein
ganz klarer Schwerpunkt. Hier vermisse ich eine schlüssige Strategie, insbesondere auch zur Förderung der Forschung in der Gentechnik.
({8})
Deutschland ist hier in den letzten vier Jahren deutlich
zurückgefallen. Die Aufbruchstimmung in der Biotechnologie ist merklich abgeflaut.
({9})
Die Förderung der Genomforschung wird nach dem Wegfall der UMTS-Gelder einbrechen. Sie spielen rote und
grüne Gentechnik gegeneinander aus. Die grüne Gentechnik wird seit 1998 politisch und ideologisch in Grund
und Boden gestampft. Die Verlagerung der Zuständigkeiten in das grüne Verbraucherschutzministerium bedeutet
das Aus für die grüne Gentechnik in Deutschland.
({10})
Die Ministerin plant ein Institut für Risikomanagement.
Ich schlage Ihnen vor: Schaffen Sie endlich ein Institut für
Chancenevaluierung!
({11})
Sie haben ein Gentestgesetz angekündigt. Dazu kann
ich nur sagen: Willkommen im Klub! Ich selbst habe zusammen mit meiner Fraktion Eckpunkte zu einem Gentestgesetz formuliert, das das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung schützen soll. Diese sind von Ihnen abgelehnt worden. Ich bin neugierig, ob Sie sich in dieser
Legislaturperiode einigen können.
({12})
Nun komme ich auf die Forschungsstrukturen zu sprechen. Was ist mit dem Hochschulrahmenrecht? Verbirgt
sich hinter dem schon genannten Pakt für Hochschulen
die nächste HRG-Novelle? Wenn das so ist, dann frage ich
mich, warum zum Beispiel die Frage der Hochschulzulassung nicht ganz konkret angesprochen wird. Die ZVS
ist überholt.
({13})
- Das ist korrekt, Herr Kollege Tauss. - Diese Erkenntnis
teilen nicht nur unionsgeführte Länder, sie teilt zum Beispiel auch Wissenschaftsminister Oppermann aus Ihrem
niedersächsischen Landesverband. Hören Sie doch auf
die Stimmen aus Ihrem eigenen Lager und schaffen Sie
die ZVS ab!
({14})
Sie haben einen entsprechenden Antrag unserer Fraktion
in der vergangenen Legislaturperiode abgelehnt.
Das gesamte Dienstrecht muss so gestaltet werden,
dass junge Wissenschaftler ihre Zukunft in den Forschungseinrichtungen hier in Deutschland sehen. Mit Interesse
habe ich die Ankündigung eines Wissenschaftstarifvertrages für Hochschulen und Forschungseinrichtungen gelesen. Offenbar hat die Bundesregierung bereits ein halbes
Jahr nach In-Kraft-Treten ihrer so genannten Jahrhundertreform im Dienstrecht kalte Füße bekommen. Das ist kein
Wunder, schließlich gab es massive Proteste. Der Historiker Tassilo Schmitt hat zum Beispiel gesagt, er kenne
keinen Wissenschaftler, der dem HRG etwas Gutes abgewinnen könne. Ein Institutsdirektor der Fraunhofer-Gesellschaft klagt, fast jeder seiner guten Leute haue inzwischen nach der Doktorarbeit ab. Damit muss schleunigst
Schluss sein.
({15})
Das alles braucht eine hinreichende finanzielle Unterstützung. Es heißt zwar, dass die öffentlichen und privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung bis
2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen
- das wurde auch gerade wieder gesagt -, nur fehlt hier
die Aussage, welchen Teil die Bundesregierung selbst
dazu beitragen will.
({16})
Sie haben ja mit Ihren Versprechungen von 1998, den Etat
zu verdoppeln, schlechte Erfahrungen gemacht.
({17})
Würde man diese Rechnung jetzt durchführen, dann kämen wir auf eine Steigerung von 21 Prozent. Wenn
21 Prozent bei Ihnen so viel sind wie eine Verdoppelung,
dann kann ich nur sagen: Rechnen ungenügend.
({18})
Meine Damen und Herren, ich finde auch wieder ein
Bekenntnis zur Vereinfachung von Förderverfahren im
Mittelstand. Das finde ich gut. Ich kann Ihnen allerdings
nicht ganz glauben und bin misstrauisch, ob Ihnen das gelingt. In der letzten Legislaturperiode haben Sie den Arbeitsmarkt zubetoniert und wollen ihn nun mit dem Konzept von Herrn Hartz mühsam aufmeißeln.
Ich möchte Ihnen abschließend skizzieren, woran wir
Sie messen werden:
({19})
Erstens. Die Ganztagsschule soll für uns ein Baustein
einer vielfältigen und qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung sein. Wir werden nicht zulassen, dass Sie die
Eltern entmündigen.
({20})
Zweitens. Wir wollen die berufliche Bildung reformieren. Dazu braucht Deutschland ein differenziertes Angebot an Berufsbildern und Ausbildungsverordnungen für
alle Begabungen.
Drittens. Wir werden erneut eine Novellierung des
Hochschulrahmengesetzes anstoßen, die zum Ziel hat,
die Habilitation wieder als Voraussetzung zur Berufung
auf eine Professur - neben anderen Wegen - einzuführen,
({21})
den Ländern die Möglichkeit einer leistungsbezogenen
Besoldung zu geben, das Verbot von Studiengebühren
für das Erststudium aufzuheben, die Verpflichtung der
Länder zur Einrichtung von verfassten Studierendenschaften rückgängig zu machen und die ZVS weitgehendst abzuschaffen.
({22})
Viertens. Wir wollen, dass die Forschungseinrichtungen in Deutschland verlässlich und so umfassend ausgestattet werden, dass sie Weltklasseforschung betreiben
können, ohne im bürokratischen Sumpf zu versinken.
Dazu gehört auch die Möglichkeit, individuelle Leistungsanreize zu schaffen.
({23})
Fünftens. Für die Forschung brauchen wir größere
Freiräume durch Beschleunigung und Vereinfachung von
Genehmigungsverfahren und der zu beachtenden Standards.
({24})
Der neue Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Professor Gruss, hat völlig zu Recht beklagt, dass Deutschland
im internationalen Vergleich viel zu restriktive Gesetze
hat.
Sechstens. Wir werden uns intensiv um Existenzgründungen aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen
kümmern.
Siebtens. Wir werden uns intensiv um die neuen Länder kümmern. Bemerkungen dazu habe ich übrigens bei
Ihnen eben völlig vermisst.
Achtens. Wir werden eine neue nationale Biotechnologie-Strategie vorlegen und wir werden Sie mit unseren
Vorschlägen zur Biopatentrichtlinie, zu einem Gentestgesetz und einem Fortpflanzungsmedizingesetz konfrontieren.
Neuntens. Wir werden uns weiter um die Energie- und
Fusionsforschung sowie um die Luft- und Raumfahrtforschung kümmern.
({25})
Ich bin gespannt, was ich in den kommenden Jahren
davon bei Rot-Grün wiederfinden werde. Ich überlasse
Ihnen gerne das Copyright für unsere Vorschläge. Würden Sie diese aufgreifen, würde es Deutschland besser
gehen.
({26})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Reiche, Ihre Fundamentalkritik am deutschen Bildungssystem schließt ja wohl gleichzeitig eine massive Länderkritik ein, also auch eine Kritik an allen CDU-regierten
Ländern. Meiner Meinung nach sollten Sie das der Ehrlichkeit halber dazusagen.
({0})
Der Bundestagswahlkampf ist nun zum Glück vorbei.
Ich finde, die Wahl hat einen guten Ausgang genommen.
({1})
Einige Kolleginnen und Kollegen hier scheinen das aber
noch nicht so recht bemerkt zu haben.
({2})
Wir können uns nun endlich wieder an die konkrete politische Arbeit machen. Die Bildungspolitik war im
Wahlkampf ja ein ganz entscheidendes Thema, das alle
gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zu berühren
schien. Bevor es nicht zu wirklich entscheidenden Reformen in diesem Bereich gekommen ist, darf der öffentliche
Druck nicht nachlassen. Dafür sollten wir sorgen und wir
sollten uns dann auch diesem Druck entsprechend bewegen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat während der Koalitionsverhandlungen klargestellt - auch Bundeskanzler
Gerhard Schröder hat es gestern in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht -, dass der Bildungspolitik in
den nächsten vier Jahren weiterhin eine hohe Priorität
eingeräumt wird. Dazu gehören unter anderem natürlich
die verstärkte Einrichtung von Ganztagsschulen und der
Stopp des Unterrichtsausfalls.
Ich sage aber auch ganz klar, dass die Stundenanzahl
allein nicht entscheidend ist. Wichtig ist die Qualität des
Unterrichts und damit das, was am Ende wirklich in den
Köpfen der Schülerinnen und Schülern hängen bleibt.
({3})
Hierzu muss die empirische Bildungsforschung dringend
ausgeweitet werden und in der theoretischen sowie ganz
besonders natürlich auch in der praktischen Lehrerinnenund Lehrerausbildung ihren Niederschlag finden. Wir
starten daher eine Qualitätsoffensive für besseren Unterricht. Wir richten einen Sachverständigenrat Bildung
ein, der alle zwei Jahre einen nationalen Bildungsbericht
vorlegen soll und kontinuierlich wichtige Reformimpulse
geben wird.
In diesem Zusammenhang treten wir für eine enge Kooperation zwischen Bund und Ländern ein und würden
uns darüber freuen, wenn sich auch die CDU/CSU einem
solchen Sachverständigenrat nicht verschließen würde.
({4})
Gemeinsam sollten wir einheitliche bundesweite Bildungsstandards mit dem zentralen Ziel entwickeln, das
Auseinanderdriften von Schulformen und einzelnen
Schulen in den Bundesländern zu vermeiden. Das zentrale
Kriterium sollte, begleitet durch interne und externe Evaluierungsprozesse unserer Bildungssysteme, der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler sein.
Das Gleiche gilt im Übrigen auch für den Fortbildungssektor. Wir werden alle Weiterbildungsangebote
regelmäßig qualitativ auf den Prüfstand stellen, indem
wir die Stiftung Bildungstest ausbauen und ihr die Funktion eines Gradmessers für qualitative Bildungsangebote zuweisen. Damit die Beteiligung an Weiterbildungsprogrammen erhöht wird, werden wir die Beratungsangebote auf- und ausbauen.
Bildungspolitik darf sich keines starren Instrumentariums bedienen. Neue Entwicklungen und Trends, beispielsweise im Bereich E-Learning, gilt es aufmerksam
zu verfolgen und dort einzusetzen, wo es sinnvoll erscheint. Aber wir dürfen nicht nur an die Lernenden, sondern müssen auch an die Lehrenden denken. Keine Lehrerin und kein Lehrer darf sich von uns im Stich gelassen
fühlen.
({5})
Wir sollten gemeinsam an neuen Arbeitszeitmodellen arbeiten. Auch eine stärkere Flexibilisierung der Lehrerbesoldung kann bessere Anreize für den Lehrberuf schaffen.
Die Elemente Leistung, Motivation und sichere Beschäftigungsbedingungen wollen wir in einem vernünftigen
Rahmen zusammenführen.
Zum Abschluss noch ein paar kurze Bemerkungen zum
Unibereich. Wir werden die erfolgreich begonnene Hochschulreform in den nächsten vier Jahren konsequent weiterführen.
({6})
Die Qualifikationsphasen an den Hochschulen wurden
bereits erfolgreich neu strukturiert. Auch die Gebührenfreiheit für das Erststudium wurde gesetzlich abgesichert.
({7})
Ich könnte jetzt noch ganz viel dazu sagen. Leider ist
meine Redezeit schon fast vorbei. Deshalb noch etwas zu
unserem zentralen Grundsatz in der Bildungspolitik.
Ihre Redezeit ist vorbei.
Ich wollte noch einen abschließenden Satz sagen.
- Wir wollen allen den Zugang zu Bildung ermöglichen,
unabhängig von der sozialen Herkunft. Es darf kein Zweiklassensystem im Bildungssystem geben, auf der einen
Seite diejenigen, die sich Bildung leisten können, auf der
anderen Seite diejenigen, die keinen Zugang zu qualitativ
hochwertigen Bildungsinstitutionen haben. Daran sollten
wir alle gemeinsam arbeiten, und zwar zugleich auf Bundes- und Landesebene. Es macht keinen Sinn, dieses
Thema im Wahlkampf auszuschlachten.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDPFraktion.
({0})
Da lernen wir noch viel von Ihnen, Herr Tauss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, Frau Bettin, dass Sie jetzt in unsere Reihen vorgestoßen sind. Ich kann Ihnen versichern: Die FDP wird
dafür sorgen, dass auf diese rot-grüne Regierung und ihre
Bildungs- und Forschungspolitik viel öffentlicher Druck
ausgeübt wird.
({0})
Zum Bereich Bildung und Forschung haben der
Bundeskanzler und, wenn ich das richtig verfolgt habe,
auch Frau Bulmahn einen eher lyrischen Vortrag als konkrete Ankündigungen geliefert.
({1})
Als Bildungspolitikerin sage ich allerdings: Lyrik hat
für die Bildung durchaus einen Wert. Auch wenn Sie nur
sehr nebulös - Frau Bulmahn, Sie haben das eben nicht
viel deutlicher dargestellt - das 4-Milliarden-Euro-Programm zur Förderung der Ganztagsangebote angesprochen haben, so sind wir - das will ich Ihnen gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode sehr klar sagen, das wissen
Sie auch aus der letzten Legislaturperiode - grundsätzlich
mit Ihnen einer Meinung. Auch die FDP will ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen, aber eben nicht
nur als Betreuungs- und Verwahrungseinrichtung, sondern mit einem klaren pädagogischen Konzept und einem
Bildungsauftrag.
({2})
Sie sprechen dabei von einer intensiven Kooperation mit
den Ländern, Frau Bulmahn. Auch der Bundeskanzler hat
das erwähnt. Allerdings habe ich - das will ich genauso
deutlich sagen - heftige Zweifel, dass dies auch nur in
irgendeiner Weise funktionieren wird. Ich möchte nur auf
das Land Nordrhein-Westfalen verweisen, das im Haushalt 2003 - in dessen Beratungen steigen wir ja auch gerade ein - zusätzlich 11 Millionen Euro für die Ganztagsbetreuung bereitstellt. Es stellt aber nicht eine zusätzliche
Lehrerstelle zur Verfügung.
({3})
Frau Bulmahn, Sie scheinen, um mit Frau Reiches
Worten zu sprechen, wirklich nur die Suppen zu finanzieren, aber das pädagogische Konzept, das dahinter steht,
kann mit dieser personellen Ausstattung nicht umgesetzt
werden.
({4})
Der Bundeskanzler hat gestern ebenso poetisch ausgeführt, Zugang zu erstklassigen Bildungseinrichtungen
dürfe nicht vom Geldbeutel und vom Wohnort abhängen.
Deshalb wollen Sie mit den Ländern einen „Kern von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards schaffen“. Vor
diesem Hintergrund frage ich mich, wofür wir eigentlich
vier Jahre lang gekämpft haben. - Für einen Kern? Warum
reduzieren Sie nun die wichtige Forderung nach Standards in allen wichtigen Bereichen in den Schulen unserer Kinder plötzlich auf einen winzigen Kern? Das zwingt
mich regelrecht zu der Vermutung, dass Sie mit den Kultusministern nicht zurechtkommen, Frau Bulmahn.
({5})
Die neue Legislaturperiode beginnt so, wie die alte geendet hat.
Ich freue mich, Frau Bulmahn, dass Sie in den Koalitionsvertrag Forderungen aufgenommen haben, die die
FDP schon seit Jahren erhoben hat. Wir begrüßen, dass
endlich ein nationaler Bildungsbericht vorgelegt werden
soll.
({6})
Auch die Einrichtung einer bundesweiten Bildungsstiftung ist zu begrüßen; dabei handelt es sich um eine uralte
Forderung der FDP. Des Weiteren sind Sprachtests vor der
Einschulung, Flexibilisierung der Lehrerbesoldung und
ein Wissenschaftstarifvertrag vorgesehen. Ich bin gespannt, was damit auf uns zukommt und ob Sie es in diesen vier Jahre schaffen, die Herren Kultusminister und
Damen Kultusministerinnen endlich zu einem vernünftigen Tarifvertrag zu überreden. Ich kann Ihnen versichern, dass die FDP alles tun wird, um Sie dabei zu unterstützen, Frau Bulmahn.
({7})
Vielleicht geschieht es in dieser Legislaturperiode
nicht mehr, dass Sie unsere Vorschläge erst ablehnen und
nach einer Schamfrist selbst einbringen. Die Bildungssituation in Deutschland gibt uns nämlich weiß Gott
nicht Zeit für solche Spielchen.
({8})
Wir liegen im internationalen Vergleich - meine beiden
Vorredner haben bereits darauf hingewiesen; die OECDStudie hat es erneut deutlich gezeigt - nach wie vor auf
den hinteren Rängen. Es gibt nach wie vor zu wenig Studienanfänger, zu wenig individuelle Betreuung und es besteht ein dramatisches Lerndefizit bei Kindern aus sozial
schwachen Familien. Nur 41 Prozent der 15-jährigen
Schüler haben den Eindruck, die Lehrer würden sich für
ihre Lernfortschritte interessieren. Nur Korea, Italien und
Polen schneiden schlechter ab.
Ich habe vier Jahre damit gelebt, dass Sie uns immer
wieder beschimpft und uns vorgeworfen haben, was wir
in den Vorjahren alles verkorkst haben, Frau Bulmahn.
({9})
Offensichtlich hat sich aber nichts bewegt. Was ist denn
besser geworden? An welcher Stelle in den internationalen Leistungsvergleichen haben wir uns nach oben bewegt
und wovon können Sie mit Fug und Recht behaupten, wir
hätten uns unter Rot-Grün verbessert?
({10})
- Richtig. Die Antwort lautet: nirgends.
Kommen Sie mir nicht mit der üblichen Lehrerschelte,
sondernverbessernSieendlichdieLehrerausbildungunddie
pädagogischeForschung.WirkenSieaufdieLänderein- ich
freue mich schon auf Ihren Redebeitrag, Herr Tauss -, mehr
Lehrer einzustellen und die Klassenstärken zu senken, damit
eine individuelle Betreuung möglich wird. Das Problem in
Deutschland sind eben nicht schlecht motivierte Lehrer, sondern schlecht motivierte Kultusbürokraten.
({11})
Deutschland soll in zehn Jahren zu den führenden Bildungsnationen zählen. Auch das ist ein schönes Ziel, das
Sie gestern erklärt haben. Aber wie wollen Sie dieses Ziel
erreichen, wenn die Staatsausgaben für Bildung unter
dem OECD-Schnitt liegen und zum Beispiel ein 9-jähriges Kind bei uns nur 752 Stunden Unterricht bekommt,
während der OECD-Schnitt 829 Stunden beträgt?
({12})
Insofern haben Sie weiß Gott sehr viel vor sich, Frau
Bulmahn.
Nur eine gute Bildung kann gute Wissenschaftler hervorbringen. Sie wollen die Schlüsseltechnologien vorantreiben. Ich befürchte aber, dass Frau Reiche und ich diejenigen sind, die in den nächsten vier Jahren etwas
vorantreiben werden,
({13})
während Sie mit meinem Freund Fell und auch mit Herrn
Tauss alles daransetzen werden, um im internationalen
Vergleich hinter den anderen Ländern hinterherzuhinken.
({14})
- Wie gehabt.
Lassen Sie mich trotzdem zum Schluss ein versöhnliches Wort an Sie richten. Frau Bulmahn, Sie können sicher sein, dass die FDP-Fraktion Sie wie in den letzten
vier Jahren bei Ihren sehr oft vergeblichen Versuchen, mit
den Ländern Fortschritte zu erzielen, intensiv unterstützen wird.
({15})
Aber wir werden in vier Jahren wieder eine Bilanz von Ihnen einfordern. Ich gönne es unserem Land, dass Sie dann
eine Bilanz vorzuweisen haben, die es wert ist, dass mit
ihr geprotzt wird, Frau Bulmahn. Aber ich bezweifle, dass
Rot-Grün das schaffen wird.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der SPDFraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
ist ein Dokument unseres festen Willens, weiterhin den
Themen Bildung und Forschung die erforderliche Priorität zuzubilligen. Das war auch unsere Absicht 1998. Inzwischen haben wir einiges realisiert. Frau Reiche, davon
sollten Sie nicht ablenken. Ein Mindestmaß an Ehrlichkeit
und Sachkenntnis könnte nicht schaden, wenn man Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion für Bildung und Forschung ist.
({0})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode bewiesen,
dass wir konstruktiv streiten und gelegentlich auch lautstark sein können. Ich habe mich, wie Sie wissen, stets um
Harmonie bemüht.
({1})
Ich freue mich, dass Sie das in so guter Erinnerung behalten haben. Aber zu dem, was Sie, Frau Reiche, zur Gentechnik und zur Biomedizin gesagt haben, kann ich nur
feststellen: Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben.
Wir haben die Mittel für die Förderung dieses Bereichs im
Vergleich zu dem, was Sie uns hinterlassen haben, fast
verdreifacht. Dieser Bereich weist einen noch nie da
gewesenen Zuwachs an Arbeitsplätzen auf. Inzwischen
kommen die Wissenschaftler aus den USA zurück, um in
Deutschland zu forschen. Wie gesagt, ein Mindestmaß an
Ehrlichkeit könnte nicht schaden und wäre Voraussetzung
für die von mir angesprochene Harmonie.
({2})
Nichtsdestotrotz haben wir in der letzten Legislaturperiode - das habe ich als besonders spannend empfunden auch zusammengearbeitet, um zu gemeinsamen Konzepten und Kompromissen in der Sache zu kommen. Wir waren sicherlich oft unterschiedlicher Auffassung. Der Streit
über die Stammzellenforschung hat mehr als einmal die
Frage nach der Ethik in der Forschung aufgeworfen. Ich
möchte nur darauf hinweisen, dass wir hier Kompromisse
und Mehrheiten auf höchstem parlamentarischem Niveau
erzielt haben. Ich würde mich freuen, Frau Reiche, wenn
das mit Ihrer Hilfe auch in Zukunft möglich wäre. Der
Grundstein, den Sie heute gelegt haben, war allerdings
nicht sehr erfolgversprechend.
({3})
Ich hoffe, dass sich das ändern wird.
Wir müssen selbstverständlich ethische Grundlagen
und Anforderungen für neue Fragen definieren. Wir müssen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verlässliche Arbeitsbedingungen schaffen. Nur, gerade im Bereich der Biomedizin war es doch Frau Dr. Böhmer, die
im letzten Moment bei der schwierigen Suche nach einem
Kompromiss noch ein Ei in das Nest gelegt hat, das die
Kriminalisierung nicht deutscher Biomediziner zur Folge
gehabt hätte. Das war das Ergebnis dessen, was Sie gemacht haben.
Der Koalitionsvertrag enthält demgegenüber konkrete
Vereinbarungen zu den Themenfeldern Bildung und Forschung. Die Bildungspolitik ist im Kontext unserer Bemühungen um die Verbesserung der Kinderfreundlichkeit unseres Landes zu sehen. Frau Reiche, dazu gehören
auch unsere Bemühungen um eine bessere Bildung und
eine bessere Betreuung für alle. Das wollen wir erreichen.
Sie stehen mit Ihrer Partei, wie wir heute gehört haben, für
Studiengebühren, für Auslese und für Bildung nach dem
Geldbeutel. Wir dagegen stehen für Exzellenz, die aus der
Förderung von Breite erwächst. Das ist der Unterschied.
({4})
Der Bund wird in den nächsten Jahren den Ländern jedes
Jahr 1,5 Milliarden Euro für den Aufbau von Ganztagsschulen und für die Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten von Kindern avisieren. Aber Sie reden in diesem
Zusammenhang - ich müsste das als Unverschämtheit bezeichnen; aber ich bin heute milde gestimmt - von Suppenküchen. Ich halte es für absolut inakzeptabel, wie Sie
sich verhalten, wenn es um Investitionen in die Zukunft
von Kindern und Jugendlichen geht.
({5})
Frau Reiche, wir müssen alles tun, um die Neugier und
die Lust auf Lernen schon bei kleinen Kindern zu fördern.
Neugier ist schließlich eine ganz wesentliche Triebkraft
für Wissenschaft und Forschung. Aus diesem Grunde
müssen wir die frühkindliche Förderung - das muss Konsequenzen bis in die Ausstattung des Hochschulbereichs
und in den Weiterbildungsbereich hinein haben - in verstärktem Maße auf die Agenda setzen; denn hier haben Sie
uns nichts hinterlassen, worauf wir aufbauen könnten.
Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden.
({6})
Nebenbei bemerkt, wenn die Industrieherren Rogowski
und Hundt - ich möchte das Wort von den Kettenhunden
nicht aufgreifen - mehr Zeit und Überlegungen in Konzepte
für die Weiterbildung ihrer Beschäftigten stecken und weniger Zeit darauf verwenden würden, Deutschland in
Talkshows mies zu machen, dann sähe es in unserem Land
ein bisschen besser aus.
({7})
Das gilt auch für Herrn Henkel, dem im Interesse seiner Wissenschaftsgemeinschaft eine etwas ehrlichere Bestandsaufnahme zu wünschen ist. Auch er labt sich nur an
schlechten Nachrichten und tut sonst nichts.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, viel zu viele
Jugendliche haben, nachdem sie unser Bildungssystem
durchlaufen haben, keine Abschlüsse. Das gilt auch für
Baden-Württemberg. In keinem Land gibt es mehr Beschäftigte, die lediglich angelernt und nicht ausgebildet
sind.
({8})
Das führt dazu, dass in Baden-Württemberg bereits die
Hälfte aller Arbeitslosen ohne Bildungsabschluss ist, sodass trotz besserer Konjunktur qualifizierte Stellen nicht
besetzt werden können.
({9})
- Das ist das Thema Weiterbildung in unserem gemeinsamen Land Baden-Württemberg, Herr Fischer. Auch ich
habe dieses Bildungssystem durchlaufen müssen. Man
geniert sich ja gelegentlich, weil Baden-Württemberg als
einziges Land nichts für die Weiterbildung der Beschäftigten tut und in der Vergangenheit nichts getan hat. Das
ist einfach Fakt und die Folgen spüren wir am Arbeitsmarkt.
({10})
- Ja, schlimmer gehts, das haben Ihre heutigen Äußerungen gezeigt. Das ist nun wirklich so.
Kommen wir zum Hochschulbereich. Frau Reiche,
wir haben die Grundlagen dafür gelegt, dass junge Leute
künftig rascher eine wissenschaftliche Karriere machen
können. Wir haben gehört, Sie wollen zurück zur Habilitation. Sie wollen erreichen, dass die Leute wieder mit
Anfang 50 habilitieren. Wir machen das Gegenteil. Wir
sorgen dafür, dass gute junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler nicht mehr ins Ausland gehen müssen,
um schnell Karriere zu machen, sondern ihnen gute Rahmenbedingungen geboten werden, sodass sie zurückkommen können. Das haben wir gemacht und Sie werden es
nicht zurückschrauben können.
({11})
Ich sitze seit gestern Morgen mit großer Geduld hier im
Plenarsaal und höre Ihnen zu. Dabei stelle ich mir ständig
die Frage: Wie sieht es aus mit Ihren Alternativen? Wir haben Erfolgszahlen vorzuweisen,
({12})
bis hin zur BAföG-Novellierung. Ja, das haben Sie doch
selber gerade gesagt.
({13})
- Nicht im Bildungsbereich? Die Studienanfängerzahlen,
Frau Flach, sind wieder auf über 30 Prozent gestiegen.
Deutschland gehört neben den USA und England für Studienanfänger aus dem Ausland wieder zu den begehrtesten Ländern. Das alles haben wir gegen Ihren Widerstand geschafft und Sie mosern hier herum.
({14})
Der gestrigen Rede der Vorsitzenden Ihrer Fraktion,
Frau Merkel, die jetzt ganz hinten sitzt, habe ich große
Aufmerksamkeit geschenkt und mich danach gefragt, wie
oft sie eigentlich die Wörter Bildung und Forschung erwähnt hat. Es ist blamabel, liebe Frau Reiche, aber Ihre
Fraktionsvorsitzende hat die Wörter Bildung und Forschung nicht ein einziges Mal in den Mund genommen,
weil sie sich nicht dafür interessiert, Sie wie auch die
CDU/CSU sich in 16 Jahren Kohl nicht für Bildung und
Forschung interessiert hat. Das ist der Fakt.
({15})
Bei der FDP, liebe Frau Flach, war es übrigens nicht besser. Bei Herrn Westerwelle kam Forschung ein einziges
Mal vor, aber im Zusammenhang mit dem Wort Wirtschaftsforschungsinstitut. Sie sind im Moment ohnehin
mit Flugblatt- und Geldforschung beschäftigt. Lassen wir
das Thema.
({16})
Nach den Ergebnissen der OECD, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommen ausländische Studierende wieder nach Deutschland. Wissen Sie, woran das
liegt? Das liegt unter anderem daran, dass wir über das
Zuwanderungsgesetz die Situation derer, die zu uns kommen wollen, verbessert haben.
({17})
Sie prozessieren noch vor dem BVG gegen unser Gesetz;
das ist unglaublich. Wissen Sie, was wir gemacht haben?
Wir haben bereits zum Herbstsemester die Regelung des
Gesetzes, gegen das Sie noch prozessieren, in Kraft gesetzt. Die ausländischen Studierenden können ihren Lebensunterhalt hier verdienen. Das sind tolle Leistungen.
Sie hinken auch hier hinterher und sind nichts anderes als
Bremser in der Entwicklung. Sie wollen die Leute im
Grunde mit der Vorstellung verängstigen, dass Ausländer,
auch ausländische Studierende, zu uns kommen.
({18})
Gestern Abend hat Ihr Kollege Bosbach hier mit seinen
ausländerfeindlichen Tiraden ein Beispiel dafür geliefert,
wie Sie mit dem Thema Ausländer und ausländische Studierende umgehen.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben
keinerlei Zukunftsperspektiven für Bildung und Forschung aufgezeigt. Sie haben Bildung und Forschung in
Ihren Reden noch nicht einmal erwähnt. Sie haben heute
Abend polemisiert. Das ist schade. Ich wünsche sehr, dass
sich das in dieser Legislaturperiode wieder ändert und Sie
den Weg zurück zur Gemeinsamkeit finden, im Interesse
unserer jungen Menschen hier im Land, im Interesse
Deutschlands. Wir werden Ihnen seitens unserer Fraktion
übrigens vorschlagen, eine Enquete-Kommission einzurichten, die die langfristigen Herausforderungen des Bildungswesens aufgreift. Das wichtige Thema Bildung
muss über PISA hinaus besonders repräsentativ auf der
Tagesordnung dieses Parlaments bleiben.
An dieser Stelle herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, unseren Neuen hier im Saal alles Gute, auch unserer
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Nicolette Kressl,
unserem neuen Staatssekretär, dem Kollegen Matschie,
und Frau Kollegin Bettin. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Frau Reiche, wenn Sie sich noch ein bisschen
bessern, wird es auch bei uns ganz gut klappen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün
wird, wie in der vergangenen Wahlperiode auch, der Bildung und der Forschung einen hohen Stellenwert beimessen
({0})
und beispielsweise den Forschungsmittelanteil am Bruttosozialprodukt erhöhen.
Der rot-grüne Koalitionsvertrag spiegelt im Bereich
Forschung das Leitbild der Nachhaltigkeit wider. Er legt
die Grundlagen für die Welt von morgen, die wir nachhaltig gestalten wollen. Rot-grüne Forschungspolitik wird
die Chancen neuer Technologien nutzen. So kann der Umstieg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gelingen.
Wir werden uns auch in den nächsten vier Jahren dafür
einsetzen, die Forschung vor allem dort zu fördern, wo sie
nachhaltiges Wirtschaften ermöglicht bzw. verbessert.
({1})
Wir thematisieren allerdings auch die Risiken neuer
Technologien. Nicht alles, was technisch machbar ist,
darf auch gemacht werden, Frau Reiche. Es gibt unkalkulierbare Risiken, zum Beispiel auch in der grünen Gentechnik; Sie haben sie so dargestellt, als wenn sie völlig
ohne Risiken wäre. Der größte Teil der Menschen in unserem Staat lehnt ihre Nutzung ab.
({2})
Insofern ist es sinnvoll und wichtig, dass wir nicht einer
blinden Technikgläubigkeit, wie Sie sie in diesem Beispiel dargestellt haben, Vorschub leisten,
({3})
sondern uns im Umgang mit den neuen Technologien verantwortungsbewusst verhalten. Wir haben das im rot-grünen Koalitionsvertrag auch so festgeschrieben.
({4})
Dass wir unseren Worten und Wahlversprechen auch
Taten folgen lassen, haben wir bereits in der letzten Wahlperiode gezeigt. Wir haben die Forschungsmittel kräftig
aufgestockt und in der Umwelt- und Friedensforschung
neue Akzente gesetzt. Diesen Weg werden wir fortführen.
({5})
Wir werden ressortübergreifend ein Energieforschungsprogramm auf den Weg bringen, das die Priorität eindeutig auf erneuerbare Energien und auf Energieeinsparung
legt.
Aus der Entwicklung neuer Atomreaktoren sind wir
bereits in der letzten Wahlperiode ausgestiegen. Jetzt werden wir unsere Aufmerksamkeit der Kernfusion widmen.
Für diese Form der nuklearen Stromerzeugung ist im Koalitionsvertrag kein Platz mehr.
({6})
Stattdessen werden Energie- und Umwelttechnologien
als Schlüsseltechnologien hervorgehoben. Ein besonderes
Augenmerk werden wir darauf legen, die institutionelle
Struktur für die Bioenergieforschung zu stärken. Hier werden wir die vorhandenen Forschungslücken schließen.
Wir werden uns auf europäischer Ebene auch für die
Beendigung der Sonderstellung des Euratom-Vertrages
einsetzen und damit den europäischen Atomausstieg einleiten.
({7})
Nachhaltige Forschungspolitik erkennt die wichtigen
Trends von morgen. Sie sucht nach Lösungen, um Generationengerechtigkeit zu verwirklichen, und fördert nicht
nur den Mainstream. Nach dem Koalitionsvertrag setzen
wir uns dafür exemplarisch in der Gesundheitsforschung,
und zwar mit einem besonderen Blick auf Frauengesundheit, Prävention und Altersforschung, oder auch in der
Friedensforschung ein, die wir auf nationaler und auch auf
europäischer Ebene erneut stärken wollen.
({8})
Wir fordern und fördern die Demokratisierung der
Wissenschaft und wollen den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft weiter intensivieren. Ein gelungenes Projekt der rot-grünen Bundesregierung ist die Unterstützung der Inititiative „Wissenschaft im Dialog“. Daran
werden wir weiter arbeiten.
({9})
Darüber hinaus werden wir weiter und verstärkt interdisziplinäre Forschungsansätze fördern. Die Geistesund Sozialwissenschaften müssen noch stärker als bisher
einbezogen werden.
({10})
Ohne die Verbindung mit den Geistes- und Sozialwissenschaften laufen die Ingenieur- und Naturwissenschaften
Gefahr, an den Bedürfnissen von Mensch und Umwelt
vorbei zu forschen.
({11})
Wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Um sie zu erreichen, brauchen wir selbstredend auch finanzielle Mittel. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf
verständigt, bis 2010 3 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts durch öffentliche und private Aufwendungen für Forschung und Entwicklung zu investieren.
({12})
Frau Flach, wir sind Ihnen für Ihr Angebot, hier zusammenzuarbeiten, dankbar. Was wir vorhaben, kann nur
durch die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und der
Wirtschaft erreicht werden.
Wir leisten einen aktiven Beitrag zur Sicherung des
Wirtschaftsstandortes Deutschland in West- und ganz besonders in Ostdeutschland.
({13})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zu den Bereichen Familie, Senioren,
Frauen und Jugend. Diese Bereiche stehen heute als letzte
zur Diskussion.
Als erste Rednerin spricht für die Bundesregierung die
Bundesministerin Renate Schmidt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren! Meine sehr geehrten Damen! Mit Ausnahme der
erwachsenen, kinderlosen und allein stehenden Männer
unter 60 Jahre - für diese Personengruppe wird uns noch
etwas einfallen - ist das von mir geleitete Ministerium für
alle Menschen in Deutschland zuständig.
({0})
Das BMFSFJ wird flapsig das „Konsonantenministerium“ genannt. Aber der Kern der Aufgaben dieses Ministeriums ist nicht die Zuständigkeit für Einzelinteressen;
wir sind das Ministerium für Gesellschaftspolitik. Es ist
ein Ministerium ohne wesentliche eigenständige Zuständigkeiten für Gesetzgebung und mit nur wenigen gesetzlich nicht festgelegten finanziellen Mitteln.
Das muss in meinen Augen kein Manko sein. Für mich
ist es eine Herausforderung, mich für Veränderung und
Erneuerung einzumischen.
({1})
Für mich ist es eine Herausforderung, Überzeugungsarbeit zu leisten und Verbündete zu suchen, in der Bundesregierung, hier, innerhalb dieses Parlaments, und zwar bei
allen Fraktionen, aber vor allem in der gesamten Gesellschaft. Wir haben die Aufgabe, in einer Zeit der Individualisierung und der durch die Globalisierung verursachten
einschneidenden Veränderungen im Leben jedes Einzelnen den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Erneuerung, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit werden unsere Politik prägen.
Ich möchte an wenigen Schwerpunkten deutlich machen, was wir uns für diese Legislaturperiode vorgenommen haben:
Diese Regierung wird der Familie dort ihren Platz sichern, wo sie hingehört: in der Mitte der Gesellschaft. In
der Familien- und Kinderpolitik brauchen wir besonders
viel Erneuerung.
({2})
Familie heißt für uns, mit Kindern leben und für sie Verantwortung tragen. Familien sind für uns wichtigstes Glied
des Zusammenhalts der Gesellschaft. Familien sind Leistungsträger und brauchen die richtigen Rahmenbedingungen, um ihre Leistungsfähigkeit entfalten zu können.
Das ist in Deutschland nicht ausreichend gewährleistet.
Deutschland ist hinsichtlich der familienergänzenden
Betreuungsmöglichkeiten ein unmodernes Land, nahezu
ein Entwicklungsland, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Geburtenrate - mittlerweile die niedrigste in
ganz Europa - hat. Nur eine Zahl dazu: 41 Prozent der
Akademikerinnen bis zum 39. Lebensjahr sind in
Deutschland derzeit kinderlos.
({3})
Gleichzeitig ist die Quote der Erwerbsbeteiligung der
Frauen, übrigens der am besten ausgebildeten Frauengeneration, die es in Deutschland jemals gegeben hat, ebenfalls eine der niedrigsten in Europa. Beides, niedrige Geburtenraten und niedrige Erwerbsbeteiligung, hängt
zusammen.
Aus ideologischen Gründen wurde versäumt, die notwendige Modernisierung Deutschlands vorzunehmen.
Eine fruchtlose Diskussion wurde geführt: hie die so genannte Nur-Hausfrau, dort die angeblich verantwortungslose erwerbstätige Rabenmutter. Das war falsch: Politik
hat nicht vorzuschreiben, wie Menschen leben sollen;
vielmehr hat die Politik dafür zu sorgen, dass Menschen
so leben können, wie sie es selbst wollen und selbst entscheiden.
({4})
Jeder Familie gebührt der gleiche Respekt, die gleiche
Unterstützung. Jede Mutter und jeder Vater, die oder der
sich zur Einschränkung oder längeren Unterbrechung der
Erwerbstätigkeit entscheidet, dürfen genauso wenig diskriminiert werden wie Mütter, die Kinder und Beruf
gleichzeitig unter einen Hut bringen wollen.
Sie, meine Herren und Damen von der Union, haben
auch deshalb ein weiteres Mal die Bundestagswahl verloren, weil Sie ignorieren, wie die Menschen leben wollen.
({5})
Ihr Vorwurf uns gegenüber traf und trifft ins Leere. Für
uns gibt es eben im Gegensatz zu Ihnen kein allein selig
machendes Familienmodell. Für uns sind alle Familien
gleich viel wert.
({6})
Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode den
Schwerpunkt auf die materielle Besserstellung von Familien gelegt: Über die Erhöhung von Steuerfreibeträgen
und Kindergeld, das Anheben von Einkommensgrenzen
beim Erziehungsgeld - wozu Sie im Übrigen 15 Jahre
lang nicht in der Lage waren ({7})
bis hin zu Verbesserungen bei Wohngeld und BAföG haben wir Familien in einem Volumen von insgesamt
13 Milliarden Euro entlastet.
Wir werden auch in der vor uns liegenden Legislaturperiode die materielle Situation von Familien nicht vergessen. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir Kinder und
ihre Eltern aus der Sozialhilfe herausbringen wollen.
({8})
Modelle dazu werden wir nicht nur prüfen, sondern nach
Möglichkeit auch umsetzen.
Den Schwerpunkt werden wir allerdings auf die Verbesserung der Betreuungssituation legen,
({9})
obwohl dies nicht in der Zuständigkeit des Bundes liegt.
Vielleicht sollten Sie endlich einmal registrieren, dass
dafür eigentlich die Länder zuständig sind und der Bund
mühevoll versucht, diese Aufgabe zu übernehmen.
({10})
Wir tun das, weil wir nicht zulassen wollen und dürfen,
dass Deutschland in Europa Schlusslicht bleibt.
Frau Ministerin Bulmahn hat die Verbesserungen bei
den Ganztagsschulen erläutert. Wir beide werden eng zusammenarbeiten. Ich werde die Kompetenzen aus der
Kinder- und Jugendhilfe meines Ministeriums einbringen.
Ich möchte dies noch einmal betonen: Ganztagsschulen dienen zuallererst den Bildungschancen unserer Kinder und Jugendlichen
({11})
und sind deshalb ein wichtiger Meilenstein in der Kinderund Jugendpolitik dieser Legislaturperiode. Sie dürfen
nicht als Bildungseinrichtungen für Benachteiligte abqualifiziert werden, wie Sie es heute ein weiteres Mal getan
haben. Diese Einrichtungen stehen den Kindern aller Bildungsschichten offen,
({12})
wenn die Eltern dies wollen; es soll niemandem aufgezwungen werden. Aber sie dienen natürlich ebenso der
besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit
und sind deshalb auch ein wichtiger Meilenstein für eine
moderne Familien- und Gleichstellungspolitik.
Für die Verbesserung der Betreuungssituation für die
unter 3-Jährigen wird die Federführung in meinem Haus
liegen. Wir werden dies gut vorbereiten und es niemandem, vor allen Dingen nicht den Kommunen, überstülpen.
Ich setze bei den Betreuungsmöglichkeiten für Kleinstkinder nicht nur auf mehr Quantität, sondern auch auf
mehr Qualität,
({13})
weil wir wissen, wie wichtig Zuwendung und Anregungen für Kinder gerade in dieser Lebensphase sind. Die
jüngste OECD-Studie bestätigt dies eindrucksvoll. Ich
will gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen
erreichen, dass die Qualität der Erziehung steigt und Betreuung, Bildung und Erziehung in Deutschland eine
Einheit bilden. Dies werden wir durch Projekte zur Qualitätssicherung in Tageseinrichtungen und durch Veränderungen im Kinder- und Jugendhilferecht unterstützen.
Ich will eine Angebotsvielfalt: die guten Kinderkrippen, die für die Städte unverzichtbar sind, und gute Tagesmüttermodelle, die wahrscheinlich vor allem in kleineren
Gemeinden besser geeignet sind. Die Bedürfnisse von
Kindern und ihren Eltern müssen maßgebend sein und
nicht die Lieblingsvorstellungen von Politikern und Politikerinnen.
({14})
Auch hier kann ich Ihnen Vorwürfe nicht ersparen,
meine Herren und Damen von der Union: Wie haben Sie
1990 - damals gehörte ich diesem Gremium noch als Abgeordnete an - Frau Professorin Ursula Lehr in Acht und
Bann getan, weil sie es gewagt hat, für 2-Jährige Betreuungseinrichtungen zu fordern! Das war Ihre Politik damals.
({15})
Wir haben wegen Ihrer ideologischen Vorbehalte 15 Jahre
der Modernisierung unserer Betreuungs-, Erziehungsund Bildungseinrichtungen für unsere Kinder versäumt,
die wir jetzt im Eiltempo nachholen müssen.
({16})
Aber nicht nur deshalb wirft Ihnen eine weitere meiner
Vorgängerinnen, Frau Professor Süssmuth, heute zu
Recht vor, dass Sie einen familienpolitischen Zickzackkurs fahren. Sie tut dies auch, weil Sie noch immer unentschieden sind, ob Sie den Bedürfnissen von jungen
Frauen, die ihre gute Ausbildung nutzen und dennoch
nicht auf Kinder verzichten wollen, Rechnung tragen sollen oder ob sie den jungen Menschen Ihr Familienbild oktroyieren wollen: den allein verdienenden Vater und die
nicht erwerbstätige Mutter. Hier haben Sie keine stringente Linie.
({17})
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, Gleichstellungspolitik ist mehr als Familienpolitik
und Familienpolitik ist mehr als Gleichstellungspolitik.
Keiner dieser Politikbereiche darf ein Anhängsel des anderen sein oder werden.
({18})
Wir haben uns vorgenommen, die einschlägigen EURichtlinien zur Gleichstellungspolitik umgehend in nationales Recht umzusetzen, um in diesem Bereich, wie andere europäische Länder auch, ein modernes Land zu
werden. Dabei geht es mir nicht darum, bürokratische, unpraktikable und bis ins letzte Detail gehende gesetzliche
Druckmittel für die Wirtschaft zu formulieren. Auch geht
es mir nicht darum, herkömmliche Frauenförderung zu
praktizieren. Frauen brauchen nämlich eine derartige Förderung nicht mehr.
({19})
Sie sind, wie uns die Fakten zeigen, meistens sogar besser ausgebildet als die jungen Männer und wie uns alle
Untersuchungen zeigen, berufs- und karriereorientiert.
„Gender mainstreaming“ - vielleicht fällt uns dafür auch
ein schönes deutsches Wort ein ({20})
bedeutet mehr als Frauenförderung. Es bedeutet zum Beispiel, dass die Gesellschaft und damit auch die Wirtschaft
ihr ureigenes Interesse erkennen, die Kompetenzen dieser
gut ausgebildeten Frauengenerationen auch und vor allem
in Führungsfunktionen zu nutzen. Es bedeutet, die Emanzipation der Männer, ihr Vater-Sein auch faktisch und mit
zeitlichem Engagement anzunehmen.
({21})
Karriere darf für Frauen nicht länger den Verzicht auf
Kinder bedeuten.
Hierüber werden wir mit der Wirtschaft reden. Gleichstellungs- und Familienpolitik werden Themen des Bündnisses für Arbeit werden. Unser gemeinsames Interesse
muss es sein, Kinder und ihre Familien nicht aus dem Arbeitsleben wegzuorganisieren, sondern sie zu integrieren,
Familie und Arbeit in eine gute Balance zu bringen. In unserem eigenen Verantwortungsbereich werden wir das
Bundesgleichstellungsgesetz Zug um Zug durchsetzen
und, wo notwendig, ergänzen. Wie ernst die Bundesregierung es damit meint, zeigt unter anderem der dramatisch
hohe weibliche Anteil in der Bundesregierung.
({22})
- Dramatisch ist es wahrscheinlich für Sie.
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, in 15 Minuten ist es selbstverständlich nicht möglich, alle Vorhaben dieser Legislaturperiode zu nennen.
({23})
Natürlich wird der Jugendmedienschutz weiterhin eine
wichtige Rolle spielen. Die Programme zur Förderung
junger Menschen und ihres Engagements müssen fortgesetzt und junge Menschen müssen besser vor sexueller
Gewalt geschützt werden, um nur wenige Punkte zu nennen. Die Integrationspolitik, die bereits vorher zum Teil
in meinem Ministerium angesiedelt war, wird durch die
weitere Parlamentarische Staatssekretärin und Ausländerbeauftragte, Marieluise Beck, zusätzliche Impulse in unserem Haus erhalten.
({24})
Zu dem von Jahr zu Jahr wichtiger werdenden Bereich
der Seniorenpolitik möchte ich heute nur so viel sagen:
Mein Motto heißt: Mehr Teilhabe für die große Zahl der
aktiven älteren Menschen, mehr Sicherheit für die Hochbetagten.
({25})
Alt sein bedeutet Gott sei Dank nicht an erster Stelle, krank
und pflegebedürftig zu sein. Es ist ein eigener, wichtiger
und schöner Lebensabschnitt. Der nächste Altenbericht
aus meinem Haus wird sich unter anderem mit den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beschäftigen.
Denn ich halte es für eine Verschwendung von menschlichem Know-how und für eine Vergeudung menschlicher
Lebenserfahrung, wenn es in 60 Prozent aller Betriebe in
Deutschland keinen einzigen Arbeitnehmer und keine einzige Arbeitnehmerin mehr jenseits des 55. Lebensjahres
gibt. Das ist ein Skandal. Wir müssen gemeinsam daran
arbeiten, das zu verändern.
({26})
Wir werden prüfen, ob ein Altenhilfestrukturgesetz sowohl den Bedürfnissen der aktiven Senioren als auch den
Bedürfnissen der Hilfsbedürftigen Rechnung tragen kann.
Für Letztere wollen wir nach dem In-Kraft-Treten des
überfälligen Altenpflegegesetzes, das leider über ein Jahrzehnt durch den Freistaat Bayern letztendlich erfolglos
blockiert wurde, den Verbraucherschutz in der Pflege erhöhen. Ich möchte erreichen, dass wir Gegensätze zwischen Leistungserbringern und Leistungszahlern in der
Pflege auflösen und uns auf eine Charta für Hilfsbedürftige verständigen.
({27})
Das Ziel meiner Arbeit in dieser Legislaturperiode besteht darin, dass sich alle, an erster Stelle die Kinder, in
unserer Gesellschaft willkommen fühlen können.
({28})
Mein Ziel ist es, die Spaltung der Gesellschaft, wo
immer das möglich ist, zu mildern und aufzuheben, die
Spaltung in Kinderhabende und Kinderlose, in Jung und
Alt, in Interessen von Männern einerseits und Frauen andererseits, in Rabenmütter, angebliche Nur-Hausfrauen
und Karrierefrauen, in so genannte Normalfamilien und
Einelternfamilien.
Gegensätze werden sich aber nur dann aufheben lassen,
wenn gemeinsame Interessen erkannt werden. Dazu zählt
in erster Linie das gemeinsame Interesse an Beziehung,
Verlässlichkeit und Geborgenheit. Dazu zählt das Recht
auf ein eigenes Leben. Dazu zählt die Gleichheit, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Hautfarbe. Eine solche
Gesellschaft ist lebens- und liebenswert. Für ihre Verwirklichung werde ich mich mit allen Kräften einsetzen.
({29})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Professor Maria
Böhmer von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt, als Erstes
möchte ich Sie hier im Parlament herzlich willkommen
heißen. Wir haben draußen lange über Familienpolitik gestritten und auch manches ausgetauscht. Ich wünsche mir,
dass wir diese Diskussion zum Wohl der Familien jetzt
hier in großer Offenheit miteinander führen können, dass
wir dabei die Defizite benennen und dass wir nach der gebührenden Schonfrist auch die Dinge zur Sprache bringen, bei denen wir sagen: So geht es nicht.
({0})
Deshalb gleich am Anfang eine sehr nachdrückliche Bitte
an Sie: Wir haben die Wahlkampfzeiten hinter uns. Es
dient niemandem, Klischees zu verbreiten, wie Sie das
mit größter Hartnäckigkeit immer wieder tun.
({1})
Es bringt nichts, wenn man meint, immer wieder sagen zu
müssen, dass die Mitglieder der Union sozusagen die
Ewiggestrigen seien.
({2})
Wir haben über Jahre hinweg für die Familien und für
die Frauen in diesem Lande viel erreicht. Das lassen wir
uns nicht nehmen.
({3})
Dazu gehört - ich beginne mit dem Jahre 1985 -, dass
es sich die Union auf die Fahnen geschrieben hat, die neue
Partnerschaft von Männern und Frauen zu realisieren. Seit
dieser Zeit sind wichtige und maßgebliche Gesetze verabschiedet worden, und zwar von einer unionsgeführten
Bundesregierung getragen. Ich möchte an die Einführung
von Erziehungsgeld und, wie es damals noch genannt
wurde, Erziehungsurlaub erinnern. Übrigens ist das Erziehungsgeld immer noch nicht erhöht worden. Sie haben
die Chance, das in dieser Legislaturperiode zu tun. Aber
ich sehe kein einziges Anzeichen dafür, dass dies tatsächlich geschehen wird.
({4})
Wir haben die Revolution in der Rentenversicherung
durchgeführt. Wir haben die Gleichwertigkeit von Erziehungsleistung und Erwerbsleistung bis hin zur Anerkennung von 100 Prozent realisiert.
({5})
Das hat in diesem Land Maßstäbe gesetzt.
Denjenigen, die uns nachsagen wollen, wir hätten in
punkto Kinderbetreuung nichts getan, möchte ich entgegenhalten, dass es das damals noch CDU-regierte Bundesland Rheinland-Pfalz war, das als erstes einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt hat.
({6})
Da haben die SPD-regierten Länder alt ausgesehen und
dies tun sie auch heute noch.
Man sollte sich einmal anschauen, wie es um die Kinderbetreuung bestellt ist. Frau Ministerin Schmidt, Sie haben Recht. Wir müssen hart daran arbeiten, dass die Situation im Lande so ist, dass wir wirklich sagen können:
Mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist es besser
bestellt, so, wie wir es uns wünschen.
Wie sind die einzelnen Länder ausgestattet? Sie haben
zu Recht gesagt, die Realisierung der Kinderbetreuung sei
Ländersache. Es ist übrigens Aufgabe der Kommunen,
daran mitzuwirken. Diejenigen Länder, die im Hinblick
auf die Kinderbetreuung einen vorderen Platz einnehmen,
sind nicht die SPD-regierten, sondern die unionsregierten
Länder, und dies sowohl in den neuen Bundesländern als
auch in den alten.
({7})
Dazu sage ich: Was wahr ist, muss wahr bleiben. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Nachholbedarf besteht bei den SPD-regierten Ländern. Diese Länder sollten endlich einmal ihre Hausaufgaben machen.
({8})
Ich habe übrigens in der Koalitionsvereinbarung gelesen, dass man jetzt endlich anstrebt, die Frauenerwerbsquote entsprechend den europäischen Vorgaben auf
60 Prozent ansteigen zu lassen. Ich habe mir einmal die
neuesten Ergebnisse des Mikrozensus 2001 besorgt. Ich
kann es Ihnen nicht ersparen:
({9})
Baden-Württemberg und Bayern liegen deutlich über der
60-Prozent-Marke.
({10})
In Baden-Württemberg haben wir eine Erwerbsquote von
62,5 und in Bayern, das ja angeblich so rückständig ist,
sogar von 63,9 Prozent.
({11})
Diese Zahlen sagen doch etwas darüber aus, wo Frauen
gut aufgehoben sind.
({12})
Dann habe ich mir angeschaut, wo noch Nachholbedarf besteht. Nordrhein-Westfalen hat eine Quote von
55 Prozent.
({13})
Nordrhein-Westfalen müsste in diesem Zusammenhang
unter den alten Bundesländern die rote Laterne erhalten.
All diejenigen, die aus Niedersachsen kommen, wünschen sich mit Sicherheit eine andere Regierung. Denn
dort liegt die Quote auch nur bei 57 Prozent.
({14})
Wir sollten hier keine Märchenstunde halten, sondern
zu den Fakten übergehen und uns Gedanken darüber machen, wie wir für Familien in diesem Lande etwas erreichen und für Frauen und Männer, Mütter und Väter eine
Lebenssituation herstellen, sodass es Freude macht, Familie zu haben, Kinder zu bekommen und zu Jung und Alt
sowie einem guten Miteinander Ja zu sagen.
({15})
Sie, Frau Ministerin Schmidt, und der Bundeskanzler
gestern in großer Deutlichkeit haben gesagt, dass es ihre
vordringliche Aufgabe ist - ich zitiere jetzt den Kanzler -,
„Deutschland zu einem wirklich kinderfreundlichen Land
zu machen“.
({16})
Das klingt gut und auch vernünftig. Ich sage dazu nur:
Wer würde dieser Aussage nicht zustimmen wollen?
({17})
- Strengen Sie sich einmal an! Sie haben, wie Sie wissen,
Nachholbedarf. - Wir wollen aber nicht nur ein kinderfreundliches, sondern auch ein familienfreundliches
Land.
({18})
Das ist der Ansatzpunkt, um den es gehen muss. Familie
ist mehr als nur der Ort, wo Kinder sind. Familie ist Verantwortungsgemeinschaft.
Ich war ein wenig erleichtert, als ich von Frau Ministerin Schmidt endlich hörte, was ich sonst aus Kreisen der
SPD und der Grünen nicht höre,
({19})
nämlich dass Verantwortung hinzukommt. Sie haben
Recht. Ohne Verantwortung und ohne auf Dauer verlässliche Bindungen geht es nicht. Denn Kinder brauchen Geborgenheit, Zuwendung und Verlässlichkeit.
({20})
Deshalb sind wir alle - auch Sie - gehalten, die gesellschaftlichen Bedingungen so zu gestalten, dass Familie
wirklich gelingen kann. Wir wissen, dass dies heute nicht
leicht ist. Wir werden mit Scheidungsraten konfrontiert,
die leider nicht sinken, sondern steigen. Wir werden mit
der schwierigen Situation vieler Alleinerziehender konfrontiert. Wir werden mit der Situation von Patchworkfamilien konfrontiert, in denen Kinder aus verschiedenen
Ehen zusammenleben und man sich zusammentut, um Familie wieder zum Gelingen zu bringen.
Unser Ziel muss es doch sein, hier Unterstützung zu
geben, damit das Ziel des Weges, auf den sich Männer und
Frauen begeben haben und den sie gemeinsam gehen wollen, auch wirklich erreicht wird und sie nicht an Hemmnissen scheitern. Es soll eine Situation entstehen, von der
wir sagen können: Familie und Ehe haben wieder Zukunft.
({21})
Ich finde es übrigens bemerkenswert - ich habe es
überprüft -, dass in der Koalitionsvereinbarung zwar viel
von Kindern und Familie die Rede ist, aber nur an zwei
Stellen das Wort Ehe auftaucht:
({22})
einmal im Zusammenhang mit dem Ehegattensplitting
und einmal im Zusammenhang mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften.
({23})
Das zeigt, wie Sie eigentlich denken. Frau Ministerin
Schmidt, an dieser Stelle haben Sie noch viel aufzuräumen. Dazu wünsche ich Ihnen alles Gute.
({24})
Das Ziel Ihrer Familienpolitik ist, „die Wahlmöglichkeiten für Eltern zwischen Familie und Beruf und die materielle Sicherheit für Familien zu verbessern“. Zu diesem
Punkt muss ich sagen: Das dürfte die größte Wählertäuschung des Jahres 2002 sein.
({25})
Das Ziel, die materielle Situation von Familien zu verbessern, wird hier mit Füßen getreten.
({26})
Ich will Ihnen auch sagen, warum ich dieser Meinung
bin; denn ich sage einen solchen Satz nicht aus dem hohlen Bauch heraus.
({27})
Ich habe mir die Zahlen genau angeschaut und komme zu
dem Schluss, dass es nicht eine nachhaltige Entlastung,
sondern eine nachhaltige Belastung der Menschen gibt. Ich
nenne beispielsweise die Aussetzung der für 2003
geplanten Steuerentlastung, die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung, die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze in
der gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Erhöhung
der Beitragssätze in der Renten- und in der Krankenversicherung, obwohl wir vor der Wahl immer hörten, das würde
nicht geschehen. Aber einen Tag nach der Wahl ist die
Wahrheit auf den Tisch gekommen. Es handelt sich dabei
um Größenordnungen, die fassungslos machen.
({28})
Hinzu kommen Erhöhungen bei der Mehrwertsteuer
und die stärkere Besteuerung von Gas und Benzin. Außerdem schaffen Sie die Eigenheimzulage ab.
({29})
Das trifft die Familien bis ins Mark;
({30})
denn die Familien haben dann mindestens 200 Euro pro
Monat weniger in der Tasche. Rechnen Sie es ruhig einmal
nach! „FAZ“ und „Spiegel“ - Sie können es dort nachlesen; ich weiß nämlich, Sie glauben unseren Worten ungern
({31})
- ich weiß, dass es manchen schwer fällt zu lesen - haben
ausgerechnet, dass vielen Familien sogar 300 Euro im
Monat fehlen werden.
({32})
Das bedeutet im Jahr ein Minus von 3 600 Euro, was drei
Monatsgehältern einer Verkäuferin entspricht. Wer geglaubt hatte, dass Familien in Zukunft von Rot-Grün materiell besser gestellt würden, der muss jetzt sagen, dass
die Familien in diesem Land ärmer werden, wenn es so
weitergeht. Deshalb sage ich: Denken Sie um! Ändern Sie
Ihre Politik! Lassen Sie den Familien wieder Luft zum Atmen! So kann es nicht weitergehen.
({33})
Frau Kollegin Böhmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?
Aber gern.
Bitte schön, Frau Kressl.
Frau Kollegin Böhmer, Sie haben gerade das Beispiel
aus dem „Spiegel“ zitiert. Wollen Sie die von uns vorgesehene Besteuerung der Aktiengewinne ernsthaft als
eine Belastung der Familien verkaufen? Das kann doch
nicht wahr sein!
({0})
Liebe Frau Kollegin, Sie haben sicherlich selbst in
Ihrem persönlichen Umfeld registriert, dass Aktien nicht
mehr nur eine Sache der Reichen und der Großen in diesem Land sind. Vielmehr ist es so, dass viele Menschen
- das sind die Kleinaktionäre - ihre Altersvorsorge auf
Aktien bauen.
({0})
Mit der von Ihnen geplanten Besteuerung kommt diese
Art der Altersversorgung erheblich ins Wanken.
({1})
Wenn Sie bezweifeln, dass dem so ist, dann schauen
Sie sich doch einmal die entsprechenden Berechnungen
an. Glauben Sie mir: Sie können die Menschen in diesem
Land nicht verdummen. Jeder hat Rechnen gelernt und
kann zwei und zwei zusammenzählen. An dieser Erkenntnis ändert auch die PISA-Studie nichts. Deswegen
werden Sie eines Tages die Quittung dafür bekommen.
({2})
Was dieser Coup, die Eigenheimzulage zu streichen,
bedeutet, spüren viele Familien jetzt sehr deutlich. Dabei
geht es nicht um ein paar Euro mehr oder weniger. Die
Umstellung der Eigenheimförderung führt unter dem
Strich zu einem Betrag in Höhe von 13 000 Euro pro
Familie weniger. Das bedeutet, eine Familie müsste sechs
Kinder haben, um überhaupt in den Genuss der neuen Förderung - Sie haben gesagt, Sie wollen ausschließlich Familien mit Kindern fördern - zu kommen.
Sie müssen die Augen geschlossen haben, weil Sie
nicht sehen, dass sich gerade diejenigen, die eine Familie
gründen wollen, vorher Eigentum anschaffen wollen, damit sie in Zeiten der stärksten Belastung weiter vorankommen können.
({3})
Frau Kollegin Böhmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Ja.
Bitte schön, Herr von Klaeden.
Frau Kollegin Böhmer, finden Sie nicht auch, dass der
Einwand der Kollegin von der SPD in Bezug auf die
Berechnung des „Spiegel“ ziemlich irrelevant ist, wenn
man zur Kenntnis nimmt, dass der „Spiegel“ von den
300 Euro, die Sie pro Monat angeführt haben, lediglich
10 Euro auf die Wertpapierbesteuerung zurückführt?
({0})
Es ist völlig zutreffend, dass die großen Beträge aus
ganz anderen Bereichen kommen. Deshalb habe ich soeben auf den Wegfall der Eigenheimzulage und auf die
Anhebung der Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung hingewiesen. Das sind die großen Belastungen,
die auf die Menschen zukommen. Wir sind mittlerweile
bei einer Steuer- und Abgabenlast von über 56,6 Prozent
in unserem Land. So werden Familien geschröpft, so kann
es nicht weitergehen.
({0})
Ich will noch ein Wort zu einer Debatte sagen, die
zurzeit zwar beendet ist, von der wir aber alle befürchten, dass sie wieder aufflammt. Wir haben erleben müssen, dass Sie das Ehegattensplitting abschmelzen wollten.
({1})
Das wäre der Einstieg in den Ausstieg gewesen. Dahinter
verbarg sich nicht nur die Absicht mit der Reduzierung
des Ehegattensplittings Finanzmittel für einen guten
Zweck, nämlich für den Ausbau der Kinderbetreuung,
freizumachen, sondern dahinter steht im Grunde genommen die Absicht, dass man Menschen nicht mehr frei entscheiden lassen will, wie sie ihr Leben gestalten wollen.
({2})
Das ist der Punkt, um den es eigentlich geht.
({3})
Frau Ministerin Schmidt, Sie waren gut beraten, dass
Sie die Notbremse gezogen haben, obwohl Sie selbst jahrelang die Kappung des Ehegattensplittings gefordert haben. Sie haben sich die Konsequenzen genau angeschaut,
gerechnet und dabei gemerkt, dass davon die Facharbeiter und vor allen Dingen in großem Umfang die Familien
betroffen wären. 5 Millionen Familien mit Kindern wären
von der Kappung des Ehegattensplittings betroffen gewesen. Damit hätten wir erneut erfahren müssen, was Familienförderung durch Rot-Grün bedeutet: Familien müssen
für Familien zahlen. So kann Familienförderung nicht gestaltet werden.
Sie haben in den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen das
zentrale gesellschaftliche Reformvorhaben der Koalition
gestellt: Es sollen 10 000 Ganztagsschulen und 20 Prozent mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren
geschaffen werden.
({4})
Wenn das alles so käme, wäre das eine Leistung, von der
man sagen könnte: Respekt.
({5})
Das sage ich Ihnen hier auch ganz deutlich - denn wir sind
uns alle miteinander darüber im Klaren -: Wenn es um die
bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, kommt
der Weiterentwicklung der Kinderbetreuung und dem
Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsplätzen im
Kindergarten ein hoher Stellenwert zu.
Ich muss Ihnen aber auch sagen: Sie haben bei der Frage der Finanzierung auf Sand gebaut. Es geht um 4 Milliarden Euro. Aber in der Koalitionsvereinbarung habe ich
gelesen, dass die 4 Milliarden Euro zwischen 2003 und
2007 - das ist eine Zeitspanne von fünf Jahren - aufgewendet werden sollen. Der Bundeskanzler sprach von
4 Milliarden Euro in vier Jahren. Hier gibt es schon binnen weniger Tage die erste Unklarheit. Was gilt denn eigentlich? Wie lange wollen Sie finanzieren? Wozu kann
man dieses Geld verwenden? Es darf nicht für Personalkosten verwendet werden. Es darf nur für Sachkosten verwandt werden. Aber welches sind denn die Hauptkosten
bei einer Umwandlung einer Schule in eine Ganztagsschule? - Dies sind doch nicht die Sachkosten, sondern im
Wesentlichen die Personalkosten! Sie aber geben nur Almosen, ändern aber nicht wirklich etwas an der Finanzsituation von Ländern und Kommunen.
({6})
Sie hängen Länder und Kommunen an den Tropf. So
kann es nicht weitergehen. Wir brauchen eine ordentliche
Gemeindefinanzreform, sodass diese Aufgabe auch so
wahrgenommen werden kann, wie es sich gehört.
({7})
Noch etwas muss hinzukommen: Es wird immer wieder das Märchen verbreitet - auch Frau Bulmahn hat es
heute wieder getan und ich lese es allenthalben -, die
Ganztagsschulen hätten sozusagen den Wundereffekt,
dass sie die Bildung in Deutschland auf ein Niveau anheben, mit dem wir endlich wieder an der Spitze aller Länder liegen würden.
Liebe Frau Ministerin Bulmahn, der Blick nach Nordrhein-Westfalen sollte Sie eigentlich eines Besseren belehren. Dort gibt es die größte Zahl von Ganztagsschulen,
({8})
nämlich die Gesamtschulen. Damals hat man die Gesamtschulen extra als Ganztagsschulen ausgestattet, um sie
schmackhaft zu machen. Sie waren nämlich kaum an das
Kind zu bringen. Die Eltern haben gefragt: Was geschieht
denn dort eigentlich? - Gemäß Ihrer Theorie müsste Nordrhein-Westfalen den Spitzenplatz bei der Bildung innehaben. Aber was ist? - Nordrhein-Westfalen ist weit davon
entfernt.
Dort, wo wir ein anderes System haben, wo Inhalte
noch zählen, wo Lehrerbildung noch etwas wert ist, wo
Lehrer nicht beschimpft, sondern unterstützt werden, ist
die Bildung in unserem Land am besten. Deshalb ist
nicht die Ganztagsschule der Schlüssel dazu, sondern
mehr Qualität im Bildungswesen. Auf die Inhalte kommt
es an.
({9})
Ich halte auch eine ganze Menge davon, sich hier nicht
in organisatorischen Fragen und Finanzfragen zu verfransen. Wir müssen uns vielmehr die Fragen stellen: Was
wird in Ganztagsschulen vermittelt? Welche Erziehungsinhalte werden in Ganztagsschulen weitergegeben? Dies sind für mich die Kernfragen. Dies gilt genauso für
die Betreuung der Kinder im Kindergartenalter und der
Kinder unter drei Jahren. Es geht um Qualität, um Erziehung und um Bildung. Dies sind die kostbarsten Güter,
die wir unseren Kindern mitgeben müssen. Darüber werden wir hier trefflich streiten.
Wir werden auch darüber streiten, wie es mit den Familien in unserem Land weitergeht. Es reicht nicht aus,
4 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen und ein Phantom aufzubauen, welches lautet: Wir werden über das
Hartz-Konzept die Betreuung der Kinder unter drei Jahren finanzieren. Liebe Frau Ministerin, hier muss schon
etwas Handfesteres her.
Wir werden hier in diesem Parlament und draußen Anwalt der Familien und Kinder in unserem Land sein, denn
die Zukunft liegt bei den Familien und den Kindern. Dem
werden wir Rechnung tragen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Ministerin Schmidt, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem
Amt, von dem ich meine, dass es eines der wichtigsten im
Kabinett ist.
({0})
Nun komme ich zu der Kollegin Böhmer. Frau Böhmer,
ich habe Sie als redliche Kollegin gekannt und Sie haben
gesagt, man dürfe die Menschen nicht verdummen. Was
Sie aber gerade in Ihrem Redebeitrag gemacht haben, war
die reinste Verdummung.
({1})
Sie haben behauptet, Rot-Grün schaffe die Eigenheimzulage ab. Dies haben Sie wörtlich so gesagt. Dies tun wir
nicht. Wir widmen sie um, damit Familien mit Kindern
mehr davon haben.
({2})
Dies stimmt also nicht.
Auch die Zahlen, die Sie genannt haben, stimmen
nicht.
({3})
Dazu, dass Sie uns jetzt mit Zahlen aus einzelnen Bundesländern kommen, um zu zeigen, wie die Situation dort
ist, kann ich nur sagen: Bringen Sie diese erst einmal in
dem jeweiligen Landesparlament vor.
({4})
Eigentlich müssten Sie auch sehen, dass NordrheinWestfalen eine niedrige Frauenerwerbsquote hat, weil
es das Land von Kohle und Stahl war. An dieses Problem müssen wir schon etwas differenzierter herangehen.
({5})
- Natürlich sind wir im Strukturwandel.
({6})
Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie haben die Quittung ja bekommen. Die Frauen haben die Wahl für RotGrün entschieden. Das hat natürlich etwas mit unserem
Gesellschaftsbild zu tun.
({7})
Wir schaffen Rahmenbedingungen, damit sich Frauen
tatsächlich frei entscheiden können, wie sie leben wollen.
Dieses Gesellschaftsmodell war für die Frauen bei der
Wahl entscheidend. Das sage nicht nur ich, das sagt eine
Studie von Infratest-Dimap.
Frau Merkel hat ja Recht, wenn sie sagt, ihre Partei
brauche eine neue Strategie zugunsten der Frauen. Nur
durchsetzen kann sie diese nicht. Heim-und-Herd-Prämien wollen die Frauen nicht. Das haben sie deutlich gemacht.
({8})
Sie wollen ihre Kinder gut betreut wissen, wenn sie sich
für den Verbleib im Beruf entscheiden. Das sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Wenn Frau Merkel gestern im
Zusammenhang mit der Finanzierung von 10 000 Ganztagsschulen von Brosamen spricht, dann hat sie offensichtlich doch noch nichts begriffen.
({9})
Für Bündnis 90/Die Grünen ist die Gleichstellung von
Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt ein zentrales gesellschaftliches Reformprojekt. Dies wird künftig
regelmäßig im Bündnis für Arbeit auf der Tagesordnung
stehen. Es kann doch wohl nicht angehen, dass Frauen,
obwohl sie seit geraumer Zeit besser qualifiziert sind als
Männer, in keiner der 100 größten deutschen Aktiengesellschaften einen Vorstandsposten haben oder dass
Frauen im 21. Jahrhundert im Schnitt 25 Prozent weniger
verdienen als Männer. Das ist doch ein Skandal!
({10})
Das Institut der deutschen Wirtschaft stellt dazu fest:
Wenn die Lohnangleichung in unverändertem Tempo
weitergeht, wird es 86 Jahre dauern, bis die Frauen das
Gleiche verdienen wie Männer.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, so lange wollen
die Frauen nicht warten. Darum schaffen wir jetzt Maßnahmen und handeln schnell.
({11})
- Das kommt jetzt. - Wir haben unser Instrumentarium erweitert. Neben der klassischen Gleichstellungspolitik
werden wir mit Gender Mainstreaming in allen Ressorts
von Anfang an geschlechterdifferenzierte Regelungen
treffen. Ich nenne an diesem Punkt ausdrücklich das
Hartz-Konzept; es ist in diesem Punkt noch ergänzungsbedürftig.
Wir wollen auch sicherstellen, dass der Staat geschlechtergerecht haushaltet. Das heißt mit einem Fremdwort
„Gender Budgeting“. Dies werden wir in einem Kompetenzzentrum umsetzen. Wir bekommen dafür Rückenwind
aus Europa. Denn sehr schnell werden wir eine EU-Gleichbehandlungsrichtlinie umsetzen, die bei mittelbarer Diskriminierung und bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz neue Regelungen vorsieht und die Schaffung eines
Verbandsklagerechtes ermöglicht. Das sind nur einige
Stichworte.
({12})
Ende 2003 werden wir nach der Auswertung der Vereinbarung der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft auch
gesetzliche Regelungen für die Privatwirtschaft einführen.
Daneben schaffen wir Anreize für die Wirtschaft: Bei der
Vergabe öffentlicher Aufträge werden wir die Förderung der
Gleichstellung in den Unternehmen berücksichtigen.
({13})
In einem weiteren Politikbereich können wir Erfolge
vorweisen: der Seniorenpolitik. Wir werden in den nächsten Jahren ein neues Altenhilfestrukturgesetz schaffen.
Ich habe mich sehr gefreut, Frau Ministerin, dass eine Ihrer ersten Aktionen eine Charta für Hilfsbedürftige sein
soll. Ich glaube, eine Enquete-Kommission „Menschen in
Heimen“ könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten.
({14})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Noch ein Wort zur CDU: Sie
sind einfach schlechte Verlierer.
({0})
Als Rot-Grün nach zwei Jahren eine bundeseinheitliche
Altenpflegeausbildung beschlossen hatte, was Ihnen in
zehn Jahren nicht möglich gewesen ist, schickten Sie die
Bayern vor, um dieses Gesetz zu stoppen. Dieser Blockade hat Karlsruhe jetzt eine Absage erteilt.
({1})
Unseren Weg, einen anspruchsvollen Beruf aufzuwerten
und ihm die gesellschaftliche Anerkennung zu geben, die
er verdient, werden wir weitergehen, auch im Interesse
der Pflegebedürftigen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Schmidt, meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrem
neuen Amt! Ich wünsche Ihnen mehr Erfolg, als Ihrer Vor-
gängerin beschieden war. Ihr Ministerium bleibt bis auf
den Posten der neuen Staatssekretärin, die die Integra-
tionspolitik in Ihr Ministerium einbringt, ein blasses und
schwaches Ministerium mit geringer eigener gesetzgebe-
rischer Kompetenz.
Frau Schmidt, was finden Sie aus der letzten Legisla-
turperiode vor? Erfolge und Misserfolge, zum Beispiel in
der Steuerpolitik.
Erstens. Es gab eine Erhöhung des Kindergeldes für
Familien. Aber die letzte Kindergelderhöhung fiel ab dem
dritten Kind aus. Ist das gerecht?
Widerspruch der Abg. Nicolette Kressl [SPD])
- Das letzte Familienfördergesetz hat ab dem dritten Kind
keine Kindergelderhöhung gebracht. Das wissen Sie ganz
genau, Frau Kressl.
Zweitens. Herr Eichel hat heute - ich habe, wie Sie sicherlich auch, Frau Ministerin, sehr genau zugehört - ausgeschlossen, dass es in den nächsten vier Jahren mehr
Kindergeld geben wird. Ist das gerecht?
({0})
Drittens. Ich nenne die Steuermehrbelastung für Alleinerziehende durch den Wegfall des Haushaltsfreibetrages. Ist das gerecht? Frau Ministerin, ich habe mir Ihr
Buch gekauft
({1})
und habe es mir sehr genau durchgelesen. Ich fordere Sie
auf: Machen Sie etwas für die Alleinerziehenden, die diese
Steuerentlastung nicht mehr in Anspruch nehmen können.
({2})
Viertens. Der Wegfall der Steuerentlastung bei den Familien bedeutet für sie, netto über weniger zu verfügen.
Fünftens - das ist mein letztes Beispiel -: Die Erhöhung des BAföG bei gleichzeitiger Kürzung des Freibetrages für Eltern, deren Kinder auswärts studieren, bedeutet eine finanzielle Umschichtung bei den Familien.
Frau Kressl, schauen Sie einmal in das 2. Familienfördergesetz hinein. Dann sehen Sie, dass mindestens ein Drittel der Familien dieses Familienfördergesetz, das Sie so
loben, selber finanziert hat.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Es gibt Licht
und Schatten. Eine Glanzleistung war das nicht. Unser nein, Ihr - Kanzler
({4})
hat anlässlich seiner Regierungserklärung vor vier Jahren
folgendes Versprechen gegeben - ich zitiere das für die
neuen Mitglieder, die in dieser Legislaturperiode ihre Arbeit beginnen -:
Ein ausreichendes Angebot an Kindertagesstätten
und Ganztagsbetreuung ist zu gewährleisten.
Dieses Wahlversprechen von 1998 hat er eindeutig gebrochen. In vier langen Jahren Rot-Grün haben Sie nichts,
aber auch wirklich gar nichts gemacht. Und jetzt behaupten Sie, Sie fangen an.
({5})
Sie beginnen aber nicht mit einer finanziellen Förderung
der Kommunen, sondern mit dem Betreuungsgipfel.
Frau Bergmann wollte vor der Bundestagswahl einen so
genannten Betreuungsgipfel einrichten. Das bedeutet,
dass sich die Kommunen, die Länder und der Bund treffen und besprechen, wie sie zu mehr Kinderbetreuung
kommen wollen. Mehr hat der Bundeskanzler derzeit
nicht im Hut.
Frau Schmidt, erst ab 2004 will der Bund die Kinderbetreuung für unter Dreijährige finanziell unterstützen.
Sie haben diese Betreuung im Wahlkampf aber doch versprochen! Kommen Sie mir nun nicht mit den Ländern.
Die Länder müssen sich natürlich auch beteiligen; denn
Sie werden nie so viel Geld geben, dass es ausreicht.
Meine Frage an Sie, Frau Schmidt, lautet: Warum unterstützen Sie das nicht jetzt und sofort?
({6})
Bereiten Sie im Haushalt 2003 die Grundlage für mehr
Kinderbetreuung. Fangen Sie sofort an. Die Haushaltsberatungen stehen doch an.
({7})
Sie könnten einen wichtigen Akzent setzen. Dann haben
Sie in diesem Punkt auch bei mir Erfolg.
Die Grünen nehmen den Mund immer zu voll. Am
18. April dieses Jahres - daran kann ich mich sehr gut erinnern, weil ich an diesem Tag Geburtstag habe - haben
die Grünen, liebe Kollegin Schewe-Gerigk, im Deutschen
Bundestag für die nächste Legislaturperiode eine Kindergrundsicherung gefordert. Bis jetzt: Fehlanzeige.
({8})
Abschaffung des Ehegattensplittings ist nicht. Bezüglich der steuerlichen Absetzbarkeit der Kinderbetreuung
habe ich im Koalitionsvertrag nur vage Versprechungen
gelesen. Dies geht nur, wenn Herr Eichel Ihnen als
Frauen- und Familienpolitikerin die Möglichkeit dazu
gibt. Bei einem Haushaltsdefizit von 3 Prozent glauben
Sie doch wohl kaum, dass Ihnen Herr Eichel 2003 oder
2004 mehr Geld zur Verfügung stellen wird. Die Arbeitslosigkeit steigt. Es wird nicht zu einer niedrigeren Arbeitslosigkeit, mit der Sie immer rechnen, kommen. Sie
werden nicht mehr Steuern einnehmen, um das alles bezahlen zu können.
Ein Lieblingsthema der Grünen, das ich unbedingt ansprechen möchte, ist die Aussetzung oder Abschaffung
der Wehrpflicht. Dieser Bereich fällt auch in die Zuständigkeit unseres Ministeriums. Hierzu findet sich auf einer
hinteren Seite des Koalitionsvertrages ein müder Prüfvermerk. Ihre Vorgängerin, Frau Schmidt, hat - das ist eine
Kritik, die ich schon öfter deutlich geäußert habe - keinerlei
Anstalten gemacht, neue Konzepte für den Zivildienst und
für die wichtige Zukunftsaufgabe, nämlich die neuen
Rahmenbedingungen für das freiwillige bürgerschaftliche
Engagement, zu erarbeiten. Hier hat die FDP in der letzten Legislaturperiode Initiativen eingebracht. Wir Liberale wollen eine bessere Grundlage für junge Leute, die
sich ehrenamtlich engagieren wollen.
({9})
Die neue Familienministerin hat ein Buch geschrieben;
darauf bin ich schon zu sprechen gekommen. Ich weise
Sie auf das Kapitel hin, in dem es um ihre Wohnprobleme
und um die Baukostenzuschüsse, die sie damals mit ihrer
jungen Familie nicht erhielt, geht. Die aktuelle Diskussion, in der ich Frau Böhmer nur unterstützen kann, betrifft die Eigenheimzulage. Die Bundesregierung will
hier einen Kahlschlag betreiben.
Ich komme aus einer ländlichen Region. Ein eigenes
Haus gehört hier besonders für Familien mit Kindern
zur Lebensqualität; es ist auch ein Stück Altersvorsorge.
Die Regierung will jungen Ehepaaren, die noch Kinder
bekommen wollen, die Unterstützung für ein Eigenheim streichen. Was ist das eigentlich für ein Familienbild?
({10})
Wollen Sie vorschreiben, dass ein Paar erst Kinder bekommen muss, um ein Haus finanzieren zu können? Hier
greifen Sie in die finanzielle Lebensplanung ein. Man
kann es nicht nur aus dem Blickwinkel der SPD betrachten. Wir sind Liberale und schauen rundum. Wie sagen Ihnen: Lassen Sie das.
({11})
Die neue Eigenheimförderung, so wie sie angedacht ist,
wird bei einem Neubau erst ab vier Kindern gezahlt. So
werden Sie es nie schaffen.
Frau Kollegin Lenke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gut, dann lasse ich das mit Frau Schmidt.
({0})
Ich habe ja schon genügend an sie weitergegeben. Ich
komme jetzt zum Schluss.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich für die Gruppen in unserer Gesellschaft, auf die der Ausschuss ausgerichtet ist, nämlich für die Frauen, die Familien, die Senioren und die Jugend, intensivst engagieren. Dazu gehört
eine aktive Wirtschaftspolitik, die Arbeitsplätze schafft,
eine Arbeitsmarktpolitik, die Menschen aktiviert, und
eine verlässliche Politik, die von nicht gebrochenen
Wahlversprechen, sondern von Taten lebt. Tun Sie etwas,
dann sind wir dabei.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst darf ich Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin, auch im
Namen meiner Fraktion zur Übernahme des Amtes gratulieren und Ihnen viel Erfolg wünschen. Wir können Ihnen
versichern, dass Sie für die Vorhaben die Unterstützung der
beiden Koalitionsfraktionen bekommen werden.
({0})
Sehr geehrte Frau Böhmer, Sie haben, wenn ich richtig
zugehört habe, unheimlich viel von der Vergangenheit gesprochen.
({1})
Genau das hat Ihre Politik in den letzten Jahren geprägt
({2})
und genau das hat die vielen jüngeren Frauen dazu gebracht, sich bei der Bundestagswahl am 22. September
nicht für die CDU/CSU, sondern für die beiden Parteien,
die die Regierung stellen, zu entscheiden.
({3})
Das ist nicht aus dem hohlen Bauch geredet, das können
Sie nachlesen.
({4})
Sie haben zum Beispiel formuliert, Sie hätten sich
schon immer die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf
die Fahnen geschrieben.
({5})
Das war die richtige Formulierung. Sie haben es sich immer auf die Fahnen geschrieben. 16 Jahre lang haben Sie
aber überhaupt nichts dafür unternommen. Genau das haben die Frauen gemerkt.
({6})
Dazu will ich Ihnen noch ein Wort sagen: Gestern habe
ich ein wenig in den dpa-Meldungen nachgelesen. Sie sagen immer noch, dass das Familiengeld für die Frauen
und Familien wichtig sei. Das glauben Sie dann womöglich auch noch. Die Situation ist folgende: Sie sagen, dass
Sie den Familien Geld in die Hand geben, womit automatisch für eine bessere Betreuung gesorgt sei. Genau das ist
in manchen fehlgeleiteten Volkswirtschaften auch passiert. Geld war zwar vorhanden, aber es gab nichts zu kaufen. Wir dürfen den Menschen nicht nur Geld in die Hand
geben, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass die
Betreuungsangebote wirklich vorhanden sind; so muss
es laufen.
({7})
Wenn Sie nicht dafür sorgen, dass Betreuungsangebote
geschaffen werden,
({8})
dann passiert Folgendes: Es glaubt Ihnen niemand, dass
Sie wirklich nicht damit rechnen, dass einer der Partner
doch zu Hause bleibt, weil zwar das Familiengeld vorhanden ist, es aber keine Betreuungseinrichtungen gibt.
({9})
Ich glaube, genau diese Taktik haben die Menschen vor
der Wahl durchschaut.
({10})
Wir streben wirklich die Verbesserung der Betreuungsangebote an. Darauf muss in dieser Legislaturperiode
Wert gelegt werden.
({11})
Ich finde eine Sache besonders pikant, Frau Lenke. Sie
haben gefragt: Warum tun Sie nicht noch mehr? - Länder
und Kommunen haben die formale Verantwortung für die
Betreuungsangebote. Ich halte es für unglaublich, dass
Sie hier so tun, als sei die Entscheidung, 4 Milliarden Euro
in diesem Bereich auszugeben, kein Anstoß, der die gesellschaftspolitisch notwendige Diskussion voranbringt.
Aber wir lassen nicht zu, dass die Verantwortlichkeiten
verzerrt werden.
Wir tragen unseren Teil dazu bei, weil wir uns entschieden haben. Es reicht nicht, nur zu erklären: Familie
und Beruf müssen vereinbar sein. Die Verantwortlichkeiten liegen nämlich bei Ländern und Komunen. Wir erleben dann, dass die Menschen unzufrieden sind, weil sich
nichts bewegt hat.
Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lenke?
Aber sicher.
Frau Kressl, ich bin seit 21 Jahren Kommunalpolitikerin.
({0})
Sie brauchen mir nicht zu erzählen, dass die Gemeinde die
Verantwortung trägt. In meiner Gemeinde habe ich dieses
Betreuungsangebot, auch mit SPD-Frauen, sehr gut hinbekommen: verlässliche Schulen, Kindergarten, Hort und
anderes.
({1})
- Meine Frage kommt jetzt. Diese Bundesregierung hat
ein Wahlversprechen auf der Grundlage abgegeben, dass
Länder und Kommunen für die Kinderbetreuung verantwortlich sind. Jetzt werfen Sie mir genau das vor. Was
meinen Sie nun wirklich?
Ich kann Ihre Argumentation überhaupt nicht nachvollziehen. Wir wissen beide: Ihr Wahlversprechen haben
Sie bisher nicht eingelöst. Kinder unter drei Jahre warten
sechs Jahre.
Sehr geehrte Frau Lenke, dass Sie meine Argumentation nicht nachvollziehen können, mag unter Umständen
auch an Ihnen liegen.
({0})
Ich kann es Ihnen gerne noch einmal erklären. Wir haben
uns entschieden, in diesem Bereich Anstöße zu geben. In
Bezug auf Kinder von null bis drei Jahren ist festgelegt,
dass im Rahmen der Einsparungen der Hartz-Vorschläge
die Kommunen um exakt diese 1,5 Milliarden Euro entlastet werden sollen,
({1})
sodass sie damit die Grundlagen für die Erfüllung der Betreuungsquote von 20 Prozent schaffen können.
({2})
Ich sage Ihnen noch etwas: Ich halte es für nicht nur pikant, sondern sogar für wirklich problematisch, wenn Sie
hier so tun, als sei der Bund verantwortlich. So haben Sie
es vorhin formuliert.
({3})
Sie haben noch einen anderen Punkt angesprochen, auf
den ich Ihnen gerne eine Antwort gebe. Im Rahmen der
Reform der Gemeindefinanzen werden wir die Kommunen nicht nur um die 1,5 Milliarden Euro entlasten, die wir
für die Betreuungseinrichtungen für Kinder von null bis
drei Jahren brauchen, sondern wir werden den Kommunen im Rahmen einer Reform der Gewerbesteuer eine
verlässliche und vor allem gleichmäßige Grundlage zur
Finanzierung ihrer Aufgaben ermöglichen.
({4})
Zurück zu der Frage der Kindertagesbetreuung. Frau
Böhmer, ich möchte eine Erklärung zu dem, was Ihnen so
unverständlich war, geben. Sie wollten wissen, ob die
4 Milliarden Euro in vier oder fünf Jahren zur Verfügung
gestellt werden.
({5})
Jeder, der sich im Haushalt ein bisschen auskennt, weiß,
dass eine Finanzierung langsam angegangen werden
muss. Wenn Sie sich diese Finanzierung anschauen, dann
sehen Sie, dass der Betrag, der tatsächlich abgerufen werden kann, in diesem Jahr eingestellt ist. Die exakte
Summe wird in den weiteren vier Jahren in den Haushaltsplänen vorgesehen.
Ich möchte noch gerne auf einen Widerspruch bei Ihnen aufmerksam machen. Wenn ich richtig zugehört habe,
dann hat Frau Reiche vorhin erklärt, die Ganztagsbetreuung sei vor allem eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie, Frau Böhmer, haben ein pädagogisches Konzept gefordert.
({6})
Natürlich brauchen wir ein pädagogisches Konzept. In
der Koalitionsvereinbarung ist dies auch formuliert. Aber,
Frau Böhmer, dann könnten Sie vielleicht dem Plenum
die Frage beantworten,
({7})
warum sich gerade die CDU-geführten Bundesländer im
Moment weigern, an dieser Konzeption mitzuarbeiten.
Diese sind nämlich nicht bereit, ein pädagogisches Konzept zur Verfügung zu stellen. Das nämlich ist die Situation: Alle CDU-regierten Bundesländer wollen nur das
Geld; sie wollen kein pädagogisches Konzept mit einbeziehen.
({8})
Sie sollten sich einmal darum kümmern, was tatsächlich
in Ihren Bundesländern vorgeht.
Wenn schon davon die Rede ist, wie ernst die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Bundesländern genommen wird, dann können Sie sicherlich auch erklären,
warum es gerade in Sachsen-Anhalt massive Proteste gibt:
Seit dort eine CDU-geführte Landesregierung im Amt ist,
sind die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren so stark reduziert worden, dass sich die Menschen in ihrer freien Entscheidung für eine Lebensform eingeschränkt
fühlen. Sie sollten also mit Ihren Länderbeispielen sehr vorsichtig sein, solange wir, wie gegenwärtig, erleben, dass in
den CDU-geführten Ländern Entscheidungen gegen die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf getroffen werden.
({9})
Ich will es noch einmal betonen: In beiden Fällen - sowohl bei Betreuungsmöglichkeiten für Kinder von null
bis drei Jahren als auch bei den Ganztagsschulen - liegt
die Zuständigkeit formal nicht bei uns.
({10})
In beiden Fällen haben wir uns aber dafür entschieden,
Mittel zur Verfügung zu stellen, weil wir es nicht länger
akzeptieren, dass nur über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geredet wird, ohne dass auch gehandelt
wird.
({11})
Wir sind diejenigen, die in den nächsten vier Jahren endlich Bewegung in diesen Politikbereich bringen werden.
({12})
Wir setzen uns - das betone ich noch einmal ausdrücklich - auch deshalb für pädagogische Konzepte bei den
Ganztagsschulen ein, weil wir es für eine wichtige Kombination halten, zum einen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sorgen, zum anderen aber in Zusammenarbeit von Familie und Betreuungseinrichtungen
schon im frühkindlichen Alter die Grundlagen dafür zu
schaffen, dass wir im Bildungsbereich wieder eine Spitzenposition erlangen.
({13})
Denn es ist notwendig, auch den Kindern - gerade den
Kleinen - Freude am Lernen zu vermitteln und bei ihnen
Neugierde auf Wissen, Interesse an der Umwelt, Toleranz
und Teamfähigkeit zu entwickeln.
({14})
Es ist uns ein wichtiges Anliegen, in diesem Bereich
Chancengleichheit für Frauen und Männer zu schaffen.
Im Übrigen ist es auch volkswirtschaftlich von Interesse,
die Talente und Fähigkeiten der jungen Menschen nicht
brachliegen zu lassen. Deshalb werden wir auch einen
Schwerpunkt auf die Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots legen.
({15})
Im Rahmen der Entscheidung für ein selbst bestimmtes Leben werden wir uns neben der Frage der Kinderbetreuung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch
- Frau Ministerin hat es schon erwähnt - um die Chancengleichheit für Frauen am Arbeitsplatz und in der
Wissenschaft bemühen, und zwar nicht nur, weil es sich
dabei um eine Gruppe handelt, die Unterstützung braucht,
sondern weil staatliches Handeln auch darauf angelegt
sein muss, Strukturen aufzubrechen, die Chancengleichheit verhindern.
({16})
Das ist der Weg, den wir mit unserer Gleichstellungsgesetzgebung gehen werden.
({17})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin Kressl!
Jawohl. - Wir wollen die Rahmenbedingungen für die
Möglichkeit eines selbst bestimmten Lebens in der Familie und die freie Entscheidung für eine Lebensform schaffen. Wir wollen gleiche Chancen für Männer und Frauen
- beispielsweise auch im Bereich der Migranten und Migrantinnen - erreichen. Mit diesen Zielen setzen wir unsere Koalitionsvereinbarungen um. Nachdem wir gehört
haben, dass sich die CDU/CSU immer noch mit der Vergangenheit beschäftigt, möchte ich an dieser Stelle betonen, dass wir in den nächsten vier Jahren die Zukunft gestalten werden.
Vielen Dank.
({0})
Weil wir die Redezeit weit überschritten haben, möchte
ich ankündigen, dass ich keine Kurzinterventionen und
keine Zwischenfragen mehr zulassen werde. Ich bitte um
Ihr Verständnis.
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Maria
Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Schmidt, wir kennen uns nicht nur
vom Bundestag, sondern auch von vielen Diskussionen
her. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr Amt gut ausfüllen
werden. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit und
gratuliere Ihnen zu Ihrem neuen Amt.
({0})
Familien sind die erste und wichtigste Instanz für Erziehung, Persönlichkeits- und Charakterbildung, für
das Entstehen von Vertrauen und Bindung.
Sehr geehrte Frau Ministerin, das haben Sie am 29. Mai
dieses Jahres gesagt. Darin kann ich Ihnen nur zustimmen. Wenn Sie aber dieser Meinung sind, dann erwarte
ich auch, dass Sie etwas für die Familien tun.
Der Deutsche Familienverband, dessen Präsidentin Sie
seit Mai sind, hat zur Situation der Familien in Deutschland
festgestellt:
Die teure Steuerreform hat Familien mit Kindern
weniger als Arbeitslosen gebracht, und zwar umso
weniger, je mehr Kinder sie haben ... Die familienfeindlichen Verbrauchsteuern steigen weiter, sodass
Familien einen großen Teil der angeblichen Vergünstigungen aus eigener Tasche zahlen.
In der Präambel zum Koalitionsvertrag steht:
Die Stärkung von Familien und Beziehern von kleinen und mittleren Einkommen werden wir fortsetzen.
Die nächste Stufe der Steuerreform, durch die Familien entlastet werden sollten, ist aber bekanntlich verschoben worden. Sonstige finanzielle Förderung von Familien ist im
Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Ich kann Ihrem sehr
geschätzten Vorgänger im Amt des Präsidenten des Deutschen Familienverbands nur zustimmen, wenn er sagt:
Familie hat sich schon immer gut als Wahlkampfthema geeignet, um danach in der politischen Versenkung zu verschwinden.
Wir werden dafür sorgen, dass es so weit nicht kommt.
({1})
Im Wahlkampf sprachen die Grünen noch von einer Erhöhung des Kindergeldes auf 400 Euro, während Sie von
der SPD 300 Euro wollten. Davon haben Sie sich offensichtlich verabschiedet. Leider gilt auch hier: Versprochen, gebrochen! Die Familienarmut in Deutschland ist
erschreckend. Kinder sind bei uns ein Armutsrisiko. Das
ist skandalös. Das gegenwärtige Kindergeld in Höhe von
153 Euro deckt in keiner Weise die Lebenshaltungskosten
eines Kindes, die 300 bis 400 Euro pro Monat betragen.
Letzte Woche erreichte mich die E-Mail einer Frau, aus
der ich zitieren möchte:
Wie sollen die jungen Menschen noch motiviert
werden, eine Familie zu gründen, Verantwortung zu
übernehmen, wenn ihnen durch immer neue Negativmeldungen der Boden unter den Füßen weggezogen wird?
Wo die Frau Recht hat, hat sie Recht.
({2})
In Deutschland leben über 1 Million Kinder in der Sozialhilfe. Das ist für ein reiches Land eine unglaublich
hohe Zahl. Sie haben in der vergangenen Legislaturperiode die Kinder nicht aus der Sozialhilfe geholt. Durch Ihre
Politik werden die Kinder weiter in der Sozialhilfe bleiben müssen. Die Lasten für die Familien werden noch
größer. Die Ökosteuer, die fortgeführt wird, belastet Familien mit Kindern besonders stark; denn Familien sind
energieintensive Betriebe. Das beginnt bei der Wäsche
und reicht bis zu dem Bring- und Holservice der Eltern bei
verschiedenen Aktivitäten der Kinder. Die Situation von
Familien mit Kindern hat sich trotz höherer staatlicher
Leistungen nicht verbessert; denn das, was Sie in die eine
Tasche gesteckt haben, haben Sie den Familien aus der anderen Tasche wieder herausgezogen.
({3})
Alleinerziehenden - so ist die Beschlusslage - wird
der Haushaltsfreibetrag, der zuletzt 5 870 DM betragen
hat, stufenweise bis zum Jahr 2005 gestrichen. Dafür ist
keine Kompensation vorgesehen. Das heißt, Rot-Grün
streicht den Alleinerziehenden fast 1 Milliarde Euro. Ich
sage Ihnen: Die Einkommensschere zwischen den Familien mit Kindern und den Kinderlosen wird weiter auseinander gehen. Sie machen Familien ärmer, meine Damen
und Herren von Rot-Grün.
({4})
Die CDU/CSU-Fraktion hätte diese Entwicklung mit
dem Familiengeld gestoppt. Das Familiengeld erkennt die
Leistungen, die Familien für die Gesellschaft erbringen, an
und holt die Kinder aus der Sozialhilfe. Es verbessert die
Förderung gerade junger Familien und ist unabhängig von
der Erwerbstätigkeit der Eltern. Das ist doch die Voraussetzung für echte Wahlfreiheit. Aber das haben Sie immer noch
nicht begriffen, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
({5})
Eine Neukonzeption bei der staatlichen Familienförderung wäre notwendig, aber davon keine Spur bei Ihnen.
Dagegen beschneiden und belasten Sie Familien weiter.
Herausragendes Beispiel für die weitere Schwächung
von Familien ist die Abschaffung der Eigenheimzulage.
Eine Familie mit zwei Kindern erhält nach der neuen Regelung 41 Prozent weniger Eigenheimzulage beim Erwerb
von neu gebautem Wohneigentum als bisher. Die „FAZ“
hat es Ihnen vorgerechnet - ich kann Ihnen dieses Beispiel
nicht ersparen und muss es noch einmal vorbringen -: Unter der Überschrift „Eine teure Wahl“ hat die „FAZ“ am
22. Oktober geschrieben, dass Familien mit zwei Kindern
im Laufe von acht Jahren 13 520 Euro verloren gehen. Das
sind fast 1 700 Euro pro Jahr oder 140 Euro pro Monat - allein durch die Veränderung der Eigenheimzulage!
({6})
Ich kann dem grünen nordrhein-westfälischen Wohnungsbauminister Vesper nur zustimmen, wenn er sagt: Man darf
die Durchschnittsfamilie nicht über Gebühr bestrafen.
Eine wahre Strafsteuer für Familien wäre auch das Abschmelzen des Ehegattensplittings. Diese Pläne der
Grünen sind zwar zunächst vom Tisch,
({7})
doch hat Fritz Kuhn bereits angekündigt, das Thema
während der Legislaturperiode noch einmal aufs Tapet zu
bringen, wenn auch sicherlich nicht vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen.
({8})
Ich lese Ihnen hierzu eine Stellungnahme vor:
Schon heute tragen Familien 75 Prozent der Kosten, die
durch ein Kind entstehen, selber. Das vorgebliche Ziel
der Befürworter einer Umgestaltung des Ehegattensplittings, dass gut verdienende kinderlose Ehepaare
nicht bevorteilt werden sollen, bleibt eine Fiktion.
Sie haben leider nicht zugehört, Frau Schmidt, sonst hätten Sie erkannt, dass das Ihre Aussage vom 9. Oktober ist.
Wir sind uns mit Ihnen einig, Frau Ministerin, dass die
ideologisch motivierten Pläne der Grünen nicht verwirklicht werden dürfen.
({9})
Setzen Sie sich durch, Frau Ministerin! Unsere Unterstützung haben Sie. Eltern, die sich selbst um ihre Kinder kümmern wollen, dürfen nicht steuerlich benachteiligt werden.
({10})
Meine Damen und Herren, auch in der 15. Legislaturperiode wird uns das Thema Spätabtreibungen wieder beschäftigen müssen. Statt mit uns einen Weg zu finden,
Frauen in besonderen Konfliktsituationen nicht allein zu lassen und ihnen umfassende Hilfen anzubieten, hat die rotgrüne Koalition unseren Antrag „Vermeidung von Spätabtreibungen - Hilfen für Eltern und Kinder“ am 4. Juli dieses
Jahres im Deutschen Bundestag abgelehnt. Das war für
mich eine der größten Enttäuschungen der letzten vier Jahre.
Es war umso bedauerlicher, als die Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ einstimmig eine
gesetzliche Regelung der Spätabtreibungen empfohlen
hatte. Es ist untragbar, dass Kinder auch dann abgetrieben
werden, wenn sie bereits lebensfähig sind. Deshalb werden
wir auch weiterhin für eine Änderung der bestehenden
Regelung streiten, meine Damen und Herren.
({11})
Auch die rechtliche Absicherung der anonymen Geburt ist mir ein ganz persönliches Anliegen. Das Leben
der Kinder muss geschützt werden,
({12})
das Leben der Mutter auch. Sie soll unter würdigen und
hygienisch einwandfreien Bedingungen entbinden können. Deswegen werde ich erneut einen Vorstoß unternehmen, um hier eine rechtliche Regelung zu erreichen.
({13})
Die Erziehung von Kindern und die Vermittlung von
Werten durch die Familie ist die Grundlage für die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Erziehung der Kinder
durch die Eltern kann durch nichts ersetzt werden. Aber
die Eltern müssen bei der Erziehung unterstützt werden.
Deswegen sind uns flexible Arbeitszeiten für Mütter und
Väter, bessere Wiedereinstiegsmöglichkeiten und Kinderbetreuung für alle Altersstufen wichtig.
({14})
Ich weiß aus persönlicher Erfahrung sehr wohl, worum
es geht; denn ich war immer erwerbstätig, auch in der
Zeit, als meine beiden Kinder klein waren.
({15})
Ein Hauptgrund für mich, in die Politik zu gehen, war das
Anliegen, Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von
Familie und Erwerbstätigkeit zu schaffen. Ich verwahre
mich gegen das Klischee, dass die Union eine veraltete
Familienpolitik betreibt. Gerade die Unionsfrauen verkörpern durch ihre Vita eine moderne Familienpolitik.
({16})
Im Gegensatz zu Rot-Grün stehen wir - das gilt gerade
auch für mich als CSU-Abgeordnete - aus voller Überzeugung für eine Familienpolitik, die nicht einen bestimmten Lebensentwurf fördert. Wichtig ist uns, für eine
echte Wahlfreiheit der Eltern zu sorgen. Sie sollen selber
entscheiden können, wie sie in den unterschiedlichen Familienphasen gemeinsam für das Familieneinkommen, für
die Erziehung der Kinder und füreinander Sorge tragen.
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, fördern
dagegen durch Ihre Politik einseitig die Erwerbstätigkeit.
Die meisten Eltern haben heute den Wunsch, Familie und
Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden. Es gibt aber
auch nach wie vor Familien, in denen sich Mütter und Vä288
ter zumindest eine bestimmte Zeit ganz den Kindern widmen möchten. Dies muss auch in Zukunft möglich und
gesellschaftlich anerkannt sein.
({17})
Aus frauenpolitischer Sicht ist die Koalitionsvereinbarung eine große Enttäuschung. Mit dieser Politik werden
Sie das Gleiche erleben wie in der letzten Legislaturperiode, dass nämlich der Frauenrat sagt: Rot-Grün hat unsere
Erwartungen nicht erfüllt. Rot-Grün hat uns enttäuscht.
Bei Ihren Ansätzen zur Reform des Arbeitsmarkts ist
zu befürchten, dass Frauen zunehmend auf den Niedriglohnbereich abgeschoben oder gar aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden.
Durch die massive Veränderung der Alterspyramide
gewinnt die Seniorenpolitik immer mehr an Bedeutung.
Diesem Umstand sollte eine verantwortungsbewusste Politik Rechnung tragen. Aber die Koalitionsvereinbarung
ist weit entfernt davon. Sie behaupten in Ihrer Präambel,
Ihre Politik sei an der Generationengerechtigkeit ausgerichtet. Es finden sich aber keine nennenswerten Verbesserungen für die ältere Generation. Die Jüngeren müssen
mit immer weiteren Belastungen rechnen. Die Fortschreibung des Generationenvertrags ist jedoch eine der
drängendsten Fragen überhaupt. Zwar will die Bundesregierung einen Aktionsplan zur Bewältigung der demographischen Herausforderung erstellen, doch kommt sie damit lediglich einer Verpflichtung durch die Vereinten
Nationen nach. Wie die demographische Herausforderung zu bewältigen ist, bleibt offen. Es drängt sich die Befürchtung auf, dass Sie sich mit der Erstellung des Aktionsplans aus der eigentlichen Aufgabe herausmogeln
wollen.
In einer älter werdenden Gesellschaft muss es darum
gehen, das Aktivpotenzial der Älteren für alle nutzbar zu
machen. Dazu fehlen konkrete Aussagen.
Zur Verbesserung der Lage der pflegebedürftigen
Senioren versprechen Sie erneut ein Altenhilfestrukturgesetz. Frau Schmidt, Sie haben eine genaue Prüfung zugesagt. Ein solches Vorhaben war nämlich schon Teil der
Koalitionsvereinbarung der letzten Legislaturperiode;
dennoch ist es gescheitert. Sie müssen sich also endlich
darüber klar werden, welchen Ansatz Sie wählen wollen,
um die Altenhilfe zu reformieren.
Für das angekündigte Ambulante-Dienste-Gesetz sehe
ich die gleiche Gefahr wie für das verabschiedete Heimgesetz. Der Ansatz ist sicherlich richtig. Allerdings - das
konnten wir leider nicht ganz verhindern - darf der
Verwaltungsaufwand damit nicht so überhand nehmen
wie bei der Regelung des Heimgesetzes.
({18})
Die Menschen, die gepflegt werden, brauchen Zuwendung und keine endlos auszufüllenden Papiere.
({19})
Für das Altenpflegegesetz hat das Bundesverfassungsgericht zwar grünes Licht gegeben; das ist aber kein Anlass zum Jubeln. Denn eine bundeseinheitliche Regelung
allein schafft noch keine Qualitätsverbesserung.
({20})
Es ist im Gegenteil zu erwarten, dass sich die Qualitätsstandards auf dem niedrigsten Niveau einpendeln werden.
Zu Recht sprechen Sie im Koalitionsvertrag die
Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als wichtiges
Problem an. Das JUMP-Programm, das Sie wieder auflegen wollen, hat sich aber gerade nicht als Brücke in den
Arbeitsmarkt erwiesen und wird als eine solche leider
auch weiterhin nicht drehen können. Eine weitere erhebliche Abwanderung von Jugendlichen von Ost nach West
wird die Folge sein.
Das neue Jugendschutzgesetz, das nach den Ereignissen von Erfurt schnell aus der Schublade gezogen worden
ist, muss auf seine Praxistauglichkeit und Nachhaltigkeit
hin überprüft werden. Gerade beim Jugendmedienschutz
wird sich sehr schnell zeigen, dass die beschlossenen
Maßnahmen nicht ausreichen, um der Gewaltbereitschaft
Einhalt zu gebieten. Ich fordere Sie deshalb auf, das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode weiterzuentwickeln.
Kommen Sie bitte zum Schluss!
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben eine Fülle von
Aufgaben vor sich. Ich wünsche mir, dass Ihr Wort im Kabinett mehr Gewicht hat als das Ihrer Vorgängerin. Wir
werden Sie bei Ihrer Arbeit konstruktiv und kritisch begleiten.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was wir in diesem Koalitionsvertrag beschlossen haben, ist eine Investition in die Zukunft unserer Familien,
unserer Kinder und damit auch unserer Gesellschaft.
({0})
Wir haben uns deutlich für die Familien und für die
Kinder positioniert. Wenn Sie, Frau Böhmer, von Familienarmut reden, dann muss ich Sie an den Zehnten Kinder- und Jugendbericht aus dem Jahre 1998 erinnern, in
dem steht, dass Familien die Verlierer Ihrer Politik waren,
dass Familien von Armut betroffen waren und dass die
Armut unter Kindern in Ihrer Regierungszeit zugenommen hat.
({1})
Wir haben - das war richtig - die Leistungen für Familien um rund 13 Milliarden Euro jährlich erhöht. Im
Elften Kinder- und Jugendbericht können Sie sehen - das
zeigen die Zahlen -, dass Familien durch unsere Politik
aus der Sozialhilfe herausgekommen sind, dass wir Familienarmut bekämpft haben. Wir sind unserem Regierungsauftrag erfolgreich nachgekommen.
({2})
Sie sagen: Wir brauchen mehr Geld für die Familien. Sie sollten sich einmal die Wahlanalysen genauer anschauen. Sie haben den Familien - Stichwort Familiengeld - in der Tat mehr Geld versprochen. Nur: Das hat
nicht gereicht, um gewählt zu werden. Es gab nämlich genug Menschen in diesem Land, die sich gedacht haben:
Ich brauche im Augenblick nicht mehr Geld, sondern ich
brauche eine Infrastruktur, ich brauche Unterstützung; ich
will arbeiten.
({3})
Es ist nach wie vor so: Die beste Form der Armutsbekämpfung in diesem Land ist die Erwerbstätigkeit. Es
gibt Familien, in denen beide Elternteile tatsächlich
arbeiten müssen. In diesen Familien gibt es für beide Elternteile also keine Alternative zur Erwerbstätigkeit.
({4})
Für genau diese Familien und für die Alleinerziehenden wollen wir endlich konkrete Maßnahmen einleiten.
Es wird konkrete Maßnahmen im Bereich der Kinderbetreuung geben: Wir investieren 4 Milliarden Euro in
Ganztagsschulen und 1,5 Milliarden Euro in die Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Wir möchten in Qualität investieren. Wir wollen übrigens nicht die Debatte
fortführen, wie sie jetzt in Bayern begonnen wurde. Ich zitiere Frau Stewens, die gesagt hat: Wir müssen endlich
einmal anfangen, mit Wirtschaftlichkeitskriterien an Familienpolitik heranzugehen. - Nein, wir sagen: Wir investieren in die Familien und damit investieren wir in die
Zukunft.
({5})
„Familien und Zukunft“ - ein Schlaglicht von Ihnen,
Frau Böhmer. Dazu muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie
wirklich über Familien reden wollen, dürfen Sie nicht uns
Grünen vorwerfen, wir sollten aufhören, unsere Ideologien einzubringen. Vielmehr muss ich Ihnen sagen:
Hören Sie endlich auf, über Ideologien zu debattieren!
Verlassen Sie diese Ebene und landen Sie in der Realität
der Familien!
({6})
Kommen Sie dorthin, wo die Familien ihre Probleme austragen, wo sie tatsächlich leben. Wir sollten endlich die
Gerechtigkeitsdebatte führen.
({7})
Gerechtigkeit ist für mich nicht an den Trauschein gebunden, sondern muss auch dort eingefordert werden können, wo Menschen auch ohne Trauschein füreinander und
miteinander Verantwortung übernehmen.
({8})
Ich möchte Politik für alle Menschen machen, die bereit
sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen, nicht
nur für jene, die am Status Ehe festhalten.
({9})
Sie sagen, wir bauten unsere Politik auf Sand. Tatsache
ist: Wir bauen, wir machen etwas. Was haben Sie denn in
Ihrer Regierungszeit gemacht?
({10})
Anders herum gesagt: Sie sind abgewählt, weil Sie nicht
gebaut haben.
Ja, wir möchten Bund und Länder beteiligen. Ja, wir
möchten einen Gipfel für Betreuung, wo es darum geht,
Qualitätsoffensiven zu starten, wo es darum geht, Debatten um Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit
zu führen, wo es darum geht, gemeinsame Lösungen zu
finden, auch dort, wo zu wenig getan wurde, im Sinne der
Familien voranzukommen.
Mein Wort an die Frau Ministerin: Ich wünsche mir in
dieser Position natürlich eine Superministerin,
({11})
aber viel mehr noch wünsche ich mir eine Ministerin
für die kommenden Generationen, für die Zukunft unserer Kinder. Ich wünsche mir eine Zukunftsministerin.
Frau Ministerin, seien Sie zuversichtlich: Gemeinsam
werden wir es schaffen - für die Zukunft unserer Kinder.
({12})
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen
nicht mehr vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 31. Oktober 2002,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.