Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/30/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Anträge zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen sowie um den Antrag zur Einsetzung von Ausschüssen zu erweitern und jetzt anschließend als Zusatzpunkte 1 bis 3 zu beraten. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 1 bis 3 auf: ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - Drucksache 15/18 ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - Drucksache 15/17 ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Einsetzung von Ausschüssen - Drucksache 15/19 Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wählerinnen und Wähler haben der SPD und den Grünen am 22. September den Auftrag gegeben, die Regierungsgeschäfte hier in diesem Hause weiterzuführen und dafür die durch die Wahl erhaltene Mehrheit in Anspruch zu nehmen. ({0}) Dieser Auftrag gilt, auch wenn er bei einigen in der Opposition noch nicht ganz angekommen zu sein scheint. Nach den klaren Regelungen unserer Geschäftsordnung hat das unmittelbar zur Folge, dass sich diese Mehrheit in allen Ausschüssen und Gremien des Deutschen Bundestages widerspiegeln muss. Denn Mehrheit muss Mehrheit bleiben. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot. Genau diesem Ziel dient der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen, der heute zur Abstimmung vorgelegt wird. In § 12 unserer Geschäftsordnung ist vorgesehen, dass die Zusammensetzung der Ausschüsse im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist. Ergänzend ist in § 57 festgelegt, dass der Bundestag das System bestimmt, nach dem das Stärkeverhältnis der Fraktionen zueinander Berücksichtigung zu finden hat. ({1}) Diese so genannten Zählverfahren, Herr Funke, sind dabei lediglich Hilfsmittel, um die Abbildung der Mehrheit im Einzelfall im jeweiligen Ausschuss zu gewährleisten. Sie haben ausschließlich den Zweck, die vom Wähler getroffene Mehrheitsentscheidung in jedem Gremium umzusetzen. Diese Grundsätze, insbesondere der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit, sind vom Verfassungsgericht in mehreren Entscheidungen ausdrücklich bekräftigt worden. Ich weise auf das uns aus anderen Zusammenhängen hinlänglich bekannte Wüppesahl-Urteil und das PDS-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus vergangenen Wahlperioden hin. Nun stellt sich bei einer Reihe von Gremien heraus, dass die bekannten Zählverfahren St. Lague/Schepers, d’Hondt oder Hare/Niemeyer bei bestimmten Gremiengrößen nicht geeignet sind ({2}) - das ist eben so; das alles hat mit Rechnen zu tun; das ist doch völlig klar; ({3}) wenn Sie nicht rechnen können, ist das Ihr Problem und nicht meines -, ({4}) Präsident Wolfgang Thierse eine Zusammensetzung der Gremien so zu ermöglichen, dass eine Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse - was, wie ich bereits betont habe, das oberste Prinzip ist - zustande kommt. Dies ist insbesondere beim Vermittlungsausschuss der Fall. ({5}) Kein Verfahren kann gewährleisten, dass die Mehrheitsverhältnisse auf der Bundestagsbank abgebildet werden. Damit käme es zu einer Pattsituation, die mit der Geschäftsordnung des Bundestages nicht im Einklang stünde. Als pragmatischer Ausweg lässt sich auch nicht daran denken, die Gremiengröße zu verändern, um auf diesem Wege zu einer Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse zu gelangen. Diesen Weg wählen wir zwar oftmals; aber hier ist er uns verwehrt, weil die Größe des Vermittlungsausschusses verfassungsrechtlich festgelegt ist. Aus diesem Grund benötigen wir ein System, das in solchen Fällen die Umsetzung des Wählerwillens gewährleistet. ({6}) Ein solches abstraktes System schlagen wir mit diesem Antrag vor. Es stellt einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Ziel der Abbildung der Mehrheit einerseits und der angemessenen Berücksichtigung aller Fraktionen andererseits dar. ({7}) Dies ist im Übrigen auch der große Unterschied zur damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition. Sie standen in der 13. Legislaturperiode vor genau demselben Problem wie wir heute. Auch Sie wählten ein Verfahren, um die Mehrheit im Vermittlungsausschuss für sich zu sichern. - „Hört! Hört!“, hätte ich beinahe hinzugefügt. Ihr Verfahren führte aber dazu, dass nicht alle Fraktionen bzw. Gruppen im Vermittlungsausschuss vertreten waren. Unser Verfahren stellt im Gegensatz dazu sicher, dass auch die kleinste Fraktion im Hause, nämlich die FDP, auf der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss vertreten sein wird. Insofern ist die FDP von diesem Antrag überhaupt nicht negativ betroffen, Herr Funke. Der durch die Verfahrensweise der CDU/CSU und der FDP ausgeschlossenen PDS, die daraufhin das Verfassungsgericht anrief, verdanken wir im Übrigen eine wesentliche Klarstellung: Das Bundesverfassungsgericht hat im so genannten PDS-Urteil - gerade bezogen auf die Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss - explizit den Grundsatz der Abbildung der politischen Mehrheit in den Ausschüssen bekräftigt. Meine Damen und Herren von der Opposition, vor diesem rechtlich klaren Hintergrund und diesem Verlauf ist mir unverständlich, aus welchem Grund Sie gegen diesen Antrag vor das Verfassungsgericht ziehen wollen, wie man der Presse entnehmen konnte. Sie treten insoweit in die Fußstapfen der schon damals erfolglosen PDS und dürften - genauso wie diese - an der geltenden Rechtslage scheitern. ({8}) Akzeptieren Sie endlich, dass Sie in der Opposition sind! Hören Sie auf, gegen die vom Wähler gewollten Mehrheitsverhältnisse vor das Verfassungsgericht zu ziehen! Spielen Sie nicht länger die beleidigte Leberwurst in diesem Hause! ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler will sich persönlich um eine Verbesserung des Verhältnisses zur Opposition bemühen. ({0}) Das waren noch in der letzten Woche die hehren Worte von Bundeskanzler Schröder. Die Koalition führt nun vor, was sie unter fairer Zusammenarbeit versteht. Als Ouvertüre dazu dient ihr die Besetzung der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses. Eiskalte Machtpolitik überlagert die süßlichen Sirenentöne des Bundeskanzlers. ({1}) Herr Schmidt, es gibt drei anerkannte und etablierte mathematische Berechnungsverfahren, die allesamt zu Sitzanteilen im Verhältnis von sieben Sitzen für die SPD, sieben für die CDU/CSU, einem für Bündnis 90/Die Grünen und einem für die FDP und damit zu einem Patt zwischen Regierung und Opposition auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses führen. Jede Abweichung davon ist Willkür. ({2}) Deutlicher als in Ziffer 2 des Antrages der Koalitionsfraktionen kann man die Willkür nicht ausdrücken. Wenn einem das Ergebnis der anerkannten Verfahren nicht passt, zimmert man sich ein abweichendes Verfahren und behauptet, nur durch seine Ergebnisse spiegle sich die politische Mehrheit auf der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses wider. Noch nie ist in einer Bundestagsdrucksache so offen der Gedanke der Willkür formuliert worden. ({3}) Wir fordern den Bundeskanzler und die Koalitionsfraktionen auf, diesen verfassungswidrigen Antrag ersatzlos zurückzuziehen und unserem Antrag zuzustimmen. ({4}) Bei der von Rot-Grün beantragten Verteilung würde die SPD mit acht Sitzen genau 50 Prozent der Plätze im Vermittlungsausschuss beanspruchen, obwohl sie nur über 41,6 Prozent der Mandate im Bundestag verfügt und lediglich 38,5 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl erhalten hat. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, zwischen den drei verschiedenen vom Verfassungsgericht anerkannten Zählsystemen zu wählen, ist nach den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts auf genau diese drei Zählsysteme beschränkt. Nur durch Auswahl eines dieser Zählsysteme und nicht - so machen Sie es, Herr Schmidt durch die Veränderung eines einzelnen Zählsystems kann den politischen Mehrheitsverhältnissen im Plenum Rechnung getragen und der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit verwirklicht werden. Alles andere, meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, ist verfassungswidrig. ({5}) Es ist sonnenklar, dass die rot-grüne Mehrheit den Bundestag ausschließlich für ihre parteipolitischen Zwecke instrumentalisieren will. Der Vermittlungsausschuss wird dadurch diskreditiert und denaturiert. Der Vermittlungsausschuss ist ein Gremium singulärer Prägung; so hat es das Verfassungsgericht festgestellt. Seine Aufgabe liegt darin, einen politischen Kompromiss zu suchen und diesen Kompromiss im Bundestag und im Bundesrat mehrheitsfähig zu machen. Dies kann nur im Konsens und nicht durch unechte Vermittlungsergebnisse geschehen. ({6}) Sollte Rot-Grün heute sein verfassungswidriges Vorhaben durchdrücken, ({7}) wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unverzüglich das Bundesverfassungsgericht anrufen, um den Schröder-Plan zu stoppen. Unsere Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. ({8}) Dann wird eben Karlsruhe die Fairness herstellen, von der der Bundeskanzler auch in anderen Zusammenhängen so viel redet. Die Worte Gerhard Schröders sind das eine, die Taten das andere. ({9}) Bei der Besetzung des Vermittlungsausschusses wird Gerhard Schröder notfalls in Karlsruhe zu spüren bekommen, dass sich die Unionsfraktion ein solches Verhalten hier im Plenum des Deutschen Bundestages durch die Koalitionsfraktionen nicht gefallen lässt. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Herr Kollege Pofalla, so weit geht die Liebe nicht. Wir bieten Ihnen eine faire Zusammenarbeit an; aber dass wir Ihnen unsere Mehrheit als Morgengabe darbieten, ist nun wirklich ein bisschen zu viel verlangt. ({0}) § 12 unserer Geschäftsordnung regelt die Stellenanteile der Fraktionen. Dazu gibt es zwei Rechtsgrundsätze. Zum einen muss das Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen durch Anwendung von Zählverfahren abgebildet werden. Dabei sind wir um eine proportionale Abbildung bemüht. Zum anderen müssen bei diesem Verfahren auch die Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages in all seinen Gremien und Ausschüssen abgebildet werden. Diesem Ziel dient der vorgelegte Antrag. Wir haben als Bundestag in der Vergangenheit auch im Falle knapper Mehrheiten die Zählverfahren geändert und gewechselt, um die Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages in allen Ausschüssen und Gremien entsprechend abzubilden. Das haben wir in der 13. und 14. Wahlperiode getan und das ist auch zulässig. Im Wüppesahl-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht 1989 klar festgestellt, dass die Ausschüsse die Zusammensetzung des Plenums verkleinert abbilden und die Vorbereitung von Entscheidungen und Beschlüssen des Plenums die Erarbeitung mehrheitsfähiger Entscheidungsgrundlagen voraussetzt. Damit wäre schwerlich vereinbar, wenn sich die politische Gewichtung innerhalb des Parlamentes in den Ausschüssen nicht widerspiegeln würde. - Das führte das Bundesverfassungsgericht 1989 aus. 1997 wird das Gericht im zweiten PDS-Urteil noch einschlägiger: In der Abweichung von dem üblicherweise bei der Gremienbesetzung angewandten Verfahren ... liegt keine missbräuchliche Handhabung der Geschäftsordnungsautonomie. Und: Ein Wechsel des Zählsystems mit dem Ziel, die Mehrheitsverhältnisse des Plenums in der Bundestagsbank des Vermittlungsausschusses wiederzugeben, ({1}) ist verfassungsrechtlich unbedenklich. So das hohe Gericht, das Sie anzurufen gedenken. ({2}) Da wir hier scheinbar vor Gericht sind - wenn auch nicht im Strafprozess -, rufe ich jetzt den damaligen Parlamentarischen Geschäftsführer Joachim Hörster in den Zeugenstand. In der 13. Wahlperiode, am 16. Februar 1995, sagte er: Bei der Besetzung der Ausschüsse und Gremien des Deutschen Bundestages muss sich diese vom Wähler getroffene Entscheidung widerspiegeln, dass heißt, Mehrheit muss Mehrheit bleiben. Dies ist ein verfassungsrechtliches Gebot. ({3}) Und weiter: Um dem Wählerwillen Rechnung zu tragen, ist es erforderlich, das Zählverfahren auszusuchen, das die Mehrheitsverhältnisse widerspiegelt. Recht hat er. ({4}) Nirgendwo steht geschrieben, dass die Zahl der Zählverfahren endlich ist. Wir legen hier eine allgemein anwendbare Regel vor. ({5}) Wir wollen sie nur dort anwenden, wo es unbedingt erforderlich ist. Dies war nach Ihrer Meinung in der Vergangenheit richtig. Auch das Bundesverfassungsgericht hat es so gesehen. Ich bedaure, dass Herr van Essen heute nicht nach mir reden kann. Ihm will ich aber sozusagen meine Schlussworte überlassen. Er äußerte in der gleichen Debatte: Aber der Gedanke, der dabei - in einem Gutachten des Bundestages geäußert worden ist, ist einleuchtend: Zum Demokratieprinzip gehört auch das Mehrheitsprinzip. Deshalb kommt diese wissenschaftliche Arbeit zu dem Ergebnis, dass der Bundestag nicht gezwungen werden kann, bei der Besetzung des politisch so bedeutsamen Vermittlungsausschusses auf eine Abbildung seiner Mehrheitsverhältnisse, hier also der Mehrheit der Koalition, zu verzichten. ({6}) Dabei bleiben wir. Wir bleiben Ihren Grundsätzen treu. Wir sind uns sicher, dass Sie vor dem Bundesverfassungsgericht eine Niederlage erleiden werden. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke, FDP, das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Antrag der Koalitionsfraktionen handelt es sich um eine schlichte, machtpolitisch motivierte Trickserei. ({0}) - Ich werde gleich darauf eingehen. In diesem Land bestand immer Konsens darüber, dass der Vermittlungsausschuss ein eigenständiger und herausgehobener Ausschuss ist, in dem Vertreter aus Bundestag und Bundesrat gemeinsam versuchen - oft unabhängig von der Parteidisziplin -, tragfähige Lösungen zu finden. Diesen Konsens möchte Rot-Grün nach langer Tradition aufkündigen. Nach allen zur Verfügung stehenden Berechnungsverfahren müsste es bei der Ausschussbesetzung bei einem Patt von 7 : 7 : 1 : 1 bleiben. Die Koalition möchte daher durch eine Änderung der Geschäftsordnung erreichen, dass eine rot-grüne Mehrheit auf Bundestagsseite im Vermittlungsausschuss gesichert ist. Dies zeigt deutlich, dass es hier nicht um die Herrschaft des Rechts geht, wie es dem Sinn unserer Geschäftsordnung, die wir uns selber gegeben haben, entspricht, sondern vielmehr um die rücksichtslose Durchsetzung von Machtinteressen. ({1}) Wenn Sie auf die Mehrheitsverhältnisse abstellen, können Sie nicht sagen, dass es noch gerecht wäre, wenn die Koalition neun Stimmen bekäme und die Opposition sieben. Ihr Antrag würde aber zu diesem Ergebnis führen. Eine solche Abweichung vom bisherigen Zählsystem wäre in sich nicht logisch und im Übrigen auch unsystematisch. Dies weiß auch Herr Schmidt, der Geschäftsordnungsexperte ist. Falsch ist meines Erachtens auch der Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht hat sich bisher nur mit der Frage befasst, ob es zulässig ist, einen Wechsel in den bekannten Zählverfahren oder aber im Einzelfall eine Abweichung zugunsten einer anderen mathematischen Proportion vorzunehmen. Hier liegt aber keine Abweichung von der mathematischen Proportion vor. Es ist kein anerkanntes Zählverfahren, das Sie anwenden wollen, sondern das ist reine Willkür. ({2}) Das Gericht hat sich aber nie mit der Frage befasst, ob der Bundestag auch die Befugnis besitzt, die Mehrheitsfrage mit einem gesonderten, nicht unter die bekannten Zählverfahren fallenden Schlüssel zu beeinflussen. Es kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu, Kollege Schmidt. Es wäre verfehlt, davon auszugehen, der Vermittlungsausschuss sei mit den Ausschüssen des Bundestages vergleichbar und man könne daher bei der Frage der Besetzung die gleichen Maßstäbe anlegen. Die Andersartigkeit des Vermittlungsausschusses ergibt sich bereits daraus, dass er eigenen geschäftsordnungsmäßigen Regelungen unterliegt ({3}) und sich eine vom Bundestag und vom Bundesrat getragene Geschäftsordnung gibt, die im Übrigen in beiderseitigem Einvernehmen bestimmt wird und auch nur in beiderseitigem Einvernehmen geändert werden kann. Die besondere Stellung des Ausschusses kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Mitglieder des Bundesrates an Weisungen und Aufträge nicht gebunden sind. Bewusst soll im Vermittlungsausschuss nicht entlang von Parteiproporzen gearbeitet werden. Sie weichen von diesen Grundsätzen, die wir uns alle selbst gegeben haben, ohne erkennbaren Sinn ab. Ich glaube, wir würden viel besser fahren, wenn wir im Vermittlungsausschuss gemeinsam daran arbeiten würden, vernünftige Gesetze durchzusetzen, statt Gesetze durchzupeitschen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 15/18. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 15/17. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur Einsetzung von Ausschüssen auf Drucksache 15/19. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zur Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers Ich erinnere noch einmal daran, dass wir gestern für die heutige Aussprache neun Stunden beschlossen haben. Wir kommen zu den Themenbereichen Wirtschaft und Arbeit. Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. ({0})

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005291

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich mich sehr freue, dass ich ab heute die Möglichkeit habe, wenn auch ohne Mandat als Bundestagsabgeordneter, mit Ihnen zu diskutieren, zu debattieren, mich auseinander zu setzen und zu sprechen. Das Feld, auf dem ich mich in der nächsten Zeit zu tummeln beabsichtige, gehört sicherlich zu den wichtigsten Aufgabenfeldern, die wir gemeinsam zu beackern haben. Ich habe das Amt, das mir der Bundeskanzler angeboten hat, angenommen, weil ich mich der Aufgabe, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, verpflichtet fühle. Ich habe mich dieser Aufgabe verschrieben, weil ich sie schon in Nordrhein-Westfalen, einem wunderbaren und dem größten Land der Bundesrepublik Deutschland - es ist nicht überall bekannt, dass das so ist -, wahrgenommen habe und sie jetzt in größerer Verantwortung für die Bundesrepublik wahrnehmen möchte. ({0}) Sicher wird Sie, sofern Sie noch nicht oft in NordrheinWestfalen gewesen sind, mein Nachfolger gerne einladen und Ihnen das Ergebnis der Entwicklung dieses Landes von einem klassischen Industrieland hin zu einem Land der industriellen Dienstleistungen zeigen. Es wird bestimmt sehr beeindruckend für Sie sein, das zu sehen. ({1}) Sie können davon ausgehen, dass ich dieses Amt übernommen und mein Herz über die Hürde geworfen habe, weil ich überzeugt bin, dass wir auf diesem Feld Erfolg haben müssen, Erfolg haben können und Erfolg haben werden. ({2}) Die Lage ist nicht einfach. Aber ich denke, wir haben keinen Grund zur Schwarzmalerei. Um das einmal klar zu sagen: Die meisten Völker auf der Welt beneiden uns um die Probleme, die wir haben. ({3}) Die meisten Völker auf der Welt, all diejenigen, die uns national wie international beobachten, bewundern die Leistung, die wir in Deutschland vollbringen, um unter schwierigen weltwirtschaftlichen Bedingungen die deutsche Einheit herzustellen, und zwar mit aller Kraft, die dazu nötig ist, und ohne irgendeinen Abstrich. Wir, das deutsche Volk, die deutschen Unternehmen, die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, leisten zur Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands mehr, als irgendwo sonst auf der Welt geleistet werden muss. Dies tun wir allerdings in einer Stimmungslage in Wirtschaft und Gesellschaft, die - das ist meine Wahrnehmung - durch hohe Unsicherheit gekennzeichnet ist. Hier spielen, wie schon oft gesagt, die Ereignisse des 11. September 2001 wie auch andere geopolitische Risiken hinein. Sicherlich ist die Kriegsgefahr in Nahost eines der Hauptmomente, die die weltwirtschaftliche Stimmungslage nachteilig beeinflussen. Diese weltwirtschaftlichen Entwicklungen, mit denen wir es zu tun haben, wirken sich natürlich auch auf das deutsche Wirtschaftsgeschehen aus. Dies zeigen der Kurssturz an den Börsen, die hartnäckige Bodenhaftung der Aktienkurse bei uns und all die Punkte, die auch gestern in den Debatten angesprochen wurden. Hierzulande allerdings wird die Stimmungslage nach meinem persönlichen Eindruck noch zusätzlich belastet durch den bemerkenswerten Hang bei uns, die Welt grau in grau zu malen, durch eine Sorge um die Zukunft, die nicht begründet ist, wie ich empfinde, und gelegentlich sogar fast durch Zukunftspessimismus. Verstärkt wird all dies durch die Dauerdiskussion im politischen Raum, die sich - Sie erlauben, dass ich das sage; ich bin schließlich neu hier - nach meinem Eindruck nach der Wahl genauso anhört wie vor der Wahl und die damit nicht sehr viel weiter führt. Dies ist keine Kritik an der Kritik als solcher; es ist vielmehr eine Kritik an der Art, wie man Kritik übt, an einer Kritik, die einzureißen droht und die keine sachliche Basis hat. ({4}) Ich will ein Beispiel nennen. Der Wirtschaftsprofessor Sinn erklärte, ohne auf irgendeine konkrete Einzelheit einzugehen, das Hartz-Konzept kürzlich für unseriös, nicht umsetzbar und jenseits von gut und böse. Er ist damit in Deutschland flächendeckend in die Schlagzeilen gekommen. Diese Art der Kritik kritisiere ich. ({5}) Hier ist auch die unzutreffende Behauptung zu nennen, die in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Steuerentlastungen für die Jahre 2004, 2005 ff. benachteiligten den Mittelstand. Ich will einmal darauf hinweisen, dass der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Herr Professor Wiegard - das Jahresgutachten ist ja mehrfach angesprochen worden -, kürzlich in der „Zeit“ deutlich gemacht hat, dass das letzte Jahresgutachten die These gründlich widerlegt hat, Personenunternehmen würden in Deutschland im Vergleich zu Kapitalgesellschaften steuerlich benachteiligt. Sie sollten diese Behauptung vergessen. Das war der Wahlkampf. Der ist vorbei. ({6}) Meine Damen und Herren, die uns vorliegenden objektiven Daten in Deutschland zeigen, dass es uns nicht so schlecht geht, wie die Stimmung es vermuten lässt. Nach allen Prognosen, die uns vorliegen, werden wir im Verlauf des nächsten Jahres zu einer - natürlich noch zu schwachen - Wachstumsbelebung der Konjunktur kommen und damit zu etwas mehr Spielraum für mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit. Sie kennen das aktuelle Prognosespektrum für das Wirtschaftswachstum, das 2003 zwischen 1,4 Prozent dies sagen einige Institute - und 1,7 Prozent - dies hat der IWF soeben gesagt - liegen wird. Die Herbstprojektion der Bundesregierung wird morgen im interministeriellen Arbeitskreis „Gesamtwirtschaftliche Vorausschätzungen“ abschließend erörtert. Ich stelle sicherlich keine allzu wagemutige Prognose, wenn ich sage, dass sich die Eckpunkte in dem genannten Spektrum bewegen werden. Das gilt auch für die erwartete Arbeitslosigkeit um 4,1 Millionen. Die Prognosen besagen allerdings, dass sie im Verlauf des Jahres 2003 abnehmen wird. Um es klar zu sagen: Es geht zwar zu langsam, aber es geht bergauf. ({7}) Ich finde die Bewertung, die der IWF gestern abgegeben hat, bemerkenswert. Er hat über Deutschland nämlich gesagt, dass es sich in einem Zustand der zerbrechlichen Erholung befinde. Ich glaube, dass diese Bewertung richtig ist, und ich meine, dass wir in Deutschland in dieser Situation eine Allianz für Erneuerung brauchen, eine Allianz, die in unserer Gesellschaft eine stärkere Bereitschaft zur Erneuerung in allen Teilen unserer Gesellschaft weckt und die in der Lage ist, eine Aufbruchstimmung zu entwickeln. ({8}) Meine Damen und Herren, wir müssen vermitteln - Sie als Opposition mögen sich da heraushalten -, dass Wandel Fortschritt und nicht Risiko ist und dass die soziale Verantwortung Teil der Eigenverantwortung ist. Das ist bei uns zurzeit offensichtlich alles andere als selbstverständlich. Der französische Gesellschaftskritiker Frédéric Beigbeder hat in der Beobachtung des gesellschaftlichen Zustandes - nicht nur in Deutschland - kürzlich gesagt, dass heute die Nichtteilnahme das Entscheidende ist. Ich meine - damit knüpfe ich an das an, was der Bundeskanzler gestern in der Regierungserklärung gesagt hat -, dass es gilt, diese Zeitströmung, wenn es sie denn gibt, umzudrehen. Das Entscheidende - vor allen Dingen in Deutschland - ist die Teilnahme. ({9}) Um es klar zu sagen: Deshalb werden wir auch im Kampf um Ausbildungs- und Arbeitsplätze jetzt in die Offensive gehen. ({10}) Deshalb werden wir versuchen, mit den Vorlagen, die aus dem Hartz-Konzept resultieren, an alle verantwortlichen Kräfte in der Gesellschaft zu gehen. ({11}) Deshalb werden wir mit dem Start am 13. November in Wolfsburg, dort, wo es nicht zuletzt durch den Einsatz von Herrn Hartz gelungen ist, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, ein Signal setzen mit der Bitte, mit der Aufforderung und dem Appell an alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen - auf der kommunalen Ebene, auf der Länderebene, in den Verwaltungen, in den Betrieben, in den Betriebsräten sowie in allen Organisationen und Institutionen -, sich in den Kampf um Arbeits- und Ausbildungsplätze einzuschalten und nicht eine Politik zu betreiben, die sich darin erschöpft, die Arbeitslosenstatistiken vorzulesen. Damit muss Schluss sein. Es ist meine Hauptaufgabe, dazu beizutragen. ({12}) Ich kann nur vor der Hoffnung warnen, irgendjemand würde bei dieser Diskussion ausgespart. Wir werden alle gesellschaftlichen Gruppen ansprechen. Die Parteien mögen sich verhalten, wie sie sich verhalten wollen. Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, dass diese Politik mit irgendwelchen oberflächlichen Handbewegungen und mit genereller Polemik untergraben und abgebremst wird. Wir müssen die Menschen wieder erreichen, wir dürfen nicht nur die Statistiken im Auge haben und wir müssen es schaffen, dass das Problem der Arbeitslosigkeit von allen angegangen wird. ({13}) Das Hartz-Konzept ist ja von allen gesellschaftlichen Gruppen unterschrieben worden. Es ist ein seit 20 Jahren einmaliger Vorgang, dass es gelungen ist, das Lager- und Interessendenken in diesem Feld des Arbeitsmarktes zu überwinden. Ich erinnere daran, dass Hartz und seine Kommission in ihrem Papier - in einer Arbeit, die wirklich bahnbrechend ist und Dank verdient - die „Profis der Nation“ angesprochen haben. Das sind über sechs Millionen Menschen, die aus ihren beruflichen, politischen und administrativen Funktionen heraus dazu beitragen können, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dies muss durch ganz konkretes Handeln geschehen, beispielsweise indem man sich um einen Ausbildungsplatz in seinem eigenen Umfeld bemüht. Ich appelliere von hier aus an diejenigen, die sich als Profis der Nation verstehen, an die Mutmacher in unserem Land, nicht die Miesmacher, mit anzupacken, damit wir diese gesellschaftliche Aufgabe bewältigen. ({14}) Die Leitidee dessen, worum es auf dem Arbeitsmarkt geht, ist klar. Es geht darum, Eigenaktivitäten auszulösen und dafür Sicherheit einzulösen. Im Zentrum muss natürlich die eigene Integrationsleistung des oder der Arbeitslosen stehen, das Bemühen um eine Beschäftigung, die Annahme einer angebotenen Beschäftigung, die Bereitschaft, eine Zeitarbeit zu übernehmen, die Teilnahme an Weiterqualifizierungen. Dies alles wird gestützt und abgesichert durch Dienstleistungs- und Förderangebote, durch Beratung, durch Betreuung, durch materielle Absicherung. Es gilt, das, was gesagt worden ist, aus der Phrase in die Praxis umzusetzen, das Prinzip des Förderns und des Forderns. Initiative wird belohnt, Passivität wird und kann von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. ({15}) Wenn uns das gelingt, was der Grundgedanke des Hartz-Konzeptes ist - es wird bisher immer viel zu oberflächlich beurteilt; ({16}) ich hoffe, diese vorsichtige Bemerkung ist mir erlaubt, ich habe mich vor Kurzem etwas gröber geäußert, ich bitte dafür um Entschuldigung, aber ich meine immer das Gleiche ({17}) - ich bin sicher, Sie werden dabei mitmachen, Herr Glos -, dann werden wir nicht nur die Arbeitsvermittlung, sondern auch die Arbeitsmarktstruktur revolutionieren. Deshalb ist es Unsinn, zu schreiben, das, worum es Hartz gehe, sei ein dritter Arbeitsmarkt oder Ähnliches. Wenn wir vom Dienstleistungsstandort sprechen, dann geht es natürlich um den ersten Arbeitsmarkt in Deutschland. Dort hinein müssen die Arbeitslosen gebracht werden. ({18}) Ein Erfolg des Konzeptes, um den wir uns bemühen werden, wird nicht nur die Arbeitslosigkeit reduzieren. Wenn wir es wirklich gemeinsam anpacken, dann wird über diesen Prozess auch die Gesellschaft wieder enger zusammenrücken, dann werden - um das klar zu sagen Outsider zu Insidern, ({19}) dann wird die Teilnahme am Arbeitsmarkt honoriert und nicht die Alimentierung von Arbeitslosen finanziert. Das ist ein Stück mehr soziale Teilhabe und spart öffentliche Mittel, weil unterstützte Menschen in Arbeit weniger Zuschüsse als Arbeitslose benötigen. ({20}) Hier liegt mittelfristig ein erhebliches Einspar- und Konsolidierungspotenzial. Dieses Potenzial, Herr Glos, gibt mittelfristig Raum für eine Senkung der Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten. ({21}) - Sind Sie aus Bayern? ({22}) Wir werden mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes sofort beginnen. Bereits morgen werden der Bundesfinanzminister und ich gemeinsam mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau ein neues Programm, Kapital fürArbeit, bisher unter dem Namen Job-Floater bekannt, auf den Weg bringen. Dieses Programm gibt namentlich mittelständischen Unternehmen Anreize, bisher nicht Erwerbstätige einzustellen. Pro eingestellten Arbeitslosen erhält das Unternehmen Mittel in einer Größenordnung bis zu 100 000 Euro, von denen 50 000 Euro zur Stärkung der Eigenkapitaldecke von kleinen und mittleren Unternehmen genutzt werden können. ({23}) Dies ist das erste Angebot, mit dem wir das, was die Hartz-Kommission erarbeitet hat, in die Tat umsetzen, und zwar 1 : 1. Die gesetzgeberischen Umsetzungsschritte müssen - das ist meine Bitte an das Hohe Haus, das wird auch meine Bitte an den Bundesrat sein - unverzüglich folgen. All diejenigen, die sich für den Arbeitsmarkt in Deutschland verantwortlich oder mitverantwortlich fühlen, sind gebeten, darauf hinzuwirken, dass die Gesetzgebung so rasch als möglich erfolgen kann, damit eine Absenkung der Arbeitslosigkeit gelingt. Worum es geht, ist, Jobcenter einzurichten, die eine einheitliche Anlaufstation für alle arbeitsfähigen Personen und stärker als bisher auch Dienstleister für Unternehmen sein werden. Worum es geht, ist die Förderung von Zeit- und Leiharbeit in Deutschland durch den flächendeckenden Aufbau von Personalserviceagenturen für eine vermittlungsorientierte Arbeitnehmerüberlassung. Dies ist eines der wichtigsten Instrumente, das die Hartz-Kommission erarbeitet hat, um den deutschen Arbeitsmarkt in Ordnung zu bringen. Es ist nicht zu übersehen, dass die Bundesrepublik hinsichtlich des Umfangs der Zeit- und Leiharbeit hinter allen anderen hoch entwickelten Volkswirtschaften zurückliegt. Diesen Rückstand müssen wir aufholen. Der Vorschlag der Hartz-Kommission bietet dafür eine hervorragende Vorlage. Es muss und es wird uns gelingen, das, was an Zeitund Leiharbeit in Deutschland nach meinem Eindruck gewissermaßen in der Schmuddelecke steht, aus dieser Ecke herauszuholen. ({24}) Dies wird uns gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Gewerkschaften gelingen. Daran arbeiten wir und dafür werden wir einen gemeinsamen Vorschlag erarbeiten. ({25}) Dies wird gelingen, indem wir für entliehene Arbeitnehmer beim entleihenden Unternehmen - ({26}) - Wenn Sie ein Interesse an Sachfragen haben, Herr Glos, dann halten Sie sich jetzt zurück. Hören Sie einfach zu und beschäftigen Sie sich anschließend mit dieser Frage! Das ist besser, als dauernd dazwischenzureden. ({27}) Ich bin dabei, wichtige Sachfragen zu erörtern. Sie sollten sich das einfach zu Gemüte führen. So viel Ruhe werden Sie wohl aufbringen. ({28}) Wir werden es schaffen, die Zeit- und Leiharbeit in Deutschland aus der Schmuddelecke herauszuholen. ({29}) Wir werden dies schaffen, wenn wir den entliehenen Arbeitnehmern in dem übernehmenden wie auch im entleihenden Unternehmen eine Sicherheit für Lohn- und Arbeitszeit bieten, wenn wir das Prinzip des Equal Pay auf diesen beiden Feldern vorsehen und eine tarifliche Sicherheit bieten. Wenn wir dies umsetzen - ich gehe davon aus, dass wir dafür die Zustimmung von Arbeitgebern wie Arbeitnehmern finden -, dann können wir alle einschränkenden Regulierungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die es mit dem Synchronisationsverbot, dem besonderen Befristungsverbot, dem Wiedereinstellungsverbot und dem Abwerbeverbot heute noch gibt, streichen. Damit können wir die Bürokratisierung und Überregulierung in diesem Sektor beenden und in einen Prozess eintreten, in dessen Verlauf wir in einem nennenswerten Umfang Leih- und Zeitarbeit in Deutschland schaffen können. ({30}) Des Weiteren wird der Vermittlungsprozess von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt beschleunigt, indem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von Kündigung bedroht sind oder diese bereits erhalten haben, aufgefordert werden, sich umgehend der Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stellen. Wir werden die Arbeitgeber anhalten, den gekündigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausreichend Zeit für die Arbeitsuche zur Verfügung zu stellen, damit sie so rasch wie möglich gelingt. Wir werden die Regeln der Zumutbarkeit neu interpretieren. Insbesondere junge und ledige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind aufgefordert, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz unabhängig davon anzunehmen, wo er angeboten wird. Wir werden die berufliche Weiterbildung neu ausrichten, insbesondere durch die Verbesserung des Wettbewerbs unter den Dienstleistern der Arbeitsförderung. Wir werden uns besonders um die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kümmern und sie durch eine Lohnversicherung und eine Erleichterung hinsichtlich der bisherigen Regelungen der befristeten Beschäftigung fördern. Wir werden des Weiteren Mini-Jobs in Privathaushalten fördern. Wir arbeiten derzeit zusammen mit dem Bundesfinanzminister an der Ausgestaltung einer entsprechenden steuerlichen Förderung. Wir werden durch die Erhöhung der Verdienstgrenze auf 500 Euro im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen zusätzliche Marktpotenziale für die in diesem Bereich bereits tätigen Unternehmen, aber auch für Newcomer, zur Verfügung stellen. Wir sehen nicht zuletzt ein etwas unterschätztes Instrument vor, nämlich die Erleichterung des Starts in die Selbstständigkeit durch die so genannten Ich-AGs oder Familien-AGs. In diesem Zusammenhang sind wir mit dem Bundesfinanzminister dabei, das Steuerrecht für Kleinstunternehmer zu überprüfen mit dem Ziel, es so unbürokratisch wie möglich zu gestalten, um gewissermaßen vom Start an ohne bürokratische Belastungen dem Gründer oder der Gründerin einer Ich-AG oder einer FamilienAG einen Spielraum zu bieten. Wir werden auf all diesen Feldern alle Regulierungen abbauen, die bürokratisch bzw. überflüssig sind. Ich sage dies ausdrücklich auch mit Blick auf das Handwerk und die Handwerksordnung. Als jemand, der zu denjenigen gehört, die die Kammerorganisation im Industrie- und Handelskammerbereich genauso wie im Handwerksbereich ernst nehmen, sage ich: Wir brauchen mehr Flexibilität im Handwerksrecht; denn sie ist notwendig, damit wir den Gründerinnen und Gründern, die aus der Arbeitslosigkeit kommen und eine Ich-AG aufbauen wollen, ohne Behinderung durch die Handwerksordnung den notwendigen Spielraum für ihre berufliche Selbstständigkeit geben können. ({31}) Ich bitte das Handwerk schon jetzt um Verständnis für diese Maßnahme und um Mitwirkung. Nach der Vorlage des Berichts der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen beim Bundesfinanzminister werden wir endgültig die im Hartz-Konzept - auf das stützen wir uns - vorgesehenen Voraussetzungen für die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe schaffen. Das Ziel dieser Maßnahme ist völlig klar - wir werden es voraussichtlich zum 1. Januar 2004 erreichen -: Wir werden auf diese Weise ineffektive und unbegründbare Doppelstrukturen und Verschiebebahnhöfe endgültig beseitigen sowie eine neue, einheitliche Leistung für alle erwerbsfähigen Menschen einführen. Dieses so genannte Arbeitslosengeld II muss materiell zwischen der bisherigen Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe angesiedelt sein. Es ist klar, dass auch die Anrechnungsmodi etwa für Vermögen oder für das Einkommen des Partners - ich nehme damit Bezug auf einige Pressemeldungen, die ich heute gelesen habe - entsprechend angepasst werden müssen. Um allen Horrormeldungen und Sorgen schon vorab entgegenzutreten, versichere ich: Niemand wird durch die geplanten Veränderungen aus der bisherigen Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe abgedrängt werden. Niemand wird auf Sozialhilfe angewiesen sein! Wir werden dafür die notwendigen Vorkehrungen treffen. Aber wir müssen den bisherigen sachlich nicht begründbaren Widerspruch zwischen der Behandlung arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und der von Arbeitslosenhilfeempfängern überwinden. Darauf zielt einer der Vorschläge der Hartz-Kommission ab. Er ist vernünftig und liegt dem zugrunde, was wir als Arbeitslosengeld II bezeichnen. Wir werden diesen Vorschlag in die Tat umsetzen. ({32}) Ich vermute, dass auf diesem Feld eine der wichtigsten Aufgaben liegt. Wir werden mit all dem, was ich hier darzustellen versuche - es gibt sicherlich noch einige Aspekte, die über die von mir angesprochene Fragestellung hinaus gehen -, einen erheblichen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit genauso wie der Arbeitslosenversicherung leisten. Dies muss und wird geschehen. Wir werden insbesondere durch die rasche Realisierung dessen, was an praktischen und konkreten Maßnahmen im Hartz-Konzept vorgesehen ist, erhebliche Entlastungen bei der Arbeitslosenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit bewirken. Das ist die Aufgabe und das Ziel. Ich stütze mich bei all dem, was das HartzKonzept betrifft, auf die Vorarbeiten, die mein Kollege Walter Riester und das bisherige Ministerium für Arbeit und Sozialordnung geleistet haben. Ich habe hohen Respekt vor dieser Arbeit. Ich bin in diese Arbeit eingestiegen und werde sie mit voller Kraft verwirklichen. ({33}) Die Umsetzung des Hartz-Konzepts - um das gleich deutlich zu sagen - ist die wichtigste Aufgabe im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, die wir jetzt zu lösen haben. Ich lese immer wieder, dass das noch nicht ausreiche. Ich warte interessiert und gespannt auf die Beiträge zur Realisierung des Hartz-Konzepts, die sicherlich von allen Seiten kommen werden. Es werden gewaltige Schritte sein, die tiefer gehen werden, als die meisten öffentlichen Diskussionen bisher erkennen lassen. ({34}) Ich werde auch im Bundesrat mit jedem einzelnen meiner bisherigen Kollegen Ministerpräsidenten öffentlich debattieren. Meine Bitte ist, dass jeder und jede mitmacht und dass sich niemand dem entzieht. Niemand hat nach meinem Verständnis das Recht, sich aus der Lösung der von mir skizzierten Hauptaufgabe herauszustehlen. Dies werde ich jedenfalls nicht hinnehmen. Ich werde jeden zur Diskussion zwingen. Ich bin jetzt alt genug, um meine Zeit darauf zu konzentrieren. ({35}) Die Umsetzung des Hartz-Konzepts ist das Wichtigste, was wir jetzt anpacken werden. Es ist aber natürlich nur ein Baustein in der gesamten Wirtschaftspolitik, die wir in der vor uns liegenden Zeit machen werden. Der zweite Schwerpunkt - ich muss mich in meiner Rede auf Schwerpunkte beschränken - konzentriert sich auf den Mittelstand. Das Klima für den Mittelstand, für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, ist offensichtlicher rauer geworden. ({36}) Dabei spielt nicht Ihre Polemik, sondern der konjunkturelle Gegenwind, der den Absatz beeinträchtigt, eine Rolle. Die Konsolidierung, die viele Großunternehmen aus Gründen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit vornehmen, dünnt bestehende Lieferverbindungen für kleine und mittlere Unternehmen aus. Gleichzeitig gibt es zunehmende Probleme bei der Finanzierung und es gibt, gerade für kleine und mittlere Unternehmen, zweifellos auch eine zu hohe bürokratische Belastung. Die Großbanken sind nach wie vor, ganz vorsichtig gesagt, zögerlich mit der Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen. ({37}) Die Klärung der Finanzfragen ist überlebenswichtig für den Mittelstand. Wir sehen darin eine unserer Hauptaufgaben. Ich sehe darin eine meiner Hauptaufgaben und ich fühle mich in der Verantwortung, zu einer ausreichenden Finanzierung des Mittelstands beizutragen. ({38}) Ich kann jetzt nur einige Einzelmaßnahmen nennen, meine Damen und Herren. Ich nenne die Unterstützung der Hausbanken durch eine teilweise Haftungsentlastung und durch bessere Anreize zur Durchleitung von Förderkrediten, damit die Hausbanken ihre Aufgabe, den Mittelstand ausreichend mit Krediten zu versorgen, besser wahrnehmen können. Ich nenne die Zusammenlegung der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank, die der Bundesfinanzminister und ich gemeinsam in aller Kürze vornehmen werden. Dort werden wir die Förderprogramme für den Mittelstand bündeln und straffen und durch eine Mittelstandsbank des Bundes den Mittelstand maßgeblich und wesentlich unterstützen. ({39}) Ich nenne eine Öffnung des EKH-Programms mit staatlichem Risikokapital, das bisher auf Gründerinnen und Gründer konzentriert ist und das wir für kleinere Mittelständler in reiferen Unternehmensphasen öffnen sollten, um insbesondere so genannte Sprunginvestitionen möglich zu machen und zu fördern. Ich nenne die Nutzung der Erfahrungen, die wir mit den Beteiligungskapitalmodellen von KfW und DtA haben, um anlagebereites privates Kapital auch dem breiten Mittelstand über spezielle Fonds zur Verfügung zu stellen. Oder ich nenne das Beteiligungskapitalprogramm der BTU, mit dem wir innovative Gründungen auf den Weg bringen und Instrumente zur Anschlussfinanzierung entwickeln müssen. Auch die Außenwirtschaftsförderung werden wir insbesondere zugunsten des Mittelstandes, der kleinen und mittleren Unternehmen, nutzen. Das Auslandsgeschäft wird auch für den Mittelstand in Deutschland immer wichtiger. Jedes dritte mittelständische Unternehmen bei uns ist im Auslandsgeschäft aktiv. Wir haben gute Chancen für eine Ausweitung des Auslandsengagements in den nächsten Jahren. Diese Chancen ergeben sich aus der Einführung des Euro, mit dem Wechselkursrisiken im Euro-Raum weggefallen sind, was den Handelsaustausch und Investitionen in anderen Euro-Staaten erleichtert. Ich nenne die Erweiterung der Europäischen Union, für die jetzt die Tür geöffnet worden ist und mit der sich zahlreiche neue Geschäfts- und Kooperationsmöglichkeiten bieten werden. Um dem Mittelstand die Nutzung seiner Chancen im Globalisierungsprozess und im erweiterten europäischen Binnenmarkt zu erleichtern, werden wir Instrumente der Außenwirtschaftsförderung noch stärker auf den Mittelstand ausrichten, zum Beispiel bei der Abwicklung der Zollverfahren, zum Beispiel bei der Beratung durch die Außenhandelskammern, zum Beispiel durch die Auslandsmesseförderung und selbstverständlich durch Hermes-Exportbürgschaften und durch Investitionsgarantien. Wir bereiten zudem eine umfassende Initiative „Innovation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ vor, die die Innovationskomponente der kleinen und mittleren Unternehmen stärken wird. Das ist überaus wichtig. Unser Ehrgeiz muss sein, dass wir auf den Feldern, die für den Weltmarkt der Zukunft entscheidend sein werden - das sind die Kommunikationsbranche, die Biotechnologie, die Medizintechnologie, die Energietechnologie, die Verkehrstechnologie, die Mikrostruktur- und Mikrosystemtechnologie -, in Deutschland auf Platz 1 kommen. Wir sind auf etlichen dieser Felder auf einem sehr guten Weg und wir werden diesen Weg fortsetzen. ({40}) Weil Investitionen der Humus für künftige Innovationen und Wachstumsimpulse sind, werden wir gerade in den neuen Ländern die Investitionsförderung auf hohem Niveau fortführen. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ bleibt Eckpfeiler der Investitionsförderung in den neuen Ländern. Die Mittel des Investitionsfördergesetzes werden wir zur Erleichterung auch der kommunalen Investitionen weiterhin ungebunden zur Verfügung stellen. Ich gehe davon aus - wir haben guten Grund, davon auszugehen, denn wir haben dies so vorgesehen -, dass die erfolgreiche Umsetzung des Hartz-Konzepts, die ja bedeutet, dass arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger aus der Sozialhilfe in die Arbeitsvermittlung kommen, weitere kommunale Mittel für Investitionen freistellt und dass diese kommunalen Mittel tatsächlich für Investitionen genutzt werden. Hinzu kommt, dass wir mit einem Masterplan Bürokratieabbau wuchernde Bürokratie und Verwaltungsüberbau zurückschneiden müssen. ({41}) Das ist eine wichtige Aufgabe, um so die Arbeit der kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land zu fördern. Der Mittelstand muss Kraft und Energie in die Erschließung neuer Märkte, in die Entwicklung neuer Produkte und in die Schaffung neuer Arbeitsplätze stecken, statt sie in Ämtern und bürokratischen Prozeduren zu verplempern. Wir werden dazu innerhalb der Landesregierung auf allen Feldern die Initiative ergreifen. ({42}) - Der Bundesregierung. Ich bitte um Entschuldigung. Sie werden mir das sicherlich nachsehen. Ich bin diesem wunderbaren Amt des Ministerpräsidenten noch etwas verhaftet. Zumindest Einzelne unter Ihnen werden Verständnis dafür haben. Einige sollen sich ja auch schon einmal um ein solches Amt bemüht haben. Ich habe es jetzt aber abgegeben. ({43}) Ich selbst werde jeden Vorschlag zum Bürokratieabbau prüfen, der mir genannt wird. Ich werde für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedenfalls des Bereichs, für den ich jetzt Verantwortung trage, Boni aussetzen, um umsetzbare Vorschläge zum Bürokratieabbau, zum Abbau überflüssiger Regularien und Bürokratien zu erhalten und durchzusetzen. ({44}) Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich eine ganz klammheimliche Sympathie, Herr Bundeskanzler, für einen Vorschlag habe, den Helmut Schmidt kürzlich gemacht hat, nämlich die verfassungsrechtliche Grenze für innovative Experimente in den Ländern zu öffnen und eine Experimentier- und Innovationsklausel für die neuen Länder ins Grundgesetz zu übernehmen. Ich sage dies sehr vorsichtig. Wir haben auf der Landesebene - das ist im Moment die letzte Bemerkung als Ministerpräsident solche Experimentierklauseln für die kommunale Ebene geschaffen. Nach unserer Erfahrung bewähren sie sich sehr. Davon wird sehr sorgfältig Gebrauch gemacht. Es ist ein Instrument, um Kräfte freizusetzen. Auf diese Weise könnte man für eine überschaubare Zeit gesonderte gesetzliche Regelungen in einem Land oder auch in mehreren Ländern zulassen. Wir können daraus für weitere Prozeduren lernen; denn wir müssen den Prozess der Überwindung von Überbürokratie in Deutschland wirklich mit neuen Ideen voranbringen. ({45}) Der Wettbewerb der Ideen ist eröffnet, auch auf diesem Feld. Wir sollten uns nicht allzu lange mit Einzeldiskussionen aufhalten, weil uns die Zeit davonläuft. An der Allianz für Erneuerung teilzunehmen heißt auch, Neues zu probieren. Nein gesagt worden ist jetzt genug in Deutschland. Jetzt muss auf diesem Feld im Sinne dessen, was der Bundeskanzler gestern deutlich gemacht hat, gesagt werden, was geht. Wir werden sagen, was geht, und das werden wir realisieren. ({46}) Was geht, ist beispielsweise zum Thema Bürokratieabbau eine Vereinheitlichung von Bescheinigungen im Arbeits- und Sozialbereich. Was geht, ist eine stärkere Nutzung der elektronischen Datenübermittlung, insbesondere zur zentralen Speicherung von Arbeitsbescheinigungen durch die Einführung einer Jobcard. Was geht, ist die Vereinheitlichung von Fristen und ist die Anhebung von Grenzen für die Buchführungspflicht im Steuerrecht. Was geht, ist eine deutliche Reduzierung statistischer Meldepflichten, insbesondere durch eine stärkere Nutzung vorhandener Verwaltungsdaten. Das haben wir uns vorgenommen. Was geht, ist die flächendeckende Einführung einer einheitlichen Wirtschaftsnummer unmittelbar nach erfolgreichem Abschluss der Erprobung. All dies müssen und werden wir jetzt in die Tat umsetzen ({47}) und damit neue Kräfte freisetzen. ({48}) Die Umsetzung des Hartz-Konzepts und die Mittelstandsinitiative werden in ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung eingebettet sein. Sie werden in eine flexible Konsolidierungspolitik für die öffentlichen Finanzen eingebettet sein, die den dringend notwendigen Schuldenabbau mit bevorstehenden weiteren Steuerentlastungen in den Jahren 2004 und 2005 für Unternehmen und Bürger, aber auch mit verstärkten Zukunftsinvestitionen für Infrastruktur, für Bildung, für Forschung und für Familie verbindet - so wie wir es im Koalitionsvertrag vorgesehen haben. Sie sollten in eine Tarifpolitik eingebunden sein, die die Arbeitsmarktlage berücksichtigt und - wie es bereits in Tarifverträgen geschieht, jedenfalls in all denen, die ich kenne - die flexible Regelungen zugunsten betrieblicher Lösungen zulässt. Sie sollten in eine Geldpolitik eingebettet sein, die sich am Stabilitätsziel orientiert und dabei ihre Möglichkeiten zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung nutzt. Sie sollte und wird eingebunden sein in weitere - ich füge ausdrücklich hinzu: überlegte - Fortschritte bei der Öffnung der Telekommunikations-, der Post-, der Energieund der Bahnmärkte. Sie wird eingebunden sein in eine stärkere Berücksichtigung industrieller Interessen in Brüssel. Ich denke dabei etwa an die Chemikaliensicherheit und anderes. Außerdem sollte sie in die Beschleunigung des Strukturwandels hin zur Entwicklung der Informationsgesellschaft in unserem Land eingebunden sein. Ich verweise in diesem Zusammenhang beispielsweise auf das neue Programm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“. Es ist mir ein wichtiges Anliegen, ein in der Bundesrepublik Deutschland verbreitetes Unsicherheitsgefühl zu überwinden: die Neigung zum Pessimismus, die Neigung dazu, grau in grau zu malen. ({49}) Das mögen Sie, die Abgeordneten der Opposition, jetzt halten, wie Sie es für richtig halten. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich in Deutschland eine Grau-in-grau-Stimmungslage verbreitet. ({50}) Ich jedenfalls werde meine Kraft dazu einsetzen. Um dieser Stimmungslage entgegenzuwirken, brauchen wir selbstverständlich konkrete Maßnahmen. Ich habe Ihnen heute eine Reihe von konkreten Maßnahmen genannt. Es handelte sich um diejenigen Maßnahmen, die wir als erste anpacken werden. Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir auch ein bisschen mehr Mut und ein bisschen mehr Zuversicht in die Zukunft; deshalb ist das, was ich als „Allianz für Erneuerung“ bezeichne, so wichtig. Mir ist es wichtig, dass die „Allianz für Erneuerung“ gerade auf dem Feld in Gang kommt, das uns und mir am Herzen liegt, nämlich auf dem Arbeitsmarkt. Der Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt werden wir uns ab sofort mit noch mehr Kraft widmen. Ich bin überzeugt: Wir können und wir werden Erfolg auf diesem Felde haben, wenn wir es gemeinsam anpacken. Das zu tun ist meine Bitte an alle. Ich setze auf den Willen zum Erfolg. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({51})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Clement, wir heißen Sie in Berlin herzlich willkommen, wo Sie Ihrer neuen Aufgabe nachgehen. Sie übernehmen eine wichtige, vielleicht die wichtigste Aufgabe in dieser Bundesregierung. Sie übernehmen das traditionsreiche Ministerium von Ludwig Erhard, das mit wegweisenden politischen Entscheidungen in diesem Lande verbunden ist. Auf Ihnen und Ihrer Arbeit ruht die Hoffnung vieler Menschen in Deutschland, dass es nach vier Jahren rot-grüner Politik in diesem Lande auch und gerade auf dem Arbeitsmarkt wieder besser wird. Dabei begleiten Sie, wenn man so will, alle unsere Sympathien. ({0}) Lassen Sie mich gewissermaßen als Fußnote auf Folgendes hinweisen: Sie hätten hier nicht unbedingt Nordrhein-Westfalen als Referenzwert nennen sollen; ({1}) denn Sie kommen aus dem Bundesland mit der höchsten Arbeitslosigkeit aller westdeutschen Flächenstaaten, mit einer der niedrigsten Investitionsquoten und mit einer der höchsten Pleitenzahlen in Westdeutschland. ({2}) Herr Clement, das ist kein Ausweis für eine gute Politik für ganz Deutschland. ({3}) Aber Sie tragen nun Verantwortung weit über dieses Land hinaus. Wenn Sie dieser Verantwortung gerecht werden wollen, dann gehört dazu, dass Sie die Ausgangslage, in der wir stehen, richtig beschreiben und daraus auch die richtigen Konsequenzen ziehen. Herr Clement, es ist wahr, dass es uns in Deutschland besser als den Menschen in vielen anderen Ländern dieser Welt geht. ({4}) Es ist wohl wahr, dass es uns in Deutschland immer noch besser geht als den Menschen in der Sahelzone oder den Menschen in Papua-Neuguinea. Das ist alles wahr. ({5}) Wir gehören zu den führenden Industrienationen und es geht uns im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf dieser Welt immer noch relativ gut, und zwar nicht wegen, sondern trotz Rot-Grün. ({6}) Das Entscheidende aber ist doch, dass wir im Vergleich zu vielen anderen Industrienationen in Europa und außerhalb Europas in den letzten Jahren nicht nach vorn gekommen, sondern zurückgefallen sind. Die Bundesrepublik Deutschland war einst Wachstumslokomotive in Europa und währungspolitisch ein Stabilitätsanker. Heute, vier Jahre nachdem die Bundesregierung, der Sie nun angehören, Verantwortung übernommen hat, ist Deutschland im europäischen Vergleich Schlusslicht beim Wachstum ({7}) und durch die Politik des Finanzministers zu einem ernsthaften Stabilitätsrisiko für unsere gemeinsame europäische Währung geworden. ({8}) In Ihre Verantwortung, Herr Clement, fällt nun wieder die Zuständigkeit für die Wirtschaftsforschungsinstitute. Sie haben nach vier Jahren richtigerweise wieder die Grundsatzabteilung übernommen, die sozusagen die Seele des Bundeswirtschaftsministeriums ist und die einst durch Oskar Lafontaine in das Haus des Bundesfinanzministers übertragen wurde. Sie sind der Auftraggeber für die Gutachten der Sachverständigen. Diese Gutachten, für die immerhin jeweils rund 600 000 Euro pro Jahr gezahlt werden und zu denen sich die wirtschaftspolitisch und wirtschaftswissenschaftlich Besten dieses Landes zusammenfinden, die von Ihnen mit ausgewählt werden, besagen doch genau das, was wir Ihnen seit langer Zeit vortragen. Nach wie vor ist das trendmäßige Wachstum in Deutschland - so heißt es im letzten Gutachten niedriger als in fast allen Ländern des Euroraums. Der Abstand zu den USAist noch größer. Auch ist die Arbeitslosigkeit nach wie vor sehr hoch. Diese beiden Probleme bestehen seit langem und bisher hat die Wirtschaftspolitik wenig zu ihrer Lösung beigetragen. Diese Analyse schließt ein, dass die Probleme der Bundesrepublik Deutschland von der weltwirtschaftlichen Entwicklung nicht völlig unabhängig sind. Aber die wesentlichen Probleme in Deutschland haben mit der Weltwirtschaft wenig zu tun, sie sind hausgemacht. ({9}) Wenn Sie aus diesen Problemen herausfinden wollen, müssen Sie sich die richtigen Ziele setzen. Zu den richtigen Zielen in einer marktwirtschaftlichen Ordnung gehört eine klare Zielbestimmung über die Abgrenzung dessen, was der Staat aus der erwirtschafteten Leistung der Menschen und Betriebe für sich beanspruchen darf, kann und soll und was die Menschen für sich behalten dürfen und müssen. Dies verbindet sich in der Wirtschaftspolitik mit der Staatsquote, also mit der Frage: Wie hoch ist der Anteil des Verbrauchs der staatlichen Systeme, der Steuerhaushalte, der Haushalte der sozialen Sicherungssysteme an der wirtschaftlichen Leistungskraft einer Volkswirtschaft? Die Staatsquote ist unter der Verantwortung der Regierung, der Sie jetzt angehören, Herr Clement, nicht gesunken, sondern tendenziell weiter gestiegen. Das, was jetzt an Regierungsprogrammen vorgelegt worden ist und was der Bundeskanzler hier gestern lustlos vorgetragen hat - im Vergleich dazu war Ihre Rede eine Rede voller Dynamik -, ({10}) deutet in allen wesentlichen wirtschaftspolitischen Bestandteilen darauf hin, dass die Staatsquote in diesem Lande wieder über 50 Prozent steigen wird. Wenn ein Land eine Staatsquote von 50 Prozent oder mehr hat, gibt es aber keine soziale Marktwirtschaft mehr. Dann ist es vielmehr eine Staatswirtschaft mit einem abnehmenden privaten Sektor. ({11}) - Um diesem Zwischenruf gleich zu entgegnen: Die Staatsquote ist in den 90er-Jahren, nach der deutschen Wiedervereinigung, kurzfristig auf über 50 Prozent angestiegen, nachdem sie vorher bei 46 Prozent gelegen hat. Helmut Schmidt hat eine Staatsquote von weit über 50 Prozent hinterlassen, ohne Wiedervereinigung. ({12}) Wir sind in den 90er-Jahren in der Lage gewesen, mit den Wiedervereinigungskosten und -lasten die Staatsquote in Deutschland wieder auf 48 Prozent abzusenken. Die Staatsquote muss noch weiter herunter. Herr Clement, ich hätte erwartet, dass Sie in Ihrer ersten wirtschaftspolitischen Rede in neuer Funktion hinsichtlich dieser wesentlichen, vielleicht der wichtigsten makroökonomischen Größe unserer Volkswirtschaft ein Ziel bestimmen, das Sie mit Ihrer Politik erreichen wollen, damit es in Deutschland wieder mehr Dynamik, mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze gerade in den von Ihnen zu Recht genannten mittelständischen Unternehmen gibt. Hierzu hätten Sie heute Morgen etwas sagen müssen. ({13}) Ihr Vorgänger Werner Müller hat immerhin den Mut gehabt - wenigstens in der ersten Hälfte der vergangenen Wahlperiode -, eine solche Zielbestimmung von 40 Prozent zu verfolgen, so zum Beispiel hat er sie in den Wirtschaftsbericht des Jahres 2000 aufgenommen. Das hat, wenn ich die Reaktionen damals richtig verstanden habe, auch die beifällige Zustimmung des Herrn Bundeskanzlers gefunden. Wie sieht Ihre Zielbestimmung bezüglich der künftigen Staatsquote in Deutschland aus? Dazu haben Sie nichts gesagt. Wenn Sie jedoch zulassen, dass durch die Politik dieser Bundesregierung die Staatsquote noch weiter erhöht wird, dann sind all Ihre Ziele, die Sie heute hier zum Mittelstand, zur Wirtschaft, zu Wachstum und Beschäftigung formuliert haben, Makulatur. Diese werden Sie dann nicht erreichen. ({14}) In diesen Zusammenhang gehört natürlich die Frage, wie sich denn die Steuerlastquote und die Belastungen durch die Sozialversicherungsbeiträge entwickeln sollen. Wir haben vor vier Jahren - damals noch in Bonn von der damals neuen Bundesregierung gehört, dass sie mit dem Konzept einer so genannten ökologisch-sozialen Steuerreform die Belastungen durch Sozialversicherungsbeiträge senken wollte. Wir haben dem, was Sie damals versprochen haben, aus, wie sich heute herausstellt, sehr guten Gründen nie geglaubt. Heute, vier Jahre später, erleben wir sowohl eine weitere Steigerung der Steuerbelastung der Menschen in Deutschland als auch ein Steigen der Sozialversicherungsbeiträge, nicht zuletzt zur Rentenversicherung, die doch durch die Ökosteuer subventioniert werden sollte. Welche Konzeption verfolgt unser neuer Wirtschaftsminister bei diesem Thema? ({15}) Herr Clement, Sie sind ja jetzt auch für die Wettbewerbspolitik zuständig. Ich habe es sehr zustimmend aufgenommen, dass Sie für mehr Wettbewerb eintreten. Gestern hat sich hier der Bundesaußenminister, wohl in seiner Eigenschaft als Übervorsitzender der Grünen, zur Wirtschaftspolitik zu Wort gemeldet und sich als Kassenpatient geoutet. Ich stelle die Frage, meine Damen und Herren, und konkret Ihnen, Herr Clement: Sind Sie der Meinung, dass Wettbewerb zu einem tragenden Element unserer sozialen Sicherungssysteme werden soll? Als Bundeswirtschaftsminister müssen Sie zu zentralen wirtschaftspolitischen Themen dieses Landes etwas sagen. Mehr Wettbewerb stellt aus unserer Sicht die einzige Chance dar, die notwendige Effizienz in den sozialen Sicherungssystemen herbeizuführen, die wir alle wollen und brauchen, damit die Abgabenbelastung nicht weiter steigt. ({16}) Nun haben Sie sehr intensiv noch einmal das HartzKonzept erläutert. Wir sind auf die konkreten Gesetze gespannt, die Sie zur Umsetzung dieses Konzepts vorschlagen und dem Deutschen Bundestag vorlegen. Ich möchte Ihnen übrigens raten, wenn ich das tun darf, die öffentliche Debatte über Sinn und Unsinn Ihrer Gesetze nicht nur mit den von Ihnen so apostrophierten Profis der Nation im öffentlichen Raum zu führen, sondern bitte Sie darum, die Debatte auch hier im Deutschen Bundestag zu führen. ({17}) Hier ist das Forum der Nation, wo die grundlegenden Diskussionen über die Zukunft unseres Landes geführt werden müssen. Ich sage das deshalb, Herr Clement, weil wir uns bei Ihrem Vorgänger zwangsläufig daran gewöhnen mussten, dass er im Deutschen Bundestag so gut wie nie anwesend war, außer dann, wenn im Rahmen unmittelbarer Wirtschaftspolitik einmal große politische Debatten stattgefunden haben. Obwohl auch Sie kein Bundestagsmandat haben, sollten Sie gleichwohl häufig dabei sein, damit diese Debatte hier vor den Augen der gesamten deutschen Öffentlichkeit und nicht nur im Kreis des Vorstandes der Volkswagen AG geführt werden kann. ({18}) Ich will Ihnen zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission, die Sie übernehmen wollen, Folgendes sagen: Es mag das eine oder andere dabei sein - ich komme in anderem Zusammenhang noch darauf zu sprechen -, was durchaus richtig ist. Insgesamt gilt aber doch, dass die von vielen Seiten, nicht nur vonseiten der Opposition am Hartz-Konzept geäußerte Kritik unverändert richtig ist. Mit einer besseren Vermittlung der Arbeitslosen kann man vielleicht eine höhere Beschäftigungsquote erreichen, aber ganz bestimmt nicht mehr Arbeitsplätze in Deutschland schaffen. Das ist doch der entscheidende Punkt. ({19}) Herr Clement, Sie sind heute Morgen bei Ihrer ersten Rede hier auf viele Details eingegangen. Alle diese Details mögen mehr oder weniger richtig sein. Auch die Frage, welche Förderung für welche Unternehmen durch die öffentliche Hand gewährt wird und welche nicht, mag uns im Detail beschäftigen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass unserer Volkswirtschaft seit längerer Zeit die notwendige Dynamik fehlt, aus sich selbst heraus die Arbeitsplätze zu schaffen, die wir brauchen, ohne dass sie auf staatliche Subventionen angewiesen ist. ({20}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf das letzte Sachverständigengutachten zu sprechen kommen. Darin heißt es wörtlich: Gleichwohl erscheint die Hoffnung der Hartz-Kommission, durch Umsetzung ihrer Vorschläge in den nächsten drei Jahren 2 Millionen Arbeitslose in Lohn und Brot zu bringen, als illusorisch. Die Probleme des deutschen Arbeitsmarkts resultieren nur in geringem Maße aus einer ineffizienten Arbeitsvermittlung und unzureichenden Instrumenten. Herr Clement, auf dieser Basis sollten wir uns darauf verständigen, die Vorschläge der Hartz-Kommission objektiv zu bewerten. Manches zeigt durchaus in die richtige Richtung, aber der große Wurf ist das nicht, wenn Sie die Ziele erreichen wollen, die Sie heute Morgen hier zu Recht apostrophiert haben. ({21}) Ich möchte Ihnen jetzt einige konkrete Fragen stellen. Mit großer Aufmerksamkeit habe ich vernommen, dass Sie die Tarifpolitik angesprochen haben. Herr Clement, sind Sie bereit, gegen den anhaltenden Widerstand der deutschen Gewerkschaften, jedenfalls großer Teile von ihnen, dafür zu sorgen, dass das Tarifvertragsgesetz und möglicherweise auch das Betriebsverfassungsgesetz so geändert werden, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland, ({22}) abweichend auch von Flächentarifverträgen, ({23}) möglich sind, ja oder nein? Das ist eine entscheidende Frage für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. ({24}) - Nicht alle Zurufe von Ihnen sind zu hören, aber aus manchen Reihen höre ich hier ein lautes Nein. ({25}) Entscheidend ist doch, dass gesetzliche Regelungen getroffen werden, sodass Sie nicht vom Wohlwollen von Einzelgewerkschaften in Deutschland abhängig sind. ({26}) Entscheidend ist, dass die Gesetze geändert werden und nicht der Goodwill einzelner Gewerkschaften in Anspruch genommen werden muss. Herr Clement, sind Sie bereit, in den Ausbildungsordnungen von Theorie entlastete Berufsbilder zuzulassen, ({27}) sodass Jugendliche, die weniger theoretische Fähigkeiten, dafür aber mehr praktische Fähigkeiten haben, im Rahmen einer verkürzten Ausbildungszeit einen Berufsabschluss erreichen und anschließend auch eine qualifizierte Beschäftigung finden können? ({28}) - Ich höre gerade, dass sogar der Präsident mit dem Begriff nichts anfangen kann. Vielleicht sollte ich ihn deshalb erläutern. Die Gewerkschaften in Deutschland wehren sich seit Jahren dagegen, dass solche Berufsbilder etabliert werden, weil sie der Meinung sind, dass nur eine auch in vollem theoretischen Umfang herbeigeführte Ausbildung auf Dauer zu Beschäftigung führt. Wir sind anderer Meinung. Es muss solche Berufsbilder geben. ({29}) Sie, Herr Clement, haben es in der Hand, solche Berufsbilder zu ermöglichen. ({30}) Sie haben die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe angesprochen. Seit vier Jahren schlagen wir Ihnen vor, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen ({31}) und daraus ein neues Instrument zu schaffen, mit dem insbesondere auf kommunaler und regionaler Ebene Arbeitsmarktpolitik wieder möglich gemacht wird. Was wir in den letzten Tagen dazu gehört haben, Herr Clement, stimmt uns nicht sehr optimistisch dahin gehend, dass Sie das wirklich so umsetzen wollen. Der entscheidende Punkt ist doch - lassen Sie mich einmal sagen, wie es wirklich ist -, dass das System unserer Arbeitslosenhilfe in früheren Jahren eine Wiedereingliederungshilfe für diejenigen gewesen ist, die schon einen Beruf oder eine neue Beschäftigung in Aussicht hatten. Daraus ist über die Jahre - das ist nicht erst mit dem Regierungswechsel im Jahre 1998, sondern lange vorher geschehen - eine vollständige Lohnersatzleistung geworden, die unter bestimmten Bedingungen sogar bis ans Lebensende gezahlt wird. Dies ist ein Fremdkörper im System. Wenn wir neben der Versicherungsleistung des Arbeitslosengeldes eine Sozialleistung brauchen, dann ist die Sozialhilfe die richtige. Diese Leistung ist im Sinne von Subsidiarität - ein tragendes wirtschaftspolitisches Ordnungsprinzip - auf kommunaler Ebene richtig angesiedelt. Wenn wir dieses Prinzip effizient ausgestalten wollen, dann muss dies so geschehen, dass arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger Sozialhilfe nur dann bekommen, wenn sie ihrerseits vorher einen aktiven Beitrag dazu geleistet haben, dass man sie wieder in den Arbeitsprozess eingliedern kann. ({32}) Wir haben dazu sehr konkrete Vorschläge gemacht. Wir haben gesagt, dass arbeitslosen Sozialhilfeempfängern in Zukunft Leistungen nur noch dann gewährt werden sollen, wenn sie entweder eine zumutbare Beschäftigung, wobei die Zumutbarkeitsregeln erheblich korrigiert werden müssten, bzw. eine gemeinnützige Beschäftigung annehmen oder bereit sind, eine gezielte, auf die schnelle Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt ausgerichtete Fortbildung oder Umschulung zu machen. Die Umkehr der Beweislast, dass also nicht der Staat beweisen muss, dass diese Menschen etwas schaffen können, sondern dass sie dies umgekehrt beweisen und sie dafür Hilfe brauchen, ist eine zentrale Forderung der Union, damit dieses System wieder vom Kopf auf die Füße gestellt wird. ({33}) Herr Clement, Sie haben in den letzten Tagen angekündigt, das Thema der Entbürokratisierung zur Chefsache machen zu wollen. ({34}) Wir sind - das wissen Sie wahrscheinlich - in dieser Beziehung etwas vorgeprägt. Wenn jemand sagt, ein bestimmtes Thema zur Chefsache machen zu wollen, dann müssen das die Betroffenen nach den Erfahrungen, die wir in diesem Zusammenhang gemacht haben, eher als eine Drohung empfinden. ({35}) Wenn Sie es gleichwohl tun wollen, haben Sie eine große Aufgabe vor sich. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Regierungserklärung zur rot-grünen Koalitionsvereinbarung des Jahres 1998 im Deutschen Bundestag erklärt: Wir wollen einen effizienten und bürgerfreundlichen Staat. Deswegen werden wir Bürokratie abbauen. ({36}) Ich habe das einmal nachsehen lassen: Das Ergebnis der vierjährigen rot-grünen Regierungszeit von 1998 bis 2002 zum Thema „Bürokratieabbau“ war, dass wir in Deutschland nach diesen vier Jahren - jetzt hören Sie genau zu; diese Zahlen haben selbst mich überrascht bzw. schockiert - 391 Gesetze und sage und schreibe 973 Rechtsverordnungen des Bundes mehr haben. ({37}) Herr Clement, da haben Sie sich eine Aufgabe vorgenommen, im Hinblick auf deren Bewältigung ich Ihnen nur gute Reise und viel Glück wünschen kann. Wenn Sie das schaffen, haben Sie sich um die Zukunft unseres Landes wirklich verdient gemacht. ({38}) Gehen Sie also ans Werk! Wir machen Ihnen ganz konkrete Vorschläge, wie Sie das tun können. Der erste Schritt wäre - da Sie ja schnell arbeiten wollen, wie wir zumindest hören, können wir das unter Verzicht auf sämtliche Fristen sofort innerhalb weniger Stunden erledigen -: Schaffen wir gemeinsam das Gesetz zur Scheinselbstständigkeit ab! ({39}) Das wäre ein erster guter Schritt auf dem Weg hin zum Abbau von Bürokratie. Dann sollten wir bitte auch gleich das Gesetz zur Betriebsverfassung, das zu einer völlig überflüssigen Bürokratisierung geführt hat und den Mittelstand in diesem Land belastet, beseitigen. ({40}) Wir sind sofort bereit, mit Ihnen ein erhebliches Stück an Bürokratieabbau zu betreiben. Beschränken wir doch gemeinsam den Anspruch auf Teilzeitarbeit auf diejenigen, die Beruf und Familie wirklich miteinander vereinbaren müssen! Beseitigen wir diesen wirtschaftspolitisch falschen Rechtsanspruch auf Teilzeit für jedermann in den deutschen Betrieben! Das können Sie mit uns sofort umsetzen. ({41}) Herr Clement, Sie haben das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz angesprochen. Die in diesem Gesetz vorgesehenen Bedingungen sind in der letzten Wahlperiode mehrfach geändert und verschärft worden. ({42}) Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, aber vermutlich wurde es im Bundesrat auch mit Zustimmung des Landes Nordrhein-Westfalen verabschiedet. Wenn Sie dieses Gesetz korrigieren wollen, können wir damit in der nächsten Woche anfangen. Wir werden zustimmen, wenn Sie hier entsprechende Korrekturen vornehmen wollen. ({43}) Sie haben das Wort „Experimentierklauseln“ verwendet. ({44}) - Es klingt in der Tat gut. - Entsprechende Gesetze, beispielsweise zum Thema „Anwendung der Sozialhilfe in den Bundesländern nach unterschiedlichen Vorstellungen“, haben sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag bereits vorgelegen. Sie alle sind von der rot-grünen Mehrheit abgelehnt worden. ({45}) Wenn Sie Ihre Meinung geändert haben sollten, beglückwünschen wir Sie dazu. Unsere Zustimmung zu einer entsprechenden Öffnung und zu zusätzlichen Kompetenzen der Länder in der Anwendung und Ausführung von Bundesgesetzen werden Sie erhalten. ({46}) Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, darauf hinzuweisen, dass wir jenseits aller Detaildiskussionen in der Steuerpolitik, in der Sozialpolitik und der Wirtschaftspolitik die grundlegende Notwendigkeit sehen, im föderalen Staat zu einer Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zu kommen. Sie haben sich viel vorgenommen. Aber Sie werden es nicht schaffen, Herr Clement, wenn nicht gleichzeitig im besten Sinne des Wettbewerbsföderalismus auch die Länder in Deutschland wieder mehr Zuständigkeiten und mehr Kompetenzen auch und gerade in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bekommen. Wenn Sie die Experimentierklauseln in diesem Sinne verstehen und wenn Sie sie einführen wollen, werden Sie die Zustimmung der Unionsfraktionen für ein solches Vorhaben mit Sicherheit finden. Abschließend sei mir erlaubt, einen Hinweis auf einen Sachverhalt zu geben, der nach meinem Gefühl in den letzten 24 Stunden im Deutschen Bundestag eine zu geringe Rolle gespielt hat, nämlich die weitere demographische Entwicklung unseres Landes. Sowohl in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom gestrigen Tag als auch in Ihrer Rede ist dieses Thema zu kurz gekommen. Aufgrund der Entwicklung des Bevölkerungsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland stehen wir vor sehr schwer wiegenden und grundlegenden Problemen in den öffentlichen Haushalten, in der gesamten Volkswirtschaft und in der Infrastruktur. Die schrumpfende Zahl der Bevölkerung wird erhebliche Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen in diesem Lande haben. Von einem Bundeswirtschaftsminister und allemal von einem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, die gemeinsam ein rot-grünes Jahrzehnt ausgerufen haben und einen so umfassenden Gestaltungsanspruch für dieses Land erheben, müsste man eigentlich erwarten, dass sie zu diesem zentralen demographischen Problem unseres Landes mehr zu sagen haben als nur ein paar Floskeln und ein paar Fußnoten. Bei der Neuausrichtung der Infrastrukturpolitik, der Technologiepolitik und der Bildungspolitik ist es nicht damit getan, dass Sie auf der einen Seite den Familien das Geld aus der Tasche ziehen, indem Sie die Eigenheimzulage kürzen, und auf der anderen Seite 4 Milliarden Euro für vier Jahre für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung stellen. Wie müssen sich die Familien vorkommen, die jetzt keine Häuser mehr bauen können, aber dafür für ihre Kinder eine Ganztagsbetreuung angeboten bekommen? Das ist doch keine Antwort auf diese Fragen. ({47}) Neben dem Problem der langfristigen Sicherung der sozialen Sicherungssysteme stellt uns die Demographie vor - jedenfalls vor Jahren - ungeahnte Herausforderungen und Probleme. ({48}) Wenn sich die Bundesregierung nach vier Jahren rotgrüner Wirtschaftspolitik, die unser Land nicht nach vorn gebracht, sondern weiter zurückgeworfen hat, unter Ihrer Mitverantwortung, Herr Clement, eines Besseren besonnen hat, dann sind wir die Letzten, die das kritisieren werden. Denn nach wie vor gilt das, was wir in den letzten Wochen und Monaten gesagt haben - nach der Regierungserklärung des gestrigen Tages ist es noch deutlicher und klarer geworden -: Dieses Land hat eine bessere Politik und auch eine bessere Regierung verdient. ({49}) Ich komme zum Schluss. Herr Clement, ich wünsche Ihnen für Ihre verantwortungsvolle Aufgabe einen guten Start. Die SPD stellt vier neue Minister. ({50}) - Ich kann gut verstehen, dass es Ihnen nicht gefällt, wenn ich dieses Thema anspreche. Da sitzen vier neue Minister von der SPD auf der Regierungsbank, aber kein einziger aus den Reihen Ihrer Fraktion. Das lässt gewisse Rückschlüsse darauf zu, was der Bundeskanzler von Ihrer Bundestagsfraktion hält. ({51}) Wie jeder neue Minister haben Sie Anspruch auf eine gewisse Schonfrist. Wenn ich es richtig ausgerechnet habe, enden die ersten 100 Tage von Wolfgang Clement im Amt des Bundeswirtschaftsministers am 30. Januar, einem Donnerstag. Ich schlage vor, dass wir an diesem Tag die Debatte, die wir heute begonnen haben, fortsetzen. Ich sage Ihnen schon jetzt: Wenn es bei Ankündigungen bleibt und wenn die Politik der Bundesregierung weiter rückwärts führt, dann wird die Stimmung etwas anders sein als heute Morgen. Herzlichen Dank. ({52})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Clement, obwohl ich nur eine kurze Redezeit zur Verfügung habe, möchte ich vorab etwas zu Ihrer Rede sagen: Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Ich glaube, mit dem, was Sie hier vorgeschlagen haben, wird es möglich sein, das Ziel zu erreichen, das besonders wir Grüne uns gesteckt haben, nämlich Zugangsgerechtigkeit am Arbeitsmarkt herzustellen. ({0}) Lieber Kollege Merz, Ihnen muss ich allerdings sagen: Bei Ihnen ist tatsächlich nach der Wahl vor der Wahl; denn leider ist das, was Sie vor der Wahl gesagt haben, hier nur wiederholt worden. Ich bin darüber entsetzt, dass Sie die Schlusslichtdebatte, die Sie bereits im Wahlkampf geführt haben, wieder begonnen haben. Schließlich weiß jeder hier im Land, wann wir Schlusslicht geworden sind; das war unter Ihrer Regierung zu Beginn der 90er-Jahre. ({1}) Ich bin auch darüber entsetzt, dass Sie die Stirn haben - wenn auch verklausuliert -, wieder einmal Ihr 40-40-40Konzept als einzige Alternative zu unserer Politik vorzustellen, obwohl Sie ganz genau wissen, dass Sie damit die Staatsverschuldung in die Höhe treiben würden. Sie haben für Ihr Konzept überhaupt keine Finanzierungsgrundlage vorgestellt. ({2}) Sie fragen nach den Zielen unserer Politik. Wenn Sie den Koalitionsvertrag gelesen hätten, wären sie Ihnen ins Auge gesprungen. Dort steht deutlich geschrieben: Erneuerung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Diese sind der Kern unseres Regierungsprogramms. Sie können darüber lachen oder sich abwenden, ich sage Ihnen aber: Uns ist es sehr ernst damit. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit, angesichts der niedrigen Wachstumsprognosen und der - das ist von Ihnen richtig bemerkt worden - demographischen Entwicklung müssen Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit für das, was wir vorhaben, nämlich Erneuerung in der Arbeitsmarktpolitik, in der Wirtschaftspolitik und bei den sozialen Sicherungssystemen, unsere Maßstäbe sein. Herr Merz, die Bevölkerung hat längst begriffen, dass auf der einen Seite Reformen anstehen, dass aber auf der anderen Seite für diese Reformen Maßstäbe notwendig sind, die auch in schwierigen Zeiten gültig sind. Die Bevölkerung hat bei der Flutkatastrophe gezeigt, dass sie es begriffen hat. Wir haben vor der Wahl gesagt, dass es nicht möglich ist, eine solch außergewöhnliche Situation durch zusätzliche Verschuldung nach Ihrem alten Konzept „Rein in den Schuldenstaat“ zu meistern. Wir haben deutlich gemacht, dass es notwendig ist, ({3}) die geplanten - sie werden auch kommen - Steuersenkungen um ein Jahr hinauszuschieben. Es ist wohlfeil gewesen, so zu tun - das haben Sie vor der Wahl gemacht -, als könnten Sie für das Jahr 2003 weitere Steuersenkungen - diese haben Sie früher in unserem Konzept angegriffen - zusagen. Es ist wohlfeil gewesen. Aber die Bevölkerung hat Ihnen genau dieses unehrliche Konzept nicht abgenommen. Sie hat begriffen, dass wir mit den Maßstäben von Nachhaltigkeit, also uns nicht zulasten zukünftiger Generationen zu verschulden, und Gerechtigkeit, also die Lasten je nach Stärke der Schultern zu verteilen, den richtigen Weg eingeschlagen haben, um schwierige Situationen zu bewältigen. ({4}) Wir brauchen uns hier überhaupt nichts vorzumachen: Natürlich sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, mit denen wir Arbeits- und Wirtschaftspolitik betreiben wollen und müssen, schwierig. Die Wachstumsprognosen werden korrigiert und sie werden mit Sicherheit unter der momentanen Beschäftigungsschwelle in Deutschland liegen. Die Beschäftigungsschwelle liegt bei etwa 2 Prozent. Es ist schwierig, all das, was darunter ist, in positive Beschäftigungseffekte umzusetzen. Unter diesen schwierigen Bedingungen machen wir uns daran, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Dies stellt erhebliche Anforderungen an die Beschäftigungspolitik. Wir stellen uns diesen Anforderungen. Ein erster Schritt ist die Umsetzung des Hartz-Konzepts 1 : 1. Ich glaube, konkreter kann es nicht sein. Wir machen dies, obwohl wir wissen, dass wir wegen der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung im nächsten Jahr ein zusätzliches Defizit zu bewältigen haben werden. Die Umsetzung des Hartz-Konzepts entspricht einer nach vorn gerichteten Wirtschaftspolitik, einer Wirtschaftspolitik, die auch die Voraussetzung einer konjunkturgerechten Konsolidierung erfüllt. Vor die Sparklammer werden wir Investitionen in die Zukunft, in den Arbeitsmarkt, ziehen. Dazu gehören zum Beispiel Investitionen für erneuerbare Energietechniken, die arbeitsmarktrelevant sind. Wir werden uns für die Ganztagskinderbetreuung einsetzen. Dies ist etwas, was Frau Merkel hier gestern noch als Brosamen bezeichnet hat, wohl nicht wissend, dass die Beschäftigungsfähigkeit von Frauen, von Personen mit Familie, von Erziehenden von der Möglichkeit abhängig ist, Erwerbstätigkeit mit Familie zu verbinden. ({5}) Herr Merz hat eben gesagt, er möchte das Teilzeitgesetz wieder ({6}) reduzieren. Auch dieses Gesetz ist ein wesentliches Element, mit dem wir Menschen, die mit Kindern leben, in Arbeit bringen können. Diese Dinge werden wir vor die Sparklammer ziehen. Ferner werden wir das JUMP-Programm für arbeitslose Jugendliche vor die Klammer ziehen. Ansonsten gilt: Sowohl bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik als auch bei den notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme wird es um Effizienzsteigerungen, aber auch um Abstriche gehen. Darum kommen wir nicht herum. Allerdings werden wir bei der Veränderung der sozialen Sicherungssysteme den sozialen Schutz der Menschen nicht infrage stellen. Herr Merz, Sie haben vorhin einen wesentlichen Punkt angesprochen, nämlich die Notwendigkeit der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe. Aber dies wollen Sie im Gegensatz zu anderen Kollegen Ihrer Fraktion im Kern nicht. Dies haben Sie deutlich gemacht. Sie wollen die Menschen in die Sozialhilfe abdrängen. Außerdem wollen Sie den Bezug der Sozialhilfe zeitlich befristen. Wir schlagen ein neues Leistungssystem vor, in dem die Arbeitslosenhilfe nicht auf die Höhe der Sozialhilfe abgesenkt wird und in dem diejenigen, die heute Arbeitslosenhilfe beziehen, aktive Hilfe bekommen, um wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Unter den Bedingungen der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung ist eine Rundumerneuerung am Arbeitsmarkt besonders notwendig. Die Umsetzung des Hartz-Konzepts ist ein zentraler Schritt. Es macht überhaupt keinen Sinn, dieses hier klein zu reden. Der Minister hat einzelne Punkte genannt. Es geht unter anderem darum, die Bundesanstalt fürArbeit zu reformieren. Am Ende dieses Prozesses wird etwas anderes herauskommen als das, was wir heute kennen, und zwar wird es eine Dezentralisierung mit einem höheren Entscheidungsspielraum in den Regionen und einem veränderten Aufgabenschwerpunkt in Richtung vermittlungsorientierter Dienstleister geben. ({7}) Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch, dass wir wesentliche Elemente zur Senkung der Dauer der Arbeitslosigkeit entwickeln und umsetzen werden, und zwar unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung. Diese sind: schnellere Vermittlung durch Prävention, eine neue Balance zwischen Fördern und Fordern, Hilfe aus einer Hand, Jobcenter - die Sie auch immer gefordert haben -, schnelle Hilfe. Dies alles bedeutet auch, Herr Merz, eine veränderte Beweislast für die Betroffenen sowie veränderte, differenziertere Bestimmungen hinsichtlich der Zumutbarkeit für die Arbeitsuchenden. Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch - hierin liegt eine große Chance -, dass wir die Zeitarbeit beherzt fördern, allerdings tarifvertraglich gesichert. Damit haben wir ein Instrument, mit dem die Arbeitslosen auf der einen Seite ihren Kündigungsschutz behalten und die Unternehmen auf der anderen Seite die notwendigen Flexibilitäten bei den Einstellungen bekommen können. Herr Merz, ich weiß, Sie sind recht neu in dem Bereich der Arbeitsmarktpolitik und der Umsetzung des HartzKonzepts. ({8}) Deswegen ist Ihnen vielleicht entgangen, dass die Veränderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, die wir in der letzten Legislaturperiode gemacht haben, zu erheblichen Erleichterungen geführt hat, so zum Beispiel zu einer Verlängerung der Überlassungsfrist. ({9}) Ich bin froh, dass der Minister hier deutlich gemacht hat, dass wir durch die tarifvertragliche Sicherung auch dazu kommen können, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz insgesamt vollständig zu entbürokratisieren und abzubauen. Der nächste Punkt betrifft ein wichtiges Element bei schwierigen wirtschaftlichen Entwicklungen. Wir werden der Schwarzarbeit zu Leibe rücken, und zwar nicht, indem wir verbieten oder kontrollieren, sondern indem wir den Menschen die Hand reichen und ihnen die Möglichkeit geben, aus der Schwarzarbeit heraus und in legale Beschäftigung zu kommen. Das betrifft viele Bereiche, zum Beispiel die Haushalte. Es ist vernünftig, in diesem Bereich die Minijobs einzuführen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir überprüfen werden, ob diese Heraufsetzung der Geringfügigkeitsschwelle nicht auch in anderen Bereichen arbeitsmarktpolitisch Sinn macht und sozialverträglich geregelt werden kann. Das ist bei der hohen Schwarzarbeit, die wir in unserem Lande haben, ein sehr wichtiger Schritt. Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch Hilfe zur Selbstständigkeit. Die Menschen sollen ihre eigenen Schicksale in die Hand nehmen können und sich selbstständig machen können. Nichts anderes ist die Ich-AG. Die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet, dass wir Wettbewerbselemente einführen. Das ist ungeheuer wichtig, gerade zur Steigerung der Effizienz noch immer sehr bürokratischer Strukturen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Alle, die ihr Arbeitsamt vor Ort kennen, werden sich noch die Augen reiben, wenn sie feststellen, wie viel Selbstbestimmung durch die wettbewerbliche Vergabe und die Anwendung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten dezentral möglich ist. Herr Merz, die Umsetzung des Hartz-Konzepts bedeutet auch das, was Sie zum Beispiel in Bezug auf die Qualifikation eingefordert haben. Die Qualifikation und die Abschlüsse gerade von jungen Menschen werden vollständig verändert. Sie werden flexibilisiert und an den betrieblichen Bedürfnissen sowie den Fähigkeiten der Betroffenen orientiert. Kürzere, auch modulare Ausbildung wird möglich sein. Das wird wichtig sein, um die Leute in den Arbeitsmarkt hineinzubringen. ({10}) Ich gebe hier keine Prognosen ab, wie stark der Entlastungseffekt sein wird. Aber eines kann ich sagen: Wir werden es schaffen, mit diesen Instrumenten die Dauer der Arbeitslosigkeit zu senken. Wir kommen mit ihnen an die Schwarzarbeit heran und können so die Beschäftigungsschwelle in diesem Bereich, die heute sehr hoch liegt, senken. Ich nenne Ihnen zum Abschluss eines der grünen Ziele in diesem Zusammenhang - das steht auch in den Koalitionsvereinbarungen -: Wenn es uns gelingt - da bin ich sicher -, mit diesen Instrumenten die Arbeitslosigkeit Stück für Stück abzubauen, die Dauer der Arbeitslosigkeit Schritt für Schritt zu senken, dann werden die Effizienzgewinne, die wir im System haben, auch zur Senkung der Lohnnebenkosten, zur Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge verwandt werden; denn die Stabilisierung und - in der Zukunft - die Senkung der Lohnnebenkosten sind ein ganz zentrales Element, mit dem wir die Beschäftigungspolitik positiv flankieren können. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Tauss, Sie sollten mal nicht nur als IG-MetallMann sprechen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Clement, Sie haben heute Ihre erste Rede als neuer Superminister gehalten. Ich darf Ihnen zu Beginn im Namen der FDP-Fraktion für Ihre Tätigkeit ein herzliches Glückauf zurufen. ({0}) Ich will mit einem Lob beginnen. Es war richtig, dass der Bundeskanzler die Bereiche Wirtschaft und Arbeit zusammengelegt hat. Das haben wir seit Jahren gefordert. Im Januar dieses Jahres haben wir einen Antrag hierzu im Parlament eingebracht. Damals hat ihn Grün-Rot mit der Begründung abgelehnt, dies sei nicht sinnvoll. Jetzt nehmen Sie diese Zusammenlegung vor. Wir halten dies für richtig, weil ein innerer Zusammenhang besteht. Der Arbeitsmarkt muss auch als Markt verstanden werden. Die Bereiche Wirtschaft und Arbeit müssen ganzheitlich zusammengeführt werden. Deshalb ist diese Entscheidung richtig. Sie ist indirekt aber natürlich auch eine Kritik an den beiden Vorgängern und ein Eingeständnis, dass die alte Struktur nicht die richtige war. Dieser organisatorische Befreiungsschlag allein reicht aber nicht. Ich habe im Koalitionsvertrag nichts zur inhaltlichen Ausgestaltung gefunden. Es muss ja doch eine Politik aus einem Guss sein. Mir fiel auf, dass im ganzen Kabinett kein einziger Wirtschaftswissenschaftler sitzt. Die Regierung hat offenbar ihre Probleme mit ökonomischem Sachverstand. Herr Clement, Ihre Kritik an dem Herbstgutachten fand ich nicht in Ordnung. Wenn Sie diejenigen, die es erarbeitet haben, für unfähig halten und wenn Sie es an sich für falsch halten, dann stellen Sie die Erarbeitung solcher Gutachten doch einfach ein. Sparen Sie das Geld und geben Sie es lieber dem deutschen Handwerk. Aber Aufträge zu erteilen und dann zu sagen, das, was geliefert wurde, sei unnützes Zeug, ist nicht in Ordnung. ({1}) Professor Sinn, dem Chef des Ifo-Instituts, dessen Äußerungen Sie heute Morgen - das war ein Beispiel für unqualifizierte Kritik - abqualifiziert haben, haben Sie Unrecht getan. Das Ifo-Institut hat am 14. August und am 10. September umfassende Studien über die Vorschläge der Hartz-Kommission öffentlich vorgelegt. Dort ist im Einzelnen wissenschaftlich begründet worden, wo die Bedenken liegen. Sie sollten einmal hineinschauen. Herrn Professor Sinn sollten Sie sagen, dass er doch etwas mehr geliefert hat als das, von dem Sie heute Morgen gesprochen haben. Ihre Kritik war nicht in Ordnung. ({2}) - Ich habe schon zugehört. Wenn der Patient Fieber hat, dann ist die Lösung nicht, Herr Stiegler, das Fieberthermometer an die Wand zu knallen; ({3}) man muss vielmehr den Infekt bekämpfen, die Immunschwäche beseitigen und den Körper wieder kräftigen. ({4}) Dann kann der Gesundungsprozess eingeleitet werden. Nicht das Fieberthermometer, sondern der Infekt ist die Ursache dafür, dass der Patient krank ist. Dort müssen Sie mit der Therapie ansetzen. Das neue Ministerium darf nicht zu einem verbeamteten runden Tisch werden, an dem alle zusammensitzen. Die Zusammenführung von Kompetenzen muss dazu genutzt werden, um verkrustete Strukturen am Arbeitsmarkt aufzubrechen. ({5}) Das Konzept der Hartz-Kommission ist sicherlich ein Ansatz dazu. Gehen Sie das an. Man muss vieles aber auch kritisch hinterfragen dürfen. Sie beginnen jetzt mit dem Jobfloater. Ich habe Zweifel, ob Unternehmen nur deshalb, weil sie mehr Kredite kriegen, Menschen einstellen. Vielleicht führt das auch zu einem Drehtüreffekt: Die Unternehmen entlassen Mitarbeiter, holen sich bei Ihnen den Kredit ab und stellen die Mitarbeiter dann wieder ein. Dadurch haben Sie nichts gewonnen, Sie haben nur das Geld unter die Leute gebracht. Versuchen Sie das aber trotzdem. Wir müssen sehen, ob wir damit vorankommen. ({6}) Für mich haben Sie bei Teilen der Ansätze eine kostümierte Vorgehensweise. Sie vermitteln die Zeit- und Leiharbeit quasi vom Staat her, indem Sie Arbeitsämter zu großen Leiharbeitsfirmen umfunktionieren. Sinnvoller wäre es aber doch, die Bedingungen am Arbeitsmarkt gleich so zu ändern, dass Arbeitsplätze unmittelbar dort entstehen, wo Arbeit anfällt. ({7}) Dazu müssten Sie die Einstellungsbarrieren beseitigen, müssten über die Überreglementierungen nachdenken, den Kündigungsschutz überdenken und den Betrieben die Möglichkeit geben, intern mehr entscheiden zu können. Sie wissen genau: 60 bis 70 Prozent aller Arbeitsverhältnisse in Ostdeutschland entsprechen nicht dem geltenden Tarifvertragrecht. Diese Arbeitsverhältnisse sind alle rechtswidrig. Doch niemand, nicht einmal die Gewerkschaften, rührt an diesem Zustand. Selbst Herr Tauss mit seinen Zwischenrufen wagt sich nicht daran. ({8}) Denn Sie wissen aus gutem Grund: ({9}) Wenn Sie da herangehen, verdoppeln und verdreifachen Sie die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Deshalb muss die Schlussfolgerung sein: Geben Sie den Betriebsräten, den Betrieben und dem Mittelstand mehr Freiheiten, damit sie eigene Wege gehen, eigene Regelungen aufstellen und betriebliche Bündnisse - oder wie immer Sie es nennen wollen - eingehen können. Machen Sie das nicht kostümiert. Geben Sie ihnen die Möglichkeit dazu. ({10}) Ich komme zu dem berühmten Mainzer Modell, das vor der Bundestagswahl als Wunderwaffe angepriesen wurde. Mich hat es nicht überrascht, dass nicht viel dabei herauskam. Schon bei den Modellversuchen in Brandenburg und in Rheinland-Pfalz kam nicht viel heraus. Denn es ist doch ein absurder Ansatz. Sie haben es durch staatliche Regelungen geschafft, die Lohnnebenkosten in Deutschland so nach oben zu treiben, dass wir mit Steuergeldern die Lohnnebenkosten subventionieren müssen, damit in Deutschland noch Arbeit entsteht. Es ist doch absurd, wie wir in Deutschland vorgehen. Gehen Sie doch die Ursachen an und machen Sie es nicht kostümiert. ({11}) Was haben Sie uns beschimpft, als wir gesagt haben, dass es in haushaltsnahen Bereichen viele Beschäftigungsmöglichkeiten gibt! Nicht Sie persönlich, aber Ihre Genossen haben uns als eiskalte Liberale bezeichnet ({12}) und haben vom Dienstmädchenprivileg geredet. Jetzt machen Sie es kostümiert, durch eine Art 630-Mark-Regelung; es geht also um den Niedriglohnsektor. Hätten Sie es gleich gemacht, wäre schon viel erledigt. Sie versuchen es; unsere guten Wünsche haben Sie. Ich bin überzeugt, dass man an viele Bereiche konsequenter herangehen müsste. Sie haben einen richtigen Satz an den Anfang gestellt: Damit die Wirtschaft wieder in Gang kommt, brauchen wir Vertrauen bei Konsumenten, Arbeitnehmern, beim Mittelstand und bei Unternehmen. Wie kann denn Vertrauen entstehen, wenn vor der Wahl gesagt wird, die Steuern würden gesenkt, diese nach der Wahl aber erhöht werden? Wie kann Vertrauen entstehen, wenn vor der Wahl gesagt wird, die Schuldenkriterien nach Maastricht würden nicht überschritten, obwohl nach der Wahl die Schulden erhöht werden und man über diese Kriterien hinweggeht? Wie kann Vertrauen entstehen, wenn dadurch die Währungsstabilität - auch des Euro - angetastet wird? Man kann nicht nur sagen, dass man Vertrauen will. Man muss auch eine Politik betreiben, die Vertrauen auslöst. ({13}) Die Menschen verhalten sich richtig; denn sie sind unsicher. Sie fragen sich, ob sie ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen behalten, ob sie einen neuen Arbeitsplatz erhalten und ob sie mehr verdienen können. Deswegen halten sie das Geld zurück und sparen lieber; die Sparquote geht nach oben. Der Mittelstand ist verunsichert und fragt sich, ob die Vermögen- und die Erbschaftsteuer kommen, ob noch mehr draufgeknallt wird, ob die Mehrwertsteuer weiter erhöht wird und ob Sie nur warten, bis die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen vorbei sind, um den zweiten Teil der Wahrheit, den Offenbarungseid in der Finanzpolitik, auf den Tisch zu legen. ({14}) Das schafft kein Vertrauen. Das Vertrauen der Menschen kann man nicht reklamieren, sondern man muss es sich erarbeiten; das ist Ihre Aufgabe. ({15}) Die Hoffnungen sind auf Sie gerichtet. Dass die Presse so verheerend ist, ist kein böser Wille; die „Süddeutsche Zeitung“ ist ja eher die Hauspostille dieser Regierung. Es ist doch nicht unsere Erfindung, dass Sie dort so stark kritisiert werden. Es hat doch seinen Grund, dass Sie diese Pressekommentare bekommen. Das ist doch keine bösartige „Kettenhund“-Inszenierung dieser abartigen Opposition, sondern das ist die Bewertung vieler draußen, die sagen, dass Ihr Einstieg nicht in Ordnung ist, er kein Vertrauen weckt und die Wirtschaft so nicht in Gang gesetzt wird. ({16}) Deshalb müssten Sie, Herr Minister, das ordnungspolitische Gewissen sein. Der Minister für Wirtschaft und Arbeit ist mehr als ein Sonderbeauftragter zur Umsetzung der Ergebnisse der Hartz-Kommission. Er muss der Kompass sein; Laufen allein ist nicht die Lösung. ({17}) Sie müssen wissen, wo Sie hinlaufen; Sie müssen der Kompass in dieser Regierung der Verirrten sein. ({18}) Sie wollen die Eigenheimzulage streichen. Eine Familie mit zwei Kindern, die ein Einkommen von 35 000 Euro im Jahr hat, gehört nicht zu den Spitzenverdienern. Für diese wird es zu einer Mehrbelastung von 200 bis 400 Euro pro Monat kommen. Das sind jetzt noch die letzten freien Einkommensteile, mit denen man etwas bewegen kann. Deshalb ist der Ansatz, den Sie gewählt haben, falsch. Sie müssen den Mut haben, konsequent an die Subventionen heranzugehen. Ich hätte alle um 10 Prozent gekürzt. ({19}) Natürlich wird es für Sie, der Sie langjähriger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen waren, schwer. Die Steinkohle ist tabu, obwohl sie ökologischer Unfug ist; sie trägt nämlich erheblich zu den CO2-Emissionen bei. ({20}) Daran müssen Sie als Erstes herangehen, an diesen Pakt der Unseligkeit für Europa, mit dem Sie eine Verlängerung dieser Subventionen in der Praxis erreicht haben. Im Gegenzug dürfen die Franzosen, die Italiener und die Holländer ihre Spediteure weiter zulasten der deutschen Brummifahrer subventionieren. Das ist ein falscher Pakt. Das ordnungspolitische Gewissen muss aufschreien. Sie müssen ein Gegenpol sein und sagen - das hat auch Karl Schiller schon gesagt -: Genossen, lasst die Tassen im Schrank. - Lesen Sie wenigstens einmal, was Helmut Schmidt, die Ikone sozialdemokratischer Politik, in der „Zeit“ geschrieben hat. Ich bin bereit, jeden Satz dieses Aufsatzes morgen früh zu unterschreiben. Er hat ja doch so Recht. Er sagt, Ursache sei das Tarifkartell. - Gebt den Leuten doch ein wenig mehr Freiraum und denkt nicht nur an die Funktionäre. Diese haben keine Arbeitsplatzsorgen; sie sitzen drin, sie sind fest angestellt und werden bezahlt. Denkt an die, die draußen stehen und hineinkommen und die auch eine Chance haben wollen. ({21}) Der Wahlkampf ist herum. Deshalb müssen wir jetzt gemeinsam die Kraft finden, mit einer anderen Politik neue Chancen zu eröffnen. ({22}) - Mancher schreit, weil er nicht anders kann. ({23}) Machen Sie das doch zu Hause mit Ihrer Frau, nicht im Parlament. Pöbeln Sie doch Ihre Frau an, nicht mich; das ist doch viel einfacher. ({24}) Der erste Schritt muss sein, die Fehlentwicklung zu korrigieren. Werden Sie bitte kein Monopolminister wie Herr Müller. Er dachte nur an die Großkonzerne. Denken Sie an den Mittelstand. Ich nenne hier nur einige Stichworte: Scheinselbstständigengesetz, Umsatzverkürzungsgesetz, Bauabzugsteuer, Verschärfung der Mitbestimmung. Das alles ist grottenfalsch. Dadurch können Vertrauen und eine gute Stimmung nicht entstehen. Was hat denn der deutsche Mittelstand Grün-Rot getan, dass er so schlecht behandelt wird? - Natürlich ist er steuerpolitisch schlechter behandelt worden. Er erhält seine Entlastung auf Raten. Sie haben gerade eine Rate dieser Entlastung mit der Begründung „Hochwasser“ verschoben. Er wird sie allenfalls später bekommen. ({25}) Weshalb können die großen Konzerne ihre Beteiligungen steuerfrei veräußern, während der Malermeister, der im Malereinkauf eine Beteiligung von 50 000 DM hat, steuerlich anders behandelt wird? Deshalb ist der Ansatz, Vertrauen zu schaffen, richtig. Wir brauchen alle Menschen, die mitmachen. Dazu brauchen wir Glaubwürdigkeit. Herr Eichel hat einmal ganz gut angefangen. Er hat Sozialdemokraten erklärt, wie wichtig Sparen ist. Heute spart er nur noch an einem, an seiner eigenen Glaubwürdigkeit. Das kann aber nicht die Lösung dafür sein, wie wir das Vertrauen zurückgewinnen können. Versuchen Sie, das zu leisten. Das ist einfach. Herr Clement, Sie haben Kredit. Verspielen Sie diesen Kredit nicht. Machen Sie das, was notwendig ist, mutig und kräftig, damit unser Land auf einen anderen Kurs kommt; denn das Land ist wichtiger als unsere Parteien. ({26}) Der Ansatz, der bisher von dieser Regierung mit einer langen Latte von Steuererhöhungen, Verschlechterungen, Gleichmacherei bis hin zur Beitragsbemessungsgrenze - alles geht nach oben - präsentiert wurde, ist nicht der richtige. Sie müssen eine Korrektur vornehmen - und das heute -, sonst werden Sie es nicht schaffen. Allen Parteien insgesamt - selbst Ihnen mit Ihrer Pöbelei; wenn man nichts weiß, schreit man eben; er schreit vor Dummheit - vertrauen nach Umfragen aller demoskopischen Institute weniger als 50 Prozent der Bevölkerung. ({27}) Wenn wir es nicht schaffen, das Vertrauen gemeinsam zurückzugewinnen, wird es mit der Wirtschaft und dem Staate nichts. ({28}) - Herr Schmidt, es hilft auch nichts, wenn man, wie Sie es gestern getan haben, dazwischenschreit: Sie wissen gar nicht, was rauskommt. - Sie haben uns offenbar ein Kostümfest präsentiert. Wir sind gespannt, was rauskommt. Hoffentlich wird es nicht noch schlimmer, als es schon ist. ({29})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ludwig Stiegler, SPDFraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPDFraktion begrüßt den neuen Bundesminister und dankt ihm, dass er das schönste Amt, das Deutschland nach dem des Kanzlers zu vergeben hat, verlassen hat, um hier zu arbeiten. Wir werden ihn bei seiner Arbeit unterstützen, begleiten und gelegentlich auch mit ihm streiten. ({0}) Herr Brüderle hat in einem lucidum intervallum gesagt, der Wahlkampf sei vorbei. Aber er hat, wie auch Herr Merz, offenkundig noch die Schallplatte des Wahlkampfes aufgelegt. ({1}) Wenn ich solche Reden höre, muss ich an Kurt Tucholsky denken. Er hat irgendwann einmal gesagt: Habe ich das schon gegessen oder soll ich das noch essen? Mir ergeht es so wie mit dem Lungenhaschee. ({2}) Ich muss sagen: Diese Chance war vertan. Bei Herrn Merz erkenne ich durchaus an, dass er deutlicher als im Wahlkampf geworden ist. Im Wahlkampf wurden die Sozialausschüsse als Mauer vorgeschoben und ins Schaufenster gestellt. Jetzt sind sie wieder in der Requisitenkammer. Nun beginnt der Kampf gegen die Betriebsverfassung, das Tarifvertragsgesetz sowie die Teilzeitbeschäftigung. Herr Merz, nehmen Sie zur Kenntnis: CDU/CSU sind nicht gewählt worden, weil sie eine Gesellschaftsordnung wollten, die die Menschen nicht wollen. Wir wollen in den Betrieben den aufrechten Gang und Menschenwürde. Die Menschen haben uns gewählt, weil wir für Chancen stehen. Wir wollen keine Lösung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf Kosten der Menschen. Wir wollen die Fasane nicht mit einem strengen Winter in die Küche treiben. Bei uns stehen Menschenwürde und wirtschaftliche Sicherheit der Menschen im Mittelpunkt. ({3}) Herr Merz und Herr Brüderle haben um Herrn Clement gebuhlt, weil sie meinen, er müsse jetzt schwarz-liberale Politik machen. Nein, wir werden mit ihm zusammen sozialdemokratische und rot-grüne Politik gestalten. Wir haben die Wahlen gewonnen, während Ihre Konzeption keine Mehrheit gefunden hat. ({4}) Die gegenwärtigen Schwierigkeiten sind weltwirtschaftlich bedingt. ({5}) Helmut Schmidt hat einst in Anlehnung an den Beitrag von Walther Rathenau „Die Wirtschaft ist das Schicksal“ geschrieben: Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal. Auch die Gutachter sehen die Sorgen, die wir haben: Irak, Öl, Verfall der Aktienkurse, verbunden mit Vermögensabbau, Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung usw. ({6}) Von außen werden insofern erhebliche Einflüsse wirksam. Wir haben aber durchaus Möglichkeiten, uns zu engagieren. Ich erkenne ausdrücklich an, wie sich Eichel oder Wieczorek-Zeul in den internationalen Gremien um die Stabilisierung der Weltwirtschaft bemühen. ({7}) Wir umschwärmen auch die Europäische Zentralbank, den Zins so festzulegen, dass er investitionsfördernd wirkt, und wir erwarten, dass Europa immer dann, wenn Amerika schwächelt, eine gewisse Vorreiterrolle übernimmt. Wir müssen uns auch dieser weltpolitischen Führungsverantwortung stellen. ({8}) Meine Damen und Herren, wir alle haben uns korrigieren müssen, was die Wachstumserwartungen anbetrifft. Alle - Sachverständigenrat wie auch die entsprechenden Institute - haben ein hohes Wachstum prognostiziert; gegenwärtig ist aber von einem Wachstum in Höhe von nur 1,5 Prozent auszugehen. Die meines Wissens Einzige, die mit ihrer Wachstumsprognose richtig gelegen hat, ist die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk. Sie hat uns das vor einem Jahr vorausgesagt, wir sind ihrer Einschätzung aber nicht gefolgt. Ich möchte ihr an dieser Stelle meine Anerkennung ausdrücken. ({9}) - Was wahr ist, ist wahr. Die Korrektur des erwarteten Wirtschaftswachstums hat gravierende Folgen für den Haushalt und die sozialen Sicherungssysteme. Wir werden eine ganze Menge tun müssen, damit die Risiken, die in Sachen Irak und Öl drinstecken, nicht durchschlagen. ({10}) Deshalb bin ich dankbar, dass der Bundesfinanzminister den mit 29 Milliarden Euro ausgestatteten großen Investitionshaushalt ermöglicht hat. Es besteht insofern kein Problem im Zusammenhang mit den Bundesinvestitionen, sondern eher mit den Investitionen der Länder und Gemeinden. ({11}) Wir führen das Infrastrukturprogramm durch. Die Neuregelungen bei der Ganztagsbetreuung, die Hochwasserhilfe und die Reform der kommunalen Finanzen werden nachfragewirksam gestaltet. Auch die neuen Instrumente wie Public Private Partnership werden Wirkung entfalten. Wir betreiben insofern eine Politik, die Investitionen fördert, und damit schaffen wir dauerhafte Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung. Das sollten Sie unterstützen. ({12}) Wir fördern des Weiteren die Selbstständigkeit. Ich möchte der KfW und der DtA ausdrücklich danken, dass sie bereit sind, die Mittelstandsfinanzierung auf breitere Grundlagen zu stellen. ({13}) Denn das Hauptproblem des Mittelstands stellen nicht die Steuern oder die Betriebsverfassung dar, sondern es liegt in dem vorhandenen Eigenkapital und in der Kreditfinanzierung. ({14}) Unsere Hauptaufgabe in dieser Legislaturperiode besteht in diesem Bereich darin, die Kreditfinanzierung zu regeln und mehr Beteiligungskapital - ob bei Mitarbeitern oder bei regionalen Beteiligungsgesellschaften - zu mobilisieren, um damit möglichst vielen zu helfen. Deshalb ist auch „Kapital für Arbeit“ so wichtig. Dort hinten sitzt Ernst Hinsken, dem es sicherlich nicht anders geht als mir: Jede Woche rufen Mittelständler an, die sich darüber beklagen, dass sie keinen Auftrag annehmen könnten, weil ihre Bank die Finanzierung nicht übernehme. Wenn die Regelung der Auftragsfinanzierung gelingt, werden auch die Banken in die Puschen kommen. ({15}) Deshalb muss die Zusammenarbeit zwischen den Banken und dem Mittelstand organisiert werden. Es ist allgemein bekannt, welche Sorgen die Banken derzeit plagen. Basel II stellt für die Mittelstandsfinanzierung kein Problem mehr dar. Die Konditionen stimmen. Sorgen bereiten den Banken vielmehr die Abenteuer, auf die sie sich in der Vergangenheit eingelassen haben. Ich denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Münchener Banken. Die Hypo-Vereinsbank und die Landeshauptstadt München müssen für Stoibers Kirch-Abenteuer schwer büßen und bluten. Aber so etwas darf nicht zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen gehen. ({16}) Zur Beschäftigungsförderung tragen der Aufbau Ost, die Infrastrukturförderung, die Förderung der unternehmerischen Kräfte und die Fortsetzung der Gemeinschaftsaufgaben bei. Ich, der ich als Oberpfälzer in einer Region groß geworden bin, die vergleichbare Infrastrukturprobleme hat, werde mich zusammen mit Manfred Stolpe sowie mit den Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern ernsthaft um den Aufbau Ost kümmern. Gerade als Bayer habe ich mich immer darüber geärgert, wie sich die CSU gelegentlich gegenüber den neuen Bundesländern aufgeführt hat. ({17}) Wir werden den Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister bei der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission unterstützen nach dem Motto: strikte Einhaltung, volle Anwendung! Wir werden fördern und fordern und nicht wie die FDP und die CDU/CSU quälen und jagen. Das ist der Unterschied. Wir werden die Menschen dort abholen, wo sie stehen, und mitnehmen. Die Einbeziehung der Menschen ist unser Programm. ({18}) Dazu wird Klaus Brandner gleich noch mehr sagen. Unser Leitbild ist eine solidarische Leistungsgesellschaft und nicht eine Shareholder-Value-Gesellschaft, in der alles auf Kapitalvermehrung ausgerichtet ist. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Arbeitnehmer genauso wie die Städte und Gemeinden sowie die Kultur am Wirtschaftsgeschehen Anteil nehmen. Sie sollten den Staat nicht wie einen ungeliebten stillen Gesellschafter der Unternehmen betrachten und meinen, dass nur das, was man dem Staat verweigert, gut sei. Wer Bildung, Forschung, Infrastruktur sowie innere und äußere Sicherheit will, braucht einen handlungsfähigen und leistungsfähigen Staat. Das geht nicht im Gegeneinander, sondern nur im Miteinander von Staat und Wirtschaft. ({19}) In diesen Zusammenhang gehören auch eine neue Ethik des Wirtschaftens und die Verantwortung für die Gemeinschaft. Es würde gerade den Unionsparteien gut anstehen, gelegentlich die Soziallehren der Kirchen nachzulesen, in denen nicht das Kapital, sondern der Mensch und die Menschenwürde im Mittelpunkt stehen. Darauf müssen wir im Umgang mit den Älteren und den Arbeitslosen achten. Wenn Sie von der Senkung der Lohnnebenkosten reden, dann sollten Sie daran denken, dass mit diesen die Renten unserer Eltern, der Gesundheitsschutz für die Kranken und die Versorgung der Pflegebedürftigen bezahlt werden. ({20}) Wer immer nur über die Lohnnebenkosten schimpft, der verletzt unsere solidarischen Pflichten gegenüber denjenigen, die durch die Lohnnebenkosten finanziert werden. Letztlich arbeiten wir, um uns das leisten zu können, und nicht, um wie König Midas nur das Gold zu vermehren. Das ist der Ansatz. ({21}) Wir sollten über die Ethik des Wirtschaftens miteinander streiten und uns über sie verständigen. Wenn man über die Lohnnebenkosten redet, kann man natürlich auch über die Effizienzgewinne diskutieren. Aber man darf nicht eine älter werdende Gesellschaft beklagen und dann die Folgen nicht tragen wollen. Wir sagen: Unser ganzes Wirtschaften und Arbeiten dient dazu, dass wir miteinander gut leben können. Das ist der Leitsatz, an dem wir uns orientieren. Herzlichen Dank. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Stiegler, ich wünsche Ihnen auch in Ihrem neuen Amt eine glückliche Hand. Ich habe während Ihrer Rede eben versucht, herauszufinden, warum Ihr Kollege Ude, der Münchener Oberbürgermeister, Ihnen ein Einreiseverbot erteilt hat. ({0}) Letztlich habe ich mir das aber nicht erklären können. Vielleicht teilen Sie mir später den Grund mit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eines müssen wir der rot-grünen Koalition lassen: Sie haben eine enorme Geschwindigkeit an den Tag gelegt. Ich kann es wirklich nicht fassen, in welcher Rekordzeit Sie es geschafft haben, Ihren Wahlsiegerbonus zu verspielen, ({1}) die Bürger zu enttäuschen und die Wirtschaft zu frustrieren. Ich hätte auch nicht gedacht, dass nach der Wahl ein Aufkleber mit dem Text „Jammert mir nichts vor, ich habe CDU gewählt“ unwahrscheinlichen Absatz findet. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben uns einen Koalitionsvertrag vorgelegt, der nicht nur überhastet erstellt wurde. Er ist mutlos, er ist kraftlos. Er basiert auf Zahlen, die nicht mehr aktuell sind. Er geht von einem viel zu niedrigen Defizit und viel zu hohen Wachstumsraten aus. Er ist nichts anderes als ein wirres Knäuel von irgendwelchen Notmaßnahmen, ein heilloses Durcheinander, ein hektischer Versuch, notdürftig selbst produzierte Haushaltslöcher zu schließen. Notwendige echte Reformen fehlen vollständig. Kein einziger Punkt darin führt zu mehr Arbeitsplätzen. Alles geht in nur eine Richtung: mehr Schulden, mehr Steuern, mehr Abgaben. Es zeigt sich uns ein Dokument der Visionslosigkeit, wie es schlimmer nicht sein kann. ({3}) Der Fehlstart, den Sie jetzt hinlegen, ist noch viel schlimmer als Ihr Fehlstart 1998. Das ist doch alles ein chaotisches Hin und Her: Finanzpläne werden beschlossen und danach wieder relativiert oder total aufgehoben. Keiner weiß, woran er ist. Was ist jetzt mit den Spekulationsgewinnen? Was ist jetzt mit der Eigenheimzulage? Was ist mit der Spendenabzugsfähigkeit? Klären Sie doch endlich einmal auf! Sie hätten besser Ihre Überlegungen angestellt, noch bevor Sie das alles in einen Koalitionsvertrag geschrieben haben. Sie sind doch nur noch ein Reparaturbetrieb. ({4}) Jeder Punkt auf Ihrer Streichliste ist beliebig angreifbar. ({5}) Warum? - Weil Sie kein Konzept haben. Sie haben keine Strategie und Sie können nichts weiter als ratlose Flickschusterei. ({6}) - Warten Sie ab, lieber Kollege! Wo sind denn Ihre Impulse? Wo ist denn die Aufbruchstimmung, die wir brauchen? Wo ist die Hoffnung, die vor allem kleine und mittlere Betriebe brauchen, damit wir aus diesem Wirtschaftskoma wieder herauskommen? Sie haben doch das Vertrauen schon ganz am Anfang zutiefst enttäuscht. ({7}) Das ist das große Problem; denn wir alle wissen, dass Wirtschaftspolitik zu 50 Prozent Psychologie ist. Nicht nur die Stimmung des Mittelstandes ist im Keller: Der Ifo-Geschäftsklima-Index sinkt nun zum fünften Mal in Folge. ({8}) Die aktuelle Herbstumfrage von Creditreform zeigt, ({9}) dass die Investitionsbereitschaft der kleinen und mittleren Betriebe drastisch gesunken ist; der entsprechende Wert liegt bei 25,8 Prozent, ein Rückgang um 17,4 Prozent zum letzten Jahr. Die DIHK-Umfrage hat ergeben: Ein Drittel aller mittelständischen Betriebe will Arbeitsplätze abbauen, von der Schaffung neuer Arbeitsplätze ganz zu schweigen. Sie machen genau das Gegenteil von dem, was nötig wäre, was ökonomisch intelligent wäre. Ihnen fehlen nicht nur die Fantasie und die Kraft, sondern Sie sind auch noch beratungsresistent, meine Damen und Herren. ({10}) In ihrem Herbstguthaben fordern die Wirtschaftsexperten zu Recht, weder die Steuern noch die Sozialabgaben zu erhöhen, um die Wachstumskräfte nicht zu schwächen. Das ist ja auch logisch. Es ist doch sonnenklar: Wenn eine Wirtschaft am Boden liegt, wenn die Konjunktur daniederliegt, darf man auf die Belastungen nicht noch draufsatteln, sondern man muss entlasten, um einen Wirtschaftsaufschwung zu bekommen. Und was machen Sie? ({11}) Sie produzieren ein grandioses Steuererhöhungsprogramm auf breiter Front. Meine Damen und Herren von der Regierung, so werden Sie keinen Beitrag zu dem EU-Beschluss von Lissabon 2000 leisten, wonach angestrebt wird, Europa in zehn Jahren zum dynamischsten Wirtschaftsraum der ganzen Welt zu machen. Im Gegenteil, Ihr Programm ist kontraproduktiv. Sie arbeiten daran, dass es nicht so sein wird. ({12}) Tatsache ist doch, dass schon vorher Steuererhöhungen beschlossene Sache waren: 12 Milliarden Euro zum 1. Januar 2003. In der nächsten Stufe der Ökosteuer in Höhe von 2,8 Milliarden Euro kommt die Erhöhung von Tabaksteuer und Versicherungsteuer ebenso hinzu wie die Verschiebung der Steuerreform mit einem Volumen von 6,3 Milliarden Euro. Jetzt folgt noch die Mehrbelastung im Zusammenhang mit den Beschlüssen aus der Koalitionsvereinbarung. Allein der Bund wird in den nächsten vier Jahren den Arbeitnehmern und den Betrieben 30 Milliarden Euro mehr aus der Tasche ziehen. Sie werden gnadenlos geschröpft. Wir haben ein großes Problem mit unserer Binnenkonjunktur, weil keine Kaufkraft mehr vorhanden ist. Wenn Sie den Menschen immer mehr Geld aus der Tasche ziehen, werden Sie nicht zu einer Stärkung der Kaufkraft beitragen. Sie planen die Abschaffung der Ökosteuerermäßigung für das produzierende Gewerbe. Haben Sie denn vergessen, warum das damals vereinbart worden ist? Das hing damit zusammen, dass diese Betriebe keinen Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren ausländischen Mitbewerbern erleiden sollten. Das war der Grund. Das hing damit zusammen, dass von diesem Bereich der Wirtschaft eine Selbstverpflichtung betreffend Energieeinsatz und Produktion übernommen worden ist. Alles vergessen! „Pacta sunt servanda“ hat es einmal geheißen. ({13}) - Sie wissen es auch, Herr Stiegler. Sie sind doch Jurist. Vielleicht sollten Sie sich ab und zu einmal daran erinnern. Zum Thema Mindeststeuer. Sie suggerieren nach draußen, steuerfaule Unternehmen müssten sich im Interesse des Gemeinwohls auch beteiligen. ({14}) Lügen Sie hier doch nicht so! ({15}) Was Sie damit auf den Weg bringen, ist nichts weiter als ein bürokratisches Monster. Es belastet Existenzgründer, es belastet forschungsintensive Projekte. Damit bekommen wir eines nicht hin, was wir doch alle wollen, nämlich mehr Selbstständigkeit. ({16}) Wir wollen mehr Selbstständigkeit, die auch Arbeitsplätze schafft. Wir wollen wieder einen Innovationsgeist in unserem Unternehmen Deutschland haben. Wie soll denn ein Existenzgründer motiviert werden, wenn man ihm sagt: „Wenn du deine Anfangsverluste nicht in den ersten sieben Jahren wieder hereinholst, bleibst du drauf sitzen“? Da ist es doch nicht motivierend, sich selbstständig zu machen! Das ist doch unsinnig. Ich erinnere Sie daran, dass Sie vor der Wahl im Zusammenhang mit der Eigenheimzulage von einer gesellschaftspolitischen Aufgabe gesprochen haben. Sie haben dieser Zulage einen hohen gesellschaftspolitischen Stellenwert gegeben. Was ist jetzt? Es gibt eine erneute Kürzung, nachdem Sie schon in der letzten Legislaturperiode gekürzt haben. Diese Kürzung jetzt bedeutet praktisch das Aus. Privaten Bauherren wird jeglicher Investitionsreiz genommen. Es ist ein Tiefschlag gegen die Bauwirtschaft ohnegleichen. Dabei liegt der Wohnungsbau ohnehin schon am Boden und die Beschäftigtenzahl in diesem Bereich geht nach unten. Allein in diesem Jahr ist da mit einem Verlust von 60 000 Jobs zu rechnen. ({17}) Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer ohnehin schon schlechten Lage des Mittelstandes. Völlig zu Recht ist die geringe Eigenkapitalquote des Mittelstands - sie liegt zum Teil unter 5 Prozent - angesprochen worden. Für den Mittelstand gilt aber noch etwas anderes: Der Mittelstand arbeitet immens personalintensiv. Dort sind die meisten Menschen in Brot und Arbeit. Wenn Sie die Arbeit teurer machen, indem Sie die Sozialversicherungsbeiträge nach oben schrauben, wie im Koalitionsvertrag geplant, und die Lohnnebenkosten erhöhen, dann - das wissen Sie genau - führt das zu einer zusätzlichen Belastung in dem Bereich, die viele Betriebe in der Zukunft nicht mehr werden tragen können. Es drohen Insolvenzen und das wissen Sie. Wenn man schon weiß, dass Insolvenzen drohen, dann muss man eine Wirtschaftspolitik machen, die das verhindert, und darf nicht noch weiter draufsatteln nach dem Motto: Na ja, wenn es noch ein paar Insolvenzen mehr werden, dann macht das auch nichts. - Das ist Ihre Politik. Das ist eine falsche Politik. ({18}) Allein durch die Pleitewelle in diesem Jahr haben 310 000 Menschen ihre Arbeitsplätze verloren. Daran hängen Schicksale. Daran hängen Familien. Das muss man bedenken, wenn man Gesetze auf den Weg bringt. Ihre Koalitionsvereinbarung könnte man als eine ganz große Tarnkappe bezeichnen. Sie tarnen Steuererhöhungen als Sparmaßnahmen, aber Sie sparen nicht. Statt zu sparen machen Sie genau das Gegenteil. Sie betreiben eine massive Verschuldungspolitik - weg von Ihrem so genannten Konsolidierungspfad, den Sie immer so sehr proklamiert haben. Dabei ist es doch notwendig, unser Land mit Reformen fit zu machen. Jetzt haben Sie die Chance dazu. Wann hat man die beste Chance, Reformen anzugehen? Das ist doch am Anfang und nicht am Ende einer Legislaturperiode der Fall. Sie dagegen erwecken die längst begrabene Politik des Deficitspending zum Leben. Hallo, Lafontaine ist wieder da - na, wunderbar! Ich frage mich, warum Sie ihn nicht gleich in Ihr Kabinett geholt haben. Die staatlichen Ausgabenprogramme, die Sie jetzt auf den Weg bringen, zeugen wirklich nicht von einem wirtschaftspolitischen Neuanfang. Ihre Politik orientiert sich - wie alles, was Sie bisher angepackt haben - ganz einfach an dem Motto: Nach mir die Sintflut! ({19}) Glauben Sie denn wirklich allen Ernstes, dass die Schornsteine wieder rauchen werden, wenn man dem Wirtschaftskreislauf ein paar Finanzmittel zuführt? So geht es wirklich nicht. Hinter Ihrem Vorgehen steht der für Sie typische Glaube an die Allmacht des Staates. ({20}) Sie schaffen kein Wachstum, indem Sie den Menschen und den Betrieben mehr Geld aus der Tasche ziehen, neue Schulden machen und die „Maastricht-Latte“ reißen. ({21}) Sie dürfen die Leistungsträger in diesem Land nicht verprellen; vielmehr sollten Sie darüber nachdenken, wie wir das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen, damit es wieder zu den notwendigen Investitionen kommt. Ich habe bereits angesprochen, wie wichtig psychologische Faktoren in der Wirtschaftspolitik sind. Verlässlichkeit spielt zum Beispiel eine große Rolle. Ein Unternehmer will sich auf die Gesetzgebung verlassen können. Wachstum und mehr Arbeitsplätze schaffen wir nur durch kreatives Sparen, durch eine Entriegelung des Arbeitsmarktes und durch steuerliche Entlastungen. Der Mittelstand braucht Luft zum Atmen: ({22}) ein modifiziertes Günstigkeitsprinzip, ein modernes Kündigungsrecht, bei dem die Lage von Problemgruppen mit bedacht ist - ich erinnere an ältere Arbeitslose und Langzeitarbeitslose, die auf dem Arbeitsmarkt wirklich keine guten Chancen haben. Darüber hinaus brauchen wir die Öffnung des Niedriglohnsektors. Hören Sie doch auf mit dem Alibigesetz, das Sie zur Erleichterung der Beschäftigung von Haushaltshilfen auf den Weg bringen wollen! Das sind doch Peanuts, das ist doch ein Tropfen auf den heißen Stein. Es handelt sich nur um eine Neuregulierung. Neue Streichfälle sind vorprogrammiert. Wir brauchen einen Niedriglohnsektor auf breiter Basis. Wir müssen zum Abbau von Einstellungshemmnissen kommen. Wir müssen dafür sorgen, dass wieder investiert wird; denn nur so werden auch zukünftig neue Jobs entstehen. Das Wichtigste ist: Wir brauchen eine neue Wirtschaftsdynamik, Herr Stiegler, und keinen neuen Messias à la Hartz. Ich sage ganz offen, wie es ist: Von Hartz ist hier ja nur noch in der Form die Rede, dass man ankündigt, die von ihm aufgestellten Forderungen im Verhältnis eins zu eins in die Praxis umzusetzen. Sein Papier wird hier als Bibel für den Arbeitsmarkt dargestellt. Das Ende der Massenarbeitslosigkeit wird verkündet. Was hier abläuft, ist doch ein Riesenbluff. Es wird kein Wunder geschehen und es werden keine Jobs vom Himmel herunterregnen. Das wissen Sie ganz genau. Die Umsetzung dieses Konzepts wird bei weitem nicht das erfüllen, was Sie versprechen. ({23}) Es gibt einen ganz unverdächtigen Zeugen, nämlich Wilhelm Schickler. Von ihm kommt die Idee der Personalserviceagenturen. Er, der Präsident des Landesarbeitsamtes Hessen, rechnet mit einer Vermittlung von bestenfalls 375 000 Menschen, und zwar innerhalb von fünf Jahren. ({24}) Was verspricht Hartz? Die Vermittlung von 520 000 Menschen, und das pro Jahr. Ich stelle mir schon die Frage, wie er auf diese Zahl kommt. Diese Wunderwaffe wird nicht funktionieren. ({25}) Das Hartz-Konzept hat einen Geburtsfehler: Es bekämpft die Symptome und nicht die Ursachen. Durch eine Vermittlungsoffensive allein kann der Arbeitsmarkt nicht gesunden. Zwei Drittel der Arbeitslosigkeit sind strukturell bedingt. Da helfen nur Strukturreformen. Sie müssen den Mut und die Kraft haben, diese Reformen anzugehen. Haben Sie doch endlich den Mut, das zu tun, was die Menschen erwarten! ({26}) Es hilft nur eine Reform des Arbeitsrechts, die zur Entbürokratisierung führt. Das wissen Sie auch. Wir brauchen nicht nur Jobvermittler, sondern auch Jobschaffer. Das sind nun einmal die kleinen und mittleren Unternehmen. Sie vergraulen durch höhere Steuern und höhere Abgaben geradezu die vielen kleinen Leistungsträger in unserem Land, also diejenigen, die hier Arbeitsplätze schaffen wollen. Das Herbstgutachten bestätigt das. Es heißt dort: Die Vorschläge der Hartz-Kommission können die hoch gesteckten Erwartungen auf eine rasche Entlastung am Arbeitsmarkt nicht erfüllen. Sie können eine ursachengerechte Therapie nicht ersetzen. Das sagt nicht die Opposition, das entstammt dem Herbstgutachten. Herr Clement, ich glaube, es nützt auch nichts, wenn Sie den Gutachtern vorwerfen, sie verstünden nicht, wovon sie reden. ({27}) Ich habe das Gefühl, dass diese rot-grüne Regierung selbst nicht weiß, was sie redet, und vor allem nicht weiß, was sie tut. Was Sie hier als neuen Fahrplan für Ihre zweite Amtszeit vorlegen, das ist dilettantisch, das ist konfus, das ist konzeptionslos. Sie versuchen zu galoppieren, aber Sie galoppieren leider in die falsche Richtung. Denn Ihre Richtung heißt - auch wenn Sie es hundertmal anders beteuern -: abwärts. Sie können sich ja ruhig abwärts bewegen, aber Sie reißen leider andere mit. Deshalb ist das ein Problem, das uns alle hier im Hause angeht. Dagegen werden wir uns wehren. Vielen Dank. ({28})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entschuldigen Sie, liebe Kollegin Wöhrl, aber angesichts der Vielzahl der von Ihnen schräg angesprochenen Themen und angesichts des Kompliments, das Sie uns am Ende erteilt haben, wir würden eine wirre und konfuse Politik betreiben, muss man wohl sagen: Das war eine echte „WöhrlPool-Rede“, die Sie gerade gehalten haben. ({0}) Ich bin im Gegensatz zu Ihnen der Auffassung, dass der neue Wirtschafts- und Arbeitsminister mit seiner Einstiegsrede schon eine Kostprobe für mehr Wirtschaftsdynamik und politischen Führungswillen geliefert hat. Möglicherweise hat Ihr Kollege Merz das phonetisch falsch verstanden. Herr Clement hat nicht von „Wermut“, sondern von „mehr Mut“ gesprochen. Merz ist ja ein Mutexperte, er hat ein Buch geschrieben: „Mut zur Zukunft“. Mut ohne Handlungskonzept führt allerdings in die Abenteuerliteratur. Es ist schwierig, wenn wir unterschiedliche Wahrnehmungen schon bei der Ausgangslage haben. Dann ist die Diskussion schräg und wird unredlich. Ich empfehle Ihnen, sich den IfW-Bericht noch einmal genau anzuschauen. Dort wird eben nicht von einer Rezession gesprochen, sondern von einer „fragilen Konjunkturerholung“ - aufgrund all der Umstände, die in der Weltwirtschaft zu verzeichnen sind: Börseneinbrüche, restriktive Kreditlinien bei den Banken und dergleichen mehr. Dagegen ist von den Strukturdefiziten, die man natürlich auch in Deutschland feststellen kann, nicht allein die Rede. Wer das nicht glaubt, möge sich die Expertise von EU-Kommissar Pedro Solbes anschauen. Dort werden ähnliche Feststellungen getroffen. Ich sage Ihnen gleich zu Anfang - weil Angela Merkel in ihrer gestrigen Rede die Wiederentdeckung des Politischen gepriesen hat -: Ich würde mich freuen, wenn es auch zur Wiedererweckung der Mitverantwortung käme. Bislang tun Sie so, als sei nach vier Jahren Rot-Grün alles im Argen und hätten Sie im Grunde genommen mit all dem, was bisher passiert ist, nichts zu tun. Wir würden in einer solch schwachen Konjunkturphase sehr gern antizyklische Wirtschaftspolitik betreiben - wenn uns nicht ein so massiver Schuldenberg hinterlassen worden wäre, wenn wir nicht im Zuge der deutschen Einheit diesen exorbitanten Anstieg der Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent, wo im Grunde die gesamten Kosten der deutschen Einheit versteckt sind, zu verzeichnen gehabt hätten. - Sie schütteln den Kopf, aber es ist leider so: Sie haben die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung im Zuge der deutschen Einheit erhöht. ({1}) Wie schwierig es ist, angesichts des demographischen Wandels davon herunterzukommen, haben wir in den letzten vier Jahren erlebt. Die Lohnnebenkosten sind leicht zurückgegangen. Aber wir haben längst nicht das Ziel erreicht, das wir uns vorgenommen hatten. Im Übrigen belegt auch der Ifo-Geschäftsklimaindex, dass der mangelnde Optimismus der Unternehmen nicht auf die rot-grüne Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist, sondern auf die weltweit unsichere Situation, auf die weltpolitischen Unsicherheiten und möglicherweise auch auf die bereits getätigten Investitionen. Es gibt also eine Investitionszurückhaltung, einen Attentismus, der uns zu schaffen macht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gern, bitte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schade, dass ich diese nicht mehr habe, sonst würde ich sie noch einmal überreichen. Leider ist es wahr, dass wir immer noch Schlusslicht sind. Herr Kollege Schulz, lassen Sie mich Ihnen ganz kurz eine Frage stellen. Sie haben genauso wie Kollege Stiegler darauf verwiesen, dass die wirtschaftlichen Probleme, die wir haben, ihre Ursache vor allen Dingen in weltwirtschaftlichen Faktoren haben. Worauf führen Sie es denn zurück, dass zum Beispiel in Italien das Wirtschaftswachstum dreimal so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich viermal so hoch, in Großbritannien fünfmal so hoch und in Irland zehnmal so hoch ist? Ist es vielleicht darauf zurückzuführen, dass man dort konservative bzw. liberale Regierungen und nicht eine sozialistische Regierung wie in der Bundesrepublik Deutschland hat? ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Hinsken, Sie sind, soweit ich mich zurückerinnern kann, mindestens genauso lange wie ich im Werner Schulz ({0}) Parlament. Sie dürften mitbekommen haben, dass wir die deutsche Einheit zu schultern hatten. Schauen Sie sich einmal die diesbezügliche Analyse von Pedro Solbes an: Ein Rückgang des Wachstums um 0,5 Prozent ist allein auf die Transferleistungen in den Osten zurückzuführen. ({1}) Wir transferieren etwa 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Jahr für Jahr in den Osten. Das wird angesichts des Solidarpaktes so bleiben. Weitere 0,5 Prozent Wachstumsschwäche sind aufgrund der Überkapazitäten in der Bauindustrie entstanden. Wir haben tatsächlich hausgemachte Probleme. Die haben aber Sie geschaffen, ({2}) indem Sie die Erwartung geweckt haben, dass ein zweites Wirtschaftswunder eintreten würde. Das ist aber nicht eingetreten. Das tut mir furchtbar Leid. Nur ein Drittel unserer Probleme sind schließlich tatsächlich auf Strukturprobleme zurückzuführen, die aber auch nicht erst in den letzten vier Jahren entstanden sind. Sie könnten berechtigterweise höchstens sagen, dass wir es in den letzten vier Jahren noch nicht geschafft haben, diese verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Gerade deswegen gehen wir ja - das unterscheidet uns von Ihnen - Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt an. Das Hartz-Konzept gibt eine Antwort auf die Frage, wie es gehen könnte und was gemacht werden muss. Sie aber setzen nach wie vor, wenn ich das, was Sie im Wahlkampf geboten haben, richtig einschätze, auf ein uneingeschränktes Wachstum, das durch Steuersenkungen herbeigeführt werden könne. Das allein ist es nicht, lieber Kollege, aber bitte schön. ({3}) Angela Merkel hat gestern die Frage gestellt, wie denn in dieser schwierigen Situation Wachstum in Deutschland generiert werden kann. Wenn Sie sich den Koalitionsvertrag genau durchlesen, werden Sie Antworten auf diese Frage finden: So wollen wir die kommunale Investitionskraft im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzeptes und der Gemeindefinanzreform wieder stärken. Wir werden möglicherweise eine Freibetragsgrenze, ab der die Mindestbesteuerung greift, für kleine und mittlere Unternehmen ansetzen, um ihnen eine stärkere Investitionstätigkeit zu ermöglichen. ({4}) Wir werden die Grenze für steuerfreie Einkünfte durch Minijobs zumindest bei den haushaltsnahen Dienstleistungen auf 500 Euro anheben. ({5}) Es ist vorgesehen, das dann, wenn wir dadurch Schwarzarbeit eindämmen und die Grauzone an illegalen Tätigkeiten verringern können, auf andere Branchen auszuweiten. ({6}) Das steht, bitte schön, eindeutig als Option im Koalitionsvertrag. Wir werden auch weiter Subventionen abbauen, auch wenn hier einige mit den Zähnen klappern werden. Ich denke nämlich, dass die nationalen Energiereserven in Deutschland nicht unter der Erde zu finden sind, sondern eher am internationalen Himmel in Form von Solarenergie zu suchen sind. ({7}) - Das weiß auch Herr Clement. Er ist einer derjenigen - das sei zu Ihrer Ernüchterung an dieser Stelle gesagt -, der den entsprechenden Strukturwandel in NordrheinWestfalen vorangetrieben hat. Dass es nicht einfach ist, in einer traditionellen Bergbauregion eine moderne Industriestruktur aufzubauen, das zeigen die Versuche, die dort mit mehr oder weniger Erfolg angestellt wurden. Wir aber werden - das sage ich ganz klar - nicht alleine auf Wachstum setzen können, weil das Wachstum, das einmal die Lösung für alle Probleme bringen sollte, selbst zum Problem geworden ist. Wachstum muss künftig mit weniger Energie- und Rohstoffverbrauch einhergehen. Wissenschaftler sprechen von Faktor 4 oder gar Faktor 10; Wachstum sollte also mit nur einem Viertel der Energie, die bisher dafür nötig ist, auskommen. Wir müssen bei der Ressourcenproduktivität einen ähnlichen Entwicklungsfortschritt erreichen wie bei der Arbeitsproduktivität. Das wird die große Aufgabe für unser Land in diesem Jahrhundert sein. Das ist der ökologische Strukturwandel, die ökologische Modernisierung. Darauf haben wir gesetzt. Hier entstehen die neuen Arbeitsplätze. Hier haben wir in den letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Und wie Sie von Erfolgsgeschichten nicht erst seit Harry Potter wissen, sollte so etwas fortgesetzt werden. Daran werden wir arbeiten. Leider habe ich keine Redezeit mehr. Bei anderen Gelegenheiten werde ich Ihnen noch mehr Kapitel dieser Erfolgsgeschichte hier präsentieren. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Herr Minister Clement, heute Morgen prangerten Sie den Zukunftspessimismus an und wünschten sich gerade auch in diesem Parlament mehr Aufbruchstimmung. Was steckt hinter diesen beiden Begriffen? Ich nenne das Signal, das von der Koalitionsvereinbarung in Sachen Wirtschaftspolitik ausgeht, Zukunftspessimismus, wenn Sie beim Problemfeld Mittelstand mit 17 Milliarden Euro Steuerbelastungen, die es insgesamt sein werden, starten. Das erklärt sich de facto aus den Festlegungen in dem Koalitionsvertrag zur Verschiebung der nächsten Stufe der Steuerreform und zur Erhöhung der Ökosteuer. Das nenne ich ein Signal für Wirtschaftspessimismus. Was wäre ein optimistisches Signal? Das wäre eine gerade für den Mittelstand spürbare Steuer- und Abgabenentlastung. ({0}) Warum sollte dies so sein? Den mittelständischen Unternehmen geht es heute auch deshalb schlecht, weil sie Schwierigkeiten haben, Eigenkapital aufzubauen. Warum können sie das nicht? Sie bräuchten das Signal der Steuerentlastung, das heißt, Gewinne, die sie erzielen, dürften nicht in hohem Maße weggesteuert werden, sondern es müsste ihnen von dem, was sie erarbeiten, mehr bleiben. Herr Clement, ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute Morgen auch etwas zum Thema Eigenkapitalquote gesagt hätten. Zurzeit liegt die Eigenkapitalquote bei vielen Unternehmen insbesondere in der Handelsbranche bei unter 10 Prozent. Es gibt - das ist eine wirkliche Signalmeldung - Problembranchen, in denen die Eigenkapitalquote sogar nur 2 bis 5 Prozent beträgt. Diese Firmen brauchen einfach ein Signal der Entlastung und nicht eines der Belastung. ({1}) Bei der Darstellung Ihres Zukunftsentwurfs fehlte das Thema Subventionsabbau völlig. Wir beide kommen ja aus Nordrhein-Westfalen. Insofern hätte ich mir in Sachen Abbau der Subventionen für den Steinkohlebergbau schon einen mutigen Schritt nach vorn gewünscht. ({2}) Stattdessen sind hier für die Zeit von 2002 bis 2005 noch einmal circa 12 Milliarden Euro an Subventionen vorgesehen. ({3}) - Ja, das geht runter, aber es wäre gut gewesen, Herr Clement, wenn Sie neue Verhandlungen aufgenommen hätten mit dem Ziel, hier zu einem Schluss zu kommen und statt in eine Technologie der Vergangenheit besser in die Zukunft zu investieren. Überhaupt nicht erwähnt haben Sie auch das Thema Privatisierung. ({4}) Die Privatisierung von Post und Bahn wären Potenziale, die wir in diesem Zusammenhang ausschöpfen könnten. Jetzt beziehe ich mich noch einmal auf Nordrhein-Westfalen: Herr Minister Clement, es wäre auch ein gutes Signal gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass es notwendig sei, auch öffentliche Aufgaben zu privatisieren. Gerade in Nordrhein-Westfalen - das gilt aber auch für andere Bundesländer und für die Bundesebene insgesamt - erleben wir, dass viele öffentliche Aufgaben von der öffentlichen Hand erledigt werden, womit dem Mittelstand Konkurrenz gemacht wird. Ich nenne hier als Beispiele die Pflege von Grünanlagen, eigene Druckereibetriebe, die noch unterhalten werden, ({5}) oder Gebäudeverwaltung. Insbesondere in NordrheinWestfalen verhindert es die geltende Gemeindeordnung, dass nur dann Eigenbetriebe gegründet werden dürfen, wenn die öffentliche Hand nachweislich effizienter und kostengünstiger arbeiten könnte, als dies Private tun. Es gibt in Deutschland 100 000 Eigenbetriebe, die dem Mittelstand Konkurrenz machen und damit zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Hier den Mittelstand zu stärken wäre ein besseres Signal gewesen. Zu einer nötigen Gemeindefinanzreform, die Sie auch nicht erwähnt haben. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben schon in der letzten Legislaturperiode ein ausgearbeitetes Konzept vorgelegt, in dem wir uns für den Wegfall der Gewerbesteuer und gegen die Ausweitung dieser Steuer ausgesprochen haben. Die Gewerbesteuer ist ja in den anderen europäischen Ländern kaum bekannt. Sie ist zudem konjunkturabhängig. Wir haben im Hinblick auf die Kommunen eine Erhöhung des Anteils an der Einkommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen Hebesatzrecht und eine Erhöhung des Anteils an der Umsatzsteuer vorgeschlagen. Wir legen Wert darauf, dass eine Gemeindefinanzreform unter Beteiligung der betroffenen Kommunen erarbeitet und dann auf den Weg gebracht wird. Das sollte nicht über ihren Kopf hinweg geschehen. Die Bürokratielasten zu minimieren ist ein hervorragender Ansatz. Mein Kollege Rainer Brüderle hat vor kurzem einen sehr guten Antrag eingebracht, in dem er darstellt, dass zum Beispiel Umsatzsteuervoranmeldungen künftig nicht mehr jeden Monat, sondern alle drei Monate erstellt werden und dass wir auf die jährliche Umsatzsteuermeldung verzichten könnten. Das mache bei 18 Millionen derzeitigen Umsatzsteuermeldungen nur noch 6 Millionen, koste den Bund kein Geld und trage erheblich dazu bei, dass hier weniger Bürokratie bestehe. Zu meinem letzten Punkt. Sehr geehrter Herr Minister Clement, vielleicht können Sie sich mit dem Vorhaben der FDP-Bundestagsfraktion anfreunden, wenn wir folgenden Antrag noch einmal einbringen: Wir haben gefordert, einen Gesetzes-TÜV einzuführen, das heißt, zu fragen, ob Gesetze nach Ablauf einer bestimmten Frist, zum Beispiel nach fünf Jahren, noch nötig sind. Das Parlament müsste sich dann im Rahmen eines solchen GesetzesTÜVs rechtfertigen, ob ein Gesetz noch nötig ist oder abgeschafft werden kann. Wir wollen hier zu einer Automatisierung kommen und erreichen, mit weniger Gesetzen und Verordnungen - und nicht mit immer mehr - auszukommen. Denn neben der hohen Kostenbelastung ist es gerade die Bürokratie, die den Mittelstand stranguliert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - 30 Milliarden Euro beträgt der Umfang an Bürokratielasten, die gerade der Mittelstand zu tragen hat. Haben Sie Mut! Packen Sie Reformen an, auch wenn die dafür notwendigen, hervorragenden Anträge von der FDP-Bundestagsfraktion kommen! Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Wend für die SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Merz, vielen Dank - so viel Zeit muss sein - für Ihre Fürsorglichkeit gegenüber der SPD-Fraktion im Zusammenhang mit Ministerernennungen. Wir wissen diese Fürsorglichkeit sehr zu schätzen. Sie rührt uns deshalb so besonders an, weil sie von einem Mann kommt, der am besten weiß, wie es ist, wenn persönliche Blütenträume nicht in Erfüllung gehen. ({0}) Lassen Sie mich aber in der Sache auf folgende zwei Probleme hinweisen. Ich weiß - das ist an unsere Adresse gerichtet -, wie schwierig es sein wird, zwei Dinge - und dann auch noch gleichzeitig - in den Griff zu bekommen. Das eine ist das Thema Haushaltskonsolidierung, das andere der Versuch, gleichzeitig im Rahmen unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu setzen. Ist es überhaupt möglich, in einer solchen Situation, in der wir uns jetzt befinden, diese beiden Ziele, die Haushaltskonsolidierung und das Setzen von Impulsen für Wachstum, miteinander zu verbinden? Ich beginne mit der Thematik „Bekämpfung des strukturellen Haushaltsdefizits“. Ich glaube, unter uns ist unstreitig, dass wir uns dies vornehmen müssen, übrigens auch aus ökonomischen Gründen. Denn dauerhaft niedrige Zinsen sind Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Wir müssen es natürlich auch aus Gründen der Generationengerechtigkeit tun. In diesem Zusammenhang hat uns Frau Merkel gestern vorgeworfen, wir würden bei der Haushaltskonsolidierung Vermieter, Mieter, Häuslebauer, Unternehmer, Arbeitnehmer und Arbeitslose belasten. Die bittere Wahrheit ist: All das stimmt; das werden wir tun müssen. Deswegen habe ich drei Bemerkungen in Richtung CDU/CSU. ({1}) Erste Bemerkung. Sie haben im Wahlkampf und auch heute in Person von Herrn Merz vorgeschlagen, die Staatsquote auf 40 Prozent zu reduzieren. Das bedeutet, dass der Staat jedes Jahr etwa 170 Milliarden Euro weniger ausgeben müsste als bisher. ({2}) Das ist weit mehr als das Zehnfache des Betrages, den wir im Rahmen der Haushaltskonsolidierung einsparen wollen, was mit schmerzhaften Maßnahmen für viele Bürgerinnen und Bürger verbunden ist. Deswegen frage ich Sie: Wie wollen Sie es schaffen, nicht nur den Konsolidierungsbetrag, den wir anstreben, sondern die von Ihnen genannten 170 Milliarden Euro jährlich einzusparen, ohne gleichzeitig die Menschen in diesem Land zu belasten? Mir ist es ein Rätsel, wie Sie das schaffen wollen. ({3}) Die zweite Bemerkung. Ja, es ist wahr, wir werden ganz vielen Menschen - beispielsweise Unternehmern, Arbeitnehmern, Arbeitslosen, Vermietern und Mietern etwas zumuten müssen. Glauben Sie uns: Die Menschen wissen, dass sich in diesem Lande etwas bewegen muss und dass jede und jeder Einzelne seinen Beitrag dazu leisten muss. Jeder Leitartikler macht es sich zu leicht, wenn er auf der einen Seite schreibt, dass durch unser Land ein Ruck gehen muss und dass jeder seinen Beitrag dazu leisten muss, damit in diesem Land etwas bewegt werden kann. Wenn es aber konkret wird und die Konsolidierungsmaßnahmen auf dem Tisch liegen, sodass man sehen kann, an welcher Stelle jeder Einzelne belastet wird, dann zieht man auf der anderen Seite regelmäßig den Schwanz ein und schreibt, dass diese Maßnahmen falsch seien. Damit erzeugt man bei den Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, als ginge eine Haushaltskonsolidierung ohne Einschnitte und ohne Belastung der Menschen vonstatten. Wer so redet, der sagt den Menschen in unserem Land nicht die Wahrheit. Auch das muss ich Ihnen vorwerfen. ({4}) Die dritte Bemerkung. Vielleicht täusche ich mich und Sie schaffen es, 170 Milliarden Euro weniger auszugeben und gleichzeitig keinen einzigen Menschen in unserer Gesellschaft zu belasten. Dann haben Sie den Nobelpreis für Wirtschaft verdient. ({5}) Aber Sie konnten in diesem Hause noch nicht einmal eine einzige Maßnahme nennen, mit der Sie auch nur einen Bruchteil dieser 170 Milliarden Euro, die Sie als Einsparpotenzial bezeichnen, einsparen. Dazu ist heute Morgen aus Ihrem Munde nichts, aber auch gar nichts gekommen. ({6}) Ich sage, dass Einsparungen, auch bittere Einsparungen, sein müssen. ({7}) Gleichzeitig aber müssen wir Impulse für Wachstum und Beschäftigung setzen. Der neue Minister hat einige interessante Maßnahmen genannt, was die Mittelstandsförderung angeht. Ich nenne als Stichwort „Entbürokratisierung“. Warum kommen wir mit der Entbürokratisierung nicht genügend voran? Ich weiß, wie schwierig es ist, in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen. Daher habe ich in diesem Zusammenhang eine Bitte an die Opposition. Wenn von Entbürokratisierung die Rede ist, dann beschränken Sie sich bitte nicht auf die Wiederholung der immer gleichen Phrasen wie Einschränkung der Betriebsverfassung, der Tarifautonomie und der Teilzeitarbeit. ({8}) Bekämpfung der Bürokratie heißt für die SPD nicht Bekämpfung von Arbeitnehmerrechten. ({9}) Das muss Ihnen klar sein. Wir haben schon die Erwartung, dass Sie mitarbeiten, wenn es um die Frage geht, wie wir Genehmigungsfristen und die Zeitdauer, die die Institutionen für Entscheidungen brauchen, verkürzen können und wie wir Mehrfachprüfungen von Behörden einschränken und verhindern können. All das sind schwierige Aufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Man kann sich über viele Punkte in der Rede von Frau Kopp streiten. Aber ich bin ihr dankbar, dass sie ein paar Anregungen für die Bekämpfung der Bürokratie gegeben hat, die wir aus meiner Sicht in die Prüfung einbeziehen sollten. Meine Damen und Herren, ich will sagen: Wir wissen, wie schwierig diese Aufgabe ist. Wir werden die Aufgaben nicht schultern können, wenn wir nur sagen, was nicht geht. Wir werden sie aber schultern können, wenn wir den Menschen sagen, was geht, und uns dabei auf unsere Stärken stützen. Wir haben eine starke Exportwirtschaft und sind ein attraktives Land für ausländische Investoren. ({10}) Wir nehmen nach wie vor Spitzenstellungen in unseren angestammten Märkten ein und erobern neue Märkte. Unsere Forscher und Erfinder melden immer mehr Patente an, inzwischen sind wir bei diesem Thema wieder Weltspitze. Das sind unsere Stärken, darauf wollen wir unsere Reformen aufbauen, damit ein Wettstreit um die besten Ideen entstehen kann. Beteiligen Sie sich an diesem Wettstreit und kommen Sie aus der Ecke der Gemütskrankheit heraus, wenn es um die Beschreibung unseres Landes geht. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Karl-Josef Laumann für die CDU/CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den letzten vier Jahren wurden uns von Rot-Grün im Bundestag schon viele Superprogramme zum Abbau der Arbeitslosigkeit vorgestellt. Zu Beginn der letzten Wahlperiode war es das so genannte JUMP-Programm, das alle unsere Probleme auf dem Ausbildungsmarkt lösen sollte. Dann war es das Job-AQTIVGesetz, danach die Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit und es hieß, allein Herr Gerster sei Garant dafür, dass es auf dem Arbeitsmarkt weitergeht. Tatsache ist: Rot-Grün ist es in der letzten Wahlperiode gelungen, die Arbeitslosigkeit in Deutschland bei gut 4 Millionen Menschen zu stabilisieren. Nach dem, was ich gestern und heute Morgen gehört und in Ihrem Koalitionsvertrag gelesen habe, befürchte ich, dass Sie in der vor uns liegenden Wahlperiode das Ziel, die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau zu stabilisieren, glatt erreichen werden. Das Problem ist doch, dass Ihre Koalitionsvereinbarung zu einem großen Vertrauensverlust unter den arbeitenden Menschen führt, und zwar egal ob sie selbstständig oder als Arbeitnehmer tätig sind. Denn Sie haben in Ihrer Koalitionsvereinbarung schlicht und ergreifend eine weitere Verteuerung des Faktors Arbeit vorgeschlagen und öffnen die Schere zwischen Brutto- und Nettolöhnen in weiten Bereichen der Beschäftigten immer weiter. ({0}) Das führt dazu, dass die Inlandsnachfrage abnimmt. Man muss sich nur einmal die schlechten Einschätzungen der Institute bezüglich der Konjunkturaussichten des Einzelhandels ansehen. Die allermeisten Einzelhändler quer durch Deutschland sagen Schlimmes voraus. Sie müssen aufpassen, dass Sie durch die Veränderungen bei der Eigenheimzulage nicht in der Bauwirtschaft mehr Arbeitsplätze verlieren, als Sie durch die Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission auf der anderen Seite überhaupt wieder gewinnen können. ({1}) Ich vertrete einen ländlichen Wahlkreis. Ich kann Ihnen sagen, was in den Rathäusern meines Wahlkreises los ist: Die Leute kommen ins Rathaus und sagen: Bitte, Herr Bürgermeister, sorgen Sie dafür, dass ich noch vor Weihnachten irgendwo ein Baugrundstück in Ihrer Gemeinde bekomme; ich muss den Bauantrag noch in diesem Jahr stellen, weil ich ansonsten nicht mehr bauen kann. - Sie müssen darauf achten, dass Sie am Ende nicht mehr kaputtschlagen als Sie durch großartige Reden aufzubauen versuchen. Wissen Sie, was Ihre Stärke ist? Sie können in neudeutschem Beraterslang mit neuen Ausdrücken Gewaltiges ankündigen. Da ist die Rede vom neuen Bridgesystem. Manch einer wird sich gefragt haben: Ist das ein neues Kartenspiel aus Wolfsburg? Aber altdeutsch ausgedrückt ist das Bridgesystem eigentlich nichts anderes, als dass 55-jährigen Arbeitslosen in den Personal-Service-Agenturen die Möglichkeit zum Ausstieg gegeben werden soll. Anschließend würden sie in keiner Statistik mehr stehen, obwohl niemand in Beschäftigung gekommen ist. ({2}) Da ist die Rede vom Jobfloater. Man kann sich fragen: Sind das schwimmende Arbeitsplätze? Dabei geht es um riesige Subventionen für Arbeitsplätze. Dann kommt die Ich-AG: der Sohnemann als Hausmeister und vielleicht die Mutti als Aufsichtsratsvorsitzende. ({3}) Na ja. Auf jeden Fall ist es komisch, dass auf der einen Seite Herr Eichel, Herr Schröder und Herr Clement die menschliche Arbeit in Deutschland durch ihre Koalitionsvereinbarung wieder verteuern und Sie auf der anderen Seite auf bestimmten Feldern riesige Subventionen geben, um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern und Beschäftigung bezahlbar zu machen. Worin der Sinn dabei liegen soll, bleibt zumindest mir bis heute verschlossen. ({4}) - Darauf komme ich noch. Herr Clement, ich wünsche Ihnen für die Erfüllung Ihrer Aufgabe, einen Beitrag zur Absenkung der Arbeitslosigkeit in Deutschland zu leisten, viel Glück. Ich hoffe, dass sich durch die Zusammenführung von Wirtschaft und Arbeit in einem Ressort und auch in einem Bundestagsausschuss Gegensätze zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik, die uns bisher vielleicht ein bisschen gelähmt haben, politisch besser klären lassen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Aber angesichts dessen, was Sie sich in NordrheinWestfalen alles vorgenommen und nicht eingehalten haben, sollte man zumindest sehr kritisch beobachten, ob es Ihnen gelingen wird, die Messlatte, die Sie sich selbst gelegt haben, zu erreichen. Ich weiß nur, dass Sie im Jahre 2000 in Nordrhein-Westfalen erklärt haben: Wir wollen die Arbeitslosigkeit in den kommenden fünf Jahren deutlich senken. Damals haben Sie gesagt: Untersuchungen zeigen uns, es sei möglich, die Arbeitslosigkeit innerhalb von fünf Jahren landesweit auf unter 500 000, also auf etwa 6 Prozent, zu drücken. Als Sie dies gesagt haben, hatten wir in Nordrhein-Westfalen 760 000 arbeitslose Menschen. Heute haben wir 800 000. ({5}) Jetzt zurück zu Hartz: Aus meiner Sicht gibt es einige Hartz-Vorschläge, die vernünftig sind. ({6}) Diese betreffen die schnellere Vermittlung von Arbeitlosen, die Reformschritte bei der Organisation der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und zumindest im Grundsatz die Zusammenführung bzw. Angleichung von Sozialund Arbeitslosenhilfe. Bevor wir jetzt über weitere Bestandteile des HartzKonzepts sprechen, möchte ich etwas zu diesem Politikspiel sagen. ({7}) Es ist schon komisch, dass bei einem Skandal betreffend die Bundesanstalt für Arbeit der zuständige Minister kaltgestellt wird, eine Kommission einberufen wird und dann hier im Bundestag von der Bundesregierung gesagt wird, dass das, was dort erarbeitet worden ist, 1 : 1 umgesetzt wird. Ich möchte auch unseren neuen Ausschussvorsitzenden, Herrn Dr. Wendt, ansprechen. ({8}) Was sollen denn eigentlich Beratungen im Ausschuss, wenn man das Konzept 1 : 1 umsetzen soll? Dazu kann ich nur sagen: Wenn wir uns hier nicht weiterhin lächerlich machen wollen, sorgen Sie im Ausschuss dafür, dass Expertenanhörungen nicht zur reinen Farce werden. Zwischen erster Lesung und der Einladung von Experten muss so viel Zeit liegen, dass man sich nach Kenntnisnahme des Gesetzentwurfes Gedanken darüber machen kann, welche Experten man überhaupt einladen möchte. ({9}) Auch die Frist zur Abgabe der Gutachten muss ausreichend lang sein. ({10}) Ich habe schon viele andere Sachen erlebt. Auch nach der Anhörung der Gutachter müssen wir Zeit haben, um die Ergebnisse auswerten zu können. ({11}) Ich kann Ihnen nur sagen: Ich halte es für sehr bedenklich, wenn Sie Ihre Mehrheit im Bundestag dazu missbrauchen wollen, im Schweinsgalopp und der Verfassung sowie der Geschäftsordnung des Parlamentes gerade noch Genüge tuend etwas im Verhältnis 1 : 1 umzusetzen, was im nicht parlamentarischen Raum entwickelt worden ist. Das Hartz-Konzept sagt, dass man mit diesen Vorschlägen die Zahl der Arbeitslosen in den nächsten Jahren um 2 Millionen Menschen senken kann. ({12}) Wie dies geschehen soll, weiß ich nicht. Herr Clement sagt: Für das Jahr 2003 prognostiziere ich euch im Jahresdurchschnitt 4,1 Millionen Arbeitslose. - Also bleiben nur noch die Jahre 2004 und 2005, um dieses Ziel zu erreichen. Dies bedeutet, dass wir jedes Jahr 1 Million Beschäftigte mehr brauchen, die aus der Arbeitslosigkeit in den Arbeitsmarkt kommen. Ich glaube, dass Sie versuchen werden, die Statistiken und Zählweisen zu ändern. Jetzt wollen wir einmal zusammen die Vorschläge durchgehen, die Sie allen Ernstes unterbreiten. Zum einen sollen die Statistiken an das internationale System angeglichen werden, wodurch schon einmal 1 Prozent der Arbeitslosen weg wären. Zum anderen wird man die so genannten älteren Arbeitslosen über das Bridgesystem aus der Vermittlung, aus dem Arbeitsmarkt und damit aus der Statistik herausnehmen. Ich habe mich gestern bei der Bundesanstalt erkundigt. Wir haben zurzeit 564 000 Menschen über 55 Jahre in der Arbeitslosenstatistik. Der Bundeskanzler hat gestern in seiner Regierungserklärung über die Würde des Alters gesprochen, davon, dass das Rentenalter von 65 Jahren erreicht werden muss und dass wir darüber nachdenken müssen, wie älter werdende Menschen auf der Höhe ihrer beruflichen Entwicklung, ihres beruflichen Könnens weiter tätig bleiben können. Gleichzeitig wird hier ein Bridgesystem vorgeschlagen, das die Herausnahme von 55-jährigen Arbeitslosen aus den Jobcentern vorsieht. Hartz sagt selber, wegen der demographischen Entwicklung müsse das irgendwann wieder zurückgeführt werden. Das ist nicht mit dem in Einklang zu bringen, was wir gestern vom Bundeskanzler in dieser Frage gehört haben. Das sind vor allen Dingen nicht die richtigen Antworten auf die demographischen Herausforderungen, die in unserem Land nun einmal zu bewältigen sind. ({13}) Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen. Wir schauen sehr kritisch auf die neuen Möglichkeiten der Zeitarbeitsvermittlung, die die Personal-ServiceAgenturen erhalten sollen. Sehen Sie einmal die andere Seite: Wir haben in Deutschland 6 000 Zeitarbeitsfirmen, die im letzten Jahr 800 000 Menschen beschäftigt haben. 250 000 davon sind in den Entleihbetrieben in unbefristete Arbeitsverhältnisse übernommen worden. Das ist eine gigantische Leistung. Wir wissen alle, dass dieser Integrationsprozess ein wichtiger Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik ist. Das kostet den Staat nichts; denn das wird über private Firmen geregelt, die damit ihr Geld verdienen und die den regionalen Arbeitsmarkt oft sehr gut kennen. Meine Sorge ist, dass jetzt wieder sehr viel Geld und sehr viel öffentliches Personal bei der Bundesanstalt benötigt werden, um das zu organisieren, was über die Zeitarbeitsfirmen schon wunderbar läuft. Bevor Sie von Rot-Grün diesen Gedanken weiterverfolgen, denken Sie bitte einmal über das Angebot der deutschen Zeitarbeitsfirmen nach, das der Bundesanstalt für Arbeit seit einigen Wochen vorliegt. Das Angebot lautet, eine Zertifizierung vorzunehmen, damit die Spreu, die es in den Firmen vielleicht noch gibt, noch besser vom Weizen getrennt werden kann. Wenn die Leute nicht entliehen werden können, wollen die Zeitarbeitsfirmen verstärkt Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen anbieten. Denken Sie einmal darüber nach, ob wir nicht mit einem Beitrag, von den Privaten organisiert, viel weiter kämen, als es unter Umständen über staatliche oder halbstaatliche Strukturen möglich wäre. Dadurch könnten wir im Verwaltungsbereich, in der Bürokratie sehr viel Geld einsparen. Bei einem weiteren Punkt fragen wir kritisch nach: der Ich-AG. Wenn ein arbeitsloser Handwerker seine Arbeitskraft demnächst mit 10 Prozent pauschaler Versteuerung in der Ich-AG anbieten können soll, dann muss man doch wenigstens überlegen, was das für den Handwerksmeister bedeutet. Nehmen Sie als Beispiel einmal einen Malermeister mit seinem Gesellen. In diesem Bereich braucht man keine sehr große Ausstattung. Wie soll dieser Malermeister mit seinem Gesellen, für den er Urlaubsgeld, Krankengeld, 20 Prozent für die Systeme der sozialen Sicherung bezahlen muss, gegenüber einem zurzeit arbeitslosen ausgebildeten Malergesellen, der seine Arbeitskraft mit 10 Prozent pauschaler Versteuerung anbieten kann, konkurrenzfähig bleiben? Diese Frage müssen wir uns stellen, weil die Handwerksmeister uns zu Recht fragen werden, wie sie das durchhalten können sollen, wie sie mit diesem Konkurrenzdruck fertig werden sollen. ({14}) Es kann doch nicht am Ende so sein, dass der Handwerksmeister seinen Malergesellen entlässt, damit dieser lange genug arbeitslos sein kann, um eine Ich-AG gründen zu können, und das benötigte Material vielleicht bei seinem ehemaligen Handwerksmeister kauft. Da müssen wir also nachdenken, ob diese Entwicklung richtig sein kann, ob wir sie verantworten und zulassen können. Dann schlagen Sie vor, dass für haushaltsnahe Dienstleistungen 500 Euro mit 10 Prozent Versteuerung verdient werden dürfen. Sie beschränken das mehrfach: Die Leute müssen haushaltsnahe Dienstleistungen erbringen und sie müssen vorher arbeitslos sein, sonst gilt diese Regelung nicht. Warum schaffen Sie eigentlich nicht einen Bereich, in dem unkompliziert Aushilfen organisiert werden? Diesen dürfen Sie dann nicht auf den Haushaltsbereich beschränken. Folgen Sie doch einfach unserem Vorschlag eines 400-Euro-Vertrages. Man kann über den Betrag auch noch einmal reden. Die FDP hat im Wahlkampf 500 Euro vorgeschlagen. Dies sollte dann aber für alle Branchen gelten und mit 20 Prozent pauschal versteuert werden. ({15}) Dann sind übrigens auch die Einnahmeverluste bei der Sozialversicherung nicht so hoch wie bei nur 10-prozentiger Besteuerung, wovon 5 Prozent in die Rentenkasse und 5 Prozent in die GKV fließen. Allein bei den Krankenkassen werden wahrscheinlich Einnahmeausfälle in Höhe von 800 Millionen Euro zu verzeichnen sein. Überlegen Sie, ob nicht wir den besseren Vorschlag vorgelegt haben. Lehnen Sie ihn nicht nur einfach deswegen ab, weil er von uns kommt. ({16}) Ich komme zu einem weiteren Punkt. 50 Prozent der Arbeitslosen in unserem Land haben keine Berufsausbildung. Wir können uns noch so viel Mühe geben, viele von ihnen sind nicht in der Lage, mit den Anforderungen der heutigen Zeit in Sachen Theorie mitzuhalten. Für diese Menschen brauchen wir einfache Tätigkeiten, und zwar in allen Branchen. Deswegen lautet unser Vorschlag: Wir müssen bis zu einer Höhe von 800 oder 900 Euro - die FDP hat von 1 000 Euro gesprochen - die Sozialversicherungslasten absenken, damit diese Menschen netto mehr in der Tasche haben als mit Sozialhilfe, um so das Lohnabstandsgebot zu erfüllen. ({17}) Ist unser Vorschlag wirklich so schlecht? Ich kann nur sagen: Sie mit Ihren 500-Euro-Jobs im haushaltsnahen Bereich werden Ihr Ziel nicht erreichen. Denn wie werden die Menschen reagieren? Die Aushilfe, die heute beim Gastwirt arbeitet und deren Lohn pauschal mit 20 Prozent besteuert wird, wird demnächst bei demselben Gastwirt als Gärtner arbeiten, wird pauschal 10 Prozent an Steuern zahlen, wird aber im Grunde die gleiche Tätigkeit ausüben. Das werden Sie nicht kontrollieren können. ({18}) Sie werden ähnlich wie bei der Riester-Rente komplizierteste Fördermöglichkeiten entwickeln. Die Menschen werden mehr darüber nachdenken, wie sie in den Genuss der Förderung kommen, als etwa darüber nachzudenken, wie sie sich beruflich weiterentwickeln können, und irgendwelche Geschäftsideen zu entwickeln. Das ist in sich, wie ich finde, ein falscher Ansatz von Politik. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen bei Ihnen in einigen Punkten Nachdenklichkeit hervorrufen können. Mir kommt das Hartz-Konzept so vor, als dass es aus der Sicht eines sicherlich erfahrenen Arbeitsmarktspezialisten eines Großunternehmens erarbeitet worden ist, der aber die Vielfältigkeit gerade in den kleineren Strukturen nicht im Auge hatte. ({19}) Zum Schluss möchte ich noch einen Satz zu Ihrer Koalitionsvereinbarung sagen. An dieser hat die Wirtschaftspolitik nur einen Anteil von zweieinhalb Seiten. Sie haben dort nicht viel geschrieben, wie Sie sich im steuerlichen Bereich, im Arbeitsrecht und bei den Regelungen, von denen Sie wissen, dass sie den Mittelstand sehr belasten, Entlastungen vorstellen. Ich kann nur wiederholen: Überdenken Sie, wenn Sie die Ich-AG wirklich wollen, Ihre Haltung zur Scheinselbstständigkeit. Überlegen Sie, wenn Sie Privilegien im haushaltsnahen Bereich einführen wollen, ob Ihr kompliziertes 630-Mark-Gesetz aus damaliger Zeit noch passend ist. ({20}) Überlegen Sie mit uns einmal frei von jeder Ideologie, ob man betriebliche Bündnisse für Arbeit nicht auf eine rechtlich einwandfreie Gesetzesgrundlage stellen muss, um aus der Grauzone herauszukommen. ({21}) Überlegen Sie mit uns, ob wir Entscheidungsprozesse, die mit der tollen Möglichkeit der Mitbestimmung in Deutschland zusammenhängen - ich meine toll im positiven Sinne -, von den Zeitabläufen her nicht berechenbarer machen können, indem wir mit mehr Fristen arbeiten, bis wann entschieden werden muss, was Einigungsstellenverfahren nicht ausschließt. Ich glaube, wenn wir diesen Weg gehen würden, würden wir in Deutschland eine gute Entwicklung einleiten. Wenn Sie weiterhin den ideologischen Weg gehen, der auch in weiten Teilen im HartzKonzept steht, befürchte ich, dass Sie Ihr Ziel erreichen werden, die Arbeitslosigkeit auch in den nächsten Jahren bei 4 Millionen zu stabilisieren. Schönen Dank. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die derzeitigen Arbeitslosenzahlen sind für uns Sozialdemokraten in der Tat inakzeptabel. ({0}) Daran gibt es nichts zu rütteln. Deshalb haben wir in der Koalitionsvereinbarung die Weichen auf Wachstum und Beschäftigung gestellt. Genauso klar ist aber auch, dass wir eben nicht Schlusslicht in Europa sind. Im europäischen Vergleich liegen wir im Durchschnitt und bei der Jugendarbeitslosigkeit sogar besser. Man muss Karl-Josef Laumann an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Gerade weil wir das JUMP-Programm verabschiedet haben, sind zusätzliche Ausbildungsplätze und Chancen für junge Menschen in diesem Land entstanden. ({1}) Ohne diese Aktivität sähe die Situation ohne Frage schlechter aus. Unter Zugrundelegung der EU-Statistik liegen wir bei der Arbeitslosenquote um 1,2 Prozent oder 800 000 Arbeitslose niedriger, als es unsere derzeitige nationale Statistik aufweist. Das sind die harten Fakten, an denen auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht vorbeikommen. ({2}) Belegt ist damit aber auch, dass das Gerede, insbesondere das der Union, vom angeblichen Schlusslicht Unsinn ist. ({3}) Das erinnert mich an einen schlechten Verlierer. Wie wollen Sie eine anständige Oppositionspolitik betreiben, wenn Sie noch nicht einmal anständig verlieren können? ({4}) - Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie wollt ihr denn regie- ren, wenn ihr die Wirklichkeit nicht wahr- nehmt?) Hören Sie auf, unser Land und seine Menschen schlecht zu reden! Packen Sie mit an, wenn es um die gesamtgesellschaftliche Aufgabe des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit geht. ({5}) Die Devise lautet jetzt: Durchstarten und Zupacken. Schlechtreden und stundenlang konzeptionslos jammern ist nicht hilfreich. ({6}) Verweigern Sie sich nicht dem Konsens aller maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen, wie er nach einem intensiven Ringen in der Hartz-Kommission erreicht wurde. ({7}) Wir haben mit den Hartz-Vorschlägen die Plattform geschaffen, auf der wir jetzt Gesetze für die Neuausrichtung auf dem Arbeitsmarkt zügig schaffen werden. ({8}) Sie haben die Wahl, in einer Allianz der Vernunft konstruktiv mitzuwirken oder, wie bisher, den Blockierer zu spielen. Meine Damen und Herren, dann müssten Sie den Menschen aber auch erklären, aus welchen kleinkarierten und wahltaktischen Überlegungen heraus Sie uns Knüppel zwischen die Beine werfen. Die Betriebsverfassung und die Reform der Betriebsverfassung sind nun wahrlich nicht für die hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich, wie es von einigen Oppositionsrednern heute dargestellt wurde. Die Betriebsräte zu bekämpfen, die Arbeitsbedingungen der Betriebsräte zu verschlechtern, ihnen den Boden unter den Füßen zu entziehen und auf diesem Niveau die Tarifzuständigkeit auf die Betriebsparteien zu verlagern: Das ist in der Tat ein Bild von Partnerschaft, das wir Sozialdemokraten - ich bin davon überzeugt, dass das auch für unseren grünen Koalitionspartner gilt - nicht haben. Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie sagen, dass Sie keine Teilhabe und keine Demokratie im Betrieb wollen. Sie wollen den Herr-im-Hause-Standpunkt verwirklichen und den aufrechten Gang abschaffen; Sie sind rückständig. ({9}) Lassen Sie sich das sagen: Wir brauchen starke Partner auf der betrieblichen Ebene. Deshalb ist an diesem Punkt auch nicht mit uns zu diskutieren. ({10}) Frau Wöhrl hat einen Vortrag gehalten, der an Klagen, Stöhnen, Vernebeln und Schlechtreden kaum zu überbieten ist. ({11}) Ich habe keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört, mit dem der Abbau der Arbeitslosigkeit vorangetrieben werden könnte. Es wurde kein einziges konkretes Konzept vorgetragen; das ist die Wahrheit. Sie hat oft von Luft geredet. Frau Wöhrl, ich finde, Ihre Rede war eine Luftnummer. Sie hat nicht dazu beigetragen zu helfen und dafür zu sorgen, dass es in diesem Land mehr Wachstum und Beschäftigung gibt. ({12}) Herr Laumann, in einem Punkt bin ich erfreut, weil Sie die Einsicht vermittelt haben, dass das Hartz-Konzept zu mehr Beschäftigung führt. Das ist eine gute Einsicht. ({13}) In diesem Zusammenhang gibt es keinen Raum für politische Spekulationen und dafür, Zeit zu verlieren. Wir müssen das Hartz-Konzept schnell und umfassend durch gesetzliche Maßnahmen umsetzen, damit die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden kann. Wer daran nicht mitarbeitet, trägt Mitschuld und -verantwortung dafür, dass die Arbeitslosigkeit nicht so schnell zurückgeführt wird, wie es möglich wäre. Deshalb werden wir das Hartz-Konzept stufenweise in Gesetze fassen. Wir beginnen jetzt mit den Maßnahmen, die sofort umsetzbar sind. Ich erwarte, dass sich die Opposition diesem konkreten und beschlossenen Konzept nicht verweigert. Sie haben im Wahlkampf nämlich angekündigt - das hat Ihr Schattenwirtschaftsminister oft gesagt -, dass die Union an der Seite des Kanzlers wäre und von Wahlkampfstrategien Abstand nehmen würde, wenn Druck auf Gerhard Schröder ausgeübt würde, damit das Hartz-Konzept zur Chefsache und ohne Wenn und Aber in Gesetzesform gegossen wird. Ich bin gespannt, ob Sie helfen werden, dieses 1:1-Modell, das diese Regierung angekündigt hat, so schnell wie möglich in Gesetzesform zu fassen. Dafür werden Sie uns den Beweis liefern müssen. Sie werden der Öffentlichkeit sagen müssen, wie ernst Sie es mit der Hilfe meinen, die Arbeitsmarktreform in diesem Land zügig umzusetzen. Der Reformansatz, den wir gewählt haben, ist aus unserer Sicht kein Wahlkampfgag. Die Vorarbeiten sind weit gediehen. In der kommenden Woche werden wir den ersten Teil des Gesetzentwurfes in den Bundestag einbringen. Die meisten Vorschläge der Hartz-Kommission werden in diesem Entwurf enthalten sein. Wenn die Union - das sage ich noch einmal deutlich - mitzieht, werden die Gesetzesmaßnahmen zum 1. Januar 2003 im Bundesgesetzblatt stehen und die ersten Veränderungen schnell greifen können. Die zweite Stufe, in der wir die organisatorischen Änderungen bei der Bundesanstalt für Arbeit vornehmen, braucht etwas mehr Zeit und Raum. Den Gesetzentwurf dazu werden wir im Frühjahr einbringen. Wir werden die Entbürokratisierung und Vereinfachung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, von denen Sie so oft geredet haben, in diesem Teil festschreiben und auf Ihre konstruktive Mitarbeit rechnen. Den Abschluss der Reform bildet der dritte Schritt. Er soll zum 1. Januar 2004 Gesetzeskraft erlangen, nämlich die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Mit diesem ehrgeizigen Programm führen wir die größte Arbeitsmarktreform in der Nachkriegsgeschichte durch. Die Umsetzung der Hartz-Vorschläge verlangt allen Interessengruppen, vor allem Arbeitgebern und Gewerkschaften, einiges ab. Gewinnen aber werden am Ende die Arbeitslosen und unsere Gesellschaft insgesamt. Die Reform wird die finanziellen Belastungen durch Arbeitslosigkeit bei den Menschen, bei den Unternehmen und auch bei Bund und Ländern deutlich verringern. Ich bitte Sie dazu um Ihre Mitarbeit. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat die fraktionslose Abgeordnete Petra Pau das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über Arbeitsmarktpolitik reden, dann reden wir über vier Millionen Arbeitslose und noch viel mehr betroffene Menschen. Ich sage das den Statistikern. Ich wiederhole: Es geht in dieser Debatte um Menschen und Menschenrechte. Wenn Minister Clement meint, wir hätten keinen Grund zur Schwarzmalerei, dann halte ich dagegen: Wir haben keinen Grund zur Hartz-Prahlerei, wie wir sie seit gestern früh pausenlos hören. ({0}) Nun habe ich wohl vernommen, was gestern in der Regierungserklärung dazu gesagt wurde: Mit den Vorschlägen der Hartz-Kommission ist es gelungen, ... ein schlüssiges Gesamtkonzept vorzulegen. Diese Vorschläge, die wir ohne Abstriche umsetzen, werden die größte Arbeitsmarktreform seit Bestehen der Bundesrepublik bewirken. Wahrlich große Worte. Aber reden wir konkret über die Hartz-Vorschläge. Im September waren 290 000 Berlinerinnen und Berliner ohne Arbeit. Dem standen in der Hauptstadt 9 000 offene Stellen gegenüber. Bislang konnte mir niemand schlüssig erklären, wie 290 000 Arbeitslose effektiver in 9 000 offene Stellen zu vermitteln sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war im Französischen Dom dabei, als die Hartz-Vorschläge als das Nonplusultra feilgeboten wurden. Nur einer fiel damals aus dem feierlichen Rahmen: der Arbeitsminister von Mecklenburg-Vorpommern. Er stellte eine ganz simple Frage, nämlich was das viel gelobte Konzept im Osten bewirken solle oder könne. Die Antwort: Wir sind im Jahr zwölf der Vereinigung. Er, Holter, möge endlich sein Ostdenken ablegen. Ich kommentiere das jetzt nicht. Aber ich empfehle Ihnen, Herr Bundesminister Clement, und auch Ihnen, Herr Ostminister Stolpe: Konsultieren Sie die PDS-Arbeitsminister in Berlin und Schwerin. Herr Wolf und Herr Holter arbeiten intensiv daran, Ansätze aus dem HartzKonzept auch im Osten lebenstauglich zu machen. ({1}) Das eigentlich Neue am so genannten Arbeitsmarkt besteht darin, dass es Vollbeschäftigung im herkömmlichen Sinne nie mehr geben wird. Ergo brauchen wir neue Antworten. Rot-Grün gibt diese Antworten leider nicht. Dabei gibt es durchaus bereits diskutierte und anerkannte neue Ansätze. Ich kann an dieser Stelle nur einige Stichworte nennen: öffentlich geförderter Beschäftigungssektor, existenzsichernde Grundsicherung, drastische Arbeitszeitverkürzung sowie eine wirkliche Steuer- und Sozialreform. Ein derart neues Denken vermisse ich bei Rot-Grün. Von Schwarz-Gelb habe ich es im Übrigen gar nicht erst erwartet. ({2}) Deshalb fragen Sie bitte nicht, Herr Bundeskanzler, was ich für den Staat tun kann. Fragen Sie mich besser, was Sie für die Gesellschaft tun können! Ich sage es Ihnen gerne. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die nächste Runde der Aussprache über die Regierungserklärung wird vom Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, eröffnet.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Während des Wahlkampfs und nach dem Wahlkampf haben Sie versucht, insbesondere die Finanz- und Steuerpolitik der vergangenen vier Jahre abzuqualifizieren, und gehofft, damit in politischer Hinsicht Land gewinnen zu können. ({0}) Meine Damen und Herren, heute ist der Zeitpunkt, über diese Frage zu reden. Ich werde Ihnen die Widersprüchlichkeit und die völlig falschen Behauptungen ({1}) Ihrer Thesen vorhalten. Erstens. Lassen Sie uns vergleichen, was Sie in den letzten vier Jahren Ihrer Regierungszeit und was wir in den ersten vier Jahren der Regierung Schröder finanzpolitisch zuwege gebracht haben. Ich halte fest, dass Sie damals in vier Jahren 230 Milliarden Euro neue Schulden gemacht haben. Wir haben in derselben Zeitspanne - dabei habe ich die UMTS-Lizenzen schon herausgerechnet und einen Zuschlag für dieses Jahr, dessen Höhe mir noch nicht genau bekannt ist, einbezogen - die Neuverschuldung um weit mehr als 50 Prozent unter den Betrag gedrückt, den Sie in den vier Jahren davor erreicht hatten. Das ist die finanzpolitische Bilanz. ({2}) Wir haben das trotz der hohen Zinsbelastung, die wir nach Ihren Regierungsjahren vorgefunden haben, erreicht. ({3}) - Ja, die Wiedervereinigung. Sie hätten sie aber auf andere Weise finanzieren müssen. ({4}) Sie haben die Staatsverschuldung um 20 Prozentpunkte erhöht, nämlich von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 60 Prozent. Wir haben unter wesentlich schwierigeren Bedingungen regieren müssen. 1994 zum Beispiel gingen noch 48 Prozent der Steuereinnahmen an den Bund. Jetzt sind es noch ganze 43 Prozent - so viel übrigens zu der Mär, dass wir den Bund auf Kosten der Länder und Kommunen entlastet hätten. Folgendes macht den Erfolg deutlich: Als ich Finanzminister wurde, wurde fast jede vierte Steuermark, die wir einnahmen, sofort wieder für Zinsen ausgegeben. Zurzeit ist es nur jede fünfte Steuermark. Es ist zwar ein mühseliger Prozess, aber es ist der in vier Jahren erzielte Fortschritt, der dieses Land und diesen Staat wieder handlungsfähiger macht. ({5}) Wir haben dann - anders, als Sie es als Märchen in die Welt setzen - über die Ausgabenseite konsolidiert, übrigens bei einer Steuerquote, die einen historischen Tiefstand erreicht hat. Eine weitere Senkung ist nicht möglich. Darüber werden wir noch zu reden haben, wenn es um die Strategie für die Jahre 2003 bis 2006 geht. Wir liegen in diesem und im nächsten Jahr mit unseren Ausgaben unter dem, was wir uns 1999 in dem 30-Milliarden-Paket, dem jährlich 5 Milliarden hinzugefügt wurden, für 2002/2003 vorgenommen hatten, und zwar trotz des Anti-Terror-Pakets. Wir haben zudem die Qualität unserer Staatsausgaben nachdrücklich verbessert. Das, was Sie zum Beispiel fälschlicherweise als Sparbüchse bzw. als Kürzungsmöglichkeit genutzt haben, nämlich die Ausgaben für Forschung und Bildung, haben wir in demselben Zeitraum um 2 Milliarden bzw. um fast 28 Prozent erhöht. Das ist eine entscheidende Zukunftsinvestition. ({6}) Wir haben die Verkehrsinvestitionen auf einen historischen Höchststand gebracht, auf dem wir sie nicht nur verstetigen, sondern auf dem es, allerdings in kleinen Schritten, weitergeht. Wir haben die Energiewende mit hohen Investitionen finanziert. Ich sage an dieser Stelle allerdings auch - das gilt für alle Investitionen -, dass man sie so zielgerichtet einsetzt, dass die neuen Energien wirklich marktfähig werden. Wir haben - ich führe das an, weil Sie am liebsten auf den Spitzensteuersatz verweisen - den Mittelstand durch Steuersenkungen ordentlich entlastet. ({7}) 1998 lag die obere Grenzsteuerbelastung des selbstständigen Mittelstandes bei 69 Prozent. Diese Zahl erhält man, wenn man den Spitzensteuersatz, der damals bei 53 Prozent lag, den Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent und 13 Prozent Gewerbesteuer addiert. Jetzt liegt die obere Grenzsteuerbelastung des selbstständigen Mittelstandes bei 51 Prozent. Sie ist also im Vergleich zu 1998 um 18 Prozentpunkte gesunken. Das war möglich, weil inzwischen die Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer verrechnet werden kann und weil der Spitzensteuersatz auf 48,5 Prozent gesunken ist. ({8}) Eine Senkung der oberen Grenzsteuerbelastung des selbstständigen Mittelstandes um 18 Prozentpunkte haben Sie in 30 Jahren Ihrer Regierungstätigkeit in der Bundesrepublik nie zuwege gebracht. ({9}) Zur Entlastung der Arbeitnehmer möchte ich Folgendes sagen: Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer, der Alleinverdiener ist und eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren hat, zahlte während Ihrer Regierungszeit 6,5 Prozent Lohnsteuer. Wir haben dafür gesorgt, dass er im Jahr 2001 nur noch 5,1 Prozent zahlen musste. Das ist die tatsächliche Nettoentlastung der Arbeitnehmer. Es ist ja nicht verwunderlich, dass die Staatskassen leer sind. Sie sind schließlich auch wegen der Steuerreform leer. Irgendwo muss sich natürlich auch die Entlastung bemerkbar machen. Allerdings so leer, wie sie jetzt sind, sollten sie eigentlich nicht sein. Das liegt an der konjunkturellen Entwicklung. ({10}) Aber ich wiederhole: Die Steuerquote hat einen historischen Tiefstand erreicht. Herr Merz, man kann ja über die Senkung der Staatsquote diskutieren. Auch ich möchte sie senken. Wenn sich der Staat aber immer höher verschuldet und die Staatsquote gesenkt wird, dann kann man ihn auch gleich abschaffen. Die Senkung der Staatsquote macht doch nur Sinn - das ist eine grundlegende Voraussetzung - im Rahmen einer Strategie der Entschuldung des Staates. Nur dann kann er - schließlich brauchen wir ihn für die Garantie der inneren und der äußeren Sicherheit sowie zur Förderung der Bildung und zum Ausbau der Infrastruktur - handlungsfähig bleiben. Etwas anderes können Sie doch ernsthaft nicht wollen. ({11}) Wir haben das alles - das ist der große Unterschied zu Ihrer Regierungszeit - nicht in einer Phase eines andauernden Aufwärtstrends der Weltkonjunktur, vor allem der Konjunktur in den Vereinigten Staaten, sondern - das spüren wir jetzt schmerzlich - in einer Phase eines starken Abschwungs, der seit dem Sommer 2000 anhält, und in einer Situation erreicht, in der das Wachstum in den Vereinigten Staaten unter dem Deutschlands liegt. Übrigens möchte ich an dieser Stelle eine kleine Anmerkung zu der Frage machen, wie stark Deutschland in der Welt eigentlich ist. Als wir das Jahr 2001 bilanziert haben, kam Folgendes heraus: Ein Wachstum von 0,6 Prozent in Deutschland ist weiß Gott kein Grund zum Prahlen. Das ist wahr. Aber damit ist das Wachstum in Deutschland noch immer doppelt so hoch wie das in den Vereinigten Staaten, der größten und so gepriesenen Volkswirtschaft der Erde. Dort liegt es nämlich bei ganzen 0,3 Prozent. Das Wachstum in Japan ist sogar negativ. Das sind die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen wir arbeiten müssen. Wie eng die Verflechtung mit der Weltwirtschaft ist, hat der Sachverständigenrat gerade in seinem vorletzten Gutachten mit unüberbietbarer Deutlichkeit klar gemacht. Wir haben außerdem den Aufbau Ost auf hohem Niveau verstetigt und in diesem Jahr mit dem Stadtumbauprogramm sogar ein neues Programm aufgelegt. Das alles zeigt, dass wir in den letzten vier Jahren mit großen Anstrengungen ordentlich vorangekommen sind. Jetzt möchte ich auf Ihren Vorwurf eingehen, dass ich alles, was ich jetzt ankündige, vor der Wahl hätte sagen sollen. ({12}) - Ich bin mir sicher, dass die Debatte noch spannend wird. - Ich möchte nicht nur über dieses Jahr, sondern auch über die Jahre reden, in denen Sie regiert haben. Nicht nur Deutschland - das haben Sie vorhin falsch dargestellt - sieht sich das zweite Jahr mit einem sehr schwachen Wachstum konfrontiert. Im europäischen Vergleich liegen zurzeit Italien und die viel gepriesenen Niederlande beim Wachstum hinter Deutschland. Das ist die Wahrheit. Das zweite Jahr mit sehr schwachem Wachstum haben wir 2001 haushaltspolitisch noch gut bewältigt; denn trotz 2 Prozent weniger Wachstum, als alle Institute vorausgesagt hatten, haben wir 2001 eine Punktlandung hingelegt. Im zweiten Jahr eines so schwachen Wachstums ist das in der Tat nicht mehr zu machen. Als ich den Haushalt einbrachte, habe ich hier an diesem Pult und in der Bundespressekonferenz gesagt: Dieser Haushalt ist auf Kante genäht, es gibt keine Reserve mehr, wenn es konjunkturell anders läuft. Das habe ich gesagt, als ich den Haushalt einbrachte. ({13}) Wir haben noch eine Menge beherrscht, zum Beispiel mit den Rückflüssen aus Brüssel in Höhe von fast 5 Milliarden Euro. Die haben Sie übrigens im Sommer immer noch ausgeben wollen, obwohl ich Ihnen bereits im Frühjahr gesagt habe, dass sie bei der weiteren Abschwächung der Konjunktur im Haushalt bleiben müssen, weil andernfalls die Probleme gar nicht zu lösen sind. Spannend wurde es im Sommer; Sie sagen ja, Sie hätten das alles vorher gewusst. Darauf komme ich gleich noch zurück. Den ganzen Sommer über lagen alle Institute mit Ausnahme des DIW mit ihren Prognosen über unseren. Die erste Korrektur nach unten fand im September statt; da senkte ein Institut seine Prognose auf 0,4 Prozent. Gleichzeitig verbesserten sich im Juli und August die Steuereinnahmen. Das stand noch vor dem Hintergrund aller Prognosen eines richtig dynamischen Aufschwungs im zweiten Halbjahr, der nicht gekommen ist. ({14}) - Daran haben wir alle geglaubt. Alle Institute haben den ganzen Sommer über genau das geschrieben. ({15}) - Darauf komme ich gleich. Für mich war eines klar: Darüber darf man als Finanzminister nur dann reden, wenn man sicher ist. Dann allerdings kamen die Steuereingänge im großen Steuermonat September, die ganz anders ausfielen als im Juli und im August. ({16}) Bevor ein Finanzminister verlässliche Zahlen hat, darf er über so etwas nicht reden, egal ob Wahl ist oder nicht. ({17}) Jetzt komme ich zu einer spannenden Frage an Sie. Die Zahlen kannten wir alle - übrigens die Länder und auch Herr Faltlhauser früher als ich, weil die Steuereinnahmen in den Ländern eingehen und erst später an uns gemeldet werden. Wenn Sie das schon vorher gewusst haben, wie Sie sagen, möchte ich Sie doch eines fragen: Warum haben Sie denn ein Wahlprogramm geschrieben, in dem Sie den Menschen Steuersenkungen zwischen 10 und 35 Milliarden Euro - bei der FDP sind es dann gleich über 70 Milliarden Euro - versprechen? ({18}) - Es kommt darauf auch gar nicht an. ({19}) Warum haben Sie denn, obwohl Sie doch angeblich alles gewusst haben, den Aufbau in den Flutkatastrophengebieten noch im September mit Schulden finanzieren wollen? Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie damit glatt die 3 Prozent überschreiten würden. ({20}) Warum haben Sie denn ein Sofortprogramm aufgestellt, das in den ersten 100 Tagen der neuen Wahlperiode irgendwo zwischen 10 und 20 Milliarden Euro - ich will über die Zahl gar nicht streiten - gekostet hätte? Sie haben doch, so sagen Sie, alles gewusst. Ich sage Ihnen: Ich hatte große Sorgen. ({21}) Ich habe deswegen eine Haushaltssperre verhängt. Ich habe deswegen zusammen mit dem Bundeskanzler dafür gesorgt, dass wir den Wiederaufbau in den Flutkatastrophengebieten nicht über Schulden, sondern durch Verschiebung der Steuersenkungen finanzieren. ({22}) Alles andere müssen Sie sich selbst überlegen. Sie sind offenbar in Ihrer Wahlkampfstrategie nicht klar gekommen. Sie wussten nicht, ob Sie nun sagen sollten, die Finanzen seien im Eimer, oder ob Sie die Leute mit all Ihren Wahlversprechungen beglücken sollten, die Sie jetzt alle zurücknehmen müssten, wenn Sie an der Regierung wären. Deswegen lasse ich mir an der Ecke von Ihnen überhaupt nichts erzählen. ({23}) Eines ist klar: Nach den Steuereinnahmen im September musste man sagen, dass wir die 3 Prozent nicht halten werden, und das habe ich dann auch sofort gesagt. ({24}) Ein anderes Verhalten des Finanzministers wäre unverantwortlich gewesen. Ich will auch etwas zum europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt sagen. Er hat nämlich sehr wohl die zu Recht eingeforderte Flexibilität, auf konjunkturelle Situationen auch angemessen zu reagieren. Sie hätten mit Ihrer Politik die Entscheidung getroffen, dieses Rahmenwerk zu brechen. Das gibt es mit uns nicht. Deswegen sage ich Ihnen: Ja, wir werden einen Nachtragshaushalt auf den Tisch legen, wenn die Steuerschätzung im November da ist, weil man vernünftigerweise erst dann über die Zahlen reden kann, um die es wirklich geht. Ich will auch etwas zur europäischen Situation sagen und festhalten: Von den zwölf Staaten der Eurozone werden - da kommen wir ans Problem - mindestens sechs Länder stärkere, zum Teil wesentlich stärkere Abweichungen vom Stabilitätsprogramm haben als Deutschland. Das ist dort zum Teil nicht so ein Problem, weil man dort, jedenfalls in einigen dieser Länder, bisher Überschusshaushalte hatte. Unser Problem ist, dass wir auf halbem Weg zum ausgeglichenen Haushalt von der Konjunkturschwäche erwischt worden sind. Den Schuh ziehe ich mir nicht an und den zieht sich auch diese Bundesregierung nicht an. ({25}) - Nein. Sie hätten schon ein bisschen früher mit der richtigen Politik anfangen müssen. Sie hätten den anderen Europäern nicht nur den Stabilitätspakt einreden dürfen, sondern hätten selbst die Politik danach machen müssen. ({26}) Ganz schlicht: Sie hätten die Wiedervereinigung seriös finanzieren müssen und nicht so finanzieren dürfen, wie Sie es gemacht haben. Daran werden wir noch lange arbeiten müssen. Zur Diskussion um den Stabilitätspakt will ich noch etwas anderes sagen. Ich finde es falsch, dass wir die Diskussion, die sein muss, allein über das Defizit führen. Wer sich die Kriterien von Maastricht und die Zugangsberechtigung zur Wirtschafts- und Währungsunion ansieht, wer sich die wirtschaftliche Situation in Europa und die Möglichkeiten der Geldpolitik vor Augen führt - ich nehme hier die EZB ausdrücklich in Schutz -, der kommt zu anderen Ergebnissen, nämlich dazu, dass wir im Interesse unserer gemeinsamen Währung auch darüber reden müssen, ob denn andere Länder ihre völlig überhöhte Staatsverschuldung so zurückführen, wie das im Programm vorgesehen ist. Wir müssen aber auch darüber reden, wie es denn in anderen Ländern mit dem Beitrittskriterium Inflation aussieht. Es gibt eine ganze Reihe von Ländern, einschließlich Spanien, die Inflationsraten von bis zu 4,5 Prozent haben. Man muss sich fragen, wie eine gemeinsame europäische Geldpolitik für den Euroraum insgesamt wirkt, wenn Deutschland der Stabilitätsanker in der Union mit der niedrigsten Inflationsrate ist - wir haben übrigens auch die niedrigste Steigerungsrate bei den Lohnstückkosten - und wenn sich andere an alle diese Kriterien nicht halten. Angesichts dessen müssen wir im Rahmen des Stabilitätspakts noch ein paar andere Fragen stellen als nur die nach diesem Defizit. Die Frage nach dem Defizit muss gestellt werden, aber ein paar andere Fragen müssen auch gestellt werden. ({27}) Wir müssen zu anderen Mechanismen der wirtschaftspolitischen Koordinierung kommen. Die müssen dann in der Tat wesentlich verbindlicher werden. Ich bin ausdrücklich der Meinung: Die Kommission soll ein Recht haben, Early-Warning-Systeme und Excessive Deficit Procedure selbst einzuleiten. ({28}) - So steht das nun einmal im Vertrag. Den haben nicht wir, sondern Sie ausgehandelt. Das soll aber keine Beschimpfung sein. Insofern kann und sollte die Kommission eine stärkere Position haben. Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik allerdings müssen, weil es nämlich nationale Verantwortung bleibt, Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen, weiter vom Ecofin-Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Alles andere macht keinen Sinn. Damit, meine Damen und Herren, komme ich zur Perspektive 2003 bis 2006. Dass uns dieses Jahr im Ergebnis sehr unbefriedigt lässt, dass man darauf hinweisen kann, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, dass wir in dieser Phase nicht in die Investitionen eingreifen - das wäre der Crashkurs, den man noch machen könnte, der aber in dieser wirtschaftspolitischen Lage keinen Sinn macht und auch von niemandem gewollt wird, auch in Brüssel nicht; das ist richtig so -, heißt doch aber nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen können. Das heißt vielmehr, dass wir im Sinne unserer verabredeten Politik und im Sinne der Glaubwürdigkeit des Paktes handeln müssen. Dahinter steht übrigens noch etwas ganz anderes, nämlich das Problem der demographischen Verschiebung, der Alterung unserer Gesellschaft. Der Pakt ist nicht einmal das zentrale Thema; er ist ein Paragraphenwerk. Zentrales Thema ist, dass uns die Alterung unserer Gesellschaft in Zukunft große Lasten aufbürdet und wir bis dahin die Schulden aus der Vergangenheit einigermaßen abgetragen haben müssen, damit wir die neuen Aufgaben überhaupt schultern können. Das ist der Hintergrund. ({29}) - Doch! Ich habe es Ihnen doch gerade vorgetragen: Wir haben in vier Jahren noch nicht einmal halb so viele Schulden gemacht wie Sie. Es passiert also, wenn es auch mühselig ist. Wie gehen wir jetzt vor? Erste Antwort des Koalitionsvertrags: Wir bleiben bei unserer Zusage: 2006 Bundeshaushalt ausgeglichen und gesamtstaatlicher Haushalt nahezu ausgeglichen. Da hat die Kommission übrigens sehr vernünftig reagiert, indem sie vor dem Hintergrund der konjunkturellen Schwäche nicht realisierbare Termine in die Zukunft geschoben hat, von 2004 auf 2006. Damit hat die Kommission deutlich gemacht, dass man den Pakt nicht mechanistisch, sondern ökonomisch vernünftig anwendet. Entscheidend ist also das Jahr 2006. Die zweite Antwort heißt: Anpassungsmaßnahmen beginnen im Jahr 2003; denn der Weg dahin muss schließlich gegangen werden. Mittlerweile habe ich gesagt, was wir tun. Ich frage Sie, wie Ihre Alternativen aussehen. ({30}) Angesichts eines seit zwei Jahren schwachen Wachstums müssen wir zuallererst die ganze Finanzplanung für die nächsten vier Jahre auf ein niedrigeres Tableau setzen. Das heißt auch, dass wir das Thema Einsparungen über Subventionsabbau noch einmal intensiv erörtern müssen. Genau das haben wir gemacht und es sorgt für viel Ärger im Lande. Ein Teil der von uns vorgenommenen Einsparungen geht auf Kürzungen im Bereich der Arbeitslosenhilfe und auf Kürzungen der Mittel für die Bundesanstalt für Arbeit zurück. Übrigens, darüber redet fast keiner. Ich finde es ziemlich spannend, zu beobachten, wer in diesem Land die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht und wer mit seinen Interessen die Meinungslage zu beeinflussen versucht. Ich wiederhole: Dieser Teil interessiert fast niemanden, obwohl er eine massive Verringerung der Verteilung von Geldern bedeutet. Dies wird bestenfalls unter der Überschrift „Man muss Subventionen abbauen oder man muss bei den konsumtiven Ausgaben ansetzen“ abgehandelt. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich halte das, was wir tun, für richtig. Ich bin mit dem Kollegen Clement völlig einer Meinung. Wir werden sehr eng zusammenarbeiten. Ich sage das, damit niemand auch nur einen Moment lang glaubt, es könnte zwischen uns Differenzen geben. ({31}) Der andere Teil unserer Sparmaßnahmen erfolgt über den Abbau von Steuersubventionen. Dazu möchte ich Ihnen zunächst eines sagen: Wir machen doch nur das, was auch Sie in Ihren Parteiprogrammen fordern. In Ihren Parteiprogrammen steht - den Extremfall stellen die Forderungen von Herrn Kirchhof dar -: Sämtliche Steuersubventionen müssen abgeschafft und die Steuersätze müssen deutlich verringert werden. Die FDP plädiert für Stufentarife, während die CDU - Herr Merz, ich hoffe, dass ich es richtig sehe - einen linear-progressiven Tarif bevorzugt. Der Kern ist aber derselbe: Sämtliche Steuersubventionen müssen abgeschafft werden. ({32}) - Verehrter Herr Thiele, Ihre Pläne sehen Steuersenkungen nur für die oberen Einkommensklassen vor. ({33}) Wenn Sie den Eingangssteuersatz nicht senken - das Gesetz schreibt eine Höhe von 15 Prozent vor -, aber die Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit - ich nenne einmal das bekannteste Beispiel ({34}) - ich weiß, Sie mögen es nicht hören - von der Steuerfreiheit ausnehmen, dann schaffen Sie eine massive Steuerbelastung derjenigen mit geringem Einkommen. Das ist der Sachverhalt. ({35}) Ich bestreite nicht, dass das, was wir tun, Belastungen mit sich bringt, und zwar auf beiden Seiten des Haushalts. Wenn man bei der Bundesanstalt für Arbeit oder bei der Arbeitslosenhilfe Kürzungen vornimmt, etwa dadurch, dass man dieselben Anrechnungsvorschriften wie bei der Sozialhilfe anwendet, dann nimmt man Menschen Geld weg. Wenn man steuerliche Ausnahmetatbestände beseitigt, weil man der Auffassung ist, dass sie ökonomisch gar nicht gerechtfertigt sind, da andere Leute sie bezahlen ({36}) - auf die komme ich gleich zu sprechen, Herr Thiele -, dann nimmt man Menschen in der Tat Geld weg oder man zwingt sie, mehr zu zahlen. Die Änderung der Eigenheimzulage ist übrigens ein anderer Fall. Das, was da passiert, finde ich spannend. Wenn Sie über dieses Thema reden, erfährt man nie etwas Konkretes. Wenn es um den Subventionsabbau geht, dann fallen Ihnen immer nur die Subventionen für den Steinkohlebergbau ein. Die Subventionen für den Steinkohlebergbau werden jedes Jahr um 250 Millionen Euro zurückgeführt. Im Koalitionsvertrag steht, dass diese Rückführung weitergeht. ({37}) Ich habe mir angesehen, wie Sie es mit den Finanzhilfen und mit den Subventionen gehalten haben. In den Jahren von 1994 bis 1998, in denen Sie regierten, ist der Umfang der Subventionen, der Steuervergünstigungen und anderer Finanzhilfen von 18,1 Milliarden Euro auf 21,2 Milliarden Euro gestiegen. Wenn man dieselbe Bemessungsgrundlage für die Jahre 1998 bis 2002, also für die Zeit, in der wir die Regierung gestellt haben, anwendet die Ökosteuer lasse ich bei dieser Berechnung außen vor, denn sie stellt ein Problem dar; ich komme gleich auf die Ökosteuer zu sprechen -, dann stellt man ein Absinken des Umfangs der Subventionen, der Steuervergünstigungen und anderer Finanzhilfen von 21,2 Milliarden Euro auf 16,8 Milliarden Euro fest. ({38}) Das ist ein schwieriges Kapitel. Ich erinnere an sämtliche im Steuerentlastungsgesetz 1999 beseitigten Ausnahmetatbestände. Der künftige Umfang staatlicher Finanzhilfen wird genau das berücksichtigen, was wir hier vorgeschlagen haben. Ich will nur wenige Beispiele nennen. Man muss den Menschen im Lande schon erklären, warum wir es mit einem steuerlichen Privileg versehen, wenn man privat statt eines Privatwagens einen Dienstwagen nutzt. ({39}) Übrigens, wir schaffen dieses Privileg gar nicht ab, sondern wir schränken es nur ein bisschen ein. Man muss den Menschen schon erklären, warum die Bahn bisher den vollen Mehrwertsteuersatz gezahlt hat das wird auch bis 2005 so sein -, der Flugverkehr aber nicht. Was hat das denn mit der Gleichbehandlung der Verkehrsträger zu tun? ({40}) Meine Damen und Herren, Sie müssen den Menschen schon erklären - das ist gar nicht so bekannt geworden -, warum denn diejenigen, die Kunstgegenstände kaufen, mit dem halben Mehrwertsteuersatz bedacht werden, wobei der halbe Mehrwertsteuersatz die soziale Komponente der Mehrwertsteuer war. ({41}) Sie können übrigens bei dieser Gelegenheit studieren, wie über Lobbyismus ein ganzes Steuersystem kaputtgemacht wird. Das ist nämlich das Problem der Einkommensteuer und auch das Problem der Mehrwertsteuer. ({42}) Wir haben das angepackt, wir packen das jetzt auch wieder an. Wenn Sie übrigens sagen, das müsse man mit Steuersenkungen kombinieren, muss ich erwidern: Das meiste davon wird erst im Jahr 2004 wirksam werden. Dann kommt die nächste Steuersenkung, also dann, wenn wir dies machen. ({43}) Also wird Ihnen diese Ausrede auch nicht zur Verfügung stehen. Im Übrigen: Alles, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, steht in diesem Rahmen. Da sollte sich keiner täuschen. Das heißt nicht, dass keine konkrete Gesetzgebungsarbeit mehr notwendig sei. Wir haben ja keine Gesetze beschlossen, sondern diese sind noch im Einzelnen auszuarbeiten. Deshalb wird es von mir so lange, bis der Gesetzentwurf im Kabinett eingebracht ist, auch keine öffentlichen Äußerungen dazu geben, weil das keinen Sinn machen würde. Danach wird das alles sehr sorgfältig in den Beratungen dieses Hauses und des Bundesrates, wo dies erforderlich ist, behandelt werden können. Dann wird man sehen, wie sich jeder verhält. ({44}) - Nein, alles wird vor der Hessenwahl eingebracht, verehrter Herr, weil wir auch gerne vor der Hessenwahl wissen wollen, wie es weitergeht. Wir haben es sorgfältig austariert, damit es sozial gerecht zugeht und damit es in das Konzept des Abbaus von Steuervergünstigungen und Subventionen passt. Das ist nämlich der Satz, der dahinter steht. Wir tun das auch, um all das durchhalten zu können, was wir immer gewollt haben - Fortsetzung des Konsolidierungskurses, ausgeglichener Haushalt im Jahr 2006 -, um das, was wir bisher zu Schwerpunkten gemacht haben - Bildungspolitik, Familienpolitik, Verkehrsinvestitionen, Aufbau Ost, Energiewende - auch wirklich so, wie zugesagt, finanzieren zu können, um die Steuern in den Jahren 2004 und 2005 senken zu können. Und das alles - das ist schon wahr - in einer schwierigen Zeit. Ich habe dazu gegen Ende meiner Rede bei der Einbringung des Haushalts am 12. September gesagt: Meine Damen und Herren, wir haben die Staatsverschuldung eingedämmt. In Zukunft wird die Verfolgung dieses Zieles nicht leichter; das lässt keine Schönwetterpolitik zu, sondern erfordert unter jeweils veränderten Rahmenbedingungen immer wieder neue schwierige Entscheidungen. Die Situation ist schwierig: Es gibt Zusatzbelastungen, die aber, wenn wir uns anstrengen, beherrschbar sind. Nun, meine Damen und Herren, kommt die spannende Frage an Sie: Wir haben ein Konzept auf den Tisch gelegt, mit dem diese Wahlperiode mit den Schwerpunkten, die ich eben genannt habe, mit all dem, was der Kollege Clement heute Morgen zum Thema Arbeitsmarkt dargestellt hat, gestaltet werden kann. Dieses Konzept ist im Bereich des Abbaus der Steuersubventionen für diejenigen, die Subventionen verlieren - ich wiederhole das -, eine Belastung. ({45}) - Diese Definition ist neu. Solange Sie, Herr Thiele, das in Ihrem Programm stehen hatten, nannten Sie es nicht so. ({46}) Deswegen sage ich Ihnen nur: Das ist auch ein Angebot an die Länder und Gemeinden. Denn wenn die Steuerschätzung im November auf dem Tisch liegt, wird sich erweisen, dass die große Mehrzahl der Entwürfe der Länderhaushalte für 2003 verfassungswidrig ist. ({47}) Das heißt, es ist eine Menge zu tun im Gesamtstaat. Es ist ja nicht nur eine Veranstaltung des Bundes. Die Länder haben darauf bestanden, dass sie bei der Möglichkeit, Defizite zu machen, 55 Prozent des gesamtstaatlichen Defizits eingeräumt bekommen. Das heißt, sie haben auch 55 Prozent der Verantwortung für diese Veranstaltung. ({48}) Das heißt, sie werden die Frage beantworten müssen - hier im Bundestag kommen Sie vielleicht so durch, aber nicht in den Ländern und nicht im Bundesrat, in dem Sie jetzt die Mehrheit stellen -, wie sie mit dieser Situation umgehen. Ein Angebot des Bundes, das auch den Ländern hilft, das auch die Kommunalfinanzen stärkt, liegt auf dem Tisch - nicht bequem, nicht unbedingt populär, das bestreite ich nicht. Es gibt auch kein bequemes, kein populäres Angebot in einer solchen Situation. ({49}) Aber Sie und die von Ihnen regierten Länder werden gefragt werden, wie Sie damit umgehen. Ich fürchte, Sie werden sich überlegen, die Antworten erst nach dem 2. Februar 2003 zu geben. ({50}) Unsere liegen auf dem Tisch. Ich sage Ihnen: Alles, was Sie vor der Wahl in Ihr Programm geschrieben haben, können Sie glatt vergessen. Familiengeld würde es, wenn Sie an der Macht wären, nicht geben. Steuersenkungen über die hinaus, die in unserem Gesetz stehen, würde es zu keinem Zeitpunkt geben. Die Eigenheimzulage, die Sie, sehr verehrter Herr Thiele, völlig nach oben öffnen wollten, würde es nicht geben. Sie müssten Ihre gesamten Wahlprogramme in die Tonne werfen. In der Situation, meine Damen und Herren, befänden Sie sich, wenn Sie regierten. ({51}) Das alles ist nur insofern tragisch, als es zeigt, dass Ihre Antworten in keinem Fall zu einer Lösung der Probleme geeignet waren. Dagegen gibt das, was wir jetzt auf den Tisch gelegt haben - auch wenn die Umsetzung schwierig ist -, Antworten auf die Probleme dieses Landes und darauf, wie wir uns den Weg in die Europäische Union und unsere Verantwortung für die Stabilität der gemeinsamen Währung vorstellen. ({52}) Sie, verehrter Herr Thiele, haben gestern und heute nicht eine einzige Antwort auf die Frage gegeben, was Sie tun würden. ({53}) Ich prophezeie Ihnen: Damit kommen Sie bis zum 2. Februar nicht durch. Sie werden zumindest in den Ländern, in denen Sie regieren, gezwungen sein, zu sagen, was Sie machen wollen, damit trotz der Situation, die wir heute haben, die Zukunft gewonnen werden kann. Unser Konzept liegt auf dem Tisch. ({54})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat selten einen Finanzminister gegeben, der mit den Zahlen offensichtlich so auf dem Kriegsfuß steht wie der, der vor mir gesprochen hat. ({0}) Ich muss feststellen, dass keine einzige Zahl von denen, die Sie, Herr Eichel, bezüglich der Beschreibung der Vergangenheit und der gegenwärtigen Situation genannt haben, zutreffend ist. Ich könnte Ihnen das jetzt dezidiert anhand eines ganzen Katalogs von Feststellungen deutlich machen. ({1}) Das würde allerdings mein Konzept, das ich mir für heute erstellt habe, ein bisschen durcheinander bringen. ({2}) Ich möchte allerdings das eine oder andere doch im Rahmen dieser Rede aufgreifen. Zunächst möchte ich feststellen, dass Sie die Person sind, an der die Wähler festmachen, dass sie bei dieser Wahl offensichtlich getäuscht worden sind. ({3}) Vor der Wahl sagten sie: Wenn es jemanden gibt, von dem ich erwartet hätte, dass er die Wahrheit sagt, dann dürfte das Hans Eichel sein. Sie mussten dann aber feststellen, dass all das, was Sie vor der Wahl zum wirtschaftlichen Wachstum, zu den Steuereinnahmen, zur Neuverschuldung und zur Perspektive des Defizitkriteriums gesagt haben, falsch und gelogen war. Ich habe angenommen, Sie kommen ganz klein hierher und sagen: Liebe Leute, es tut mir Leid, ich muss mich entschuldigen; ich habe euch alle getäuscht, das war weder Absicht noch Dummheit. - Etwas Derartiges hätten Sie heute meines Erachtens sagen müssen. Es kann nicht angehen, dass jemand, der eine Armee von Mitarbeitern - 2 100 Mitarbeiter - befehligt, sagt, er habe das alles nicht gewusst, da er sich auf die Sachverständigen beziehen und auf das vertrauen musste, was die sagen. So werden Sie sich wahrscheinlich auch bezüglich der Steuerschätzung im November verhalten: Wenn die nicht mit den vorherigen übereinstimmt, sind dann wohl wieder die anderen schuld. Ich habe zwei Mitarbeiter, Sie haben 2 100. Diese zwei sind ehemalige Mitarbeiter des Finanzministeriums. Ich habe den Eindruck, dass, als sie dort weggegangen sind, mit ihnen auch der Sachverstand verschwunden ist. ({4}) Diese Mitarbeiter und ich haben seit zwei Jahren gewarnt. Im November 2000 habe ich gesagt, es ziehen dunkle Wolken am Konjunkturhimmel auf. Da haben Sie gelacht. Als Sie von Ihrer Steuerreform als der größten Steuerreform des Jahrhunderts gesprochen haben, haben wir gesagt: falsch angelegt, bestraft den Mittelstand. Wir haben vor einem Jahr gesagt, dass die Weichen in die falsche Richtung gestellt sind und genau das eintreten wird, was auch Sie heute beklagen, nämlich dass die Steuereinnahmen wegbrechen. ({5}) All das kanzelten Sie als falsch und unseriös ab. Noch wenige Tage vor der Wahl, am 12. September, haben Sie hier gesprochen und fast die gleiche Rede gehalten; eigentlich hätten Sie nur das Datum ändern müssen. Da sagten Sie, alles das, was die Union vorschlägt, koste viel Geld und sei falsch. Nein, Herr Eichel, Sie haben die Menschen belogen. Im Zusammenhang mit dem Thema Wirtschaft ist gestern von Bilanzfälscherei die Rede gewesen. Die Bundesregierung hat im Juni eine Broschüre versendet. Diese Broschüre hat sie „Geschäftsbericht der Bundesregierung“ genannt und damit so getan, als sei Deutschland eine GmbH oder eine Aktiengesellschaft. Nach den in diesem Geschäftsbericht angegebenen wirtschaftlichen Eckdaten müssten Sie angesichts dessen, was ich Ihnen gleich vorrechnen werde, in diesem Jahr Konkurs anmelden. Natürlich müsste man dabei auch darüber nachdenken - leider ist es dafür jetzt zu spät; wir werden vier Jahre darauf warten müssen -, so schnell wie möglich das Führungspersonal auszuwechseln, und zwar Sie, Herr Eichel, an erster Stelle. ({6}) Ich möchte Ihnen jetzt darstellen, weshalb die Neuverschuldung die genannten Konsequenzen haben müsste. Statt der für dieses Jahr erwarteten Neuverschuldung von 21 Milliarden Euro oder 42 Milliarden DM - in Euro klingen die Beträge immer so niedlich, vor allem dann, wenn man die jetzigen Eurobeträge mit den DM-Beträgen der Vorjahre vergleicht - wird die tatsächliche Neuverschuldung 35 Milliarden Euro betragen. Das sind rund 14 Milliarden Euro mehr Neuverschuldung, als im Haushalt vorgesehen. Zur Größenordnung der Neuverschuldung hat der Finanzminister übrigens keinen einzigen Satz gesagt. Die Neuverschuldung wird sich in diesem Jahr also auf 70 Milliarden DM - den Betrag von 35 Milliarden Euro kann man ja grob im Verhältnis von 1 : 2 in D-Mark umsetzen - belaufen. Das wird die höchste Neuverschuldung der Nachkriegszeit sein. Für den Fall, dass dieser Betrag vielleicht früher doch schon einmal überschritten worden sein sollte, müsste mich der Kollegen Carstens korrigieren. Wenn Sie in dieser Situation sagen, das, was die Opposition wolle, führe zu höherer Neuverschuldung, die jetzige Opposition habe in früheren Jahren zu viele Schulden gemacht, dann ist das bei 35 Milliarden Euro Neuverschuldung in diesem Jahr geradezu blamabel. ({7}) Man kann auch die anderen Angaben in dem „Geschäftsbericht der Bundesregierung“ nehmen, um das zu zeigen. Natürlich wird die Nettokreditaufnahme deutlich über der Investitionssumme liegen. ({8}) Der Haushalt ist also verfassungswidrig. ({9}) Das alles sagen wir Ihnen schon seit einem Dreivierteljahr. Ist das etwa unseriös gewesen? Dabei haben wir übrigens auch dargelegt, dass sich die Steuereinnahmen so entwickeln werden, wie sie sich jetzt tatsächlich entwickelt haben. Bei Ihnen gibt es offenbar nur die Steuereinnahmen von September, nicht die von Januar, Februar, März, April, bei denen diese Entwicklung auch schon festzustellen war. Als wir rechtzeitig darauf hingewiesen haben, dass im letzten und in diesem Jahr bei der Körperschaftsteuer ein Loch entstehen werde, haben Sie auch das als falsch dargestellt und gesagt, das alles werde sich ändern, auch der Sachverstand Ihres Hauses sage, dass das in diese Richtung gehe. Ich möchte Ihre Mitarbeiter nicht beleidigen. Darunter sind viele gute Leute, auch Unionsmitglieder. Es müssen also auch gute Leute sein. Aber wenn Sie verhindern, dass diese Leute ihren Sachverstand in die Arbeit einbringen, dann brauchen Sie sich über das Ergebnis nicht zu wundern. ({10}) Das gilt speziell für das Thema der Neuverschuldung. Sie sind der Finanzminister, der in diesem Jahr einen verfassungswidrigen Haushalt zu verantworten hat. So, wie sich die Dinge entwickeln, wird sich das im nächsten Jahr wiederholen. Die Investitionen gehen ja zurück. Dann kommt Herr Müntefering und sagt: Wir machen ein Investitionsprogramm mit 90 Milliarden Euro - nicht gesagt hat er, ob das in zehn, 20 oder 50 Jahren sein soll. Im letzten Jahr unserer Regierungszeit - der Vergleich zwischen 1998 und heute ist ja interessant - gab es Investitionen in der Größenordnung von 29 Milliarden Euro und bei Ihnen sind es in diesem Jahr 25 Milliarden Euro. Das sind 4 Milliarden Euro oder 8 Milliarden DM weniger. Wenn das im nächsten Jahr unter Berücksichtigung der Inflationsrate auf dem gleichen Niveau bleibt, dann werden Sie zugeben müssen, dass die Investitionen bei Ihnen ständig zurückgegangen sind bzw. zurückgehen. Die jetzige Regierung setzt auf höhere Neuverschuldung und stärkere Belastung der Bürger. Wir haben einmal ausgerechnet, welche Belastungen die Festlegungen in dem Koalitionsvertrag für Bürger und Betriebe mit sich bringen. Unter Berücksichtigung der vorgesehenen Kürzungen bei den Zuschüssen an die Bundesanstalt für Arbeit, der Entwicklung bei den Steuereinnahmen usw. kommen wir auf eine Größenordnung von 103 Milliarden Euro an zusätzlichen Belastungen von Bürgern und Betrieben in den kommenden vier Jahren. Die Regierung ist nicht in der Lage - das ist der entscheidende Fehler, den die Regierung macht -, ein Konzept vorzulegen, das die Perspektive erkennen lässt - der Kollege Merz hat bereits darauf hingewiesen -, dass es mehr wirtschaftliches Wachstum geben könnte. Jede Dynamik wird totgetrampelt, ({11}) jede Möglichkeit, das wirtschaftliche Wachstum zu stärken, wird trotz der bestehenden schwierigen Situation negiert. Angesichts dessen kann gar nichts anderes als eine pessimistische Zukunftserwartung eintreten. Das ist das entscheidende Problem: Wie soll die Wirtschaft bei immer höheren Steuern, höheren Sozialabgaben und höheren Belastungen von Bürgern und Betrieben in Gang kommen? Da Sie das genau so machen, ist es unpassend, wenn Sie sechs Wochen nach der Wahl jetzt Hilfe suchend fragen, was die Union meint, wie deren Alternative aussieht. Die Alternative hat sich übrigens nicht geändert. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen: Wir haben vorgeschlagen, zur Finanzierung der Fluthilfe den Bundesbankgewinn zu verwenden. Auch im nächsten Jahr wird es einen Bundesbankgewinn geben. Dazu haben Sie gesagt: Wenn wir diesen Gewinn einsetzen, haben wir 400 Millionen Euro mehr für Zinsen zu zahlen. - Allein die zusätzlichen Schulden in Höhe von 14,5 Milliarden Euro, die Sie in diesem Jahr machen, bedeuten im nächsten Jahr und bis zum Ende der Rückzahlung zusätzliche Zinsen in Höhe von 800 Millionen Euro. Das ist das Doppelte von dem, was wir einsetzen wollten, um im Rahmen der Flutkatastrophe zu helfen. ({12}) Sie sagen, das sei ein kleines Konjunkturprogramm. Jedermann ist doch klar, dass Sie das, was Sie in den neuen Bundesländern mit unserer Unterstützung ausgeben, an anderer Stelle abziehen. Dieser Konjunkturimpuls fehlt woanders. Im Moment fragen doch die Bürger beängstigt: Was wird denn aus unserer Ortsumgehung? Was passiert an dieser oder jener Stelle? Was wird mit den Einnahmen der Gemeinden? Damit bin ich bei einem weiteren Punkt, bei der Situation der Länder und Gemeinden. Auch hierzu haben Sie, Herr Eichel, falsche Zahlen genannt. Die Steuerverteilung hat sich in den letzten vier Jahren so verändert, dass der Anteil des Bundes immer fetter geworden ist und der Anteil von Ländern und Gemeinden immer kleiner. Jetzt wollen Sie den Gemeinden ein Geschenk machen, indem Sie sagen: Was bei der Hartz-Kommission eingespart wird, das dürft ihr behalten. - Das heißt, in nächster Zeit bessert sich bei den Gemeinden überhaupt nichts. ({13}) Sie stellen weiterhin fest, dass wahrscheinlich eine große Zahl von Ländern - übrigens meist SPD-regierte Länder - im nächsten Jahr verfassungswidrige Haushalte vorlegen werden. ({14}) - Herr Clement, das gilt natürlich in besonderem Maße für Nordrhein-Westfalen. ({15}) Sie haben ja offensichtlich viel von dem, was Sie dort hinterlassen haben, abgestreift. Der Frohmut, der in Ihren Gesichtszügen zu erkennen ist, zeigt, an welcher Dynamik es gefehlt hat. Meine Damen und Herren, ich möchte etwas dazu sagen, was es bedeutet, dass wir die Gemeinden so schlecht behandeln und sich ihre finanzielle Situation so schlecht entwickelt hat. Das macht sich bei der Jugendförderung, der Kultur, den Volkshochschulen und dergleichen mehr bemerkbar. Es ist kein Geld mehr vorhanden; freiwillige Leistungen gibt es nicht mehr. Die Gemeinden sind nicht mehr in der Lage - übrigens auch die Länder -, ihren eigenen Anteil aufzubringen, um Hilfen des Bundes und der EU in Anspruch zu nehmen. Wozu führt das? Das führt dazu, dass Sie, Herr Eichel, die Strukturhilfe der EU, die für die neuen Bundesländer vorgesehen war - dies war in diesem Jahr eine Größenordnung von etwa 4,5 bis 5 Milliarden Euro -, in den Sack stecken. ({16}) Sie verringern damit die Neuverschuldung. Akzeptiert! Aber dies bedeutet doch zunächst einmal, dass den neuen Ländern diese Strukturhilfe, diese Unterstützung, in einer solchen Größenordnung fehlt. ({17}) Das ist übrigens ein Betrag, der höher ist als das, was im Rahmen der Fluthilfe wieder ausgeschüttet wird. Das heißt, die strukturschwachen Länder werden doppelt betrogen: einmal durch Ihre saumäßige Politik und zum anderen dadurch, dass Sie ihnen die Mittel, die ihnen eigentlich zustehen, entziehen. ({18}) - Ich glaube nicht, dass bei dem Wust von Verdrehungen, von falschen Zahlen, von dem, was den Bürgern über Monate hinweg vorgegaukelt worden ist, ({19}) irgendeine Wortwahl zu drastisch sein könnte, um die Situation zu beschreiben. Sie müssten lange darum betteln, dass wir das vergessen. Aber wir werden es nicht vergessen. ({20}) - Herr Poß, das wäre einen Ordnungsruf wert. Aber ich nehme Sie als Experten in diesem Bereich sowieso nicht mehr ernst. Ich möchte etwas zu dem Thema „3-Prozent-Kriterium“ sagen. Es wird davon gesprochen, dass wir bei der Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes mehr Flexibilität benötigen. Flexibilität ist vorhanden. Die Länder der EU sind berechtigt, sich pro Jahr bis zu 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes neu zu verschulden. Das bedeutet für Deutschland 60 Milliarden Euro. Das heißt, ich habe in Höhe von 60 Milliarden Euro Luft, kann also flexibel sein. Sie haben aber einen wesentlichen Teil nicht nur dazu beigetragen, dass diese 60 Milliarden überschritten worden sind, sondern auch dazu, dass die Länder zum Teil nicht in der Lage waren, ausgeglichene Haushalte vorzulegen. Sie haben mit Ihrer Politik dazu beigetragen, dass sich die Sozialkassen, deren Ausgaben in diesem Zusammenhang hinzuzurechnen sind, in einer ähnlichen Situation befinden. Wenn Sie das alles addieren, kommen Sie auf ein Defizit von etwa 70 Milliarden Euro in diesem Jahr. Das sind mindestens 3,5 Prozent. Diese Zahl habe ich Ihnen zu Beginn des Jahres genannt. Sie haben sie damals aber als unseriös bezeichnet, weil Ihre Mitarbeiter sie noch nicht bestätigt hatten oder nicht bestätigen durften. Angesichts der Tatsache, dass wir, die wir vor Jahren den Stabilitätspakt im Interesse einer stabilen Währung und der Menschen durchgesetzt haben, von Ihnen vor sechs Wochen dafür noch kritisiert worden sind und dass Sie dieses Kriterium jetzt verletzen, können Sie sich nicht herausreden, es habe bisher an Flexibilität gefehlt. Sie begehen einen Kardinalfehler, wenn Sie die Verschuldung so hochtreiben, weil dadurch in der Tat die nachfolgenden Generationen in der Zukunft belastet werden. Das Stichwort Nachhaltigkeit taucht im Koalitionsvertrag schätzungsweise 40- bis 50-mal auf. ({21}) Ist es eine nachhaltige Finanzpolitik - Sie haben immer davon gesprochen, dass Sie eine solche machen würden -, wenn man die Schulden dermaßen erhöht und die Konjunktur belastet? ({22}) Konjunktur ist ein gutes Stichwort. Es wird immer davon gesprochen, dass die Weltkonjunktur auf unser Land hereingebrochen sei. Aber merkwürdigerweise gilt das in dem gleichen Maße nicht für andere Länder. ({23}) - Es wird doch immer gesagt, dass die Weltkonjunktur uns besonders belastet. Warum belastet sie nicht gleichermaßen andere Länder innerhalb der EU? ({24}) Wir haben das Glück, dass wir aufgrund eines relativ hohen Exports noch gut dastehen. Aber die Probleme haben ihre Ursachen im Inland; sie sind hausgemacht. Dafür trägt die rot-grüne Regierung die Verantwortung. ({25}) Die Verschlechterung der Konjunktur ist im Wesentlichen auf eine Entwicklung zurückzuführen, die durch die Verschlechterung der Rahmenbedingungen in Gang gesetzt wurde. Insofern trägt die Regierung eine Mitverantwortung für die Konjunktur. Da hilft Ihnen auch nicht, dass Sie auf uns zeigen und uns fragen, wo unsere Vorschläge sind. ({26}) - Das sage ich Ihnen gleich, Frau Scheel. ({27}) Ihr Finanztableau stimmt nicht. Unsere Rezepte müssen nicht geändert werden. Wir müssen durch mutige Schritte unsere Ziele erreichen. ({28}) Ich hätte der Regierung zunächst einmal Mut zur Wahrheit gewünscht. Sie sollten zugeben, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist. ({29}) Sie müssen jetzt sagen, wohin die Entwicklung führen soll. Eine Haushalts- und Finanzpolitik, die sich in der Erhöhung von Steuern und Abgaben erschöpft, ist nicht geeignet, wirtschaftliches Wachstum zu fördern und mehr für Beschäftigung zu tun. ({30}) Mit diesem Programm wird die Regierung nicht die Kräfte entfesseln, die für den Schub, den dieses Land so dringend braucht, nötig wären. Wir haben vor der Wahl unsere Alternative am Beispiel der Fluthilfe deutlich gemacht. Ich möchte sie wiederholen: Auch im nächsten Jahr wird ein Bundesbankgewinn in erheblichem Umfange anfallen. Ich denke, dass manche Debatte, die wir in der Vergangenheit geführt haben, wieder aufgenommen werden muss. Ich möchte einen Punkt erwähnen, der sicherlich für die nächste Zeit von erheblicher Bedeutung ist: Wir müssen wirklich einmal anfangen zu sparen. ({31}) Ich bin ein bisschen darüber erstaunt, wie lange Ihnen die Menschen geglaubt haben, dass Sie es mit dem Sparen ernst meinen. ({32}) Sparen hat zunächst einmal mit der Reduzierung von Ausgaben zu tun. Haben Sie in den letzten dreieinhalb Jahren, in denen Sie Finanzminister sind, Ausgaben in der Summe reduziert? Wenn ich den Vergleich von 1998 zu 2002 ziehe, dann stelle ich fest, dass der Staatskonsum ausgeweitet worden ist ({33}) und die Investitionen zurückgegangen sind. Wenn ich das Koalitionspapier betrachte, dann kann ich keine Stelle entdecken, an der Ausgaben begrenzt werden. Die Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit betreffen ja nicht direkt den Bundeshaushalt. Sie erhöhen Steuern und nennen das Subventionsabbau. ({34}) Sie denken sich, Gott sei Dank kann die Staatskasse saniert werden, weil die Weihnachtsbäume, Zahnprothesen und Strohballen teurer werden. Besser kann man nicht verdeutlichen, wie kleinkariert eine Politik ist, die auf solche Steuererhöhungen setzt. Wenn die Mitbürger in sechs Wochen ihren Weihnachtsbaum kaufen, dann müssen sie wissen, dass Herr Eichel mit einem Euro dabei ist. Das ist Ihre Zukunftspolitik. ({35}) Wir fordern Sie auf, tatsächlich mit dem Sparen zu beginnen. Das bringt nach unserer Schätzung 2 Milliarden Euro. Wir fordern eine drastische Senkung der Steuern und eine Begrenzung der Abgaben. Ich will Ihnen einmal vorrechnen, wie sich das Steuerexperiment mit den Kapitalgesellschaften ausgewirkt hat. Im Jahre 2000 wurden 44 Milliarden DM an Körperschaftsteuern eingenommen. Im Jahr 2001 waren es 0 DM. Das bedeutet ein Minus von 44 Milliarden DM. In diesem Jahr betragen die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer ebenfalls 0 DM. Das bedeutet noch einmal ein Minus von 44 Milliarden DM. Das ergibt in der Summe ein Minus von fast 100 Milliarden DM. Das ist fast so viel wie der Betrag, den Sie beim Verkauf der UMTS-Lizenzen erzielt haben. Diesen Betrag, 100 Milliarden DM oder fast 50 Milliarden Euro, hat man durch eine falsch angelegte Steuerreform verplempert. Wenn jemand anfängt, eine Alternative aufzubauen, muss er eine Steuerreform machen, die dazu beiträgt, dass der Mittelstand entlastet wird und Investitionen ermöglicht werden. Die Menschen müssen wieder Mut zum Investieren finden. Wir brauchen aber keine Steuerreform, die Lasten nur einseitig verschiebt. Ein ganz wesentlicher Aspekt: Wir sagen, die Steuern müssen gesenkt werden. Es gilt eine alte Erfahrung: Je niedriger die Steuern sind, umso mehr nimmt der Staat ein. ({36}) - Wenn Sie es denn machten, wäre es in Ordnung; aber Sie machen es nicht. Das kann man doch berechnen: Wie viel Steuern haben wir 1998 eingenommen und wie viel werden wir voraussichtlich in diesem Jahr einnehmen? Von diesem Betrag müssen wir den Anteil der Körperschaften abziehen, dann müssen wir uns fragen: Wer hat denn die Steuern aufgebracht, die die Körperschaften nicht bezahlt haben? Das müssen doch die Bürger und Betriebe gewesen sein. ({37}) Wenn das Steueraufkommen nicht gesunken ist, dann muss doch einer die Differenz bezahlt haben. Die Körperschaften waren es nicht; also waren es der Mittelstand, die normalen Bürger, die Arbeitnehmer. Genau sie haben die Steuern bezahlt und darin liegt das Problem. ({38}) Wir sind bereit, mit Ihnen zusammen über neue Wege nachzudenken; der Kollege Laumann hat das bereits ausgeführt. Das betrifft die Annäherung der Arbeitslosenhilfe an die Sozialhilfe, die Begrenzung der Sachleistungen auf Pauschalbeträge und mehr soziale Gerechtigkeit; denn viele erhalten Unterstützungen, die sie eigentlich nicht brauchen. Ein weiterer Punkt unserer Alternative: Wir müssen die Strukturhilfe der EU, wenn sie denn zurückfließt, auch denen zukommen lassen, die darauf Anspruch haben, weil sie in strukurschwächeren Regionen wohnen. Zu diesem Bündel von konkreten Maßnahmen - ein paar habe ich genannt - müssen noch schnelle Schritte zum Abbau bürokratischer Hemmnisse kommen. Wir brauchen die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Das kostet nichts. Der Kollege Merz hat bereits darauf hingewiesen: Diese Schritte können wir in diesem Jahr schnell machen. Was wir aber nicht schnell durchziehen werden und nicht wieder durchgehen lassen, ist, dass Sie eine Haushaltsberatung für den Haushalt des kommenden Jahres durchführen, die auf falschen Daten basiert und mit der Sie wieder einmal versuchen, das Parlament zu übertölpeln. Nein, Sie müssen bei der Wahrheit bleiben oder - wie in diesem Fall - zur Wahrheit zurückkehren. Mehr oder weniger offen klagen auch SPD-geführte Bundesländer über falsche Weichenstellungen im Koalitionsvertrag. Der ganze Vertrag ist unbrauchbar, er ist kein Wegweiser in die Zukunft. Ohne Korrekturen verschlechtern sich Beschäftigungsmöglichkeiten, Wachstumser218 wartungen und Investitionsbereitschaft. Kehren Sie um, damit unser Land nicht weiter Schaden nimmt! Herzlichen Dank. ({39})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Austermann hat hier „Haltet den Dieb!“ gespielt. Erinnern Sie sich noch an den kleinen Minister, der hier gesagt hat: Die Rente ist sicher? Erinnern Sie sich noch daran, dass uns Ostdeutschen gesagt wurde, die deutsche Einheit werde aus der Portokasse bezahlt? Das waren die Täuschungen und sie passierten, bevor Rot-Grün an die Macht gekommen ist. ({0}) Diese Täuschungen werfen Sie heute dem Finanzminister vor, der als Erster damit angefangen hat, die Neuverschuldung drastisch zu senken. In vier Jahren RotGrün wurde nur ein Viertel so viel neue Schulden gemacht wie in vier Jahren Schwarz-Gelb zuvor. ({1}) Wenn das kein deutlicher Ausweis ist, dann weiß ich es nicht besser. Nun behauptet Herr Austermann hier, mit den Bundesbankgewinnen hätte man die Flutschäden bezahlen können. Herr Austermann, mit den Bundesbankgewinnen hätten Sie nur die Hälfte der Flutschäden bezahlen können. Die Finanzmittel für die zweite Hälfte hätten Sie anderweitig aufbringen müssen. Wahrscheinlich hätte das ebenfalls 400 Millionen Euro Zinsen zur Folge gehabt und Sie kämen damit auf die gleiche Summe wie wir. Erzählen Sie hier keine Halbwahrheiten, sondern bleiben Sie bei der Wahrheit! ({2}) Uns ist in der letzten Legislaturperiode etwas gelungen, was Ihnen jetzt zu schaffen macht: Unsere Regierungskoalition hat es geschafft, eine neue Kultur in der Finanzpolitik zu kreieren, und zwar die Konsolidierungskultur. Dies tut Ihnen weh, denn in Ihrer alten Denkschule gilt immer noch die Neuverschuldung als smartes Instrument der Finanzpolitik. Dies ist Lehrbuchwissen aus den 70er-Jahren. Wir aber reden über eine komplexe Welt, die komplexe Antworten braucht. Wir können uns gern noch einmal über die Neuverschuldung unterhalten. Sie ist und bleibt aber stigmatisiert, und dies - wie ich finde - zu Recht. ({3}) Dass Sie sich darüber beschweren, dass wir die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen in die Tilgung gesteckt haben, ({4}) zeigt einmal mehr, dass Sie nicht verstanden haben, wie peinlich es ist, sich ständig auf Kosten zukünftiger Generationen oder auf Kosten der Menschen in anderen Teilen dieser Welt neu zu verschulden. ({5}) Der zweite Schritt steht bevor und dieser tut weh; das kann ich Ihnen versprechen. Es geht um die Einführung der Modernisierungskultur. Unsere Sozialpolitiker aus beiden Fraktionen wissen ziemlich genau, was auf sie zukommt. Hier nützen auch irgendwelche Schamanen-Beschwörungen eines Herrn Austermann nichts. Die Strukturreformen sind der notwendige zweite Schritt, um aus der Konsolidierungskultur jetzt die Modernisierungskultur zu entwickeln. Ich weiß, dies wird schwer. Ich habe die Genossen dabei fest im Blick. ({6}) Sie haben uns in der letzten Legislaturperiode zugemutet, uns außenpolitisch den Realitäten anzupassen. Das haben wir getan. ({7}) Das war eine schwere Belastungsprobe für unsere Partei. ({8}) - Ich weiß, dass Sie keine Nachhilfe brauchen. Ich will Sie ermutigen, Herr Poß - Sie kommen ja aus NRW und wissen ganz genau, was ich meine -, zu erkennen, dass die Modernisierungsprozesse mit den Strukturreformen bei der Rentenversicherung, bei der Krankenversicherung und bei der Arbeitslosenversicherung notwendig sind. Wir brauchen sie. ({9}) Der Finanzminister weiß es, wir wissen es, Sie wissen es und ich weiß, dass es schwer wird. Es hilft aber nichts. Wir müssen es machen. ({10}) Die Truppe auf der anderen Seite des Hauses hat es viel schwerer. Sie hat noch nicht einmal die Modernisierungsschritte nachvollzogen. Außerdem hat sie eine FDP an der Hacke, die es überhaupt nicht kümmert, ob dies sozial verträglich abläuft oder nicht. Deswegen haben Sie es mit uns viel besser. Ich hoffe, Sie merken das. Jetzt kommen wir zu dem politischen Dreiklang bei den Lohnnebenkosten. Wir haben ein ganz schweres Erbe angetreten. Die beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme sind genau das Erbe, das uns jetzt vieles schwer macht. Andere Länder - so zum Beispiel in Skandinavien - können sich viel leichter bewegen, weil sie steuerfinanzierte Sozialsysteme haben. Wir aber haben beitragsfinanzierte Systeme. Diese sind viel stärker an den Faktor Arbeit gekoppelt, was uns vieles erschwert. Wenn wir immer mehr von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft übergehen, werden die klassischen Wachstumspotenziale beispielsweise durch eine Vergrößerung des Maschinenparks wegfallen. Dies ist klar. Wir haben also auch andere Wachstumsprognosen zu erwarten. Mit diesen müssen wir flexibel umgehen. Das heißt, wir brauchen eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Anders wird der Übergang in eine Dienstleistungs- und Mediengesellschaft nicht zu schaffen sein. ({11}) Das heißt, erforderlich ist eine Anpassung an die Realitäten. Das steckt dahinter. ({12}) Sie von der Opposition haben die eigentliche Verantwortung. Nachdem Sie nach 1990 ziemlich lange verantwortungslos und angelehnt an Ihr veraltetes Lehrbuchwissen einfach so weiterregiert haben, ({13}) wird es langsam Zeit, dass Sie sich Ihrer Verantwortung in diesem Lande stellen. Wenn man Ihre Wahlprogramme - eigentlich müssen Sie sie peinlich verstecken ({14}) noch einmal hervorkramt und hineinschaut, erkennt man, dass Sie überhaupt nicht versuchen, dieser Verantwortung gerecht zu werden. ({15}) Sie haben nur Vorschläge gemacht, die nicht umsetzbar sind. ({16}) Schauen Sie sich Ihre Subventionsexperten in der FDP an. Ihr ehemaliger Wirtschaftsminister Lambsdorff war es, der die Steinkohlesubventionen verbrochen hat. ({17}) Seien Sie bloß vorsichtig! Wir versuchen jetzt, diese jedes Jahr weiter herunterzufahren. Dies stammt doch alles aus Ihrer Regierungszeit. Sie kommen mit dieser These, man könnte die Subventionen um 10 Prozent reduzieren. Bis zum 1. Januar 2003 schaffen Sie dies gar nicht, denn es gibt Verträge und Gesetze. Außerdem gibt es Subventionen, die Sinn machen, so zum Beispiel die Unterstützung der Einführung erneuerbarer Energien. Auch gibt es Subventionen, bei denen ich deutlich mehr als 10 Prozent einsparen möchte. ({18}) Hier muss man doch qualitativ unterscheiden. Wie kann man denn mit solchen Pauschalschritten versuchen, einen Bereich zu bereinigen, der bei der Zukunftsorientierung, Schwerpunktsetzung und Prioritätensetzung eine große Rolle spielen soll? ({19}) Man hat in der letzten Woche im Fernsehen gemerkt, wie groß inzwischen die Verlegenheit bei Ihren konservativen Vordenkern, wie zum Beispiel dem Herrn Miegel, bei den populistischen und schwierigen Diskussionen über die Staatsfinanzen ist. Herrn Miegel fiel nämlich zum Thema Abbau der Staatsverschuldung außer der Verkleinerung des Bundestages nichts anderes mehr ein. Nehmen Sie einmal diesen kleinen Betrag und sehen Sie sich unsere großen Probleme an, die übrigens doppelt so groß wären, wenn Ihr Wahlprogramm auch nur halbwegs „in die Pötte käme“. Überlegen Sie sich bitte einmal, wie verlegen und wortlos Sie inzwischen schon geworden sind. ({20}) Sie haben die Definitionshoheit in der Finanzpolitik längst verloren. ({21}) Sie kommen mit Ideen von Investitionsprogrammen. Dies hatten wir in der Baubranche alles schon. Menschen haben ihre Lebensläufe darauf aufgebaut, dass die Baubranche über Sonderabschreibungen und Steuersubventionen boomt. Dies hat auch einige Jahre lang funktioniert. Es hat aber nicht dazu geführt, dass die Leute ihre Lebensplanung durchhalten konnten. Japan macht denselben Fehler. Es hat ebenfalls Investitionsprogramme gemacht. Dadurch hat das Land eine Deflation, dass es nicht mehr über die Runden kommt. Sie wollen zum Beispiel - was ich wirklich schamlos finde - den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gefährden. In Ihren Reihen sitzen Leute, die dauernd verkünden, der Wehretat müsse drastisch angehoben werden. Ich habe da etwas von 10 Milliarden Euro in vier Jahren unken hören. Überlegen Sie sich das einmal! Das ist derselbe Fehler, den Frankreich macht. Die Franzosen haben die Chuzpe, sich in Brüssel hinzustellen und zu sagen, sie würden das Kriterium im nächsten Jahr nicht erfüllen können, weil sie die Verteidigungsausgaben erhöhen müssten. Das ist im Prinzip so wie in Amerika. Die Amerikaner hatten ein „balanced budget“, ein ausgeglichendes Budget, als Clinton abtrat. Dann hat Bush eine Steuersenkung vorgenommen, die dazu geführt hat, dass die Sozialausgaben und die Verteidigungsausgaben in 2002 auf über 100 Milliarden US-Dollar klettern werden. Das ist volkswirtschaftlich nicht vernünftig. Es gibt nicht mehr den einfachen Zusammenhang zwischen Steuern senken und Verschuldung erhöhen. Das funktioniert nicht mehr. Die Konjunktur reagiert nicht mehr auf monokausale Zusammenhänge. Diese Annahme ist falsch. ({22}) Wir haben vorhin schon gehört, dass 13 oder 14 Bundesländer das 3-Prozent-Kriterium in diesem Jahr wahr220 scheinlich nicht erfüllen werden. Ich denke, die Information ist richtig. Das heißt aber, dass die Bemühungen der Bundesregierung, einen nationalen Stabilitätspakt aufzubauen, der dem entsprechen soll, was wir in Brüssel vereinbart haben, richtig sind. Die Länder müssen mit ins Boot. Auch sie müssen sich mehr anstrengen, die Neuverschuldung zu senken, statt irgendwelche folgenlosen Selbstverpflichtungen einzugehen. Das müssen wir ein bisschen enger fassen. Dasselbe gilt für die Sozialversicherungssysteme. Deren Schulden machen zusammen mit den Schulden der Länder und des Bundes den gesamten Schuldenstand aus. Sie müssen alle mit ins Boot und an der Senkung der Neuverschuldung mitwirken. Bei den Ländern haben Sie ja ein bisschen mitzureden. Damit sind wir bei Ihrer Verantwortung in der Opposition. Sie können natürlich mithelfen, das 3-Prozent-Kriterium einzuhalten. Sie haben das durchaus mit in der Hand. ({23}) Zum Schluss. Auf uns wollen Sie ja nie hören; Sie meinen, Sie wüssten das alles aus Ihren Lehrbüchern besser. Vielleicht hilft ja ein göttlicher Hinweis. Ich habe am 28. Oktober im „Tagesspiegel“ etwas über das Erzbistum Berlin gelesen. Ich zitiere: Erzbistum steht vor der Pleite Jahrelang hat die katholische Kirche über ihre Verhältnisse gelebt ... Ursache der heutigen Finanzkrise ist die Entscheidung der Bistumsleitung, seit Mitte der neunziger Jahre Haushaltslücken durch Kredite zu schließen. ... In besseren Jahren wurden keine Rücklagen gebildet. ({24}) Das ist ein religiöser Autoritätsbeweis. Wenn das sogar die katholische Kirche kapiert hat, dann müssten Sie dieser Argumentation eigentlich folgen. Danke. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Hermenau, das waren ja gewagte ökonomische Thesen, die Sie vorgetragen haben, ({0}) um darüber hinwegzutäuschen, dass Sie mit dem Stabilitätspakt nicht klarkommen. Aber ich möchte mich ganz an die Fakten halten, die Sie, Herr Bundesfinanzminister, in Ihren Unterlagen veröffentlicht haben. Versprochen war der moderate Abbau der Nettoneuverschuldung in 2002 von 22,8 Milliarden Euro auf 21,1 Milliarden Euro und in 2003 von 21,1 Milliarden Euro auf 15,5 Milliarden Euro. Die Realität - das sehen auch die Menschen draußen -: Der Bund wird sich im Jahre 2002 mit mehr als 30 Milliarden Euro verschulden müssen - nicht 21,1 Milliarden Euro, sondern mehr als 30 Milliarden Euro - und in 2003 stehen mindestens 18 Milliarden Euro Nettoneuverschuldung an. Das ist ein Desaster. ({1}) Versprochen war ein ausgeglichener Haushalt in 2004; jetzt wird von 2006 gesprochen. Keiner glaubt mehr daran. Versprochen waren Steuersenkungen durch die größte und wichtigste Steuerreform seit dem Kriege. Die Realität sind Steuererhöhungen. Allein in 2003 sind es 7 Milliarden Euro durch die Koalitionsvereinbarung, 7 Milliarden Euro durch die Verschiebung der Steuerreform und 3 Milliarden Euro durch eine weitere Stufe der Ökosteuer. Das macht zusammen 17 Milliarden Euro, die die Menschen und die Unternehmen weniger in den Taschen und auf den Konten haben. ({2}) Meine Damen und Herren, die Situation gleicht einem Desaster. ({3}) Versprochen war eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge auf unter 19 Prozent. Im Moment liegen die Beiträge bei 19,1 Prozent, 19,3 Prozent stehen im Raum. Selbst diese Höhe ist nur durch Anbruch der Notreserve der Rentenversicherung erreichbar. Versprochen war eine Gesundheitsreform mit der Folge stabiler Beiträge zur Krankenversicherung. Die Beiträge liegen in diesem Jahr bei 14 Prozent. Eine Erhöhung auf 15 Prozent bei einigen Kassen mit nur kleinen Unterschieden steht an. Das ist ein Desaster. ({4}) Die Lohnnebenkosten sollten auf unter 40 Prozent sinken. Sie liegen im Moment bei 41,3 Prozent, Tendenz steigend. Deutschland ist Schlusslicht. Es hagelt in der internationalen Wirtschaftspresse Hohn und Spott. Niemand glaubt mehr an das Märchen, daran sei die Weltwirtschaft schuld. Im Gegenteil: Von der Weltwirtschaft gehen Impulse für die deutsche Wirtschaft aus. In den letzten Jahren konnten wir überdurchschnittliche Steigerungsraten beim Export verzeichnen. Die Stimmung im Lande ist katastrophal. Das alles ist hausgemacht. Welche rhetorischen Klimmzüge hat diese Koalition, hat Finanzminister Eichel nicht unternommen, um rotgrüne Finanzpolitik als ein Highlight dieser Koalition zu stilisieren! Allein der Gedanke, die Kriterien von Maastricht könnten verletzt werden, war unglaublich, eine Zumutung und eine durch nichts begründete Attacke auf diese Koalition. Heute haben wir den Salat. Wir sind vom Konsolidierungskurs abgekommen. Es wird von einer Flexibilisierung und von einer Interpretation des Stabilitätspakts gesprochen. Meine Damen und Herren, wer interpretiert, der deutet um und verklausuliert die Schwäche seiner eigenen Politik. ({5}) Schauen wir uns die Ausgabenpolitik einmal genauer an. Seit 1990 waren im Zuge der Wiedervereinigung zunächst enorme Steigerungen zu verzeichnen, und zwar von 194 Milliarden Euro 1990 auf 241 Milliarden Euro 1994. Von 1995 an wurden die Ausgaben kontinuierlich zurückgeführt, von 237 Milliarden Euro auf 226 Milliarden Euro in 1997. Dies ist eine Wiedergabe von Statistiken des Finanzministeriums. Von 1997 an stieg die Höhe der Ausgaben wieder auf jetzt 245 Milliarden Euro. Ich gebe allerdings zu, Herr Eichel, dass darin einige Sondereffekte wie zum Beispiel die Ausgaben für die Postpensionskassen und die Familienregelungen enthalten sind. Das wissen wir. Das Entscheidende aber ist: Auf diesem Plafond von 245 Milliarden Euro sollen die Ausgaben bis 2006 bleiben; das weisen Ihre eigenen Papiere aus. Diese Ausgabenentwicklung ist Ausdruck Ihrer Unfähigkeit und Unwilligkeit. ({6}) Sie müssen die Reformen der Sozialsysteme und bei der Arbeitsmarktförderung vorantreiben, und zwar so, dass sie ein Mindestmaß an gestalterischen Spielräumen, an Freiheiten beispielsweise dafür schaffen, dass man aus dem Haushalt einige Milliarden entnehmen kann, um einer Naturkatastrophe wie der Flut zu begegnen oder um die dringend notwendige und lange angekündigte und kalkulierte Steuerreform für den Mittelstand nicht verschieben zu müssen. ({7}) Sie, Herr Eichel, haben in den ersten Jahren von der guten Konjunktur und den Einnahmen auch aus den Privatisierungen gut gelebt. Heute haben Sie den Salat. Ich möchte mit einem weiteren Märchen aufräumen, nämlich mit dem, dass die rot-grüne Koalition die Konjunktur in den ersten vier Jahren ihrer Legislatur nach oben getrieben hat. Tatsache ist, dass es in der ersten Hälfte der 90er-Jahre exorbitante Wachstumsraten gab, dass 1995/96 ein erster erheblicher Einbruch zu verzeichnen war und dass es ab 1997/98 konjunkturell wieder aufwärts ging, sodass Sie im Jahre 1998 ein Wachstum von 3,1 Prozent erben konnten. ({8}) Und wo stehen wir heute? Bei weit unter 1 Prozent. Das sind alles Märchen, die hier erzählt worden sind. Ich möchte noch einen Aspekt darstellen: Seit vielen Jahren versuche ich, auf die demographische Katastrophe hinzuweisen. Damit bin ich nicht richtig durchgedrungen; andere auch nicht. ({9}) Bei den Experten ist es jedenfalls ein Thema. Obwohl die Zeit drängt und der Spielraum für Korrekturen immer enger wird, gilt das für die Politik nicht in dem Maße, wie wir es brauchen. Wir haben noch acht bis zehn Jahre; in acht bis zehn Jahren beginnt sich die demographische Katastrophe richtig auszuwirken, weil die Bevölkerung schrumpft und die Sozial- und die Bildungssysteme nicht mehr bezahlbar sind. Mit ein wenig Anpassung hier und ein paar Korrekturen da, so, wie Sie das vorsehen, wird das nicht zu machen sein. Wir brauchen Reformen, die diesen Namen verdienen. ({10}) Wir schlagen vor: Umorientierung auf Wettbewerb - beispielsweise im Gesundheitsbereich - und mehr Selbstverantwortung im Rentenbereich, um auch denen helfen zu können, die dazu weniger in der Lage sind als andere. ({11}) Rot-Grün drückt sich um diese wirklichen Reformen. ({12}) Sie werfen - das hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gestern auch wieder getan - das Problem auf. Wenn es aber um die Lösung geht, fällt Ihnen nicht mehr ein, als Korrekturen durchzuführen. Damit werden wir nicht hinkommen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Rexrodt, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zu meinem letzten Satz. - Deshalb sind Sie drauf und dran, Reformen zu versäumen und trotzdem die Finanzen dieses Staates total zu ruinieren. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass SPD und Grüne mit der Koalitionsvereinbarung als einzige der politischen Wettbewerber ein konkretes, an den wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Realitäten orientiertes und langfristig angelegtes Politikkonzept vorlegen. ({0}) Bei aller Berechtigung mancher Einwände - der letzte Hinweis des Kollegen Rexrodt, dass der gesellschaftliche und demographische Wandel ein ganz wichtiges Thema ist, war ja nicht unberechtigt -: Von Ihnen - egal, ob von FDP oder CDU/CSU - ist kein vergleichbares Konkurrenzangebot gekommen. Das heißt, bei allen vermeintlichen Schwächen, die unsere Koalitionsvereinbarung an dieser oder jener Stelle haben soll: Sie sind für den politischen Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor geistig nicht gerüstet. Das ist die zutreffende Beschreibung Ihrer Situation. ({1}) Frau Merkel hat vom Reich gesprochen und sich an Bibelzitaten versucht. Sie, ob Herr Austermann, Frau Merkel oder Herr Merz heute Morgen, bewegen sich nach wie vor in einer virtuellen Welt. Das Reich der CDU/CSU - das der FDP sowieso - ist wahrlich nicht von dieser Welt; ({2}) denn Sie ignorieren die konkrete ökonomische, finanzielle und soziale Realität, die vorzufinden ist. Wir befinden uns in der Situation, dass wir noch eine lange Zeit in einem Land leben werden, in dem wir die Folgen der Teilung auf all den Gebieten, die ich genannt habe, überwinden müssen. ({3}) Das wird auch von vielen so genannten Sachverständigen leider oftmals ausgeblendet. Wir können uns nicht auf irgendeinem Reißbrett bewegen. Wir leben in einer konkreten Realität. Realitätstüchtig ist nur der, der konkrete Vorschläge, die in die richtige Richtung gehen müssen, zur Veränderung dieser Realität macht. Mit unserer Koalitionsvereinbarung machen wir solche Vorschläge. ({4}) Beschäftigen wir uns deswegen nun also ein wenig mit der Realität. Es ist schon erwähnt worden, dass bereits jetzt vorauszusehen ist, dass die nächste Steuerschätzung in zwei Wochen im Ergebnis besagen wird, dass alle öffentlichen Haushalte, also nicht nur der Bund, sondern auch die Länder und Kommunen, mit erheblich weniger Steuereinnahmen werden rechnen müssen, als sie es bisher getan haben. ({5}) Als Folge davon wird in den meisten Bundesländern voraussichtlich die Gefahr bestehen, dass die Länderhaushalte in die Verfassungswidrigkeit rutschen. ({6}) Der Bund wird voraussichtlich gezwungen sein, für dieses Jahr einen Nachtragshaushalt vorzulegen und die Schuldenaufnahme zu erhöhen. ({7}) Nach der Steuerschätzung in zwei Wochen wird sich zwingend ergeben, dass weder der Bund noch die Länder daran vorbeikommen, für die Folgejahre Konsolidierungspakete zu schnüren. Das derzeitige Hauptproblem der staatlichen Haushaltspolitik ist damit nicht in erster Linie die Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes, liebe Kolleginnen und Kollegen. Vielmehr geht es zuallererst darum, dass zumindest eine Reihe von Ländern kurzfristig erst einmal die Verfassungsmäßigkeit ihrer Haushalte sicherstellen müssen. Das ist der Hintergrund, vor dem auf absehbare Zeit nicht nur der Bund, sondern auch die Länder und die Kommunen ihre Politik betreiben müssen. Das heißt, jeder politische Vorschlag, der in dieser Zeit vorgebracht wird, egal von welcher Seite, ist unter Berücksichtigung dieser äußerst schwierigen Haushaltslage auf allen Ebenen zu bewerten. Dieser Maßstab muss eingehalten werden. Weder beim Bund noch bei den Ländern noch bei den Kommunen gibt es derzeit offensichtlich irgendwelche Spielräume für zusätzliche Ausgaben oder für Steuersenkungen, die über das bisher beschlossene Maß hinausgehen. Deswegen ist alles, was Sie hier vorgetragen haben, Schall und Rauch und hat mit der Realität nichts zu tun. Das muss den Bürgerinnen und Bürgern klar sein. ({8}) An dieser Stelle möchte ich kurz auf die von vielen - nicht nur im Lager der Opposition - geäußerte Behauptung zu sprechen kommen, man müsse nur genügend öffentliche Mittel in die Hand nehmen, dann sei es ein Leichtes, Deutschland wieder in eine Aufschwungphase zu bringen, sozusagen isoliert von der europäischen und der weltweiten Situation. Selbst wenn - ich bin da sehr skeptisch - durch weitere zusätzliche Steuersenkungen oder auch durch spezielle Ausgabenprogramme Konsumenten und Investoren aus ihrer Zurückhaltung herausgeholt werden könnten: Solange Bund, Länder und Kommunen an der Grenze zu verfassungswidrigen Haushalten stehen, können sie es sich allein aus rechtlichen Gründen nicht erlauben, darauf zu warten, ob ein solcher zusätzlicher expansiver Impuls wirklich erfolgreich wäre. Zusätzlich hohe Schulden zu machen, wie das in den Jahren der Kohl-Regierung üblich war, und nur auf das Prinzip Hoffnung zu setzen, dass dabei wirtschaftlich etwas Positives herauskommt, wäre ein Risiko, das verantwortliche Politik nicht eingehen darf. Wir in dieser Koalition machen verantwortliche Politik. ({9}) Wer - wie es Frau Merkel gestern hier getan hat - behauptet, die Altlasten der 16 Jahre Kohl-Regierung seien schon abgetragen und vergessen, der will nicht nur seine eigene Verantwortung leugnen. Er zeigt auch, dass ihm die Dimensionen dieser Altlasten der Regierung Kohl noch immer nicht bewusst sind. Liebe Frau Merkel, auch wenn Sie jetzt nicht in diesem Raum sind: Alle in Deutschland werden von Ihren Hinterlassenschaften - leider, muss man hinzufügen - noch viele Jahre betroffen sein. ({10}) Deshalb hat der Solidarpakt II eine Laufzeit bis 2019. Diese zeitliche Reichweite macht die Aufgabe deutlich, vor der wir stehen. Wegen der historischen Vorbelastung und der Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftsschwäche sind in Deutschland die Verschuldungsspielräume auf allen staatlichen Ebenen in diesem und zumindest auch im nächsten Jahr mittlerweile so weit ausgereizt, dass für Illusionen, ökonomische Träumereien und fromme Wünsche kein Platz mehr ist. Deswegen haben wir darauf verzichtet, in unsere Koalitionsvereinbarung Illusionen, Träumereien oder fromme Wünsche hineinzuschreiben. Unser Platz ist mitten in dieser Welt. Wir wollen mit den Fährnissen dieser Situation fertig werden. ({11}) Wenn Herr Rexrodt den Eindruck erweckt, als seien wir mit unserer Situation isoliert, alles sei hausgemacht und habe mit der Weltwirtschaft nichts zu tun, dann lesen Sie einmal das Herbstgutachten. Darin ist davon die Rede, dass der Aktienkursverfall, die Risiken des steigenden Ölpreises und die internationale Krisenlage als Hauptursachen für die derzeitige gedrückte Stimmung anzusehen sind. ({12}) Das Finanzpaket der Koalitionsvereinbarung ist eine angemessene, realistische und vernünftige Reaktion auf diese Lage, ({13}) auch wenn es die Opposition und vom Wahlausgang zutiefst enttäuschte Verbandsvertreter und Meinungsmacher anders darstellen. Was Herrn Austermann angeht, weiß ich nicht, was er morgens nach dem Aufstehen macht. Ich kann mir vorstellen, dass er Übungen macht, um seinen Ärger darüber abzureagieren, dass er keine Chance bekommen hat, auf die Regierungsbank zu kommen. ({14}) Man merkt Ihnen doch körperlich an, Herr Austermann, wie wenig Sie mit dieser Situation klarkommen, dass Sie auch in den nächsten Jahren noch auf den Oppositionsbänken sitzen müssen. ({15}) Sie sind der Letzte, der andere bzw. den Bundesfinanzminister zeihen könnte, fahrlässig mit der Wahrheit umzugehen. Die Kollegen Diller und Wagner haben Ihnen im Deutschen Bundestag schon oft nachgewiesen, dass Sie ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit haben. Dem brauche ich kein Beispiel hinzuzufügen. ({16}) Auch wenn es die Opposition und die Verbandsvertreter also anders darstellen: Das Finanzpaket der Koalitionsvereinbarung ist kein willkürlich zusammengestelltes Sammelsurium von irgendwelchen schikanösen Geldeintreibungen. Wir haben uns vielmehr nach klaren Kriterien und Zielen gerichtet. So war es das Ziel der Überlegungen - Herr Eichel hat es bereits ausgeführt -, dass das Paket nicht nur die Haushaltslage des Bundes verbessert, sondern auch die der Länder und der Kommunen. Aus diesem Grunde erfolgt die Schwerpunktsetzung auf den Abbau von Steuervergünstigungen und Steuervorteilen, von dem alle Ebenen profitieren. ({17}) Das stärkt die Investitionsfähigkeit von Ländern und Kommunen und auch darauf kommt es an, nicht nur auf die Investitionsfähigkeit des Bundes. Mit dem von uns zusammengestellten Paket würden die Länder bereits im Jahr 2003 zusätzliche Einnahmen in Höhe von etwa 2 Milliarden Euro erhalten, die sie dringend benötigen. Entsprechendes gilt für die Kommunen. ({18}) Die noch einmal gegebene Zusicherung einer schnellen Gemeindefinanzreform mit einer dauerhaften Stärkung der kommunalen Finanzkraft, die beabsichtigte Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft, die Einbeziehung erwerbsfähiger Sozialhilfebezieher in ein einheitliches Leistungsrecht für Nichtbeschäftigte und ein Ertrag aus der Abschaffung von Steuerprivilegien und Subventionen, ansteigend auf einen Betrag von etwa 4 Milliarden Euro, stellen substanzielle Verbesserungen für die Kommunen in Deutschland dar. Deswegen haben auch die kommunalen Spitzenverbände - einschließlich der schwarzen Vertreter in diesen Verbänden - diese Koalitionsvereinbarung begrüßt. ({19}) Der Bundesrat trägt die große politische und gesellschaftliche Verantwortung, als Verfassungsorgan die Zustimmung zu diesem Paket zu ermöglichen, wohl wissend, vor welchem Hintergrund sich das Verfahren abspielt. Das habe ich vorhin bereits eingehend geschildert. ({20}) Des Weiteren gehen wir mit dem Paket einen großen Schritt weiter in Richtung einer gerechteren und gleichmäßigeren Besteuerung. Haben Sie etwas dagegen, Herr Thiele? Durch den Abbau von Steuersubventionen, die stärkere Einbeziehung von privaten Veräußerungsgewinnen in die Besteuerung und eine Mindestgewinnbesteuerung bei großen Kapitalgesellschaften verbreitern wir die steuerliche Bemessungsgrundlage. Das ist eine alte Forderung aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Sie aber reden von Steuererhöhungen und argumentieren gegen Ihre eigenen Konzepte, die Sie hier in der Vergangenheit vorgelegt haben. ({21}) Mit diesem Paket verstetigen wir die Steuereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen. ({22}) Wenn ich die Einlassungen von Repräsentanten der Union im Wahlkampf und auch in den vergangenen Tagen richtig verstanden habe, ist die Union bereit, uns hierbei die Hand zu reichen. Ich bin gespannt, wie das konkret aussieht. ({23}) Es scheint vernünftigerweise Konsens darüber zu bestehen, dass auch große Unternehmen, die Gewinne aufweisen, ein Mindestmaß an Steuern zahlen und damit zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen müssen. Genauso müsste doch im Deutschen Bundestag Konsens darüber bestehen, dass wir alle in der Verantwortung stehen, die Finanzierungsfähigkeit des Staates zu erhalten, das heißt zu gewährleisten, dass jede Ebene die ihr überantworteten Aufgaben finanzieren und damit erfüllen kann. Sie stehen in dieser Frage in der gleichen Verantwortung wie wir, meine Damen und Herren. ({24}) Auch vor diesem Hintergrund ist es absolut notwendig und sehr begrüßenswert, dass die Koalitionsvereinbarung mit einer effektiven Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs und der besseren Durchsetzung der Steuerpflicht bei Kapitaleinkommen weitere Schritte zu einem konsequenteren Vollzug des geltenden Steuerrechts aufweist. Steuerhinterziehung bedeutet im Endeffekt auch eine Umverteilung von den Ehrlichen zu den Unehrlichen und ist ein massiver Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip. ({25}) Die Finanzpolitiker aller Fraktionen sollten deshalb in den nächsten Jahren im Kampf gegen die Steuerhinterziehung einen Schwerpunkt ihrer Arbeit sehen. Ich bin auf die Beiträge der FDP, Herr Thiele, und auch auf die der CDU/CSU gespannt. Zumindest die Teile der Koalitionsvereinbarung, die sich klar gegen Steuerhinterziehung aussprechen, müssten unmissverständlich und einhellig von der Opposition, den Verbänden und auch vom Bund der Steuerzahler begrüßt werden. ({26}) Mit den finanzpolitischen Elementen der Koalitionsvereinbarung halten wir Kurs ({27}) und setzen systematisch unsere langfristig angelegte haushalts- und steuerpolitische Strategie fort, ({28}) die wir seit der Übernahme der Regierungsverantwortung vor vier Jahren begonnen haben. Wir bleiben konsequent bei der Haushaltskonsolidierung, auch wenn wir in den nächsten Jahren - das ist der konjunkturellen Situation geschuldet - die Neuverschuldung leicht modifizieren. Wir bleiben konsequent, indem wir zukunftsrelevante Bereiche wie etwa die Familienförderung, Forschung und Bildung sowie die Infrastruktur stärken. Es ist ökonomisch vernünftig, ({29}) wenn wir die Investitionen verstärken und die Neuverschuldung ein wenig anpassen. ({30}) In der Steuerpolitik kombinieren wir seit 1998 das Schließen von Schlupflöchern und die Beseitigung von Ausnahmetatbeständen mit einer langfristig angelegten Senkung der Steuersätze insbesondere für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für Familien, aber auch für Unternehmen. Sie reden doch nur vom Spitzensteuersatz. Von unserer Steuerpolitik haben Millionen Familien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Mittelstand profitiert, und zwar real. ({31}) Wir setzen diese Linie fort. Es bleibt bei den Steuerentlastungsstufen 2004 und 2005. ({32}) Vor diesem Hintergrund ist es schlichtweg Unsinn, uns eine Steuererhöhungsstrategie bzw. eine Steuerehöhungspolitik zu unterstellen. Die Steuerentlastungsstufen 2004 und 2005 werden kommen. Jede Maßnahme zur Stabilisierung der staatlichen Einnahmebasis gleich als Steuererhöhung zu brandmarken ist keine verantwortliche Finanzpolitik. ({33}) Selbst von Fachleuten und Fachjournalisten wird viel zu selten darauf hingewiesen, dass die volkswirtschaftliche Steuerquote derzeit nicht höher ist als in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. ({34}) Das scheint also nicht unser Problem zu sein. Denjenigen, die dem Koalitionsvertrag und insbesondere seinem finanzpolitischen Teil Wachstumsschädlichkeit unterstellen, ({35}) ist Folgendes entgegenzuhalten: Bei Verzicht auf das beschlossene Finanzpaket würde Deutschland auch im nächsten Jahr Probleme mit der Einhaltung der im Maastrichter Vertrag vereinbarten 3-Prozent-Marke bekommen. Ein restriktiverer geldpolitischer Kurs der EZB wäre fast zwangsläufig. Es bleibt zudem unbestreitbar: Die öffentlichen Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen. ({36}) In einer Phase, in der es darauf ankommt, das Vertrauen der Wirtschaftssubjekte zu stärken, kann das nicht der Weg sein. Es kann aber auch nicht hingenommen werden, dass Sie weiter Horrormeldungen in die Welt setzen und Schwarzmalerei betreiben, wie Sie das bisher getan haben. Auch das, was Sie in den letzten zwei Tagen an Beiträgen geleistet haben, ist unverantwortlich. ({37}) Die Lage ist schwierig, bietet aber keinen Grund für Untergangsszenarien. Wo sind eigentlich Ihre konkreten Alternativen? Von denen war weder gestern noch heute etwas zu hören. Wo sind Ihre konkreten Konsolidierungsvorschläge? ({38}) Sie können nicht Konsolidierung einfordern ({39}) und gleichzeitig jeden unserer Vorschläge madig machen und keinen einzigen Alternativvorschlag vorlegen. So geht das nicht. Dann versprechen Sie auch noch - das wird oben draufgesattelt - milliardenschwere Steuer- und Abgabensenkungen. Sie haben mit Ihrem Gerede über das, was möglich ist und was nicht, über Monate die bundesdeutschen Wählerinnen und Wähler systematisch getäuscht. ({40}) Oder schwenken Sie jetzt auf den Kurs von Roland Koch ein, der zusätzliche Schulden machen will? Wie halten Sie es eigentlich mit den „3 mal 40“ in Ihrem Programm? Wollen Sie sozialen Kahlschlag und Einschränkungen bei den Mitteln für Forschung, Bildung und öffentliche Investitionen? Wo sind überhaupt die konkreten Vorschläge zur Umsetzung des Programms „3 mal 40“, mit dem Sie im Wahlkampf durch alle Städte und Dörfer gezogen sind? Sie wollten nicht nur die Staatsquote unter 40 Prozent senken - die FDP sogar auf 35 Prozent, das war aber mehr eine Nummer für den Zirkus -, sondern auch den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer und den gesamtem Sozialversicherungsbeitrag. Wo steht denn, wie Sie das konkret und detailliert machen wollen? Solange Sie darauf keine Antwort geben - ich wiederhole mich -, sind Sie politisch nicht konkurrenzfähig in der Bundesrepublik Deutschland. ({41}) Wir packen die notwendigen Strukturreformen an. Das haben wir mit unserer Koalitionsvereinbarung deutlich gemacht. Wir halten Kurs bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, auch wenn es unpopulär ist. Wir sichern die Einnahmebasis des Staates. Es bleibt bei den beschlossenen Steuerentlastungen, insbesondere für Arbeitnehmer, Familien und Mittelstand. Wir stellen uns den notwendigen Sozialreformen ohne einen sozialen Kahlschlag und ohne massive Umverteilung von unten nach oben. Meine Damen und Herren, wir halten Kurs. Die Menschen können sich auf uns verlassen. ({42}) Ich denke, dass nach gewissen Irritationen in den letzten Tagen, die ja nicht zu leugnen sind, ({43}) zu denen Sie aber kräftig beitragen, weil Sie das als Ihre Oppositionsaufgabe verstehen, ({44}) sich bei den Bürgerinnen und Bürgern mehr und mehr setzen wird, dass es zu unserer Politik, deren Grundzüge ich hier versucht habe ({45}) noch einmal zu beschreiben, keine reale Alternative gibt. ({46}) Es gibt in diesem Haus eine zunehmend verantwortungslose Opposition, aber keine reale Alternative zu unserer Politik. ({47})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich die gestrigen Ausführungen des Bundeskanzlers und die heutigen Aussagen des Finanzministers und von Herrn Poß zum Thema Staat, zum Verständnis vom Staat und zu den Aufgaben des Staates vor Augen führt, kann das im Ergebnis nur bedeuten: mehr Schulden, höhere Steuern, höhere Abgaben, mehr Staatsquote, insgesamt mehr Staat. Sie trauen den Menschen nicht zu, dass sie zunächst einmal ihre Aufgaben in eigener Verantwortung lösen, dass sie in Freiheit und Eigenverantwortung ihr Leben und ihre Zukunft gestalten wollen und sollen. Sie haben ein Bild vom Betreuungsstaat, vom Vorschriftenstaat, der regelt, der reglementiert, der zwangsbeglückt und in dem es nicht erwünscht ist, dass die Menschen und Bürger ihre Ideen, ihre Kräfte und ihre Fähigkeiten frei entfalten. Aber genau das braucht diese Gesellschaft. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben nur vier Jahre gebraucht, um ein Land aus einem starken Aufwärtstrend an die Wand zu fahren, um den wirtschaftlichen Abschwung zu gewährleisten. Wir haben Ihnen vor vier Jahren diese Regierung übergeben ({1}) mit einem starken Wirtschaftswachstum, mit einer steigenden Beschäftigung, mit einer sinkenden Arbeitslosigkeit, mit steigenden Steuereinnahmen, mit sinkenden Ausgaben und mit einer stabilen Währung. So war die Übergabebilanz. ({2}) Sie haben es bis heute fertig gebracht, dass dieses Land wirtschaftlich an der Wand steht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser wirtschaftlich problematischen Situation, in dieser fragilen und labilen Lage wäre es dringend geboten, alles zu unterlassen, was irgendwie die Gefahr in sich trägt, die Wirtschaft und die Konjunktur weiter abzuwürgen. Es wäre dringend geboten, alles zu tun, was geeignet wäre, Wachstum zu initiieren und Beschäftigung zu schaffen. ({3}) Sie tun aber genau das Gegenteil. Über diese Koalitionsvereinbarung herrscht bei allen Betroffenen und bei allen Fachleuten das blanke Entsetzen. Sie tun genau das Gegenteil von dem, was notwendig wäre. Wissen Sie denn eigentlich, wie die Lage draußen ist? Telefonieren Sie überhaupt mit den Menschen und den Unternehmen draußen? Die stehen alle mit dem Rücken zur Wand. Ich sage Ihnen ein Beispiel. Mein Sohn steht vor dem Berufsanfang. Die Berufsberaterin sagt: Was die Meldung von Ausbildungsplätzen angeht, so haben die Unternehmer vor der Wahl gesagt, sie müssten sehen, wie die Wahl ausgeht. Jetzt sagen die Unternehmer, sie müssten erst sehen, wie sie über den Winter kommen. - Viele wissen nicht, wie sie mit ihren Betrieben über den Winter kommen! ({4}) Sie wursteln vor sich hin. Sie bringen die Wirtschaft nicht in Fahrt. Sie verunsichern. Statt klare Wachstumsimpulse zu geben, pflastern Sie die Wege mit Steuererhöhungen und mit Androhungen: Ökosteuer, Schwefelsteuer, Versicherungsteuer, Tabaksteuer, Verschiebung der nächsten Stufe der Steuerreform und neu natürlich die Änderungen bei den Bemessungsgrundlagen, die Sie so schön verkleistern. In Wirklichkeit ist das auch nichts anderes als Steuererhöhung. Außerdem denken Sie über Tobinsteuer, Europasteuer, Vermögensteuer nach. ({5}) Da sollen die Leute noch Mut haben, ihr Geld in diesem Land zu lassen und in diesem Land zu investieren! Die Koalitionsvereinbarung ist ein Sammelsurium von Steueränderungsvorschlägen, aber eine Linie ist nicht erkennbar. Die „FAZ“ und andere Zeitungen weisen Ihnen nach, dass Familien durch Ihre Vorschläge im Durchschnitt mit 300 Euro monatlich negativ betroffen sein werden. ({6}) Selbst der „Stern“ schreibt in seiner jüngsten Ausgabe - ich zitiere -: Katzenfutter und Zahnprothesen - nichts steht besser für die politische Kleingärtnerei, in die sich die Koalitionäre verrannt haben. ({7}) Ich kann nur sagen: Und der Vereinsschatzmeister ist der Herr Eichel. Sie nennen das jetzt alles - so haben wir gestern gehört - intelligentes Sparen. Marc Beise von der „Süddeutschen Zeitung“ hat Ihnen schon am 19. Februar gesagt, dass intelligentes Sparen notwendig sei. Er erhob dann die Frage: Ob der Minister Eichel dieses Kunststück beherrscht, hat er noch nicht bewiesen. Alle seine bisherigen Operationen waren ziemlich einfallslos. Das ist es! ({8}) Jetzt will Bundeskanzler Schröder von einigen der Regelungen, die in der Koalition vereinbart wurden, nichts mehr wissen und hat öffentlichkeitswirksam Abmilderung versprochen. Rot-Grün arbeitet nämlich nach der Methode: zwei Schritte vor und einen Schritt zurück. Unter dem Strich bleibt es bei erheblichen Steuermehrbelastungen für die Bürger. Bis 2006 werden es selbst nach Ihren Berechnungen insgesamt 67 Milliarden Euro sein. Nicht in der Koalitionsvereinbarung, aber auf der Homepage des Bundesfinanzministers kann der Bürger sehen, was ihn erwartet. Dort ist die 21-seitige Giftliste eingestellt. Mehr als 50 Steuervorschriften sollen gestrichen werden. Angekündigt ist das als Abbau von schädlichen Steuersubventionen. Doch unter dem Strich wird das verfassungsrechtliche Gebot der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit mit Füßen getreten. Bereits heute beschäftigen zahlreiche Regelungen das Bundesverfassungsgericht: die Mindeststeuer, der halbe Steuersatz bei Veräußerungen usw. So viel ist sicher: Die Richter in Karlsruhe werden dank Rot-Grün auch in Zukunft viel zu tun haben. ({9}) Das scheint das Einzige an Kontinuität zu sein, auf das sich der Steuerzahler verlassen kann. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der einzelnen Vorschläge wurden anscheinend nicht untersucht. Wie sonst lässt sich erklären, dass Hans Eichel mit 40 seiner 50 Vorschläge den Betrieben direkt ans Leder will? Da wundert es nicht, dass Herr Piech dem Bundeskanzler die Freundschaft kündigt, weil - so sagt er - „ich den Ärger mit der Schröder-Regierung für die Wirtschaft habe kommen sehen“; so in der „Passauer Neuen Presse“ vom 14. Oktober dieses Jahres nachzulesen. ({10}) - Das war auch noch woanders nachzulesen. Mit allen diesen Maßnahmen ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden: Vieles wurde von Ihnen erst nach dem 22. September bekannt gegeben - Sie haben sich angeblich vorher nicht dazu in der Lage gesehen -; so ähnlich wird es auch nach den Wahlen in Hessen und Niedersachsen sein. Die Steuerzahler dürfen gespannt sein, welche Botschaften am 3. und 4. Februar nächsten Jahres bekannt gegeben werden. ({11}) Ich komme auf Ihre Regelungen zur Verstärkung von Investitionen - Änderung der Eigenheimzulage usw. - zu sprechen. Im Koalitionsvertrag ist von einer verstärkten Ausrichtung auf Familien die Rede. ({12}) 99 Prozent der Bürgerinnen und Bürger werden durch die Änderung der Eigenheimzulage schlechter als bisher gestellt. Hinzu kommt, dass Sie die Regelungen zur Abschreibung von Investitionen in Gebäude verschlechtern und dass Sie Spekulationsgewinne besteuern wollen. Dies alles führt doch dazu, dass die Familien und die Mieter in Zukunft schlechter gestellt werden; denn sie werden die Zeche zu zahlen haben. Das alles ist für die Bauwirtschaft katastrophal. ({13}) Sie liegt bereits am Boden. Sie treten denen, die schon am Boden liegen, mit den Stiefeln ins Gesicht. Ich wiederhole, was ich bereits vorhin gesagt habe: Viele Betriebe wissen nicht, wie sie in Zukunft überhaupt noch existieren können. Wenn Sie nie in einem Betrieb Verantwortung getragen haben, wenn Sie also nie dafür verantwortlich waren, für treue Mitarbeiter ausreichend Beschäftigung zu schaffen, indem Sie dem Betrieb zu einer ausreichenden Anzahl von Aufträgen verholfen haben, dann haben Sie vielleicht nicht den richtigen Zugang. Wer sich aber über viele Jahre der eigenen Existenz und der Existenz der Arbeitnehmer im eigenen Betrieb verpflichtet gefühlt hat, der weiß, wie bitter es ist, wenn man nicht mehr weiß, ob der eigene Betrieb im nächsten Monat noch besteht, weil er womöglich zahlungsunfähig geworden ist. ({14}) Das Gleiche, was Sie im Zusammenhang mit Immobilien vorhaben, sehen Sie auch für die Wertpapierbesteuerung vor. Genauso wie Gewinne aus Immobilienbesitz sollen Aktiengewinne unabhängig von Fristen besteuert werden. Vor drei Jahren meinte Hans Eichel dazu noch im „Stern“ - das ist mittlerweile ein guter Fundus -: Wir haben die Spekulationsfrist gerade auf ein Jahr verlängert. Dabei soll es bleiben. Wir dürfen den Finanzplatz Deutschland nicht schwächen. Dabei geht es um Arbeitsplätze. ({15}) Gilt das jetzt alles nicht mehr? ({16}) Herr Finanzminister, gerade durch die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen haben Sie dazu beigetragen, dass die Kleinaktionäre kräftig zur Kasse gebeten worden sind, da der Wert ihrer Aktien gesunken ist. Im Übrigen haben Sie nicht gemerkt, dass auch die von Ihnen so hoch gelobte Riester-Rente von der Neuregelung der Wertpapierbesteuerung betroffen ist. Mit dieser Neuregelung gehen Sie den Kleinaktionären ans Portemonnaie. Der Finanzminister verspricht die Abschaffung von 20 000 Steuervorschriften. Herr Finanzminister, das ist ziemlich unglaubwürdig. Mit Ihnen hat man wirklich den Bock zum Gärtner gemacht. Wer ist denn für dieses überaus komplizierte Steuerrecht, wie es in den letzten vier Jahren entwickelt worden ist, verantwortlich? - Das waren niemand anders als Sie und Ihre Koalitionäre. ({17}) In den letzten vier Jahren hat Hans Eichel mit fast 60 Gesetzen steuerliche Vorschriften geändert bzw. neue Steuerregelungen eingeführt. Den Steuerzahlern stand im Durchschnitt fast alle drei Wochen ein neues Gesetz ins Haus. Der Finanzminister hat sich bei der Benennung seiner neuen Folterinstrumente wirklich Mühe gegeben. So hießen die einzelnen Vorhaben: Steuerentlastungsgesetz, Steueränderungsgesetz, Steuerbereinigungsgesetz, Steuersenkungsgesetz, Steuersenkungsergänzungsgesetz und Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz. Das letzte Werk war dann das Flutopfersolidaritätsgesetz. Jetzt sind wir alle darauf gespannt, welchen schönen Namen Sie sich für Ihr „Giftlistengesetz“ einfallen lassen. ({18}) Auf die Landwirtschaft haben Sie es ganz besonders abgesehen. Neben der Anhebung der Mehrwertsteuer, der Abschaffung der Ökosteuerermäßigungen, der Abschaffung der Vorsteuerpauschale, der Abschaffung der Gewinnermittlungen nach Durchschnittssätzen, wie sie in § 13 a EStG geregelt ist, kommen auf die Landwirtschaft erhebliche Belastungen zu, und zwar nicht nur finanzieller, sondern vor allen Dingen auch bürokratischer Art. Sie verursachen bei den kleineren landwirtschaftlichen Betrieben Beratungskosten, die zu tragen sie in dieser schwierigen Zeit nicht mehr in der Lage sind. ({19}) All das wird dazu führen, dass es in der Landwirtschaft zur beschleunigten Aufgabe von Betrieben kommt. Wenn Sie schon sonst mit der Landwirtschaft nichts am Hut haben, dann sollten Sie zumindest in der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der wir uns mit Blick auf den Arbeitsmarkt befinden, hier nicht zusätzlich Existenzen vernichten und Menschen in die Arbeitslosigkeit schicken. ({20}) Wir wissen, dass Sie von der SPD eine geradezu tief sitzende Abneigung gegen die Landwirtschaft haben. Daher verwundert es nicht, wenn sich eine SPD-Bundestagsabgeordnete vor Ort beklagt: In Berlin will keiner über Landwirtschaft reden. Jetzt hat die Koalition angeblich erkannt, dass bei der Ausgestaltung der Steuerreform Fehler gemacht worden sind. Trotz negativem Körperschaftsteueraufkommen hat man dort bisher jeglichen Reparaturbedarf bestritten. Die Steuerreform mit der Änderung des Körperschaftsteuersystems war insgesamt falsch konzipiert; dies unterstrich Professor Sinn vor kurzem in einem Beitrag für eine namhafte Zeitung sehr deutlich. Jetzt erkennen Sie die Fehlerhaftigkeit und reagieren wiederum falsch. Die Systemumstellung haben Sie falsch angelegt. Vor allen Dingen haben Sie die wirklichen Probleme des Eigenkapitalaustauschs nicht erkannt und keine entsprechende Vorsorge getroffen. In die steuerliche Berücksichtigung von Verlusten wird jetzt elementar eingegriffen. Kleine wie große Kapitalgesellschaften sollen faktisch eine Mindeststeuer zahlen, unabhängig davon, was am Jahresende tatsächlich erzielt wurde. Das belastet nicht nur die Liquidität, sondern auch die Substanz der Unternehmen bei einer insgesamt zu geringen Eigenkapitaldecke der deutschen Betriebe. Auch die zeitliche Begrenzung des bisher unbefristeten Verlustvortrags auf sieben Jahre zielt in diese Richtung. Auf der Strecke bleiben gerade Existenzgründer, die in den ersten Jahren erhebliche Verluste machen. Der jetzige Vorschlag ist schärfer als das, was Lafontaine damals eingeführt hat. Hinter all dem steckt noch das verzerrte Unternehmerbild von Rot-Grün aus der sozialistischen Mottenkiste. ({21}) Wann wird diese Regierung endlich erkennen, dass es ohne Unternehmer keine Unternehmen und ohne Unternehmen keine Arbeitsplätze gibt? ({22}) Risikobereitschaft, Kreativität und Arbeitsbereitschaft unserer deutschen Unternehmerpersönlichkeiten müssen besser genutzt und für mehr Wachstum und Beschäftigung eingesetzt werden. Wir brauchen Leute mit Ideen, Leute, die bereit sind, Leistung zu erbringen und die Entwicklung sozusagen mit dem Hirn anzuschieben. Man darf ihnen aber nicht gleichzeitig ständig auf den Kopf schlagen. ({23}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum 1. Januar 2003 wird die nächste Ökosteuererhöhung kommen, so viel ist sicher. Aber damit nicht genug. Denn in der Koalitionsvereinbarung heißt es im Kapitel „Ökologische Finanzreform“ wörtlich: Im Jahr 2004 werden wir im Hinblick auf die Emission klimaschädlicher Gase den Ölpreis, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die soziale Verträglichkeit überprüfen, ob und wie die Besteuerung unter ökologischen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln ist. Dies steht im Gegensatz zu der Verkündung des Kanzlers, dass nach der Ökosteuererhöhung im Jahr 2003 keine weiteren Stufen folgen werden. Die Bürger müssen sich also auf weitere Erhöhungen der Ökosteuer einstellen. Ich erinnere daran, dass es Schröder war, der einmal gesagt hat: Sechs Pfennig sind genug. Auf die Versprechungen des Bundeskanzlers darf sich jedenfalls niemand verlassen. Immer größere Lasten werden den Kommunen vom Bund aufgebürdet, ohne dass ihnen ausreichende Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Das hat natürlich Auswirkungen auf die kommunalen Investitionen, besonders im Baubereich. Beharrlich weigert sich die Koalition, diesen Zustand durch Verzicht auf die nicht mehr gerechtfertigte Erhöhung der Gewerbesteuerumlage aufzufangen. ({24}) Inhaltlich wollten Sie ja während des ganzen Bundestagswahlkampfes keine Themen, die originär den Bund betreffen, behandeln. Darum haben Sie sich dem Thema Kinderbetreuung zugewendet. Diese ist eigentlich eine Aufgabe der Länder und Gemeinden. Sie tun so, als ob Sie jetzt für die Erfüllung dieser Aufgabe die Länder und Kommunen in den Genuss eines Geldsegens kommen lassen. Sie versprechen 4 Milliarden, im alten Haushaltsentwurf haben Sie gerade einmal 300 Millionen Euro für 2003 eingestellt. Das sind, wenn man diese Zahl und die 10 000 erforderlichen Stellen, die Sie ansetzen, nimmt, 30 000 Euro pro Einrichtung. Wissen Sie, wie weit man damit kommt? Das hat doch wieder den Effekt, dass die Kommunen zunächst unter Zugzwang gesetzt und hinterher mit der Finanzierung allein gelassen werden. ({25}) Kümmern Sie sich doch als Bundesregierung um die Aufgaben des Bundes, die Sie hier zu erfüllen haben, und statten Sie die Kommunen ordentlich aus. In eigener Verantwortung werden die Kommunen ihre Aufgaben besser lösen können, als wenn Sie sie wieder an das Gängelband legen. ({26}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon viel über den Umgang mit dem europäischen Stabilitätsund Wachstumspakt gesagt worden. Hierbei handelt es sich geradezu um ein Trauerspiel. Die Art und Weise, wie Sie ihn jetzt neu interpretieren, stellt eigentlich eine Abkehr von ihm dar. Die Bürger in unserem Lande erwarten aber, dass unsere Währung stabil bleibt und nicht zum Spielball für Sie oder für andere Kräfte wird. Es ist schon hochinteressant, wie Sie, Herr Bundesfinanzminister, da vorgegangen sind. Ihre Meldungen zu den Defizitzahlen haben ja das Zeug, um daraus eine Tragödie zu schreiben. Dezember 2001: Zwei Alternativen werden nach Brüssel gemeldet, eine für gutes und eine für schlechtes Wirtschaftswachstum. Februar 2002: Mit politischem Druck hat Kanzler Schröder den blauen Brief aus Brüssel verhindert und dabei ziemlich viel Porzellan zerschlagen. September 2002: Im Wahlkampf wurde die Einhaltung der 3-Prozent-Grenze immer wieder versprochen. Die zum 1. September vorgeschriebene Meldung aktualisierter Defizitzahlen nach Brüssel wurde aus fadenscheinigen Gründen bis nach dem Wahltag verzögert. Am 24. September wurde dann ein Wert von 2,9 Prozent gemeldet. Oktober 2002: Der Finanzminister erklärt bei einem Fernsehinterview, dass er mit dem Überschreiten der 3-Prozent-Grenze in diesem Jahr rechnet. Letzter Akt: Gegen Deutschland wird in Brüssel ein Verfahren wegen Überschreitung der 3-Prozent-Grenze eingeleitet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kalb, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, ich komme zum Schluss. - Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihre Politik ist nicht geeignet, Investitionen und Wachstum zu initiieren, sondern sie führt auf den falschen Weg. Sie ist schlecht für die Wirtschaft, schlecht für die Arbeitslosen in diesem Land. Die von Ihnen vor der Wahl geschürte Kriegsangst hat Sie noch einmal nach oben gespült; so haben Sie die Wahl noch einmal gewonnen. Jetzt aber müssen die Bürger Ihren Wahlsieg teuer bezahlen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/ Die Grünen. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Kalb, Sie wollen, dass wir uns darüber verständigen, welche Aufgaben dieser Staat hat. Ich möchte sehr gerne die CDU/CSU-Fraktion zunächst daran erinnern, dass in unserer Verfassung das Sozialstaatsgebot steht und wir den Auftrag haben, den Haushalt vernünftig zu gestalten und eine vernünftige Finanzpolitik zu machen, ({0}) um entsprechende Ausgaben, die in diesem Land nötig sind, auch tätigen zu können. Genau das tut diese Regierung, genau das tut Rot-Grün. ({1}) In allen Redebeiträgen des gestrigen und des heutigen Tages haben Sie von der CDU/CSU und von der FDP wieder einmal bewiesen, dass Sie kein Konzept dafür haben, ({2}) wie wir mit dieser bekanntermaßen wirtschaftlich schwierigen Situation umgehen sollen, ({3}) wie es nach Ihrer Auffassung gelingen soll, zu mehr Wachstum zu kommen, abgesehen von Ihren platten Thesen: Steuern runter, Abgaben runter, Sozial- und Staatsquote runter. So kann man in wirtschaftlich schwierigen Zeiten keine sozial verantwortliche Politik betreiben. ({4}) Es ist völlig unbestritten, dass die Weltkonjunktur von einem Attentismus gekennzeichnet ist. ({5}) Das bezweifelt nicht ein einziges Wirtschaftsforschungsinstitut. ({6}) Auch ist unbestritten, dass die Unwägbarkeiten, mit denen wir in der Außenpolitik leider konfrontiert sind, ({7}) mit dazu führen, dass die Wachstumsraten, und zwar in Gesamteuropa, nicht so hoch sind, wie wir es uns gewünscht hätten. ({8}) Das ist im Rahmen einer Bestandsaufnahme eine Aussage, die auch Sie mittragen können. Unbestritten ist die Arbeitslosigkeit in unserem Land sehr hoch. Jeder Arbeitslose, der gern arbeiten möchte, ist ein Arbeitsloser zu viel. ({9}) Aber allein im nächsten Jahr haben wir nach unseren Berechnungen einen Konsolidierungsbedarf von 14 Milliarden Euro zu schultern. ({10}) Die Frage ist, wie wir mit dieser Situation umgehen. Dazu sollten Sie endlich einmal Vorschläge machen. Wir haben eine klare Entscheidung getroffen: Es gibt keine tragfähige Alternative zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Aus diesem Grund werden wir unseren Konsolidierungskurs beibehalten, allerdings mit den geringeren Wachstumserwartungen vernünftig abgestimmt. Diesen Weg, den wir bereits vor vier Jahren eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen. ({11}) Das heißt erstens ganz konkret, dass wir unserer Finanzplanung stärker belastbare Aussagen über das Wirtschaftswachstum zugrunde legen. ({12}) Es darf nämlich nicht sein, dass mit jeder Steuerschätzung und mit jedem Konjunkturbericht irgendeines Instituts neu über Einsparungen diskutiert werden muss. ({13}) Wir gehen daher für die nächsten Jahre von einer realistischen Berechnungsgröße aus, die auf dem durchschnittlichen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts der letzten zehn Jahre aufbaut. ({14}) Dadurch bekommt die mittelfristige Finanzplanung mehr Solidität. ({15}) - Das ist etwas, was Sie 29 Jahre lang versäumt haben. ({16}) - Herr Thiele, warum haben wir denn diese Probleme? Wer hat denn die hohen Sozialabgaben verursacht? Wer hat denn dafür gesorgt, dass wir diesen Riesenberg von Schulden abzutragen haben? Das waren doch nicht wir, sondern Sie. Sie waren doch über viele Jahre lang in der Verantwortung. ({17}) Zweitens werden wir bis zum Jahr 2006 einen Bundeshaushalt ohne neue Schulden vorlegen. ({18}) Das haben wir in unserem Koalitionsvertrag verankert. Zu diesem Zweck werden wir drittens die Ausgaben im Haushalt in einem ausgewogenen Verhältnis kürzen. Wir werden steuerliche Subventionen reduzieren und die Nettoneuverschuldung Jahr für Jahr weiter begrenzen. ({19}) Das bedeutet für 2003 eine höhere Neuverschuldung von 2,6 Milliarden Euro gegenüber den ursprünglichen Planungen vom Frühjahr, ({20}) als uns alle Wirtschaftsinstitute andere Daten vorgelegt haben. Der Minister hat bereits dargelegt, wie die Berechnungsgrundlagen zustande gekommen sind. Das war doch nicht unsere Erfindung, sondern das war das, was dieser Regierung von den Wirtschaftsweisen und von den anderen Wirtschaftsforschungsinstituten vorgelegt worden ist. ({21}) Darauf bauen wir selbstverständlich unsere Berechnungsgrundlagen auf; anders kann man das als Regierung auch nicht tun. ({22}) Diese höhere Neuverschuldung beträgt - um das einmal deutlich zu sagen - lediglich ein Viertel des Volumens der Sparmaßnahmen, die im Haushalt vorgesehen sind. Bei den Subventionen sind es 11,6 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren von der Opposition, dieses Verhältnis belegt eindeutig: Wir setzen den Konsolidierungskurs zwar konjunkturpolitisch begründet etwas verlangsamt - das ist richtig -, aber konsequent fort. Über diesen Punkt haben wir hier zu sprechen. ({23}) Eine kurzfristige konjunkturbedingte Überschreitung des Maastricht-Defizits bedeutet nicht - um das an dieser Stelle deutlich zu sagen -, dass wir den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt infrage stellen. ({24}) Es ist völlig klar, dass die Länder zusammen mit ihren Kommunen genauso wie der Bund gefordert sind, den Stabilitätspakt einzuhalten. ({25}) Denn das Maastricht-Kriterium gilt ja für alle staatlichen Ebenen. Sie tun immer so, als ob es nur den Bund berührt, als ob nur wir große Probleme haben. Die viel größeren Probleme liegen doch leider in den einzelnen Haushalten der Bundesländer. Das hängt auch mit der Haushaltsgestaltung in manchen Ländern zusammen. ({26}) Wir bauen die Subventionen ab. Der Abbau steuerlicher Begünstigungen und von Subventionen ({27}) kommt allen Ebenen zugute: den Kommunen, den Ländern und auch dem Bund. ({28}) Dies führt im Ergebnis zu einer klareren Besteuerungsgrundlage und damit zu mehr Fairness im Steuersystem. Denn es ist nicht einzusehen, dass jede Lobbygruppe in diesem Land irgendwann einmal eine Steuersubvention in unser Steuersystem implantiert und wir jahrzehntelang darunter zu leiden haben, dass die Steuerbasis immer mehr ausgehöhlt wird. ({29}) Die rot-grüne Koalitionsvereinbarung ist ein Programm für die Zukunft. Wir sparen bei den konsumtiven Ausgaben. Wir stärken die Investitionen, wo es richtig und notwendig ist. ({30}) Wir nehmen Strukturreformen bei den Sozialversicherungssystemen und auf dem Arbeitsmarkt in Angriff. Das sind konkrete Vorschläge, die diese Regierungskoalition und die die Regierung bildenden Ministerinnen und Minister vorgestellt haben und die auf dem Tisch liegen. Ich frage Sie noch einmal: Wo sind Ihre Konzepte, um angesichts der jetzigen Lage der Nation vernünftige Politik zu machen? ({31}) Das Einzige, was Sie können, ist: Sie können aus irgendwelchen Zeitungsberichten zitieren ({32}) und herummeckern. Aber Meckern allein ist noch kein Konzept; das dürfte auch bei Ihnen angekommen sein. ({33}) Es hilft auch nichts, uns gegenüber mit Prosatexten und Vorwürfen aufzutreten. Angesichts dessen, dass für Sie Oppositionsarbeit Verweigerung ist, ist die Arbeit dieser Opposition nicht ernst zu nehmen. Wir wollen eine gute Opposition haben. Tun Sie endlich einmal etwas dafür! Legen Sie doch endlich einmal Ihre Vorschläge auf den Tisch! ({34}) Wir brauchen Mut ({35}) für tatsächliche Reformen, wenn wir gleichzeitig unsere sozialen Sicherungssysteme erhalten und wieder mehr Wachstum und Arbeitsplätze schaffen wollen. Die Kritik an unserem Sparpaket ist nicht aufrichtig. Quer durch alle Parteien und Verbände, die Wissenschaft und die Medien wird der Abbau von Subventionen gefordert. Aber es gibt leider keine konkreten Vorschläge. Wenn man dann einmal bestimmte Subventionen infrage stellt, sprechen Sie sofort von Steuererhöhungen. Ich bitte Sie: Es ist doch von der Semantik her nicht verantwortbar, dass man auf der einen Seite fordert, Subventionen abzubauen, und auf der anderen Seite, wenn wir diese dann abbauen, von Steuererhöhungen spricht. ({36}) Es ist nicht in Ordnung, dass Sie in dieser Situation ohne Augenmaß vorgehen. Wir werden dafür sorgen, dass alle einen Beitrag leisten. Ich kann nur feststellen: Steuern zu zahlen ist kein selbstloses Geschenk an den Staat. Ganz im Gegenteil: Steuerzahlungen sind auch dafür da - das muss man ganz ehrlich sagen -, die notwendigen Voraussetzungen für ein erfolgreiches Bestehen im Wettbewerb zu schaffen. Denn mit diesem Geld wird die Infrastruktur erhalten, werden die Kinderbetreuungsangebote finanziert, die Bildungsstandards erhöht und wird der Ausbau von Straßen und Schienen ermöglicht. Dazu müssen alle ihren Beitrag leisten. Keiner darf sich aus dieser Verantwortung stehlen. ({37}) Diese Fairness und Gerechtigkeit werden wir in den nächsten Jahren wieder verstärken und zum großen Teil wiederherstellen. Danke schön. ({38})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte nicht gedacht, dass ich den früheren Kollegen Oswald Metzger so schnell vermissen würde. ({0}) Was wir hier an Unfug zu hören bekommen, geht auf keine Kuhhaut. Jetzt ist die Opposition für die Bilanz der rot-grünen Regierung verantwortlich! ({1}) Sie sollten doch wenigstens den Charakter haben, sich zu Ihrer eigenen Verantwortung zu bekennen. ({2}) Ich gestehe Ihnen ja zu, dass Sie eine schwere Erbschaft antreten. Aber es handelt sich doch um Ihre eigene Erbschaft. ({3}) Herr Bundesfinanzminister, was Sie mit dem Koalitionsvertrag und mit der Regierungserklärung vorlegen, ist finanzpolitisch ein Offenbarungseid. Anders kann man es nicht bezeichnen. ({4}) Sie winden sich, wenn es um die Frage geht, wer an dieser Entwicklung schuld ist. Für Sie sind es die Weltwirtschaft, die Wirtschaftsorganisationen und die Opposition, aber nicht Sie. Sie haben vor der Wahl am laufenden Band die Unwahrheit gesagt und bekennen sich dazu auch heute nicht. ({5}) Sie sind mit Lug und Trug wieder an die Macht gekommen. Nun sind Sie an der Macht. Jetzt stehen Sie auch dazu! ({6}) Was aber machen Sie? - Sie bereiten bereits das nächste Wählertäuschungsmanöver vor! Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass entsprechende Maßnahmen nach den Landtagswahlen auf den Tisch kommen. Der Bundesfinanzminister hat schon eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen eingerichtet. Was wird von ihr vorbereitet? Man hört, dass die Gewerbesteuer nicht etwa abgeschafft werden soll - obwohl das dringend notwendig wäre -, stattdessen wird sie ausgeweitet. Die Freibeträge sollen gesenkt werden. Das heißt, auch die kleinen Handwerksbetriebe sollen einbezogen werden. Die freien Berufe sollen zukünftig gewerbesteuerpflichtig werden. Außerdem gibt es wieder Vorschläge, das Gewerbekapital und die Lohnsumme in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Das nächste Steuererhöhungsprogramm steht also bevor. ({7}) Der Bundeskanzler hat bereits Herrn Gabriel und Herrn Beck aufgefordert - so kennen wir ihn; er spielt gern über Bande -, die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Ausweitung der Erbschaftsteuer anzuregen. Die Initiative ging also von den Bundesländern und nicht von der Bundesregierung aus. Aber die Bundesregierung wird sich gegen diese Maßnahmen natürlich nicht wehren. Diese Punkte müssen wir der Öffentlichkeit sagen. Man wird am Ende auch nicht vor der Erhöhung der Mehrwertsteuer zurückschrecken, wenn es darum geht, die leeren Kassen zu füllen. Da sind wir beim Thema, Herr Bundesfinanzminister. Ihnen fehlt die ordnungspolitische Richtschnur. ({8}) Ihnen fehlt eine finanzpolitische Strategie, wie Sie die Wachstumskräfte in Deutschland wieder stärken können. Sie werden die Haushaltsprobleme niemals lösen, wenn Sie nicht einen Wachstumsprozess auslösen, der die Basis für mehr Steuereinnahmen überhaupt erst schaffen kann. ({9}) Deswegen ist das, was Sie hier vorlegen und beabsichtigen, so grundfalsch. Denn genau das Gegenteil wird eintreten: Sie belasten die Wachstumskräfte, die Wirtschaftssubjekte und die Verbraucher. Ihnen bleibt einfach weniger Geld übrig, das sie ausgeben, konsumieren und investieren können. Sie verschrecken die Sparer. Sie jagen sie geradezu ins Ausland. Auch mit Polizeimaßnahmen kriegen Sie das niemals in den Griff. Wenn Sie nicht kapieren, dass wir nicht in einer geschlossenen Volkswirtschaft leben, sondern in die Weltwirtschaft eingebettet sind und uns deren Einfluss nicht entziehen können, dann muss man Ihnen sagen, dass nur eine Politik hilft, die die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Wirtschaftssubjekte wie Kleinunternehmen, mittelständischen Unternehmen, Arbeitnehmern und auch Großunternehmen wiederherstellt. Wenn Sie das nicht machen, wird mit mathematischer Sicherheit der Prozess weitergehen, in dem wir nun stecken. ({10}) Argentinien ist Ihr Vorbild. Argentinien ist ein reiches Land, das sich in einer fatalen Situation befindet. Warum? Weil es seine Strukturprobleme nicht lösen kann. Deutschland ist jetzt schon in Westeuropa das Schlusslicht im Geleitzug. Nach der Erweiterung der Europäischen Union wird Deutschland auch das Schlusslicht in ganz Europa sein. Die mittel- und osteuropäischen Staaten bereiten sich konzentriert auf die Osterweiterung vor. Die Bundesrepublik Deutschland tut so, als ginge sie das nichts an. Wir lassen das wie ein Schicksal über uns kommen. Sie werden feststellen, dass wir in unserer Wettbewerbsfähigkeit benachteiligt werden, wenn wir uns nicht auf die Erweiterung vorbereiten. Es ist ebenfalls in Ihrer Verantwortung, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung verbessert. ({11}) Was hat der bekannte Kolumnist der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Hans Barbier geschrieben? Sie lassen das Angemessene und sie tun das Falsche. Kürzer kann man es gar nicht sagen. Das ist eine wunderbare Kurzformel. ({12}) Was hat der bekannte Wirtschaftsjournalist Bernd Wittkowski in der „Börsen-Zeitung“ geschrieben? Was das Land in dieser Situation dringend bräuchte, wäre ein Ruck, der privater Initiative und Verantwortung Raum gibt und Wachstumskräfte freisetzt. Dazu bedürfte es spürbarer Steuer- und Abgabensenkungen, einer Entbürokratisierungsoffensive, der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, eines Rückzuges des Staates und einer Stärkung der Kapitalmärkte. Subventionen müssten in der Tat radikal abgebaut werden, zuerst da, wo sie Industrien fördern, die nicht konkurrenzfähig sind - Steinkohle, Herr Clement - aber nicht, um Unternehmen und Bürger an anderer Stelle zu schröpfen, sondern um sie nachhaltig zu entlasten. ({13}) Doch statt das unabweisbar Notwendige zu tun, betätigt sich Rot-Grün als Konjunkturkiller. Das Programm der Koalition wird Deutschland endgültig in die Rezession und Hunderttausende zusätzlich in die Erwerbslosigkeit treiben. Das war ein langes Zitat, aber ich kann jedes Wort davon unterschreiben. ({14}) Wenn Sie das nicht erkennen und die Konsequenzen nicht ziehen, werden Sie das Debakel nicht verhindern können. Durch Ihre steuerpolitischen Maßnahmen und die Steigerung der Abgaben bei der Renten- und Krankenversicherung werden dem Wirtschaftskreislauf im nächsten Jahr knapp 30 Milliarden Euro entzogen. 30 Milliarden Euro sind ungefähr 60 Milliarden DM. ({15}) Was glauben Sie denn, welche Auswirkungen das hat? Glauben Sie, die Konsumenten hätten das Geld, um mehr zu verbrauchen, mehr einzukaufen? Glauben Sie, die Binnenkonjunktur könnte in Gang kommen? Auch wenn die Weltwirtschaft und der Export besser laufen, wird das unsere hausgemachten Probleme nicht lösen. Sie sind auf der falschen Spur, Herr Bundesfinanzminister. Wenn Sie das nicht erkennen und das Ruder nicht schnell herumreißen, gehen wir ganz schweren Zeiten entgegen, und zwar schon in diesem Winter. Schon in diesem Winter werden wir über 4,5 Millionen Arbeitslose haben. Das verantworten Sie. Schieben Sie die Verantwortung nicht auf uns! Wir, die FDP, haben vor der Wahl einen Vorschlag zur Lösung unterbreitet. Wir haben Vorschläge zu Einsparungen in einer Gesamthöhe von 35 Milliarden Euro vorgelegt. Werfen Sie uns nicht vor, wir hätten es nicht vorher gemacht. Sie haben uns im Wahlkampf deswegen beschimpft, aber wir stehen dazu. Jetzt sind Sie dran. Machen Sie etwas! Stehen Sie zur Verantwortung Ihrer Politik! Wenn Sie Ihre Politik nicht ändern, sehe ich ganz schwere Zeiten auf uns zukommen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Koalition ist angetreten, um Deutschland zukunftsfähig zu machen. ({0}) - Deswegen sind wir auch wiedergewählt worden, Herr Kollege Thiele. ({1}) Die Erfahrung der heutigen und der gestrigen Debatten ist, dass Sie sich geradezu beleidigt fühlen, ({2}) weil die Mehrheit der Deutschen Sie nicht gewählt hat. Das ist aber kein Grund, beleidigt zu sein. ({3}) Sie müssten in sich gehen und sich fragen: Woran lag das? Warum haben Sie die Mehrheit der Deutschen nicht überzeugt? ({4}) Meine Einschätzung ist die: Ein wesentlicher Grund dafür, weshalb Sie nicht in der für eine Mehrheit ausreichenden Zahl gewählt worden sind, ist, dass die Menschen gemerkt haben, dass Sie kein solides finanzpolitisches Konzept haben. ({5}) Mit den finanzpolitischen Vorstellungen der Union verbindet man Kuddelmuddel und Schuldenmachen. Bei jeder Frage, bei jeder Schwierigkeit, die auftauchte, hatten Sie nur ein Rezept: Schulden machen. ({6}) Es gab widersprüchliche Aussagen von Ihrem Spitzenkandidaten und anderen bedeutenden Sprechern Ihrer Partei. Kein Mensch wusste, was die Union eigentlich will. Zu der FDP will ich gar nicht viel sagen. Sie hat sowieso noch das Problem, dass sie von dem Image der Spaßpartei weg muss, das ihr merkwürdiger Vorsitzender gepflegt hat. ({7}) Sie werden von den Menschen nicht ernst genommen, weil Sie keine ernsthafte Politik geboten haben. ({8}) Wir werden die notwendige Reformpolitik deswegen allein als Koalition in diesem Bundestag durchführen müssen. Ich hoffe, dass die Länder zu einer ernsthaften Zusammenarbeit bereit sein werden. Diese Opposition ist es offensichtlich bisher nicht. Wir haben niemals gesagt, dass der Weg, Deutschland fit für die Zukunft zu machen, ein bequemer Weg sein wird. Wir haben niemals gesagt, dass er nicht auch Anstrengungen und Opfer verlangt. Wir haben aber immer versprochen, dass wir diejenigen, die diesen Weg nicht aus eigener Kraft schaffen, nicht allein lassen. Wir werden solidarisch zusammenstehen, weil wir Modernisierung, soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt nicht als Gegensatz, sondern als das Konzept für eine moderne Gesellschaft sehen. ({9}) Zu einer solchen Politik gehört natürlich auch, dass wir die Lasten, die es gibt, fair verteilen. Dabei gilt nun einmal: Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache, und zwar nicht nur auf dem Papier. Dies muss auch durchgesetzt werden. Dazu gehört für uns, dass alle Einkommensarten gleich zu behandeln sind. Wir finden es beispielsweise auch nicht unfair, wenn man das geltende Steuerrecht, das eine Einkommensteuerpflicht für Kapitaleinkünfte begründet, in der Praxis auch durchsetzt, wie wir es auch für völlig normal halten, dass das Arbeitseinkommen besteuert wird. ({10}) - Das werden wir sehen. Ich habe verstanden, Frau Wülfing, dass Sie sich dem anschließen wollen. Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie haben gar nichts verstanden!) Dies freut mich. Dann gibt es vielleicht doch ein paar kluge Menschen in der Union, die dies unterstützen werden. ({11}) Noch eines gehört dazu, was wir gesagt und die ganze Zeit im Wahlkampf angekündigt haben: Wir werden Steuerprivilegien und Subventionen überprüfen und im Zweifelsfall abbauen. Ich sage Ihnen: Wir haben auch deswegen eine Mehrheit gefunden, weil die Menschen in Deutschland es leid sind, dass man ihnen irgendwelche schönen Worte erzählt. Sie wollen eine seriöse Finanzpolitik. ({12}) Sie wollen auch nicht die Vertagung von Problemlösungen. Sie wollen, dass konkret gehandelt wird. Die Vertagung von Problemlösungen auf künftige Generationen durch immer neues Schuldenanhäufen, wie Sie dies gemacht haben, wird in Deutschland erfreulicherweise nicht mehr honoriert. ({13}) Bundesfinanzminister Eichel hat nach der Flutkatastrophe gesagt: Wir suchen den unbequemen Weg. Weiter hat er gesagt: Wir bürden die Bewältigung unserer heutigen Probleme nicht der künftigen Generation auf, indem wir auf Schuldentilgung verzichten - und dennoch sind wir gewählt worden. ({14}) In den letzten Tagen wurde, zum Teil unter Ihrer Mitwirkung, so getan, als sei der Abbau von Steuerprivilegien eine Steuererhöhung. ({15}) Wir haben die ganze Zeit, besonders von der FDP, gehört, Subventionsabbau sei das richtige Rezept. Herr Kollege Solms, Sie haben vorhin das schöne Wort Ordnungspolitik in den Mund genommen. Wir haben leider in der vergangenen Wahlperiode mehrfach erlebt, wie Sie all die Durchlöcherungen, die Sie für Ihre Klientel in den früheren Wahlperioden geschaffen haben, ({16}) die wir aber 1999 abgeschafft haben, mit mehreren Anträgen erneut in das Gesetzbuch hineinbringen wollten, mit der geradezu irrsinnigen Leitmotivüberlegung, dass nicht Gewinnerwartungen, sondern Verlustzuweisungen das Motiv für Investitionen sein sollten. Einen krasseren Widerspruch zu marktwirtschaftlicher Ordnung kann es gar nicht geben. ({17}) Dann kam die Vorstellung zum Ausdruck, es sei sozusagen Unrecht, wenn Steuerprivilegien abgebaut werden, und es bestehe geradezu der Anspruch, dass andere einem bei der Finanzierung eigener Aufgaben durch Erlass von Steuern oder Zuschüsse helfen. ({18}) Woher kommt denn eigentlich das Geld? Das sind doch nicht die Gelder der Abgeordneten oder der Ministerien, sondern das sind die Gelder der Bürger. ({19}) Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass man andere an der Finanzierung beteiligt, wenn man selber etwas vorhat. Das versteht kein Mensch unter Ordnungspolitik. ({20}) Ich habe nicht den Eindruck, dass die Opposition in dieser Wahlperiode schon den Weg zu einer sachlichen Arbeit gefunden hat. Man merkt, dass Sie sich noch nicht gefunden haben. Das, was bisher gekommen ist, war nur Polemik. ({21}) Ich nenne einmal ein Beispiel. Herr Merz hat heute die Kollegin Merkel bezichtigt, sie hätte einem Kabinett angehört, das die Bundesrepublik aus der sozialen Marktwirtschaft in die Staatswirtschaft hinübergeführt hätte. Denn Herr Merz hat definiert: Ein Land, das eine Staatsquote - Staatsquote soll heißen: Anteil der Ausgaben der Gebietskörperschaften und der Sozialversicherungen am Sozialprodukt - von über 50 Prozent hat, hat keine soziale Marktwirtschaft. ({22}) - Das hat er heute Vormittag gesagt. ({23}) In den letzten 40 Jahren gab es ein Jahr, in dem die Staatsquote mit 50,3 Prozent am höchsten war; das war 1996. ({24}) Da sieht man einmal, wie sachlich die Argumentation von Herrn Merz und wie gut sein Verhältnis zu Frau Merkel ist. Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass diese Opposition, was immer wir vorlegen, zunächst einmal unsachlich sein wird. ({25}) Herr Glos macht das kabarettistisch, Herr Merz macht es giftig, Herr Rexrodt macht es so wie in seinen alten Ministerzeiten: Er beschimpft den Standort Deutschland, für den er damals als Bundeswirtschaftsminister Verantwortung getragen hat. Es bleibt den Deutschen aber immerhin ein Trost: Sie haben richtig gewählt und wir werden dieses Land in eine gute Zukunft führen. ({26})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir erinnern uns: Noch kurz vor der Bundestagswahl hat die Koalition erklärt, es werde mit ihr keine Steuererhöhungen geben. Selbst der Bundeskanzler hat im Juli 2002 verkündet - ich darf ihn wörtlich zitieren -: Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deswegen ziehen wir sie auch nicht in Betracht. ({0}) Recht hat der Herr Bundeskanzler. Doch jetzt, wo er wieder gewählt ist, hält er sich nicht daran. ({1}) Auch der Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering hat am Anfang dieses Monats gesagt, es werde keine Steuererhöhungen geben. Das ist noch nicht lange her und ist schon jetzt hinfällig. Noch im Koalitionsvertrag vom 16. Oktober ist zu lesen, dass Steuersubventionen abgebaut und Steuerschlupflöcher geschlossen werden sollen. Aber jetzt, wenige Tage später, kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Auf der Homepage des Bundesfinanzministeriums kann man lesen, Herr Eichel, dass massive Steuererhöhungen geplant sind. Diese Aussage war nicht, wie Sie sagen, von den Septemberdaten abhängig, sondern vom 22. September, dem Wahltermin. Deshalb haben Sie das erst anschließend öffentlich verkündet. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn der Bundeskanzler Steuererhöhungen für ökonomisch unsinnig hält, dann frage ich mich, warum er bereit ist, in den kommenden vier Jahren ökonomisch Unsinniges in diesem Land verantworten zu wollen. Warum sagt der Bundeskanzler nicht Nein zu diesen Plänen, Nein zu dieser Koalitions236 vereinbarung und weist sie deutlich zurück? Er ist doch offenkundig dieser Meinung. ({3}) Mittlerweile hat man wohl selbst in der SPD erkannt, welch unsoziale Auswirkungen diese Koalitionsvereinbarung in einigen Bereichen hat. Sie haben zum Beispiel doch immer gesagt, Unternehmen müssten mehr soziales Engagement zeigen. Deswegen haben Sie wohl auch geplant, dass Spenden von Unternehmen im sozialen und kulturellen Bereich besteuert werden sollen. Mittlerweile dämmert Ihnen aber, dass Sie damit das soziale Engagement treffen und unsoziale Maßnahmen vorschlagen. ({4}) Nehmen wir das Thema Eigenheimzulage. Bauminister Stolpe erklärt mittlerweile - ich darf zitieren -, dass nochmals genau über die Änderungen nachgedacht werden müsse, wenn sie sich für die Bauwirtschaft als nachteilig erweisen. ({5}) Herr Stolpe, ich frage mich an dieser Stelle, warum diese Koalition nicht zu Ende denkt, bevor sie die Menschen und die Wirtschaft in diesem Land irritiert. ({6}) Warum geht man mit halbgaren Vorschlägen nach außen? Mit diesen halbgaren Vorschlägen gewinnen Sie keine Akzeptanz. Denken Sie erst und handeln dann und nicht umgekehrt. Mir ist das Schicksal der Menschen in diesem Land zu ernst, als dass wir damit Spiele treiben könnten. ({7}) Ganz Deutschland - das können Sie heute in der Tagespresse lesen - ist durch diesen konzeptionslosen Aktionismus vollkommen verunsichert. Die Verunsicherung, die Sie mit Ihrer Politik auslösen, kostet Arbeitsplätze und Wachstum in diesem Land. Es ist nicht so, dass Sie, Herr Eichel, mit Ihrer Politik auf das niedrige Wachstum reagieren; es ist vielmehr Ihre Politik, die zu niedrigem Wachstum und zu höherer Arbeitslosigkeit führt. Das sind die Zusammenhänge. ({8}) Wir brauchen dringend Sicherheit und klare Rahmenbedingungen für diejenigen, die in unserer Wirtschaft handeln sollen, damit Arbeitsplätze und Wachstum gesichert werden können. Ich frage mich: Wie lange haben Aussagen, die diese Regierung trifft, eigentlich Bestand? Welches Verfallsdatum hat die Unterschrift unseres Bundeskanzlers? Er hat vor weniger als zwei Wochen einen Koalitionsvertrag unterschrieben und nimmt schon jetzt Teile der Aussagen zurück. Was ist die Unterschrift unseres Bundeskanzlers an dieser Stelle eigentlich wert? ({9}) Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Rücken Sie endlich mit der vollen Wahrheit heraus. Die Zeit des Tarnens und Täuschens muss schnellstens beendet werden. Herr Poß hat in seiner Rede bereits angekündigt, dass der nächste Einschnitt kommt. Die Steuerschätzung, die schon in zwei bis drei Wochen auf uns zukommt, wird neue Finanzierungsaufgaben aufdecken. Welche Finanzierungsaufgaben sind das? Ist es nicht unsolide, den Menschen zu verkünden, Sie als Koalition hätten ein Programm, und ihnen dann zu eröffnen, in zwei Wochen würden neue Programme nötig sein und es würden neue Maßnahmen ergriffen werden müssen? ({10}) Frau Scheel hat so wunderschön gesagt, dass man an dieser Stelle eine solide Politik machen sollte. Ich frage mich, Frau Scheel: Was hat das eigentlich mit Solidität zu tun, wenn das, was Sie hier vorlegen, in zwei bis drei Wochen schon wieder Makulatur ist? ({11}) Ich glaube, die Aussage, die einige Kollegen in den letzten beiden Tagen hier schon gemacht haben, dass wir nach dem 2. Februar - nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen - neue Überraschungen erleben werden, ist eher Realität als Vermutung; wir sollten uns darauf einstellen. ({12}) Herr Poß hat gesagt, diese Koalition reagiert gut auf die Lage. Herr Poß, ich will Ihnen darauf antworten: Wir brauchen keine Koalition, die nur auf die jeweilige Lage reagiert, sondern wir brauchen dringend eine Koalition mit einer Zukunftsvision, mit der deutlich gemacht wird, wohin sich dieses Land entwickeln soll. ({13}) Eine Zukunftsvision würde verlangen, dass man Signale des Aufbruchs setzt. Der Kollege Merz hat es heute Morgen angesprochen: weniger Bürokratie, niedrigere Steuersätze, Programm „3 mal 40“, Entriegelung des Arbeitsmarkts und mehr Flexibilität - das wären Visionen für die Zukunft. Sie sagen aber lediglich, dass Sie auf die Dinge, die auf Sie zukommen, reagieren. Nehmen Sie jetzt einmal das Herbstgutachten, das Sie ja teuer bezahlt haben; 600 000 Euro haben Sie dafür hingelegt. Darin finden Sie eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie man Deutschland wieder an die Spitze in Europa führen könnte. Herr Spiller, Sie fragen zu Recht, was die Union will. ({14}) - Ich habe eben einige Maßnahmen angesprochen. ({15}) Wir wollen schlicht und ergreifend weg vom letzten Platz in Europa. Wir haben den Anspruch, dass Deutschland in Europa wieder Spitze ist. ({16}) Ich glaube, dass Steuererhöhungen, wenn man vom Tabellenende an die Spitze will, der vollkommen falsche Weg sind. Die Wissenschaftler fordern Sie in dem Herbstgutachten eindringlich dazu auf, endlich das seit langem geforderte Ziel, die Abgabenlast zu vermindern, anzugehen. Frau Hermenau hat so schön gesagt, dass Sie jetzt eine Kultur der Konsolidierung entwickeln wollen. ({17}) Ich darf aus dem Herbstgutachten zitieren: Die Konsolidierungsbemühungen erwecken bislang jedoch nicht den Eindruck von zielstrebiger Gestaltungskraft. Es ist noch nicht gelungen, die angestrebte Begrenzung der Staatsausgaben durch verlässliche Einsparkonzepte abzusichern. Frau Scheel, ist das der Kurs, den Sie fortsetzen wollen? Das ist das, was Herrn Eichel für die Politik der letzten drei Jahre an dieser Stelle ins Stammbuch geschrieben wird. ({18}) Außerdem wird davor gewarnt, die privaten Haushalte und die Unternehmen in den kommenden Jahren noch weiter mit Abgaben und Steuern zu belasten. Die Institute weisen darauf hin, dass wir durch diese Politik Bremsspuren in der Konjunktur bekommen werden. Ich habe selten ein Gutachten gelesen, in dem dem Auftraggeber für seine verfehlte Politik Zeile für Zeile eine Ohrfeige erteilt wird. ({19}) Anstatt einer neidorientierten Politik, die nur darauf achtet, wie man Neid in der Gesellschaft schüren kann, brauchen wir dringend eine wachstumsorientierte Steuerpolitik; als Stichwort nenne ich das Programm „3 mal 40“. ({20}) Ich komme zu den Steuervergünstigungen, die Sie angesprochen haben. Auch dazu steht etwas im Herbstgutachten. ({21}) Dort heißt es: Der Abbau von Steuervergünstigungen ist geboten, die hieraus erzielten Mehreinnahmen sollten jedoch zur Finanzierung niedriger Steuersätze genutzt werden. Herr Bundesfinanzminister, ich glaube, Sie sollten nicht versuchen, von dieser Kernaussage abzulenken, indem Sie plötzlich darauf hinweisen, dass wir über den gesamten Tarifverlauf reden müssen. Natürlich müssen wir nicht nur über den Spitzensteuersatz, sondern auch über den gesamten Tarifverlauf reden; darin sind wir uns einig. Man sollte von der Kernaussage aber nicht durch Neidargumente ablenken wollen. Klassenkampf-Ideen taugen aber nicht für eine vernünftige Steuerpolitik. ({22}) Ich will hier klar und deutlich sagen, was unsere Linie dabei ist: Wir wollen eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. ({23}) Diese Verbreiterung wollen wir aber nur in Verbindung mit einer Absenkung der Tarife. Das ist unsere Politik; diesen Zusammenhang kann man nicht auflösen. ({24}) Herr Poß, Sie wollen die Bemessungsgrundlage verbreitern, also Steuererhöhungen durchführen, ohne den Tarifverlauf abzusenken. ({25}) Diese Steuererhöhungen wird es mit uns nicht geben. ({26}) Wenn wir uns die Ausgangsposition in dieser Legislaturperiode anschauen, sehen wir, dass die Steuerquote in den vergangenen vier Jahren gestiegen ist. Die Abgabenquote - inklusive der Sozialversicherungsbeiträge - steigt ebenfalls. Wenn Sie sich die Felder Gesundheit und Rente anschauen, wird Ihnen schon jetzt klar, dass die Abgabenquote auch im nächsten Jahr weiter steigen wird. ({27}) Deshalb ist es nicht nur eine gefühlte Teuerung, sondern die Bürger spüren eine durch Ihre Politik tatsächlich verursachte Teuerung. Die steuerpolitischen Eingriffe der letzten vier Jahre haben neben der absoluten Höhe der Quoten dazu geführt, dass es zu einer massiven Umverteilung gekommen ist. Verlierer in den vergangenen vier Jahren war der Mittelstand. Der Mittelstand ist mit allerlei Dingen belastet worden, die Sie eingeführt haben. ({28}) Sie kündigen immer an, dass die Entlastungen in der Zukunft kommen. Aber dabei tun Sie so, als ob das, was Sie für 2004 und 2005 ankündigen, schon heute Realität ist. ({29}) Es ist einfach nicht legitim, künftige Entlastungen mit der tatsächlichen Situation von heute zu vergleichen. Dies führt die Menschen und die Politik in die Irre. ({30}) Sie haben erklärt: In 2004 und in 2005 wird der Mittelstand endlich entlastet werden. Diese Ankündigung ha238 ben Sie, Herr Eichel, gemacht. Ich sage Ihnen: Diese Absenkung der Steuersätze für den Mittelstand wird nicht kommen. Ich prophezeie Ihnen, dass Sie dieses Versprechen nicht einlösen werden, und zwar mache ich das aufgrund der Politik, die Sie in den vergangenen vier Jahren betrieben haben. Immer dann, wenn auf Sie eine neue Herausforderung zugekommen ist, haben Sie nur eine Antwort gehabt: Steuererhöhungen. Ich erinnere an die Terroranschläge vom 11. September des vergangenen Jahres. Damals wurden für die Terrorbekämpfung die Tabaksteuer und die Versicherungsteuer erhöht. Jetzt lesen wir, dass das Geld, das Sie mit dieser Begründung ab 1. Januar 2003 dem Bürger aus der Tasche ziehen, gar nicht für die Terrorbekämpfung verwendet wird. Das ist an dieser Stelle Tarnen und Täuschen. Sagen Sie endlich die Wahrheit! ({31}) Wie war das bei der Flutkatastrophe? Als erstes Mittel wurde nach Steuererhöhungen gerufen. Sie haben einfach die Entlastung zeitlich nach hinten verschoben und die Körperschaftsteuer erhöht. Nachdem Sie nach der Wahl endlich die Katze aus dem Sack lassen und einräumen mussten - ich habe es vorhin angesprochen -, dass die Einnahmen nicht den aktuellen Finanzbedarf des Bundes decken, kommen Sie mit einem Nachtragshaushalt und der Ankündigung Ihrer Geheimwaffe: Steuererhöhungen. In dieser Diskussion über Steuererhöhungen möchte ich darauf hinweisen, dass eine Reihe von Steuererhöhungen bereits beschlossen sind und am 1. Januar 2003 in Kraft treten. Auch das muss dem Bürger ab und zu in Erinnerung gerufen werden. Ich nenne die nächste Stufe der Ökosteuer, die bereits beschlossene Sache ist und am 1. Januar 2003 in Kraft tritt. Auch die Erhöhung der Tabaksteuer ist bereits beschlossen und tritt am 1. Januar 2003 in Kraft. Ein anderes Stichwort ist die Erhöhung der Körperschaftsteuer um 1,5 Prozent bei den Kapitalgesellschaften, die bereits beschlossen ist und am 1. Januar 2003 in Kraft tritt. Die Entlastung für den Mittelstand ist um ein Jahr verschoben worden und kommt eben nicht am 1. Januar 2003. Für die mittelständischen Unternehmen, die mit dieser Entlastung schon gerechnet haben, ist es eine Erhöhung der Steuerlast. Dies tun Sie vor dem Hintergrund von 40 000 Unternehmensinsolvenzen und über 4 Millionen Arbeitslosen in diesem Jahr. Jetzt planen Sie weitere Steuererhöhungen. Ich nenne einmal das Beispiel Erdgas. Gerade die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat in allen Diskussionen, an denen ich teilgenommen habe, immer erklärt, wie umweltfreundlich Erdgas im Vergleich zu anderen fossilen Brennstoffen sei. ({32}) Man hat also geradezu für die Nutzung von Erdgas geworben. Jetzt hingegen erhöht die Koalition unter Beteiligung der Grünen die Besteuerung von Erdgas. Was hat das mit Konsistenz zu tun? Was ist das für ein Zukunftsprogramm, erst die Nutzung von Erdgas zu empfehlen und dann die Steuern auf Erdgas zu erhöhen? Ich nenne das Stichwort Ökosteuer. Auch dort hat der Bundeskanzler angekündigt: Es gibt bei der Ökosteuer keine weitere Stufe mehr. - Nach der Wahl wird plötzlich in der Koalitionsvereinbarung festgehalten: Wir müssen Ausnahmetatbestände für Unternehmen streichen. Das ist nichts anderes als Tarnen und Täuschen. Vor der Wahl wird anders geredet, als nach der Wahl gehandelt wird. Die Unternehmen können sich nicht auf das verlassen, was Sie hier ankündigen. Ich möchte noch auf das Thema Eigenheimzulage in der Koalitionsvereinbarung zu sprechen kommen. Sie wollen sich bei der Eigenheimzulage auf Familien mit Kindern konzentrieren. Nun muss man sich natürlich die Frage stellen: Was sind bei Ihnen Familien mit Kindern? Wenn eine Familie die Förderung behalten will, die sie beim Neubau seither hatte, dann braucht sie mindestens fünf Kinder. Wenn sie sich besser stellen will, dann braucht sie sechs Kinder. Ich frage mich: Ist das eine Konzentrierung auf Familien? Was sind bei Ihnen überhaupt Familien? Nach meiner Meinung wird damit ein massiver Schlag gegen die Familien geführt. ({33}) Ich will Ihnen das vorrechnen. Nehmen Sie eine Familie mit zwei Kindern, die sich für einen Neubau entscheidet. Diese Familie wird in Zukunft 13 500 Euro weniger an Förderung als bisher erhalten. Das sind 26 000 DM - um das noch einmal in der alten Währung zu sagen -, die man dieser Familie mit zwei Kindern wegnimmt. Das fällt bei Ihnen unter Konzentrierung auf Familien. Das ist ein Schlag gegen Familien, aber keine Familienpolitik. ({34}) Ihr ehemaliger Kollege Wiesehügel - ich bedaure in diesem Zusammenhang, dass er nicht hier ist; denn er würde dieser Debatte sicherlich mit Interesse folgen - hat in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der IG BAU zu Recht darauf hingewiesen, wie katastrophal die Lage in der Bauwirtschaft ist. Wir haben in den vergangenen sechs Jahren in diesem Sektor rund 500 000 Arbeitsplätze verloren. Dieser Verlust ist zu einem großen Teil durch politische Maßnahmen verursacht worden, zum Beispiel im Mietrecht. Ich nenne nur die Konditionen im freien Mietwohnungsbau und die bereits eingetretenen Verschlechterungen bei der Eigenheimzulage. All dies haben Sie politisch in die Wege geleitet. Sie haben Anteil daran, dass 500 000 Menschen ihre Arbeitsplätze verloren haben. Aber statt diesen Weg endlich zu verlassen, kündigen Sie weitere Verschlechterungen an, und zwar nicht nur bei der Eigenheimzulage, sondern auch für den freien Mietwohnungsbau und durch weitere steuerliche Maßnahmen. Das ist der falsche Weg, Herr Bundesfinanzminister. Kehren Sie um und gestalten Sie eine Politik für und nicht gegen Arbeitsplätze! ({35}) Lassen Sie mich das Stichwort „Mindeststeuer für Unternehmen“ aufgreifen. Bei diesem Vorschlag handelt es sich meiner Meinung nach um einen kläglichen Versuch, Ihre verkorkste Unternehmensteuerreform zu retten. Als Folge Ihrer Unternehmensteuerreform sind die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer in diesem und im vergangenen Jahr völlig eingebrochen. Das Aufkommen ist seit vergangenem Jahr sogar negativ, das heißt, den Betrieben wird mehr rückerstattet, als der Staat an Steuern einnimmt. ({36}) - Dem Staat wird massiv Liquidität entzogen, Herr Binding, und das ist eine Folge Ihrer Politik. ({37}) Ich halte diese Konsequenz für genauso wenig akzeptabel wie Ihren Vorschlag für eine Lösung. Wir können es nicht hinnehmen, dass dem Staat Liquidität entzogen wird. Wir brauchen in diesem Land aber auch keine Mindestbesteuerung. Das ist der falsche Weg. Wenn Sie ihn tatsächlich einschlagen, dann haben Sie den Titel „Murks-Brothers“, der Ihnen in der vergangenen Woche von einem großen deutschen Magazin verliehen wurde, tatsächlich redlich verdient. ({38}) Sie haben über die Lage der Länder und Kommunen gesprochen, Herr Bundesfinanzminister. Ich erinnere daran, dass Sie in der vergangenen Wahlperiode die Gewerbesteuerumlage erhöht haben. ({39}) Dadurch sind die Kommunen massiv geschädigt worden. Im Bundesrat ist ein entsprechender Antrag vorgelegt worden, um diese Maßnahme zu korrigieren. Wenn Sie auf die Initiative des Bundesrates eingehen, bitte ich Sie: Kommen Sie auf uns zu und helfen gemeinsam mit uns den Kommunen, damit zumindest bei der Gewerbesteuer und der Gewerbesteuerumlage der Finanzierungsspielraum der Kommunen wieder vergrößert wird. ({40}) Als weiteren Punkt möchte ich die Gemeindefinanzreform ansprechen. Sie haben die Einsetzung der Kommission zur Gemeindefinanzreform bis kurz vor der Bundestagswahl aufgeschoben. Zurzeit geht es durch die Medien, dass Sie es nicht schaffen werden, im nächsten Jahr zu Ergebnissen zu kommen, sondern dass erst im übernächsten Jahr Entscheidungen getroffen werden. Auch dies ist ein Vergehen an den Kommunen. Die notwendigen Investitionen, die Sie zu Recht angesprochen haben, kommen auf kommunaler Ebene nicht zustande, wenn es uns nicht gelingt, für die Kommunen eine solide Finanzbasis zu entwickeln. ({41}) Deshalb ist Handeln geboten. Sie müssen in diesem Bereich Ihr Engagement verstärken. ({42}) Hinsichtlich der Mindestbesteuerung meine ich, es geht nicht an, dass der Staat nur noch an den Gewinnen, aber nicht an den Verlusten der Unternehmen teilhaben will. Außerdem frage ich mich, mit welcher Begründung bei der Einführung der Mindestbesteuerung auch der klassische Mittelstand belastet werden kann. Denn die Personenunternehmen sind doch für die Ausfälle bei der Körperschaftsteuer in keinem Fall verantwortlich; sie sind vielmehr genauso betroffen wie die anderen Steuerzahler. Das heißt, diejenigen, die bereits bestraft worden sind, würden durch die Mindeststeuer noch einmal bestraft. Sie haben ausgeführt, dass wir in Deutschland mehr Selbstständigkeit brauchen. Ich stimme Ihnen darin zu. Wir brauchen in Deutschland tatsächlich eine neue Kultur der Selbstständigkeit. Dann dürfen Sie aber kein Scheinselbstständigengesetz verabschieden und durch die Mindestbesteuerung Existenzgründer bestrafen, indem die Anfangsverluste nicht mehr entsprechend abgesetzt werden können. Das ist doch der falsche Weg. ({43}) Von vielen Kollegen ist mit Recht das Stichwort Demographie angesprochen worden. Wir haben im Zusammenhang mit diesem Thema die Bürger aufgefordert - darin sind wir einer Meinung -, mehr für die Altersvorsorge zu tun, beispielsweise durch Aktienfonds, Immobilien, Wohneigentum oder Lebensversicherungen. Was aber tun Sie? - Nachdem wir die Bürger ermutigt haben, in dieser Weise vorzugehen, schlagen Sie eine Besteuerung dieser Anlagen in Form einer Wertzuwachssteuer vor. Es ist doch ein völlig falsches Signal, wenn derjenige, der selbst etwas für die Altersvorsorge tut, dafür bestraft wird. ({44}) Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass eine Wertzuwachssteuer nicht mit einer kleinen Änderung von Fristen in den Steuergesetzen gleichzusetzen ist. Eine solche Steuer bedeutet vielmehr einen Systemwechsel im deutschen Steuerrecht. Deshalb bitte ich darum, darüber nicht unter dem Aspekt veränderter Fristen oder Stichtage, sondern unter dem Aspekt des Systemwechsels zu diskutieren. - Frau Präsidentin, ich versuche, zum Ende zu kommen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Sie müssen ganz schnell zum Ende kommen.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir müssen grundsätzlich die Leistungsträger unseres Landes ermutigen, etwas zu tun. Es muss in unserem Land mehr Freiheit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung geben. Der Staat darf die Menschen dort, wo Probleme auftauchen, nicht erdrücken, lähmen und ihnen die Freiheit zum eigenverantwortlichen Handeln nehmen. Das ist der falsche Weg. Darüber müssen wir streiten. Ich freue mich auf die Auseinandersetzungen der kommenden Monate. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne darf ich sagen, dass ich Abgeordnete der PDS bin. Mit Genehmigung der Frau Präsidentin möchte ich meine Rede mit einem Zitat beginnen. In der Nr. 44 des „Stern“ schreibt Sozialrichter Jürgen Borchert: „Reichtum ist wie Mist: Nur fein verteilt leistet er gute Dienste.“ Rund 26 Prozent des gesamten deutschen Privatvermögens konzentrieren sich derzeit auf nur 365 000 Personen. Das ist lediglich ein halbes Prozent der Bevölkerung. Allerdings ist es nicht unbedingt so, dass diese Menschen nicht am Gemeinwesen mitwirken wollen. Zwölf Millionäre haben vor der Bundestagswahl Bundeskanzler Gerhard Schröder einen Brief geschrieben, in dem es heißt - ich darf noch einmal mit Genehmigung der Präsidentin zitieren -: Das Zahlen von Steuern gehört zu den Grundpfeilern der sozialen Marktwirtschaft. Es beschämt uns, wenn der Eindruck entsteht, wir Vermögenden sehen uns wegen unseres Reichtums von der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung ausgenommen. ({0}) So wie diese zwölf Millionäre gibt es wahrscheinlich viele wohlhabende Menschen in der Bundesrepublik, die diese Ansicht teilen. Die Losung „Fordern und Fördern“ habe ich bisher von dieser Regierung immer nur im Zusammenhang mit Kürzungen der Arbeitslosenunterstützung gehört. Warum sollte man nicht auch sehr wohlhabende Menschen fordern und fördern? Die Wiedereinführung der Vermögensteuer ist eine legitime Forderung. Aber auch Fördern ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht ironisch gemeint. Wohlhabende Menschen, die sich zum Beispiel in Form von Spenden für das Gemeinwesen einsetzen wollen, sollten in ihrem Anliegen gefördert werden. Wenn Sie sich Berlins großartige Kulturlandschaft anschauen, dann wissen Sie, dass wir in Zukunft in viel stärkerem Maße auf großzügige Spenden angewiesen sein werden, um die Kultur trotz leerer Kassen in dieser Stadt zu erhalten. Auch viele Abgeordnete, die nicht aus Berlin stammen, schwärmen ja gern von der Berliner Kultur. Tun wir also gemeinsam etwas für die Berliner Kultur! ({1}) Es gibt ein Wahlversprechen der SPD aus dem Jahre 1998, das noch nicht eingelöst wurde. Das ist die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Nun wird versucht, die Vermögensteuer über den Bundesrat wieder einzuführen. Selbstverständlich unterstützen diejenigen Länder, in denen die PDS an der Regierung beteiligt ist, also Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, gemeinsam mit den Sozialdemokraten diese Bundesratsinitiative. Aber das ist natürlich eine Sache, die auch unglücklich ausgehen kann. Denn wenn sich die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat dieser Initiative verweigert, dann kann die SPD erklären, dass sie zwar alles versucht habe, dass aber die CDU/CSU ihre gute Politik blockiert habe. Ich hoffe, dass das Ganze nicht zu einem Medienspektakel verkommt, sondern zu solider Politik wird. Ich verschweige allerdings auch nicht, dass wir von der PDS einige Ansätze, die hier vorgetragen wurden, für positiv und begrüßenswert halten. Wir können zum Beispiel die Vorschläge der Bundesregierung zur Mindestbesteuerung der Kapitalgesellschaften, zur Steuerpflicht für Veräußerungsgewinne aus Wertpapieren und zur Schließung von Steuerschlupflöchern nur loben. An der Ausarbeitung vieler Punkte, die sich die Bundesregierung jetzt vornimmt, war die PDS in der vergangenen Legislaturperiode beteiligt. Einige Vorschläge sind in der vergangenen Legislaturperiode nur von ihr in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Wenn wir für die Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Schließung von Steuerschlupflöchern plädieren, dann wird das von der konservativen Opposition gern als Schikane interpretiert; mein Vorredner sprach von einer Neiddiskussion. Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Einnahmen, um unsere sozialen Sicherungssysteme zu erhalten und zu reformieren. Wir können eben nicht die Hände in den Schoß legen und auf eine baldige Konjunkturerholung hoffen. ({2}) Auch uns ist klar, dass man die Einnahmen des Staates nicht beliebig erhöhen kann. Man muss auch Änderungen bei den Ausgaben angehen. Doch uns scheint der Weg der Bundesregierung problematisch. Die hohe Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Finanzminister Eichel ein großes Loch in seiner Kasse hat. Doch allen ist klar: Das Problem wird nicht einfach damit gelöst, dass man die Arbeitslosen bestraft, ihnen das Arbeitslosengeld kürzt und sie als mobile Arbeitsstationen übers Land schickt. Besonders im Osten ist diese Strategie grundfalsch; denn die Konsequenz dieser Strategie ist die weitere Abwanderung von qualifizierten Menschen aus dem Osten in den Westen. Das kann nicht die Lösung zur Entwicklung des Ostens sein. Die neue Bundesregierung startet ihre Arbeit mit einem Signal der sozialen Kälte und beginnt ihre Sparpolitik mit einem Angriff auf die Schwächsten der Gesellschaft, die Arbeitslosen. Dass ausgerechnet die Arbeitslosen mit Kindern fast 10 Prozent ihrer Lohnersatzleistungen einbüßen sollen, ist nicht nur sozialpolitisch völlig unverantwortlich, sondern widerspricht auch dem familienpolitischen Schwerpunkt des Koalitionsvertrages, ({3}) zumal die angekündigte Leistungskürzung bereits den ersten Bruch der Wahlversprechen der Regierungsparteien markiert. Den Gewerkschaften war bei der Diskussion der Hartz-Konzepte ein Verzicht auf Leistungskürzungen zugesichert worden und jetzt beginnt die Umsetzung der Hartz-Vorschläge ausgerechnet mit der Absenkung des Arbeitslosengeldes. Frau Präsidentin, ich möchte noch einen Punkt ansprechen, den ich für positiv und begrüßenswert halte: die Maßnahmen im Bereich der vorschulischen Kinderbetreuung. Hier haben wir ausnahmsweise die Situation, dass der Westen Deutschlands gegenüber dem Osten deutlich aufzuholen hat. Im Osten gibt es eine umfassende vorschulische Kinderbetreuung; doch das heißt nicht, dass wir für diese Aufgaben kein Geld brauchen. Sie, Herr Stolpe, wissen aus Ihrer langjährigen Arbeit als Ministerpräsident des Landes Brandenburg und aus Ihrer sonstigen Kenntnis des Ostens, dass viele Krippen und Kindergärten in den neuen Ländern sanierungsbedürftig sind. Wir brauchen also trotz eines vorhandenen hohen Standards auch im Osten Geld für die vorschulische Kinderbetreuung. ({4}) Abschließend möchte ich an die Adresse von Herrn Eichel bzw. dessen Vertreter sagen, dass ich noch etliche Einsparungsmöglichkeiten im Hause sehe. Fangen wir doch einfach einmal an -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube, Sie haben jetzt leider keine Zeit mehr, das noch auszuführen.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich bin bei meinem letzten Satz. Fangen wir doch einmal an, die milliardenschwere Beschaffung und Umrüstung der Bundeswehr als Interventionsarmee einzusparen. Orientieren wir uns in dieser Frage an unserem Nachbarland Österreich. Dann wären wir einen Schritt weiter. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen nun zu den Themenbereichen Verkehr, Bau und neue Länder. Das Wort hat zunächst Herr Bundesminister Manfred Stolpe. ({0})

Manfred Stolpe (Minister:in)

Politiker ID: 11005306

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir ist Verantwortung aufgetragen mitzuhelfen: für ein leistungsfähiges, integriertes und ökologisch belastbares Verkehrssystem, für sozialen Zusammenhalt durch lebenswerte Städte, für angemessenen Wohnraum und für den Aufbau Ost. Das ist Zukunftsarbeit, das stellt Weichen bis zum Ende des Jahrzehnts und das knüpft an eine erfolgreiche deutsche Verkehrs-, Bau- und Wohnungspolitik an. Viele in diesem Haus haben daran mitgewirkt, mehrere als Minister. Ich will meine Arbeit in Kontinuität zu gemeinsam erarbeiteten Zielen gestalten und dabei auch die erfolgreiche Arbeit von Kurt Bodewig weiterführen. Schönen Dank! ({0}) Der Aufbau Ost gehört zu dieser Politik; denn die Beseitigung der teilungsbedingten Rückstände bei der ostdeutschen Infrastruktur ist ein Schlüssel zum erfolgreichen Abschluss des Aufbaus Ost. Der Aufbau Ost ist mehr als Verkehrs-, Bau- und Wohnungspolitik. Der Aufbau Ost ist eine Aufgabe aller Ressorts. Ich werde mich dafür einsetzen, dass in der Zusammenarbeit der Bundesregierung die konkreten Hauptziele der zweiten Hälfte des Wegs zum Aufbau Ost entschlossen und ungekürzt vorangebracht werden. ({1}) Es geht darum, Ausbildung und Arbeit für Jugendliche zu schaffen, um ihnen Perspektiven in der Heimatregion zu geben und die Abwanderung abzubremsen, ({2}) Wissenschaft und Forschung in Ostdeutschland weiter verstärkt zu fördern, um regionale Wachstumskerne zu entwickeln, den Mittelstand, der das Herzstück unserer Wirtschaft ist, mit Rat und Tat zu unterstützen. Die Auftragslage muss verbessert werden, die Eigenkapitalsituation muss stabilisiert werden und gegen Zahlungsrückstände muss wirksamer vorgegangen werden können; Bundeswirtschaftsminister Werner Müller ({3}) hat dazu eine operative Beratung aufgebaut, die sich vielfach bewährt hat. Es geht ferner darum, Investitionsstrategien in Ostdeutschland langfristig auf hohem Niveau fortzusetzen. Die Erfahrung lehrt, dass insbesondere industrielle Kerne entscheidende Entwicklungshebel in benachteiligten Regionen sind. Neue Bundeseinrichtungen und Institute müssen auf absehbare Zeit vorrangig in Ostdeutschland angesiedelt werden. ({4}) Die Chancen der Osterweiterung der Europäischen Union für Ostdeutschland müssen für Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur umfassend genutzt werden. Die Zusagen zur Angleichung der Löhne und Gehälter Ost an das Niveau West bis spätestens 2007 müssen eingehalten werden. ({5}) Das ist nicht nur eine materielle Frage, sondern dabei geht es um die Gleichwertigkeit der Ostdeutschen. Zuallererst aber wollen wir gemeinsam mit Ländern und Kommunen die Folgen der Hochwasserkatastrophe beseitigen. Die Schäden sind gewaltig, aber die beglückende Solidarität in ganz Deutschland sowie die schnelle und umfassende Bereitstellung von Hilfsmitteln des Bundes sind eine gute Voraussetzung dafür, diesen schweren Rückschlag in absehbarer Zeit aufzufangen. ({6}) Allein schon aus unserem Ministerium gehen umfangreiche Hilfen in die Behebung von Hochwasserschäden an Wohngebäuden, in die Wiederherstellung der Infrastruktur in Gemeinden und in die Beseitigung der Hochwasserschäden an den Bundesverkehrswegen. In Kürze wird die Bahnstrecke Leipzig-Dresden wieder durchgängig befahrbar sein. Damit wird eine der wichtigsten Schienenverbindungen wieder geschlossen und zugleich modernisiert. Weitere umfangreiche Hilfen aus anderen Ministerien gehen an die gewerbliche Wirtschaft, an die Landwirtschaft und an kulturelle Einrichtungen. Die Hilfsprogramme werden professionell koordiniert. Doch nach wie vor gibt es Informationslücken und Unsicherheiten. Deshalb nutze ich auch hier die Gelegenheit - ich bitte um Nachsicht -, die Hochwasser-Hotline zu nennen: 01888 - 300 30 60. Der Bedarf an Information darüber, wie es funktioniert, ist immer noch groß. Aufbau Ost - ich weiß, wovon ich rede. Ich gehöre zu der Generation, die die Spaltung unseres Vaterlandes mitten durch die Familie miterlebt und miterlitten hat. Ich habe die Hoffnung im Herzen getragen, die Willy Brandt und Richard von Weizsäcker uns über die Mauer zuriefen: „Die deutsche Teilung ist nicht das Ende der Geschichte.“ ({7}) Die Hoffnung ging glücklicherweise und überraschend schnell 1989/90 auf. Nun sind wir alle gefordert, die Gnade der Geschichte zu nutzen und die Chancengleichheit aller Deutschen herzustellen. ({8}) Dabei werden Aufbau Ost und Ausbau West der Doppelhebel zur wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung Deutschlands sein. In diesem Sinne ist die Förderung der Infrastruktur Zukunftsvorsorge und Voraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft. Ich bin froh, dass unsere Ausgangsposition gut ist: Die Bundesregierung hat für ein hohes Investitionsniveau bei den Verkehrswegen gesorgt; 2003 werden es 12 Milliarden Euro sein. Hinzu kommt noch 1 Milliarde Euro aus dem „Solidarfonds Fluthilfe“. Das ist fast die Hälfte aller Investitionen des Bundes. Infrastrukturinvestitionen sind Teil einer langfristigen Vorauspolitik. Dazu gehört aber auch Planungssicherheit. Wir wollen die Zukunftsinvestitionen mit einem langfristigen Investitionsprogramm Mobilität absichern. Insgesamt werden wir noch vor Ablauf dieses Jahrzehnts 90 Milliarden Euro in die Modernisierung des Verkehrssystems investieren. ({9}) Dieses Programm besteht aus fünf Schwerpunkten. Erster Schwerpunkt: Engpassbeseitigung. Wir werden dazu gezielt Engpässe und Staus auf den am meisten belasteten Autobahnen, auf der Schiene und auf den Wasserwegen beseitigen. ({10}) Auf den Autobahnen werden wir Engpässe mit dem sechsstreifigen Ausbau von etwa 1 100 Kilometern beseitigen. Bei der Schiene können wir mit dem Programm bereits bis 2006 etwa 6 000 Schienenkilometer sanieren und etwa 500 Kilometer neu und ausbauen. Zweiter Schwerpunkt: Ortsumgehungen. Wir wollen den Bau von Ortsumgehungen beschleunigt angehen. Damit erhöhen wir die Verkehrssicherheit und die Lebensqualität in den betroffenen Kommunen. Vor allem in den neuen Ländern gibt es in dieser Hinsicht Nachholbedarf. Seit der Wiedervereinigung wurden in Deutschland etwa 350 Ortsumgehungen gebaut, etwa 260 in den alten und 90 in den neuen Ländern. Mit dem Zukunftsprogramm wollen wir den Bau von 300 Ortsumgehungen beschleunigen und dabei einen deutlichen Schwerpunkt im Osten setzen. ({11}) Dritter Schwerpunkt: Stärkung des maritimen Standortes. Kern dabei ist, dass wir die deutschen Seehäfen durch den Ausbau der Hinterlandverbindungen mit den wichtigsten Wirtschaftszentren in Deutschland verbinden. ({12}) Vierter Schwerpunkt. Mit dem „Zukunftsprogramm Mobilität“ setzen wir einen deutlichen Schwerpunkt auf Stärkung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern. Die A 14 von Magdeburg nach Schwerin, die A 72 von Leipzig nach Chemnitz, aber auch das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ 8, die Schienenverbindung von Berlin über Halle/Leipzig, Erfurt nach Nürnberg, werden damit auch investiv unterlegt und dauerhaft abgesichert. ({13}) Fünfter Schwerpunkt ist unsere Entscheidung zur Förderung der Technologie für die Magnetschwebebahn. ({14}) Wir wollen diese Spitzentechnologie weiter unterstützen. Wir werden das Zukunftsprogramm auf einer soliden Grundlage erarbeiten. Diese Grundlage ist der Bundesverkehrswegeplan. Anfang des nächsten Jahres wird der Plan vorgelegt. Für diesen Plan haben wir umfangreiche Analysen erarbeitet. Neben der Kosten-Nutzen-Analyse beachten wir auch die Umweltverträglichkeit der geplanten Maßnahmen. Besonders wichtig ist uns dabei auch die „Raumwirksamkeit“ der Maßnahmen. Mit diesem neuen Kriterium richten wir das Augenmerk auf zwei Fragen: Wie können wir strukturschwache Regionen besser anbinden? Wie stärken wir die Infrastruktur in den verkehrsbelasteten Zentren? ({15}) Es geht auch um strukturelle Reformen; denn um Mobilität dauerhaft zu sichern, brauchen wir mehr als Investitionen. Dazu gehört die LKW-Maut. ({16}) Jetzt kommt die Verordnung zur Umsetzung der Maut. Wir wollen uns an die Absprachen mit dem Güterkraftverkehrsgewerbe halten. Genauso werden wir uns an die Zusage halten, dass die Einnahmen aus der Maut zu mehr als 50 Prozent wieder in die Verkehrswege investiert werden, ({17}) und zwar in alle Verkehrsträger. ({18}) Wir brauchen die Nutzung und Vernetzung aller Verkehrsträger. Wir setzen auf die technologische Investitionskraft der Industrie, um die Emissionen weiter zu reduzieren. Wir werden die Verkehrsleittechnik weiter fördern. Dabei wird das Satellitennavigationssystem „Galileo“ eine wichtige Rolle spielen. Ab 2008 soll „Galileo“ einsatzbereit sein. Bis zu 38 Satelliten werden dann in 24 000 Kilometer Höhe auf genau festgelegten Bahnen die Erde umkreisen. Ein Meilenstein der europäischen Weltraumtechnik wird damit zur Lösung künftiger Verkehrsprobleme beitragen. ({19}) Wir wollen auch bei der Entwicklung umweltfreundlicher Kraftstoffe vorankommen. Deshalb unterstützen wir die Forschung über alternative Kraftstoffe und wir unterstützen die Markteinführung innovativer Kraftstoffe in enger Zusammenarbeit mit der Industrie. ({20}) Doch Mobilität, meine Damen und Herren, braucht Akzeptanz. Denn Tatsache ist, dass der Schutz vor Verkehrslärm immer mehr zu der zentralen Akzeptanzfrage wird. Deshalb werden wir diese Frage konzentriert in dieser Legislaturperiode anpacken: Erstens. Wir werden erstmals ein Programm zur Verbesserung des Lärmschutzes an bestehenden Autobahnen auflegen. ({21}) Zweitens. Das Programm zur Lärmsanierung an Schienen setzen wir fort. ({22}) Drittens. Wir wollen die Novellierung des Fluglärmgesetzes zum Abschluss bringen. ({23}) Basis hierfür ist das Flughafenkonzept der Bundesregierung. Das Flughafenkonzept ist zugleich auch die Basis für die Weiterentwicklung der Luftverkehrsstandorte in Deutschland, das heißt eine bessere Koordinierung der Flughafenpolitik, den gezielten Ausbau von Flughäfen, die Beachtung des Lärm- und Umweltschutzes. Hinzu kommt eine bessere Anbindung an die Schiene. Das ist zentraler Bestandteil unserer integrierten Verkehrspolitik. Die Schiene wird ihre wichtige Rolle im modernen Verkehrssystem behalten. Wir werden die Bahnreform vollenden. Das heißt auch: Die Bahn muss und wird ein wirtschaftliches Unternehmen werden. ({24}) Zuverlässigkeit, Servicefreundlichkeit, Kundenorientierung - das sind Aufgaben, die die Verkehrsunternehmen zu lösen haben. Meine Damen und Herren, eine leistungsfähige Infrastruktur heißt aber auch, dass wir lebenswerte Städte brauchen. Dazu gehört, dass wir uns auch um den sozialen Zusammenhalt kümmern. Deshalb werden wir die Städtebauförderung, das Programm „Soziale Stadt“ und das Programm „Stadtumbau Ost“ auf dem erreichten hohen Niveau fortführen. ({25}) Mir ist wichtig, dass wir das Know-how und die Erfahrungen, die wir mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ gemacht haben, nutzen, auch im Westen. Das kann dort ebenso zu einem Erfolgsmodell werden. Denn auch in den alten Ländern haben wir Städte, die mit Wohnungsleerstand umgehen müssen. Hier kann vom Osten lernen auch ein echter Vorteil sein. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird die Bildung von Wohneigentum weiter unterstützen; aber wir wollen da Veränderungen vornehmen, wo sie sinnvoll und machbar sind. Der Koalitionsvertrag macht hier eine Zielvorgabe, die unstreitig ist: Die Förderung von Neubau und Bestand soll angeglichen werden, Familien sollen stärker gefördert werden und Mitnahmeeffekte sollen weiter reduziert werden. In diesem Sinne werden wir das geltende Recht überprüfen. Dabei werden wir darauf achten, dass kein Schaden entsteht, nicht für die Haushalte und nicht für die Bauwirtschaft. ({26}) Als gleichberechtigte Wohnform neben Miete und Eigentum wollen wir das genossenschaftliche Wohnen wei244 terentwickeln. Wir haben dazu eine Expertenkommission eingesetzt. Die Ergebnisse werden wir Ende nächsten Jahres haben. Zur Sicherung der Wohnungsversorgung in Deutschland ist Wohngeld unverzichtbar. Deshalb geht es darum, für eine bedarfsgerechte Anpassung des Wohngeldes zu sorgen. Mit dem Wohngeld sorgen wir dafür, dass Wohnraum vor allem auch in den Ballungsräumen bezahlbar bleibt. Hier wird es keine Versäumnisse geben. Meine Damen und Herren, wir wollen Bauen in Deutschland einfacher machen. Das gilt für den Hochbau ebenso wie für den Tiefbau, zum Beispiel für den Bau von Straßen und Schienen. Regulierungen müssen sinnvoll sein. Wichtig ist: Notwendige Regulierungen dürfen das Bauen nicht kompliziert und teuer machen. ({27}) Deswegen wollen wir das Baugesetzbuch und das Vergaberecht überprüfen. Ziel dabei ist, bürokratische Hürden abzubauen und Investitionen zu beschleunigen. Dabei werden wir darauf achten, dass Qualität und Umweltvorsorge erhalten bleiben. Wir wollen die Marktchancen der deutschen Architekten und Ingenieure verbessern. Dazu werden wir eine Stiftung Baukultur aufbauen. Diese Stiftung wird die Qualität und Nachhaltigkeit von Bauten sowie die Leistungsfähigkeit deutscher Architekten und Ingenieure herausstellen. ({28}) Lassen Sie mich bitte abschließend noch einmal hervorheben: Aufbau Ost und Ausbau West sind für Deutschland zwei Seiten der einen Aufgabe, nämlich Zukunft sichern und den Menschen Chancen bieten. Die Grundlagen hierfür sind gelegt. Es ist wirklich zu schaffen. Wir alle sollten den Menschen Hoffnung geben. Das erwarten sie von der Politik. ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Arnold Vaatz. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Stolpe, gute Vorsätze haben wir in diesem Hause schon viele vernommen. Aber jeder, der das in den letzten Jahren miterlebt hat, musste feststellen, dass die Umsetzung derselben oft gescheitert und am Ende im Detail nicht mehr viel übrig geblieben ist. Es wurde ohne Ende gestrichen. ({0}) Es wird Ihnen, Herr Stolpe, auf diese Weise nicht gelingen, die Hoffnungen, die Sie verbreiten wollten, auch wirklich zu verbreiten. Dies gelingt Ihnen nur dann, wenn Sie den Menschen konkret sagen, wie Sie den Wunschzettel, den Sie eben vorgelesen haben, erfüllen wollen. ({1}) Wir erinnern uns: Wir hatten für den Aufbau Ost in den letzten vier Jahren einen Staatsminister im Bundeskanzleramt. Der hatte keinen eigenen Haushalt, kein Mitzeichnungsrecht und auch sonst nicht viel zu sagen. Er täuschte das Interesse der Bundesregierung an einem Aufbau Ost offenbar nur vor und streute den Menschen Sand in die Augen. ({2}) Der Wähler hat diesen Schwindel bemerkt und ihm das Direktmandat entzogen; richtig hat er gehandelt. ({3}) Nun dämmerte offenbar dem Herrn Bundeskanzler, dass durch potemkinsche Ministerien kein Staat zu machen ist. Es wurde auch Zeit, dass ihm das einleuchtete. Deshalb haben nun Sie, Herr Stolpe, die Chance. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Amt. Machen Sie etwas daraus. Ostdeutschland kann es gebrauchen. ({4}) Sie haben sich im Wesentlichen auf infrastrukturelle Fragen konzentriert. Das ist vom Prinzip her richtig und nicht zu beanstanden. Nur, in der Koalitionsvereinbarung heißt es sehr richtig, dass die in Ostdeutschland erreichte „Basis für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung“ noch nicht erreicht ist. Das wissen wir schon seit vielen Jahren; und es bleibt richtig. ({5}) Die schlechtere Infrastruktur ist sicher einer der Gründe, warum die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland noch nicht weiter fortgeschritten ist oder, genauer gesagt, warum sich die Schere zwischen Ost und West in den letzten Jahren nicht geschlossen, sondern immer weiter geöffnet hat. Ich vermisste in Ihren Ausführungen eine nüchterne Analyse dessen. ({6}) Diese Auskunft sind Sie uns schuldig. Nur wenn man die richtige Diagnose stellt, kann man damit rechnen, die richtige Therapie zu finden, ansonsten nicht. ({7}) Herr Stolpe und meine Damen und Herren von RotGrün, die Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland liegen nicht in der mangelnden Effizienz der Arbeitsvermittlung. In ganz Deutschland sind die Kosten, die die Arbeit belasten, zu hoch und in Ostdeutschland sind sie viel zu hoch. Das ist der Grund, weshalb das Wirtschaftswachstum stagniert. Es betrug in Ostdeutschland im Jahre 2001 minus 0,1 Prozent und im Jahre 2002 0,2 Prozent. Das ist zu wenig. So kann das nicht weitergehen. So entwickeln sich die Verhältnisse in Ost und West weiter auseinander. Das ist gerade das Gegenteil der inneren Einheit, die wir anstreben. ({8}) Ich erwarte, dass die Regierung den Menschen in Ostdeutschland erklärt, wie sie diese Wachstumsdifferenz umkehren will, kurz gesagt, wie sie die Tendenz wenden will. Im Koalitionsvertrag wird das nicht erklärt. Wenn es uns nicht gelingt, diese Tendenz zu wenden, dann werden immer mehr Ostdeutsche ihre angestammte Region verlassen. Es werden keinesfalls allein diejenigen sein, die nur deshalb gehen, weil sie in Ostdeutschland zu wenig verdienen, sondern es werden auch viele derjenigen sein, die in der Lage sind, ein Unternehmen zu gründen, die das in Ostdeutschland nicht tun, weil es dort unattraktiv ist, weil die Randbedingungen dort nicht stimmen. Diese Menschen werden von dort weggehen. Wir werden dort einen Kompetenzverlust erleiden, den wir nicht wettmachen können. ({9}) In Ihrer Koalitionsvereinbarung schreiben Sie, Ihr Ziel sei es, weiterhin und in vermehrtem Umfang zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Diese Aussage ist ja nicht schlecht, aber der Staat kann eigentlich nur für die Rahmenbedingungen zur Schaffung von Arbeitsplätzen sorgen. Er kann dafür sorgen, dass Arbeitsplätze entstehen können. Arbeitsplätze unmittelbar schaffen kann der Staat streng genommen nur im öffentlichen Dienst und bei staatseigenen Unternehmen. Solche staatseigenen Unternehmen gibt es. Herr Stolpe, auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass ein solches Staatsunternehmen die Deutsche Bahn AG ist. Diese hat es dahin gebracht, dass alle vier sächsischen Bahninstandhaltungswerke mit insgesamt 2 400 Beschäftigten jetzt unmittelbar vor der Schließung stehen. Dabei ist beispielsweise das Werk in Delitzsch derzeit voll ausgelastet und in der Planung für 2003 stehen 90 Prozent Auslastung. Trotzdem soll das Werk geschlossen werden. ({10}) Herr Stolpe, ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die Arbeitsplätze dort erhalten bleiben. Kommen Sie nach Delitzsch, sprechen Sie mit den Leuten und erklären Sie ihnen, dass sie weiter arbeiten dürfen. Das wäre eine Botschaft, die Hoffnung brächte. ({11}) Für wen soll der Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet, denn eigentlich noch gelten, wenn er selbst für staatseigene Unternehmen offenbar keine Gültigkeit mehr hat? ({12}) Des Weiteren lese ich in der Koalitionsvereinbarung, dass Sie in Pilotregionen integrierte Konzepte aus den Bereichen Innovation, Infrastruktur und Ansiedlungsförderung entwickeln wollen. Das klingt mir verdächtig nach Worthülsen, die ich schon tausendmal gehört habe. Wir brauchen für Ostdeutschland aber ganz konkrete Ansagen. Anderenfalls wird die Hoffnung in Ostdeutschland nicht Fuß fassen. ({13}) Es gibt konkrete Projekte. Diese erfordern ein Stück Rückgrat, möglicherweise auch einen Interessenstreit in diesem Hause. Lassen Sie mich bei meiner folgenden Darstellung mit einer Sache anfangen, die sicherlich sehr streitbefangen ist. In Kürze wird die nationale Entscheidung dafür getroffen, welche deutsche Stadt bzw. welche deutschen Städte sich für die Austragung der Olympischen Spiele bewerben sollen. Nach einer Umfrage wird von den meisten für die Sommerspiele Halle/Leipzig und für die Austragung der Segelwettbewerbe die Ostseeküste favorisiert. ({14}) Herr Stolpe, bitte tragen Sie die strukturpolitischen Argumente vor, die zu der Schlussfolgerung führen, dass eine solche Investition Ostdeutschland tatsächlich infrastrukturell nach vorn bringt. Tragen Sie auch dazu bei, dass diejenigen, die darüber zu entscheiden haben, dies in ihre Argumentation einbauen können. Das zum Beispiel wäre ein Beitrag. ({15}) Damit komme ich zu der Frage, wie die Bundesregierung zu einem weiteren Großprojekt steht. Damit spreche ich die Ansiedlung der geplanten europäischen Spallationsneutronenquelle an. Sie haben gerade gesagt, Forschungsinstitute möchten Sie vorzugsweise in Ostdeutschland angesiedelt wissen. Dies ist solch ein Forschungsinstitut. Es handelt sich hierbei um Investitionen in Höhe von 1,5 Milliarden DM und um Arbeitsplätze für mehr als 1 000 hoch qualifizierte Wissenschaftler. Herr Stolpe, wir erwarten von Ihnen, dass Sie erstens dazu beitragen, dass die Bundesregierung diese Investitionen nach Deutschland holt, ({16}) und dass Sie, wenn das geschafft ist, zweitens dazu beitragen, dass diese Investitionen nach Ostdeutschland kommen. ({17}) Wenn Sie solche Ziele vorgeben, haben Sie uns absolut an Ihrer Seite. Wir werden Sie dabei mit all unseren Kräften unterstützen. ({18}) Leider bäckt Ihr Koalitionsvertrag nur kleine Brötchen. Sie kündigen zum Beispiel ein Bundesprogramm für wissenschaftliche Kompetenzzentren an. Das hört sich gut an. ({19}) Nur, wenn man sich die Sache genauer ansieht, dann stellt man fest, dass im Gegenzug die Forschungsinitiativen „Inno-Regio“ und „Wachstumskerne“ 2004/2005 auslaufen. Offenbar ist hier nichts anderes geplant, als etwas Früheres fortzuführen und dem nur ein neues Etikett zu verpassen. Das kann natürlich nicht der neue Aufbruch in Ostdeutschland sein, auf den wir warten. Nun komme ich zum Mittelstand, den Sie selber als das Herzstück der ostdeutschen Wirtschaft bezeichnet haben. Die meisten Mittelständler in Ostdeutschland kämpfen mit einem äußerst geringen Kapitalstock um ihr wirtschaftliches Überleben. Liquidität ist für viele ein Fremdwort. Sie sorgen sich vor dem nächsten Tag und fragen sich, ob sie im nächsten Monat noch die Gehälter an ihre Belegschaft auszahlen können. ({20}) Sie wollen ihnen durch die Bewilligung von Förderkrediten aus einer Hand und durch eine billige Kreditierung durch die Hausbanken helfen. ({21}) Das haben wir schon einmal bei der Flutkatastrophe gehört. Da sagten die Häuslebesitzer: Jetzt wollen sie uns noch einen Kredit aufbrummen, sodass wir das Doppelte an Zinsen zu zahlen haben. - Das ist kein Weg. ({22}) Sie drehen fortwährend an den falschen Schrauben. Selbst mit Förderkrediten zum Nulltarif wäre vielen nicht geholfen. ({23}) Denn es sind die schon vorhin erwähnten Kosten der Arbeit, die miserable Zahlungsmoral, gegen die Ihnen in den letzten vier Jahren kein Mittel eingefallen ist, und die gegenwärtigen bürokratischen Folterinstrumente in allen denkbaren Bereichen, die den Mittelstand belasten. Damit treiben Sie die mittelständischen Betriebe in die Existenznot, schaffen Sie immer mehr Schwarzarbeit und damit verwalten Sie seit Jahren den völligen Stillstand in Ostdeutschland. ({24}) Weil dies so ist, brauchen Sie sich nicht darüber zu wundern, warum es in Ostdeutschland so wenig Unternehmer gibt. Wir brauchen aber gerade dort Unternehmen und Unternehmer. Denn die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen heißt, Arbeitsplätze anzubieten, und nicht, Arbeitslose aus der Statistik zu entfernen, indem man sie in PersonalService-Agenturen Warteschleifen drehen lässt, wie das Herr Hartz vorschlägt. ({25}) Arbeitsplätze haben mit Aufträgen und Aufträge haben mit Kaufkraft zu tun. Nun lese ich in der Presse, Sie, Herr Minister Stolpe, seien über die Kürzung der Eigenheimzulage nicht glücklich. Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. ({26}) Sie stehen damit in Ihrer Partei nicht allein. Herr Bökel aus Hessen warnt laut dpa seine Freunde in Berlin davor, auch nur im geringsten den Eindruck zu erwecken, die SPD würde den Traum eines Eigenheims für eine normale Arbeiterfamilie nicht mehr möglich machen. Der Herr Oberbürgermeister Ude aus München kündigt massiven Widerstand an ({27}) und warnt vor den Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Koalitionsvereinbarung. ({28}) Herr Stolpe, ich kann Sie nur auffordern: Ändern Sie diese Pläne! Wir unterstützen Sie dabei. Ich sage dazu noch etwas: Die Eigenheimzulage muss nicht nur ungekürzt beibehalten, sondern sogar auf die Förderung des Erwerbs von sanierungswürdigem Altbaubestand ausgedehnt werden. ({29}) Wenn Sie das täten, würden Sie sehr schnell sehen, dass damit durchaus Kosteneinsparungen verbunden sein können, nämlich dann, wenn dieser sanierungswürdige Altbau aus kommunalem Vermögen gekauft wird und die Kommunen nicht mehr auf der Sanierungsaufgabe sitzen würden und dadurch entlastet werden könnten. ({30}) Ich komme jetzt auf verschiedene Verwaltungsvereinbarungen zu sprechen. Erstens. Herr Bundesminister, Sie sind für Verkehr und Bauwesen in ganz Deutschland zuständig. Als ehemaliger Ministerpräsident von Brandenburg erinnern Sie sich sicherlich noch daran, welchen enormen Wert das von der Regierung Helmut Kohl durchgesetzte Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hatte. Dieses Gesetz soll ab 2004 nicht mehr gelten. Ich biete Ihnen erneut meine Zusammenarbeit an. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass dieses Gesetz 2004 nicht nur im Osten weiter gilt, sondern auch im Westen eingeführt wird. ({31}) Dann hätten Sie einen Beitrag dazu geleistet, dass der Westen vom Osten lernen kann. Zweitens. Gewinnen Sie Ihre grünen Partner dafür, dass die Verbandsklagerechte dort ausgesetzt werden, wo keine konkreten Rechtsverletzungen vorliegen. Dann gäbe es wesentlich kürzere Prozesse und sie könnten nicht als Verhinderungsinstrumente beim Infrastrukturaufbau missbraucht werden. ({32}) Drittens. Sie haben von Planungssicherheit gesprochen. Schaffen wir also gemeinsam mehr Planungssicherheit bei Genehmigungsverfahren! Planfeststellungsbeschlüsse sollten in Ostdeutschland nicht nur fünf, sondern zehn Jahre gelten. Damit wäre meines Erachtens mehr Planungssicherheit besonders für die Kommunen gegeben. Herr Stolpe, Sie haben angekündigt, dass es keine Kürzungen beim Aufbau Ost geben wird. Das ist das Mindeste, was wir von Ihnen erwarten können. Es gab nämlich enorme Kürzungen im Vorfeld. Ich darf daran erinnern, dass in dem Finanzplan des Bundes 2002 bis 2006 ganz andere Summen vorgesehen waren, als sie im Bundeshaushalt 2002 und im Entwurf des Bundeshaushalts 2003 veranschlagt waren. ({33}) Diese Kürzung schlägt vor allen Dingen bei der GAFörderung zu Buche. Aber auch das Programm „Kultur in den neuen Ländern“, der Goldene Plan Ost und viele andere Maßnahmen sind davon betroffen. Diese wurden mit großem Optimismus, wie er auch in Ihrer Rede durchklang, in diesem Haus verkündet, dann aber bis zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzen. Machen Sie dies nicht noch einmal! ({34}) Herr Stolpe, Sie waren zwölf Jahre lang Ministerpräsident von Brandenburg. Ich bin nicht sicher, ob Sie angesichts Ihrer Vorleistungen der richtige Mann für diesen Job sind. Ich erkenne Ihre Arbeit bei EKO oder bei Schwarzheide durchaus an. Aber im Fall des Halbleiterwerkes Frankfurt/Oder ging der Versuch, die industriellen Kerne zu retten, lange Zeit in die Hose. Es wurden Summen in Millionenhöhe ohne Erfolg eingesetzt. Dies änderte sich erst 1999 mit Beginn der großen Koalition in Brandenburg. Ich erinnere an den Flop Lausitzring. Dort wurden 120 Millionen Euro für 40 Arbeitsplätze eingesetzt. Ich erinnere ferner an Cargo-Lifter: vom Luftschiff zum Windei. ({35}) Herr Stolpe, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Amt, für das Sie sich aus dem Ruhestand haben holen lassen, nachdem der Leipziger Oberbürgermeister gekniffen hatte. Er sah offenbar keine Chance, sich in dieser Bundesregierung zu profilieren. Denn wo Mittel, Konzepte und politischer Wille fehlen, da kann man nichts gestalten. Dieses Ministerium erwartet die Rolle eines Moderators des Stillstandes. ({36}) Wenn Sie ein Moderator des Stillstandes werden wollen, haben Sie mit unserem massiven Widerstand zu rechnen. ({37}) Wenn Sie tatsächlich nach Wegen suchen, den Abstand zwischen Ost und West zu verringern, dann können Sie mit unserer Hilfe rechnen. Jetzt haben Sie eine Schonfrist von 100 Tagen. Nach dieser Zeit sehen wir einmal, was aus Ihren Vorstellungen geworden ist. Vielen Dank. ({38})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobilität ist Bewegungsfreiheit, und zwar eine Freiheit, die im Osten unseres Landes - das sollten wir nie vergessen - als Reisefreiheit friedlich erkämpft worden ist. In einer offenen Gesellschaft ist Mobilität eine Grundbedingung für individuelle Entfaltung und soziale und wirtschaftliche Teilhabe. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite lautet: Mobilität ist leider mit Verkehr verbunden, und zwar mit all seinen negativen Folgen wie enormen Infrastrukturkosten, Lärm, Landschafts- und Flächenverbrauch, CO2-Emissionen, Unfallopfern usw. Deshalb ist es die Kernaufgabe einer zukunftsfähigen, einer nachhaltigen Mobilitäts- und Verkehrspolitik, einerseits diese Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, andererseits aber die belastenden Folgen des Verkehrs zu begrenzen und zu verringern. Mit dem Konzept einer nachhaltigen Mobilität sind wir im Wahlkampf angetreten, dieses Konzept ist erfolgreich bestätigt worden und deswegen steht dieses Konzept als Leitmotiv über dem Koalitionsvertrag in Sachen Mobilität. ({0}) Der Verkehrsbereich wird damit erstmals in eine langfristig angelegte Politik der ökologischen und sozialen Modernisierung ausdrücklich einbezogen. Deshalb legt der Koalitionsvertrag einen wesentlichen Schwerpunkt auf den Ausbau der öffentlichen Vekehrssysteme und auf neue effiziente Automobiltechnik. Einer der ersten Schwerpunkte ist natürlich mehr Chancengleichheit für die Schiene. Bahn fahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss attraktiver werden, das heißt auch, Bahn fahren muss billiger werden. Dazu braucht die Bahn mehr Chancengleichheit. ({1}) Deshalb setzt der Koalitionsvertrag trotz aller Kritik, Herr Kollege Goldmann, die man an einzelnen Regelungen haben kann, insgesamt auf den Erfolg des neuen Fahrpreissystems der Deutschen Bahn, eines Systems, das insbesondere Familien und Kleingruppen Fernreisen zu Traumpreisen ermöglichen wird. ({2}) Darüber hinaus aber - das ist der einzige Punkt, an dem die Politik den Fahrpreis beeinflussen kann - wollen wir 2005 die Mehrwertsteuer auf Fernverkehrstickets mehr als halbieren, das heißt auf 7 Prozent senken, wie das im Nahverkehr übrigens schon der Fall ist. ({3}) Damit wird die Fahrkarte nochmals um ein Zehntel billiger. Das ist in Zukunft der rot-grüne Rabatt auf Fernverkehrstickets. ({4}) Das verbessert die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn und schafft zusätzlich eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass vernetzte Angebote zwischen ÖPNV und dem Schienenfernverkehr - Stichwort: Cityticket - endlich möglich werden. Auch Flüge ins europäische Ausland sollen - wie Bahnreisen - künftig mehrwertsteuerpflichtig werden. Damit übernehmen wir eine europäische Vorreiterrolle für mehr Chancengleichheit zugunsten der Bahn. Wir werden uns darüber hinaus für die Einführung einer europaweiten Kerosinsteuer sowie einer flugstreckenbezogenen Emissionsabgabe innerhalb der EU und eine weitere Differenzierung von Start- und Landegebühren nach Emissionen einsetzen. Die Investitionen bilden nach wie vor einen wichtigen Aspekt. ({5}) Dem weiterhin großen Nachholbedarf der Schiene bei Investitionen wird Rechnung getragen. ({6}) Trotz der offenkundigen Einsparzwänge im Bundeshaushalt, über die wir in diesen Tagen diskutieren, sollen die Bahninvestitionen, die Verkehrsinvestitionen generell auf dem erreichten Rekordniveau fortgeschrieben werden. Das schafft Planungssicherheit, um die Runderneuerung der Bahn konsequent fortzuführen. Damit verbindet sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Erwartung, dass die Deutsche Bahn die verfügbaren Investivmittel zeitgerecht und vollständig abruft und nachvollziehbar umsetzt. ({7}) Die Investitionen in Straße und Schiene werden auch künftig über alle Töpfe hinweg gleichgewichtig verteilt. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts - Herr Minister Stolpe, Sie haben das angesprochen - werden die Verkehrsinvestitionen auf 90 Milliarden Euro beziffert. Das bedeutet eine Fortschreibung des Rekordniveaus an Investitionen, das wir bereits in der letzten Legislaturperiode erreicht haben. Im Mittelpunkt stehen ausdrücklich - bei Straße und Schiene - die Bestandserneuerung und die gezielte Engpassbeseitigung. Auch die bereits beschlossene LKWMaut leistet ihren Beitrag ({8}) und - das hat der Minister noch einmal bestätigt - wird verkehrsträgerübergreifend zu gleichen Teilen für Straße und Schiene/Wasserstraße verwendet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verkehrswegeplanung heißt in erster Linie Fertigstellung des Bundesverkehrswegeplans. Auch hier müssen wir zum Abschluss kommen. Wir werden die vorliegenden Ergebnisse der Aktualisierung der Kostenansätze und der Bewertungskriterien in puncto Wirtschaftlichkeit, Raumerschließung und Umweltverträglichkeit in einem Abwägungsprozess bei jedem einzelnen Projekt, über das wir zu diskutieren und entscheiden haben, gründlich umsetzen. Wir wollen und müssen aber für einen fairen Wettbewerb im öffentlichen Verkehr auf der Schiene sowie im ÖPNV sorgen, und zwar nicht aus ideologischen Gründen, sondern im Interesse der Fahrgäste. Ein geregelter Wettbewerb, der sich an klar definierten Qualitätskriterien ausrichtet, sorgt für günstigere Preise und für mehr Angebote. Daher wollen wir auch im öffentlichen Verkehr für alle Anbieter einen fairen Marktzugang unter Beachtung ambitionierter und verbindlicher Umwelt-, Sozialund Qualitätsstandards. ({9}) Ebenfalls im Fahrgastinteresse liegt ein möglichst flächendeckendes Angebot von Bus und Bahn mit durchgängig gültigen Fahrscheinen und integrierter Fahrplanauskunft, um jedem Fahrgast alle Verbindungen aus einer Hand zugänglich zu machen. Deswegen wird dieser Punkt im Koalitionsvertrag eigens angesprochen. ({10}) Wenn ich sage, wir wollen den uneingeschränkten und diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur, dann meine ich keine Einbahnstraße. Dies muss für Deutschland wie für unsere europäischen Nachbarn gelten. ({11}) Dementsprechend werden wir die Ergebnisse der Taskforce Schiene und des Eisenbahnpakets der EU konsequent umsetzen, das Eisenbahnrecht entbürokratisieren und auf Symmetrie zu unseren Nachbarländern und den Nachbareisenbahngesellschaften achten. ({12}) Die Verantwortung für das Schienennetz muss nach unserer Auffassung in öffentlicher Hand verbleiben, um die Wiederholung des britischen Fehlers, nämlich die materielle Privatisierung und damit eine Ausbeutung öffentlicher Infrastruktur durch private Shareholder, zu vermeiden. Auch das Thema Magnetbahntechnik wird im Koalitionsvertrag angesprochen. Hier wird noch einmal die prinzipielle Zusage des Bundes zur Bezuschussung der beiden Länderprojekte bestätigt. Es ist allerdings für uns eine Selbstverständlichkeit, dass eine Freigabe dieser Zuschüsse durch den Haushaltsausschuss wie bei anderen Albert Schmidt ({13}) Albert Schmidt ({14}) Projekten auch nur vorstellbar ist, wenn belastbare Finanzierungs- und wirtschaftlich selbst tragende Betriebskonzepte vorgelegt werden. Dies genau ist das Problem, welches wir noch nicht gelöst sehen. Ein zentraler Punkt im Koalitionsvertrag ist eine, beinahe hätte ich gesagt: Revolution in der Binnenschifffahrt. Damit wird ein Schritt vollzogen, für den Grüne und Umweltverbände seit Jahren gekämpft haben. ({15}) Mit der nun vereinbarten Flusspolitik sind die Ausgangsbedingungen für eine naturnahe Binnenschifffahrt geschaffen worden. Dies führt zu einer Schiffbarkeit der Donau ohne Staustufen. Das Gleiche - keine Staustufen - gilt für die Saale und die untere Havel, die renaturiert werden soll. Es gibt auch eine entsprechende Festlegung für die Elbe. Flüsse bleiben endlich Flüsse und der Umbau zu aufgestauten und begradigten Wasserstraßen ist gestoppt. Dies ist insbesondere nach dem Hochwasser dieses Sommers ein wichtiges Signal. ({16}) Wir werden erhebliche Anstrengungen für mehr Energieeffizienz, für erneuerbare Energien auch im Verkehrssektor sowie die Umsetzung des Masterplans Fahrrad unternehmen. Dies sind alles Punkte, auf die ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen möchte. Lassen Sie mich abschließend sagen: Dieser Koalitionsvertrag liefert eine gute Grundlage, um die schon bisher erreichten Erfolge für eine ökologisch verträgliche Mobilität zu einem verkehrspolitischen Aufbruch zu verdichten und weiterzuentwickeln. Wir werden jedenfalls intensiv an der Umsetzung der konkreten Schritte arbeiten. Herr Minister, wir freuen uns auf eine gute und konstruktive Zusammenarbeit - hoffentlich von allen Seiten dieses Hauses - zur Umsetzung dieser Ziele. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man nehme einen Ministerpräsident a. D., ernenne ihn zum Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, gebe ihm als i-Tüpfelchen noch den Schwerpunkt Aufbau Ost und hoffe, dass damit alle Probleme gelöst werden. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es denn so einfach wäre. In der letzten Legislaturperiode haben wir das zweifelhafte Vergnügen eines einzigartigen Rekordes in diesem Ministerium gehabt: drei Minister - darunter ein Ministerpräsident a. D. - und zehn Staatssekretäre in einer Legislaturperiode. Dies hat es noch nie zuvor gegeben. Deswegen, Herr Minister: Sie sind jetzt gewissermaßen wie das Kaninchen aus dem Zylinder gezaubert und präsentiert worden, weil es keine Alternative mehr gab. Dabei wurden Sie offensichtlich selber von dem neuen Amt überrascht. So war auch die Qualität Ihrer ersten Rede hier. ({0}) Allerdings - so viel Fairness haben Sie verdient - sollten Ihnen 100 Tage zugestanden werden, bevor wir Ihre Arbeit inhaltlich kritisieren. Ansonsten kann man zu dem, was in der Koalitionsvereinbarung über die Bereiche Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie Aufbau Ost geschrieben steht, eigentlich nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Entweder es ist Lyrik nach Art eines psychologischen Selbstfindungsprozesses - „Gut, dass wir einmal darüber geredet haben“ - oder es wird an der falschen Stelle agiert, meistens zulasten der Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft. ({1}) Das ist der eigentliche Pferdefuß Ihrer Koalitionsvereinbarung. Denn es nützt ja nichts, wenn Sie, Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, Ihr 90-MilliardenEuro-Aufbauprogramm wie eine Monstranz vor sich her tragen, wenn gleichzeitig Franz Müntefering und Fritz Kuhn das Ganze öffentlich unter absoluten Finanzierungsvorbehalt stellen. Wie wollen Sie denn Finanzierungssicherheit darstellen, wenn Sie noch gar nicht wissen, wie Sie die Mittelaufbringung sicherstellen wollen? Eigentlich muss über dieses Thema der Finanzminister entscheiden. Wie verlässlich der agiert, haben wir bei den Kriterien zu Maastricht, bei dem, was er dazu vor und nach der Bundestagswahl gesagt hat, gesehen. Im Einzelnen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als CDU/CSU-FDP-Koalition haben 1998 rechtzeitig vor Ende der Periode der deutschen Seeschifffahrt mit der Einführung der Tonnagebesteuerung ein Signal gegeben. Was muss die Seeschifffahrt jetzt lesen? Einer der ersten Punkte auf Ihrer Streichliste zum angeblichen Abbau von Subventionen ist die Wiederabschaffung der Tonnagesteuer, nachdem Sie fast zwei Jahre gebraucht haben, um die Verordnung auf den Weg zu bringen, damit das Gesetz überhaupt sanktioniert werden kann. Es greift mittlerweile offensichtlich so gut, dass es wenigstens noch ein paar deutsche Schiffe gibt, die unter deutscher Flagge auf den Weltmeeren umherfahren. Aber wenn Sie die Tonnagesteuer, die den deutschen Unternehmern eigentlich nur eine Wahlmöglichkeit einräumt, jetzt wieder abschaffen, werden Sie nicht die Beschäftigung deutscher Seeleute auf deutschen Schiffen erreichen, sondern das Gegenteil. Sie werden den Trend zur Ausflaggung weiter verstärken. ({2}) Das nächste Thema: Kürzung der Eigenheimzulage im Wohnungsbau. Es ist schon viel darüber gesagt worden. Bei Ihnen, Herr Minister, scheint das Hexeneinmaleins der Mathematik gegriffen zu haben. Wenn Sie weniger Geld zur Verfügung haben, dann nützt es nichts, dass Sie sagen: Wir wollen, dass die Familien im Ergebnis nicht geschädigt werden. Wenn Sie weniger Geld haben, können Sie auch nur weniger Geld ausgeben. Herr Müntefering hat gestern öffentlich bestätigt, dass es bei der Kürzung der Eigenheimzulage bleibt. Was denn nun? ({3}) Hat der Fraktionsvorsitzende der SPD Recht oder wissen Sie als Minister bereits, wie Sie Ihre Aussage im zukünftigen Haushalt in Heller und Pfennig umsetzen können? ({4}) Bereits jetzt gibt es Berechnungen von Unternehmen, die die Konsequenzen der Kürzung der Eigenheimzulage für die Arbeitsplätze ausdrücken. Die Einschränkung der Eigenheimzulage wird zum Beispiel laut Verband Klimaleichtblock GmbH zu 250 000 zusätzlichen Arbeitslosen führen, ({5}) die Abschaffung der degressiven Abschreibung auf vermietete Gebäude zu weiteren 50 000 und die Aufhebung der bisherigen Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen bei Immobilien zu zusätzlichen 100 000 Arbeitslosen. Eigentlich waren Sie ja angetreten, sich an der Zahl der Arbeitslosen messen zu lassen. Offensichtlich haben Sie die Skala aber umgedreht: Sie wollen sich nach oben hin messen lassen und da einen neuen traurigen Rekord aufstellen. Thema Bahn: Der Koalitionsvertrag weist aus meiner Sicht und aus Sicht der FDP den Weg zurück in die Staatsbahn. Es klingt unheimlich gut, wenn Sie, Herr Kollege Schmidt, andeuten, die Reduzierung der Mehrwertsteuer ab 2005 auf Reisen über 150 Kilometer sei der rotgrüne Rabatt. Ganz abgesehen davon, dass ich gerne einmal wissen würde, ob es sich mit dem deutschen Rabattgesetz vereinbaren lässt, dass ein rot-grüner Rabatt auf der Fahrkarte steht, ({6}) verbinden Sie dieses Rabattangebot mit dem Zwang für die Bahn, diese Mehrwertsteuerreduzierung tatsächlich im Fahrpreis an die Kunden weiterzugeben. Wenn ich die Bahnreform richtig begriffen habe, die damals auch mit Zustimmung von SPD und Grünen beschlossen wurde, dann wollten wir uns aus wirtschaftlichen Entscheidungen der Bahn heraushalten. Jetzt fangen Sie wieder an, der Bahn Vorschriften für ihre Preise zu machen. Dann wäre es doch konsequenter, die Bahn gleich wieder komplett in die Staatshoheit zurückzunehmen. Wir zahlen bereits derzeit über alle Ebenen hinweg mehr Geld an die Deutsche Bahn, als es 1992, auf dem Höhepunkt der Bahndefizitrisiken in der Vereinigung von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn, den Steuerzahler gekostet hat. ({7}) Der ewige Kampf um die Trennung von Netz und Betrieb sowie um mehr Wettbewerb auf der Schiene wird von Ihnen zugunsten der Bahn und zulasten der Mitbewerber so geführt, dass im Endeffekt alles darauf angelegt ist, wirkliche Konkurrenz auf dem deutschen Schienennetz zu verhindern. Sie bauen das Schienennetz nach den Geschäftsplänen der Deutschen Bahn aus. Ich freue mich, dass auch Sie mittlerweile erkannt haben - ich war der Erste, der das öffentlich gesagt hat, und wurde dafür von Ihnen noch kritisiert -, dass die Bahn nicht in der Lage ist, das ihr zur Verfügung gestellte Geld auch tatsächlich zeit- und bedarfsgerecht auszugeben. Ich höre jedes Jahr seit diesem Zeitpunkt, dass es die Bahn wieder nicht geschafft hat, das Geld auszugeben. Wahrscheinlich wird es auch in diesem Jahr so sein. Deswegen sollte man über dieses Thema nochmals neu nachdenken. ({8}) Zum Thema LKW-Maut: Herr Stolpe, vor Ihrem neuen Ministerium stand, als Herr Bodewig noch Minister war, ein großes Plakat mit der Aussage: „LKW-Maut - Unser Weg aus dem Stau!“ Hinter diesem Satz stand ein Ausrufezeichen und kein Fragezeichen. Ich gehe davon aus, dass Sie das tatsächlich geglaubt haben. Nur ergibt sich mir nicht schlüssig, meine Damen und Herren, wie Sie zu diesem Ergebnis kommen. Wie soll diese LKW-Maut, die Sie ansetzen, auch nur annähernd ein Weg aus dem Stau sein? Ganz zu schweigen davon, dass die Logistikprozesse in Deutschland offensichtlich anders laufen, als Sie meinen. Es wird Ihnen nicht gelingen, mit der ohne Not geborenen Verteuerung eines Verkehrsträgers, nämlich des Verkehrs auf der Straße, zu erreichen, dass ein anderer Verkehrsträger, der offensichtlich Probleme hat, logistikfähig wird und dass tatsächlich mehr Güter auf die Schiene verlagert werden. ({9}) Das alles sage ich vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Diese stellt uns wegen der Sozialkosten und der Löhne in den dortigen Ländern vor ganz neue Herausforderungen. Die Qualität der Transporte wird dort ähnlich sein. Ich sage Ihnen voraus: Sie legen auch auf diese Weise die Axt an die Wurzeln des deutschen Transportgewerbes. Sie werden dadurch erreichen, dass diejenigen, die es sich leisten können, ihre Fahrzeuge ausflaggen und dass sich diejenigen, die es sich nicht leisten können, still und leise aus dem Markt verabschieden werden. Denn die Menge der Transportunternehmer ist zu klein, als dass der Kanzler aufnahme- und werbewirksam mit dem Hubschrauber einfliegt und eine Bürgschaft hinterlegt wie bei Holzmann oder anderen. Ein letztes Wort zum Thema Aufbau Ost. ({10}) Sie haben vorhin angesprochen, der Stadtumbau Ost solle auf hohem Niveau fortgeführt werden. Wo aber kein Niveau ist, kann man es auch nicht fortführen. ({11}) Fangen Sie erst einmal an, das Thema umzusetzen. Lassen Sie uns zu diesem Thema eine Bestandsaufnahme machen, die konkret etwas aussagt. Lassen Sie uns Verbesserungsmöglichkeiten beim Wohnungsmarkt durchgehen. Die FDP hat in der letzten Wahlperiode aus ihrer Sicht wegweisende Konzepte zu diesem Thema vorgelegt, ({12}) auch was den Leerstand angeht. Sie haben sich dieser Einsicht bisher verweigert. Wir bleiben dabei: Sie werden ohne Rücksicht auf Verluste diese Spirale weiter drehen, im Übrigen auch dadurch, dass Sie weitere Stufen der Ökosteuer beschließen. Ich glaube, die FDP hatte und hat im Bereich Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie beim Aufbau Ost die besseren Konzepte. Das werden wir beweisen. Danke sehr. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den Beiträgen der Opposition ist es wieder einmal klar und deutlich geworden: Die Wähler haben richtig entschieden. ({0}) Verkehrspolitik, Bau- und Wohnungspolitik sowie der Aufbau Ost sind bei Rot-Grün sehr gut aufgehoben. Das war in den letzten vier Jahren so und gilt auch für die Zukunft. ({1}) Zu Beginn der letzten Legislaturperiode hat die rotgrüne Bundesregierung mit der Zusammenlegung der beiden Häuser Verkehr und Bau der engen Verknüpfung von Verkehr- und Raumordnungsfragen Rechnung getragen. Die Erweiterung um den Schwerpunkt Aufbau Ost ist eine richtige und logische Folge der bisherigen Arbeit. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, unterstützen, dass sich dieser Zuständigkeitsbereich jetzt ganz deutlich in diesem Ministerium wieder findet. Angriffe gegen Rolf Schwanitz muss ich natürlich zurückweisen. Der Aufbau Ost ist mit seinem Namen über vier Jahre hinweg verbunden gewesen. ({2}) Das war eine gute Zeit für den Osten. Ich danke ihm von dieser Stelle. ({3}) Der Aufbau Ost ist aber auch verbunden mit dem jetzigen Minister, mit Manfred Stolpe. Wir freuen uns, Herr Minister Stolpe, auf die Zusammenarbeit. Wir sind uns sicher, dass du eines nicht wirst, nämlich ein Moderator des Stillstandes. Du wirst ganz klar ein Motor für den Aufbau Ost und für einen Ausbau West sein. Daran werden wir mithelfen. ({4}) Mobilität trägt entscheidend zur Verbesserung der Lebensqualität der Menschen bei. Mit der Globalisierung haben sich die Distanzen verändert. Mobilität wird zunehmend auch ein entscheidender Standortfaktor. Bei der Ansiedlung eines neuen Unternehmens zählt nicht zuletzt eine leistungsfähige Infrastruktur zu den zentralen Entscheidungsmotiven. Deshalb werden wir die Investitionen in Infrastruktur trotz der angespannten Haushaltslage auf dem erreichten Rekordniveau fortsetzen. Damit leisten wir gleichzeitig einen Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze; denn durch 1 Milliarde Euro können etwa 25 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert werden. Durch die Koalitionsvereinbarung haben wir daher deutliche Wachstumsimpulse im Verkehrsbereich und gleichzeitig klare Signale für den Arbeitsmarkt gesetzt. ({5}) Dieser Bereich ist von keiner Haushaltssperre betroffen. Ich denke, das sollte man noch einmal deutlich sagen. Wir setzen auf Investitionen im Verkehrsbereich. Die Globalisierung der Märkte, die europäische Integration und die Zunahme des Handels mit Osteuropa - all dies sind Faktoren, die das Verkehrsaufkommen erheblich anwachsen lassen werden. Dies stellt hohe Ansprüche an die Verkehrspolitik und an das wichtige Transitland Deutschland. Über die EU-Osterweiterung wird in der Mitte dieser Legislaturperiode entschieden. Deshalb beeinflusst Europa unsere verkehrspolitischen Schwerpunkte: den Aufbau und den Erhalt einer umweltverträglichen Verkehrsinfrastruktur, die Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen und die Neugestaltung des Schienenverkehrs in Europa. Nun kann man über die Bahn und den Schienenverkehr in Deutschland eine lange Vergangenheitsbewältigung betreiben. Ich meine, dass wir heute auch sagen sollten, in welche Richtung wir in diesem Bereich weiterarbeiten werden. Der Schienenverkehr in Europa steht vor einer grundlegenden Neugestaltung. Nach Jahrzehnten der europäischen Kleinstaaterei im Bahnsektor wird der Zugang zum grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr auf einem noch näher zu bestimmenden Netz ab dem kommenden Jahr gewährleistet. Wir werden in den kommenden Monaten mit der parlamentarischen Beratung eines entsprechenden Transformationsgesetzes beginnen. Das ist der erste Schritt, dem bis zum Jahr 2008 die völlige Öffnung der Schienennetze für den grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr folgen wird. ({6}) Ich bin sicher, dass in den kommenden Jahren weitere Liberalisierungsschritte im Schienenverkehr auf europäischer Ebene gemacht werden. Die Europäische Kommission hat erst kürzlich einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der Regelungen über den Netzzugang in allen Bereichen des Schienenverkehrs enthält. Mit dem neuen Vorschlag sollen der Bezug auf das transeuropäische Güternetz beseitigt und gleichzeitig die Beschränkung auf den Grenzübertritt aufgehoben werden. Das bedeutet, dass der gesamte Schienenverkehr in der EU mit dem Inkrafttreten und der Umsetzung dieser Richtlinie liberalisiert sein wird. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Debatte, die wir zu führen haben, zukunftsweisend ist und ich gehe davon aus, lieber Herr Friedrich, dass wir unsere Diskussion um die Trennung von Netz und Betrieb ganz hinten anzustellen haben; denn die Perspektiven, die sich dabei auftun, sind ganz andere. ({7}) Ein weiterer Schwerpunkt in dieser Legislaturperiode wird die Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplanes sein. Hier stehen schwierige Entscheidungen an. Wer das schon einmal mitgemacht hat, weiß, dass das Verfahren inhaltlich nicht einfach sein wird und dass es uns von daher auch im Ausschuss eine ganze Zeit beschäftigen wird. Bezüglich der Festlegung der Finanzierungslinie, des Verhältnisses von Aus- und Neubau zu den Vorhaben zur Bestandserhaltung und natürlich der Aufteilung auf die Regionen und Länder stehen schwierige Entscheidungen an. Ich freue mich, dass in der Koalitionsvereinbarung hierzu klar Stellung bezogen wurde. ({8}) Schwerpunkte werden der beschleunigte Ausbau der Ortsumgehungen zur Entlastung der Ortskerne und natürlich der Aufbau Ost sein. Hier sind auch alle Bundesländer gefordert, ihre Prioritäten zu setzen; denn wir wollen dies in enger Absprache mit den Ländern gemeinsam regeln. Im Zeichen des größer werdenden Europas steht auch die Entscheidung, den maritimen Standort Deutschland mit einem gezielten Ausbau der Hinterlandverbindungen und der Verbindung zu den Wirtschaftszentren in Deutschland weiter zu stärken. Für die Ostseehäfen ist die EU-Osterweiterung eine große Chance. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen, dass meine Fraktion die Initiativen von Bundeskanzler Schröder mit den Maritimen Konferenzen in Emden und Rostock und dem Maritimen Bündnis für Ausbildung und Beschäftigung als Baustein dieser Politik ausdrücklich begrüßt. ({9}) Wir stehen zum Maritimen Bündnis. Die Optimierung der Schiffssicherheit, die erst mit uns einen Riesenschritt vorangekommen ist, wird weiterhin ständiges Thema bleiben. Daran werden wir weiter arbeiten. Die Schiffbarkeit der Wasserstraßen wird unter Wahrung der Interessen der Binnenschifffahrt gewährleistet. Vor dem Hintergrund der Hochwasserkatastrophe an Elbe und Donau werden wir ganz besonders darauf achten, dass alle damit zusammenhängenden Maßnahmen den berechtigten Belangen von Umwelt und Hochwasserschutz genügen. Ein weiterer Schwerpunkt in unserer Arbeit wird das Thema Lärm sein. Eine Folge des Verkehrswachstums ist die Zunahme der Belastung der Bevölkerung durch Verkehrslärm. Mehr als 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, so eine Studie des Umweltbundesamtes, sehen ihre Gesundheit durch Verkehrslärm gefährdet. Wir stehen vor der Herausforderung, den Schutz der Bevölkerung vor der Lärmbelästigung deutlich zu verbessern. Ein erster Schritt ist mit dem Sonderprogramm Lärmschutz an bestehenden Schienenwegen bereits gegangen worden. Wir werden ein weiteres Programm auflegen, und zwar zur Lärmsanierung an bestehenden Bundesautobahnen. ({10}) Das, meine ich, ist ein wichtiges Zeichen für die Zukunft; denn es gilt, die Frage der gebündelten Verkehre zu thematisieren. Es kann nicht sein, dass jeder Verkehr lediglich seine eigene Dezibelzahl misst und dann keine Lärmschutzwand aufgestellt wird. Lärmschutz ist ein Thema, das für die Bürgerinnen und Bürger hauptsächlich in unseren Städten von großer Bedeutung ist. Im Bereich des Luftverkehrs werden wir angesichts erheblicher Zuwachsraten der letzten Jahre das Fluglärmgesetz ebenfalls mit dem Ziel eines deutlich verbesserten Lärmschutzes novellieren. Dabei werden wir einen Weg finden, der die Interessen der Wirtschaft, insbesondere von Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften, wie auch der betroffenen Anwohner und Gemeinden zu einem fairen Ausgleich bringt. ({11}) Die Koalitionsvereinbarung widmet einem weiteren Schwerpunktthema viel Raum: der Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger. Wegen des anhaltenden Dumpingwettlaufs bei unseren europäischen Nachbarn ist es gerade in den letzten Jahren in manchen Bereichen zu einer Schieflage gekommen. Die Koalitionsvereinbarung macht deutlich, dass wir entschlossen sind, diese Ungleichgewichte zu beseitigen, und dass wir bei der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen weiterkommen wollen und müssen. Dies wird nicht einfach sein. Dieses Problem ist nicht von einem Tag auf den anderen zu lösen. Aber wir sagen der Bundesregierung weiterhin eindeutig unsere Unterstützung zu. ({12}) Rot-Grün hat in der vergangenen Legislaturperiode in der Verkehrspolitik entscheidende Weichen neu gestellt. Dies gilt für die Verwirklichung eines integrierten Verkehrssystems. Dieses System setzt optimale Schnittstellen voraus. Hier haben wir mit der Förderung des kombinierten Verkehrs viel erreichen können. Die KVTerminals leisten einen wichtigen Beitrag zur Verlagerung von Güterverkehr auf Schiene und Wasserstraße. ({13}) Künftig werden wir uns über erweiterte Fördermöglichkeiten zu unterhalten haben. Eine Neuorientierung in der Verkehrspolitik bedeutet auch die Einführung der entfernungsabhängigen LKW-Maut. ({14}) Mit der Maut beschreiten wir neue Wege in der Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, weg von der reinen Steuerfinanzierung, hin zur Nutzerfinanzierung beim LKW. ({15}) Die Maut wird insgesamt zu einer gerechteren Anlastung der Wegekosten führen und die ausländischen Mitbewerber stärker als bisher an den Kosten beteiligen. Das ist ein klares und deutliches Signal für die Infrastruktur. Es ist allgemein bekannt, dass wir mit Haushaltsmitteln allein an dieser Stelle nicht weiterkommen. Wir haben die rechtliche Basis dafür geschaffen, dass privates Geld in die Infrastrukturfinanzierung einfließen kann. Wir sind uns einig, dass die LKW-Maut wie beschlossen - das bedeutet: inklusive des substanziellen Harmonisierungsschrittes bei der Steuer- und Abgabenlast in Höhe von 300 Millionen Euro - eingeführt wird. Was Ihre netten Zurufe angeht, Herr Oswald, empfehle ich Ihnen abzuwarten. Wir werden die LKW-Maut 2003 einführen; darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen. Dann werden wir uns alle freuen, dass wir ein paar Mark mehr zu verteilen haben. ({16}) Es geht uns aber nicht nur um den Straßengüterverkehr, sondern wir wollen bei allen Verkehrsträgern die Ungleichgewichte bei der Kostenbelastung abbauen. Die Senkung des Mehrwertsteuersatzes im Schienenpersonenfernverkehr auf 7 Prozent hat für uns zentrale Bedeutung. Auch das ist ein wichtiges Zeichen in Richtung Schiene. ({17}) Denn damit wird erstmals die Verkehrsverlagerung auch steuerpolitisch unterstützt. Wir werden bei unseren europäischen Partnern darauf drängen, alle auf europäischer Ebene nicht harmonisierten Subventionen innerhalb der einzelnen Verkehrszweige abzubauen. Bei den weiteren europäischen Liberalisierungsschritten im Personennahverkehr mit Bus und Bahn wird es darauf ankommen, unsere hohen deutschen Qualitäts-, Sozial- und Umweltstandards zu erhalten. Nur so können wir die Attraktivität unseres öffentlichen Verkehrssystems erhalten und verbessern. Wir werden daher die Bundesregierung, die sich in den europäischen Gremien sehr nachdrücklich gegen ein Sozial- und Umweltdumping ausgesprochen hat, weiterhin in dieser Haltung unterstützen. ({18}) Was für die Verkehrspolitik gilt, trifft auch auf unsere Wohnungs- und Städtebaupolitik zu. Auch hier werden wir uns an der Nachhaltigkeit orientieren und deutliche Wachstumsimpulse setzen. Unser Ziel ist es, unsere Innenstädte zu beleben sowie das urbane Wohnen und den Umbau von Beständen zu stärken. Dies geht mit der Verbesserung der Attraktivität des Wohnens insbesondere für Familien einher. Ein wesentlicher Baustein war und ist die bedarfsgerechte Anpassung des Wohngeldes, die wir vorgenommen haben. Die Bildung von Wohneigentum werden wir weiter unterstützen. Hierbei wollen wir uns aber stärker auf die Förderung von Familien mit Kindern konzentrieren. Bei der Umsetzung unserer Überlegungen zur Reduzierung der Eigenheimzulage werden wir sehr genau darauf achten, dass es zu einer zielgerichteten Förderung kommt. Ein Schwerpunkt in der Wohnungs- und Städtebaupolitik wird selbstverständlich im Aufbau Ost liegen. Die Bekämpfung des Leerstandes und die zukunftssichere Entwicklung der Städte im Osten hat für uns nicht erst nach der aktuellen Neustrukturierung des Ministeriums Priorität. Deshalb werden wir künftig das Programm „Stadtumbau Ost“ auf hohem Niveau verstetigen. Gleiches gilt für das neu zu schaffende Programm „Stadtumbau West“ und das bereits bestehende Programm „Soziale Stadt“. Wir werden die Programme konsequent fortführen. ({19}) Unser Ziel ist es natürlich auch, Bürokratie abzubauen. Das bedeutet für uns den Auftrag, Bauen künftig zu vereinfachen. Diesen Auftrag nehmen wir ganz ernst. Daher werden wir auch das Vergaberecht dahin gehend überprüfen, nach welchen Verfahren wir schneller und unkomplizierter bauen können. Darüber hinaus wollen wir auch in der Baupolitik neue Wege der Finanzierung prüfen. Im Bereich des öffentlichen Hochbaus werden wir verstärkt öffentlich-private Partnerschaften angehen. Zu diesem Zweck wollen wir ein Kompetenzzentrum aufbauen, das die Unternehmen und die Kommunen bei der Planung und Durchführung von Maßnahmen unterstützen soll. ({20}) - Ich weiß schon jetzt, wer die ersten Anträge stellen wird, ein solches Kompetenzzentrum zu erhalten, Herr Friedrich. Sie würden mit Ihrem Wahlkreis sofort auf der Matte stehen. Die Verkehrspolitik, die Wohnungs- und Baupolitik sowie der Aufbau Ost haben während der letzten vier Jahre von Rot-Grün große Fortschritte gemacht. Wir haben die richtigen Signale gesetzt. Wir werden unsere Politik kontinuierlich fortsetzen. Ich sage ganz klar und deutlich: Der Aufbau Ost und der Ausbau West sind die Aufgabe, der wir uns weiterhin konsequent annehmen werden. Danke schön. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Oswald.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Faße, das, was Sie hier angekündigt haben, war ja schon eine kleine Regierungserklärung, die eigentlich der Bundesminister hätte abgeben müssen. Ich sage Ihnen aber: Alles, was Sie aufgezählt haben, werden Sie mit der Koalitionsvereinbarung, die Rot-Grün geschlossen hat, auf keinen Fall umsetzen können. Das ist völlig klar. ({0}) Als Rot-Grün vor vier Jahren die Regierungsverantwortung übernommen hat ({1}) - der gefürchtete Zurufer Tauss ist da; um Gottes willen -, ({2}) wurde von Ihnen keine Gelegenheit ausgelassen, unter Hinweis auf die zurückliegenden Jahre die scheinbare Erblast aus Unionszeiten zu beklagen. Vier Jahre hatten Sie nun Gelegenheit, die Verkehrs- und Baupolitik nach Ihren Vorstellungen auszurichten. Wir haben zwar jetzt den vierten Verkehrsminister und auch wieder neue Staatssekretäre. Aber ob Sie dadurch endlich neuen Schwung in die Verkehrs- und Baupolitik bringen, ist nach dem, was wir bisher und auch heute gehört haben, mehr als zu bezweifeln. ({3}) Sie haben nicht erkannt, welche Möglichkeiten diese beiden großen Politikbereiche bieten, Zukunft zu gestalten. Sie wollen das Verkehrs- und Bauministerium offenbar auch in den nächsten Jahren nur verwalten. Ihnen fehlt es an Visionen - diese sind Ihnen ja auch von der Fraktionsführung verboten worden - und an Ideen für die Weiterentwicklung der Verkehrs- und Baupolitik. Die Akzente, die Sie setzen, lassen Sie sich weitgehend vom Finanzminister diktieren, der über die Einnahmen aus dem Straßenverkehr seinen Haushalt aufbessern will. Ich sage Ihnen: Wir werden nicht zulassen, dass die Autofahrer in unserem Land von Ihnen weiter so abkassiert werden. ({4}) Am 1. Januar 2003 satteln Sie bei der Ökosteuer noch einmal drauf. Wir misstrauen den Zusicherungen von Herrn Schröder, dass man auf weitere Erhöhungen verzichte. Hinter den Hecken lauern doch Ihre Ideologen, die ihre alten Forderungen nach 5 DM pro Liter Kraftstoff noch nicht aufgegeben haben. ({5}) Das ist doch die Wahrheit. ({6}) Statt für Investitionsanreize zu sorgen, schaffen Sie ein Klima allgemeiner Verunsicherung. ({7}) Immer wenn es unruhig ist, weiß ich, dass ich Recht habe. ({8}) Wir müssten in der Verkehrs- und Baupolitik mit voller Schubkraft durchstarten; ({9}) denn Mobilität ist Voraussetzung für Wirtschaftswachstum. Aber wer wie Sie jetzt auf die Mobilitätsbremse tritt, blockiert die wirtschaftliche Entwicklung und fügt dem Standort Deutschland nachhaltig Schaden zu. ({10}) Dort, wo Impulse für die Wohnungs- und Bauwirtschaft so dringend notwendig sind, stellen Sie die Weichen falsch, und zwar zum Nachteil für die vielen Menschen, die auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum sind, und zum Nachteil für die Bauwirtschaft, die Sie mit einer investitionsfeindlichen Politik in eine schwere Krise manövriert haben. ({11}) Ihre wohnungs- und städtebaupolitischen Vorhaben wir haben jetzt alles darüber gehört; es gab ja auch ein regelrechtes Rauschen im Blätterwald - entsprechen nicht der Bedeutung, die diese Politikbereiche für die Wohnungsversorgung, die Stadtentwicklung, die Bauwirtschaft, die soziale Sicherheit und die Altersvorsorge haben müssten. Offenbar hat nun Minister Stolpe bei der Eigenheimzulage den Rückzug angetreten; Frau Kollegin Faße und andere Redner haben noch etwas anderes gesagt. Was gilt nun eigentlich? Wenn die von der rot-grünen Koalition beabsichtigten Einschnitte bei der Eigenheimzulage Wirklichkeit werden, werden sich viele Familien und vor allem Arbeitnehmerfamilien den Traum von den eigenen vier Wänden nicht mehr leisten können. Das ist Realität. ({12}) Beim Neubau würden Familien mit weniger als sechs Kindern - das sind über 99 Prozent aller Familien mit Kindern - zu den Verlierern gehören. Junge Ehepaare, die für die Familiengründung Wohneigentum erwerben wollen, erhielten nach diesen Plänen künftig keinen Euro Förderung mehr. Wir lehnen die Einschnitte bei der Eigenheimzulage strikt ab, ({13}) weil sie Gift sowohl für die Bauwirtschaft als auch für die Häuslebauer sind. Unser Ziel ist es, die Förderung des Wohneigentums in Neubau und Bestand zu stärken, die Eigenheimförderung familienfreundlicher zu gestalten und das Wohneigentum wirksam in die Förderung der privaten Altersvorsorge einzubinden. ({14}) Sie verkennen mit Ihrer Entscheidung, dass der Bau von 10 000 Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern knapp 44 000 Arbeitsplätze schafft. Von den dadurch erzielten höheren Steuereinnahmen und Sozialabgaben profitiert der Staat. Nach gesicherten Erkenntnissen erbringt der Bau von 10 000 Wohnungen über 1 Milliarde Euro staatliche Einnahmen. Das ist die Realität. Sie sollten Wohneigentum möglich machen und nicht verhindern. Sie sollten den Wohnungsbau fördern und nicht blockieren. Denn Wohnungsknappheit führt zu Mietsteigerung und damit zu einer wirtschaftlichen Verschlechterung für die Mieter. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({15}) Das, was im Baubereich von der Koalition beschlossen worden ist, wird übereinstimmend als katastrophal für Konjunktur und Arbeitsmarkt bezeichnet. Die Branche spricht übereinstimmend von einem Kahlschlag in der Bau- und Wohnungswirtschaft. Wenn Sie den Verbänden und der Wirtschaft nicht glauben wollen, dann hören Sie doch auf Klaus Wiesehügel. Was der gesagt hat, wissen Sie am allerbesten. Mit der Erhöhung der Ökosteuer zum 1. Januar nächsten Jahres verteuern Sie nicht nur das Wohnen, sondern auch die Mobilität. Unsere Forderung heißt: Mobilität muss für jeden bezahlbar bleiben und darf nicht weiter verteuert werden. ({16}) Nach vier Stufen Ihrer so genannten Ökosteuer beträgt der Steueranteil inklusive Mehrwertsteuer je Liter Benzin mit 77 Cent heute bereits drei Viertel des Gesamtpreises. Bei einer einzigen 50-Liter-Tankfüllung fallen über 38 Euro Steuern an. Insgesamt zahlen die Straßenbenutzer in Deutschland über Sonderabgaben jährlich rund 50 Milliarden Euro. Aber nur rund 16 Milliarden Euro werden für den Bau und den Unterhalt von Straßen ausgegeben. ({17}) Sie müssen jetzt mit der Vorlage des Bundesverkehrswegeplans Farbe bekennen. Jetzt nützt Ihnen keine Programmvielfalt, kein Programmwirrwarr. Sie wissen ganz genau, dass Ihr Mobilitätsprogramm mit den ausgewiesenen 90 Milliarden Euro für zehn Jahre nichts anderes ist als die Haushaltsansätze für diesen Zeitraum. Jetzt hilft kein Nebel, kein Schleier, jetzt müssen die Fakten auf den Tisch. ({18}) Die Herausforderungen sind groß. Vordringlich müssen 2 800 km bestehende Autobahnen auf sechs oder acht Streifen ausgebaut werden. 2 400 km Lückenschlüsse und Netzergänzungen sind notwendig. ({19}) Wenn Sie hier nicht zulegen, gibt es keine Mobilität und wir fahren in Deutschland geradewegs in den Stau. ({20}) Allein für den Bundesfernstraßenbau haben die Länder eine Finanzierungslücke in Höhe von jährlich rund 2 Milliarden Euro errechnet. Sie wissen ganz genau, dass die Finanzierung des Anti-Stau-Programms 2003 nicht gesichert ist, weil die Mittel aus der LKW-Maut frühestens in der zweiten Hälfte 2003 fließen werden. Hier müssen Sie Klarheit schaffen. Sie haben die Rahmenbedingungen für das LKWGewerbe in den letzten Jahren derart verschlechtert, dass die Zahl der Insolvenzen in dramatischer Weise zugenommen hat. ({21}) Warum sagen Sie eigentlich nichts zum LKW-Gewerbe? Hier wären klare Aussagen notwendig. Wie wollen Sie denn den Güterverkehr auf der Schiene bis zum Jahr 2015 verdoppeln, wenn Sie tatenlos zusehen, wie sich die Bahn überall zurückzieht und immer mehr Verladestellen geschlossen werden? Wie soll denn die Bahn Transportvolumen vom LKW übernehmen, wenn sie an den Grenzen weiterhin aufgehalten wird? So gibt es viele Dinge. Wir brauchen eine Offensive für den Schienenverkehr. Sie dürfen die Bahn nicht weiter vernachlässigen; hier helfen keine schönen Worte. ({22}) - Natürlich! - In unserem Land sind Defizite bei Infrastruktur und Mobilität Alltagswirklichkeit. Staus sind an der Tagesordnung. Züge fahren unpünktlich. Die Binnenschifffahrt hat leider an Bedeutung verloren. ({23}) Es gibt erhebliche Kapazitätsprobleme im Luftraum und auf den großen deutschen Verkehrsflughäfen. ({24}) Die Herausforderungen sind groß, aber Ihre Antworten unzureichend. Wir sind zur Zusammenarbeit in unserem Ausschuss bereit. Es ist unsere gemeinsame Infrastruktur. Nach unserer Vorstellung muss ein zukunftsfähiges Verkehrswesen, ein zukunftsfähiges Infrastruktursystem individuelle Mobilität garantieren, die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland sichern und zugleich den wachsenden Anforderungen an den Schutz der Umwelt vor Lärm und Schadstoffemissionen Rechnung tragen. ({25}) Deshalb: Korrigieren Sie Ihre Beschlüsse! ({26}) Unser Wirtschafts- und Arbeitsstandort Deutschland wird es Ihnen danken. ({27})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Franziska EichstädtBohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Stolpe, ich freue mich sehr, dass Sie jetzt in unserer Mitte sind, und begrüße Sie ganz herzlich. Ich freue mich auf gute Zusammenarbeit. Mir persönlich ist es auch ein wirklich großes Anliegen, dass der Aufbau Ost in unsere Themen - Bauen und Verkehr - integriert wird. Ich widerspreche all denen, die behaupten, das wäre dann nur Bau- und Verkehrspolitik Ost, deutlich. Gerade für die Stabilisierung der ostdeutschen Städte ist das Zusammenführen von wirtschaftspolitischen Impulsen und städtebaulichen Zielen ganz wichtig. Der Stadtumbau Ost braucht das. Von daher finde ich es sehr toll, dass wir hierbei einen deutlichen Schritt nach vorn gekommen sind. ({0}) Ich möchte meine Rede im Übrigen auf den aktuellen Punkt, nämlich die Eigenheimzulage, konzentrieren, weil sowohl Herr Minister Stolpe als auch die Kollegin Annette Faße schon das Wichtigste zu unseren baupolitischen Zielen gesagt haben. Sie haben nur leider einen Punkt ausgelassen, der mir besonders am Herzen liegt, nämlich das Thema Klimaschutz am Bau. Auch da werden wir sehr aktiv weiter vorangehen. ({1}) Nun zur Eigenheimzulage. Ich habe heute sowohl in der finanzpolitischen Debatte als auch jetzt sehr aufmerksam zugehört. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie von der Opposition das Thema „leere Staatskasse, knappe Kassen, hohe Schulden“ überhaupt nicht registrieren wollen und dass Sie der Bevölkerung versprechen, man könnte durch Steuersenkungen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung hoher Subventionen und hoher sonstiger staatlicher Leistungen die Probleme in unserem Land lösen. Das ist ein falsches Versprechen. Ich fordere Sie sehr eindringlich auf, nicht weiter in dieser Richtung zu agieren, sondern den Bürgern gegenüber sehr viel mehr Ehrlichkeit an den Tag zu legen und in der Argumentation Klarheit darüber zu schaffen, was unser Staatswesen bei den gegebenen Problemen leisten kann und was es nicht leisten kann. ({2}) Niemand von uns kürzt gern deutlich bei der Eigenheimzulage. ({3}) Gerade wir Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker haben gehofft, da besser wegzukommen. Aber wenn wir das tun müssen, dann - das halte ich für wichtig - sollten wir der Bevölkerung auch reinen Wein einschenken und ehrlich mit dem Problem umgehen; denn wir alle kommen um den Spar- und Konsolidierungskurs nicht herum. Was Sie heute und auch gestern schon vorgetragen haben, würde bedeuten, dass wir bei den Maastricht-Kriterien bald bei 5 bis 6 Prozent wären ({4}) und der Staat praktisch pleite wäre. Insofern muss man da endlich Tacheles reden. Aus diesem Grund werbe ich nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürgern dafür, mit dieser wirklich nicht leichten Entscheidung ernsthaft und konstruktiv umzugehen. Wir haben gesagt: Wir müssen und wollen dann auch die Förderung auf Familien mit Kindern konzentrieren. Wir wollen - das will auch ich als Bau- und Stadtpolitikerin -, dass diese Förderung ökologisch und städtebaulich sinnvoll ausgestaltet wird und entsprechende Anreize bietet. ({5}) Ich möchte erklären, warum ich der Meinung bin, dass es durchaus vertretbar ist - wie gesagt, immer unter den gegebenen Notwendigkeiten -, die Eigenheimzulage ein Stück weit zu verschlanken. Im überwiegenden Teil Deutschlands ist der Wohnungsmarkt entspannt. Sie haben in den 90er-Jahren den Wohnungsbau in Ostdeutschland durch die Möglichkeit von Sonderabschreibungen so aufgebläht, dass wir uns nun in der absurden Situation befinden - ich glaube, Sie haben es noch immer nicht gemerkt -, den Abriss von Wohnungen fördern zu müssen. Wollen Sie dieses Modell auf Westdeutschland übertragen? Wollen Sie wirklich, dass wir die Konjunktur da stimulieren, wo es keinen Bedarf gibt? Wir haben es schon in der letzten Legislaturperiode immer wieder gesagt: Wir müssen zwischen den Regionen unseres Landes deutlich unterscheiden. Die Situation in München ist ganz anders als die in Nord- und Westdeutschland und insbesondere als die in Ostdeutschland. Ich möchte ein Land wie Bayern, das weiß Gott nicht solche Finanzprobleme wie andere Länder hat, auffordern, das Geld, das das Land einspart, einer Förderung zukommen zu lassen, die den Münchenern und der Region München dabei hilft, ihre baupolitischen Probleme konstruktiv zu lösen. Dazu sind im Zweifelsfall sowohl Bayern als auch Baden-Württemberg finanziell in der Lage. Dasselbe gilt gegebenenfalls auch für Hessen. Die reichen Länder sollten sich durchaus darüber klar werden, wie sie mit dieser Lage konstruktiv umgehen können. ({6}) Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen. Die Zinssätze sind zurzeit niedrig; insofern bestand gerade in den letzten Jahren das Problem, dass Bau- und Bodenpreise künstlich hochgehalten werden, weil jeder, der mit Immobilien zu tun hat, in seine Gesamtkalkulation das einbezieht, was die Eigenheimzulage an Vorteilen bringt. Auch von daher sind wir gehalten, Mitnahmeeffekte abzubauen, wenn wir angesichts des hohen Schuldenbergs volkswirtschaftlich dazu genötigt sind. Ich möchte noch etwas zu den Problemen in der Bauwirtschaft sagen. Ich glaube, dass man diese Probleme sehr ernst nehmen muss. Die Bauwirtschaft darf da, wo gesättigte Märkte sind, nicht künstlich aufrechterhalten werden. Nachdem die Bauwirtschaft in Ostdeutschland in den 90er-Jahren aufgebläht worden ist, muss sie - das ist nolens volens ihr Problem - verschlankt werden. Auch darum kommen wir nicht herum. Ich bitte darum, mit der Bauwirtschaft ehrliche Worte zu reden und keine falschen Versprechungen zu machen. ({7}) Wo es konkreten Bedarf gibt, da engagieren wir uns in besonderem Maße. Das heißt konkret: Wir treiben ökologische Innovationen im Baubereich und energetische Sanierungen aktiv voran. Der Hauptbedarf liegt bei der Infrastruktur in den Kommunen. Wir haben ein Programm aufgelegt, das den Umbau von Schulen in Ganztagsschulen vorsieht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gleich fertig. - Für dieses Programm geben wir 4 Millionen Euro im Jahr aus. Das wird der Bauwirtschaft ganz konkret helfen und die Kommunen werden gute Auftraggeber sein. Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Frau Kollegin, das geht wirklich nicht. Sie haben Ihre Redezeit schon zu weit überschritten.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich wünsche mir eine gute Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode. In allen Debatten wünsche ich mir von beiden Seiten etwas mehr Ehrlichkeit im Umgang mit den Problemen und Herausforderungen in diesem Lande. Zur Lösung dieser Probleme haben wir alle keine einfachen Rezepte. Vor uns liegt die Bewältigung schwerer Aufgaben. Dem sollten wir uns gemeinsam stellen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Eichstädt-Bohlig, ich meine, dass es der Glaubwürdigkeit der Koalition in dieser Legislaturperiode mehr dient, den Begriff Ehrlichkeit in Ihren Reden zu vermeiden. ({0}) Der normale Mensch hat von Ehrlichkeit eine völlig andere Vorstellung als die, die Sie zu Beginn dieser Legislaturperiode an den Tag gelegt haben. ({1}) Herr Minister Stolpe, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ernennung. Zu dem, was die rot-grüne Vorgängerregierung Ihnen hinterlassen hat, kann ich Ihnen leider nicht gratulieren. Ich nehme von der Kollegin Faße das Stichwort Lärmbekämpfung auf. Ich muss Ihnen sagen: Wenn Sie an das Fluglärmschutzgesetz herangehen - es war in der letzten Legislaturperiode versprochen worden, es wird jetzt wieder versprochen -, treffen Sie auf Trittin-vermintes Gelände. Herr Bodewig kann Ihnen Auskunft geben. Wenn das so ist, wartet der Bürger in Erfüllung der Koalitionsvereinbarungen auf tatkräftiges Handeln und eine Entscheidung des Bundeskanzlers Schröder. Aber der geht dann natürlich auf Tauchstation. Wenn es irgendwo in einem Ressort Konflikte gibt, gibt es allenfalls eine Zukunftskommission, die vor der nächsten Wahl ihren Bericht vorlegen soll, aber keine Entscheidung des Kabinetts und des Bundeskanzlers. Zweites Thema: Lärmsanierung Schiene. ({2}) In der letzten Koalitionsvereinbarung versprochen: im Jahr 100 Millionen DM für die Lärmsanierung Schiene. ({3}) In den Jahren 1999 bis 2001 - ich habe mir die Zahlen eben noch einmal zurufen lassen - haben Sie 300 Millionen DM versprochen und 52 Millionen DM umgesetzt. Der Berg kreißte und die Maus war geboren. Drittes Thema - so steht es in der Koalitionsvereinbarung -: Lärmsanierung an den Bundesautobahnen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass es Anfang der 80er-Jahre ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes gab, das den Bund verpflichtete, an den Bundesfernstraßen Lärmsanierung zu betreiben und genau definierte Dezibelwerte einzuhalten. Dies geschieht seither. Das haben Sie offenbar gar nicht mitbekommen. Sie schreiben es in die Koalitionsvereinbarung und eilen den Tatsachen hinterher. Nach der Beschreibung der zukünftigen Verkehrspolitik im Koalitionsvertrag muss man feststellen, dass in Wahrheit diese rot-grüne Bundesregierung entgegen anderen Bekundungen doch an ihrer mobilitätsfeindlichen Politik festhalten will. Das geht eindeutig gegen Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Wir haben ein Dokument der Planlosigkeit und Perspektivlosigkeit zu lesen. Neue Mobilitätsangebote werden nicht gemacht. Es wird vor allem, wie auch in anderen Bereichen, abkassiert. ({4}) Kennzeichnend ist doch, dass die Problematik des Güterkraftverkehrs in der Koalitionsvereinbarung nur lapidar und nicht angemessen behandelt wird, obwohl dieser Bereich es in einem EU-weit nicht harmonisierten Markt äußerst schwer hat, sein Überleben zu sichern. Ihm wird kaum Beachtung geschenkt. Der Überlebenskampf der Unternehmen - wir haben es neulich in einer Diskussion gemeinsam erlebt - hat wahrscheinlich zur Folge, dass mehr und mehr Unternehmen ausflaggen werden. Das heißt, Arbeitsplätze und Steueraufkommen in unserem Land gehen verloren. Der deutsche Markt wird dann von deutschen Unternehmen vom Ausland her bedient. Dies ist eine dramatische Situation. So, wie Sie diesen Gewerbezweig mit seinen Problemen abhandeln oder auch nicht berücksichtigen, wird dieser Prozess weiter beschleunigt werden. Das können wir auch den Presseverlautbarungen entnehmen. Erstes Beispiel: LKW-Maut. Der Verkehrsträger Straße erbringt eine Verkehrsleistung, die rund achtmal so hoch ist wie die der Schiene. An Investitionen bekommen beide ungefähr das Gleiche. Mit den Mauteinnahmen wird dieses Missverhältnis noch deutlicher. 3,4 Milliarden Euro werden jährlich zusätzlich zu den bereits von dem Gewerbe erbrachten 45 Milliarden Euro für Mineralölsteuer und darauf lastende Umsatzsteuer gezahlt und nur ein Bruchteil des zusätzlich geschöpften Geldes wird zweckgebunden auch zusätzlich der Straße für Erhalt, Erneuerung und Ausbau zur Verfügung gestellt. ({5}) Der Güterverkehr auf der Straße ist sozusagen nur als Schröpfbereich interessant, aber nicht als Gewerbezweig unserer Volkswirtschaft. ({6}) Schon heute ist der Werteverzehr durch Verschleiß und Abgang bei der Straße größer als der Wertezuwachs durch Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen. Am Ende dieser Verkehrspolitik wird eine in Grund und Boden gewirtschaftete Straße, die die steigenden Anforderungen nicht mehr erfüllen kann, sowie eine weiterhin - leider Gottes, sage ich - ineffiziente Schiene stehen. ({7}) Denn die Ineffizienz der Schiene liegt eindeutig in der ordnungspolitisch unzureichenden Aufstellung dieses Verkehrsträgers begründet, ({8}) weil - ein Sachverständiger hat uns das im Ausschuss vorgetragen - dort, wo kein Wettbewerb ist, auch kein Wachstum ist. Wettbewerb ist also die zwingende Voraussetzung für höhere Effizienz, bessere Leistung und Wachstum. Auf fast allen Märkten der Welt wird der Beweis erbracht, dass Wettbewerb das geeignete Mittel für Wachstum ist. Warum sollte dies ausgerechnet bei der Schiene in Deutschland anders sein? Ohne Wettbewerb gibt es zwar möglicherweise einmal konjunkturelle Schwankungen wie im Jahr 2000, aber dauerhaft findet kein reales Wachstum statt. ({9}) Meine Damen und Herren, dieser Wettbewerb setzt diskriminierungsfreien Netzzugang für alle Schienenverkehrsunternehmen voraus. Besonders wichtig ist, dass sämtliche Diskriminierungspotenziale vom Wettbewerb fern gehalten werden. Das gelingt nicht, wenn man Wettbewerber mit ihren eigenen Investitionsmöglichkeiten in Wahrheit vom Markt fern hält und verschreckt. ({10}) Auch im öffentlichen Personennahverkehr finden wir leider noch ähnliche Monopolstrukturen. Per neue Vergabeverordnung, die während des Wahlkampfes camouflageartig durchgepeitscht wurde, ohne dass wir die Chance der Beratung hatten, droht die Gefahr, dass das zarte Pflänzchen des aufkommenden Wettbewerbs bei Nahverkehrsleistungen wieder zertreten wird. ({11}) Die dortige Verkehrsleistung ist, gemessen an den Subventionen, die gezahlt werden, viel zu gering. Wegen des ausbleibenden Wettbewerbs werden den bestellenden Ländern gar nicht erst unterschiedliche Angebote gemacht. Sie sind also letztlich auf Gedeih und Verderb auf die DB AG angewiesen. Damit werden sich die Monopolstrukturen verfestigen. ({12}) Zudem wird Schieneninfrastruktur - wir kennen ja die entsprechenden Mechanismen - nur dort ausgebaut und ertüchtigt, wo es den Interessen der DB-Unternehmen dient. Würde sie etwa Konkurrenten dienen und nutzen, wäre dies aus DB-Sicht gefährlich. Deswegen darf der Ausbau nicht stattfinden, obwohl er volkswirtschaftlich ein hochwillkommener Vorgang wäre. Ich sage hier ausdrücklich - Kollege Steenblock war eben noch anwesend -: Ich lobe das Beispiel SchleswigHolstein, über das ich mich freue. Denn Schleswig-Holstein Dirk Fischer ({13}) Dirk Fischer ({14}) mit einer rot-grünen Landesregierung hat in einem in Deutschland im Prinzip noch monopolistisch geprägten Umfeld ({15}) wettbewerbsgerechte Teilnetze ausgeschrieben und vergeben, ({16}) sodass dort mittlerweile zwischen fünf Unternehmen Leistungswettbewerb stattfindet, der den Kundennutzen mehrt. Das ist im Grunde genommen die buntscheckige Landschaft, die wir uns wünschen, damit in einem Land auch mehrere Unternehmen zeigen können, was sie draufhaben, und sich für einen weiteren Ausschreibungswettbewerb profilieren. Ich glaube, so muss es sein. Alles andere führt uns nicht weiter. ({17}) Im deutschen Schienenverkehr besteht im Übrigen eine faktisch nahe bei 100 liegende Monopolsituation, und zwar in allen Bereichen: dem Personenfern-, dem Personennah- und dem Güterverkehr. Die Grundsätze der Bahnreform, die unverändert richtig sind, werden nicht konsequent umgesetzt, teilweise sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Mit dieser Bahnreform sollte der Kundennutzen durch mehr und besseren Schienenverkehr erhöht und der Aufwand des Steuerzahlers gemindert werden. Von beiden Zielen sind wir unverändert weit entfernt. ({18}) Die Osterweiterung der EU soll im Jahre 2005 stattfinden. Das heißt, diese Aufgaben müssen in dieser Legislaturperiode bewältigt werden. Gegenüber den Beitrittskandidaten, vor allem jenen an unseren östlichen Grenzen, hat Deutschland auch eine Infrastrukturverpflichtung. ({19}) Die erfolgreiche Integration gelingt nur, wenn leistungsfähige Verbindungen geschaffen werden. In der letzten Legislaturperiode hätte hier Entscheidendes passieren müssen. Das haben Sie verschlafen. Deswegen werden wir hier Probleme bekommen. Denn was steht im Koalitionsvertrag? Ich sage einmal: viel Wischiwaschi, Finanzvorbehalte und nichts Verbindliches. Zur Vorbereitung der Osterweiterung hätte Analoges zu den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ geschehen müssen. Es ist bedauerlich, dass Sie hier nichts getan haben. Im Koalitionsvertrag wird der Osten unseres Landes besonders hervorgehoben. Das ist eine Selbstverständlichkeit und keine besondere Gunst. Denn auch von der CDU/CSU und der FDP geführte Bundesregierungen haben alles Notwendige getan, ({20}) die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zügig geplant, solide durchfinanziert ({21}) und weitgehend gebaut. Über die Jahre haben wir eine Verdopplung der Mittel für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz erreicht. Deswegen ist das eine Normalität, die wir für den Integrationsprozess in unserem Lande leisten müssen. ({22}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, angesichts der insgesamt unzureichenden Investitionsmittel verkommt die Verkehrsinfrastruktur im Westen, also in den alten Bundesländern, immer mehr. Dort also, wo volkswirtschaftlich die höchste Wirtschaftsleistung erbracht wird, wird die Infrastruktur vernachlässigt, was zur Folge haben kann, dass das Geld, das wir in den neuen Ländern zusätzlich einsetzen müssen, nicht erwirtschaftet wird. Mit dem 90-Milliarden-Euro-Programm - der Kollege Oswald hat das schon angesprochen - werden jetzt auch noch die vorhandenen Haushaltsansätze unter Finanzierungsvorbehalt gestellt. Das ist also keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung des Status quo. Das ist wirklich ein tolles Ding. Wenn das so durchgeführt wird, dann versündigt man sich an dem Land. Zur Magnetschwebebahn möchte ich eigentlich gar nichts sagen. ({23}) In Schanghai wird die Bahn jetzt gebaut. Bald werden wir dorthin fahren, um die Anwendung des Transrapid zu studieren. ({24}) In der Koalitionsvereinbarung wird so getan, als wenn die Projekte in Nordrhein-Westfalen und in Bayern - wobei wir das Projekt in NRW verkehrspolitisch nicht für sehr sinnvoll halten - vorangingen. Der Kollege Schmidt hat sich als Koalitionär der Grünen öffentlich so geäußert, dass sich das Thema sowieso erledigt habe, da die verantwortlichen Länder die Komplementärfinanzierung aus Privatmitteln nicht zustande brächten, und er davon ausgehe, dass sich daran in Zukunft nichts ändern werde. Der Koalition fehlt also völlig der Gestaltungswille. Deswegen glaube ich, dass es das Drama Transrapid auch in Zukunft geben wird. Lassen Sie mich einen abschließenden Satz sagen, Frau Präsidentin. Diese Koalitionsvereinbarung ist nicht die richtige Antwort auf die Probleme und Herausforderungen der deutschen und der im Hinblick auf die Osterweiterung notwendigen europäischen Verkehrspolitik, die jetzt volkswirtschaftlich so dringend notwendig wäre. Dies ist schlimm für die Menschen in Deutschland und in der Europäischen Union und besonders schlimm für unsere Betriebe und ihre Arbeitnehmer. ({25})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen nun zu dem Themenbereich Bildung und Forschung. Das Wort zur Eröffnung hat Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Es ist gut, dass die Bildungspolitik in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt ist. ({0}) Wir brauchen in Deutschland die besten Bildungschancen für unsere Kinder. Nur dann, wenn unsere Kinder bereits in der Grundschule ausreichend gefördert werden, werden sie auch in unseren Hochschulen ankommen. Nur dann, wenn in Deutschland mehr Fachkräfte und mehr junge Akademiker ausgebildet werden, bleiben wir weltweit Spitze. Eine gute Bildung und Ausbildung ist für unser Land so wichtig wie die Luft zum Atmen. Aber in keinem anderen Land hängen die Chancen der Kinder so stark von ihrer sozialen Herkunft ab wie bei uns. ({1}) Das hat die jüngste internationale Studie der OECD zum Bildungssystem, die der Öffentlichkeit gestern vorgestellt worden ist, noch einmal deutlich gezeigt. Wir müssen dies in einer gemeinsamen Kraftanstrengung ändern. Bund, Länder, Kommunen, Eltern und Lehrer müssen dies gemeinsam ändern. ({2}) Die Bundesregierung hat die Weichen für die Erneuerung des Bildungssystems gestellt. Mit dem Programm „Zukunft Bildung und Betreuung“ machen wir einen entscheidenden Schritt, damit Deutschland in zehn Jahren im internationalen Vergleich wieder unter den ersten fünf ist und wir wieder einen Spitzenplatz erreichen. Ganztagsschulen mit einem neuen pädagogischen Konzept sind ein wichtiges Mittel für die Verbesserung unseres Bildungssystems. Der Bund hat deshalb für den Aufbau von 10 000 Ganztagsschulen 4 Milliarden Euro bereitgestellt. ({3}) Dieses Programm zielt auf die bedarfsgerechte Ausweitung des Angebots an Ganztagsschulen mit Schwerpunkten der individuellen Förderung und des sozialen Lernens. Dieses Konzept bezieht sich keineswegs nur auf Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwächeren Familien, auf Familien, in denen nur ein Elternteil erzieht, oder auf Familien mit Migrationshintergrund. Gefördert werden sollen alle Begabungen. Eine bessere individuelle Förderung ist das A und O für eine bessere Bildungspolitik. Das wiederum erfordert Zeit. Deshalb sind Ganztagsschulen ein entscheidender, wichtiger Schritt für die Verbesserung unseres Bildungssystems. ({4}) Der Ausbau von Ganztagsschulen ist ein ganz entscheidender Teil unserer Strategie. Dies ist aber nur ein erster Schritt. Wir brauchen zweitens nationale Bildungsstandards, die in allen Ländern gleichermaßen verbindlich gelten. Alle Kinder in Deutschland müssen unabhängig vom Wohnort ihrer Eltern die gleichen Bildungschancen haben. ({5}) Deshalb geht es jetzt darum, nationale Bildungsstandards zu entwickeln. Ich bitte alle in diesem Hause, daran mitzuwirken und mitzuarbeiten und keine ideologischen Gründe gegen die Entwicklung von bundesweiten, nationalen Bildungsstandards anzuführen. ({6}) Wir brauchen sie, damit Kinder - egal ob in München, Hamburg, Cottbus oder Aachen - die gleichen Bildungschancen haben. Das muss unser gemeinsames Interesse sein. ({7}) Nur so - das sage ich ganz klar - hat der deutsche Länderföderalismus in Zukunft Chancen. Die Einhaltung dieser Bildungsstandards muss drittens regelmäßig durch eine unabhängige nationale Evaluationseinrichtung überprüft werden. Denn die regelmäßige Evaluierung, die regelmäßige Bewertung, sich also zu fragen, wo die Stärken und wo die Schwächen sind, ({8}) ist ein wichtiger Schlüssel für ein erfolgreiches Bildungssystem. Deshalb muss das, was in anderen Ländern, die bei der PISA-Studie sehr gut abgeschnitten haben, schon längst zum Standard gehört, auch bei uns gelten. ({9}) Wir werden viertens in unserem Land die Erstattung eines nationalen Bildungsberichtes etablieren. Er soll durch einen unabhängigen „Rat der Bildungsweisen“ erstellt werden. Nur so sind wir ständig im Bilde und können schnell dort nachsteuern, wo schlechte Ergebnisse festgestellt worden sind, und die Situation verbessern. ({10}) Schließlich wird die Gründung einer bundesweiten Stiftung „Bildung und Erziehung“ einen weiteren wichtigen Beitrag zur Neuorientierung unseres Bildungssystems leisten. ({11}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir sind bereits auf dem Weg. Bund und Länder haben sich im vergangenen Juni in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung auf die Umsetzung besonders wichtiger Handlungsfelder verständigt. Hierzu zählen die Förderung von Sprach-, Leseund Schreibkompetenz - und auch die des Zuhörens, sehr geehrter Herr Kollege Schirmbeck. ({12}) - Richtig. ({13}) - Wenn Sie eine Frage haben, dann stellen Sie sie bitte. Ich werde Ihnen dann gerne sagen, dass Niedersachsen das Land ist, das inzwischen die meisten der von mir angesprochenen Beschlüsse gefasst hat. ({14}) Wir werden eine frühe und individuelle Förderung einführen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Aber sicher.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bulmahn, wenn ich richtig informiert bin, sind Sie doch Landesvorsitzende der SPD in Niedersachsen. ({0}) Wenn ich ebenfalls richtig informiert bin, regiert die SPD in Niedersachsen seit zwölf Jahren. Können Sie uns einmal sagen, wie die Unterrichtsversorgung in Niedersachsen im Vergleich zu der in Bayern und Baden-Württemberg ist? Sie brauchen keinen neuen Arbeitskreis einzurichten, sondern sollten dort, wo Sie die Verantwortung tragen, konkret etwas tun. Was tun Sie? Das sollten Sie uns einmal sagen. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Lieber Herr Kollege, wenn Sie sich informiert hätten, dann wüssten Sie, dass das Land Niedersachsen eines der ersten Bundesländer ist, das die volle Halbtagsschule eingeführt hat. ({0}) Wir haben in Niedersachsen in diesen vier Jahren rund 15 000 neue Lehrer eingestellt, davon 3 500 zusätzlich. Diese Zahl kann sich sehen lassen. Wir haben in Niedersachsen beschlossen, dass wir den Ausbau der Ganztagsschulen vorantreiben. Wir fangen damit an. Wir haben in Niedersachsen beschlossen, dass wir eine regelmäßige Evaluierung der Lehrleistung durchführen. Wir fangen damit an. Wir haben gesagt, dass das Land Niedersachsen die bundesweiten Bildungsstandards, die wir bekommen werden, übernehmen wird. Lieber Herr Kollege, ich würde mir wünschen, dass auch die Oppositionskollegen ihren Beitrag dazu leisten, dass in den CDU-regierten Ländern nicht die Ideologie an erster Stelle steht, ({1}) sondern das Ziel, ihren Schülerinnen und Schülern die besten Bildungschancen zu geben, wie das in den SPDregierten Ländern der Fall ist. Darauf werden wir im Bundestag drängen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir an diesem Punkt nicht nachlassen werden, sondern Maßnahmen für die Verbesserung der Bildungschancen einfordern und eigene Maßnahmen umsetzen werden. Wir haben uns in der Bund-Länder-Kommission darauf verständigt, dass wir die Förderung von Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz, die Förderung von Migrantinnen und Migranten sowie die Förderung der mathematischen-naturwissenschaftlichen Kompetenz gemeinsam durchführen werden. ({2}) Hierbei soll der frühen und individuellen Förderung und der Förderung von Jugendlichen mit Lernschwächen eine ganz besondere Beachtung geschenkt werden; denn in diesem Bereich liegen besondere Probleme.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Bulmahn, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Volquartz?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Volquartz, bitte schön.

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, in welchem Zeitraum hat das Land Niedersachsen 3 500 neue Planstellen an den Schulen geschaffen?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Wir stellen zusätzliche Lehrer in einem Zeitraum von fünf Jahren ein. Wir haben damit bereits begonnen. Der Zeitraum erstreckt sich bis zum Jahre 2004. Das heißt, bis zum Jahre 2004 haben wir diese zusätzlichen Lehrerstellen geschaffen. ({0}) Wir haben bereits zwei Drittel dieser Stellen geschaffen. ({1}) - Liebe Frau Kollegin, ich sage es noch einmal: ({2}) Wir haben insgesamt 15 000 neue Lehrer eingestellt, davon 3 500 Lehrer zusätzlich. ({3}) - Zusätzlich heißt: neue Planstellen. Anders geht es nicht. ({4}) - Bitte. ({5}) Erste wichtige Schritte sind getan. Doch auf der Strecke zu einem leistungsfähigen Bildungssystem, das allen eine gerechte Chance gewährt, haben wir noch Meilen zurückzulegen. Wer glaubt, dass sich unser Bildungssystem innerhalb eines halben Jahres oder auch in ein bis zwei Jahren grundlegend verbessern lässt, der ist naiv, weil sich ein Bildungssystem eben leider nicht einfach auf einen Schlag durch ein Gesetz oder einen Verwaltungsakt verändern lässt. Denn um ein erfolgreicheres, ein besseres Bildungssystem zu erhalten, das Kindern die besten Bildungschancen gibt, brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen. Wir haben bereits wichtige Entscheidungen getroffen und die Weichen richtig gestellt. Aber auch die Menschen müssen sich ändern. Lehrer und Eltern müssen für Neues bereit sein. Die Bundesregierung wird sie dabei unterstützen; denn wir wollen unser Ziel erreichen. ({6}) Eine gute Ausbildung ist der Schlüssel zum Arbeitsmarkt und zur gesellschaftlichen Anerkennung. Eine moderne Berufsausbildung bleibt das Kernstück unserer Bildungspolitik. Auch in Zukunft gilt: Jeder junge Mensch, der arbeiten will und kann, soll einen Ausbildungsplatz erhalten. ({7}) Die Wirtschaft trägt dabei eine ganz besondere Verantwortung. Schon in wenigen Jahren werden nicht die Ausbildungsplätze, sondern die Bewerber für die vorhandenen Stellen knapp. Wer heute nicht ausbildet, sägt sich deshalb im sprichwörtlichen Sinne den Ast ab, auf dem er morgen sitzen will. ({8}) Deshalb appelliere ich nachdrücklich an die Wirtschaft, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, sich ihr zu stellen und sich ihr nicht zu entziehen. Keiner in diesem Land darf sich dieser Verantwortung entziehen. ({9}) Jugendlichen mit schlechteren Startchancen und Erwachsenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung wollen wir den Einstieg in einen Beruf mit einem System von Qualifikationsbausteinen erleichtern. Das Ziel bleibt, über diese Qualifikationsbausteine am Ende zu einer vollwertigen Berufsausbildung zu kommen. Wer dieses Ziel - aus welchen Gründen auch immer - nicht erreicht, steht in Zukunft nicht mehr ohne Abschluss da, sondern kann Teilqualifikationen nachweisen und damit seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Wir gehen daher über das, was Sie vorschlagen, nämlich die verkürzte Berufsausbildung - Herr Merz hat heute Morgen noch davon gesprochen; offensichtlich weiß er überhaupt nicht, dass wir diese schon eingeführt haben -, hinaus, weil wir wissen, dass wir Jugendlichen unterschiedliche Einstiege in das Berufsleben ermöglichen müssen. Wir werden das Berufsbildungsgesetz mit dem Ziel novellieren, die duale Ausbildung zu stärken, mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen zu schaffen und die berufliche Bildung weiter zu internationalisieren. ({10}) Ein exportorientiertes Hightechland wie Deutschland, meine Herren und Damen, braucht aber nicht nur gut ausgebildete Fachkräfte, sondern auch mehr und gut ausgebildete Hochschulabsolventen. Hier haben wir Fortschritte erreicht. Allein in den letzten vier Jahren ist die Zahl der Studienanfänger - übrigens zum ersten Mal seit vielen Jahren - um knapp 5 Prozent gestiegen. ({11}) Wir müssen aber diesen erfolgreichen Weg, den wir eingeschlagen haben, weitergehen. Wir haben das endgültige Ziel noch nicht erreicht, sondern sind jetzt mit 32,4 Prozent Studienanfängern noch immer deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Auch hier gilt: Man kann nicht innerhalb von drei, vier Jahren das nachholen, was über viele Jahre hinweg versäumt worden ist. Wir müssen den Weg, den wir eingeschlagen haben, fortsetzen und werden das auch tun. ({12}) Wir müssen besonders für diejenigen, die bereits eine berufliche Ausbildung haben, die Hochschulzugänge verbessern. Mir kommt es darauf an - uns ist wichtig, dass wir dieses Ziel erreichen -, dass es insgesamt mehr gut ausgebildete Menschen in unserem Land gibt. Dabei ist es egal, ob die Menschen den Weg der beruflichen oder der schulischen Ausbildung gehen. Wir brauchen mehr sehr gut ausgebildete Menschen. ({13}) Junge Menschen erwarten zu Recht, dass sie in unseren Hochschulen auf hohem Niveau praxisorientiert und international ausgebildet werden. Umfassende Rankings sollen in Zukunft das Studienangebot transparenter machen. Dabei dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass heute rund ein Drittel aller Studierenden das Studium abbricht und viele Studierende den Abschluss in der Regelstudienzeit nicht schaffen. Wir müssen gemeinsam für mehr Qualität in Lehre und Forschung sorgen. Mit der Dienstrechtsreform haben wir einen ganz wichtigen Schritt gemacht, ({14}) weil in Zukunft die Lehre regelmäßig evaluiert wird und sich ein Teil des Gehaltes an der Leistung in Lehre und Forschung bemisst, Frau Flach. ({15}) Wir werden diesen Weg fortsetzen; denn wir brauchen Studienbedingungen, die zu besseren Leistungen motivieren. Ohne den gemeinsamen Willen zur Veränderung ist das nicht zu schaffen. Die Bundesregierung wird deshalb den Ländern einen Pakt für Hochschulen anbieten. Kernpunkte dabei sind die Verbesserung der Qualität des Studiums, die Einführung eines gestuften Systems von Studienabschlüssen, eine geschlossene Nachwuchsförderung aus einem Guss und eine stärkere internationale Ausrichtung unserer Hochschulen. ({16}) Damit entsprechen wir nicht nur den Erwartungen der Studierenden und der Wirtschaft, sondern erleichtern zugleich die internationale Einbindung unseres Hochschulsystems. Wissenschaft, Forschung und Entwicklung in Deutschland haben heute wieder Weltruf. Diese Position will ich sichern und ausbauen. ({17}) Ich will erreichen, dass bis zum Jahr 2010 mindestens 3 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts durch öffentliche und private Aufwendungen in Forschung und Entwicklung investiert werden. ({18}) Hier sind Staat und Wirtschaft gleichermaßen gefordert. Wir werden die Innovationsförderung vor allem für kleine und mittlere Unternehmen konsequent ausbauen und einen Schwerpunkt auf die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft legen. ({19}) Auch hier haben wir in den vergangenen vier Jahren deutliche Erfolge verzeichnet. Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die an der Forschungsförderung meines Hauses teilhaben, hat sich unter meiner Amtsführung um 60 Prozent erhöht. ({20}) Das kann sich durchaus sehen lassen. Ich sage aber auch ganz klar: Dies ist überhaupt kein Grund zum Ausruhen und Zurücklehnen. ({21}) Ich werde die Anstrengungen fortsetzen, damit wir auf diesem Weg weiter vorankommen. Zukunftstechnologien wie Neue Materialien, Nanotechnologie, Biotechnologie, Mikrosystemtechnik sowie Informations- und Kommunikationstechnik werden wir weiterhin fördern, denn von ihnen hängen die Wachstumschancen wichtiger Wirtschaftsbranchen ab. Forschungsergebnisse müssen den Menschen und der Gesellschaft unmittelbar zugute kommen. Der Kampf gegen weit verbreitete Volkskrankheiten und die Erhaltung einer lebenswerten Umwelt haben dabei höchste Priorität. ({22}) Deshalb wird die Bundesregierung die Umwelt- und die Gesundheitsforschung weiter stärken. Neue produktionsorientierte Technologien und Verfahren, die an den Ursachen der Umweltzerstörung ansetzen, haben dabei eine ganz hohe Priorität und werden besonders gefördert. In der Gesundheitsforschung will ich die Entwicklung neuartiger Arzneimittel und Therapieansätze vorantreiben. Maßgeschneiderte Therapien für den einzelnen Patienten versprechen einen Qualitätssprung in der medizinischen Versorgung. Diese Chance werden wir mit unserer Forschungs- und unserer Gesundheitspolitik ergreifen. ({23}) Forschungsförderung ist Wirtschaftsförderung. Dies gilt für Deutschland insgesamt, aber insbesondere für die neuen Bundesländer. Hier ist es uns in den letzten Jahren mit Initiativen wie Inno-Regio und Regionale Wachstumskerne gelungen, wichtige Zukunftsfelder zu erschließen. In den nächsten Jahren werden wir die Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland zu Leuchttürmen der Wissenschaftslandschaft mit internationaler Ausstrahlung ausbauen. ({24}) Damit geben wir wichtige Impulse für wirtschaftliches Wachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen in den neuen Bundesländern wissen, dass sie sich dabei auf uns verlassen können. ({25}) Wir wollen nämlich, dass junge Talente in den neuen Bundesländern bleiben, ({26}) dass sie attraktive Arbeitsmöglichkeiten an den Hochschulen und in den Forschungseinrichtungen haben. Deshalb werden wir dieses dritte Standbein, das ich beschrieben habe, entwickeln und aufbauen. Meine sehr geehrten Herren und Damen, Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind die Leitlinien unserer Politik in den nächsten vier Jahren. Wir wollen unseren Kindern optimale Startchancen für ihre Zukunft geben und mit einer nachhaltig angelegten Forschung das Leben auf unserem Planeten auch für die kommenden Generationen lebenswert erhalten. ({27}) Wir werden unser Bildungssystem modernisieren und zukunftsfähig machen. Wir wollen unseren Forscherinnen und Forschern und dem wissenschaftlichen Nachwuchs die bestmöglichen Bedingungen schaffen. Wir wollen die bestmögliche Bildung für alle Menschen in unserem Land und wissenschaftlichen Fortschritt, der allen Menschen zugute kommt. Mit dieser Politik werden wir unser Land weiter voranbringen. Vielen Dank. ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegen Katherina Reiche von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich eine Berichtigung einer Aussage der Ministerin vornehmen. Sie hat gerade behauptet, dass in Niedersachen 3 500 neue Lehrerstellen geschaffen wurden. Es sind aber nur 2 200 Beamtenstellen und 900 Angestelltenstellen. Dies macht zusammen bloß 3 100 Stellen und davon sind auch noch sage und schreibe 700 Stellen bis zum 31. Juli 2004 befristet und fallen dann wieder weg. ({0}) Das Ganze ist also wirklich nur ein Wahlkampfbluff; es sind potemkinsche Dörfer. Wenn dies die Politik in Niedersachen ist, tun mir die Schülerinnen und Schüler und vor allem die Eltern schon jetzt Leid. ({1}) Bildung und Forschung sind im Prozess der Globalisierung die wichtigsten Güter überhaupt. Angesichts dieser allgemein anerkannten Tatsache ist der Koalitionsvertrag von Rot-Grün ein trauriges Dokument ideologischer Irrwege. Rot-Grün setzt die gescheiterte Bildungspolitik fort, die von TIMSS und PISA bis jetzt zur OECD-Studie durchgehend mangelhafte Zeugnisse erhalten hat. Sie sind eben immer noch Ihren alten Dogmen verhaftet. Das Leitmotiv Ihrer Absichtserklärungen lautet: Zentralismus, Bevormundung und Nivellierung nach unten. ({2}) Nicht umsonst sind in den letzten vier Jahren private Eliteschulen wie Pilze aus dem Boden geschossen, zum Beispiel in Bremen, in Köln oder in Berlin direkt vor den Toren des Kanzleramtes. Sie schaffen mit Ihrer Politik ein Zweiklassenbildungssystem: ({3}) Diejenigen, die es sich leisten können, bekommen eine erstklassige Ausbildung; alle anderen, die aus schwächeren Einkommensverhältnissen kommen, haben das Nachsehen. Das nennen Sie sozial gerechte Bildungspolitik. ({4}) Sie haben mit Ihrer Bildungspolitik in den letzten vier Jahren die Abwanderung qualifizierter Nachwuchswissenschaftler ins Ausland nicht zu stoppen vermocht. ({5}) Kein einziger Nobelpreis ging in den letzten Jahren an deutsche Forscher. In Sachen Bildung kommt Deutschland aus den Negativschlagzeilen nicht heraus. Nach den ernüchternden Ergebnissen von TIMSS und PISA verweist die gestern vorgestellte OECD-Studie das deutsche Bildungswesen erneut auf die hinteren Ränge. Das Zeugnis der OECD lautet: Defizite im Grundschulbereich, schlechte Lernstimmung und zu wenige Hochschulabsolventen. ({6}) Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie findet eben nicht nur in Schulen und Hochschulen, sondern auch bereits im Elternhaus statt. ({7}) Wer hier nur auf den Staat setzt und sich zentralistischen Regelungsfantasien hingibt, der hat die Zeichen nicht erkannt ({8}) und kapituliert vor dem Megathema Bildung. ({9}) PISA hat zwei Ergebnisse: erstens das Fehlen einer individuellen und leistungsgerechten Förderung und zweitens den unwürdigen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Viele der erkannten Defizite ließen sich beheben, wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, den Blick nach Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen wagen würden. ({10}) PISA belegt, dass diese Länder in der Bildungspolitik erfolgreich sind. ({11}) Als weitere Antwort auf das deutsche Abschneiden in der PISA-Studie haben Sie, Frau Bulmahn, gerade wieder angekündigt, nationale Bildungsstandards einzuführen und eine Evaluationsagentur auf den Weg zu bringen. Bloß hinken Sie damit aktuellen Ergebnissen hinterher. Die Kultusministerkonferenz hat bereits im Mai 2002 die Einführung dieser bundesweit geltenden Bildungsstandards verabredet und regelmäßige vergleichende Tests beschlossen. ({12}) Sie hat sogar vor 14 Tagen ihre Ziele konkretisiert. Selbst SPD-geführte Länder haben sich die Einmischung vom Bund verbeten, weil sie sie als Bedrohung empfinden. ({13}) Zum Glück hat der Bürgermeister von Bremen nach PISA festgestellt - ich zitiere aus der Presse -: „Die SPD ist seit 1947 verantwortlich für die Bildungspolitik ... Pisa ist die Quittung dafür.“ Dem schlechten Ergebnis müsse sich die Politik nun stellen. Jetzt hören Sie mir einmal zu: „Die SPD hat ihre Bildungspolitik teils gegen den hartnäckigen Widerstand der CDU durchgesetzt.“ ... Nun müsse sie „die Kraft haben“, aus ihren Fehlern zu lernen. Recht hat der Mann. ({14}) Auch die Etablierung einer unabhängigen, international besetzten Expertenkommission zur Erarbeitung von Empfehlungen für die Weiterentwicklung des Bildungswesens und die Vorlage eines nationalen Bildungsberichts sind bereits überholt, da die KMK auch dies beschlossen hat. Im Herbst 2003 kommt der erste Bericht. ({15}) Meine Damen und Herren, nach Jahrzehnten des Irrwegs einer verordneten Einheitsschule droht nun der Rückfall in alte ideologische Reflexe. Einigkeit haben wir in der Frage, dass wir bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dringend weiterkommen müssen. Aber wir unterscheiden uns in einem zentralen Punkt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Reiche, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dümpe-Krüger von Bündnis 90/Die Grünen?

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne fortfahren. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie wollen fortfahren. Keine Zwischenfrage.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wollen die Kindererziehung in die Hände des Staates geben. Wir wollen Wahlfreiheit für die Familien. ({0}) Sie kündigen erneut 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen an. Damit sollen aber nur die Investitionen finanziert werden. Das ist wie das 70er-Jahre-Schwimmbadmodell: Da investiert der Bund in Beton und die Länder und Kommunen bleiben auf den Folgekosten sitzen. ({1}) Sie können mit 100 000 Euro pro Schule zwar die Suppenküche einrichten, haben dann aber schon keinen mehr, der diese betreibt. Sie wollen eine Suppenküche aber nur dann einrichten, wenn ein pädagogisches Konzept angewandt wird, das der SPD passt. ({2}) Sie misstrauen den Eltern und den Verantwortlichen vor Ort und bilden sich ein zu wissen, was das Beste für die Schüler und die Familien ist. Wir lehnen eine verordnete Zwangsverschulung in den Ganztagsschulen ab. ({3}) Wir setzen auf eine bedarfs- und kindgerechte Ganztagsbetreuung. Wir wollen eine Vielfalt an qualitativ hochwertigen Betreuungsangeboten. ({4}) Für leistungsschwache Schüler ist die individuelle Förderung auch durch zusätzlichen Unterricht am Nachmittag durchaus sinnvoll. ({5}) Aber als Einheitsmodell für ganz Deutschland lehnen wir das ab. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Deutschland in der internationalen Liga mitspielen soll, dann müssen wir die Herausforderungen der Zukunft annehmen. Deswegen müssen wir in der Forschungsförderung klare Prioritäten setzen und geeignete Forschungsstrukturen schaffen. ({7}) Zum Stichwort Schlüsseltechnologien. Die beabsichtigte Förderung von Informations- und Kommunikationstechnologien, von Nano- und Biotechnologie, von Umwelt- und Energietechnik findet unsere Unterstützung. Hier dürfen wir den Anschluss an die internationale Entwicklung nicht verpassen. Sonst ist der Zug für viele Bereiche in Deutschland abgefahren. Für mich zum Beispiel liegt bei der Biotechnologie ein ganz klarer Schwerpunkt. Hier vermisse ich eine schlüssige Strategie, insbesondere auch zur Förderung der Forschung in der Gentechnik. ({8}) Deutschland ist hier in den letzten vier Jahren deutlich zurückgefallen. Die Aufbruchstimmung in der Biotechnologie ist merklich abgeflaut. ({9}) Die Förderung der Genomforschung wird nach dem Wegfall der UMTS-Gelder einbrechen. Sie spielen rote und grüne Gentechnik gegeneinander aus. Die grüne Gentechnik wird seit 1998 politisch und ideologisch in Grund und Boden gestampft. Die Verlagerung der Zuständigkeiten in das grüne Verbraucherschutzministerium bedeutet das Aus für die grüne Gentechnik in Deutschland. ({10}) Die Ministerin plant ein Institut für Risikomanagement. Ich schlage Ihnen vor: Schaffen Sie endlich ein Institut für Chancenevaluierung! ({11}) Sie haben ein Gentestgesetz angekündigt. Dazu kann ich nur sagen: Willkommen im Klub! Ich selbst habe zusammen mit meiner Fraktion Eckpunkte zu einem Gentestgesetz formuliert, das das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützen soll. Diese sind von Ihnen abgelehnt worden. Ich bin neugierig, ob Sie sich in dieser Legislaturperiode einigen können. ({12}) Nun komme ich auf die Forschungsstrukturen zu sprechen. Was ist mit dem Hochschulrahmenrecht? Verbirgt sich hinter dem schon genannten Pakt für Hochschulen die nächste HRG-Novelle? Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum zum Beispiel die Frage der Hochschulzulassung nicht ganz konkret angesprochen wird. Die ZVS ist überholt. ({13}) - Das ist korrekt, Herr Kollege Tauss. - Diese Erkenntnis teilen nicht nur unionsgeführte Länder, sie teilt zum Beispiel auch Wissenschaftsminister Oppermann aus Ihrem niedersächsischen Landesverband. Hören Sie doch auf die Stimmen aus Ihrem eigenen Lager und schaffen Sie die ZVS ab! ({14}) Sie haben einen entsprechenden Antrag unserer Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode abgelehnt. Das gesamte Dienstrecht muss so gestaltet werden, dass junge Wissenschaftler ihre Zukunft in den Forschungseinrichtungen hier in Deutschland sehen. Mit Interesse habe ich die Ankündigung eines Wissenschaftstarifvertrages für Hochschulen und Forschungseinrichtungen gelesen. Offenbar hat die Bundesregierung bereits ein halbes Jahr nach In-Kraft-Treten ihrer so genannten Jahrhundertreform im Dienstrecht kalte Füße bekommen. Das ist kein Wunder, schließlich gab es massive Proteste. Der Historiker Tassilo Schmitt hat zum Beispiel gesagt, er kenne keinen Wissenschaftler, der dem HRG etwas Gutes abgewinnen könne. Ein Institutsdirektor der Fraunhofer-Gesellschaft klagt, fast jeder seiner guten Leute haue inzwischen nach der Doktorarbeit ab. Damit muss schleunigst Schluss sein. ({15}) Das alles braucht eine hinreichende finanzielle Unterstützung. Es heißt zwar, dass die öffentlichen und privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen - das wurde auch gerade wieder gesagt -, nur fehlt hier die Aussage, welchen Teil die Bundesregierung selbst dazu beitragen will. ({16}) Sie haben ja mit Ihren Versprechungen von 1998, den Etat zu verdoppeln, schlechte Erfahrungen gemacht. ({17}) Würde man diese Rechnung jetzt durchführen, dann kämen wir auf eine Steigerung von 21 Prozent. Wenn 21 Prozent bei Ihnen so viel sind wie eine Verdoppelung, dann kann ich nur sagen: Rechnen ungenügend. ({18}) Meine Damen und Herren, ich finde auch wieder ein Bekenntnis zur Vereinfachung von Förderverfahren im Mittelstand. Das finde ich gut. Ich kann Ihnen allerdings nicht ganz glauben und bin misstrauisch, ob Ihnen das gelingt. In der letzten Legislaturperiode haben Sie den Arbeitsmarkt zubetoniert und wollen ihn nun mit dem Konzept von Herrn Hartz mühsam aufmeißeln. Ich möchte Ihnen abschließend skizzieren, woran wir Sie messen werden: ({19}) Erstens. Die Ganztagsschule soll für uns ein Baustein einer vielfältigen und qualitativ hochwertigen Ganztagsbetreuung sein. Wir werden nicht zulassen, dass Sie die Eltern entmündigen. ({20}) Zweitens. Wir wollen die berufliche Bildung reformieren. Dazu braucht Deutschland ein differenziertes Angebot an Berufsbildern und Ausbildungsverordnungen für alle Begabungen. Drittens. Wir werden erneut eine Novellierung des Hochschulrahmengesetzes anstoßen, die zum Ziel hat, die Habilitation wieder als Voraussetzung zur Berufung auf eine Professur - neben anderen Wegen - einzuführen, ({21}) den Ländern die Möglichkeit einer leistungsbezogenen Besoldung zu geben, das Verbot von Studiengebühren für das Erststudium aufzuheben, die Verpflichtung der Länder zur Einrichtung von verfassten Studierendenschaften rückgängig zu machen und die ZVS weitgehendst abzuschaffen. ({22}) Viertens. Wir wollen, dass die Forschungseinrichtungen in Deutschland verlässlich und so umfassend ausgestattet werden, dass sie Weltklasseforschung betreiben können, ohne im bürokratischen Sumpf zu versinken. Dazu gehört auch die Möglichkeit, individuelle Leistungsanreize zu schaffen. ({23}) Fünftens. Für die Forschung brauchen wir größere Freiräume durch Beschleunigung und Vereinfachung von Genehmigungsverfahren und der zu beachtenden Standards. ({24}) Der neue Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Professor Gruss, hat völlig zu Recht beklagt, dass Deutschland im internationalen Vergleich viel zu restriktive Gesetze hat. Sechstens. Wir werden uns intensiv um Existenzgründungen aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen kümmern. Siebtens. Wir werden uns intensiv um die neuen Länder kümmern. Bemerkungen dazu habe ich übrigens bei Ihnen eben völlig vermisst. Achtens. Wir werden eine neue nationale Biotechnologie-Strategie vorlegen und wir werden Sie mit unseren Vorschlägen zur Biopatentrichtlinie, zu einem Gentestgesetz und einem Fortpflanzungsmedizingesetz konfrontieren. Neuntens. Wir werden uns weiter um die Energie- und Fusionsforschung sowie um die Luft- und Raumfahrtforschung kümmern. ({25}) Ich bin gespannt, was ich in den kommenden Jahren davon bei Rot-Grün wiederfinden werde. Ich überlasse Ihnen gerne das Copyright für unsere Vorschläge. Würden Sie diese aufgreifen, würde es Deutschland besser gehen. ({26})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Reiche, Ihre Fundamentalkritik am deutschen Bildungssystem schließt ja wohl gleichzeitig eine massive Länderkritik ein, also auch eine Kritik an allen CDU-regierten Ländern. Meiner Meinung nach sollten Sie das der Ehrlichkeit halber dazusagen. ({0}) Der Bundestagswahlkampf ist nun zum Glück vorbei. Ich finde, die Wahl hat einen guten Ausgang genommen. ({1}) Einige Kolleginnen und Kollegen hier scheinen das aber noch nicht so recht bemerkt zu haben. ({2}) Wir können uns nun endlich wieder an die konkrete politische Arbeit machen. Die Bildungspolitik war im Wahlkampf ja ein ganz entscheidendes Thema, das alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen zu berühren schien. Bevor es nicht zu wirklich entscheidenden Reformen in diesem Bereich gekommen ist, darf der öffentliche Druck nicht nachlassen. Dafür sollten wir sorgen und wir sollten uns dann auch diesem Druck entsprechend bewegen. Die rot-grüne Bundesregierung hat während der Koalitionsverhandlungen klargestellt - auch Bundeskanzler Gerhard Schröder hat es gestern in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht -, dass der Bildungspolitik in den nächsten vier Jahren weiterhin eine hohe Priorität eingeräumt wird. Dazu gehören unter anderem natürlich die verstärkte Einrichtung von Ganztagsschulen und der Stopp des Unterrichtsausfalls. Ich sage aber auch ganz klar, dass die Stundenanzahl allein nicht entscheidend ist. Wichtig ist die Qualität des Unterrichts und damit das, was am Ende wirklich in den Köpfen der Schülerinnen und Schülern hängen bleibt. ({3}) Hierzu muss die empirische Bildungsforschung dringend ausgeweitet werden und in der theoretischen sowie ganz besonders natürlich auch in der praktischen Lehrerinnenund Lehrerausbildung ihren Niederschlag finden. Wir starten daher eine Qualitätsoffensive für besseren Unterricht. Wir richten einen Sachverständigenrat Bildung ein, der alle zwei Jahre einen nationalen Bildungsbericht vorlegen soll und kontinuierlich wichtige Reformimpulse geben wird. In diesem Zusammenhang treten wir für eine enge Kooperation zwischen Bund und Ländern ein und würden uns darüber freuen, wenn sich auch die CDU/CSU einem solchen Sachverständigenrat nicht verschließen würde. ({4}) Gemeinsam sollten wir einheitliche bundesweite Bildungsstandards mit dem zentralen Ziel entwickeln, das Auseinanderdriften von Schulformen und einzelnen Schulen in den Bundesländern zu vermeiden. Das zentrale Kriterium sollte, begleitet durch interne und externe Evaluierungsprozesse unserer Bildungssysteme, der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler sein. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für den Fortbildungssektor. Wir werden alle Weiterbildungsangebote regelmäßig qualitativ auf den Prüfstand stellen, indem wir die Stiftung Bildungstest ausbauen und ihr die Funktion eines Gradmessers für qualitative Bildungsangebote zuweisen. Damit die Beteiligung an Weiterbildungsprogrammen erhöht wird, werden wir die Beratungsangebote auf- und ausbauen. Bildungspolitik darf sich keines starren Instrumentariums bedienen. Neue Entwicklungen und Trends, beispielsweise im Bereich E-Learning, gilt es aufmerksam zu verfolgen und dort einzusetzen, wo es sinnvoll erscheint. Aber wir dürfen nicht nur an die Lernenden, sondern müssen auch an die Lehrenden denken. Keine Lehrerin und kein Lehrer darf sich von uns im Stich gelassen fühlen. ({5}) Wir sollten gemeinsam an neuen Arbeitszeitmodellen arbeiten. Auch eine stärkere Flexibilisierung der Lehrerbesoldung kann bessere Anreize für den Lehrberuf schaffen. Die Elemente Leistung, Motivation und sichere Beschäftigungsbedingungen wollen wir in einem vernünftigen Rahmen zusammenführen. Zum Abschluss noch ein paar kurze Bemerkungen zum Unibereich. Wir werden die erfolgreich begonnene Hochschulreform in den nächsten vier Jahren konsequent weiterführen. ({6}) Die Qualifikationsphasen an den Hochschulen wurden bereits erfolgreich neu strukturiert. Auch die Gebührenfreiheit für das Erststudium wurde gesetzlich abgesichert. ({7}) Ich könnte jetzt noch ganz viel dazu sagen. Leider ist meine Redezeit schon fast vorbei. Deshalb noch etwas zu unserem zentralen Grundsatz in der Bildungspolitik.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ihre Redezeit ist vorbei.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich wollte noch einen abschließenden Satz sagen. - Wir wollen allen den Zugang zu Bildung ermöglichen, unabhängig von der sozialen Herkunft. Es darf kein Zweiklassensystem im Bildungssystem geben, auf der einen Seite diejenigen, die sich Bildung leisten können, auf der anderen Seite diejenigen, die keinen Zugang zu qualitativ hochwertigen Bildungsinstitutionen haben. Daran sollten wir alle gemeinsam arbeiten, und zwar zugleich auf Bundes- und Landesebene. Es macht keinen Sinn, dieses Thema im Wahlkampf auszuschlachten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDPFraktion. ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da lernen wir noch viel von Ihnen, Herr Tauss. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Frau Bettin, dass Sie jetzt in unsere Reihen vorgestoßen sind. Ich kann Ihnen versichern: Die FDP wird dafür sorgen, dass auf diese rot-grüne Regierung und ihre Bildungs- und Forschungspolitik viel öffentlicher Druck ausgeübt wird. ({0}) Zum Bereich Bildung und Forschung haben der Bundeskanzler und, wenn ich das richtig verfolgt habe, auch Frau Bulmahn einen eher lyrischen Vortrag als konkrete Ankündigungen geliefert. ({1}) Als Bildungspolitikerin sage ich allerdings: Lyrik hat für die Bildung durchaus einen Wert. Auch wenn Sie nur sehr nebulös - Frau Bulmahn, Sie haben das eben nicht viel deutlicher dargestellt - das 4-Milliarden-Euro-Programm zur Förderung der Ganztagsangebote angesprochen haben, so sind wir - das will ich Ihnen gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode sehr klar sagen, das wissen Sie auch aus der letzten Legislaturperiode - grundsätzlich mit Ihnen einer Meinung. Auch die FDP will ein flächendeckendes Angebot an Ganztagsschulen, aber eben nicht nur als Betreuungs- und Verwahrungseinrichtung, sondern mit einem klaren pädagogischen Konzept und einem Bildungsauftrag. ({2}) Sie sprechen dabei von einer intensiven Kooperation mit den Ländern, Frau Bulmahn. Auch der Bundeskanzler hat das erwähnt. Allerdings habe ich - das will ich genauso deutlich sagen - heftige Zweifel, dass dies auch nur in irgendeiner Weise funktionieren wird. Ich möchte nur auf das Land Nordrhein-Westfalen verweisen, das im Haushalt 2003 - in dessen Beratungen steigen wir ja auch gerade ein - zusätzlich 11 Millionen Euro für die Ganztagsbetreuung bereitstellt. Es stellt aber nicht eine zusätzliche Lehrerstelle zur Verfügung. ({3}) Frau Bulmahn, Sie scheinen, um mit Frau Reiches Worten zu sprechen, wirklich nur die Suppen zu finanzieren, aber das pädagogische Konzept, das dahinter steht, kann mit dieser personellen Ausstattung nicht umgesetzt werden. ({4}) Der Bundeskanzler hat gestern ebenso poetisch ausgeführt, Zugang zu erstklassigen Bildungseinrichtungen dürfe nicht vom Geldbeutel und vom Wohnort abhängen. Deshalb wollen Sie mit den Ländern einen „Kern von nationalen Bildungs- und Leistungsstandards schaffen“. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, wofür wir eigentlich vier Jahre lang gekämpft haben. - Für einen Kern? Warum reduzieren Sie nun die wichtige Forderung nach Standards in allen wichtigen Bereichen in den Schulen unserer Kinder plötzlich auf einen winzigen Kern? Das zwingt mich regelrecht zu der Vermutung, dass Sie mit den Kultusministern nicht zurechtkommen, Frau Bulmahn. ({5}) Die neue Legislaturperiode beginnt so, wie die alte geendet hat. Ich freue mich, Frau Bulmahn, dass Sie in den Koalitionsvertrag Forderungen aufgenommen haben, die die FDP schon seit Jahren erhoben hat. Wir begrüßen, dass endlich ein nationaler Bildungsbericht vorgelegt werden soll. ({6}) Auch die Einrichtung einer bundesweiten Bildungsstiftung ist zu begrüßen; dabei handelt es sich um eine uralte Forderung der FDP. Des Weiteren sind Sprachtests vor der Einschulung, Flexibilisierung der Lehrerbesoldung und ein Wissenschaftstarifvertrag vorgesehen. Ich bin gespannt, was damit auf uns zukommt und ob Sie es in diesen vier Jahre schaffen, die Herren Kultusminister und Damen Kultusministerinnen endlich zu einem vernünftigen Tarifvertrag zu überreden. Ich kann Ihnen versichern, dass die FDP alles tun wird, um Sie dabei zu unterstützen, Frau Bulmahn. ({7}) Vielleicht geschieht es in dieser Legislaturperiode nicht mehr, dass Sie unsere Vorschläge erst ablehnen und nach einer Schamfrist selbst einbringen. Die Bildungssituation in Deutschland gibt uns nämlich weiß Gott nicht Zeit für solche Spielchen. ({8}) Wir liegen im internationalen Vergleich - meine beiden Vorredner haben bereits darauf hingewiesen; die OECDStudie hat es erneut deutlich gezeigt - nach wie vor auf den hinteren Rängen. Es gibt nach wie vor zu wenig Studienanfänger, zu wenig individuelle Betreuung und es besteht ein dramatisches Lerndefizit bei Kindern aus sozial schwachen Familien. Nur 41 Prozent der 15-jährigen Schüler haben den Eindruck, die Lehrer würden sich für ihre Lernfortschritte interessieren. Nur Korea, Italien und Polen schneiden schlechter ab. Ich habe vier Jahre damit gelebt, dass Sie uns immer wieder beschimpft und uns vorgeworfen haben, was wir in den Vorjahren alles verkorkst haben, Frau Bulmahn. ({9}) Offensichtlich hat sich aber nichts bewegt. Was ist denn besser geworden? An welcher Stelle in den internationalen Leistungsvergleichen haben wir uns nach oben bewegt und wovon können Sie mit Fug und Recht behaupten, wir hätten uns unter Rot-Grün verbessert? ({10}) - Richtig. Die Antwort lautet: nirgends. Kommen Sie mir nicht mit der üblichen Lehrerschelte, sondernverbessernSieendlichdieLehrerausbildungunddie pädagogischeForschung.WirkenSieaufdieLänderein- ich freue mich schon auf Ihren Redebeitrag, Herr Tauss -, mehr Lehrer einzustellen und die Klassenstärken zu senken, damit eine individuelle Betreuung möglich wird. Das Problem in Deutschland sind eben nicht schlecht motivierte Lehrer, sondern schlecht motivierte Kultusbürokraten. ({11}) Deutschland soll in zehn Jahren zu den führenden Bildungsnationen zählen. Auch das ist ein schönes Ziel, das Sie gestern erklärt haben. Aber wie wollen Sie dieses Ziel erreichen, wenn die Staatsausgaben für Bildung unter dem OECD-Schnitt liegen und zum Beispiel ein 9-jähriges Kind bei uns nur 752 Stunden Unterricht bekommt, während der OECD-Schnitt 829 Stunden beträgt? ({12}) Insofern haben Sie weiß Gott sehr viel vor sich, Frau Bulmahn. Nur eine gute Bildung kann gute Wissenschaftler hervorbringen. Sie wollen die Schlüsseltechnologien vorantreiben. Ich befürchte aber, dass Frau Reiche und ich diejenigen sind, die in den nächsten vier Jahren etwas vorantreiben werden, ({13}) während Sie mit meinem Freund Fell und auch mit Herrn Tauss alles daransetzen werden, um im internationalen Vergleich hinter den anderen Ländern hinterherzuhinken. ({14}) - Wie gehabt. Lassen Sie mich trotzdem zum Schluss ein versöhnliches Wort an Sie richten. Frau Bulmahn, Sie können sicher sein, dass die FDP-Fraktion Sie wie in den letzten vier Jahren bei Ihren sehr oft vergeblichen Versuchen, mit den Ländern Fortschritte zu erzielen, intensiv unterstützen wird. ({15}) Aber wir werden in vier Jahren wieder eine Bilanz von Ihnen einfordern. Ich gönne es unserem Land, dass Sie dann eine Bilanz vorzuweisen haben, die es wert ist, dass mit ihr geprotzt wird, Frau Bulmahn. Aber ich bezweifle, dass Rot-Grün das schaffen wird. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg Tauss von der SPDFraktion. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, der Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist ein Dokument unseres festen Willens, weiterhin den Themen Bildung und Forschung die erforderliche Priorität zuzubilligen. Das war auch unsere Absicht 1998. Inzwischen haben wir einiges realisiert. Frau Reiche, davon sollten Sie nicht ablenken. Ein Mindestmaß an Ehrlichkeit und Sachkenntnis könnte nicht schaden, wenn man Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion für Bildung und Forschung ist. ({0}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode bewiesen, dass wir konstruktiv streiten und gelegentlich auch lautstark sein können. Ich habe mich, wie Sie wissen, stets um Harmonie bemüht. ({1}) Ich freue mich, dass Sie das in so guter Erinnerung behalten haben. Aber zu dem, was Sie, Frau Reiche, zur Gentechnik und zur Biomedizin gesagt haben, kann ich nur feststellen: Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben. Wir haben die Mittel für die Förderung dieses Bereichs im Vergleich zu dem, was Sie uns hinterlassen haben, fast verdreifacht. Dieser Bereich weist einen noch nie da gewesenen Zuwachs an Arbeitsplätzen auf. Inzwischen kommen die Wissenschaftler aus den USA zurück, um in Deutschland zu forschen. Wie gesagt, ein Mindestmaß an Ehrlichkeit könnte nicht schaden und wäre Voraussetzung für die von mir angesprochene Harmonie. ({2}) Nichtsdestotrotz haben wir in der letzten Legislaturperiode - das habe ich als besonders spannend empfunden auch zusammengearbeitet, um zu gemeinsamen Konzepten und Kompromissen in der Sache zu kommen. Wir waren sicherlich oft unterschiedlicher Auffassung. Der Streit über die Stammzellenforschung hat mehr als einmal die Frage nach der Ethik in der Forschung aufgeworfen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir hier Kompromisse und Mehrheiten auf höchstem parlamentarischem Niveau erzielt haben. Ich würde mich freuen, Frau Reiche, wenn das mit Ihrer Hilfe auch in Zukunft möglich wäre. Der Grundstein, den Sie heute gelegt haben, war allerdings nicht sehr erfolgversprechend. ({3}) Ich hoffe, dass sich das ändern wird. Wir müssen selbstverständlich ethische Grundlagen und Anforderungen für neue Fragen definieren. Wir müssen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verlässliche Arbeitsbedingungen schaffen. Nur, gerade im Bereich der Biomedizin war es doch Frau Dr. Böhmer, die im letzten Moment bei der schwierigen Suche nach einem Kompromiss noch ein Ei in das Nest gelegt hat, das die Kriminalisierung nicht deutscher Biomediziner zur Folge gehabt hätte. Das war das Ergebnis dessen, was Sie gemacht haben. Der Koalitionsvertrag enthält demgegenüber konkrete Vereinbarungen zu den Themenfeldern Bildung und Forschung. Die Bildungspolitik ist im Kontext unserer Bemühungen um die Verbesserung der Kinderfreundlichkeit unseres Landes zu sehen. Frau Reiche, dazu gehören auch unsere Bemühungen um eine bessere Bildung und eine bessere Betreuung für alle. Das wollen wir erreichen. Sie stehen mit Ihrer Partei, wie wir heute gehört haben, für Studiengebühren, für Auslese und für Bildung nach dem Geldbeutel. Wir dagegen stehen für Exzellenz, die aus der Förderung von Breite erwächst. Das ist der Unterschied. ({4}) Der Bund wird in den nächsten Jahren den Ländern jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro für den Aufbau von Ganztagsschulen und für die Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten von Kindern avisieren. Aber Sie reden in diesem Zusammenhang - ich müsste das als Unverschämtheit bezeichnen; aber ich bin heute milde gestimmt - von Suppenküchen. Ich halte es für absolut inakzeptabel, wie Sie sich verhalten, wenn es um Investitionen in die Zukunft von Kindern und Jugendlichen geht. ({5}) Frau Reiche, wir müssen alles tun, um die Neugier und die Lust auf Lernen schon bei kleinen Kindern zu fördern. Neugier ist schließlich eine ganz wesentliche Triebkraft für Wissenschaft und Forschung. Aus diesem Grunde müssen wir die frühkindliche Förderung - das muss Konsequenzen bis in die Ausstattung des Hochschulbereichs und in den Weiterbildungsbereich hinein haben - in verstärktem Maße auf die Agenda setzen; denn hier haben Sie uns nichts hinterlassen, worauf wir aufbauen könnten. Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden. ({6}) Nebenbei bemerkt, wenn die Industrieherren Rogowski und Hundt - ich möchte das Wort von den Kettenhunden nicht aufgreifen - mehr Zeit und Überlegungen in Konzepte für die Weiterbildung ihrer Beschäftigten stecken und weniger Zeit darauf verwenden würden, Deutschland in Talkshows mies zu machen, dann sähe es in unserem Land ein bisschen besser aus. ({7}) Das gilt auch für Herrn Henkel, dem im Interesse seiner Wissenschaftsgemeinschaft eine etwas ehrlichere Bestandsaufnahme zu wünschen ist. Auch er labt sich nur an schlechten Nachrichten und tut sonst nichts. Meine sehr verehrten Damen und Herren, viel zu viele Jugendliche haben, nachdem sie unser Bildungssystem durchlaufen haben, keine Abschlüsse. Das gilt auch für Baden-Württemberg. In keinem Land gibt es mehr Beschäftigte, die lediglich angelernt und nicht ausgebildet sind. ({8}) Das führt dazu, dass in Baden-Württemberg bereits die Hälfte aller Arbeitslosen ohne Bildungsabschluss ist, sodass trotz besserer Konjunktur qualifizierte Stellen nicht besetzt werden können. ({9}) - Das ist das Thema Weiterbildung in unserem gemeinsamen Land Baden-Württemberg, Herr Fischer. Auch ich habe dieses Bildungssystem durchlaufen müssen. Man geniert sich ja gelegentlich, weil Baden-Württemberg als einziges Land nichts für die Weiterbildung der Beschäftigten tut und in der Vergangenheit nichts getan hat. Das ist einfach Fakt und die Folgen spüren wir am Arbeitsmarkt. ({10}) - Ja, schlimmer gehts, das haben Ihre heutigen Äußerungen gezeigt. Das ist nun wirklich so. Kommen wir zum Hochschulbereich. Frau Reiche, wir haben die Grundlagen dafür gelegt, dass junge Leute künftig rascher eine wissenschaftliche Karriere machen können. Wir haben gehört, Sie wollen zurück zur Habilitation. Sie wollen erreichen, dass die Leute wieder mit Anfang 50 habilitieren. Wir machen das Gegenteil. Wir sorgen dafür, dass gute junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht mehr ins Ausland gehen müssen, um schnell Karriere zu machen, sondern ihnen gute Rahmenbedingungen geboten werden, sodass sie zurückkommen können. Das haben wir gemacht und Sie werden es nicht zurückschrauben können. ({11}) Ich sitze seit gestern Morgen mit großer Geduld hier im Plenarsaal und höre Ihnen zu. Dabei stelle ich mir ständig die Frage: Wie sieht es aus mit Ihren Alternativen? Wir haben Erfolgszahlen vorzuweisen, ({12}) bis hin zur BAföG-Novellierung. Ja, das haben Sie doch selber gerade gesagt. ({13}) - Nicht im Bildungsbereich? Die Studienanfängerzahlen, Frau Flach, sind wieder auf über 30 Prozent gestiegen. Deutschland gehört neben den USA und England für Studienanfänger aus dem Ausland wieder zu den begehrtesten Ländern. Das alles haben wir gegen Ihren Widerstand geschafft und Sie mosern hier herum. ({14}) Der gestrigen Rede der Vorsitzenden Ihrer Fraktion, Frau Merkel, die jetzt ganz hinten sitzt, habe ich große Aufmerksamkeit geschenkt und mich danach gefragt, wie oft sie eigentlich die Wörter Bildung und Forschung erwähnt hat. Es ist blamabel, liebe Frau Reiche, aber Ihre Fraktionsvorsitzende hat die Wörter Bildung und Forschung nicht ein einziges Mal in den Mund genommen, weil sie sich nicht dafür interessiert, Sie wie auch die CDU/CSU sich in 16 Jahren Kohl nicht für Bildung und Forschung interessiert hat. Das ist der Fakt. ({15}) Bei der FDP, liebe Frau Flach, war es übrigens nicht besser. Bei Herrn Westerwelle kam Forschung ein einziges Mal vor, aber im Zusammenhang mit dem Wort Wirtschaftsforschungsinstitut. Sie sind im Moment ohnehin mit Flugblatt- und Geldforschung beschäftigt. Lassen wir das Thema. ({16}) Nach den Ergebnissen der OECD, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommen ausländische Studierende wieder nach Deutschland. Wissen Sie, woran das liegt? Das liegt unter anderem daran, dass wir über das Zuwanderungsgesetz die Situation derer, die zu uns kommen wollen, verbessert haben. ({17}) Sie prozessieren noch vor dem BVG gegen unser Gesetz; das ist unglaublich. Wissen Sie, was wir gemacht haben? Wir haben bereits zum Herbstsemester die Regelung des Gesetzes, gegen das Sie noch prozessieren, in Kraft gesetzt. Die ausländischen Studierenden können ihren Lebensunterhalt hier verdienen. Das sind tolle Leistungen. Sie hinken auch hier hinterher und sind nichts anderes als Bremser in der Entwicklung. Sie wollen die Leute im Grunde mit der Vorstellung verängstigen, dass Ausländer, auch ausländische Studierende, zu uns kommen. ({18}) Gestern Abend hat Ihr Kollege Bosbach hier mit seinen ausländerfeindlichen Tiraden ein Beispiel dafür geliefert, wie Sie mit dem Thema Ausländer und ausländische Studierende umgehen. ({19}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben keinerlei Zukunftsperspektiven für Bildung und Forschung aufgezeigt. Sie haben Bildung und Forschung in Ihren Reden noch nicht einmal erwähnt. Sie haben heute Abend polemisiert. Das ist schade. Ich wünsche sehr, dass sich das in dieser Legislaturperiode wieder ändert und Sie den Weg zurück zur Gemeinsamkeit finden, im Interesse unserer jungen Menschen hier im Land, im Interesse Deutschlands. Wir werden Ihnen seitens unserer Fraktion übrigens vorschlagen, eine Enquete-Kommission einzurichten, die die langfristigen Herausforderungen des Bildungswesens aufgreift. Das wichtige Thema Bildung muss über PISA hinaus besonders repräsentativ auf der Tagesordnung dieses Parlaments bleiben. An dieser Stelle herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit, unseren Neuen hier im Saal alles Gute, auch unserer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Nicolette Kressl, unserem neuen Staatssekretär, dem Kollegen Matschie, und Frau Kollegin Bettin. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Frau Reiche, wenn Sie sich noch ein bisschen bessern, wird es auch bei uns ganz gut klappen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün wird, wie in der vergangenen Wahlperiode auch, der Bildung und der Forschung einen hohen Stellenwert beimessen ({0}) und beispielsweise den Forschungsmittelanteil am Bruttosozialprodukt erhöhen. Der rot-grüne Koalitionsvertrag spiegelt im Bereich Forschung das Leitbild der Nachhaltigkeit wider. Er legt die Grundlagen für die Welt von morgen, die wir nachhaltig gestalten wollen. Rot-grüne Forschungspolitik wird die Chancen neuer Technologien nutzen. So kann der Umstieg hin zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gelingen. Wir werden uns auch in den nächsten vier Jahren dafür einsetzen, die Forschung vor allem dort zu fördern, wo sie nachhaltiges Wirtschaften ermöglicht bzw. verbessert. ({1}) Wir thematisieren allerdings auch die Risiken neuer Technologien. Nicht alles, was technisch machbar ist, darf auch gemacht werden, Frau Reiche. Es gibt unkalkulierbare Risiken, zum Beispiel auch in der grünen Gentechnik; Sie haben sie so dargestellt, als wenn sie völlig ohne Risiken wäre. Der größte Teil der Menschen in unserem Staat lehnt ihre Nutzung ab. ({2}) Insofern ist es sinnvoll und wichtig, dass wir nicht einer blinden Technikgläubigkeit, wie Sie sie in diesem Beispiel dargestellt haben, Vorschub leisten, ({3}) sondern uns im Umgang mit den neuen Technologien verantwortungsbewusst verhalten. Wir haben das im rot-grünen Koalitionsvertrag auch so festgeschrieben. ({4}) Dass wir unseren Worten und Wahlversprechen auch Taten folgen lassen, haben wir bereits in der letzten Wahlperiode gezeigt. Wir haben die Forschungsmittel kräftig aufgestockt und in der Umwelt- und Friedensforschung neue Akzente gesetzt. Diesen Weg werden wir fortführen. ({5}) Wir werden ressortübergreifend ein Energieforschungsprogramm auf den Weg bringen, das die Priorität eindeutig auf erneuerbare Energien und auf Energieeinsparung legt. Aus der Entwicklung neuer Atomreaktoren sind wir bereits in der letzten Wahlperiode ausgestiegen. Jetzt werden wir unsere Aufmerksamkeit der Kernfusion widmen. Für diese Form der nuklearen Stromerzeugung ist im Koalitionsvertrag kein Platz mehr. ({6}) Stattdessen werden Energie- und Umwelttechnologien als Schlüsseltechnologien hervorgehoben. Ein besonderes Augenmerk werden wir darauf legen, die institutionelle Struktur für die Bioenergieforschung zu stärken. Hier werden wir die vorhandenen Forschungslücken schließen. Wir werden uns auf europäischer Ebene auch für die Beendigung der Sonderstellung des Euratom-Vertrages einsetzen und damit den europäischen Atomausstieg einleiten. ({7}) Nachhaltige Forschungspolitik erkennt die wichtigen Trends von morgen. Sie sucht nach Lösungen, um Generationengerechtigkeit zu verwirklichen, und fördert nicht nur den Mainstream. Nach dem Koalitionsvertrag setzen wir uns dafür exemplarisch in der Gesundheitsforschung, und zwar mit einem besonderen Blick auf Frauengesundheit, Prävention und Altersforschung, oder auch in der Friedensforschung ein, die wir auf nationaler und auch auf europäischer Ebene erneut stärken wollen. ({8}) Wir fordern und fördern die Demokratisierung der Wissenschaft und wollen den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft weiter intensivieren. Ein gelungenes Projekt der rot-grünen Bundesregierung ist die Unterstützung der Inititiative „Wissenschaft im Dialog“. Daran werden wir weiter arbeiten. ({9}) Darüber hinaus werden wir weiter und verstärkt interdisziplinäre Forschungsansätze fördern. Die Geistesund Sozialwissenschaften müssen noch stärker als bisher einbezogen werden. ({10}) Ohne die Verbindung mit den Geistes- und Sozialwissenschaften laufen die Ingenieur- und Naturwissenschaften Gefahr, an den Bedürfnissen von Mensch und Umwelt vorbei zu forschen. ({11}) Wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Um sie zu erreichen, brauchen wir selbstredend auch finanzielle Mittel. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, bis 2010 3 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts durch öffentliche und private Aufwendungen für Forschung und Entwicklung zu investieren. ({12}) Frau Flach, wir sind Ihnen für Ihr Angebot, hier zusammenzuarbeiten, dankbar. Was wir vorhaben, kann nur durch die Zusammenarbeit von Bund, Ländern und der Wirtschaft erreicht werden. Wir leisten einen aktiven Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland in West- und ganz besonders in Ostdeutschland. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen jetzt zu den Bereichen Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Diese Bereiche stehen heute als letzte zur Diskussion. Als erste Rednerin spricht für die Bundesregierung die Bundesministerin Renate Schmidt. ({0})

Renate Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002016

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren! Meine sehr geehrten Damen! Mit Ausnahme der erwachsenen, kinderlosen und allein stehenden Männer unter 60 Jahre - für diese Personengruppe wird uns noch etwas einfallen - ist das von mir geleitete Ministerium für alle Menschen in Deutschland zuständig. ({0}) Das BMFSFJ wird flapsig das „Konsonantenministerium“ genannt. Aber der Kern der Aufgaben dieses Ministeriums ist nicht die Zuständigkeit für Einzelinteressen; wir sind das Ministerium für Gesellschaftspolitik. Es ist ein Ministerium ohne wesentliche eigenständige Zuständigkeiten für Gesetzgebung und mit nur wenigen gesetzlich nicht festgelegten finanziellen Mitteln. Das muss in meinen Augen kein Manko sein. Für mich ist es eine Herausforderung, mich für Veränderung und Erneuerung einzumischen. ({1}) Für mich ist es eine Herausforderung, Überzeugungsarbeit zu leisten und Verbündete zu suchen, in der Bundesregierung, hier, innerhalb dieses Parlaments, und zwar bei allen Fraktionen, aber vor allem in der gesamten Gesellschaft. Wir haben die Aufgabe, in einer Zeit der Individualisierung und der durch die Globalisierung verursachten einschneidenden Veränderungen im Leben jedes Einzelnen den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Erneuerung, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit werden unsere Politik prägen. Ich möchte an wenigen Schwerpunkten deutlich machen, was wir uns für diese Legislaturperiode vorgenommen haben: Diese Regierung wird der Familie dort ihren Platz sichern, wo sie hingehört: in der Mitte der Gesellschaft. In der Familien- und Kinderpolitik brauchen wir besonders viel Erneuerung. ({2}) Familie heißt für uns, mit Kindern leben und für sie Verantwortung tragen. Familien sind für uns wichtigstes Glied des Zusammenhalts der Gesellschaft. Familien sind Leistungsträger und brauchen die richtigen Rahmenbedingungen, um ihre Leistungsfähigkeit entfalten zu können. Das ist in Deutschland nicht ausreichend gewährleistet. Deutschland ist hinsichtlich der familienergänzenden Betreuungsmöglichkeiten ein unmodernes Land, nahezu ein Entwicklungsland, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Geburtenrate - mittlerweile die niedrigste in ganz Europa - hat. Nur eine Zahl dazu: 41 Prozent der Akademikerinnen bis zum 39. Lebensjahr sind in Deutschland derzeit kinderlos. ({3}) Gleichzeitig ist die Quote der Erwerbsbeteiligung der Frauen, übrigens der am besten ausgebildeten Frauengeneration, die es in Deutschland jemals gegeben hat, ebenfalls eine der niedrigsten in Europa. Beides, niedrige Geburtenraten und niedrige Erwerbsbeteiligung, hängt zusammen. Aus ideologischen Gründen wurde versäumt, die notwendige Modernisierung Deutschlands vorzunehmen. Eine fruchtlose Diskussion wurde geführt: hie die so genannte Nur-Hausfrau, dort die angeblich verantwortungslose erwerbstätige Rabenmutter. Das war falsch: Politik hat nicht vorzuschreiben, wie Menschen leben sollen; vielmehr hat die Politik dafür zu sorgen, dass Menschen so leben können, wie sie es selbst wollen und selbst entscheiden. ({4}) Jeder Familie gebührt der gleiche Respekt, die gleiche Unterstützung. Jede Mutter und jeder Vater, die oder der sich zur Einschränkung oder längeren Unterbrechung der Erwerbstätigkeit entscheidet, dürfen genauso wenig diskriminiert werden wie Mütter, die Kinder und Beruf gleichzeitig unter einen Hut bringen wollen. Sie, meine Herren und Damen von der Union, haben auch deshalb ein weiteres Mal die Bundestagswahl verloren, weil Sie ignorieren, wie die Menschen leben wollen. ({5}) Ihr Vorwurf uns gegenüber traf und trifft ins Leere. Für uns gibt es eben im Gegensatz zu Ihnen kein allein selig machendes Familienmodell. Für uns sind alle Familien gleich viel wert. ({6}) Deshalb haben wir in der letzten Legislaturperiode den Schwerpunkt auf die materielle Besserstellung von Familien gelegt: Über die Erhöhung von Steuerfreibeträgen und Kindergeld, das Anheben von Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld - wozu Sie im Übrigen 15 Jahre lang nicht in der Lage waren ({7}) bis hin zu Verbesserungen bei Wohngeld und BAföG haben wir Familien in einem Volumen von insgesamt 13 Milliarden Euro entlastet. Wir werden auch in der vor uns liegenden Legislaturperiode die materielle Situation von Familien nicht vergessen. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir Kinder und ihre Eltern aus der Sozialhilfe herausbringen wollen. ({8}) Modelle dazu werden wir nicht nur prüfen, sondern nach Möglichkeit auch umsetzen. Den Schwerpunkt werden wir allerdings auf die Verbesserung der Betreuungssituation legen, ({9}) obwohl dies nicht in der Zuständigkeit des Bundes liegt. Vielleicht sollten Sie endlich einmal registrieren, dass dafür eigentlich die Länder zuständig sind und der Bund mühevoll versucht, diese Aufgabe zu übernehmen. ({10}) Wir tun das, weil wir nicht zulassen wollen und dürfen, dass Deutschland in Europa Schlusslicht bleibt. Frau Ministerin Bulmahn hat die Verbesserungen bei den Ganztagsschulen erläutert. Wir beide werden eng zusammenarbeiten. Ich werde die Kompetenzen aus der Kinder- und Jugendhilfe meines Ministeriums einbringen. Ich möchte dies noch einmal betonen: Ganztagsschulen dienen zuallererst den Bildungschancen unserer Kinder und Jugendlichen ({11}) und sind deshalb ein wichtiger Meilenstein in der Kinderund Jugendpolitik dieser Legislaturperiode. Sie dürfen nicht als Bildungseinrichtungen für Benachteiligte abqualifiziert werden, wie Sie es heute ein weiteres Mal getan haben. Diese Einrichtungen stehen den Kindern aller Bildungsschichten offen, ({12}) wenn die Eltern dies wollen; es soll niemandem aufgezwungen werden. Aber sie dienen natürlich ebenso der besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit und sind deshalb auch ein wichtiger Meilenstein für eine moderne Familien- und Gleichstellungspolitik. Für die Verbesserung der Betreuungssituation für die unter 3-Jährigen wird die Federführung in meinem Haus liegen. Wir werden dies gut vorbereiten und es niemandem, vor allen Dingen nicht den Kommunen, überstülpen. Ich setze bei den Betreuungsmöglichkeiten für Kleinstkinder nicht nur auf mehr Quantität, sondern auch auf mehr Qualität, ({13}) weil wir wissen, wie wichtig Zuwendung und Anregungen für Kinder gerade in dieser Lebensphase sind. Die jüngste OECD-Studie bestätigt dies eindrucksvoll. Ich will gemeinsam mit den Ländern und den Kommunen erreichen, dass die Qualität der Erziehung steigt und Betreuung, Bildung und Erziehung in Deutschland eine Einheit bilden. Dies werden wir durch Projekte zur Qualitätssicherung in Tageseinrichtungen und durch Veränderungen im Kinder- und Jugendhilferecht unterstützen. Ich will eine Angebotsvielfalt: die guten Kinderkrippen, die für die Städte unverzichtbar sind, und gute Tagesmüttermodelle, die wahrscheinlich vor allem in kleineren Gemeinden besser geeignet sind. Die Bedürfnisse von Kindern und ihren Eltern müssen maßgebend sein und nicht die Lieblingsvorstellungen von Politikern und Politikerinnen. ({14}) Auch hier kann ich Ihnen Vorwürfe nicht ersparen, meine Herren und Damen von der Union: Wie haben Sie 1990 - damals gehörte ich diesem Gremium noch als Abgeordnete an - Frau Professorin Ursula Lehr in Acht und Bann getan, weil sie es gewagt hat, für 2-Jährige Betreuungseinrichtungen zu fordern! Das war Ihre Politik damals. ({15}) Wir haben wegen Ihrer ideologischen Vorbehalte 15 Jahre der Modernisierung unserer Betreuungs-, Erziehungsund Bildungseinrichtungen für unsere Kinder versäumt, die wir jetzt im Eiltempo nachholen müssen. ({16}) Aber nicht nur deshalb wirft Ihnen eine weitere meiner Vorgängerinnen, Frau Professor Süssmuth, heute zu Recht vor, dass Sie einen familienpolitischen Zickzackkurs fahren. Sie tut dies auch, weil Sie noch immer unentschieden sind, ob Sie den Bedürfnissen von jungen Frauen, die ihre gute Ausbildung nutzen und dennoch nicht auf Kinder verzichten wollen, Rechnung tragen sollen oder ob sie den jungen Menschen Ihr Familienbild oktroyieren wollen: den allein verdienenden Vater und die nicht erwerbstätige Mutter. Hier haben Sie keine stringente Linie. ({17}) Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, Gleichstellungspolitik ist mehr als Familienpolitik und Familienpolitik ist mehr als Gleichstellungspolitik. Keiner dieser Politikbereiche darf ein Anhängsel des anderen sein oder werden. ({18}) Wir haben uns vorgenommen, die einschlägigen EURichtlinien zur Gleichstellungspolitik umgehend in nationales Recht umzusetzen, um in diesem Bereich, wie andere europäische Länder auch, ein modernes Land zu werden. Dabei geht es mir nicht darum, bürokratische, unpraktikable und bis ins letzte Detail gehende gesetzliche Druckmittel für die Wirtschaft zu formulieren. Auch geht es mir nicht darum, herkömmliche Frauenförderung zu praktizieren. Frauen brauchen nämlich eine derartige Förderung nicht mehr. ({19}) Sie sind, wie uns die Fakten zeigen, meistens sogar besser ausgebildet als die jungen Männer und wie uns alle Untersuchungen zeigen, berufs- und karriereorientiert. „Gender mainstreaming“ - vielleicht fällt uns dafür auch ein schönes deutsches Wort ein ({20}) bedeutet mehr als Frauenförderung. Es bedeutet zum Beispiel, dass die Gesellschaft und damit auch die Wirtschaft ihr ureigenes Interesse erkennen, die Kompetenzen dieser gut ausgebildeten Frauengenerationen auch und vor allem in Führungsfunktionen zu nutzen. Es bedeutet, die Emanzipation der Männer, ihr Vater-Sein auch faktisch und mit zeitlichem Engagement anzunehmen. ({21}) Karriere darf für Frauen nicht länger den Verzicht auf Kinder bedeuten. Hierüber werden wir mit der Wirtschaft reden. Gleichstellungs- und Familienpolitik werden Themen des Bündnisses für Arbeit werden. Unser gemeinsames Interesse muss es sein, Kinder und ihre Familien nicht aus dem Arbeitsleben wegzuorganisieren, sondern sie zu integrieren, Familie und Arbeit in eine gute Balance zu bringen. In unserem eigenen Verantwortungsbereich werden wir das Bundesgleichstellungsgesetz Zug um Zug durchsetzen und, wo notwendig, ergänzen. Wie ernst die Bundesregierung es damit meint, zeigt unter anderem der dramatisch hohe weibliche Anteil in der Bundesregierung. ({22}) - Dramatisch ist es wahrscheinlich für Sie. Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, in 15 Minuten ist es selbstverständlich nicht möglich, alle Vorhaben dieser Legislaturperiode zu nennen. ({23}) Natürlich wird der Jugendmedienschutz weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Die Programme zur Förderung junger Menschen und ihres Engagements müssen fortgesetzt und junge Menschen müssen besser vor sexueller Gewalt geschützt werden, um nur wenige Punkte zu nennen. Die Integrationspolitik, die bereits vorher zum Teil in meinem Ministerium angesiedelt war, wird durch die weitere Parlamentarische Staatssekretärin und Ausländerbeauftragte, Marieluise Beck, zusätzliche Impulse in unserem Haus erhalten. ({24}) Zu dem von Jahr zu Jahr wichtiger werdenden Bereich der Seniorenpolitik möchte ich heute nur so viel sagen: Mein Motto heißt: Mehr Teilhabe für die große Zahl der aktiven älteren Menschen, mehr Sicherheit für die Hochbetagten. ({25}) Alt sein bedeutet Gott sei Dank nicht an erster Stelle, krank und pflegebedürftig zu sein. Es ist ein eigener, wichtiger und schöner Lebensabschnitt. Der nächste Altenbericht aus meinem Haus wird sich unter anderem mit den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern beschäftigen. Denn ich halte es für eine Verschwendung von menschlichem Know-how und für eine Vergeudung menschlicher Lebenserfahrung, wenn es in 60 Prozent aller Betriebe in Deutschland keinen einzigen Arbeitnehmer und keine einzige Arbeitnehmerin mehr jenseits des 55. Lebensjahres gibt. Das ist ein Skandal. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, das zu verändern. ({26}) Wir werden prüfen, ob ein Altenhilfestrukturgesetz sowohl den Bedürfnissen der aktiven Senioren als auch den Bedürfnissen der Hilfsbedürftigen Rechnung tragen kann. Für Letztere wollen wir nach dem In-Kraft-Treten des überfälligen Altenpflegegesetzes, das leider über ein Jahrzehnt durch den Freistaat Bayern letztendlich erfolglos blockiert wurde, den Verbraucherschutz in der Pflege erhöhen. Ich möchte erreichen, dass wir Gegensätze zwischen Leistungserbringern und Leistungszahlern in der Pflege auflösen und uns auf eine Charta für Hilfsbedürftige verständigen. ({27}) Das Ziel meiner Arbeit in dieser Legislaturperiode besteht darin, dass sich alle, an erster Stelle die Kinder, in unserer Gesellschaft willkommen fühlen können. ({28}) Mein Ziel ist es, die Spaltung der Gesellschaft, wo immer das möglich ist, zu mildern und aufzuheben, die Spaltung in Kinderhabende und Kinderlose, in Jung und Alt, in Interessen von Männern einerseits und Frauen andererseits, in Rabenmütter, angebliche Nur-Hausfrauen und Karrierefrauen, in so genannte Normalfamilien und Einelternfamilien. Gegensätze werden sich aber nur dann aufheben lassen, wenn gemeinsame Interessen erkannt werden. Dazu zählt in erster Linie das gemeinsame Interesse an Beziehung, Verlässlichkeit und Geborgenheit. Dazu zählt das Recht auf ein eigenes Leben. Dazu zählt die Gleichheit, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Hautfarbe. Eine solche Gesellschaft ist lebens- und liebenswert. Für ihre Verwirklichung werde ich mich mit allen Kräften einsetzen. ({29})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Professor Maria Böhmer von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt, als Erstes möchte ich Sie hier im Parlament herzlich willkommen heißen. Wir haben draußen lange über Familienpolitik gestritten und auch manches ausgetauscht. Ich wünsche mir, dass wir diese Diskussion zum Wohl der Familien jetzt hier in großer Offenheit miteinander führen können, dass wir dabei die Defizite benennen und dass wir nach der gebührenden Schonfrist auch die Dinge zur Sprache bringen, bei denen wir sagen: So geht es nicht. ({0}) Deshalb gleich am Anfang eine sehr nachdrückliche Bitte an Sie: Wir haben die Wahlkampfzeiten hinter uns. Es dient niemandem, Klischees zu verbreiten, wie Sie das mit größter Hartnäckigkeit immer wieder tun. ({1}) Es bringt nichts, wenn man meint, immer wieder sagen zu müssen, dass die Mitglieder der Union sozusagen die Ewiggestrigen seien. ({2}) Wir haben über Jahre hinweg für die Familien und für die Frauen in diesem Lande viel erreicht. Das lassen wir uns nicht nehmen. ({3}) Dazu gehört - ich beginne mit dem Jahre 1985 -, dass es sich die Union auf die Fahnen geschrieben hat, die neue Partnerschaft von Männern und Frauen zu realisieren. Seit dieser Zeit sind wichtige und maßgebliche Gesetze verabschiedet worden, und zwar von einer unionsgeführten Bundesregierung getragen. Ich möchte an die Einführung von Erziehungsgeld und, wie es damals noch genannt wurde, Erziehungsurlaub erinnern. Übrigens ist das Erziehungsgeld immer noch nicht erhöht worden. Sie haben die Chance, das in dieser Legislaturperiode zu tun. Aber ich sehe kein einziges Anzeichen dafür, dass dies tatsächlich geschehen wird. ({4}) Wir haben die Revolution in der Rentenversicherung durchgeführt. Wir haben die Gleichwertigkeit von Erziehungsleistung und Erwerbsleistung bis hin zur Anerkennung von 100 Prozent realisiert. ({5}) Das hat in diesem Land Maßstäbe gesetzt. Denjenigen, die uns nachsagen wollen, wir hätten in punkto Kinderbetreuung nichts getan, möchte ich entgegenhalten, dass es das damals noch CDU-regierte Bundesland Rheinland-Pfalz war, das als erstes einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt hat. ({6}) Da haben die SPD-regierten Länder alt ausgesehen und dies tun sie auch heute noch. Man sollte sich einmal anschauen, wie es um die Kinderbetreuung bestellt ist. Frau Ministerin Schmidt, Sie haben Recht. Wir müssen hart daran arbeiten, dass die Situation im Lande so ist, dass wir wirklich sagen können: Mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist es besser bestellt, so, wie wir es uns wünschen. Wie sind die einzelnen Länder ausgestattet? Sie haben zu Recht gesagt, die Realisierung der Kinderbetreuung sei Ländersache. Es ist übrigens Aufgabe der Kommunen, daran mitzuwirken. Diejenigen Länder, die im Hinblick auf die Kinderbetreuung einen vorderen Platz einnehmen, sind nicht die SPD-regierten, sondern die unionsregierten Länder, und dies sowohl in den neuen Bundesländern als auch in den alten. ({7}) Dazu sage ich: Was wahr ist, muss wahr bleiben. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Nachholbedarf besteht bei den SPD-regierten Ländern. Diese Länder sollten endlich einmal ihre Hausaufgaben machen. ({8}) Ich habe übrigens in der Koalitionsvereinbarung gelesen, dass man jetzt endlich anstrebt, die Frauenerwerbsquote entsprechend den europäischen Vorgaben auf 60 Prozent ansteigen zu lassen. Ich habe mir einmal die neuesten Ergebnisse des Mikrozensus 2001 besorgt. Ich kann es Ihnen nicht ersparen: ({9}) Baden-Württemberg und Bayern liegen deutlich über der 60-Prozent-Marke. ({10}) In Baden-Württemberg haben wir eine Erwerbsquote von 62,5 und in Bayern, das ja angeblich so rückständig ist, sogar von 63,9 Prozent. ({11}) Diese Zahlen sagen doch etwas darüber aus, wo Frauen gut aufgehoben sind. ({12}) Dann habe ich mir angeschaut, wo noch Nachholbedarf besteht. Nordrhein-Westfalen hat eine Quote von 55 Prozent. ({13}) Nordrhein-Westfalen müsste in diesem Zusammenhang unter den alten Bundesländern die rote Laterne erhalten. All diejenigen, die aus Niedersachsen kommen, wünschen sich mit Sicherheit eine andere Regierung. Denn dort liegt die Quote auch nur bei 57 Prozent. ({14}) Wir sollten hier keine Märchenstunde halten, sondern zu den Fakten übergehen und uns Gedanken darüber machen, wie wir für Familien in diesem Lande etwas erreichen und für Frauen und Männer, Mütter und Väter eine Lebenssituation herstellen, sodass es Freude macht, Familie zu haben, Kinder zu bekommen und zu Jung und Alt sowie einem guten Miteinander Ja zu sagen. ({15}) Sie, Frau Ministerin Schmidt, und der Bundeskanzler gestern in großer Deutlichkeit haben gesagt, dass es ihre vordringliche Aufgabe ist - ich zitiere jetzt den Kanzler -, „Deutschland zu einem wirklich kinderfreundlichen Land zu machen“. ({16}) Das klingt gut und auch vernünftig. Ich sage dazu nur: Wer würde dieser Aussage nicht zustimmen wollen? ({17}) - Strengen Sie sich einmal an! Sie haben, wie Sie wissen, Nachholbedarf. - Wir wollen aber nicht nur ein kinderfreundliches, sondern auch ein familienfreundliches Land. ({18}) Das ist der Ansatzpunkt, um den es gehen muss. Familie ist mehr als nur der Ort, wo Kinder sind. Familie ist Verantwortungsgemeinschaft. Ich war ein wenig erleichtert, als ich von Frau Ministerin Schmidt endlich hörte, was ich sonst aus Kreisen der SPD und der Grünen nicht höre, ({19}) nämlich dass Verantwortung hinzukommt. Sie haben Recht. Ohne Verantwortung und ohne auf Dauer verlässliche Bindungen geht es nicht. Denn Kinder brauchen Geborgenheit, Zuwendung und Verlässlichkeit. ({20}) Deshalb sind wir alle - auch Sie - gehalten, die gesellschaftlichen Bedingungen so zu gestalten, dass Familie wirklich gelingen kann. Wir wissen, dass dies heute nicht leicht ist. Wir werden mit Scheidungsraten konfrontiert, die leider nicht sinken, sondern steigen. Wir werden mit der schwierigen Situation vieler Alleinerziehender konfrontiert. Wir werden mit der Situation von Patchworkfamilien konfrontiert, in denen Kinder aus verschiedenen Ehen zusammenleben und man sich zusammentut, um Familie wieder zum Gelingen zu bringen. Unser Ziel muss es doch sein, hier Unterstützung zu geben, damit das Ziel des Weges, auf den sich Männer und Frauen begeben haben und den sie gemeinsam gehen wollen, auch wirklich erreicht wird und sie nicht an Hemmnissen scheitern. Es soll eine Situation entstehen, von der wir sagen können: Familie und Ehe haben wieder Zukunft. ({21}) Ich finde es übrigens bemerkenswert - ich habe es überprüft -, dass in der Koalitionsvereinbarung zwar viel von Kindern und Familie die Rede ist, aber nur an zwei Stellen das Wort Ehe auftaucht: ({22}) einmal im Zusammenhang mit dem Ehegattensplitting und einmal im Zusammenhang mit nichtehelichen Lebensgemeinschaften. ({23}) Das zeigt, wie Sie eigentlich denken. Frau Ministerin Schmidt, an dieser Stelle haben Sie noch viel aufzuräumen. Dazu wünsche ich Ihnen alles Gute. ({24}) Das Ziel Ihrer Familienpolitik ist, „die Wahlmöglichkeiten für Eltern zwischen Familie und Beruf und die materielle Sicherheit für Familien zu verbessern“. Zu diesem Punkt muss ich sagen: Das dürfte die größte Wählertäuschung des Jahres 2002 sein. ({25}) Das Ziel, die materielle Situation von Familien zu verbessern, wird hier mit Füßen getreten. ({26}) Ich will Ihnen auch sagen, warum ich dieser Meinung bin; denn ich sage einen solchen Satz nicht aus dem hohlen Bauch heraus. ({27}) Ich habe mir die Zahlen genau angeschaut und komme zu dem Schluss, dass es nicht eine nachhaltige Entlastung, sondern eine nachhaltige Belastung der Menschen gibt. Ich nenne beispielsweise die Aussetzung der für 2003 geplanten Steuerentlastung, die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung, die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Erhöhung der Beitragssätze in der Renten- und in der Krankenversicherung, obwohl wir vor der Wahl immer hörten, das würde nicht geschehen. Aber einen Tag nach der Wahl ist die Wahrheit auf den Tisch gekommen. Es handelt sich dabei um Größenordnungen, die fassungslos machen. ({28}) Hinzu kommen Erhöhungen bei der Mehrwertsteuer und die stärkere Besteuerung von Gas und Benzin. Außerdem schaffen Sie die Eigenheimzulage ab. ({29}) Das trifft die Familien bis ins Mark; ({30}) denn die Familien haben dann mindestens 200 Euro pro Monat weniger in der Tasche. Rechnen Sie es ruhig einmal nach! „FAZ“ und „Spiegel“ - Sie können es dort nachlesen; ich weiß nämlich, Sie glauben unseren Worten ungern ({31}) - ich weiß, dass es manchen schwer fällt zu lesen - haben ausgerechnet, dass vielen Familien sogar 300 Euro im Monat fehlen werden. ({32}) Das bedeutet im Jahr ein Minus von 3 600 Euro, was drei Monatsgehältern einer Verkäuferin entspricht. Wer geglaubt hatte, dass Familien in Zukunft von Rot-Grün materiell besser gestellt würden, der muss jetzt sagen, dass die Familien in diesem Land ärmer werden, wenn es so weitergeht. Deshalb sage ich: Denken Sie um! Ändern Sie Ihre Politik! Lassen Sie den Familien wieder Luft zum Atmen! So kann es nicht weitergehen. ({33})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Böhmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Kressl.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Böhmer, Sie haben gerade das Beispiel aus dem „Spiegel“ zitiert. Wollen Sie die von uns vorgesehene Besteuerung der Aktiengewinne ernsthaft als eine Belastung der Familien verkaufen? Das kann doch nicht wahr sein! ({0})

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, Sie haben sicherlich selbst in Ihrem persönlichen Umfeld registriert, dass Aktien nicht mehr nur eine Sache der Reichen und der Großen in diesem Land sind. Vielmehr ist es so, dass viele Menschen - das sind die Kleinaktionäre - ihre Altersvorsorge auf Aktien bauen. ({0}) Mit der von Ihnen geplanten Besteuerung kommt diese Art der Altersversorgung erheblich ins Wanken. ({1}) Wenn Sie bezweifeln, dass dem so ist, dann schauen Sie sich doch einmal die entsprechenden Berechnungen an. Glauben Sie mir: Sie können die Menschen in diesem Land nicht verdummen. Jeder hat Rechnen gelernt und kann zwei und zwei zusammenzählen. An dieser Erkenntnis ändert auch die PISA-Studie nichts. Deswegen werden Sie eines Tages die Quittung dafür bekommen. ({2}) Was dieser Coup, die Eigenheimzulage zu streichen, bedeutet, spüren viele Familien jetzt sehr deutlich. Dabei geht es nicht um ein paar Euro mehr oder weniger. Die Umstellung der Eigenheimförderung führt unter dem Strich zu einem Betrag in Höhe von 13 000 Euro pro Familie weniger. Das bedeutet, eine Familie müsste sechs Kinder haben, um überhaupt in den Genuss der neuen Förderung - Sie haben gesagt, Sie wollen ausschließlich Familien mit Kindern fördern - zu kommen. Sie müssen die Augen geschlossen haben, weil Sie nicht sehen, dass sich gerade diejenigen, die eine Familie gründen wollen, vorher Eigentum anschaffen wollen, damit sie in Zeiten der stärksten Belastung weiter vorankommen können. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Böhmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Böhmer, finden Sie nicht auch, dass der Einwand der Kollegin von der SPD in Bezug auf die Berechnung des „Spiegel“ ziemlich irrelevant ist, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der „Spiegel“ von den 300 Euro, die Sie pro Monat angeführt haben, lediglich 10 Euro auf die Wertpapierbesteuerung zurückführt? ({0})

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist völlig zutreffend, dass die großen Beträge aus ganz anderen Bereichen kommen. Deshalb habe ich soeben auf den Wegfall der Eigenheimzulage und auf die Anhebung der Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung hingewiesen. Das sind die großen Belastungen, die auf die Menschen zukommen. Wir sind mittlerweile bei einer Steuer- und Abgabenlast von über 56,6 Prozent in unserem Land. So werden Familien geschröpft, so kann es nicht weitergehen. ({0}) Ich will noch ein Wort zu einer Debatte sagen, die zurzeit zwar beendet ist, von der wir aber alle befürchten, dass sie wieder aufflammt. Wir haben erleben müssen, dass Sie das Ehegattensplitting abschmelzen wollten. ({1}) Das wäre der Einstieg in den Ausstieg gewesen. Dahinter verbarg sich nicht nur die Absicht mit der Reduzierung des Ehegattensplittings Finanzmittel für einen guten Zweck, nämlich für den Ausbau der Kinderbetreuung, freizumachen, sondern dahinter steht im Grunde genommen die Absicht, dass man Menschen nicht mehr frei entscheiden lassen will, wie sie ihr Leben gestalten wollen. ({2}) Das ist der Punkt, um den es eigentlich geht. ({3}) Frau Ministerin Schmidt, Sie waren gut beraten, dass Sie die Notbremse gezogen haben, obwohl Sie selbst jahrelang die Kappung des Ehegattensplittings gefordert haben. Sie haben sich die Konsequenzen genau angeschaut, gerechnet und dabei gemerkt, dass davon die Facharbeiter und vor allen Dingen in großem Umfang die Familien betroffen wären. 5 Millionen Familien mit Kindern wären von der Kappung des Ehegattensplittings betroffen gewesen. Damit hätten wir erneut erfahren müssen, was Familienförderung durch Rot-Grün bedeutet: Familien müssen für Familien zahlen. So kann Familienförderung nicht gestaltet werden. Sie haben in den Mittelpunkt Ihrer Ausführungen das zentrale gesellschaftliche Reformvorhaben der Koalition gestellt: Es sollen 10 000 Ganztagsschulen und 20 Prozent mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren geschaffen werden. ({4}) Wenn das alles so käme, wäre das eine Leistung, von der man sagen könnte: Respekt. ({5}) Das sage ich Ihnen hier auch ganz deutlich - denn wir sind uns alle miteinander darüber im Klaren -: Wenn es um die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, kommt der Weiterentwicklung der Kinderbetreuung und dem Ausbau von Ganztagsschulen und Ganztagsplätzen im Kindergarten ein hoher Stellenwert zu. Ich muss Ihnen aber auch sagen: Sie haben bei der Frage der Finanzierung auf Sand gebaut. Es geht um 4 Milliarden Euro. Aber in der Koalitionsvereinbarung habe ich gelesen, dass die 4 Milliarden Euro zwischen 2003 und 2007 - das ist eine Zeitspanne von fünf Jahren - aufgewendet werden sollen. Der Bundeskanzler sprach von 4 Milliarden Euro in vier Jahren. Hier gibt es schon binnen weniger Tage die erste Unklarheit. Was gilt denn eigentlich? Wie lange wollen Sie finanzieren? Wozu kann man dieses Geld verwenden? Es darf nicht für Personalkosten verwendet werden. Es darf nur für Sachkosten verwandt werden. Aber welches sind denn die Hauptkosten bei einer Umwandlung einer Schule in eine Ganztagsschule? - Dies sind doch nicht die Sachkosten, sondern im Wesentlichen die Personalkosten! Sie aber geben nur Almosen, ändern aber nicht wirklich etwas an der Finanzsituation von Ländern und Kommunen. ({6}) Sie hängen Länder und Kommunen an den Tropf. So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen eine ordentliche Gemeindefinanzreform, sodass diese Aufgabe auch so wahrgenommen werden kann, wie es sich gehört. ({7}) Noch etwas muss hinzukommen: Es wird immer wieder das Märchen verbreitet - auch Frau Bulmahn hat es heute wieder getan und ich lese es allenthalben -, die Ganztagsschulen hätten sozusagen den Wundereffekt, dass sie die Bildung in Deutschland auf ein Niveau anheben, mit dem wir endlich wieder an der Spitze aller Länder liegen würden. Liebe Frau Ministerin Bulmahn, der Blick nach Nordrhein-Westfalen sollte Sie eigentlich eines Besseren belehren. Dort gibt es die größte Zahl von Ganztagsschulen, ({8}) nämlich die Gesamtschulen. Damals hat man die Gesamtschulen extra als Ganztagsschulen ausgestattet, um sie schmackhaft zu machen. Sie waren nämlich kaum an das Kind zu bringen. Die Eltern haben gefragt: Was geschieht denn dort eigentlich? - Gemäß Ihrer Theorie müsste Nordrhein-Westfalen den Spitzenplatz bei der Bildung innehaben. Aber was ist? - Nordrhein-Westfalen ist weit davon entfernt. Dort, wo wir ein anderes System haben, wo Inhalte noch zählen, wo Lehrerbildung noch etwas wert ist, wo Lehrer nicht beschimpft, sondern unterstützt werden, ist die Bildung in unserem Land am besten. Deshalb ist nicht die Ganztagsschule der Schlüssel dazu, sondern mehr Qualität im Bildungswesen. Auf die Inhalte kommt es an. ({9}) Ich halte auch eine ganze Menge davon, sich hier nicht in organisatorischen Fragen und Finanzfragen zu verfransen. Wir müssen uns vielmehr die Fragen stellen: Was wird in Ganztagsschulen vermittelt? Welche Erziehungsinhalte werden in Ganztagsschulen weitergegeben? Dies sind für mich die Kernfragen. Dies gilt genauso für die Betreuung der Kinder im Kindergartenalter und der Kinder unter drei Jahren. Es geht um Qualität, um Erziehung und um Bildung. Dies sind die kostbarsten Güter, die wir unseren Kindern mitgeben müssen. Darüber werden wir hier trefflich streiten. Wir werden auch darüber streiten, wie es mit den Familien in unserem Land weitergeht. Es reicht nicht aus, 4 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen und ein Phantom aufzubauen, welches lautet: Wir werden über das Hartz-Konzept die Betreuung der Kinder unter drei Jahren finanzieren. Liebe Frau Ministerin, hier muss schon etwas Handfesteres her. Wir werden hier in diesem Parlament und draußen Anwalt der Familien und Kinder in unserem Land sein, denn die Zukunft liegt bei den Familien und den Kindern. Dem werden wir Rechnung tragen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt, ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Amt, von dem ich meine, dass es eines der wichtigsten im Kabinett ist. ({0}) Nun komme ich zu der Kollegin Böhmer. Frau Böhmer, ich habe Sie als redliche Kollegin gekannt und Sie haben gesagt, man dürfe die Menschen nicht verdummen. Was Sie aber gerade in Ihrem Redebeitrag gemacht haben, war die reinste Verdummung. ({1}) Sie haben behauptet, Rot-Grün schaffe die Eigenheimzulage ab. Dies haben Sie wörtlich so gesagt. Dies tun wir nicht. Wir widmen sie um, damit Familien mit Kindern mehr davon haben. ({2}) Dies stimmt also nicht. Auch die Zahlen, die Sie genannt haben, stimmen nicht. ({3}) Dazu, dass Sie uns jetzt mit Zahlen aus einzelnen Bundesländern kommen, um zu zeigen, wie die Situation dort ist, kann ich nur sagen: Bringen Sie diese erst einmal in dem jeweiligen Landesparlament vor. ({4}) Eigentlich müssten Sie auch sehen, dass NordrheinWestfalen eine niedrige Frauenerwerbsquote hat, weil es das Land von Kohle und Stahl war. An dieses Problem müssen wir schon etwas differenzierter herangehen. ({5}) - Natürlich sind wir im Strukturwandel. ({6}) Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie haben die Quittung ja bekommen. Die Frauen haben die Wahl für RotGrün entschieden. Das hat natürlich etwas mit unserem Gesellschaftsbild zu tun. ({7}) Wir schaffen Rahmenbedingungen, damit sich Frauen tatsächlich frei entscheiden können, wie sie leben wollen. Dieses Gesellschaftsmodell war für die Frauen bei der Wahl entscheidend. Das sage nicht nur ich, das sagt eine Studie von Infratest-Dimap. Frau Merkel hat ja Recht, wenn sie sagt, ihre Partei brauche eine neue Strategie zugunsten der Frauen. Nur durchsetzen kann sie diese nicht. Heim-und-Herd-Prämien wollen die Frauen nicht. Das haben sie deutlich gemacht. ({8}) Sie wollen ihre Kinder gut betreut wissen, wenn sie sich für den Verbleib im Beruf entscheiden. Das sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Wenn Frau Merkel gestern im Zusammenhang mit der Finanzierung von 10 000 Ganztagsschulen von Brosamen spricht, dann hat sie offensichtlich doch noch nichts begriffen. ({9}) Für Bündnis 90/Die Grünen ist die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt ein zentrales gesellschaftliches Reformprojekt. Dies wird künftig regelmäßig im Bündnis für Arbeit auf der Tagesordnung stehen. Es kann doch wohl nicht angehen, dass Frauen, obwohl sie seit geraumer Zeit besser qualifiziert sind als Männer, in keiner der 100 größten deutschen Aktiengesellschaften einen Vorstandsposten haben oder dass Frauen im 21. Jahrhundert im Schnitt 25 Prozent weniger verdienen als Männer. Das ist doch ein Skandal! ({10}) Das Institut der deutschen Wirtschaft stellt dazu fest: Wenn die Lohnangleichung in unverändertem Tempo weitergeht, wird es 86 Jahre dauern, bis die Frauen das Gleiche verdienen wie Männer. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, so lange wollen die Frauen nicht warten. Darum schaffen wir jetzt Maßnahmen und handeln schnell. ({11}) - Das kommt jetzt. - Wir haben unser Instrumentarium erweitert. Neben der klassischen Gleichstellungspolitik werden wir mit Gender Mainstreaming in allen Ressorts von Anfang an geschlechterdifferenzierte Regelungen treffen. Ich nenne an diesem Punkt ausdrücklich das Hartz-Konzept; es ist in diesem Punkt noch ergänzungsbedürftig. Wir wollen auch sicherstellen, dass der Staat geschlechtergerecht haushaltet. Das heißt mit einem Fremdwort „Gender Budgeting“. Dies werden wir in einem Kompetenzzentrum umsetzen. Wir bekommen dafür Rückenwind aus Europa. Denn sehr schnell werden wir eine EU-Gleichbehandlungsrichtlinie umsetzen, die bei mittelbarer Diskriminierung und bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz neue Regelungen vorsieht und die Schaffung eines Verbandsklagerechtes ermöglicht. Das sind nur einige Stichworte. ({12}) Ende 2003 werden wir nach der Auswertung der Vereinbarung der Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft auch gesetzliche Regelungen für die Privatwirtschaft einführen. Daneben schaffen wir Anreize für die Wirtschaft: Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge werden wir die Förderung der Gleichstellung in den Unternehmen berücksichtigen. ({13}) In einem weiteren Politikbereich können wir Erfolge vorweisen: der Seniorenpolitik. Wir werden in den nächsten Jahren ein neues Altenhilfestrukturgesetz schaffen. Ich habe mich sehr gefreut, Frau Ministerin, dass eine Ihrer ersten Aktionen eine Charta für Hilfsbedürftige sein soll. Ich glaube, eine Enquete-Kommission „Menschen in Heimen“ könnte einen wesentlichen Beitrag dazu leisten. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Noch ein Wort zur CDU: Sie sind einfach schlechte Verlierer. ({0}) Als Rot-Grün nach zwei Jahren eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung beschlossen hatte, was Ihnen in zehn Jahren nicht möglich gewesen ist, schickten Sie die Bayern vor, um dieses Gesetz zu stoppen. Dieser Blockade hat Karlsruhe jetzt eine Absage erteilt. ({1}) Unseren Weg, einen anspruchsvollen Beruf aufzuwerten und ihm die gesellschaftliche Anerkennung zu geben, die er verdient, werden wir weitergehen, auch im Interesse der Pflegebedürftigen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der FDPFraktion.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Schmidt, meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrem neuen Amt! Ich wünsche Ihnen mehr Erfolg, als Ihrer Vor- gängerin beschieden war. Ihr Ministerium bleibt bis auf den Posten der neuen Staatssekretärin, die die Integra- tionspolitik in Ihr Ministerium einbringt, ein blasses und schwaches Ministerium mit geringer eigener gesetzgebe- rischer Kompetenz. Frau Schmidt, was finden Sie aus der letzten Legisla- turperiode vor? Erfolge und Misserfolge, zum Beispiel in der Steuerpolitik. Erstens. Es gab eine Erhöhung des Kindergeldes für Familien. Aber die letzte Kindergelderhöhung fiel ab dem dritten Kind aus. Ist das gerecht? Widerspruch der Abg. Nicolette Kressl [SPD]) - Das letzte Familienfördergesetz hat ab dem dritten Kind keine Kindergelderhöhung gebracht. Das wissen Sie ganz genau, Frau Kressl. Zweitens. Herr Eichel hat heute - ich habe, wie Sie sicherlich auch, Frau Ministerin, sehr genau zugehört - ausgeschlossen, dass es in den nächsten vier Jahren mehr Kindergeld geben wird. Ist das gerecht? ({0}) Drittens. Ich nenne die Steuermehrbelastung für Alleinerziehende durch den Wegfall des Haushaltsfreibetrages. Ist das gerecht? Frau Ministerin, ich habe mir Ihr Buch gekauft ({1}) und habe es mir sehr genau durchgelesen. Ich fordere Sie auf: Machen Sie etwas für die Alleinerziehenden, die diese Steuerentlastung nicht mehr in Anspruch nehmen können. ({2}) Viertens. Der Wegfall der Steuerentlastung bei den Familien bedeutet für sie, netto über weniger zu verfügen. Fünftens - das ist mein letztes Beispiel -: Die Erhöhung des BAföG bei gleichzeitiger Kürzung des Freibetrages für Eltern, deren Kinder auswärts studieren, bedeutet eine finanzielle Umschichtung bei den Familien. Frau Kressl, schauen Sie einmal in das 2. Familienfördergesetz hinein. Dann sehen Sie, dass mindestens ein Drittel der Familien dieses Familienfördergesetz, das Sie so loben, selber finanziert hat. ({3}) Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Es gibt Licht und Schatten. Eine Glanzleistung war das nicht. Unser nein, Ihr - Kanzler ({4}) hat anlässlich seiner Regierungserklärung vor vier Jahren folgendes Versprechen gegeben - ich zitiere das für die neuen Mitglieder, die in dieser Legislaturperiode ihre Arbeit beginnen -: Ein ausreichendes Angebot an Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung ist zu gewährleisten. Dieses Wahlversprechen von 1998 hat er eindeutig gebrochen. In vier langen Jahren Rot-Grün haben Sie nichts, aber auch wirklich gar nichts gemacht. Und jetzt behaupten Sie, Sie fangen an. ({5}) Sie beginnen aber nicht mit einer finanziellen Förderung der Kommunen, sondern mit dem Betreuungsgipfel. Frau Bergmann wollte vor der Bundestagswahl einen so genannten Betreuungsgipfel einrichten. Das bedeutet, dass sich die Kommunen, die Länder und der Bund treffen und besprechen, wie sie zu mehr Kinderbetreuung kommen wollen. Mehr hat der Bundeskanzler derzeit nicht im Hut. Frau Schmidt, erst ab 2004 will der Bund die Kinderbetreuung für unter Dreijährige finanziell unterstützen. Sie haben diese Betreuung im Wahlkampf aber doch versprochen! Kommen Sie mir nun nicht mit den Ländern. Die Länder müssen sich natürlich auch beteiligen; denn Sie werden nie so viel Geld geben, dass es ausreicht. Meine Frage an Sie, Frau Schmidt, lautet: Warum unterstützen Sie das nicht jetzt und sofort? ({6}) Bereiten Sie im Haushalt 2003 die Grundlage für mehr Kinderbetreuung. Fangen Sie sofort an. Die Haushaltsberatungen stehen doch an. ({7}) Sie könnten einen wichtigen Akzent setzen. Dann haben Sie in diesem Punkt auch bei mir Erfolg. Die Grünen nehmen den Mund immer zu voll. Am 18. April dieses Jahres - daran kann ich mich sehr gut erinnern, weil ich an diesem Tag Geburtstag habe - haben die Grünen, liebe Kollegin Schewe-Gerigk, im Deutschen Bundestag für die nächste Legislaturperiode eine Kindergrundsicherung gefordert. Bis jetzt: Fehlanzeige. ({8}) Abschaffung des Ehegattensplittings ist nicht. Bezüglich der steuerlichen Absetzbarkeit der Kinderbetreuung habe ich im Koalitionsvertrag nur vage Versprechungen gelesen. Dies geht nur, wenn Herr Eichel Ihnen als Frauen- und Familienpolitikerin die Möglichkeit dazu gibt. Bei einem Haushaltsdefizit von 3 Prozent glauben Sie doch wohl kaum, dass Ihnen Herr Eichel 2003 oder 2004 mehr Geld zur Verfügung stellen wird. Die Arbeitslosigkeit steigt. Es wird nicht zu einer niedrigeren Arbeitslosigkeit, mit der Sie immer rechnen, kommen. Sie werden nicht mehr Steuern einnehmen, um das alles bezahlen zu können. Ein Lieblingsthema der Grünen, das ich unbedingt ansprechen möchte, ist die Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht. Dieser Bereich fällt auch in die Zuständigkeit unseres Ministeriums. Hierzu findet sich auf einer hinteren Seite des Koalitionsvertrages ein müder Prüfvermerk. Ihre Vorgängerin, Frau Schmidt, hat - das ist eine Kritik, die ich schon öfter deutlich geäußert habe - keinerlei Anstalten gemacht, neue Konzepte für den Zivildienst und für die wichtige Zukunftsaufgabe, nämlich die neuen Rahmenbedingungen für das freiwillige bürgerschaftliche Engagement, zu erarbeiten. Hier hat die FDP in der letzten Legislaturperiode Initiativen eingebracht. Wir Liberale wollen eine bessere Grundlage für junge Leute, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. ({9}) Die neue Familienministerin hat ein Buch geschrieben; darauf bin ich schon zu sprechen gekommen. Ich weise Sie auf das Kapitel hin, in dem es um ihre Wohnprobleme und um die Baukostenzuschüsse, die sie damals mit ihrer jungen Familie nicht erhielt, geht. Die aktuelle Diskussion, in der ich Frau Böhmer nur unterstützen kann, betrifft die Eigenheimzulage. Die Bundesregierung will hier einen Kahlschlag betreiben. Ich komme aus einer ländlichen Region. Ein eigenes Haus gehört hier besonders für Familien mit Kindern zur Lebensqualität; es ist auch ein Stück Altersvorsorge. Die Regierung will jungen Ehepaaren, die noch Kinder bekommen wollen, die Unterstützung für ein Eigenheim streichen. Was ist das eigentlich für ein Familienbild? ({10}) Wollen Sie vorschreiben, dass ein Paar erst Kinder bekommen muss, um ein Haus finanzieren zu können? Hier greifen Sie in die finanzielle Lebensplanung ein. Man kann es nicht nur aus dem Blickwinkel der SPD betrachten. Wir sind Liberale und schauen rundum. Wie sagen Ihnen: Lassen Sie das. ({11}) Die neue Eigenheimförderung, so wie sie angedacht ist, wird bei einem Neubau erst ab vier Kindern gezahlt. So werden Sie es nie schaffen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lenke, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gut, dann lasse ich das mit Frau Schmidt. ({0}) Ich habe ja schon genügend an sie weitergegeben. Ich komme jetzt zum Schluss. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich für die Gruppen in unserer Gesellschaft, auf die der Ausschuss ausgerichtet ist, nämlich für die Frauen, die Familien, die Senioren und die Jugend, intensivst engagieren. Dazu gehört eine aktive Wirtschaftspolitik, die Arbeitsplätze schafft, eine Arbeitsmarktpolitik, die Menschen aktiviert, und eine verlässliche Politik, die von nicht gebrochenen Wahlversprechen, sondern von Taten lebt. Tun Sie etwas, dann sind wir dabei. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuerst darf ich Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin, auch im Namen meiner Fraktion zur Übernahme des Amtes gratulieren und Ihnen viel Erfolg wünschen. Wir können Ihnen versichern, dass Sie für die Vorhaben die Unterstützung der beiden Koalitionsfraktionen bekommen werden. ({0}) Sehr geehrte Frau Böhmer, Sie haben, wenn ich richtig zugehört habe, unheimlich viel von der Vergangenheit gesprochen. ({1}) Genau das hat Ihre Politik in den letzten Jahren geprägt ({2}) und genau das hat die vielen jüngeren Frauen dazu gebracht, sich bei der Bundestagswahl am 22. September nicht für die CDU/CSU, sondern für die beiden Parteien, die die Regierung stellen, zu entscheiden. ({3}) Das ist nicht aus dem hohlen Bauch geredet, das können Sie nachlesen. ({4}) Sie haben zum Beispiel formuliert, Sie hätten sich schon immer die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf die Fahnen geschrieben. ({5}) Das war die richtige Formulierung. Sie haben es sich immer auf die Fahnen geschrieben. 16 Jahre lang haben Sie aber überhaupt nichts dafür unternommen. Genau das haben die Frauen gemerkt. ({6}) Dazu will ich Ihnen noch ein Wort sagen: Gestern habe ich ein wenig in den dpa-Meldungen nachgelesen. Sie sagen immer noch, dass das Familiengeld für die Frauen und Familien wichtig sei. Das glauben Sie dann womöglich auch noch. Die Situation ist folgende: Sie sagen, dass Sie den Familien Geld in die Hand geben, womit automatisch für eine bessere Betreuung gesorgt sei. Genau das ist in manchen fehlgeleiteten Volkswirtschaften auch passiert. Geld war zwar vorhanden, aber es gab nichts zu kaufen. Wir dürfen den Menschen nicht nur Geld in die Hand geben, sondern wir müssen auch dafür sorgen, dass die Betreuungsangebote wirklich vorhanden sind; so muss es laufen. ({7}) Wenn Sie nicht dafür sorgen, dass Betreuungsangebote geschaffen werden, ({8}) dann passiert Folgendes: Es glaubt Ihnen niemand, dass Sie wirklich nicht damit rechnen, dass einer der Partner doch zu Hause bleibt, weil zwar das Familiengeld vorhanden ist, es aber keine Betreuungseinrichtungen gibt. ({9}) Ich glaube, genau diese Taktik haben die Menschen vor der Wahl durchschaut. ({10}) Wir streben wirklich die Verbesserung der Betreuungsangebote an. Darauf muss in dieser Legislaturperiode Wert gelegt werden. ({11}) Ich finde eine Sache besonders pikant, Frau Lenke. Sie haben gefragt: Warum tun Sie nicht noch mehr? - Länder und Kommunen haben die formale Verantwortung für die Betreuungsangebote. Ich halte es für unglaublich, dass Sie hier so tun, als sei die Entscheidung, 4 Milliarden Euro in diesem Bereich auszugeben, kein Anstoß, der die gesellschaftspolitisch notwendige Diskussion voranbringt. Aber wir lassen nicht zu, dass die Verantwortlichkeiten verzerrt werden. Wir tragen unseren Teil dazu bei, weil wir uns entschieden haben. Es reicht nicht, nur zu erklären: Familie und Beruf müssen vereinbar sein. Die Verantwortlichkeiten liegen nämlich bei Ländern und Komunen. Wir erleben dann, dass die Menschen unzufrieden sind, weil sich nichts bewegt hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sicher.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kressl, ich bin seit 21 Jahren Kommunalpolitikerin. ({0}) Sie brauchen mir nicht zu erzählen, dass die Gemeinde die Verantwortung trägt. In meiner Gemeinde habe ich dieses Betreuungsangebot, auch mit SPD-Frauen, sehr gut hinbekommen: verlässliche Schulen, Kindergarten, Hort und anderes. ({1}) - Meine Frage kommt jetzt. Diese Bundesregierung hat ein Wahlversprechen auf der Grundlage abgegeben, dass Länder und Kommunen für die Kinderbetreuung verantwortlich sind. Jetzt werfen Sie mir genau das vor. Was meinen Sie nun wirklich? Ich kann Ihre Argumentation überhaupt nicht nachvollziehen. Wir wissen beide: Ihr Wahlversprechen haben Sie bisher nicht eingelöst. Kinder unter drei Jahre warten sechs Jahre.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Lenke, dass Sie meine Argumentation nicht nachvollziehen können, mag unter Umständen auch an Ihnen liegen. ({0}) Ich kann es Ihnen gerne noch einmal erklären. Wir haben uns entschieden, in diesem Bereich Anstöße zu geben. In Bezug auf Kinder von null bis drei Jahren ist festgelegt, dass im Rahmen der Einsparungen der Hartz-Vorschläge die Kommunen um exakt diese 1,5 Milliarden Euro entlastet werden sollen, ({1}) sodass sie damit die Grundlagen für die Erfüllung der Betreuungsquote von 20 Prozent schaffen können. ({2}) Ich sage Ihnen noch etwas: Ich halte es für nicht nur pikant, sondern sogar für wirklich problematisch, wenn Sie hier so tun, als sei der Bund verantwortlich. So haben Sie es vorhin formuliert. ({3}) Sie haben noch einen anderen Punkt angesprochen, auf den ich Ihnen gerne eine Antwort gebe. Im Rahmen der Reform der Gemeindefinanzen werden wir die Kommunen nicht nur um die 1,5 Milliarden Euro entlasten, die wir für die Betreuungseinrichtungen für Kinder von null bis drei Jahren brauchen, sondern wir werden den Kommunen im Rahmen einer Reform der Gewerbesteuer eine verlässliche und vor allem gleichmäßige Grundlage zur Finanzierung ihrer Aufgaben ermöglichen. ({4}) Zurück zu der Frage der Kindertagesbetreuung. Frau Böhmer, ich möchte eine Erklärung zu dem, was Ihnen so unverständlich war, geben. Sie wollten wissen, ob die 4 Milliarden Euro in vier oder fünf Jahren zur Verfügung gestellt werden. ({5}) Jeder, der sich im Haushalt ein bisschen auskennt, weiß, dass eine Finanzierung langsam angegangen werden muss. Wenn Sie sich diese Finanzierung anschauen, dann sehen Sie, dass der Betrag, der tatsächlich abgerufen werden kann, in diesem Jahr eingestellt ist. Die exakte Summe wird in den weiteren vier Jahren in den Haushaltsplänen vorgesehen. Ich möchte noch gerne auf einen Widerspruch bei Ihnen aufmerksam machen. Wenn ich richtig zugehört habe, dann hat Frau Reiche vorhin erklärt, die Ganztagsbetreuung sei vor allem eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie, Frau Böhmer, haben ein pädagogisches Konzept gefordert. ({6}) Natürlich brauchen wir ein pädagogisches Konzept. In der Koalitionsvereinbarung ist dies auch formuliert. Aber, Frau Böhmer, dann könnten Sie vielleicht dem Plenum die Frage beantworten, ({7}) warum sich gerade die CDU-geführten Bundesländer im Moment weigern, an dieser Konzeption mitzuarbeiten. Diese sind nämlich nicht bereit, ein pädagogisches Konzept zur Verfügung zu stellen. Das nämlich ist die Situation: Alle CDU-regierten Bundesländer wollen nur das Geld; sie wollen kein pädagogisches Konzept mit einbeziehen. ({8}) Sie sollten sich einmal darum kümmern, was tatsächlich in Ihren Bundesländern vorgeht. Wenn schon davon die Rede ist, wie ernst die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Bundesländern genommen wird, dann können Sie sicherlich auch erklären, warum es gerade in Sachsen-Anhalt massive Proteste gibt: Seit dort eine CDU-geführte Landesregierung im Amt ist, sind die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren so stark reduziert worden, dass sich die Menschen in ihrer freien Entscheidung für eine Lebensform eingeschränkt fühlen. Sie sollten also mit Ihren Länderbeispielen sehr vorsichtig sein, solange wir, wie gegenwärtig, erleben, dass in den CDU-geführten Ländern Entscheidungen gegen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf getroffen werden. ({9}) Ich will es noch einmal betonen: In beiden Fällen - sowohl bei Betreuungsmöglichkeiten für Kinder von null bis drei Jahren als auch bei den Ganztagsschulen - liegt die Zuständigkeit formal nicht bei uns. ({10}) In beiden Fällen haben wir uns aber dafür entschieden, Mittel zur Verfügung zu stellen, weil wir es nicht länger akzeptieren, dass nur über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geredet wird, ohne dass auch gehandelt wird. ({11}) Wir sind diejenigen, die in den nächsten vier Jahren endlich Bewegung in diesen Politikbereich bringen werden. ({12}) Wir setzen uns - das betone ich noch einmal ausdrücklich - auch deshalb für pädagogische Konzepte bei den Ganztagsschulen ein, weil wir es für eine wichtige Kombination halten, zum einen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu sorgen, zum anderen aber in Zusammenarbeit von Familie und Betreuungseinrichtungen schon im frühkindlichen Alter die Grundlagen dafür zu schaffen, dass wir im Bildungsbereich wieder eine Spitzenposition erlangen. ({13}) Denn es ist notwendig, auch den Kindern - gerade den Kleinen - Freude am Lernen zu vermitteln und bei ihnen Neugierde auf Wissen, Interesse an der Umwelt, Toleranz und Teamfähigkeit zu entwickeln. ({14}) Es ist uns ein wichtiges Anliegen, in diesem Bereich Chancengleichheit für Frauen und Männer zu schaffen. Im Übrigen ist es auch volkswirtschaftlich von Interesse, die Talente und Fähigkeiten der jungen Menschen nicht brachliegen zu lassen. Deshalb werden wir auch einen Schwerpunkt auf die Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots legen. ({15}) Im Rahmen der Entscheidung für ein selbst bestimmtes Leben werden wir uns neben der Frage der Kinderbetreuung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch - Frau Ministerin hat es schon erwähnt - um die Chancengleichheit für Frauen am Arbeitsplatz und in der Wissenschaft bemühen, und zwar nicht nur, weil es sich dabei um eine Gruppe handelt, die Unterstützung braucht, sondern weil staatliches Handeln auch darauf angelegt sein muss, Strukturen aufzubrechen, die Chancengleichheit verhindern. ({16}) Das ist der Weg, den wir mit unserer Gleichstellungsgesetzgebung gehen werden. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin Kressl!

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl. - Wir wollen die Rahmenbedingungen für die Möglichkeit eines selbst bestimmten Lebens in der Familie und die freie Entscheidung für eine Lebensform schaffen. Wir wollen gleiche Chancen für Männer und Frauen - beispielsweise auch im Bereich der Migranten und Migrantinnen - erreichen. Mit diesen Zielen setzen wir unsere Koalitionsvereinbarungen um. Nachdem wir gehört haben, dass sich die CDU/CSU immer noch mit der Vergangenheit beschäftigt, möchte ich an dieser Stelle betonen, dass wir in den nächsten vier Jahren die Zukunft gestalten werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weil wir die Redezeit weit überschritten haben, möchte ich ankündigen, dass ich keine Kurzinterventionen und keine Zwischenfragen mehr zulassen werde. Ich bitte um Ihr Verständnis. Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Schmidt, wir kennen uns nicht nur vom Bundestag, sondern auch von vielen Diskussionen her. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihr Amt gut ausfüllen werden. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit und gratuliere Ihnen zu Ihrem neuen Amt. ({0}) Familien sind die erste und wichtigste Instanz für Erziehung, Persönlichkeits- und Charakterbildung, für das Entstehen von Vertrauen und Bindung. Sehr geehrte Frau Ministerin, das haben Sie am 29. Mai dieses Jahres gesagt. Darin kann ich Ihnen nur zustimmen. Wenn Sie aber dieser Meinung sind, dann erwarte ich auch, dass Sie etwas für die Familien tun. Der Deutsche Familienverband, dessen Präsidentin Sie seit Mai sind, hat zur Situation der Familien in Deutschland festgestellt: Die teure Steuerreform hat Familien mit Kindern weniger als Arbeitslosen gebracht, und zwar umso weniger, je mehr Kinder sie haben ... Die familienfeindlichen Verbrauchsteuern steigen weiter, sodass Familien einen großen Teil der angeblichen Vergünstigungen aus eigener Tasche zahlen. In der Präambel zum Koalitionsvertrag steht: Die Stärkung von Familien und Beziehern von kleinen und mittleren Einkommen werden wir fortsetzen. Die nächste Stufe der Steuerreform, durch die Familien entlastet werden sollten, ist aber bekanntlich verschoben worden. Sonstige finanzielle Förderung von Familien ist im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Ich kann Ihrem sehr geschätzten Vorgänger im Amt des Präsidenten des Deutschen Familienverbands nur zustimmen, wenn er sagt: Familie hat sich schon immer gut als Wahlkampfthema geeignet, um danach in der politischen Versenkung zu verschwinden. Wir werden dafür sorgen, dass es so weit nicht kommt. ({1}) Im Wahlkampf sprachen die Grünen noch von einer Erhöhung des Kindergeldes auf 400 Euro, während Sie von der SPD 300 Euro wollten. Davon haben Sie sich offensichtlich verabschiedet. Leider gilt auch hier: Versprochen, gebrochen! Die Familienarmut in Deutschland ist erschreckend. Kinder sind bei uns ein Armutsrisiko. Das ist skandalös. Das gegenwärtige Kindergeld in Höhe von 153 Euro deckt in keiner Weise die Lebenshaltungskosten eines Kindes, die 300 bis 400 Euro pro Monat betragen. Letzte Woche erreichte mich die E-Mail einer Frau, aus der ich zitieren möchte: Wie sollen die jungen Menschen noch motiviert werden, eine Familie zu gründen, Verantwortung zu übernehmen, wenn ihnen durch immer neue Negativmeldungen der Boden unter den Füßen weggezogen wird? Wo die Frau Recht hat, hat sie Recht. ({2}) In Deutschland leben über 1 Million Kinder in der Sozialhilfe. Das ist für ein reiches Land eine unglaublich hohe Zahl. Sie haben in der vergangenen Legislaturperiode die Kinder nicht aus der Sozialhilfe geholt. Durch Ihre Politik werden die Kinder weiter in der Sozialhilfe bleiben müssen. Die Lasten für die Familien werden noch größer. Die Ökosteuer, die fortgeführt wird, belastet Familien mit Kindern besonders stark; denn Familien sind energieintensive Betriebe. Das beginnt bei der Wäsche und reicht bis zu dem Bring- und Holservice der Eltern bei verschiedenen Aktivitäten der Kinder. Die Situation von Familien mit Kindern hat sich trotz höherer staatlicher Leistungen nicht verbessert; denn das, was Sie in die eine Tasche gesteckt haben, haben Sie den Familien aus der anderen Tasche wieder herausgezogen. ({3}) Alleinerziehenden - so ist die Beschlusslage - wird der Haushaltsfreibetrag, der zuletzt 5 870 DM betragen hat, stufenweise bis zum Jahr 2005 gestrichen. Dafür ist keine Kompensation vorgesehen. Das heißt, Rot-Grün streicht den Alleinerziehenden fast 1 Milliarde Euro. Ich sage Ihnen: Die Einkommensschere zwischen den Familien mit Kindern und den Kinderlosen wird weiter auseinander gehen. Sie machen Familien ärmer, meine Damen und Herren von Rot-Grün. ({4}) Die CDU/CSU-Fraktion hätte diese Entwicklung mit dem Familiengeld gestoppt. Das Familiengeld erkennt die Leistungen, die Familien für die Gesellschaft erbringen, an und holt die Kinder aus der Sozialhilfe. Es verbessert die Förderung gerade junger Familien und ist unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Eltern. Das ist doch die Voraussetzung für echte Wahlfreiheit. Aber das haben Sie immer noch nicht begriffen, meine Damen und Herren von Rot-Grün. ({5}) Eine Neukonzeption bei der staatlichen Familienförderung wäre notwendig, aber davon keine Spur bei Ihnen. Dagegen beschneiden und belasten Sie Familien weiter. Herausragendes Beispiel für die weitere Schwächung von Familien ist die Abschaffung der Eigenheimzulage. Eine Familie mit zwei Kindern erhält nach der neuen Regelung 41 Prozent weniger Eigenheimzulage beim Erwerb von neu gebautem Wohneigentum als bisher. Die „FAZ“ hat es Ihnen vorgerechnet - ich kann Ihnen dieses Beispiel nicht ersparen und muss es noch einmal vorbringen -: Unter der Überschrift „Eine teure Wahl“ hat die „FAZ“ am 22. Oktober geschrieben, dass Familien mit zwei Kindern im Laufe von acht Jahren 13 520 Euro verloren gehen. Das sind fast 1 700 Euro pro Jahr oder 140 Euro pro Monat - allein durch die Veränderung der Eigenheimzulage! ({6}) Ich kann dem grünen nordrhein-westfälischen Wohnungsbauminister Vesper nur zustimmen, wenn er sagt: Man darf die Durchschnittsfamilie nicht über Gebühr bestrafen. Eine wahre Strafsteuer für Familien wäre auch das Abschmelzen des Ehegattensplittings. Diese Pläne der Grünen sind zwar zunächst vom Tisch, ({7}) doch hat Fritz Kuhn bereits angekündigt, das Thema während der Legislaturperiode noch einmal aufs Tapet zu bringen, wenn auch sicherlich nicht vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen. ({8}) Ich lese Ihnen hierzu eine Stellungnahme vor: Schon heute tragen Familien 75 Prozent der Kosten, die durch ein Kind entstehen, selber. Das vorgebliche Ziel der Befürworter einer Umgestaltung des Ehegattensplittings, dass gut verdienende kinderlose Ehepaare nicht bevorteilt werden sollen, bleibt eine Fiktion. Sie haben leider nicht zugehört, Frau Schmidt, sonst hätten Sie erkannt, dass das Ihre Aussage vom 9. Oktober ist. Wir sind uns mit Ihnen einig, Frau Ministerin, dass die ideologisch motivierten Pläne der Grünen nicht verwirklicht werden dürfen. ({9}) Setzen Sie sich durch, Frau Ministerin! Unsere Unterstützung haben Sie. Eltern, die sich selbst um ihre Kinder kümmern wollen, dürfen nicht steuerlich benachteiligt werden. ({10}) Meine Damen und Herren, auch in der 15. Legislaturperiode wird uns das Thema Spätabtreibungen wieder beschäftigen müssen. Statt mit uns einen Weg zu finden, Frauen in besonderen Konfliktsituationen nicht allein zu lassen und ihnen umfassende Hilfen anzubieten, hat die rotgrüne Koalition unseren Antrag „Vermeidung von Spätabtreibungen - Hilfen für Eltern und Kinder“ am 4. Juli dieses Jahres im Deutschen Bundestag abgelehnt. Das war für mich eine der größten Enttäuschungen der letzten vier Jahre. Es war umso bedauerlicher, als die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ einstimmig eine gesetzliche Regelung der Spätabtreibungen empfohlen hatte. Es ist untragbar, dass Kinder auch dann abgetrieben werden, wenn sie bereits lebensfähig sind. Deshalb werden wir auch weiterhin für eine Änderung der bestehenden Regelung streiten, meine Damen und Herren. ({11}) Auch die rechtliche Absicherung der anonymen Geburt ist mir ein ganz persönliches Anliegen. Das Leben der Kinder muss geschützt werden, ({12}) das Leben der Mutter auch. Sie soll unter würdigen und hygienisch einwandfreien Bedingungen entbinden können. Deswegen werde ich erneut einen Vorstoß unternehmen, um hier eine rechtliche Regelung zu erreichen. ({13}) Die Erziehung von Kindern und die Vermittlung von Werten durch die Familie ist die Grundlage für die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Erziehung der Kinder durch die Eltern kann durch nichts ersetzt werden. Aber die Eltern müssen bei der Erziehung unterstützt werden. Deswegen sind uns flexible Arbeitszeiten für Mütter und Väter, bessere Wiedereinstiegsmöglichkeiten und Kinderbetreuung für alle Altersstufen wichtig. ({14}) Ich weiß aus persönlicher Erfahrung sehr wohl, worum es geht; denn ich war immer erwerbstätig, auch in der Zeit, als meine beiden Kinder klein waren. ({15}) Ein Hauptgrund für mich, in die Politik zu gehen, war das Anliegen, Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit zu schaffen. Ich verwahre mich gegen das Klischee, dass die Union eine veraltete Familienpolitik betreibt. Gerade die Unionsfrauen verkörpern durch ihre Vita eine moderne Familienpolitik. ({16}) Im Gegensatz zu Rot-Grün stehen wir - das gilt gerade auch für mich als CSU-Abgeordnete - aus voller Überzeugung für eine Familienpolitik, die nicht einen bestimmten Lebensentwurf fördert. Wichtig ist uns, für eine echte Wahlfreiheit der Eltern zu sorgen. Sie sollen selber entscheiden können, wie sie in den unterschiedlichen Familienphasen gemeinsam für das Familieneinkommen, für die Erziehung der Kinder und füreinander Sorge tragen. Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, fördern dagegen durch Ihre Politik einseitig die Erwerbstätigkeit. Die meisten Eltern haben heute den Wunsch, Familie und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden. Es gibt aber auch nach wie vor Familien, in denen sich Mütter und Vä288 ter zumindest eine bestimmte Zeit ganz den Kindern widmen möchten. Dies muss auch in Zukunft möglich und gesellschaftlich anerkannt sein. ({17}) Aus frauenpolitischer Sicht ist die Koalitionsvereinbarung eine große Enttäuschung. Mit dieser Politik werden Sie das Gleiche erleben wie in der letzten Legislaturperiode, dass nämlich der Frauenrat sagt: Rot-Grün hat unsere Erwartungen nicht erfüllt. Rot-Grün hat uns enttäuscht. Bei Ihren Ansätzen zur Reform des Arbeitsmarkts ist zu befürchten, dass Frauen zunehmend auf den Niedriglohnbereich abgeschoben oder gar aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Durch die massive Veränderung der Alterspyramide gewinnt die Seniorenpolitik immer mehr an Bedeutung. Diesem Umstand sollte eine verantwortungsbewusste Politik Rechnung tragen. Aber die Koalitionsvereinbarung ist weit entfernt davon. Sie behaupten in Ihrer Präambel, Ihre Politik sei an der Generationengerechtigkeit ausgerichtet. Es finden sich aber keine nennenswerten Verbesserungen für die ältere Generation. Die Jüngeren müssen mit immer weiteren Belastungen rechnen. Die Fortschreibung des Generationenvertrags ist jedoch eine der drängendsten Fragen überhaupt. Zwar will die Bundesregierung einen Aktionsplan zur Bewältigung der demographischen Herausforderung erstellen, doch kommt sie damit lediglich einer Verpflichtung durch die Vereinten Nationen nach. Wie die demographische Herausforderung zu bewältigen ist, bleibt offen. Es drängt sich die Befürchtung auf, dass Sie sich mit der Erstellung des Aktionsplans aus der eigentlichen Aufgabe herausmogeln wollen. In einer älter werdenden Gesellschaft muss es darum gehen, das Aktivpotenzial der Älteren für alle nutzbar zu machen. Dazu fehlen konkrete Aussagen. Zur Verbesserung der Lage der pflegebedürftigen Senioren versprechen Sie erneut ein Altenhilfestrukturgesetz. Frau Schmidt, Sie haben eine genaue Prüfung zugesagt. Ein solches Vorhaben war nämlich schon Teil der Koalitionsvereinbarung der letzten Legislaturperiode; dennoch ist es gescheitert. Sie müssen sich also endlich darüber klar werden, welchen Ansatz Sie wählen wollen, um die Altenhilfe zu reformieren. Für das angekündigte Ambulante-Dienste-Gesetz sehe ich die gleiche Gefahr wie für das verabschiedete Heimgesetz. Der Ansatz ist sicherlich richtig. Allerdings - das konnten wir leider nicht ganz verhindern - darf der Verwaltungsaufwand damit nicht so überhand nehmen wie bei der Regelung des Heimgesetzes. ({18}) Die Menschen, die gepflegt werden, brauchen Zuwendung und keine endlos auszufüllenden Papiere. ({19}) Für das Altenpflegegesetz hat das Bundesverfassungsgericht zwar grünes Licht gegeben; das ist aber kein Anlass zum Jubeln. Denn eine bundeseinheitliche Regelung allein schafft noch keine Qualitätsverbesserung. ({20}) Es ist im Gegenteil zu erwarten, dass sich die Qualitätsstandards auf dem niedrigsten Niveau einpendeln werden. Zu Recht sprechen Sie im Koalitionsvertrag die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als wichtiges Problem an. Das JUMP-Programm, das Sie wieder auflegen wollen, hat sich aber gerade nicht als Brücke in den Arbeitsmarkt erwiesen und wird als eine solche leider auch weiterhin nicht drehen können. Eine weitere erhebliche Abwanderung von Jugendlichen von Ost nach West wird die Folge sein. Das neue Jugendschutzgesetz, das nach den Ereignissen von Erfurt schnell aus der Schublade gezogen worden ist, muss auf seine Praxistauglichkeit und Nachhaltigkeit hin überprüft werden. Gerade beim Jugendmedienschutz wird sich sehr schnell zeigen, dass die beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichen, um der Gewaltbereitschaft Einhalt zu gebieten. Ich fordere Sie deshalb auf, das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode weiterzuentwickeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss!

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben eine Fülle von Aufgaben vor sich. Ich wünsche mir, dass Ihr Wort im Kabinett mehr Gewicht hat als das Ihrer Vorgängerin. Wir werden Sie bei Ihrer Arbeit konstruktiv und kritisch begleiten. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was wir in diesem Koalitionsvertrag beschlossen haben, ist eine Investition in die Zukunft unserer Familien, unserer Kinder und damit auch unserer Gesellschaft. ({0}) Wir haben uns deutlich für die Familien und für die Kinder positioniert. Wenn Sie, Frau Böhmer, von Familienarmut reden, dann muss ich Sie an den Zehnten Kinder- und Jugendbericht aus dem Jahre 1998 erinnern, in dem steht, dass Familien die Verlierer Ihrer Politik waren, dass Familien von Armut betroffen waren und dass die Armut unter Kindern in Ihrer Regierungszeit zugenommen hat. ({1}) Wir haben - das war richtig - die Leistungen für Familien um rund 13 Milliarden Euro jährlich erhöht. Im Elften Kinder- und Jugendbericht können Sie sehen - das zeigen die Zahlen -, dass Familien durch unsere Politik aus der Sozialhilfe herausgekommen sind, dass wir Familienarmut bekämpft haben. Wir sind unserem Regierungsauftrag erfolgreich nachgekommen. ({2}) Sie sagen: Wir brauchen mehr Geld für die Familien. Sie sollten sich einmal die Wahlanalysen genauer anschauen. Sie haben den Familien - Stichwort Familiengeld - in der Tat mehr Geld versprochen. Nur: Das hat nicht gereicht, um gewählt zu werden. Es gab nämlich genug Menschen in diesem Land, die sich gedacht haben: Ich brauche im Augenblick nicht mehr Geld, sondern ich brauche eine Infrastruktur, ich brauche Unterstützung; ich will arbeiten. ({3}) Es ist nach wie vor so: Die beste Form der Armutsbekämpfung in diesem Land ist die Erwerbstätigkeit. Es gibt Familien, in denen beide Elternteile tatsächlich arbeiten müssen. In diesen Familien gibt es für beide Elternteile also keine Alternative zur Erwerbstätigkeit. ({4}) Für genau diese Familien und für die Alleinerziehenden wollen wir endlich konkrete Maßnahmen einleiten. Es wird konkrete Maßnahmen im Bereich der Kinderbetreuung geben: Wir investieren 4 Milliarden Euro in Ganztagsschulen und 1,5 Milliarden Euro in die Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Wir möchten in Qualität investieren. Wir wollen übrigens nicht die Debatte fortführen, wie sie jetzt in Bayern begonnen wurde. Ich zitiere Frau Stewens, die gesagt hat: Wir müssen endlich einmal anfangen, mit Wirtschaftlichkeitskriterien an Familienpolitik heranzugehen. - Nein, wir sagen: Wir investieren in die Familien und damit investieren wir in die Zukunft. ({5}) „Familien und Zukunft“ - ein Schlaglicht von Ihnen, Frau Böhmer. Dazu muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie wirklich über Familien reden wollen, dürfen Sie nicht uns Grünen vorwerfen, wir sollten aufhören, unsere Ideologien einzubringen. Vielmehr muss ich Ihnen sagen: Hören Sie endlich auf, über Ideologien zu debattieren! Verlassen Sie diese Ebene und landen Sie in der Realität der Familien! ({6}) Kommen Sie dorthin, wo die Familien ihre Probleme austragen, wo sie tatsächlich leben. Wir sollten endlich die Gerechtigkeitsdebatte führen. ({7}) Gerechtigkeit ist für mich nicht an den Trauschein gebunden, sondern muss auch dort eingefordert werden können, wo Menschen auch ohne Trauschein füreinander und miteinander Verantwortung übernehmen. ({8}) Ich möchte Politik für alle Menschen machen, die bereit sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen, nicht nur für jene, die am Status Ehe festhalten. ({9}) Sie sagen, wir bauten unsere Politik auf Sand. Tatsache ist: Wir bauen, wir machen etwas. Was haben Sie denn in Ihrer Regierungszeit gemacht? ({10}) Anders herum gesagt: Sie sind abgewählt, weil Sie nicht gebaut haben. Ja, wir möchten Bund und Länder beteiligen. Ja, wir möchten einen Gipfel für Betreuung, wo es darum geht, Qualitätsoffensiven zu starten, wo es darum geht, Debatten um Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit zu führen, wo es darum geht, gemeinsame Lösungen zu finden, auch dort, wo zu wenig getan wurde, im Sinne der Familien voranzukommen. Mein Wort an die Frau Ministerin: Ich wünsche mir in dieser Position natürlich eine Superministerin, ({11}) aber viel mehr noch wünsche ich mir eine Ministerin für die kommenden Generationen, für die Zukunft unserer Kinder. Ich wünsche mir eine Zukunftsministerin. Frau Ministerin, seien Sie zuversichtlich: Gemeinsam werden wir es schaffen - für die Zukunft unserer Kinder. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen nicht mehr vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 31. Oktober 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.