Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/6/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die Beratung des Koalitionsantrages „Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo“ - Drucksache 15/1144 - erweitert werden. Der Zusatzpunkt soll nach Tagesordnungspunkt 22 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 15/879 ({0}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 15/1109 - Berichterstattung: Abgeordnete Sebastian Edathy Silke Stokar von Neuforn Dr. Max Stadler b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1124 Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Klaus Hagemann Antje Hermenau Otto Fricke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 27. Januar dieses Jahres wurde in Berlin durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Präsidenten des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland unterzeichnet. Mit diesem Vertrag erhalten die in Jahrzehnten gewachsenen guten Beziehungen und die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem Zentralrat der Juden erstmals eine vertragliche Grundlage. Das kann man als einen historischen Vorgang bezeichnen. ({0}) Der Vertrag bedarf der Zustimmung in der Form eines Bundesgesetzes. Dem dient der vorliegende Gesetzentwurf. Mit diesem Gesetz sollen die vertraglichen Leistungen zügig umgesetzt und Voraussetzungen für die Gewährung der festgeschriebenen Staatsleistungen geschaffen werden. Im Jahre 1950, zur Zeit der Gründung des Zentralrates der Juden in Deutschland, lebten nur 25 000 Juden in Deutschland. Bis 1989 betrug ihre Zahl nicht mehr als 30 000. Heute haben die 83 jüdischen Gemeinden wieder rund 100 000 Mitglieder. Dieser Zuwachs ist - das darf man feststellen - insbesondere durch Zuwanderung entstanden. Damit hat Deutschland nach Frankreich und Großbritannien mittlerweile die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Europa und die weltweit am schnellsten wachsende. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Aufgaben des Zentralrates stark zugenommen haben. Redetext Deshalb ist mit dem Vertrag eine wesentliche Erhöhung der bisherigen Fördermittel verbunden, trotz schwieriger Haushaltslage. Wir sind froh, dass wir das auch darstellen können. ({1}) Der Zentralrat wird zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft, für seine integrationspolitischen und sozialen Aufgaben sowie für die gestiegenen Kosten seines Büros jährlich eine Staatsleistung in Höhe von 3 Millionen Euro erhalten. Die Bundesregierung erklärt in dem Vertrag auch ihre Absicht, weiterhin die Hochschule für Jüdische Studien und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland zu unterstützen. Beide Einrichtungen werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland getragen. Andere Leistungen an die jüdische Gemeinschaft bleiben von diesem Vertrag unberührt, so zum Beispiel die staatliche Unterstützung aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern aus dem Jahre 1957 über die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe. Zudem würdigen wir mit diesem Staatsvertrag die Arbeit des Zentralrates für den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland. Bundeskanzler Schröder sagte anlässlich der Unterzeichnung des Staatsvertrages, aus Sicht der Bundesregierung sei dieser Vertrag auch ein Zeichen der hohen Anerkennung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft. Unbeirrt und mutig setze sich diese für einen Wiederaufbau ihrer Gemeinden ein - und das „gerade in Deutschland, wo der Völkermord an den europäischen Juden mit solcher verbrecherischer Systematik geplant und ausgeführt worden ist“. Meine Damen und Herren, dieser Vertrag ist auch ein Zeichen für den Eintritt in die Normalität und dafür, dass wir in der Verantwortung gegenüber unserer Geschichte zu einem konstruktiven und solidarischen Miteinander kommen. ({2}) Zu Recht hat der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, einen intensiven christlich-jüdischen Dialog gefordert. Ein solcher Dialog sei nötig, um das Verhältnis zueinander zu entkrampfen. Herr Spiegel sagte wörtlich: „Wir müssen normaler, lockerer miteinander umgehen.“ Er fügte hinzu: „Wir reden noch viel zu sehr übereinander.“ In Deutschland herrsche nach wie vor großes Nichtwissen über das Judentum und den Holocaust. Zu einem großen Teil liege dies darin begründet, dass bisher keine richtige didaktische Form und kein richtiges Maß gefunden worden seien, um darüber zu informieren. Dies sollten wir aufnehmen und beachten und uns gemeinsam darum bemühen, dass dieser christlich-jüdische Dialog in Gang gesetzt und verbessert werden kann. Angesichts eines neuen beunruhigenden Antisemitismus hat der Deutsche Bundestag eine Entschließung mit der Überschrift „Antisemitismus ächten - Zusammenarbeit in Deutschland stärken“ gefasst. Hier heißt es: Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl neuer jüdischer Gemeinden in Deutschland entstanden sind. Dies ist Ausdruck des Vertrauens in unsere Demokratie und in die jungen Generationen. Weiterhin steht in der Entschließung: Der Deutsche Bundestag unterstützt alle Bemühungen, die dazu beitragen, dass jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind und hier ihre Heimat gefunden haben, sich in ihrer Entscheidung bestätigt fühlen können. Hierzu gehört, die jüdischen Gemeinden in Deutschland bei der Aufgabe, jüdische Zuwanderer zu integrieren, nicht alleine zu lassen, sondern ihnen hierbei zur Seite zu stehen. Das wird mit diesem Vertrag geleistet. ({3}) Mit diesem Vertrag soll auch ein substanzieller Beitrag dafür geleistet werden, dass die jüdische Dachorganisation ihren Aufgaben auch in Zukunft nachkommen und damit die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stärken kann. In der Präambel wird der Vertragsschluss auch mit der besonderen historischen Verantwortung begründet. Der Vertrag schreibt eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland fest. Der Zentralrat hat sich bereits bisher als verlässlicher Partner der Bundesregierung in vielen gesellschaftspolitischen Fragen erwiesen. Beispielhaft nenne ich nur seine Mitarbeit in der Zuwanderungskommission und bei der Bekämpfung von Rassenhass und Intoleranz. Dafür gebührt ihm Dank. ({4}) Einen Punkt möchte ich an dieser Stelle hervorheben: An die Umsetzung des Vertrages knüpfen wir - ich weiß, dass dies auch die Fraktionen des Deutschen Bundestages so sehen - die klare Erwartung, dass die Zusage und die Zielsetzung, der Zentralrat der Juden in Deutschland sei für alle Richtungen innerhalb des Judentums offen, in der Praxis umgesetzt werden. ({5}) Die Bundesregierung geht davon aus und wird darauf hinwirken, dass ihre damit verbundene Erwartung, alle jüdischen Richtungen könnten unter Wahrung des religiösen Selbstbestimmungsrechts an der Förderung teilhaben, in Zukunft erfüllt wird. ({6}) Ich habe es für richtig befunden, diese Erwartung in diesem Zusammenhang deutlich zum Ausdruck zu bringen. Im Übrigen bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 6. Juni 2003 ist ein guter Tag, nicht nur für die Vertragspartner - die Bundesrepublik Deutschland auf der einen und den Zentralrat der Juden auf der anderen Seite -, nicht nur für die 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland und ihre mittlerweile wieder gut 100 000 Mitglieder, sondern für uns alle. Mit diesem Vertrag soll kein Kapitel abgeschlossen und erst recht kein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen, sondern ein neues Kapitel des jüdischen Lebens in Deutschland aufgeschlagen werden. Vielleicht ist es kein Zufall, sondern glückliche Fügung, dass gerade in diesen Tagen die Erinnerungen des aus Deutschland geflohenen Philosophen Hans Jonas erschienen sind. Viele kennen sein Buch „Das Prinzip Verantwortung“, das in den 80er-Jahren gerade in Deutschland große Aufmerksamkeit erfahren und Anstöße für das damals wachsende Bewusstsein für den Schutz der Schöpfung und das Bemühen um Nachhaltigkeit gegeben hat. Es ist das Vermächtnis eines der vielen Deutschen, die durch Flucht und Vertreibung zwar den Mördern entkommen konnten, deren Geist und Kraft unserem Land dennoch verloren gegangen sind. Ebenfalls in diesen Tagen ist das neue Buch von Amos Elon „Zu einer anderen Zeit - Porträt der deutsch-jüdischen Epoche“ in deutscher Übersetzung erschienen. In der langen, auch innerjüdischen Kontroverse, ob es denn jemals so etwas wie eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben habe, wird damit ein neuer Akzent gesetzt und die Erinnerung daran wach gehalten, wie stark gerade Mitbürger jüdischen Glaubens die Entwicklung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, aber auch der Medizin oder der Jurisprudenz in Deutschland ganz entscheidend geprägt haben. Für viele beispielhaft möchte ich Heinrich Heine, Kurt Tucholsky oder Walther Rathenau nennen. Erinnern darf ich aber auch an prominente Vordenker unseres Rechtsstaates wie Eduard von Simson, Hermann Staub oder Hans Kelsen. Dieser Vertrag ist keineswegs selbstverständlich. Er ist kein Zeichen von Normalität, auch wenn der Staat sein Verhältnis zu den großen christlichen Kirchen seit langem durch Staatskirchenverträge oder Konkordate auf eine dauerhafte und verbindliche Rechtsgrundlage gestellt hat. Dieser Vertrag ist keine Privilegierung einer Gruppe; denn die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates bedeutet nicht, dass er mit den Religionsgemeinschaften des Landes nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten und sie unterstützen soll. Das wäre nicht Neutralität, sondern geradezu Feindlichkeit. ({0}) Als Kulturstaat schützen und fördern wir die religiösen und kulturellen Engagements unserer Bürger. Die Unterzeichnung des Vertrages durch den Zentralrat der Juden in Deutschland ist ein beeindruckender Beweis des Vertrauens der jüdischen Mitbürger in unsere Demokratie, unsere Grundordnung, die freiheitlich ist und bleibt, und unsere Gesellschaft. Als die ersten Juden nach dem Schrecken der Nazibarbarei wieder nach Deutschland zurückkehrten, war dies alles andere als selbstverständlich. Es war für sie zunächst ein großes Wagnis. Sie konnten ja nicht ahnen, welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen es in der Nachkriegszeit in Deutschland geben würde und ob jemals wieder jüdisches Leben in Deutschland erblühen könnte. Es gab nicht wenige, für die es unvorstellbar war, dass Juden in das Land der Täter zurückkehren, um dort ein neues Leben zu beginnen. Deshalb lebten nicht wenige in den ersten Jahren auf gepackten Koffern. Doch mit der Zeit wuchs das Vertrauen in unseren Staat und damit die Hoffnung, dass es richtig sein würde, sich wieder für ein Leben in Deutschland zu entscheiden. Aus dieser Hoffnung wurde im Laufe der Zeit Gewissheit. Dann wurden diese Koffer ausgepackt und man war wieder in der Heimat. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass dieses Vertrauen der jüdischen Mitbürger in unser Land, in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auch dazu beigetragen hat, das Vertrauen der internationalen Staatengemeinschaft in die damals noch junge Bundesrepublik zu festigen. ({1}) Dieses Vertrauen war und ist nicht selbstverständlich. Das Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen. Der Kollege Edathy hat in der ersten Lesung dieses Vertrages eine Umfrage zitiert, nach der 60 Prozent der Bevölkerung im Antisemitismus ein Problem sehen. Es wäre falsch, wenn wir so tun würden, als gäbe es in Deutschland keinen Antisemitismus. ({2}) Aber ebenso falsch wäre es, wenn wir bei Debatten über jüdisches Leben in Deutschland zuerst, vor allen Dingen oder gar ausschließlich über Antisemitismus reden würden. Paul Spiegel hat einmal gefragt: Was geht uns Juden der Antisemitismus an? Eine zunächst überraschende, aber zweifelsfrei richtige Frage. Die Frage richtet sich auch an uns. Entscheidend ist, dass wir alle gemeinsam geschlossen und entschlossen jeder Form des Antisemitismus entgegentreten, ganz gleich in welcher Gestalt er uns begegnet, dass wir ihm den Nährboden entziehen und dass wir stets darauf achten, dass es nie mehr so sein darf, dass sich unsere jüdischen Mitbürger fragen müssen, ob es richtig war, nach Deutschland zurückzukehren, und ob es richtig ist, hier zu leben. ({3}) Es muss für uns alle nicht nur selbstverständlich sein, dass sie hier im Sinne von Toleranz und Duldung leben können - darum kann es nicht gehen -, sondern dass sie auch hier leben wollen, weil Deutschland ihre Heimat ist. Staatssekretär Körper hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass unsere deutsche jüdische Gemeinde weltweit am schnellsten wächst. Der Grund hierfür ist insbesondere die Zuwanderung in der Zeit nach der Wiedervereinigung. Sie hat zum einen dazu geführt, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder erblüht; aber es gibt auch Probleme bei der Zuwanderung, die wir nicht verschweigen dürfen, sondern lösen müssen. Es gibt neue Aufgaben und Herausforderungen. Die Integration dieser Migranten jüdischen Glaubens ist nicht nur für die jüdischen Gemeinden, sondern für unser Land insgesamt, für die gesamte Gesellschaft eine wichtige Aufgabe. Der Vertrag soll deshalb auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die notwendige Integration nicht nur in die jüdischen Gemeinden, sondern auch in unsere Gesellschaft besser gelingt und dass wir dadurch die Kultur der Verständigung weiter ausbauen. Unser Dank gilt dem Zentralrat der Juden in Deutschland, an der Spitze seinem Präsidenten Paul Spiegel, aber auch allen anderen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten um Versöhnung, um Verständigung, um eine gute und vor allen Dingen eine gute gemeinsame Zukunft bemühen. Dieser Vertrag kann und wird dazu beitragen, nicht nur die besseren Voraussetzungen für eine gute Integration zu schaffen, das deutsch-jüdische kulturelle Erbe zu pflegen und zu erhalten, sondern auch die Bemühungen um Verständigung zu unterstützen. Es wird in den nächsten Jahren aber nicht nur darauf ankommen, dass die nun zur Verfügung stehenden Mittel vertragsgerecht und sinnvoll eingesetzt werden; entscheidend wird es vielmehr sein, den Geist des Vertrages mit Leben zu erfüllen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Vertragspartner. Das ist eine Aufgabe für alle Menschen, die guten Willens sind. In diesem Sinne stimmt die CDU/CSU-Fraktion diesem Vertrag gerne zu. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Staatsvertrag wurde am 27. Januar unterzeichnet. Das ist der Holocaust-Gedenktag und der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Die erste Lesung dieses Vertrages hatten wir im Deutschen Bundestag am 8. Mai, dem Tag der Befreiung von der Hitler-Diktatur. Diese beiden Daten werfen ein Schlaglicht darauf, dass das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrer jüdischen Minderheit immer noch sehr von den Schatten der Vergangenheit geprägt wird. Heute ist ebenfalls ein wichtiger Tag, nämlich der jüdische religiöse Feiertag Schawuot. Sieben Wochen nach Pessach wird die Offenbarung der zehn Gebote am Berge Sinai gefeiert. Dass die Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag mit dem Jahrestag dieses religiösen Festes zusammenfällt, war uns allen nicht bewusst, als wir die Tagesordnung zusammengestellt haben. Auch das wirft ein Schlaglicht auf unsere Situation, weil es zeigt, wie wenig vertraut die Nichtjuden in diesem Land mit der jüdischen Kultur und mit den jüdischen Feiertagen sind. Ich hoffe, dass sich diese Situation mit der Bereicherung durch das jüdische Leben, das durch die Zuwanderung bedingt auch präsenter und sichtbarer wird, verbessert und dass wir alle etwas dazulernen und stärker aufeinander eingehen. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Aspekt. ({0}) Wir müssen mehr über die Geschichte des Judentums lernen und wissen als das, was sich in den vergangenen Jahrzehnten und im vergangenen Jahrhundert ereignet hat. Wir müssen das Judentum aus sich selbst heraus verstehen. Darin haben wir wohl alle noch Nachholbedarf. Der Staatsvertrag zeigt, dass die jüdische Gemeinde ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens in unserem Lande geworden ist. Der Zentralrat, gegründet nach dem Krieg als Notgemeinschaft der 15 000 noch in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, ist heute fester Bestandteil unseres kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Der Staatsvertrag kommt vielleicht etwas spät; aber er dokumentiert diese entscheidende Entwicklung und er dokumentiert auch, dass sich viele jüdische Bürgerinnen und Bürger entschlossen haben, in unser Land zu kommen, hier zu bleiben und die Koffer auszupacken. Wir haben immer wieder darüber gesprochen, dass viele Jüdinnen und Juden das Gefühl hatten, sie bleiben hier nur auf Probe. Sie saßen auf ihren Koffern und hatten sich noch nicht entschieden. Ich denke, dass sich viele Jüdinnen und Juden trotz aller Probleme, die Juden in unserem Land immer noch haben, entschieden haben, dauerhaft hier zu bleiben und ihre Kultur und Religion zu leben, ist etwas, worüber wir sehr zufrieden sein können. Der Staatsvertrag soll ein neues Kapitel in der langen Geschichte jüdischen Lebens in unserem Land aufschlagen. Durch die Zuwanderung aus Osteuropa sind viele jüdische Gemeinden gewachsen und weitere gegründet worden. Diese Zuwanderung, die von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages ausdrücklich gewollt ist, hat Volker Beck ({1}) erheblich zum Reichtum und zur Sichtbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland beigetragen. Dieser Reichtum bedeutet auch ein zunehmendes Sichtbarwerden der Vielfalt des jüdischen Lebens. Diese Vielfalt war auch ein Diskussionspunkt bei der Verabschiedung des Staatsvertrages. Ich meine, wir sollten fast dankbar dafür sein, dass wir uns heute darum kümmern müssen, dass Jüdinnen und Juden ihre religiöse Überzeugung in unterschiedlicher Ausprägung leben können und auch in dieser Unterschiedlichkeit vom Staat akzeptiert und anerkannt werden wollen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland bekennt sich dazu, dass er die Vielfalt religiöser Strömungen des Judentums in seinen Reihen repräsentiert. Wir hoffen, dass dieser Staatsvertrag dazu führt, dass diese gesamte Vielfalt gelebt werden kann. Das gilt auch für eine Minderheit in unserem Land, die früher die Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden bildete, und zwar die liberalen jüdischen Gemeinden, die bislang noch nicht im Zentralrat vertreten sind. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen Appell an die Landesinnenminister richten, die für die Anerkennung von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts zuständig sind. Eine Religionsgemeinschaft kann normalerweise erst dann eine Körperschaft des öffentlichen Rechts werden, wenn sie bereits zehn Jahre existiert und eine gewisse Größe hat. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern daran erinnern: Leo Baeck, der Vorsitzender der World Union for Progressive Judaism war, hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland begonnen zu wirken. Er hatte bis weit nach dem Krieg eine entscheidende Bedeutung für das religiöse Leben der Juden in Deutschland und auf der ganzen Welt. Vielleicht sollte man unter diesem Gesichtspunkt anerkennen, dass es nicht darum geht, vor wie vielen Jahren die Gemeinden gegründet wurden. Es geht vielmehr darum, dass das liberale Judentum in Deutschland eine lange Tradition und tiefe Wurzeln hat. Insofern sollte man in Kenntnis der historischen Umstände vielleicht seine Ermessensspielräume nutzen, um auch diese Fragen und Probleme im Einvernehmen mit allen Seiten zu lösen. ({2}) Zum Schluss: Bei Debatten über die jüdische Gemeinschaft - auch Herr Bosbach hat das angesprochen wird immer wieder das Stichwort „Normalität“ erwähnt. Ich wünsche mir in der Tat mehr Normalität für das Leben der Jüdinnen und Juden in unserem Land. Normal wäre es für mich, wenn Polizeiwagen und Absperrgitter vor jüdischen Einrichtungen nicht mehr notwendig wären. ({3}) Momentan ist das aber noch notwendig, weil der Antisemitismus in Deutschland noch immer das Leben der Jüdinnen und Juden gefährdet. Ich finde, der schrecklichste Gedanke dabei ist, dass Kinder, die einen jüdischen Kindergarten besuchen, erst einmal an einem Polizeispalier vorbeigehen müssen. Was bedeutet das für den Eintritt in unsere Gesellschaft und welches Grundgefühl vermittelt das? Es ist unser aller Aufgabe, die geistigen Grundlagen dafür zu schaffen, dass die entsprechenden Gefährdungen abgebaut werden können, damit tatsächlich wieder ein normales jüdisches Leben in unserem Land möglich wird. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Hans-Joachim Otto, FDPFraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Es stimmt, heute ist ein wirklich guter Tag, und zwar gleichermaßen für Juden sowie für Nichtjuden in Deutschland. Wir setzen einen Vertrag in Kraft, den es jedenfalls in dieser Form vor wenigen Jahren wohl noch nicht hätte geben können. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland werden auf eine dauerhafte juristische Basis gestellt. Dieser Vertrag ist - so hoffe ich jedenfalls - Ausdruck wachsenden Vertrauens der jüdischen Bürger in die demokratische Stabilität dieses Landes. ({0}) Kollege Bosbach und Kollege Beck, sicherlich ist das Verhältnis der Juden zu Deutschland noch weit von der so genannten Normalität entfernt. Jedenfalls darf diese nicht einseitig von Nichtjuden ausgerufen werden. Trotzdem drücke ich die Hoffnung aus, dass der Abschluss dieses Vertrages von den Juden selbst als ein weiterer Schritt auf Deutschland zu verstanden wird. Diese bewusste Hinwendung zu einem Land, das vor 70 Jahren unfassbares Leid über Juden in ganz Europa brachte, ist Reifezeugnis und zugleich Verantwortung für das neue demokratische Deutschland. ({1}) Ich betrachte den Abschluss dieses Vertrages auch als ein politisches Signal an die Ewiggestrigen, und zwar dahin gehend, dass sich Demokraten in Deutschland gemeinsam und konsequent gegen jede Form von Antisemitismus wenden und wehren. Es ist in der Tat beschämend, dass nahezu sämtliche jüdischen Einrichtungen noch immer mit einem Polizeiaufgebot gesichert werden müssen. Lassen Sie mich - ohne das Vorherige zu vergessen heute vor allem eines feststellen: Der heutige Tag, an dem wir diesen Vertrag ratifizieren, ist für uns vor allem ein Tag der Freude darüber, wie lebhaft und intensiv sich jüdisches Leben in Deutschland wieder entwickelt hat. Hans-Joachim Otto ({2}) Damit meine ich nicht zuletzt auch jüdisches kulturelles Leben auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Juden haben über Jahrhunderte hinweg das kulturelle Leben in Deutschland ganz entscheidend mitgestaltet und bereichert. Gerade in Berlin, aber auch in meiner Heimatstadt Frankfurt kennt man das Engagement und die Verdienste der jüdischen Bevölkerung in Kunst und Wissenschaft sowie in Politik und Gesellschaft sehr gut. ({3}) Man weiß deshalb, welchen Verlust ganz Deutschland durch die Nazibarbarei erlitten hat. Gerade dieser intellektuelle Verlust wird sich natürlich nicht einfach durch die heute zu beschließenden finanziellen Zuwendungen ausgleichen lassen. Diese Finanzmittel sind nur ein Baustein, um die durch den Zuzug insbesondere osteuropäischer Juden in finanzielle Bedrängnis geratenen jüdischen Gemeinden zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag würdigt damit ausdrücklich auch die überwiegend ehrenamtliche Arbeit in den jüdischen Gemeinden. Deren soziale Integrationsleistung kann gar nicht hoch genug bewertet werden. ({4}) Der Vertrag - auch ich möchte das betonen - soll aber der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zugute kommen. Ich appelliere genauso wie meine Vorredner an den Zentralrat, für einen fairen Ausgleich auch mit den übrigen jüdischen Organisationen zu sorgen. ({5}) In seinem Buch „Geteilte Erinnerung“ schreibt der Frankfurter Architekt und Publizist Dr. Salomon Korn, der vorgestern seinen 60. Geburtstag feierte, Folgendes: Erinnerung an Zerstörung - und Hoffnung auf Zukunft: zwischen diesen Polen bewegt sich heute jüdisches Dasein in Deutschland. Erinnerung an die Zerstörung und Hoffnung auf die Zukunft sind auch die Fundamente des heute zu ratifizierenden Vertrages. Ohne die Erinnerung an den staatlich verordneten Völkermord des Naziregimes gäbe es diesen Vertrag sicherlich nicht. Aber - viel entscheidender -: Ohne Hoffnung auf die Zukunft gäbe es ihn erst recht nicht. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland wurde als historisch und als Meilenstein auf dem Weg in die Zukunft gewürdigt. Ich finde: zu Recht. Die PDS im Bundestag wird dem Gesetzentwurf daher auch zustimmen. Mehr als 3 Millionen Euro, die nunmehr pro Jahr vertraglich vereinbart wurden, wiegt das Symbol. Es wurde spät gesetzt, aber es gilt. Jüdinnen und Juden sind in Deutschland nicht nur geduldet; sie sind gleichberechtigt und gefragt. Das macht nichts wieder gut, was Jüdinnen und Juden in Deutschland angetan wurde, aber mit diesem Vertrag, finde ich, setzen wir heute, wenn auch sehr spät, ein Zeichen. ({0}) Bei aller Bedeutung will ich aber auch nicht verschweigen: Der Vertrag birgt Klippen und die Vertragspartner versuchen, sie zu umschiffen. Eine Klippe steckt in dem Satz - der hier schon mehrfach zitiert wurde -, wonach die vereinbarten Leistungen der gesamten jüdischen Gemeinschaft zugute kommen. Ich will jetzt nicht auf kulturelle, strukurelle und religiöse Unterschiede der gesamten jüdischen Gemeinschaft eingehen, aber ich unterstreiche, auch in Kenntnis der Berliner Verhältnisse, dass dieser Gleichstellungssatz gilt und auch in der Umsetzung des Vertrags gelten muss. Noch wichtiger ist mir aber Folgendes: Die PDS im Bundestag fragt die Bundesregierung seit Jahren, wie viele rechtsextremistische Straftaten je Monat offiziell registriert werden. Das Ergebnis ist übersichtlich und erschreckend. Jeden Tag gibt es hierzulande eine rechtsextremistische Gewalttat und jede Stunde wird im statistischen Schnitt eine Straftat mit diesem Hintergrund registriert. Der Anteil der Straftaten, die einen antisemitischen Hintergrund haben, ist hoch und steigt. Deshalb: Ein Vertrag ist ein Vertrag. Er ersetzt aber nicht das tägliche Leben und das alltägliche Miteinander. Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein weiterführender Gedanke. Der Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Bundesrepublik war überfällig, aber es gibt weitere Bevölkerungsgruppen, die noch immer um Anerkennung und Gleichberechtigung kämpfen. Ich meine speziell die Sinti und Roma. Auch ihnen gegenüber gibt es eine historische Verantwortung und eine aktuelle zudem. Es ist schon bedenklich, wie lange es dauert, den Opfern unter ihnen ein Mahnmal zu setzen, und wie schnell dagegen Sinti und Roma selbst in Bürgerkriegsgebiete abgeschoben werden sollen. Jüngst wurde dazu eine Kampagne gestartet. Aber auch in dieser Frage geht es nicht um Parteipolitik, sondern um die Kultur unseres Landes. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die meisten Mitglieder des Bundestages haben hier, in Berlin, zusätzlich zu ihrem Wahlkreiswohnsitz eine Zweitwohnung; meine befindet sich im östlichen Teil Berlins. Wenn ich in den Sitzungswochen des Bundestages morgens zum Reichstagsgebäude fahre, komme ich an der Oranienburger Straße entlang. Dort befindet sich eine jüdische Synagoge. Das Erste, was ich von dieser Synagoge zur Kenntnis nehme, ist nicht das Gebäude selbst, sondern sind die Polizeiwagen vor dem Gebäude. Die Situation in Deutschland verlangt es, dass - nicht nur religiöse - Einrichtungen der Juden, anders als etwa christliche Kirchen, eines besonderen Schutzes bedürfen. Das gilt auch für Schulen und für Kindergärten. Es ist wichtig festzuhalten - ich freue mich, dass wir auch in den Ausschussberatungen Einstimmigkeit in Bezug auf den heute zu ratifizierenden Vertrag erzielt haben -, dass Menschen jüdischen Glaubens, die in Deutschland leben, Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, ganz offenkundig eines besonderen Schutzes bedürfen. Dieses Stück Realität aber dürfen wir in Deutschland niemals als ein Stück Normalität akzeptieren. ({0}) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir nach wie vor ein Problem mit antisemitischen Positionen - diese gibt es auch in anderen Ländern; aber wir haben in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung - haben, weil diese in einem Teil der Bevölkerung Anklang finden. Insofern haben wir nicht nur Anlass, uns über das Vertrauen, das die vielen erfreulicherweise wieder in Deutschland lebenden Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens diesem Staat entgegenbringen, zu freuen, sondern auch, dafür ausgesprochen dankbar zu sein. ({1}) Der Vertrag, den wir heute einvernehmlich und geschlossen verabschieden werden - alle Fraktionen haben bereits erklärt, dass sie dem entsprechenden Gesetzentwurf zustimmen -, gibt aber auch Anlass, über jüdisches Leben in Deutschland einmal anders zu sprechen als unter dem Gesichtspunkt, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland potenzielle Opfer von Übergriffen sind. Die Debatte über diesen Vertrag gibt uns Anlass, darüber zu reden, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auch Akteure sind, dass sie unser Zusammenleben bereichern, dass sie nichts sind, was man zu der Gesellschaft hinzunimmt, sondern dass sie elementarer Teil dieser Gesellschaft sind. Das Zustandekommen dieses Vertrages hat seine Ursache selbstverständlich auch darin - der Kollege Otto hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass wir vor dem Hintergrund der furchtbaren deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 gerade gegenüber den Jüdinnen und Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung haben. Dieser Vertrag bringt aber auch zum Ausdruck, dass wir wieder einen Zustand erreichen wollen - der damit verbundene Prozess wird heute nicht abgeschlossen -, in dem es ganz selbstverständlich ist, dass deutsche Bürgerinnen und Bürger hier in Frieden und ungefährdet leben können, egal welcher Glaubensrichtung sie angehören. ({2}) Es ist richtig, auch darauf hinzuweisen, dass rund eine halbe Million Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens bis zur Zeit des Nationalsozialismus trotz aller Brüche in der deutschen Geschichte ein Teil dieser Gesellschaft gewesen sind, übrigens nicht nur im Bereich der Eliten, sondern auch in anderen Bereichen der deutschen Gesellschaft. Sie gehörten dazu. Sie waren ein Teil dieses Landes. Deswegen ist die Judenverfolgung im Nationalsozialismus nicht nur etwas gewesen, was sich gegen den jüdischen Teil der deutschen Bevölkerung gerichtet hätte. Vielmehr war die Judenverfolgung in Deutschland ein Akt der Selbstzerstörung der eigenen Gesellschaft, der deutschen Gesellschaft. ({3}) Sie war eine Selbstamputation. Wir leiden noch heute unter diesem Verlust. Ich selbst bin in den 70er-Jahren in Niedersachsen aufgewachsen. An meiner Schule, am Gymnasium, gab es keinen jüdischen Schüler und keine jüdische Schülerin. Übrigens: Ich glaube, dass ein Grund für den Antisemitismus auch darin besteht, dass oftmals kein Wissen umeinander da ist. Ich war auch überrascht zu hören - Herr Kollege Beck hat es angesprochen -, dass heute einer der höchsten jüdischen Feiertage ist. Ich weiß nicht, wem in diesem Hause das bewusst war. Der Vertrag, den wir schließen, der den Zentralrat stärker dazu in die Lage versetzen soll, die Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes - des gemeinsamen Kulturerbes - zu betreiben, der den Zentralrat unterstützen soll bei dem Aufbau der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, der ihn unterstützen soll insbesondere bei den integrationspolitischen, bei den sozialen Leistungen, die er erbringt, sollte vielleicht auch eine Grundlage und ein Ausgangspunkt dafür sein, dass wir uns miteinander vornehmen, wechselseitig mehr übereinander erfahren zu wollen, mehr übereinander wissen zu wollen; denn Zusammenleben ohne Verständigung kann nicht funktionieren. In dem Sinne ist dieser Vertrag nach meinem Dafürhalten eben nicht der Abschluss eines Prozesses oder ein Punkt, ab dem man sagen könnte: Jetzt ist ein Zustand der Normalität erreicht. Nein, der Vertrag ist ein Zwischenschritt in diesem langen Prozess. Ich möchte an dieser Stelle abschließend an Ignatz Bubis erinnern, den langjährigen Präsidenten des Zentralrates der Juden, der kurz vor seinem Tod mit einiger Verbitterung sinngemäß gesagt hat - ich zitiere ihn aus dem Gedächtnis heraus -: Ich habe mich immer bemüht, dieses Missverständnis, auf der einen Seite gebe es die Deutschen, auf der anderen Seite gebe es die Juden, zu überwinden. - Er sagte, er habe in dieser Hinsicht wenig, nach seiner Einschätzung sogar nichts erreicht. Ich glaube, dass das Vermächtnis solch großer Menschen wie Ignatz Bubis für uns auch darin besteht, ihre Ansätze aufzugreifen und fortzuführen. Wenn wir viel Glück haben und wenn wir dazu beitragen, dass eine Grundlage dafür da ist, dass wir dieses Glück haben dürfen, werden vielleicht in einigen Generationen Menschen, die unsere Bevölkerung - die Deutschen, die jüdischen Deutschen, die christlichen Deutschen, die muslimischen Deutschen - hier im Bundestag vertreten, feststellen können: Ja, es gibt dieses Separieren zwischen Deutschen und Juden nicht mehr, Deutsche jüdischen Glaubens sind deutsche Bürgerinnen und Bürger und nicht Juden in Deutschland. Wenn wir das feststellen können, dann werden wir, glaube ich, an einem Punkt angelangt sein, von dem wir sagen können: Es war wichtig, ihn zu erreichen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Martin Hohmann, CDU/CSU-Fraktion.

Martin Hohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle Redner haben so gesprochen, dass ich nur sagen kann: Ich kann alles bekräftigen und unterstützen. Besonders möchte ich mich natürlich auf Wolfgang Bosbach, unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, beziehen. Ich möchte das nicht wiederholen, aber ich bekräftige: Juden gehörten seit Jahrhunderten zu uns. Unser aller Wunsch ist: So soll es wieder werden. Ich darf etwas, was noch keiner gesagt hat - als Letzter hat man es ein wenig schwer, etwas bisher Ungesagtes zu bringen -, hinzufügen: Wir haben bei der Zuwanderung nach Deutschland jetzt sogar die Situation, dass erstmals mehr Juden nach Deutschland gekommen sind als nach Israel. Das wird vielleicht noch manchem Kopfzerbrechen bereiten. Aber es ist ein sehr positives, gutes Zeichen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die ersten Architekten und Baumeister am Haus der deutsch-jüdischen und der deutsch-israelischen Beziehungen waren David Ben-Gurion und Konrad Adenauer. Konrad Adenauer formulierte die noch heute gültige Basis, auf der auch der zur Abstimmung stehende Staatsvertrag letztendlich beruht. Ich zitiere: Wer unsere besondere Verpflichtung gegenüber den Juden und dem Staat Israel verleugnen will, ist historisch und moralisch, aber auch politisch blind. Der weiß nichts von der jahrhundertelangen deutsch-jüdischen Geschichte und nichts von den reichen Beiträgen, die von Juden zur deutschen Kultur und Wissenschaft geleistet worden sind. Er begreift nicht die Schwere der Verbrechen des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden. So weit Konrad Adenauer. ({0}) Glaube keiner, über dem deutsch-israelischen Verhältnis habe damals so etwas wie der Zauber des Anfangs gelegen. Nein, zwischen den ersten Geheimkontakten im Jahr 1951, der Vertragsunterzeichnung im Jahre 1952 und, erst ein ganzes Jahr später, der Ratifizierung im März 1953 lagen riesige Anstrengungen für alle Beteiligten. Außerdem schwebte das Damoklesschwert des gänzlichen Scheiterns über dem Vorhaben. Manche Abgeordneten stimmten wegen der Höhe der Entschädigungssumme oder der drohenden Verärgerung der Araber nicht zu oder enthielten sich. Letztendlich war der erfolgreiche erste Schritt der Mehrheit der CDU und der geschlossenen Zustimmung der Sozialdemokraten zu danken. Auch die Anbahnung der diplomatischen Beziehungen glich unter anderem wegen des Kräftevierecks Bundesrepublik Deutschland, Israel, DDR, Ägypten eher einer Echternacher Springprozession, bis unter Kanzler Erhard am 12. Mai 1965 Botschafter ausgetauscht wurden. Nein, einfach war es nie, weder die deutsch-israelischen Beziehungen noch das deutsch-jüdische Zusammenleben in Deutschland. Woran das liegt, hat György Konrad, der langjährige Präsident der Berliner Akademie der Künste, so ausgedrückt: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind wir weder Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekanntschaften oder kulturelle Bindungen aber gehen sie uns etwas an. Wir wissen von ihnen… Auf einer inneren Bühne sind sie anwesend, lassen sich nicht verscheuchen. Sie kommen. György Konrad hat Recht. Wer eine bewusste geschichtlich-kulturelle Prägung erfahren hat und sich seiner Entität zugehörig fühlt, der ist dem Kommen, besser gesagt dem Hinzudrängen der Täter-Opfer-Rolle fast hilflos ausgesetzt. Nicht jeder bringt so viel Geduld auf und schätzt es als erfreuliche Herausforderung ein wie Avi Primor, der israelische Botschafter der Jahre 1993 bis 1999, wenn sein deutscher Gesprächspartner unweigerlich und als Erster, was auch immer der Gegenstand und ursprüngliche Grund des Treffens gewesen sein mochte, das Thema Nazivergangenheit anschnitt. Dieser Vergangenheitskomplex führt zu seltsamen Fehlhaltungen und treibt auch Blüten. Gestatten Sie mir bitte, Ihnen in diesem Zusammenhang eine Beobachtung mitzuteilen, die ich beim Nachlesen einschlägiger Bundestagsprotokolle machte. Spricht ein Mitglied des BunMartin Hohmann destages über einen deutschen Juden, wird meist - Herrn Beck nehme ich ausdrücklich aus - die Umschreibung „jüdischer Mitbürger“ oder „jüdischer Bürger“ gewählt. Professor Dr. Ernst Tugendhat, Philosoph und deutscher Jude, berichtete in dem Wochenblatt „Die Zeit“ Ähnliches. In Deutschland, und nur in Deutschland, werde die Frage nach der Zugehörigkeit so gestellt: Sind Sie jüdischer Abstammung? Er fühle sich dann immer etwas gekränkt und sehe sich genötigt, zu antworten: Ich bin nicht nur jüdischer Abstammung; ich bin auch Jude. Die höfliche Vorsicht, die in der umständlichen Frageform liegt, löst bei Tugendhat, so sagt er, ein ungutes Gefühl aus. Er kann es sich nur so vorstellen, dass der Fragende das Jude-Sein als etwas Anrüchiges, als einen Makel empfindet. Wie würde es in unseren Ohren klingen, wenn man beispielsweise den Berliner Kardinal fragte: Sind Sie katholischer Abstammung? Auch Ignatz Bubis ging diese gewundene Umschreibung gegen den Strich. 1996 ließ er einen so genannten koscheren Knigge herausgeben. Darin heißt es wörtlich: Sie dürfen ruhig „Jude“ sagen. Das Wort ist nicht beleidigend. Wenn es Ihnen dennoch nur schwer über die Lippen kommt, dann hat das damit zu tun, dass irgendwo in Ihrem Hinterkopf noch rudimentär frühere Zeiten stecken. Das allerdings ist Ihr Problem, nicht unseres. ({1}) Warum nicht von Ignatz Bubis lernen? Mit allem Respekt: Ein Jude ist ein Jude; ein Christ ist ein Christ. ({2}) Die psychologische Erklärung für den Hang, das schlichte Wort Jude nicht zu gebrauchen, dürfte in der Tat darin liegen, dass es für viele Deutsche assoziativ mit der Judenvernichtung besetzt ist. Zugleich - das hat Herr Beck schon angesprochen - sind uns religiöse Inhalte und Riten des Judentums weitgehend fremd geworden. Wir wissen wenig von dem religiösen Universum und Reichtum einer 5 763-jährigen Geschichte als auserwähltem Volk. Die Juden sind - ich spreche als Christ unsere weit älteren Brüder und Schwestern. Sie waren sozusagen Gottes erste Liebe. Gott sagt in Genesis 12,3 zu Abraham: Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich will segnen, die dich segnen, wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Indem wir Juden in unserer Vorstellung und aufgrund unserer Kenntnisdefizite von ihren religiösen Prägungen separieren, rauben wir ihnen den Wesensteil, der ihnen als einziges Volk der Welt ein jahrtausendelanges Überleben und ein Bewahren ihrer Identität gesichert hat. Ziel des Vertrages mit dem Zentralrat der Juden ist jedoch gerade, jüdische Identität sowie jüdisches kulturelles und religiöses Leben, also Jüdischkeit, in Deutschland langfristig zu sichern. Wolfgang Bosbach hat das gute Einvernehmen zwischen dem Zentralrat und der Union betont. Ich pflichte dem auch mit Hinweis auf die gemeinsam gewünschte Änderung des § 166 StGB bei. Übereinstimmend mit dem jüdischen Vertreter sprach sich die Unionsfraktion für eine Verbesserung des Schutzes religiöser Bekenntnisse aus. Parallele Anschauungen sind auch in der Abtreibungsfrage zu verzeichnen. Oberrabiner Berger bezeichnete Abtreibung als strafwürdiges Blutvergießen. Da vor dem Kriege gerade die liberalen jüdischen Gemeinden in Deutschland stark vertreten waren, bleibt mir abschließend nur die Bitte an den Zentralrat, die geringe Zahl der neu gegründeten liberalen jüdischen Gemeinden an der jährlichen Dotation anteilsmäßig zu beteiligen. Schließen möchte ich mit einer Vision von einem zukünftigen umfassenden und friedlichen Zusammenleben aller Menschen guten Willens unter einem Dach und möchte dazu aus der Offenbarung des Johannes zitieren: Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein. Danke. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland, Drucksache 15/879. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1109, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, möge sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. ({0}) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Storm, Annette Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben - Drucksache 15/1014 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel Bahr ({3}), Dr. Dieter Thomae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI ({4}) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2002 - Drucksachen 15/110, 15/318, 15/859 Berichterstattung: Abgeordnete Hildegard Müller Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSUFraktion.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit Tagen anhaltende Fortsetzungskomödie der Irrungen und Wirrungen der Regierungskoalition über bevorstehende Einschnitte bei der gesetzlichen Rente zeigt, dass Rot-Grün nur zwei Jahre nach der Verabschiedung der - angeblichen - riesterschen Jahrhundertrentenreform heute vor einem rentenpolitischen Scherbenhaufen steht. ({0}) Die Begründung des Bundeskanzlers im Hinblick auf eine neue Rentenreform in seiner Agenda-Rede vom 14. März dieses Jahres, in der er gesagt hat, man habe vor anderthalb Jahren die Arbeitsmarktentwicklung zu optimistisch und die demographische Entwicklung zu pessimistisch eingeschätzt, kommt in der Tat einem Offenbarungseid gleich. Die anhaltende Talfahrt auf dem Arbeitsmarkt macht auch vor den Rentenkassen nicht Halt. So ist im nächsten Jahr mit einem massiven Anstieg des Rentenbeitragssatzes auf mehr als 20 Prozent zu rechnen. Ein höherer Rentenbeitrag bedeutet zwangsläufig einen höheren Bundeszuschuss. Vor diesem Hintergrund muss die Verzweiflung von Bundesfinanzminister Hans Eichel riesengroß sein. Denn nicht anders ist es zu erklären, dass der Minister in der vergangenen Woche panikartig um sich geschlagen hat. Offenbar hat er vor lauter Haushaltslöchern den Überblick völlig verloren. ({1}) Es ist doch ein Treppenwitz, wenn ausgerechnet Eichel erklärt, dass der Bundeszuschuss zur Rente in den letzten Jahren zu dynamisch gewachsen sei. Ich frage Sie: Wer hat denn unter dem Motto „Tanken für die Rente“ einen zweiten Rentenbeitrag an der Zapfsäule eingeführt? Welcher Finanzminister hat denn freudig zugestimmt, als beschlossen wurde, die Ökosteuer ab 1999 Jahr für Jahr anzuheben? Wer nun einen steigenden Steueranteil bei der gesetzlichen Rente beklagt, leidet offenkundig unter einem massiven Gedächtnisverlust. ({2}) Nicht besser sieht es mit Eichels zweitem Vorschlag aus: den Anteil der Rentner an den Krankenversicherungsbeiträgen von 50 auf 75 Prozent anzuheben. Es ist ein merkwürdiges Verständnis von Generationengerechtigkeit, wenn allein die Rentner die Fehler der verkorksten Riester-Reform ausbaden sollen. ({3}) Dieser Vorschlag bedeutet nämlich im Klartext nichts anderes als eine Rentenkürzung um 3,5 Prozent. Das wäre ein massiver Schnitt in die Substanz. Das ist mit der Union nicht zu machen. ({4}) - Wenn Sie sagen: „Mit uns auch nicht!“, dann ist es ja beruhigend, dass die SPD ihren Finanzminister vielleicht auf Kurs bringt. Eichels Kopflosigkeit ist allerdings inzwischen auch auf den Koalitionspartner übergeschlagen. Denn nicht anders ist der Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Katrin Göring-Eckardt zu erklären: Sie will die Rentenanpassung in Zukunft von der Rentenhöhe abhängig machen. Die Bezieher hoher Renten gehen dann leer aus, die kleiner Renten bekommen etwas. Das hört sich für den einen oder anderen am Anfang noch ganz vernünftig an. Aber das hätte gewaltige Konsequenzen. Das wäre der Einstieg in den Ausstieg aus der beitragsbezogenen gesetzlichen Rente. ({5}) Ich stimme dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD Ludwig Stiegler ja nicht allzu oft zu, ({6}) aber wo der Mann Recht hat, hat er Recht. Er hat es auf den Punkt gebracht, indem er gesagt hat, Frau GöringEckardt habe das Rentensystem nicht begriffen: „Jeder kriegt die Rente, die er durch seine Leistung verdient hat. Wer darauf ein anderes Prinzip anwendet, ist völlig von der Rolle.“ - Stiegler hat es hiermit auf den Punkt gebracht. Nun haben Eingriffe in die Rentenerhöhung allerdings eine klare Tradition in der rot-grünen Bundesregierung. Nahezu kein Jahr vergeht ohne eine Änderung des Anpassungsverfahrens. Das begann 1999 mit der normalen nettolohnbezogenen Rente. Dann hat Eichel geAndreas Storm sagt: Renten nach Kassenlage. Noch nicht einmal den Inflationsausgleich gab es im Jahr 2000. Dann ist man im Jahr 2001 zur bruttolohnbezogenen Rentenanpassung übergegangen und in den Folgejahren zu einem Abschlag für die Riester-Rente. Das Fatale ist, dass die Rentner so behandelt werden, als würden die Beitragszahler zu 100 Prozent einen Riester-Vertrag abschließen. Aber Fakt ist, dass noch nicht einmal jeder sechste Förderberechtigte einen Riestervertrag abgeschlossen hat. ({7}) Damit wird bei den Rentnern abkassiert, was überhaupt keine Grundlage hat. Wenn Sie im nächsten Jahr für die Rentner eine Nullrunde anstreben, dann bedeutet das im Klartext, dass bei Ihnen die Rente nach Kassenlage zum Dauerzustand wird. ({8}) Eine Rente nach Kassenlage droht auch durch die offenbar angedachte Absenkung der Rentenreserve. Diese Rentenreserve hat noch immer eine Größenordnung von 6 bis 7 Milliarden Euro. Das ist für den Finanzminister verlockend, der im Sozialetat 6 bis 7 Milliarden Euro einsparen will. Eine solche Absenkung bedeutet im Kern nichts anderes, als dass die Rücklage der Rentenversicherung gänzlich abgeschafft wird. Damit wäre klar, dass bei jeder nur geringfügigen Verschlechterung der Konjunktur und der Arbeitsmarktlage der Finanzminister mit Steuergeldern einspringen müsste, damit die Renten pünktlich gezahlt werden. Genau darauf arbeitet der Finanzminister offenbar hin. Denn er will - das wäre die Konsequenz einer solchen Umstellung - jedes Jahr bei der Frage, um wie viel die Renten erhöht werden, mitreden. Das wäre das Ende der eigenständigen Rentenversicherung. Die Rentenversicherung wäre am Tropf des Bundesfinanzministers. Das kann kein Mensch in diesem Haus ernsthaft wollen. ({9}) Völlig absurd wird es aber, wenn der Bundesfinanzminister mit der Begründung, die Rentenfinanzen liefen aus dem Ruder und deshalb müssten wir bei der gesetzlichen Rente Leistungseinschnitte machen, den Menschen auch noch den Ausweg verbaut. Denn wenn man sagt, dass die gesetzliche Rente das derzeitige Niveau in Zukunft nicht mehr garantieren kann, dann brauchen wir doch den Aufbau eines zweiten Standbeins ergänzender Vorsorge im Bereich der privaten oder betrieblichen Renten. Nun sagt Eichel: Auch bei der Riester-Förderung müssen wir überlegen, ob wir die Mittel reduzieren. Schlimmer geht‘s wirklich nimmer! ({10}) Eines ist richtig: Die Riester-Rente hat sich als eine Fehlkonstruktion erwiesen. Aber die Konsequenz kann doch nicht sein, die Fördergelder zusammenzustreichen. Die Konsequenz muss sein, dass wir gemeinsam aus der Riester-Rente eine echte Förderrente machen, die die Menschen annehmen, weil sie attraktiv ist, die nicht mit niedrigen Renditen eingeengt und so gestaltet ist, dass viele sagen: Ich werde eine solche Rente wählen. Wenn man die Riester-Rente durch eine attraktive Förderrente ablösen will, dann braucht man dafür Fördermittel; denn nur so können die Menschen überhaupt in die Lage versetzt werden, ein zweites Standbein der Alterssicherung aufzubauen. Die wichtigste Voraussetzung, um einen Kollaps des Rentensystems zu verhindern, ist, dass die Kakophonie innerhalb der Bundesregierung schleunigst beendet wird. Die Regierung muss den Mut zu einem Neubeginn in der Rentenpolitik aufbringen. Die zuständige Bundessozialministerin muss einen ungeschminkten Kassensturz bei den Rentenfinanzen vornehmen. Die derzeit betriebene Arbeitsteilung muss ein Ende haben: Die Ministerin behauptet, dass die Beiträge - wie durch ein Wunder - stabil bleiben, und der Finanzminister legt aus Furcht vor steigenden Beiträgen und Bundeszuschüssen bis zum Gehtnichtmehr Kürzungspläne vor. Wir brauchen noch vor der Sommerpause Klarheit über die tatsächliche Finanzsituation bei den Renten. ({11}) Der von Professor Rürup in die Diskussion eingebrachte Nachhaltigkeitsfaktor, den die Ministerin inzwischen aufgreifen möchte, wird von der Union ausdrücklich begrüßt. Er entspricht in der Zielrichtung ganz eindeutig dem demographischen Faktor, den wir bereits in den Jahren 1997/98 in die Rentenformel eingebaut haben. Es war der größte Fehler der rot-grünen Regierung in der Rentenpolitik, dass sie diese wegweisende Reform nach dem Regierungswechsel 1998 als erste Maßnahme rückgängig gemacht hat. Damit haben wir fünf wertvolle Jahre verloren. Ohne diesen gravierenden Fehler hätten wir eine ganze Reihe von Problemen nicht gehabt, die Sie in den vergangenen Jahren versucht haben zu beheben und in den nächsten Jahren versuchen werden zu beheben. ({12}) Deshalb ist es erforderlich, dass die nächste Rentenreform keine Verfallszeit von anderthalb bis zwei Jahren hat. Die neue Rentenreform muss in jedem Fall auch Klarheit über die Neuregelung der steuerlichen Behandlung von Alterseinkommen bringen und die Nachfolgeregelung für die Riester-Rente - sie muss durch eine echte Förderrente auf breiter Grundlage ersetzt werden beinhalten. Nur wenn Sie bereit sind, eine Verzahnung der drei Projekte Rentenformel, Besteuerung der Alterseinkünfte und Aufbau einer ergänzenden Förderrente in Angriff zu nehmen, sehen wir uns in der Lage, an solchen grundlegenden Weichenstellungen mitzuwirken. Deshalb lautet meine Forderung: Legen Sie noch in diesem Jahr ein vernünftiges Gesamtkonzept zur Rente vor! Dann sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Einer Rente nach Kassenlage reichen wir mit Sicherheit nicht die Hand. ({13}) Darauf können sich die Rentnerinnen und Rentner, aber auch die Beitragszahler in unserem Land verlassen. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes. ({0})

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist richtig: Der Rentenversicherungsbeitrag liegt derzeit bei 19,5 Prozent ({0}) und damit um 0,8 Prozentpunkte über der Zielmarke, die wir uns gesetzt haben. Damit der Wahrheit Genüge getan wird, muss aber auch gesagt werden, dass er damit immerhin noch um 0,8 Prozentpunkte unter den 20,3 Prozent, die wir 1998 von Ihnen geerbt haben, liegt. ({1}) Das bedeutet immerhin um 6,5 Milliarden Euro geringere Lohnnebenkosten. Außerdem muss erwähnt werden, dass die Renten in der Zeit zwischen 1998 und 2002 um ungefähr 5,97 Prozent gestiegen sind. In den fünf Jahren davor - also während Ihrer Regierungszeit - lag die Steigerung bei nur 2,74 Prozent. ({2}) Mit der Rentenreform 2001 wurde die eigenständige Alterssicherung der Frau ausgebaut, Kindererziehung wurde stärker berücksichtigt und ({3}) eine kinderbezogene Höherbewertung der Beitragszeiten ist erfolgt. Die Anrechung von Zeiten für die Erziehung mehrerer Kinder wurde mit aufgenommen und die Grundsicherung wurde eingeführt, um verschämte Altersarmut zu verhindern. Erstmalig wurde in Deutschland eine kapitalgedeckte private Altersvorsorge eingeführt. Der Sozialbeirat hat in seinem Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2002 im Prinzip sehr positiv bewertet, dass mit diesem Einstieg in den Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge eine richtige Weichenstellung unternommen worden ist, um die Alterssicherung langfristig zu stabilisieren. Erstmals unterstützt der Staat damit die private Altersvorsorge. Das ist alles andere als ein rentenpolitischer Scherbenhaufen, Kollege Storm. ({4}) Das ist und bleibt ein sozialpolitischer Meilenstein in der Geschichte unseres Sozialstaates. Aber ich stimme auch der kritischen Bewertung des Sozialbeirates zu, der in seinem Gutachten sagt: Die Entwicklung im Jahre 2002 - damit meint er die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung der Arbeitslosenzahl - hat deutlich gemacht, dass im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung auch künftig Reformbedarf besteht. Das war der Grund dafür, dass die Bundesregierung die Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme eingesetzt hat. Teilempfehlungen liegen bereits vor. Weitere Empfehlungen werden im Abschlussbericht folgen. Wir werden sie sorgfältig prüfen und dann entscheiden. Ich kann Ihnen aber schon jetzt sagen: Eine Anhebung des Beitrages der Rentnerinnen und Rentner zur Krankenversicherung steht für uns nicht zur Debatte. Ich sage dies, damit diese Mär nicht weiter von Ihnen verbreitet wird. ({5}) Es ist unbestritten: Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen und Problemen. ({6}) Dazu gehören die wirtschaftliche Entwicklung, die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und die demographische Entwicklung. Das sind Herausforderungen, die die Entscheidungen, vor denen wir alle gemeinsam stehen, erheblich erschweren. Wenn wir ehrlich sind, werden wir sagen müssen, dass wir diesen Herausforderungen in der Vergangenheit vielleicht alle ein Stück weit ausgewichen sind, als sie absehbar gewesen sind und es erforderlich gewesen wäre, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. ({7}) Wir könnten darüber sprechen, wie die Frühverrentung eingeführt worden ist, die mit dazu beigetragen hat, dass die Rentenkassen zum Teil ausgeblutet sind, und dass sie von denen ausgeblutet worden sind, die sich als Unternehmen von den Kosten für die Sozialleistungen entlasten wollten. ({8}) Wir könnten auch darüber sprechen, wie die deutsche Einheit finanziert worden ist, nämlich zum großen Teil über die sozialen Sicherungssysteme und nicht - wie es gerechter gewesen wäre - durch alle Steuerzahlerinnen und Steuerzahler über den Haushalt. ({9}) Hier tragen alle ein Stück Verantwortung für die Vergangenheit. Deswegen ist es wichtig, dass die Antworten, die jetzt gefunden werden müssen, einerseits Fortschritt und Wohlstand in Deutschland gewährleisten, andererseits dafür sorgen, dass Beschäftigung entsteht und gleichzeitig soziale Sicherheit diesen Wandel begleitet und unterstützt. Die rentenpolitische Diskussion bewegt sich zwischen den Rentnerinnen und Rentnern und den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern. Auf der einen Seite steht das Bedürfnis nach Sicherheit und auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Bezahlbarkeit. Das zeugt von dem inneren Spannungsverhältnis, in dem wir uns bewegen, dass nämlich Politik versuchen muss, die jeweiligen Interessen sozial vernünftig auszubalancieren. Deshalb sind Sicherheit und Bezahlbarkeit die Leitplanken der Rentenpolitik. Wir fordern Solidarität ein, um die solidarische Rentenversicherung zukunftsfest zu machen. Der Athener Staatsmann Solon, 640 vor Christi geboren, 600 vor Christi maßgeblich an der Ausarbeitung einer Verfassung im damaligen Athen insbesondere zur Wirtschafts- und Sozialordnung beteiligt, hat einmal zur Erläuterung seiner Philosophie Folgendes zum Ausdruck gebracht: Zu ihm soll einmal ein älteres Ehepaar gekommen sein, um sich über den gemeinsamen Sohn zu beklagen, der sich geweigert hatte, seinen Eltern im Alter mit Hilfe und Geld beizustehen. Bevor Solon antwortete, wollte er von den Eltern wissen, ob sie ihrerseits für den Sohn gesorgt hätten, als er noch klein und hilfsbedürftig war. Erst nachdem sie diese Frage mit Ja beantworteten, sprach er den Eltern den Anspruch auf Unterhalt zu. Das ist Ausdruck einer gegenseitigen Fürsorge und Verantwortung, die von beiden Seiten einzuhalten ist, die es aber auch ernst meint mit dem Sozialstaat und der Generationengerechtigkeit. Die Jungen sorgen für die Alten, nachdem die Alten ihrerseits ausreichend für die Jungen vorgesorgt haben. Der Punkt, um den es uns in dieser schwierigen ökonomischen Situation gehen muss, ist, einerseits die Beiträge so zu gestalten, dass sie bezahlbar sind und helfen, Beschäftigung zu fördern, und andererseits den Rentnerinnen und Rentnern angemessene Einkommen zu gewährleisten. Dabei muss der notwendige Spielraum bei den finanziellen Mitteln gewahrt bleiben, die notwendig sind, um in Bildung und Forschung zu investieren. Denn wir müssen den jungen Menschen die Voraussetzungen für eine gute Zukunft schaffen, damit sie im späteren Arbeitsleben in einer Gesellschaft arbeiten können, die wettbewerbsfähig ist, und sie ein gutes Bruttosozialprodukt erwirtschaften können, das wiederum die Möglichkeit bietet, die Altersbezüge derjenigen, die dann in Rente sind, zu finanzieren. Anders formuliert - ich sage das sehr einfach -: Wir dürfen heute nicht das verzehren, was wir erarbeitet und erwirtschaftet haben. Wir müssen auch einen Teil in das Morgen investieren, damit unsere Kinder eine Zukunft haben und die Rentnerinnen und Rentner auch künftig ein vernünftiges Auskommen haben. ({10}) Die Herausforderung, die sich aus der demographischen Entwicklung ergibt, ist groß. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern und Frauen in den letzten 40 Jahren um acht Jahre gestiegen ist, bedeutet, dass sich auch die Rentenbezugsdauer um acht Jahre verlängert hat. Wir freuen uns, dass die Menschen länger leben, aber dass sie acht Jahre länger Rente beziehen, bedeutet für die Kassen einen größeren Aufwand. ({11}) Anfang der 60er-Jahre lag die durchschnittliche Geburtenrate in Deutschland pro Frau bei 2,5 Kindern, heute liegt sie nur noch bei 1,3 Kindern. Das zeigt, dass die jüngere Generation nicht mehr in dem Maße wie früher nachwächst. Die Bevölkerungspyramide hat sich völlig verändert. Heute sorgen drei Beschäftigte für einen Rentner. In Zukunft, in etwa 30 bis 40 Jahren, wird das Verhältnis wahrscheinlich bei 1,5 Beschäftigten zu einem Rentner liegen. Vor diesen Herausforderungen stehen wir nicht nur in Deutschland. Auch in Frankreich, Österreich und allen anderen Ländern in Europa muss man sich damit auseinander setzen. Das macht deutlich, dass nicht die Rentenreform Ursache für die jetzige Situation ist - sie wird immer als Kritikpunkt genannt -, sondern dass auch die massive Verschlechterung der globalen und der nationalen wirtschaftlichen Situation eine Ursache ist. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung eine Nachjustierung auch in der Rentenpolitik erfordert. Eine Teilempfehlung der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme umfasst den so genannten Nachhaltigkeitsfaktor. ({12}) Mit diesem Nachhaltigkeitsfaktor werden wir dazu beitragen, dass künftig in der neuen Rentenformel die Entwicklung und das Verhältnis der Zahl der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zu der Zahl der Rentnerinnen und Rentner mit einbezogen wird und Auswirkungen auf die Rentenentwicklung hat. Verändert sich nämlich dieses Verhältnis zulasten der beruflich aktiven Generation, müssten die Beiträge steigen. Damit dies nicht ungebremst geschieht, ist die Generation der Rentnerinnen und Rentner mit an den daraus resultierenden Belastungen und Herausforderungen zu beteiligen. Das heißt, die Verteilung der Lasten aus der demographischen Entwicklung muss in vernünftigem Rahmen auf beide Seiten verlagert werden. Dieser Faktor - das erlaube ich mir zu sagen - ist etwas höher als der demographische Faktor, weil wir die Entwicklung am Arbeitsmarkt und die Entwicklung bei den Beschäftigtenzahlen bei diesem Faktor mit berücksichtigen. Damit machen wir deutlich, dass beides sehr stark voneinander abhängig ist. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist somit ein wesentliches Element, um einerseits die Lohnnebenkosten zu senken bzw. zu stabilisieren und andererseits über die Gesamtsituation mit dazu beizutragen, dass sich die Renten so entwickeln, dass sie auf Dauer sicher sind. Das ist sozial gerecht, das verbessert die Beschäftigungschancen, das sichert die Rente für die ältere Generation. ({13}) Im Gegensatz zu den Vorstellungen unserer Vorgängerregierung haben wir vor dem Hintergrund der längerfristigen Rentenentwicklung mit der Riester-Rente den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit gegeben, die Versorgungslücke, die sich im Alter auftun kann, im Rahmen einer privaten Vorsorge aufzufüllen. Das war damals in Ihrer Rentenreform nicht enthalten. Deswegen war es richtig, sie abzulehnen. Über unseren Weg tragen wir dazu bei, dass die Menschen für ihre private Situation im Alter vorsorgen können. Die bisherige Inanspruchnahme stimmt mich zuversichtlich. Ich muss mir nur anschauen, in welch kurzer Zeit nach der Bundestagswahl - bis dahin gab es Boykottaufrufe aus Ihren Reihen, weil Sie alles ändern wollten - in den Betrieben entsprechende Tarifverträge abgeschlossen worden sind und wie viele Menschen sich mittlerweile mit privaten Verträgen an ihrer Altersvorsorge beteiligen. Aus diesem Grund sollten vor dem Hintergrund der notwendigen Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das uns aufgegeben hat, die Besteuerung der Pensionen und Renten in Übereinstimmung mit der Verfassung zu regeln, keine weiteren Ängste geschürt werden. Wir werden die Vorschläge der Kommission genauso wie die ergänzenden Vorschläge zur Vereinfachung und vielleicht Erweiterung der Riester-Rente vernünftig bewerten. ({14}) Uns geht es darum, dass es für die Menschen in Zukunft eine verlässliche und die derzeitigen Renteneinkommen berücksichtigende klare politische Grundlage gibt. Wir halten Ihren Antrag auch aufgrund Ihrer Forderung, das Wohneigentum stärker zu fördern, für nicht umsetzbar und nicht erforderlich, weil - das ist ganz klar und eindeutig - mit der Eigenheim- und der Bausparzulage bereits jetzt ausreichende Möglichkeiten dazu bestehen, das Wohneigentum zu fördern. Mit der bisherigen Reformpolitik, insbesondere mit der steuerlichen Entlastung der geringen Einkommen, der Erhöhung des Etats für Bildung und Forschung um 25 Prozent seit 1998, der Gewährung zusätzlicher Kredite an die Gemeinden, sodass sie investieren können und somit Nachfrage schaffen können, und der Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010, werden wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Wandel in Deutschland so gestaltet werden kann, dass zusätzliche Beschäftigung entsteht und dass der Fortschritt sowie die Renten - mit den entsprechenden Nachjustierungen gesichert werden. Die zukünftige Entwicklung ist nicht ohne Risiken, aber auch nicht ohne Chancen. Bezüglich der Höhe des Rentenversicherungsbeitrages in diesem Jahr werden Planungen durchgeführt und Prognosen erstellt. Es gilt jetzt, das offensiv zu nutzen und nicht schwarz zu malen, sondern den notwendigen Reformprozess gemeinsam mutig zu gestalten. ({15}) Herr Kollege Storm, wir sind sehr gespannt, wie sich die Opposition verhalten wird, wenn diesem Haus einerseits unsere Entscheidung bezüglich der Gestaltung des Nachhaltigkeitsfaktors und andererseits die Bewertung des im Herbst tagenden Schätzerkreises - er wird die Prognosen für das nächste Jahr abgeben und womöglich einen Bedarf für Nachjustierungen sehen - vorliegen. ({16}) Ich kann nur herzlichst darum bitten, sich diesem Reformprozess anzuschließen und sich nicht aus parteipolitischen Gründen zu verweigern. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Satz des heute hier zu beratenden FDP-Entschließungsantrags vom 15. Januar dieses Jahres war nie aktueller als in diesen Tagen. ({0}) Dort heißt es nämlich zutreffend: „Die Rentenpolitik der Bundesregierung ist ein einziges Desaster.“ ({1}) Sie haben mit Ihrer Rentenpolitik seit Ihrem Regierungsantritt fünf wertvolle Jahre vertrödelt. Es ist heute vollkommen klar - ich kann nur hoffen, dass Sie das mittlerweile auch so sehen -, dass es unverantwortlich war, den demographischen Faktor ersatzlos zu streichen. Wir haben Sie damals nachdrücklich gewarnt. ({2}) Es war unverantwortlich, mit der Ökosteuer, die heute 17 Milliarden Euro ausmacht, frisches Geld in ein nicht zukunftsfähiges System zu leiten, ({3}) anstatt mit wirksamen Strukturreformen die Voraussetzungen für eine breite und dauerhafte Beitragssenkung zu schaffen. ({4}) Frau Kollegin Bender, die Bürger stellen jetzt fest, dass das Fass keinen Boden hat. Die Bürger zahlen die Ökosteuer und die Beiträge steigen dennoch munter weiter. Das ist die Wahrheit! ({5}) Herr Staatssekretär Thönnes, im Rahmen der Rentenreform haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, dass der Beitragssatz im Jahre 2004 bei 18,7 Prozent liegen wird. Sie rühmen sich damit, dass er heute bei gerade einmal 19,5 Prozent liegt. Dabei unterschlagen Sie aber, dass die Ökosteuer umgerechnet rund zwei Beitragssatzpunkte ausmacht. Das ist die Wahrheit, Herr Staatssekretär Thönnes! ({6}) Sie unterschlagen ebenfalls, dass bereits heute feststeht - der Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger geht mittlerweile zwingend davon aus -, dass der Beitragssatz bis Ende dieses Jahres auf mindestens 19,8 Prozent steigen wird. ({7}) Diese Schätzung wurde noch vor dem Hintergrund der Wachstumsprognose der Bundesregierung, die von 0,75 Prozent ausging, abgegeben. Das ist aber vollkommen unrealistisch. Das ist doch die Wahrheit! ({8}) Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, ist die von Rot-Grün in zwei Stufen abgesenkte Schwankungsreserve im Monat April erstmals unter den Referenzwert von 0,5 einer Monatsausgabe gefallen. ({9}) In der Konsequenz heißt das, Frau Kollegin Bender - ich darf Sie namentlich ansprechen; ({10}) wenn Sie ehrlich sind, geben Sie das zu -: Wir müssen schon heute davon ausgehen, dass der Beitragssatz im Jahre 2004 über 20 Prozent liegen wird. Das heißt, Arbeitsplätze werden weiter vernichtet und die Spiralbewegung verläuft weiter nach unten. Wir haben das schon im Januar in unserem Entschließungsantrag vorausgesagt. Sie haben das als Panikmache bezeichnet und es geleugnet. Aber es ist leider genau so gekommen, wie wir es prognostiziert haben. ({11}) Deswegen, Herr Staatssekretär Thönnes, haben Sie heute in diesem Haus, sozusagen als Prokurist stellvertretend für Ihre Ministerin, den Offenbarungseid einer verfehlten Rentenpolitik ablegen müssen. Trotz Einführung der Ökosteuer, trotz Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und trotz zweimaliger Absenkung der Rentenreserve kann der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht einmal stabilisiert, geschweige denn gesenkt werden. Jetzt machen die Verursacher dieses Chaos hektisch Vorschläge, wie man mit diesem Fiasko umgehen soll. So schlägt die Fraktionsvorsitzende der Grünen GöringEckardt eine pauschale Rentenkürzung bei höheren Renteneinkommen vor. Der Bundesfinanzminister deutet an, man könne ja den Krankenversicherungsbeitrag der Rentenversicherung abschmelzen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ist alles Flickwerk. Das ist auch angesichts der demographischen Herausforderung, die unaufhaltsam auf uns zukommt, keine langfristige Strategie zur Behebung der finanziellen Misere der Rentenversicherung. ({12}) Darüber hinaus will der Bundesfinanzminister zusätzlich an der Riester-Förderung sparen. Das ist jetzt wirklich die absurdeste Forderung, die man überhaupt erheben kann. Sie haben mit der Rentenreform 2001 das Rentenniveau deutlich abgesenkt. Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass die Riester-Reform in Wirklichkeit eine verkappte Rentenkürzung war. ({13}) Sie haben diese Maßnahme damals mit der grundsätzlich richtigen, leider aber völlig überregulierten Förderung der privaten kapitalgedeckten Alterssicherung verbunden. Nach dem blamablen Start der Riester-Rente, die bis heute gerade einmal 3 Millionen Bürger - diese Zahl stammt aus einer Umfrage des Gesamtverbandes der Versicherungswirtschaft - abgeschlossen haben, wollen Sie ausgerechnet an dem einzigen innovativen Instrument der Riester-Reform sparen. Sie provozieren damit absehbar Altersarmut bei der jetzigen Generation der 30- bis 50-Jährigen, die schon jetzt die historisch höchsten Beitragssätze zahlen. Das nennen Sie von Rot-Grün „kohärente und nachhaltige Politik“. Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär: Das ist in der Tat ein Scherbenhaufen, vor dem Sie hier stehen. ({14}) Die schlimmsten Populisten in diesem Zusammenhang sind aber die Grünen. Wenn führende Politiker der Grünen, wie Frau Katrin Göring-Eckardt oder auch der Kollege Markus Kurth, der im Plenum gerade anwesend ist, immer wieder die Einbeziehung von Beamten und Freiberuflern in die gesetzliche Rentenversicherung fordern, dann ist dies das Schüren einer Neiddiskussion und blanker Populismus. ({15}) Jeder Rentenexperte in der Bundesrepublik Deutschland, ob er nun Rürup oder Raffelhüschen heißt, verweist darauf, dass eine Einbeziehung von Freiberuflern und Beamten in die Rentenversicherung keine Lösung der demographischen Herausforderung darstellt, sondern die Finanzierungskrise der gesetzlichen Rentenversicherung noch verschärft. ({16}) Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen, Frau Bender. Mein Großvater hat mir die Geschichte von dem Bauern erzählt, der Eier für 20 Pfennig pro Stück produziert und sie für 15 Pfennig verkauft. ({17}) Darauf angesprochen, dann mache er doch einen Verlust von 5 Pfennig pro Ei, antwortete der Bauer: Die Masse macht’s. ({18}) Genau das ist der Punkt. Auch Beamte erwerben Ansprüche, ebenso werden Freiberufler älter. Kurzfristig höheren Einnahmen stehen langfristig höhere Defizite gegenüber. Verabschieden Sie sich endlich von dieser Schnapsidee. ({19}) Alles in allem: Wir müssen uns in diesem Haus - dazu fordere ich Sie nachdrücklich auf - endlich den Realitäten stellen; denn ab 2010 wird der Reformdruck aufgrund des demographischen Wandels dramatisch zunehmen. Angesichts dieser Herausforderung brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik. Wir haben auf dem Parteitag in Bremen einen solchen Paradigmenwechsel beschlossen. Wir werden ihn in Antragsform in Kürze in dieses Haus einbringen. Ich kann Sie nur auffordern, uns auf diesem Weg zu begleiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kolb, manchmal frage ich mich, ob die Gesetze der Logik eigentlich auch in diesem Hause ({0}) bzw. auch für Ihre Fraktion gelten. Sie erklären hier vom Rednerpult, es sei entsetzlich, dass mit den Einnahmen aus der Ökosteuer die Rentenversicherung mitfinanziert wird. Gleichzeitig legen Sie selber dar, dass der Beitrag zur Rentenversicherung um nahezu zwei Prozentpunkte höher wäre, wenn wir die Ökosteuer nicht hätten. Anschließend beklagen Sie, dass der Rentenversicherungsbeitrag so hoch liegt, wie er ist. ({1}) Wie das zusammengeht, das müssen Sie mir einmal erklären. Aber da werden Sie wie in den Schulen ein PISA-Problem bekommen. Das nimmt Ihnen einfach niemand ab. ({2}) Nun komme ich zu Ihrem Eierbeispiel. ({3}) Ich gebe zu, es ist unterhaltsam. Die grüne Idee der Bürgerversicherung bedeutet in der Tat, alle Menschen, auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige, in die Rentenversicherung einzubeziehen. ({4}) Dies ist - lassen Sie mich das deutlich sagen, Herr Kollege - kein Beitrag zur Lösung des demographischen Problems und kein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Es ist ein Beitrag zur horizontalen Gerechtigkeit, ({5}) weil alle dann in dem Sicherungssystem sind und alle dazu beitragen. ({6}) Es wäre auch glaubwürdiger, Herr Kollege, wenn wir Abgeordnete Maßnahmen zur Rentenversicherung diskutieren würden, die uns selber betreffen. Das wäre dazu geeignet, in der Bevölkerung in besonderem Maße Akzeptanz zu erreichen, während man so immer weiß, dass wir über anderer Leute Geld reden. ({7}) Herr Kollege Storm, Sie beschweren sich auch über die Höhe der Beiträge. Manchmal nützt ein Blick ins Archiv. Ich habe mir den Spaß erlaubt. Es gab eine Zeit vor der letzten Wahl, in der Rot-Grün die Mehrheit errungen hat. ({8}) Da hat sich Kollege Seehofer, der heute vielleicht nicht ganz zufällig nicht anwesend ist, hingestellt und den Rentnern versprochen, es gebe einen Nachschlag, wenn die CDU/CSU die Wahl gewinne. „Wir zahlen euch höhere Renten“, hat er damals gesagt. Der Wirtschaftsweise Rürup hat ihm vorgerechnet, dass das 2,5 Milliarden Euro gekostet hätte. Ich frage Sie: Wer hätte denn das bezahlt? - Doch die heutigen Beitragszahler. Sie aber vergießen Krokodilstränen über die Höhe der Beiträge. Sie sollten sich selber an die Nase fassen. ({9}) Die CDU/CSU ist bisher jedenfalls nicht als Vertreterin des Prinzips der Generationengerechtigkeit aufgefallen um das einmal deutlich zu sagen. ({10}) Es war hingegen die rot-grüne Regierung, die durch die letzte Rentenreform die Weichen für eine nachhaltige Finanzierung und für die Gerechtigkeit zwischen den Generationen gestellt hat. Ich darf darauf hinweisen, dass es Teil dieser Reform ist, dass auch die Rentner und Rentnerinnen ihren Anteil zu der Stabilisierung der Beiträge leisten. Ich will für die Grünen deutlich sagen: Wir halten an diesem Grundsatz fest. Das heißt auch - auch dieses gilt es, ehrlich zu sagen -, dass weitere Maßnahmen notwendig sind. Alle Experten sind davon ausgegangen, dass es gelingen würde, durch die damals getroffenen Maßnahmen zur Rentenreform bis 2020 einen Beitragssatz von 20 Prozent und bis 2030 einen Beitragssatz von 22 Prozent zu halten. Nach den aktuellen Schätzungen müssen wir davon ausgehen, dass dieses nicht der Fall sein wird. Deswegen besteht Handlungsbedarf. Ich sage Ihnen im Namen der Grünen: Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Beitragssatz von 19,5 Prozent im nächsten Jahr nicht steigen wird. ({11}) Eine solche Steigerung zulasten der jüngeren Generation werden wir nicht hinnehmen. ({12}) Das heißt auch - Politik soll ja immer ehrlich sein -, dass es im nächsten Jahr nicht möglich sein wird - ich sage das sehr deutlich -, die Renten zu erhöhen. Wir werden die Rentenerhöhung um ein Jahr aussetzen müssen. Wenn wir erklären, dass dieses im Interesse der Kinder und Enkel derjenigen geschieht, die es betrifft, weil wir höhere Beiträge vermeiden wollen, dann werden wir auch auf Verständnis stoßen. Davon bin ich überzeugt. Ich will aber auch gerade an die Adresse der Opposition deutlich sagen: Es handelt sich dabei nicht um eine Rentenkürzung, sondern wir reden über eine Aussetzung der Rentenerhöhung. ({13}) - Um Ihren längeren Passagen, Herr Kollege Storm, über Kürzungen im Allgemeinen und im Besonderen gerecht zu werden, ({14}) sage ich auch: Der Finanzminister hat nicht immer Recht. ({15}) Bevor ich zu der Frage komme, wie eine neue Rentenreform aussehen muss, will ich zu zwei Dingen Stellung nehmen, die gern von der CDU/CSU behauptet werden. Das eine ist der Mythos, dass alles geregelt wäre, wenn man den demographischen Faktor beibehalten hätte. Herr Kollege Storm, dem ist nicht so. ({16}) Mit Ihrem demographischen Faktor wären die Renten bis 2010 stärker gestiegen, als es mit der bereits beschlossenen Rentenreform der Bundesregierung der Fall ist. Das sollten Sie vielleicht auch deutlich machen. In Ihrem Antrag findet sich der Vorschlag, die Rentenzugangsberechtigung von der Lebensarbeitszeit der Versicherten abhängig zu machen. Haben Sie sich das auch gut überlegt? Schließlich richtet sich die Höhe der Rente bereits jetzt nach der Dauer und Höhe der Einzahlungen. Wenn Sie den Renteneintritt zusätzlich von der Lebensarbeitszeit abhängig machen wollen, dann bedeutet das, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in Rente gehen können, obwohl sie im Laufe ihres Lebens Einzahlungen in gleicher Höhe und über die gleiche Zeitdauer hinweg geleistet haben, weil sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten damit begonnen haben. Mithin bekommen Menschen, die in jüngeren Jahren angefangen haben, insgesamt eine wesentlich höhere Rente. Damit schaffen Sie eine Zweiklassengesellschaft unter den Rentnern. Was daran fair sein soll, müssen Sie mir noch erklären. Ich füge hinzu: Mit einem solchen Mechanismus würden Sie besonders Frauen benachteiligen. Es ist doch interessant, dass die CDU/CSU auf diese Weise ausgerechnet die Rente von Frauen absenken will. Das werden wir uns merken. ({17}) Jetzt komme ich zu dem, was wir über kurzfristige Maßnahmen hinaus zur Stabilisierung des Beitragssatzes im nächsten Jahr unternehmen müssen. Die Rürup-Kommission hat in diesem Zusammenhang gute Vorschläge vorgelegt. Sie schlägt zum einen die Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors vor, mit dem bei der Entwicklung der Renten die Zahl der Jüngeren im Verhältnis zur Zahl der Älteren berücksichtigt würde. Das halten wir für richtig. Ein weiterer Vorschlag, der zunächst bei vielen Skepsis hervorruft, lohnt es aber, ihn näher zu betrachten, nämlich ab dem Jahr 2011 das Renteneintrittsalter zu erhöhen, sodass es jährlich um einen Monat bis auf 67 Jahre steigt. ({18}) Gegen dieses hohe Renteneintrittsalter wenden viele ein, dass ältere Menschen zurzeit keine Arbeit finden. Das ist zwar richtig, aber es geht bei dem Vorhaben um das Jahr 2011, ({19}) einen Zeitpunkt, zu dem die Wirtschaft wahrscheinlich händeringend Arbeitskräfte suchen wird. Es geht um einen Übergangszeitraum von 24 Jahren. Für jemanden beispielsweise in meinem Alter - ich bin Jahrgang 1956 würde das bedeuten, elf Monate länger zu arbeiten als nach heutigem Recht. ({20}) Wenn Sie berücksichtigen, dass nach allem, was wir wissen, heutzutage Menschen mit 70 so gesund sind wie in den 60er-Jahren Menschen mit 65, dann teilen Sie sicherlich meine Auffassung, dass es sich um eine richtige Maßnahme zur Finanzierung der Rentenversicherung handelt, ({21}) die auch der Tatsache Rechnung trägt, dass wir alle älter werden und dabei gesünder bleiben und dass deshalb die Aktivität im Erwerbsalter von uns allen angestrebt werden sollte. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Bender, kommen Sie bitte zum Schluss!

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann fasse ich mich kurz. Selbstverständlich muss auch die kapitalgedeckte Vorsorge weiterhin eine Rolle spielen. Sie muss weiter ausgebaut werden. Die Grünen haben die Einrichtung eines Altersvorsorgekontos vorgeschlagen, wodurch unterschiedliche Anlageformen steuerlich gefördert würden. Das würde den Menschen eine größere Wahlfreiheit ermöglichen und wäre von daher sicherlich ein guter Beitrag für die Sicherung des gesamten Lebensstandards im Alter.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Bender, das war jetzt der Schluss Ihrer Rede. Vielen Dank.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Storm, spielen Sie nicht den Rächer der - angeblich - „enterbten“ Rentner, sondern erklären Sie sich zu einer Rentenreform bereit, die auch das Prinzip der Generationengerechtigkeit berücksichtigt! Dann finden wir zueinander. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Hildegard Müller von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hildegard Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003598, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben“ lautete der Titel des Entschließungsantrags der CDU/CSU, den wir eigentlich jetzt beraten sollten. „Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen“ war auch die Überschrift einer Kleinen Anfrage meiner Fraktion vom April, die ich mir in Vorbereitung auf diese Debatte noch einmal durchgelesen habe. Wenn ich die Antwort der Bundesregierung auf unsere damalige Anfrage nehme und um das ergänze, was heute gesagt worden ist, Herr Thönnes, dann muss ich feststellen: Sie haben leider überhaupt keine konkreten Vorschläge zur Klarheit der Rentenfinanzierung gemacht. Frau Bender, auch von Ihnen sind scheinbar mehr Absichtserklärungen gekommen als tatsächliche Koalitionsbeschlüsse; jedenfalls ist mir insbesondere das, was Sie zur Heraufsetzung des Renteneintrittsalters gesagt haben, nicht bekannt gewesen. So kann ich also nur feststellen, dass bei der Regierung und bei Rot-Grün keine Klarheit darüber herrscht, was man bei der Rentenfinanzierung vorhat. ({0}) Wer die Schlagzeilen dieser Woche einmal betrachtet, der muss unweigerlich an den Refrain eines Spottliedes aus dem Jahre 1928 denken. Dieser lautet: „Wir schlagen Schaum - Wir seifen ein.“ ({1}) Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die vor zwei Wochen den 140. Geburtstag ihrer Partei feiern konnten, wird dieses „Seifenlied“ von Ernst Busch vielleicht noch etwas sagen; denn dieses Lied war die Reaktion der Bevölkerung auf den SPD-Wahlkampf zur Reichstagswahl von 1928. Es war schon damals der passende Kommentar zu gebrochenen Wahlversprechen. Dieser Kommentar passt auch zur aktuellen Politik. ({2}) Was haben wir uns im Wahlkampf nicht alles anhören müssen! Wider besseres Wissen wurden Zahlen vertuscht und schöngefärbt. Wenn man sich die aktuelle Lage anschaut, dann stellt man fest, dass sie sehr dramatisch ist. Diesen Eindruck haben nicht nur die Unionsfraktion und ich, sondern diesen Eindruck hat auch die Bevölkerung in unserem Land. Übrigens, Frau Bender, drei Rentenanpassungen auszusetzen ist noch keine Reform. ({3}) Ich gebe Herrn Bundesfinanzminister Eichel - ich freue mich, dass ich das ausnahmsweise einmal tun kann Recht, wenn er sagt, dass dies in Wahrheit Rentenkürzungen und nichts anderes seien. ({4}) Die Schlagzeilen dieser Woche lauten: „Absurdes Renten-Theater“, „Gefährliches Zündeln an der Rente“, „Renten im Steuerloch“ und „Renten nach Kassenlage“. Aus diesen Schlagzeilen kann meiner Ansicht nach nur eines abgeleitet werden: Die Rente und die Höhe des Beitragssatzes in der Rentenversicherung sind bestimmt nicht sicher. Außerdem sollten Sie, Frau Bender, die Ökosteuer in Ihrer Argumentation zur Kassenlage der Rentenversicherung immer berücksichtigen. ({5}) Sicher sind aber auch nicht mehr die Aussagen der Koalitionäre zur eigenen Rentenpolitik. Diesen Eindruck muss man einfach gewinnen, wenn man die inflationäre Flut der Schreckensnachrichten aus dem Regierungslager verfolgt. Einmal soll das Rentenalter heraufgesetzt werden. Ein anderes Mal soll die Riester-Förderung beschnitten werden. Ein weiteres Mal stehen die Kindererziehungszeiten zur Disposition. Dann ist in einem Papier, das intern schon vorliegen soll, angeblich von dem Ende der Schwankungsreserve die Rede. Ich finde, das ist eine der unverantwortlichsten Ideen, die ich in diesem Zusammenhang jemals gehört habe. ({6}) Dann soll wieder einmal die Anpassung der Altersbezüge ausgesetzt werden. Frau Lotz, Sie werden mir bestimmt sagen können - Sie werden ja nach mir reden -, ob die Koalition das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters beschlossen hat. Ich jedenfalls habe aufseiten der Sozialdemokraten Fassungslosigkeit angesichts der Aussagen von Frau Bender wahrgenommen. Ich hoffe, dass Sie das gleich aufklären werden. Schließlich erwacht auch der demographische Faktor von Norbert Blüm kaum verkleidet wieder zu neuem Leben. Für diesen Faktor hat die SPD uns nicht nur 1998 als „unanständig“ beschimpft. Noch am 17. August 2002 erklärte der Bundeskanzler bei der Betriebsrätekonferenz der IG BAU in Dortmund: Wir haben den Unsinn des demographischen Faktors gestoppt und eine faire und zukunftsweisende Reform durchgesetzt. ({7}) Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demographischen Faktors angekündigt. Das war vor vier Jahren unanständig und das ist heute genauso unanständig. ({8}) Im Parteitagsbeschluss der SPD vom vergangenen Sonntag kann man nun lesen: Ein Nachhaltigkeitsfaktor - oh Wunder! ist ein geeignetes Instrument, um der sich verändernden Relation zwischen Beitragszahlern und Rentenbeziehern Rechnung zu tragen. Und das ist in der Rentenanpassungsformel zu berücksichtigen. Das ist doch nichts anderes als ein demographischer Faktor. Ich möchte Sie fragen: Ist das unanständig oder nicht? Hören Sie mit Ihrer Polemik gegen die CDU/CSU auf; denn der demographische Faktor war ein richtiger Schritt. Sie haben mit Ihrer falschen Rentenpolitik fünf Jahre vertändelt. ({9}) Ich freue mich ja, das aus Regierungsmund zu hören, und auch darüber, dass endlich ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit geleistet werden soll. Dass dies aber nur ein erster Schritt ist, wissen wir alle; denn wir haben wertvolle Zeit dadurch verloren, dass Sie diesen Faktor, der eine wirklich systematische Verteilung der Lasten aus der demographischen Entwicklung auf alle Generationen hätte sicherstellen können, 1998 abgeschafft haben. Wie und wann und wieso überhaupt der Demographiefaktor à la Schröder genau kommen wird, ist trotz Parteitagsbeschluss unklar. Herr Vater, der Sprecher von Frau Schmidt, hat am Montag vor der Regierungspressekonferenz das Jahr 2005 angesprochen. Vor dem Parteitag haben wir immer gehört, 2011 sei das Jahr; vorher könne der Faktor eh nicht wirksam werden. Ich appelliere deshalb noch einmal an Sie: Schaffen Sie Klarheit - heute haben Sie bisher wieder nichts zur Klarheit beigetragen -, damit die Menschen endlich wissen, wie ihre Altersversorgung aussehen wird. ({10}) Auch in der zweiten Säule der Altersvorsorge haben wir weiterhin Stillstand. Angesichts des Durcheinanders bei Rot-Grün braucht man sich darüber nicht zu wundern. Die Leute sind verunsichert. ({11}) Das zeigt sich an den Zahlen. Bis Ende 2002 wurden gerade einmal 3,4 Millionen Verträge über eine RiesterRente abgeschlossen. Bei 30 Millionen förderfähigen Bürgern entspricht das 11,3 Prozent. Nach Umfragen wollen 70 Prozent der Bundesbürger überhaupt keinen Vertrag über eine Riester-Rente abschließen. Diese fatale Analyse hat die Bertelsmann-Stiftung in der letzten Woche noch einmal ausdrücklich bestätigt. Die Bereitschaft der Bundesbürger, für das Alter privat vorzusorgen, ist nach ihren Analysen in den vergangenen Monaten spürbar gesunken. ({12}) Das ist eine Reaktion auf die Unsicherheit und das Durcheinander, das wir von der Regierungsseite erleben. ({13}) Die Bertelsmann-Stiftung und Mitglieder der RürupKommission, die Sie ja immer nur zitieren, wenn es Ihnen passt, haben dringend eine Reform der Rente auch in diesem Bereich angemahnt, weil das sonst zur lahmen Ente werden würde. Wenn wir angesichts der Zahlen nicht endlich zu Veränderungen kommen, wird nur ein Drittel der Zahl von Menschen, die ursprünglich angenommen worden war, einen solchen Vorsorgevertrag abschließen. Deshalb rate ich noch einmal dazu, auf die Gründe zu schauen - die Bertelsmann-Stiftung hat das bestätigt -: zu viel Bürokratie, schlechte Information und fehlende Transparenz. Herr Thönnes, reden Sie nicht immer nur darüber, was man ändern muss! Schaffen Sie Fakten! Bringen Sie hier endlich Anträge ein, die wirklich zur Verbesserung der Lage führen! ({14}) Es reicht nicht aus, dass es in der Koalitionsvereinbarung heißt: Wir werden … die Aufwendungen für die Altersvorsorge schrittweise von der Besteuerung befreien. Wenn Sie das nicht gleichzeitig auch in der privaten Säule tun, ist das kontraproduktiv und wird verhindern, dass mehr Verträge abgeschlossen werden. Bei der sich parallel dazu entwickelnden betrieblichen Altersvorsorge zeigt sich, dass sie durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze deutlich geschwächt worden ist. Sie können uns nach wie vor keine Angaben darüber machen. Alle Experten haben in den Anhörungen angeregt, hier zu Veränderungen zu kommen. Sagen Sie uns, wie es auch in der betrieblichen Altersvorsorge durch Ihre Rentenreform zu einer Verschlechterung gekommen ist! Schaffen Sie Klarheit! Sehen Sie Ihre Fehler ein! Tragen Sie endlich zu einer Rentenreform im Sinne aller Generationen in diesem Land bei! Vertuschen Sie nicht weiter die Zahlen! ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz von der FDPFraktion.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Beim Studieren des CDU/CSU-Antrags habe ich mir natürlich die Frage gestellt: Um was geht es Ihnen? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Ihnen nicht so sehr um die Sache, also um die Rente, und auch nicht um Klarheit über die Rentenfinanzen, sondern darum geht, Rentner und Rentnerinnen, aber auch die Beitragszahler zu verunsichern. ({0}) Verbreitung von Zukunftsängsten führt nicht zu einer Lösung. Das ist nicht redlich. Redlich ist auch nicht, so zu tun, als wäre die Bundesrepublik eine Insel, auf welche weltweite konjunkturelle Probleme keinen Einfluss hätten. Wir haben ein Wachstumsproblem - ebenso wie die USA, Japan und andere Staaten Europas. Das mindert unsere Chancen. Frau Kollegin Müller, Sie haben vorhin die Worte „sichere Renten“ in den Mund genommen. Deshalb will ich an Folgendes erinnern: Es war der ehemalige Arbeitsminister Blüm, der immer von den sicheren Renten gesprochen hat. ({1}) Aber Sie haben Veränderungen durchführen müssen - so wie auch wir. Ich will Ihnen auch nicht ersparen, noch einmal an Folgendes erinnert zu werden: 1998 betrug der Rentenversicherungsbeitrag 20,3 Prozent. Ein Beitragssatz von 19,5 Prozent ist nach Adam Riese wohl niedriger. ({2}) Seit 30 Jahren werden in Deutschland weniger Kinder geboren. Die Lebenserwartung nimmt kontinuierlich zu. Der demographische Wandel - das wissen Sie selbst findet nicht nur in Deutschland statt. Sie entnehmen den Medien, dass die Diskussionen über Veränderungen bei der Rente dementsprechend geführt werden. Was will ich damit sagen? Egal wie ein Rentensystem aufgebaut ist: Demographische Veränderungen erfordern ein Nachsteuern im System. Das haben wir schon 2001 gemacht: Mit der Einführung der kapitalgedeckten, staatlich geförderten, zusätzlichen privaten Alterssicherung haben wir dafür gesorgt, dass die Menschen eine zweite Säule in der Alterssicherung aufbauen, die der Sicherung des Lebensstandards dient. Nun hören Sie doch endlich auf, die Riester-Rente zu kritisieren, ({3}) nur weil sie nicht von Ihnen stammt! Über 30 Millionen Arbeitnehmer haben Anspruch auf die staatliche Förderung; sie ist aber nicht nur staatlich, sondern auch stattlich. ({4}) Eine Familie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Bruttogehalt erhält für eine jährliche Gesamtversorgung in Höhe von 1 200 Euro 678 Euro Förderung; ({5}) das sind mehr als 50 Prozent; das ist familien- und arbeitnehmerfreundlich. Dadurch wurde die betriebliche Altersvorsorge wieder attraktiv. Experten schätzen, dass zwischen zwei Drittel und Dreiviertel der Beschäftigten eine Betriebsrente aufbauen werden. Die Versicherungsgesellschaften melden, dass bis heute 3,7 Millionen andere Verträge zur Altersvorsorge - Herr Kolb, nicht, wie Sie vorhin sagten, 3 Millionen - abgeschlossen worden sind. Ich meine, wir sind in diesem Bereich auf einem guten Weg. Die Menschen müssen umdenken - das heißt, sie müssen frühzeitig an das Alter denken -; das ist ein Prozess, der etwas Zeit braucht. Wir werden auch die Möglichkeit von Vereinfachungen prüfen und sicherstellen, dass die entsprechenden Produkte in Zukunft bei gleichen Beiträgen gleiche monatliche Leistungen für Männer und Frauen vorsehen. Das ist unser Ziel. Man erreicht das Ziel, Arbeitnehmer zu motivieren, eine zusätzliche Altersvorsorge abzuschließen, nicht dadurch, dass man diese madig macht, so wie Sie es tun. Was dieses Ziel angeht, erweisen Sie einen Bärendienst. Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen. Ich gehöre zu den Menschen, die ihre Ausbildung mit 14 Jahren begonnen haben. Wir alle wissen, dass dies schon lange nicht mehr die Regel ist. Der Einstieg ins Erwerbsleben beginnt später. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass ein früherer Ausstieg auch wegen der demographischen Veränderung nicht möglich ist. Wir müssen die Frühverrentung deshalb stoppen. ({6}) Der Rentenbeginn und die Regelaltersgrenze von 65 Jahren müssen sich annähern. Ich denke, solange wir noch eine so hohe Arbeitslosigkeit haben wie derzeit, ist es müßig, über eine Anhebung der Altersgrenze zu diskutieren. Das versteht niemand. Wir haben mit den Hartz-Gesetzen erste Schritte getan, um es den Arbeitgebern zu erleichtern, ältere Arbeitslose einzustellen. Arbeitslose ab 52 können ohne Grund befristet eingestellt werden. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entfallen für den Arbeitgeber bei Einstellung von Arbeitslosen über 55. Ich appelliere an die Arbeitgeber, auch älteren Arbeitnehmern Qualifizierungsangebote zu machen. Wir können nicht mehr zulassen, dass sich Unternehmer mit relativ geringem Eigenaufwand von Arbeitnehmern über 55 Jahren auf Kosten der Sozialkassen trennen. So werden wir keine Beiträge senken können. Wir können auch den nachfolgenden Generationen nicht die damit verbundenen Belastungen aufbürden. Das deutsche Rentensystem hat schon gewaltige Belastungen getragen; die größte Leistung war die Finanzierung der deutschen Einheit. Rentnerinnen und Rentner der neuen Länder sind Teil dieses Systems. Kein anderes, kein kapitalgedecktes System hätte dies leisten können. ({7}) Ich sage aber auch: Es war falsch, die deutsche Einheit allein über die Sozialversicherungssysteme zu finanzieren. ({8}) Das muss man bei aller Kritik - egal ob an der Ökosteuer oder eben am erhöhten Bundeszuschuss - bedenken. Das muss man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen. Wer die Ökosteuer kritisiert, verschweigt, dass damit letztendlich gesamtgesellschaftliche Aufgaben finanziert werden. Der Generationenvertrag funktioniert, aber ein Nachsteuern war schon in der Vergangenheit notwendig und wird in der Zukunft nicht auszuschließen sein; die Gerechtigkeit zwischen, aber auch innerhalb der Generationen erfordert dies. Ich denke, was für die Rentenversicherung gilt, muss auch für andere Versorgungssysteme wirkungsgleich gelten. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sind eingeladen, konstruktiv daran mitzuarbeiten. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Uns von der PDS im Bundestag wird zu viel über die Rentner im Allgemeinen gesprochen, aber Rentner ist nun einmal nicht gleich Rentner. Auch bei den Renten gibt es oben und unten, Ost und West, Männer und Frauen. Zum Beispiel leben in der Bundesrepublik circa 2,5 Millionen Frauen mit einer Rente unter 300 Euro pro Monat. In den neuen Ländern wird fast jede dritte neue Rente wegen Altersarbeitslosigkeit gezahlt. Durch die progressive Erhöhung der Altersgrenzen führt das zu Abschlägen von bis zu 18 Prozent. Da bin ich schon bei einer wichtigen Forderung der PDS: Wir brauchen einen Zeitplan zur Angleichung der Ostrenten an die Westrenten. ({0}) Wir wollen die viel beschworene deutsche Einheit auch bei den Renten. Ich darf Ihnen sagen, dass der aktuelle Rentenwert Ost nur bei knapp 88 Prozent des Westrentenwertes liegt. Die SPD erklärt nun in Briefen an Rentnerinnen und Rentner, sie wolle einen solchen Zeitplan zur Angleichung der Rentenwerte von Ost und West nicht, und verweist dabei auf die unterschiedlichen Einkommensverhältnisse. Da habe ich einen Vorschlag an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Legen Sie doch einfach einen Zeitplan für die Angleichung der Löhne und Gehälter in Ost und West vor, dann haben wir auch gleich einen Zeitplan für die Angleichung der Rentenwerte in Ost und West. ({1}) Frau Göring-Eckardt von den Grünen, hier in der Debatte schon mehrmals angesprochen, spricht viel über Generationengerechtigkeit. Jüngst dachte sie in diesem Zusammenhang über die Absenkung des Rentenniveaus nach. Das Problem ist nur, dass mit dem Begriff Generationengerechtigkeit unentwegt soziale Unterschiede verwischt werden sollen und er von vielen als Kampfbegriff missbraucht wird, der die Generationen gegeneinander aufwiegelt und die Entsolidarisierung in der Gesellschaft befördert. Es gibt nun einmal eine Erbengeneration, darunter übrigens viele grüne Wählerinnen und Wähler, die bei der geltenden Erbschaftsteuer bequem ihren Job als angenehmen Zeitvertreib verstehen können, weil sie materiell durch ihr Erbe abgesichert sind. In der gleichen Generation gibt es aber auch Menschen, die gar nichts erben werden, die nicht einmal genug Geld haben, um etwas für das Alter zu sparen. Wer heute einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe stellt, muss damit rechnen, dass sein Vermögen und Leistungen, die eigentlich der Altersvorsorge dienen sollten, auf die Arbeitslosenhilfe angerechnet werden. Diese Arbeitslosen wollen eigenverantwortlich für das Alter vorsorgen, wie es von der Regierung verlangt wird, gleichzeitig nimmt diese ihnen ihr Vermögen aber wieder ab. Im „Stern“ dieser Woche sind dazu einige interessante Fallbeispiele aufgeführt. Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich noch einmal auf den Osten zu sprechen kommen. Gern wird ja angeführt, wie hoch das Rentenniveau im Osten im Vergleich zu dem im Westen sei. Laut Statistik verfügen Rentnerehepaare in den alten Bundesländern über ein durchschnittliches Nettoeinkommen, das nur ungefähr 200 Euro über dem von Rentnerehepaaren in den ostdeutschen Ländern liegt. ({2}) Das klingt schon ganz gut, aber häufig wird vergessen, dass das nur die halbe Wahrheit ist; denn der Anteil der Rente am Nettogesamteinkommen im Westen beträgt bei kleineren Renten nicht einmal 50 Prozent. Mehr als die Hälfte machen Pensionen, Mieteinkünfte, Privatrenten und andere Einkommensarten aus. In den neuen Ländern wird das Nettoeinkommen der Rentnerinnen und Rentner dagegen fast ausschließlich durch die gesetzliche Rente bestritten. Meine Damen und Herren, wenn wir über die Weiterentwicklung des Rentensystems sprechen, müssen wir von folgenden Voraussetzungen ausgehen: Es muss sozial und solidarisch zugehen. Wir von der PDS sagen: Es muss Rente von allen für alle geben. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte einige Aspekte der Debatte aufnehmen. Herr Staatssekretär Thönnes, Sie sagten in einer Haltung zwischen Autosuggestion und Beschwörung: Nein, unser Rentensystem ist kein Scherbenhaufen. Kann man denn nicht von einem Scherbenhaufen sprechen, wenn sich die Jahrhundertreform von 2000 in allen Werten so grundfalsch entwickelt, ({0}) wie sie es momentan tut, und alle Ziele verfehlt werden? Das ist doch ein Scherbenhaufen, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({1}) Von sinkenden Beiträgen, Entlastung der Arbeitskosten und mehr Beschäftigung keine Rede; alle Ziele verfehlt. Ist es kein Scherbenhaufen, wenn in einer einzigen Woche folgende Vorschläge aus dem rot-grünen Lager kommen? Erster Vorschlag: Aussetzung der Rentenanpassung - zum dritten Mal, Herr Staatssekretär, ein willkürlicher Eingriff in die Renten und der Abschied von der beitragsabhängigen und lohnorientierten Rente; zum dritten Mal ein systemwidriger Eingriff. Ich wiederhole: ein Scherbenhaufen! Zweiter Vorschlag: Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner von 50 auf 75 Prozent. Sie sagen jetzt: Lassen Sie die Mär, das wollen wir gar nicht. - Das hat Herr Eichel aber gefordert. ({2}) Wenn der Finanzminister von Ihnen als Märchenerzähler tituliert wird, dann ist das allerdings ein Stück Konsens, den wir heute feststellen können. ({3}) Dritter Vorschlag: Rentensplitting. Frau GöringEckardt blieb es vorbehalten, zu fordern, höhere Renten zu deckeln oder Renten gar nicht zu erhöhen. Das ist doch der Abschied von der leistungsorientierten Rente, Gerald Weiß ({4}) von der Beitragsäquivalenz im Rentensystem, ein völlig systemwidriger Eingriff! ({5}) Dann gab es den Vorschlag, die Förderung der Riester-Rente abzubauen. Frau Lotz, Sie haben eben die kapitalgedeckte Zusatzversicherung, in Wahrheit eine ersetzende Versicherung, hervorgehoben und sie als zweite Säule bezeichnet. Das ist nur ein Säulchen und keine zweite Säule. Wenn nur 11 Prozent der Antragsberechtigten diese Möglichkeit nutzen können, ({6}) die Einkommensschwächeren aber nicht, weil sie das nicht bezahlen können, ({7}) weil wir eine sozial unausgewogene Förderung haben, weil wir zu hohe Bürokratiehürden und zu komplizierte Kriterien haben, dann ist der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ein zwar im Grundsätzlichen richtiger Weg, aber in der Durchführung total verfehlt. ({8}) Wir müssen - so kam es in diesen Tagen auch in der Bertelsmann-Studie zum Ausdruck - hier entbürokratisieren, müssen die Förderung verbessern. Wir dürfen die Förderung natürlich nicht kürzen, weil wir dann noch mehr Menschen den Zugang zu einer kapitalgedeckten Zusatzversorgung verbauen. Ich komme zu einem Aspekt, den Sie, Frau Bender, gebracht haben. Sie sagten, die Aussetzung der Rentenerhöhung sei keine Rentenkürzung. Wenn bei den Rentnerinnen und Rentnern eine Nullrunde erfolgt ({9}) und die Abgaben, die Steuern und die Preise weiter steigen, bedeutet das für die Rentner ein Kaufkraftminus. ({10}) Zum dritten Mal betrügen Sie die Rentner. Das ist offenbar ein bereits abgestimmtes Programm. Es bedeutet ein Kaufkraftminus in den Rentnertaschen. ({11}) Ich nehme ein weiteres Argument von Ihnen, Frau Bender, auf. Sie sagen, die volle Rente nach 45 Beitragsjahren, die wir anstreben, würde sozusagen zu einer Klassenbildung im Rentensystem führen. Ja, das streben wir an. Wir wollen, dass diejenigen, die 45 Jahre geschafft haben, oft in körperlich schwer belastenden Berufen, ({12}) von frühester Jugend bis ins Alter hinein, und die 45 Jahre lang Beiträge eingezahlt haben, auch die volle Rente erhalten. ({13}) Ja, wir sind dafür. Das ist ein Stück Leistungsgerechtigkeit und damit eine Verbesserung des Rentensystems. Frau Lotz, Sie haben davon gesprochen, wir müssten die Frühverrentung in der Tendenz stoppen, wir müssten die Ist-Verrentung näher an das gesetzlich festgelegte Renteneintrittsalter rücken; damit haben Sie Recht. Dennoch glaubte ich mich verhört zu haben: Vor ganz kurzem wollten Sie noch ein glorreiches Brückengeld einführen. ({14}) Das wäre ein Signal für eine neue Frühverrentungswelle in Deutschland gewesen! Die Union und die FDP haben im Bundesrat verhindert, dass dieser Unsinn umgesetzt wird ({15}) und dass eine neue Frühverrentungswelle über die Bundesrepublik schwappt. ({16}) Nächster Punkt. Sie machen sich jetzt zum dritten Mal daran, in die Schwankungsreserve, also in die Rücklage der Rente, einzugreifen. Diesmal haben Sie sogar den Vorsatz, der Schwankungsreserve den Garaus zu machen und sie auf null zu fahren. Wenn Sie diesen Weg gehen, dann führen Sie unser Rentensystem in die totale Abhängigkeit vom Finanzminister. ({17}) Sie werden mit dieser Maßnahme erreichen, dass Herr Eichel im Rahmen seiner fiskalischen Handlungen täglich, ja stündlich Einfluss auf die Renten nehmen kann. Wer eine solche etatistische und staatsdirigistische Rente will, der muss diesen Schritt gehen. Wir wollen aber eine von der Finanzpolitik unabhängige Rente, deren Anpassungsmechanismen nicht vom Staat beeinflusst werden. Das ist ein ganz anderer Weg als der, den Sie einschlagen. ({18}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der SPD-Fraktion das Wort.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Storm, die Debatte heute Morgen hat, wie ich fand, ganz hoffnungsvoll begonnen. Sie ist jetzt allerdings an einem Punkt angekommen, an dem ich nur sagen kann: Die Opposition wird ihrer Verantwortung weder im Bundestag noch im Bundesrat gerecht. ({0}) Was Sie heute abgeliefert haben, zeigt, dass Sie niemandem im Haus erklären können, wohin Sie überhaupt wollen. ({1}) Das Einzige, was man Ihrer Rede entnehmen konnte, ist, dass Sie den Rentnern höhere Renten, ({2}) denjenigen, die in die betriebliche Altersvorsorge oder in die Riester-Rente einzahlen, höhere Zuschläge - damit wollen Sie die Akzeptanz steigern ({3}) und den Beitragszahlern niedrigere Beiträge versprochen haben. Sagen Sie uns einmal, wo Ihre Gelddruckmaschine steht. Auch wir würden sie gerne nutzen. ({4}) Sie machen einen Fehler: Sie lesen entschieden zu viel Zeitung. ({5}) Das scheint Sie zu verwirren, weil Sie offensichtlich all das glauben, was Sie in der Zeitung lesen. Lesen bildet, da haben Sie absolut Recht. Es wäre aber an der Zeit, Sie würden einmal etwas anderes lesen und sich mit uns in der Sache, um die es wirklich geht, auseinander setzen. ({6}) Was Sie hier abliefern, ist Vergangenheitsbewältigung gepaart mit einem absoluten Mangel an Redlichkeit. ({7}) Sie, Herr Kolb, haben uns gesagt, wir sollten Sie bei Ihrer Diskussion begleiten; aber Sie wüssten eigentlich selbst noch nicht so genau, wohin es gehen soll. ({8}) Vielleicht werden Sie es uns im Herbst sagen. ({9}) Das können Sie doch wirklich nicht im Ernst meinen. Sie behaupten hier, unser Rentensystem sei nicht zukunftsfähig. Dazu muss ich Ihnen sehr deutlich sagen: Ich glaube, dass dieses System in seiner Grundanlage eines der sichersten und zukunftsfähigsten Alterssicherungssysteme ist. Es ist nur unsere Aufgabe, es in einer gemeinsamen Anstrengung den wirtschaftlichen und demographischen Gegebenheiten anzupassen. ({10}) Zu dieser Debatte und zu dieser Diskussion laden wir Sie im Herbst ein. ({11}) - Erinnern Sie sich einmal an die Einführung des 630DM-Sparens. Trotz vieler Anreize hat es viele Jahre gedauert, bis die Menschen diese Form des Sparens genutzt haben. Sie haben bis zur Bundestagswahl die Menschen aufgefordert - Herr Thönnes hat es Ihnen schon gesagt -, keine Riester-Verträge abzuschließen, weil nach der Wahl die Reform sowieso rückgängig gemacht werden würde. ({12}) Sie können also nicht erwarten, dass wir Ihre Vorwürfe in Bezug auf die Riester-Rente akzeptieren. Im Herbst werden wir mit der Diskussion über die Rente, zu der ich Sie einlade, beginnen. Herr Storm, wir stimmen mit vielen Ihrer Ansätze überein. Wir werden über den Nachhaltigkeitsfaktor zu diskutieren haben, darüber, ob er das entscheidende und richtige Instrument ist, um die Ziele zu erreichen, ({13}) die wir erlangen wollen: vertretbare Beitragssatzzahlungen und am Ende eine vertretbare Rente für diejenigen, die die Rente zum Leben brauchen. Das werden unsere Zielsetzungen sein. Die Instrumente, die zur Verfügung stehen, werden wir genau zu überprüfen haben. Im Herbst wird der Bericht der Rürup-Kommission vorliegen. Einiges zeichnet sich bereits ab. Wir werden über die Einführung dieses Nachhaltigkeitsfaktors diskutieren. Wir werden auch darüber diskutieren ({14}) - ich würde erst einmal diskutieren und dann entscheiden; denn dann müssen wir nicht hinterher korrigieren -, ({15}) welche begleitenden Instrumente wir zusätzlich brauchen und wie wir die Riester-Rente und die betriebliche Altersversorgung verbessern können. Wenn man im Hinblick auf die Zusatzversorgungsrente eine Gesamtschau vornimmt und feststellen kann, dass sie etwa ein Jahr nach ihrer Einführung schon eine Größenordnung von 30 bis 40 Prozent erreicht hat, dann kann ich Ihnen dazu nur sagen: Dies ist ein ganz hervorragender Erfolg, auf den wir zurückgreifen können. ({16}) Ich möchte noch ein paar Punkte nennen, von denen ich glaube, dass wir hier - auch wenn viele meinen, man müsse das Thema Rente zu einem Kriegsschauplatz machen - eine ähnliche Einschätzung haben. ({17}) Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 bzw. 68 Jahre steht nicht zur Debatte. Wir sollten vielmehr gemeinsam unsere Kraft darauf verwenden, dafür zu sorgen, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter dem gesetzlichen Renteneintrittsalter entspricht. Meine Kollegin hat Ihnen zudem bereits gesagt, über welche Punkte wir gerne bereit sind mit Ihnen zu diskutieren. ({18}) Voraussetzung für diese Diskussion ist: Wir hatten in der Vergangenheit den Mut zu einer gemeinsamen Verantwortung. Ich erwarte von Ihnen ein bisschen Mut für die gemeinsame Zukunft. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1014 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung auf Drucksache 15/859 zu dem Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der FDP zum Rentenversiche- rungsbericht 2002 und zum Gutachten des Sozialbeirats zu diesem Rentenversicherungsbericht. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 15/318 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen bei Gegenstimmen der FDP und einiger Kollegen aus der Fraktion der CDU/CSU, im Übrigen bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes ({0}) - Drucksache 15/743 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes ({2}) - Drucksachen 15/902, 15/949 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 15/1127 - Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Hilsberg Hubert Ulrich b) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung ({5}) - Drucksache 15/537 ({6}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung ({7}) - Drucksache 15/900 ({8}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9}) - Drucksache 15/1042 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Kerstin Andreae bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1043 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Walter Schöler Antje Hermenau Zu den Entwürfen eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin gebe ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks das Wort.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit den beiden Gesetzentwürfen, die wir heute abschließend beraten, gehen wir zwei scheinbar kleine, aber doch bedeutsame Schritte, die uns dabei helfen werden, den Mittelstand zu beleben, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Schattenwirtschaft einzuschränken. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuordnung der Förderbanken setzt die Bundesregierung die bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte Zusammenlegung der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit der Deutschen Ausgleichsbank und die Entscheidung der europäischen Kommission vom März des vergangenen Jahres zu Anstaltslast und Gewährträgerhaftung um. Mit der Verschmelzung von KfW und DtA werden Synergien gehoben und Effizienzgewinne erzielt, die der Mittelstandsförderung unmittelbar zugute kommen. Wichtig ist dabei vor allem, dass das Förderangebot der KfW-Mittelstandsbank übersichtlicher und transparenter wird. Durch die gewählte Form der Zusammenlegung von KfW und DtA werden der Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen keine Mittel entzogen. Wir haben uns darüber gefreut, dass in den wesentlichen Punkten des Gesetzes Konsens mit allen Fraktionen besteht und auch die Wirtschafts- und Bankenverbände die tragenden Elemente des Gesetzes begrüßt haben. Weder das Subsidiaritätsprinzip noch das Hausbankenprinzip werden durch das Förderbankenneustrukturierungsgesetz aufgehoben oder verletzt. Dies möchte ich auch in Richtung Bundesrat betonen, auf dessen Zustimmung wir am 20. Juni 2003 hoffen. Die Verständigung mit der EU-Kommission verlangt eine konkrete und präzise Beschreibung der Aufgaben der Förderbank. Nur so lässt sich die Fördertätigkeit vom Marktgeschäft der KfW abgrenzen. Die bewährte Durchleitung der Förderkredite durch die Hausbanken, also Sparkassen und andere Banken, bleibt bestehen. Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz bauen wir gezielt bürokratische Hürden ab, um Existenzgründungen künftig zu erleichtern. Zugleich verbinden wir damit die Hoffnung, dass viele, die eine bereits ausgeübte Tätigkeit dem Finanzamt heute verschweigen, aus der Schattenwirtschaft in die Legalität zurückkehren werden. Im Zentrum dieses Gesetzes steht die Möglichkeit der Gewinnpauschalierung für Existenzgründer und Kleinunternehmer. Für diese simple Methode der Gewinnermittlung müssen im Wesentlichen nur noch Betriebseinnahmen aufgezeichnet werden. Die Hälfte hiervon wird pauschal als Betriebsausgaben abgezogen, die andere Hälfte gilt als Gewinn. Das ist im Vergleich zu anderen Gewinnermittlungsarten, wie zum Beispiel der Bilanzierung, äußerst einfach, transparent und erfordert nur sehr geringen Aufwand. Die Gewinnpauschalierung ist vor allem dann von Vorteil, wenn eine Tätigkeit mit geringem Kapitaleinsatz ausgeübt wird. Typischerweise ist das bei Dienstleistern der Fall, die in erster Linie ihre eigene Arbeitskraft anbieten. Für diesen Personenkreis, der Tätigkeiten wie Rasen mähen, Schnee räumen, Hemden bügeln, Hunde ausführen, Putz- und Reinigungsdienste, mobile Friseurleistungen oder Besorgungsdienstleistungen wie Autoummeldung oder Behördengänge erbringt, bei denen üblicherweise nur geringe Betriebsausgaben anfallen, ist die Pauschalierungsmöglichkeit im Wesentlichen gedacht. Wer größere Investitionen plant, Arbeitnehmer beschäftigt oder aus anderen Gründen eine geringere Umsatzrendite hat, der fährt natürlich in der Regel mit den üblichen Gewinnermittlungsmethoden besser und sollte diese auch weiterhin anwenden. ({0}) Doch auch für diese Unternehmer bringt das vorliegende Gesetz Verbesserungen. So wird für Existenzgründer die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen erleichtert. Viele Unternehmer werden zudem von der Anhebung der Buchführungspflichtgrenzen profitieren. Dadurch werden wir erreichen, dass künftig mehr Unternehmen als bisher ihren Gewinn mit der einfacheren Einnahmenüberschussrechnung ermitteln dürfen. Sie müssen keine aufwendige Buchführung einrichten. Zudem wird die Erstellung einer Einnahmenüberschussrechnung durch die vorgesehene Standardisierung erleichtert, da das hierfür vorgesehene Formular künftig eine klare Struktur vorgibt. Auch das spart Zeit und Kosten. Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz soll schließlich Kreditinstituten eine gewerbesteuerneutrale Verbriefung ihrer Kreditforderungen und deren Platzierung am Kapitalmarkt als so genannte Asset Backed Securities in Deutschland ermöglicht werden. Mit Hilfe dieser Neuregelung werden neue nationale und internationale Investorenkreise, wie zum Beispiel Versicherungen und Pensionsfonds, und deren finanzielle Mittel effektiv für die Finanzierung inländischer Unternehmen mobilisiert. Die kreditgebenden Banken werden durch die Verbriefung ihrer Kreditforderungen eigenkapitalund bilanzmäßig entlastet, sodass Freiräume für neue Kredite entstehen. Davon werden auch kleine und mittlere Unternehmen profitieren, denen wegen ihrer Größe bisher ein unmittelbarer Kapitalmarktzugang versperrt ist. Es wird ein neues Marktsegment geschaffen, das dem Finanzplatz Deutschland neue Impulse verleiht und eine indirekte Kapitalmarktfinanzierung von Unternehmen in Deutschland fördert. Diese Initiative wird von den Beteiligten am Kapitalmarkt und auch von internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds sehr begrüßt. Meine Damen und Herren, ich weiß, dass wir mit diesen beiden Gesetzen nicht alle Probleme in der Bundesrepublik Deutschland lösen werden, aber sie sind gleichwohl richtige Schritte auf dem Weg zu dem uns gemeinsam brennend interessierenden Ziel. Wir wollen alle, dass sich in unserer Wirtschaft ein Aufwärtstrend abzeichnet, sich die Arbeitsmarktlage verbessert und die Schattenwirtschaft bekämpft wird. Alle Schritte, die wir auf diesem Weg machen, sind richtig. Deshalb hoffe ich auf die Zustimmung des ganzen Hauses. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Otto Bernhardt von der CDU/CSU-Fraktion.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Tagesordnungspunkt geht es um zwei Gesetzesvorhaben. Das erste betrifft die Förderinstitute im Bereich des Bundes und das zweite Kleinunternehmungen. Ich werde meinen Beitrag auf das Thema der Förderinstitute beschränken; zum zweiten Teil wird mein Kollege Michelbach sprechen. Worum geht es bei diesem Gesetz? Es geht um die Zusammenfassung der beiden Förderinstitute im Bereich des Bundes, der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank. Dabei soll die kleinere Ausgleichsbank auf die größere KfW fusioniert werden. Ich habe bereits in der ersten Lesung für meine Fraktion dargestellt, dass wir diese Absicht im Grundsatz für richtig halten. Ich will dennoch bei der abschließenden Beratung darauf hinweisen, dass beide Institute, die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Ausgleichsbank, in ihrer etwa 50-jährigen Geschichte erfolgreiche Arbeit geleistet haben. ({0}) Der Zusammenschluss erfolgt nicht, weil eine Bank keine gute Arbeit geleistet hätte; das muss meines Erachtens bei dieser Gelegenheit klargestellt werden. In der letzten Legislaturperiode gab es schon einmal Überlegungen zur Zusammenfassung. Damals sollte allerdings die KfW die Deutsche Ausgleichsbank kaufen. Dadurch wären der Wirtschaftsförderung erhebliche Mittel entzogen worden. Deshalb haben wir dem Vorhaben nicht zugestimmt. Um der Redlichkeit willen muss man in dieser Sache sagen, dass es sogar gute Argumente gibt, konkurrierende Förderinstitute im Bundesbereich zu haben. Wir sind allerdings mit der Regierung der Auffassung, dass die Vorteile eines Zusammenschlusses weit überwiegen. Wir erwarten erhebliche Synergieeffekte und somit mehr Mittel für die Wirtschaftsförderung. Wir erwarten vor allem, dass durch den Zusammenschluss das öffentliche Förderinstrumentarium transparenter wird. ({1}) Ich habe bereits bei der ersten Lesung gesagt, dass wir Nachbesserungen in vier Punkten erwarten: beim geplanten Namen, ({2}) bei der Zusammensetzung des Mittelstandsrates, bei der Vertretung des Parlaments im Verwaltungsrat und bei der Formulierung des Hausbankenprinzips. Es war geplant, den Bereich der erweiterten KfW, der sich mit der Mittelstandsförderung beschäftigt, Mittelstandsbank zu nennen. Wir haben von Anfang an gesagt: Das ist ein falscher Name. ({3}) Dieser Name ist Etikettenschwindel ({4}) und erweckt beim Mittelstand den Eindruck, man könne direkt zu dieser Bank gehen und dort entsprechende Kredite erhalten. Unsere Kritik ist im Anhörungsverfahren von allen, die sich dazu geäußert haben, insbesondere von den Kreditinstituten, aufgenommen worden. Ich finde es gut - man muss es auch einmal loben, wenn sich etwas bewegt -, dass sich die Regierung ({5}) und die sie tragenden Fraktionen bewegt haben und wir uns jetzt auf den Namen KfW-Mittelstandsbank geeinigt haben. ({6}) Damit ist für jeden Außenstehenden klar: Es handelt sich nicht um die viel gepriesene Mittelstandsbank - das sind in Deutschland wahrscheinlich die Sparkassen und Genossenschaftsbanken -, sondern es handelt sich um einen unselbstständigen Bereich der KfW. Da jeder weiß, dass der Weg zur KfW über die Hausbanken führt, ist damit auch klar, dass der Weg zur KfW-Mittelstandsbank ebenfalls über die Hausbanken führt. Beim Mittelstandsrat hat es keine Veränderungen gegeben. Es ist für uns auch kein sehr bedeutendes Gremium, aber auch da ist nicht drin, was draufsteht. Es ist kein Mittelständler im Mittelstandsrat, aber wenn die Regierung einen solchen Ausschuss bilden will und meint, ihre Leute hätten Zeit, dort zu sitzen, soll sie ihn einrichten. Wir lassen es daran nicht scheitern. Dem Verwaltungsrat der KfW sollten ursprünglich nur drei Mitglieder angehören, die vom Parlament bestellt werden. Dem haben wir widersprochen, weil dem Bundestag vier Fraktionen angehören. Wir haben daraufhin den Antrag gestellt, vier Mitglieder zu bestellen. Vonseiten der Regierungsfraktionen sind dann sieben Mitglieder vorgeschlagen worden. Auch dieser Vorschlag wird an uns nicht scheitern, weil damit unser Petitum, dass alle Fraktionen im Verwaltungsrat vertreten sein sollen, erfüllt ist. Ob es gerade sieben sein müssen, sei dahingestellt. Etwas komplizierter wird es bei der Frage der Beibehaltung des Hausbankenprinzips. Um es ganz klar zu sagen: Wir sind dafür, dass sich hier nichts ändert und es beim strikten Hausbankenprinzip bleibt. Diese Auffassung hat sich auch im Anhörungsverfahren herauskristallisiert. Die veränderte Formulierung im Gesetz hat etwas mit der EU und nichts damit zu tun, dass das Hausbankenprinzip ausgehöhlt werden soll. Die Regierung hat das bei den Beratungen am Mittwoch noch einmal klargestellt. Die KfW wird eine entsprechende Erklärung abgeben, dass es natürlich beim Subsidiaritäts- und Hausbankenprinzip bleibt. Mit diesen Erklärungen sind wir zufrieden. Deshalb werden wir keinen Änderungsantrag in dieser Richtung stellen. Ich vermute, dass wir das Gesetz heute sogar einstimmig verabschieden werden. Ich habe von Anfang an gesagt: Es ist gut und das war in der Vergangenheit auch meist so, dass Gesetze, die den Förderbereich des Bundes betreffen, von einer möglichst breiten Mehrheit im Parlament getragen werden; denn sie gelten nachher auch für die sehr unterschiedlich regierten Länder. Wir haben natürlich hohe Erwartungen an die erweiterte KfW. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich - auch darüber muss man einen Satz verlieren -: Besorgnis erregend ist, wie wenig Mittel die KfW und die heute noch davon getrennte Deutsche Ausgleichsbank - demnächst vereint - in der letzter Zeit nur herausgeben konnten. Ich nenne Ihnen dazu wenige Zahlen: Im Jahre 2000 belief sich das gesamte Fördervolumen noch auf 7,5 Milliarden Euro. Im letzten Jahr waren es 6,5 Milliarden Euro. Das ist ein Rückgang um 1 Milliarde Euro bzw. 13 Prozent. Noch gravierender sind die Zahlen im Bereich der Existenzgründungen. Die Höhe der zur Verfügung gestellten bzw. abgerufenen Gelder ist vom Jahre 2000 bis zum Jahre 2002 um etwa 40 Prozent zurückgegangen. Seit wenigen Tagen kennen wir die Zahlen für das erste Quartal bzw. für die ersten vier Monate dieses Jahres. Wenn wir sie mit den Zahlen des Vorjahres vergleichen, stellen wir fest, dass der Rückgang in einzelnen Programmen bei über 50 Prozent und der durchschnittliche Rückgang irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent liegt. ({7}) Das zeigt natürlich nicht, dass die KfW und die Deutsche Ausgleichsbank schlecht gearbeitet haben. Das zeigt, dass sich die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch in diesem Bereich niederschlagen. ({8}) Nachdem ich vorhin ein Lob an die Regierung gegeben habe, was für einen Oppositionspolitiker nicht selbstverständlich ist, möchte ich an dieser Stelle ein Lob an die KfW aussprechen. ({9}) Die KfW hat auf die Situation in diesen Tagen mit zwei sehr vernünftigen Entscheidungen reagiert. Die eine Entscheidung war, dass sie die Zinsen generell um 0,25 Prozent gesenkt hat. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung und entspricht dem, was die europäische Notenbank für einen anderen Bereich gemacht hat. Die zweite Entscheidung der KfW kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Sie hat den Banken bei der Zinsgestaltung im Fördergeschäft einen größeren Korridor von 0,5 Prozent gelassen. Das ist wichtig, denn mancher Förderkredit ist für die Kreditinstitute inzwischen so unattraktiv geworden, dass man von der Seite kaum noch bereit war, in dem Sinne tätig zu werden. Die Antwort darauf kann nicht sein, das Hausbankenprinzip infrage zu stellen. Die Antwort darauf kann nur sein, auch diesen Bereich für die Banken attraktiver zu gestalten. Das ist erfolgt. Insofern hoffe ich, dass die gestärkte KfW eine noch bessere Förderpolitik als in der Vergangenheit macht. In diesem Sinne werden wir dem Gesetz zustimmen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen den Zugang von kleinen und mittleren Unternehmen zu geeigneten Finanzierungsinstrumenten fördern. Ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, das zu unserem gemeinsamen Anliegen zu machen. Ganz oben auf der Agenda steht deshalb die Schaffung eines klaren und transparenten Förderangebotes des Bundes und eines zielgruppenspezifischen Beratungsangebotes. Ich halte es für sehr wichtig, uns genau zu überChristine Scheel legen, welche Zielgruppen wir wie fördern wollen und wie wir sie am besten erreichen. Wir geben der KfW durch dieses Gesetz eine zukunftsweisende, aber auch europakonforme Struktur, eine Struktur, die sie benötigt, um den veränderten Finanzierungsbedürfnissen gerade der kleinen und mittleren Unternehmen gerecht werden zu können. Bislang gibt es auf Bundes-, aber auch auf Landesebene eine große Vielzahl von Förderinstrumenten und Förderprogrammen. Selbstverständlich sind sowohl die KfW als auch die DtA - Herr Bernhardt, ich kann nur unterstützen, was Sie gesagt haben - ihren Aufgaben in den letzten Jahren hervorragend nachgekommen. Wir mussten aber auch feststellen, dass sich sehr viel an Wissen und an Ressourcen, was in beiden Banken vorhanden ist, nebeneinander entwickelt hat. Das ist nicht unbedingt so effizient ausgestaltet, wie es sein könnte. ({0}) Deswegen ist es gut, dass wir nun diesen Entwurf eines Förderbankenneustrukturierungsgesetzes vorlegen können. ({1}) Die DtA hat im Bereich der Gründungs- und Wachstumsfinanzierung sehr viel getan. Ich erinnere nur an das Startgeld, an Mikrodarlehen und an Bürgschaftsprogramme, die vor allen Dingen für die mittelständischen Unternehmen durchaus attraktiv sind. Aber auch bei der KfW stehen die kleinen und mittleren Unternehmen, die an den Kreditzusagen einen Anteil von etwa 87 Prozent haben, im Zentrum des Förderinteresses. Es ist unvermeidlich, dass es - so war es jedenfalls bislang - zu Überschneidungen zwischen den Programmen kommt. Auch kommt es ab und zu zu schwierigen Auswahlprozessen und in den Antragsverfahren damit zu Effizienzverlusten, was wir auf diesem Wege beheben werden. Die Programme werden neu strukturiert, Überschneidungen werden beseitigt, Prozesse werden gestrafft. KfW und DtA werden ihr Wissen bündeln und ihre Ressourcen in einem sehr einheitlichen, effizienten und übersichtlichen Förderangebot zusammenführen. Gründer und Gründerinnen werden es in Zukunft leichter haben, die richtige Förderung zu finden; die neue Mittelstandsbank wird ihnen dabei helfen. Wichtig ist, dass die KfW - das haben wir in den Ausschussberatungen gemeinsam so beschlossen - am bewährten Hausbankprinzip festhält; das wird in dem Bericht bekräftigt. Dies wird sie durch eine so genannte Selbstverpflichtung noch einmal unterstreichen. Für die Banken und Sparkassen wird es bei der Mittelstandsförderung nur noch einen Ansprechpartner geben. Dadurch werden die Wege klarer, die gegangen werden können. Ich denke, dass im Zuge dieses Zusammenschlusses auch die Kreditbearbeitungskosten für Förderkredite sinken können. Aber es gibt noch andere Anreizmöglichkeiten. Ich denke zum Beispiel an risikoabhängige Margen für die durchleitenden Banken und vieles mehr. Es gibt also ein großes Potenzial für unsere Unternehmen. Daneben müssen selbstverständlich auch die Förderinstrumente weiterentwickelt werden - ich denke, das ist sinnvoll -, um die Synergien aus der Verschmelzung voll auszunutzen. Dabei geht es nicht nur um wichtige Innovationen wie Globaldarlehen und Verbriefungen, es geht auch um etablierte Instrumentarien wie zinsverbilligte Programmkredite, Eigenkapitalfinanzierungen und vieles mehr, die weiterentwickelt werden müssen. Das müssen wir übrigens auch steuerlich sinnvoll begleiten. Das ist keine Frage. Alles zusammengenommen sind es klare und übersichtliche Förderprogramme für die Kreditnehmer und Kreditnehmerinnen, kostengünstige und effiziente Abwicklungsverfahren für die durchleitenden Banken und Sparkassen und bedarfsgerechte und innovative Förderinstrumente. Ich glaube, wir haben hier etwas Gutes und Werbewirksames geschaffen. Ich verstehe nicht so recht, warum Sie gesagt haben, dass der Begriff „Die Mittelstandsbank“ irreführend sei. Ich glaube, jeder Mittelständler und jede Mittelständlerin weiß, dass es hier Geld für ihn bzw. sie gibt. Den Zugang erhalten sie aufgrund des entsprechenden Prinzips aber natürlich nur über die Hausbank. Ich glaube schon, dass die Unternehmen sehr gut wissen, wie sie damit umzugehen haben. Aber gut, wir haben uns auf die Bezeichnung „KfW-Mittelstandsbank“ verständigt. Das ist in Ordnung; darüber müssen wir jetzt nicht mehr reden. Ich wollte mir diesen Schlenker aber nicht ganz ersparen. ({2}) Daneben werden wir mit diesem Gesetz die so genannte Monti-II-Vereinbarung umsetzen und der KfW, die auch künftig Export- und Projektfinanzierungen durchführen wird, somit eine EU-konforme Struktur geben. Dazu wird sie eine Tochter gründen, die im freien Wettbewerb steht und voll der Steuerpflicht unterliegt. Ich möchte nicht, dass irgendwo in der Öffentlichkeit ein falscher Eindruck entsteht. Deshalb war es für uns besonders wichtig, dass Nachhaltigkeitskriterien für diese Finanzierung klar verankert sind. Mit dem Entschließungsantrag haben wir das noch einmal unterstrichen; wir haben darüber auch im Finanzausschuss beraten. Es ist völlig klar, dass Umweltrisiken immer auch Kredit- und Bonitätsrisiken sind. ({3}) Herr Präsident, erlauben Sie mir, noch zwei ganz kurze Punkte anzusprechen. Durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz haben wir den Verbriefungsmarkt in Deutschland neu eröffnet; auch das ist ein Erfolg. Die Banken und Sparkassen erhalten so bessere Möglichkeiten, ihre Kredite durch Verbriefung zu refinanzieren. Daneben haben wir - das ist der zweite kurze Punkt durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz für eine verringerte Bürokratie und für geringere Steuerlasten in der Startphase nach der Neugründung gesorgt. Das ist gut und stellt einen weiteren Baustein für die Förderung von Existenzgründungen dar. Es handelt sich praktisch um eine Ausweitung der Möglichkeiten für die Menschen, die sich selbstständig machen wollen. All das gehört dazu, um auf dem Arbeitsmarkt neue Möglichkeiten zu schaffen. Als nächster Baustein wird der „Masterplan Bürokratieabbau“ folgen. So werden wir in Deutschland vorankommen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas Pinkwart von der FDP-Fraktion.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Zusammenhang mit der Fusion der DtA auf die KfW möchte ich für die FDP-Fraktion die bisherige besondere Rolle der Deutschen Ausgleichsbank auf dem Gebiet der Gründungsfinanzierung hervorheben. Da die Deutsche Ausgleichsbank und die Kreditanstalt für Wiederaufbau in gewissem Umfang bislang auch miteinander in Konkurrenz standen, hat dies die Innovations- und Leistungskraft der öffentlichen Gründungsförderung beflügelt. Mit unserer Zustimmung zu dem im Zuge der Ausschussberatungen verbesserten Gesetzentwurf verbinden wir daher die besondere Erwartung, dass dieses für die wirtschaftliche Dynamik wichtige Geschäftsfeld auch in dem fusionierten Institut mit gleicher Priorität gepflegt und weiter ausgebaut wird. ({0}) Die fusionsbedingten Synergieeffekte sollten besonders zur Stärkung dieses Bereiches verwendet werden. Finanzinnovationen, wie sie etwa durch die tbg als Tochtergesellschaft der DtA in der Vergangenheit hervorgebracht worden sind, sollten in Zukunft weitergeführt und fortentwickelt werden. ({1}) Der andere Gesetzentwurf, der uns vorliegt, das von der Bundesregierung und der Koalition so bezeichnete Kleinunternehmerförderungsgesetz, sollte aus unserer Sicht seinem Kernbereich entsprechend zutreffender doch als Sondersteuergesetz für einen kleinstmöglichen Personenkreis von Mikroselbstständigen bezeichnet werden. Mit Ausnahme der zudem halbherzigen Anpassung der Betragsgrenzen für die Buchführungspflicht und der Beschränkung der Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen für Zweckgesellschaften, durch die der Markt für so genannte Asset Backed Securities am Finanzplatz Deutschland erschlossen werden soll, kann der vorliegende Gesetzentwurf auf die einfache Formel gebracht werden: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. ({2}) So verstößt dieser Gesetzentwurf selbst gegen zwei von der Bundesregierung öffentlich lautstark vertretene Forderungen nach einem umfassenden Bürokratie- und Subventionsabbau. Herr Bundesminister Eichel hat noch am Mittwoch im Finanzausschuss nachdrücklich bekräftigt, es müssten sämtliche Subventionen, und zwar nicht nur auf der Ausgabenseite, sondern auch im steuerlichen Bereich, auf den Prüfstand. Gleichzeitig legen Sie heute dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der einen kleinen Personenkreis in unverhältnismäßiger Weise begünstigt und zudem Mitnahmeeffekte ermöglicht. ({3}) Statt das Steuerrecht insgesamt für alle Unternehmen und Arbeitnehmer zu vereinfachen, erhöhen Sie damit den Subventionsberg um weitere 300 bis 400 Millionen Euro pro Jahr, ohne dass dadurch ein zusätzlicher wettbewerbsfähiger Arbeitsplatz in Deutschland entstehen würde. ({4}) Der damit in Aussicht gestellte Bürokratieabbau erweist sich zudem als Bumerang. So bringen die Vorschriften für die Mehrzahl der wenigen, die durch die Einführung der Regelung begünstigt werden sollen, einen erheblichen Bürokratiemehraufwand. ({5}) Um in die Gunst des Vorteils zu gelangen, muss der Steuerpflichtige seinen Gewinn in zweifacher Weise ermitteln, um überhaupt abschätzen zu können, welche Methode für ihn günstiger ist. Zudem muss selbst bei Inanspruchnahme der pauschalen Gewinnermittlung eine Schattenbuchführung erfolgen, um die Einhaltung der unterschiedlichen Grenzbeträge, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen haben, zu kontrollieren. Fazit: Wir hoffen, dass in diesem Gesetz nur die vernünftigen Elemente, die Sie insbesondere in Art. 4 formuliert haben, im weiteren Gesetzgebungsverfahren verwirklicht werden und darüber hinaus endlich Maßnahmen zu einer wirksamen Steuervereinfachung und -entlastung Platz greifen. Hierzu zählt vor allem eine echte Gemeindefinanzreform, die den Kreis der Gewerbesteuerzahler nicht noch erweitert, sondern endlich zur Abschaffung der bürokratielastigen und konjunkturanfälligen Gewerbesteuer führt, nicht nur für den kleinen Personenkreis, den Sie heute definiert haben, sondern für alle Unternehmen in Deutschland. Das würde dem Mittelstand helfen und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von der SPD-Fraktion.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In unserem Land gibt es viele innovative und leistungsfähige Menschen, völlig unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Nationalität. Aber leider stehen viele dieser Menschen außerhalb der Arbeitswelt oder sind an Stellen eingegliedert, an denen sie ihre Fähigkeiten nicht voll entfalten können. Was liegt also näher, als diesen Menschen unter die Arme zu greifen und ihnen zu helfen, einen eigenen Weg zu gehen? Doch aufgrund vieler bürokratischer Hürden scheuten bisher viele Menschen die Inanspruchnahme dieser Möglichkeit. Grund sind die bürokratischen Hürden, die im Bund durch 16 Jahre CDU/CSU-Regierung und 29 Jahre FDP-Mitregierung kontinuierlich aufgebaut wurden. Diese bürokratischen Hürden machen aber auch in den einzelnen Bundesländern den innovativen Menschen das Leben schwer und existieren nicht unbedingt aufgrund der Gesetzeslage. Ich komme aus Sachsen und kann davon ein Lied singen. Dass auch in Sachsen Ausnahmen möglich sind, kann man derzeit am Beispiel der CDU-Sozialministerin Christine Weber sehen. Hier wurden bürokratische Hürden einfach tiefer gelegt, damit Frau Weber noch schnell Fluthilfegelder für Regenwasserschäden bekommen konnte. Als Mitglied des Kabinetts wusste sie, dass sich der Freistaat Sachsen gegen die Anerkennung von Regenwasserschäden ausgesprochen hatte. Also war Eile geboten. Bei allen anderen Anträgen mit gleicher Sachlage - auch von Mittelständlern und Kindergärten wurde erst geprüft und vor Ort kontrolliert. Somit entfiel die Förderung, weil mittlerweile durch die Veränderung der Verwaltungsvorschrift in Sachsen Regenwasserschäden nicht mehr als Flutschäden anerkannt wurden. Man sieht also: Nicht immer ist die Gesetzeslage der Grund für eine langsame Bearbeitung oder eine aufgeblähte Bürokratie. Aber da nicht alle über die Möglichkeiten der sächsischen Sozialministerin verfügen, will die Bundesregierung, unterstützt durch die rot-grüne Koalition, mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz neben anderen Maßnahmen auch Bürokratie allgemeinverbindlich abbauen. Gerade Menschen, die sich entschließen, sich selbstständig zu machen, brauchen Unterstützung. Sie brauchen anfangs ihre ganze Zeit und Kraft für die Akquirierung von Aufträgen, nicht für die Befriedigung des Finanzamtes. Deshalb haben wir unter anderem eine vereinfachte Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenzgründer und Kleinunternehmer geschaffen. Nach der Vereinfachungsregelung darf der Kleinunternehmer pauschal die Hälfte seiner Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben abziehen. Der unter die Regelung fallende Steuerpflichtige muss lediglich seine Betriebseinnahmen einschließlich seiner Entnahmen aufzeichnen und wird von weiter gehenden Steueraufzeichnungspflichten entlastet. Damit möglichst viele davon profitieren, haben wir die Grenzen erheblich angehoben: die Umsatzgrenze von bisher 260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschaftswertgrenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und die Gewinngrenzen von bisher 25 000 Euro auf 30 000 Euro. Die FDP ist in ihrem Antrag der Meinung, das Gesetz sei nicht geeignet, Existenzgründer oder kleine Betriebe zu fördern. Aber schon einen Satz später kommen Sie zu der Erkenntnis, dass sich Vorteile für einen eingeschränkten Personenkreis ergeben. Was denn nun: nicht geeignet oder doch geeignet? Sie beziehen sich in Ihren weiteren Ausführungen auch auf die Anhörung. Allerdings war auch bei dieser Anhörung das Problem, dass es sich augenscheinlich viele Experten nicht vorstellen konnten, dass man sich mit wenig Anschaffungen, wenig Betriebsausstattungen und wenig Kapital sehr wohl selbstständig machen kann. Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass es schon viele sind: all die Freizeithandwerker, die mit ihrem Werkzeug unterwegs sind, die Frisösen, die Hausbesuche machen, oder die kreativen Frauen und Männer, die mit wenig Material gefragte Artikel herstellen und im Internet vertreiben. Warum soll man diesen Menschen nicht eine Brücke bauen, sie aus der Schwarzarbeit herausholen und ihnen die Möglichkeit geben, sich mit ihren Fähigkeiten eine legale und auskömmliche Existenz aufzubauen? ({0}) Wenn das Geschäft gut läuft, die Betriebe expandieren und sich vergrößern, dann ist das zwar sehr begrüßensund wünschenswert, aber wir dürfen doch nicht so tun, als gebe es nicht die Kleinen, die es nie über die genannten Grenzen hinaus schaffen werden. Denen ermöglichen wir eine möglichst unbürokratische selbstständige Existenz, die sie unter der jetzigen, von Ihnen übernommenen Gesetzeslage nicht in Betracht ziehen. Sie zielen immer wieder auf Steuerentlastungen ab. Schauen Sie sich doch einmal die Einkommensteuersätze in Ihrer Regierungszeit an! Bei Ihnen lag der Eingangssteuersatz bei 25,9 Prozent, wir haben ihn auf 19,9 Prozent gesenkt und senken ihn weiter auf 15 Prozent. Herr Professor Pinkwart hat den Abbau von Subventionen angesprochen. Ich frage mich, warum das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Bundesrat blockiert worden ist. Dort ging es um den Abbau von Subventionen. ({1}) Damit haben Sie den Kommunen Beträge in Milliardenhöhe verweigert. Diese Mittel stehen den kommunalen Vertretungen nun nicht zur Verfügung. Sie helfen damit auch dem Mittelstand nicht, weil Aufträge nicht ausgelöst werden können. Vielleicht sollten Sie sich das das nächste Mal überlegen, bevor Sie im Bundesrat wieder blockieren, damit Sie nicht später genau das fordern, was schon im Gesetzentwurf stand. Das ist unlogisch und wird auf lange Zeit nicht tragbar sein. ({2}) Wir wollen mit unserem Gesetz den Kleinunternehmern und Mittelständlern helfen und die Finanzausstattung der Unternehmer verbessern. Wir passen uns an andere Länder an, in denen es schon längst üblich ist, dass die Liquidität der Kreditinstitute verbessert wird, indem sie Kreditforderungen verbriefen und durch Zweckgesellschaften am Kapitalmarkt platzieren. Damit wird der Nachteil beseitigt, dass auf bestimmte Fremdmittel zu zahlende Entgelte als Dauerschuldzinsen erfasst werden. Das verbessert die Finanzierungsbedingungen der Wirtschaft, weil den Unternehmen mehr Kapital zur Verfügung steht und die Banken eine bessere Eigenkapitalbasis bekommen. Eventuelle Umgehungstatbestände und Missbrauch werden schon allein dadurch vermieden, dass nur Kapital anerkannt wird, das tatsächlich ausgeliehen wird. Andere übliche betriebliche Transaktionen werden nicht berücksichtigt. Nicht unerwähnt lassen will ich die finanziellen Auswirkungen. Denn zugunsten der Kleinunternehmen verzichten wir im Jahr 2003 auf Steuereinnahmen in Höhe von 264 Millionen Euro und bis zum Jahr 2006 wird sich diese Summe auf 390 Millionen Euro erhöhen. Ich denke, das sollte es uns wert sein. Ich bitte daher alle, den Kleinunternehmern und Mittelständlern diese Unterstützung nicht zu verwehren, und hoffe auf Ihre Zustimmung. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Herr Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel: Die wirtschaftliche Lage des Mittelstands hat sich auch im Frühjahr 2003 nicht verbessert, sondern weiter verschlechtert. Wenn man diese Debatte verfolgt, meint man, beim Mittelstand sei alles in Butter. Aber das Gegenteil ist der Fall. ({0}) Lediglich 21 Prozent der Mittelständler beurteilen ihre Geschäftslage noch als gut. Viele haben das Gefühl, dass es nicht mehr vorwärts geht. Vor allem die Existenzgründer und Kleinunternehmer sind von dieser Abwärtsentwicklung hart betroffen. Die Zahl der Neugründungen sank im Vergleich zum Vorjahr um 4 Prozent. Angesichts der verschlechterten Umsatz- und Ertragssituation ist die Zahl der Insolvenzen auf 40 000 gestiegen. Das entspricht einer Zunahme um 17 Prozent und ist ein bisher einmaliger Negativrekord. Gegenwärtig geht in Deutschland alle 15 Minuten ein Unternehmen Pleite. Allein dadurch werden mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze vernichtet. Die wirtschafts- und finanzpolitische Lage ist sehr ernst. Es gibt kein Signal für einen Aufschwung. Wenn wir nicht aufpassen, entwickelt sich diese Wirtschaftskrise zu einer Politikkrise, weil die Menschen an der Politik verzweifeln. Wenn sie hier eine Debatte verfolgen, in der alles in Watte gepackt und nichts differenziert wird, dann verlieren sie sicherlich den Glauben an die Politikfähigkeit. ({1}) Der vorgestellte Entwurf des Förderbankenneustrukturierungsgesetzes allein kann das Problem nicht lösen. Denn bei allen Schalmeienklängen, die hier ertönen: Es fehlt der zielführende ordnungspolitische Rahmen der sozialen Marktwirtschaft. Es fehlen das Vertrauen der Konsumenten und die Planungssicherheit der Investoren. Das ist das Ergebnis einer rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die gegen den Mittelstand gerichtet ist. Rot-Grün ist und bleibt nichts anderes als ein Mittelstandsvernichtungsprogramm. ({2}) Aber der Mittelstand wird sich auch durch noch so schön verpackte Gesetze nicht mehr täuschen lassen. ({3}) Wir erleben in diesen Wochen geradezu einen gesellschaftspolitischen Generalangriff von Rot-Grün auf die Selbstständigen. ({4}) Der Irrweg der Bundesregierung zulasten der mittelständischen Wirtschaft führt von den Wettbewerbsverzerrungen der Ich-AG zur Zerschlagung der Handwerksordnung, zur Einführung einer Ausbildungsteuer, zur Erhöhung der Erbschaftsteuer, zur Revitalisierung und Erhöhung der Gewerbesteuer und zur immer weiteren Zunahme der Lohnnebenkosten, zu Steuer- und Bürokratielasten. Diese Liste der Marterinstrumente gegen den Mittelstand ließe sich jederzeit verlängern. ({5}) Dieser Kurs ist ein Crashkurs gegen den Mittelstand. ({6}) Weder die Agenda 2010 noch die großsprecherischen Einzelaktionen unter dem Titel „Mittelstandsförderung“ bieten einen zufrieden stellenden Lösungsansatz. Sie jagen sozusagen jede Woche eine neue Worthülse durch das Regierungsviertel. Heute soll es ein halbherziges, völlig unzureichendes Kleinunternehmerförderungsgesetz richten. Nur die Förderbankenneustrukturierung und die Asset-Backed-Security-Gesellschaften und -Transaktionen ({7}) sind von der Union mit zu tragen. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz zeigt: Die rot-grüne Flickschusterei geht weiter. Teilweise ist nur eine Scheinförderung vorgesehen. Hinter dem großsprecherischen Etikett der Mittelstandsförderung verbirgt sich eher ein Etikettenschwindel als eine wirkliche Förderung. ({8}) Ich versichere Ihnen aus meiner praxisnahen Erfahrung: ({9}) Das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das heute verabschiedet wird, ist nicht in der Lage, den Rückgang der Zahl von Existenzgründungen aufzuhalten und die Eindämmung der Schattenwirtschaft zu erreichen sowie die Überforderung der kleinen und mittleren Betriebe und den Anstieg der Insolvenzzahlen zu verhindern. Diesen Anspruch erfüllt das Gesetz bei weitem nicht. Es verkennt den gewaltigen Reformbedarf für mehr Wachstum und Beschäftigung. Es verkennt auch den ganzheitlichen Förderungsbedarf im Mittelstand und den Handlungsbedarf insbesondere für eine grundsätzliche Vereinfachung des Steuersystems. Es verkennt zudem, dass nur mit einer erheblichen Reduzierung der Bürokratiebelastung für alle Unternehmen und Bürger das wirtschaftliche Wachstum verstärkt und neue Beschäftigung geschaffen werden kann. Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz versucht die Regierung - wieder einmal erfolglos -, an Symptomen herumzukurieren. Es werden aus ideologischen Gründen falsche Weichenstellungen vorgenommen. Dieses Gesetz wird weitere Wettbewerbsverzerrungen in unserem Land hervorrufen. Sie sind in der Wirtschaftspolitik völlig von der Rolle; denn es kann doch nicht sein, dass ein Handwerksmeister mit Mitarbeitern keine Aufträge mehr bekommt, weil sein ehemaliger Geselle, der nebenan eine Ich-AG mit staatlicher Förderung gegründet hat, sie ihm alle wegnimmt. Das ist doch ein Widerspruch. Das entspricht allenfalls dem rot-grünen Gesellschaftsbild. Aber die Etablierung von Selbstständigkeitstagelöhnern anstelle stabiler Existenzen kann doch nicht allen Ernstes unser Weg in die wirtschaftspolitische Zukunft sein. ({10}) Die Leistungsträger und nicht die ideologischen Selbstständigkeitsvorstellungen von Rot-Grün sollten gefördert werden. Es sollte Freiraum für alle Betriebe und weniger staatliche Bevormundung geben. Durch Luftbuchungen, Worthülsen und Scheinförderung lässt sich die Situation jedenfalls nicht verbessern. Für wen ist dieses Gesetz eigentlich gedacht? 99 Prozent der mittelständischen Existenzen haben nur eine Nettoumsatzrendite von bis zu 10 Prozent. Sie sehen nun einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug von 50 Prozent der Betriebseinnahmen vor. Davon profitiert der größte Teil des Mittelstandes nicht. Das weckt bei Existenzgründern außerdem völlig falsche Erwartungen; denn einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug von 50 Prozent können die meisten Unternehmen gar nicht in Anspruch nehmen. Bei diesen machen nämlich die Betriebsausgaben mehr als 50 Prozent des „Gewinns“ aus. Das Gesetz nützt nur einem gewerblichen Nebenberufstätigen, der vielleicht in einer Behörde sitzt, dort keine eigenen Kosten hat und von einem entsprechenden Gewinn träumt, oder nützt einem Ich-AGler, der sein Gewerbe schnell auf- und wieder zumacht. Wer kann denn als Selbstständiger so viel Gewinn erwirtschaften, um einen 50-prozentigen Betriebsausgabenabzug zu nutzen? Das können doch hauptsächlich nur die von Rot-Grün geförderten Pseudoselbstständigen sein, die große Wettbewerbsverzerrungen hervorrufen werden. Sie fördern nicht die gesunden Betriebe, sondern ideologische Maßnahmen wie die Ich-AG. Eine solche Einzelbegünstigung im Steuerrecht hat es in dieser Form in Deutschland noch nicht gegeben. Sie sollten stattdessen eine zielführende Gesamtsteuerreform machen. Heute kam die Tickermeldung, dass Bundesfinanzminister Hans Eichel nach einem Vorabbericht des Magazins „Focus“ erwäge, die für 2005 geplante dritte Stufe der Steuerreform um ein Jahr vorzuziehen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist überfällig. Machen Sie das endlich und dementieren Sie nicht mehr! ({11}) Die Wirtschaft und insbesondere der Mittelstand brauchen einen solchen Impuls. Unsere Arbeitnehmer brauchen mehr Freiraum. Diese wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahme ist längst überfällig. Es ist aber kontraproduktiv, wenn der Bundesfinanzminister in der Sitzung des Finanzausschusses in dieser Woche gleichzeitig ankündigt, 41 Steuererhöhungen von der Giftliste des Steuervergünstigungsabbaugesetzes wieder hervorholen zu wollen, genauso wie die Ankündigung der SPD, man wolle wieder eine Vermögensteuer einführen und die Erbschaftsteuer erhöhen. ({12}) Machen Sie endlich reinen Tisch! Ziehen Sie endlich die dritte Stufe der Steuerreform wie angekündigt vor und dementieren Sie nicht wieder! Ich hoffe, dass Sie das schaffen werden und dass Sie nicht jede Woche eine neue Steuersau durch unser Land treiben werden. Machen Sie eine klare Steuerpolitik, keine Einzelvorschriften! Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Sigrid SkarpelisSperk von der SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich erspare mir, auf die Rede des Kollegen Michelbach einzugehen; ({0}) denn alle anderen Reden insbesondere zum Förderbankenneustrukturierungsgesetz haben erfreulicherweise erkennen lassen, dass es in diesem Haus einen Konsens gibt. Es ist auch wichtig, dass wir diesen Konsens erreicht haben und diesen Teilschritt gehen. Angesichts einer Schwächephase von Wirtschaft, Arbeitsmarkt, ({1}) einer deutlich rezessiven Entwicklung und nicht geringen Problemen auf den Kreditmärkten sind dieses Gesetzeswerk und diese Fusion ein wichtiger Teilschritt, um die Kreditversorgung und die Finanzierungsbedingungen gerade für kleine und mittlere Unternehmen zu verbessern, die in einer solchen Situation natürlich deutlich angespannt sind. Diese Schwierigkeiten sind von der Europäischen Zentralbank übrigens lange heruntergespielt worden. Themen wie die Kreditklemme oder der Credit Crunch, wurden vom Sachverständigenrat und anderen wissenschaftlichen Beratungsgremien lange nicht zur Kenntnis genommen. Jetzt aber ist diese Kreditklemme und die Tatsache, dass die Finanzinstitutionen und die Banken bei der Vergabe von Krediten und Beteiligungskapital immer vorsichtiger werden allen offenbar. Umso wichtiger ist jede Maßnahme, die die monetären Bedingungen für die Volkswirtschaft und die Unternehmen verbessert. Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle anzumerken, dass der gestrige Zinsschritt der Europäischen Zentralbank überfällig war und dass es uns gefreut hätte, wenn er früher gekommen und mutiger ausgefallen wäre. ({2}) Deutschland bringt insbesondere wegen seiner sehr niedrigen Preissteigerungsraten auch jetzt noch, nach diesem Zinsschritt, ein deutliches Stabilitätsopfer für den Euro und - das muss man deutlich sagen - das geht zulasten der Dynamik und der Wachstumsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft. Das werden wir auch über öffentliche Förderkredite nicht ausgleichen können. ({3}) Auch dieser Schritt der Europäischen Zentralbank wird die tief greifenden Veränderungsprozesse in denen sich die Angebotsseite des Markts für Finanzierungen befindet, nicht aufheben können. Der scharfe Wettbewerb im deutschen Bankwesen, das im Vergleich anderer Länder ein dichtes Zweigstellennetz mit hohen Kosten hat, ist die eine Seite der angespannten Lage. Die andere Seite ist, dass die hohen Gewinne der Boom-Phasen in den 90er-Jahren nicht zur Lösung der Strukturprobleme der Banken genutzt worden sind. Stattdessen wurden schwerwiegende Fehler gemacht, die nun voll auf den Bilanzen lasten. Im Kreditgeschäft mussten die Banken steigende Ausfälle verkraften. Es schlägt sich auch in einer sehr viel restriktiveren Kreditvergabe nieder. Das bedeutet, dass die Kreditinstitute die Risikostruktur ihrer Ausleihungen massiv verbessern und ihre Kreditportfolios insgesamt sehr deutlich herunter fahren - zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen, die deutliche Einschränkungen bei der Vergabe und strengere Anforderungen bei der Offenlegung ihrer Geschäfte und beim Controlling hinnehmen müssen. Auch ihre Eigenkapitalausstattung wird unerbittlich und viel kritischer als bisher geprüft. Die Risikoprämien in den Zinskonditionen steigen ebenfalls deutlich. Die Zeiten der Durchschnittskalkulation im Kreditgeschäft sind vorbei. Auch auf der Kapitalmarktseite vollziehen sich große Veränderungen, die die Finanzierungsbedingungen nicht positiv für den gesamten deutschen Mittelstand beeinflussen werden. Ein wichtiger und hilfreicher Schritt in diesem Prozess ist die Disintermediation: Ein Teil des Bankgeschäfts ist nicht mehr Kreditgeschäft, sondern Investmentbanking; ein Teil der Zinsgewinne wird Provision. In dieser Zeit gravierender Strukturveränderungen der Finanzsphäre hat die neu fusionierte Förderbank gewichtige bzw. neue Aufgaben: Es geht erstens darum, die beim Wiederaufbau, bei der Wachstumsfinanzierung Westdeutschlands und beim Prozess der deutschen Einheit bewährten Förderinstrumente in schwierigen Zeiten fortzuführen und auch weiterzuentwickeln. ({4}) Zum Zweiten muss die Förderbank den Sparkassen und Banken helfen, sich zu refinanzieren und so den Mittelstand weiter angemessen zu finanzieren. Gerade dann, wenn die Kreditkanäle - darauf weist der Internationale Währungsfonds hin - nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit unter Stress stehen, ist es wichtig, mit Instrumenten wie Globaldarlehen und Verbriefungsprogrammen gerade den mittleren und kleineren Instituten gangbare Wege zur Ausweitung ihrer Kreditausreichungsmöglichkeiten anzubieten. ({5}) Die Senkung der Bearbeitungs- und Prozesskosten sowie die Herstellung größerer Transparenz bei den Förderprogrammen werden bei der neu fusionierten Bank jetzt schon angegangen - Gott sei Dank im Vorgriff auf das Gesetz, das wir heute verabschieden. Das ist notwendig. Ich freue mich, dass alle diese Schritte von allen Fraktionen in diesem Haus voll und ganz mitgetragen werden. Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden; aber es bleibt auch noch vieles zu tun, gerade bei der Beteiligungsfinanzierung, die neben dem Bankkredit die wichtigste Finanzierungsquelle kleinerer und mittlerer Unternehmen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich zum Abschluss ein warnendes Wort sagen. Wir haben im Unterausschuss „ERP“ heute früh die Probleme der Beteiligungsfinanzierung diskutiert. Vieles, was mit hohen Risiken verbunden ist, wird nicht zulasten des Bundeshaushalts finanziert werden können. Wenn die Eigenkapitalausstattung vieler kleiner und mittlerer Unternehmen so bleibt, wie sie ist, dann muss man sich auch fragen, ob das deutsche Steuer-, Unternehmens-, Bilanz- und Insolvenzrecht nicht dazu führt, dass Vermögenswerte nicht als Eigenkapital in Unternehmen gesteckt, sondern in der privaten Sphäre gehalten werden. ({6}) Dies werden die Förderbanken durch die ihnen zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel nicht ausgleichen können. Wir werden uns vielmehr überlegen müssen, wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe von Gesetzen zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes auf den Drucksachen 15/743, 15/902 und 15/949. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1127, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Ich stelle fest, dass dieser Gesetzentwurf auch in dritter Lesung einstimmig angenommen ist. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1127 empfiehlt der Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 20 b: Abstimmung über die von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe von Gesetzen zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung, Drucksachen 15/537 und 15/900. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1042, die genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt dazu getrennte Abstimmungen. Wir kommen deshalb zunächst zu Art. 1 bis Art. 3 in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die diesen Artikeln zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind Art. 1 bis Art. 3 mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. Wir kommen zu Art. 4 in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Damit ist dieser Artikel einstimmig angenommen. Wir kommen zu Art. 5 bis 9 sowie zur Einleitung und Überschrift in der Ausschussfassung. Diejenigen, die diesen Artikeln und diesen Teilen des Gesamtpakets zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind auch diese Artikel sowie Einleitung und Überschrift mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf im Ganzen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1116? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1046? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Auch dieser Entschließungsantrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion mehrheitlich abgelehnt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht ({0}) - Drucksache 15/932 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses Jahr ist ein besonderes Jahr. Wir begehen in diesem Jahr ein Jubiläum, und zwar das Jubiläum des Volksaufstandes in der damaligen DDR am 17. Juni 1953. Ich möchte heute als Einstieg Ihre Aufmerksamkeit auf die damaligen Akteure lenken. Wer waren denn die Leute, die damals auf der Stalinallee in Berlin, aber auch in vielen anderen Städten Ostdeutschlands auf die Straße gegangen sind, zuerst die Rücknahme der Normerhöhungen und dann den Rücktritt der Regierung gefordert haben? Das waren Menschen, die damals schon einiges hinter sich hatten: Sie sind mit 18 oder 20, etliche schon mit 16, in den Zweiten Weltkrieg gejagt worden und haben dort Dinge erlebt, die sie im Laufe ihres Lebens kaum verarbeiten konnten. Sie haben Tod und Elend gesehen und kamen, als sie nach Deutschland zurückkehrten, in ein Land, in dem alles in Trümmern lag. Die Leute, die aus der Gefangenschaft wieder in ihre ostdeutsche Heimat zurückgekehrt sind, hätten natürlich auch gern ein neues Leben nach den Regeln einer sozialen Marktwirtschaft begonnen. Es war ihnen nicht möglich. Sie sahen sich mit einer ihnen schon bekannten Situation konfrontiert: Eine beginnende totalitäre Diktatur nahm ihr Leben immer mehr in Besitz. Nun haben diese Menschen, die in ihrem Leben schon Kämpfe ausgefochten hatten, die wir uns alle wahrscheinlich nicht vorstellen können, erneut gewagt zu sagen: Nicht mit uns! Wir stellen uns diesen Dingen entgegen! - Sie sind auf die Straße gegangen und ihr Aufstand ist schließlich von der Staatsgewalt blutig niedergeschlagen worden. Das geschah am 17. Juni. Ich habe vor diesen Menschen einen hohen Respekt. ({0}) Es handelt sich hierbei um die Generation unserer Eltern, denen wir alles, was wir sind, zu verdanken haben. Meine Damen und Herren, wie ist es dann weitergegangen? Diejenigen, die es damals gewagt hatten, der Staatsmacht zu widersprechen, mussten nicht nur die Konsequenz tragen, vielleicht zurückgeprügelt zu werden, was schon schlimm genug gewesen wäre. Nein, in aller Regel hatten sie Konsequenzen in Bezug auf die Ausbildung zu ertragen: Sie sind von den Schulen und Universitäten geflogen. Jemand, der gehofft hatte, Arzt oder vielleicht einmal Klinikdirektor zu werden, konnte vielleicht nur noch Krankenpfleger werden. Der Kollege, der nicht mit auf die Straße gegangen ist, der Kommilitone, der auf diese Weise seinen Studienplatz behalten konnte, hat einen seiner Begabung entsprechenden Beruf ergreifen und ausüben können. Es sei ihm herzlich gegönnt. Jetzt hat er auch die entsprechenden Rentenansprüche. Der andere hingegen, der Krankenpfleger geworden ist, der einen Einsatzwagen gefahren hat, der seine Lebensperspektiven drastisch zurückschneiden musste, der seiner Familie nicht das bieten konnte, was er als Arzt hätte bieten können, musste bei seiner Verrentung feststellen, dass ihm die Demokratie auch im Alter nicht das zurückgibt, was er durch seine Handlungen damals in die Demokratie einbringen wollte. Es ist keine Frage schlechter oder guter ökonomischer Zeiten, ob man eine solche Ungerechtigkeit wieder bereinigt; es ist eine Frage der Selbstachtung von Demokratie und Demokraten. ({1}) Der Herr Bundespräsident hat vor kurzem eine Briefmarke vorgestellt, die an den 17. Juni erinnern soll. Er hat sinngemäß gesagt: Viele Opfer des DDR-Regimes haben nicht bekommen, worauf sie Anspruch gehabt hätten. Das sind die Worte von Bundespräsident Rau. Er hat Recht. ({2}) Das ist auch den Kollegen im Deutschen Bundestag von Anfang an bewusst gewesen. Aus diesem Grunde wollte man zunächst einmal das Ausmaß der Repression in der damaligen DDR zweifelsfrei feststellen. Deshalb war es richtig, dass eine Enquete-Kommission einberufen wurde. Sie hat als Ergebnis ihrer Arbeit gefordert, dass die personelle Würde der von Unrecht und Leid Betroffenen wiederhergestellt wird; dazu gehören sowohl die öffentliche Würdigung der Opfer als auch die Notwendigkeit, ihnen, so irgend möglich, nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das hat der Deutsche Bundestag so beschlossen. ({3}) Meine Damen und Herren, nach 13 Jahren Wiedervereinigung hat sich der Bundespräsident zu diesen Worten veranlasst gesehen. Wir müssen nach 13 Jahren deutscher Einheit feststellen, dass die Folgen der 40-jährigen Repression insbesondere im sozial- und rentenrechtlichen Bereich für die Verfolgten nach wie vor spürbar sind und dass diese Defizite dann besonders peinlich sind, wenn man sie mit der relativen Besserstellung derjenigen vergleicht, die dieses System maßgeblich mitgetragen haben. Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht die Vergangenheit bis ins Kleinste aufrollen. Aber ich will hier eines sagen, vor allem an die Adresse unserer sozialdemokratischen und grünen Kollegen: Die CDU/CSUFDP-Regierung hat einige Schritte unternommen, um dieses Unrecht zu beseitigen. Es ist aber nicht vollständig gelungen. Ich betrachte das als Defizit. Wenn Sie kritisieren, dass wir das zu unserer Zeit nicht geschafft haben, dann kritisieren Sie das zu Recht. Ich möchte auch nicht, dass unsere Suche nach dem richtigen Weg in einen Schlagabtausch zwischen der Regierungskoalition und den Oppositionsfraktionen ausartet. Es ist richtig: Die Oppositionsfraktionen haben die Regierung zu kontrollieren und Alternativen vorzulegen. Doch in diesem Punkt wollen wir Sie nicht kontrollieren und auch keine Alternative vorlegen, sondern wir wollen Sie einladen, mit uns gemeinsam eine Lösung zu finden für Demokraten wie wir, die etwas für diesen Staat getan haben. Sie sollen sich nicht länger zurückgesetzt, sondern anerkannt und angenommen fühlen. Wir laden Sie ein, gemeinsam mit uns eine Lösung dafür zu finden. ({4}) Wir bitten Sie, die Tür für ein gemeinsames Handeln bei dieser Einbringungsdebatte nicht zuzuschlagen. Es ist keine saubere Argumentation, wenn Sie sagen: Das Gleiche haben wir vor etlichen Jahren von der Regierung Kohl verlangt, aber die Regierung Kohl hat uns das verweigert. Deswegen verweigern wir jetzt eine Mitarbeit, bei dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion. Mit dieser Argumentation würden Sie einräumen, dass Sie schon damals nicht aufrichtig gewesen sind. ({5}) Es geht nicht um die Anliegen der Opposition und auch nicht um die Anliegen der Regierung. Es geht um die Anliegen der Benachteiligten des DDR-Regimes. ({6}) Wir legen im Prinzip nichts Neues vor; denn wir haben über dieses Thema in diesem Haus schon sehr oft gesprochen. ({7}) Der Weg, der bisher beschritten worden ist, ist nicht falsch gewesen. Mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wurde das gröbste Unrecht geheilt. Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das ebenfalls unter der CDU/CSU-FDP-Regierung verabschiedet wurde, hat etliche Rehabilitierungsmöglichkeiten geschaffen. All das waren Schritte in die richtige Richtung. Alle zu Zeiten der DDR erworbenen Sozialversicherungsansprüche, die jedermann erwerben konnte - ich nenne beispielsweise die freiwillige Zusatzrente - wurden ausnahmslos und in vollem Umfang übertragen. Allerdings mussten die Verfolgten mit ansehen, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1999 umgesetzt wurde: Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes wurden die Ansprüche und Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR zugunsten bestimmter Personenkreise in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschlands überführt. Damit wurden Rentenansprüche und Anwartschaften für Repräsentanten der DDR, die andere Menschen unterdrückt haben - ich nenne beispielsweise Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit -, angehoben. Das ist die Realität. ({8}) Wenn Sie es ernst meinen, dann schließen Sie mit uns gemeinsam diese Gerechtigkeitslücke. ({9}) Wir haben die Chance dazu. Lieber Herr Kollege Hacker, Sie sagen, diese Maßnahmen würden nicht in die Rechtssystematik passen. Dann lassen Sie uns doch gemeinsam überlegen, wie wir das ändern können. Wir sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Es ist dringend notwendig, diesen immer noch bestehenden Skandal zu beenden. Die Opfer der ehemaligen DDR dürfen nicht zurückgesetzt werden. ({10}) Mit unserem Gesetzentwurf unternehmen wir den Versuch, den jetzigen Zustand zu ändern. Es geht nicht mehr um eine Ehrenpension - das wäre wirklich vermessen -, sondern es geht um die Entschädigung von erlittenem Unrecht. Wir wollen versuchen, das zu erreichen. Zum einen wollen wir eine monatliche Entschädigung für politische Verfolgung oder berufliche Beeinträchtigung, die nach der Zeitdauer des Unrechts gestaffelt ist. Zum anderen wollen wir eine Kapitalentschädigung, mit der die Tatsache berücksichtigt wird, dass die Haft in der DDR nicht mit einer Haft in der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen war. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Lassen Sie uns einen Weg finden, diese Ansprüche zu befriedigen. Wenn wir es nicht tun, dann werden die Opfer der DDRDiktatur, die die Feiern zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 verfolgen, zu der Auffassung kommen, dass die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland unaufrichtig ist, weil das demokratische Engagement dieser Menschen nicht anerkannt wird. Wir können nicht auf der einen Seite den 17. Juni als positiven Teil unserer Geschichte betrachten, aber auf der anderen Seite nicht bereit sein, die entstandenen erheblichen Benachteiligungen im Rahmen unserer Möglichkeiten auszugleichen. Ich bedanke mich, dass Sie mir zugehört haben. Ich gebe die Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung nicht auf. Die Türen sind offen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Karsten Schönfeld, SPD-Fraktion.

Karsten Schönfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003229, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 17. Juni erinnert uns daran, mit welchem Mut Menschen in der damaligen DDR für ihre Freiheit gekämpft haben und mit welcher Brutalität das Regime zurückgeschlagen hat. Der 17. Juni steht als Tag der Erinnerung stellvertretend für die vielen Tausend Menschen, die in den Jahren der SED-Diktatur Repression und Verfolgung ausgesetzt waren. Mit der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands galt es, auch dieses Stück deutscher Geschichte aufzuarbeiten. Es ging um eine schwierige Aufgabe: zum einen darum, Verantwortliche eines verbrecherischen Regimes zur Rechenschaft zu ziehen, zum anderen aber auch darum, Opfer dieses Regimes für das erlittene Unrecht zu rehabilitieren und dafür zu entschädigen. Seit 1992 ist eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht worden, die diese Entschädigung ansatzweise regeln. Es begann - darin sind wir, so glaube ich, einer Meinung - mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz aus dem Jahre 1992, mit dem erste Schritte unternommen wurden. In dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ging es darum, Opfern von Verwaltungswillkür in der DDR einen Weg zu eröffnen, sich vom Makel persönlicher Diskriminierung zu befreien und soziale Ausgleichsleistungen in Anspruch zu nehmen. In diesem Gesetz wurde ebenfalls die berufliche Rehabilitierung geregelt. Sie hatte zum Ziel, schwerwiegende Nachteile zu lindern, die ein Betroffener aufgrund seiner Verfolgung im Beruf oder in der Ausbildung erlitten hatte. Sicherlich ist es schwer, das alles ganz genau zu regeln. Herr Kollege Vaatz, es ist Spekulation, ob jemand wirklich Arzt oder Chefarzt oder ein Ingenieur Leiter eines Betriebes geworden wäre. Vieles in diesem Bereich kann man heute nicht in Gesetzen regeln. Aber es ging immer - das war der Ansatz - um Rehabilitation von Unrecht und um Ersatz von entstandenem Schaden in persönlicher, beruflicher und auch gesundheitlicher Hinsicht. Diesen Gedanken von Rehabilitation und Entschädigung hat die SPD-geführte Bundesregierung konsequent fortgesetzt und weitergedacht, immer mit dem Ziel, gerechte Lösungen für die Opfer des SEDRegimes zu finden. Mit dem Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften, das seit 1. Januar 2000 in Kraft ist, haben wir die Kapitalentschädigung ehemaliger politischer Häftlinge auf einheitlich 600 DM pro Haftmonat erhöht und damit eine Ungleichbehandlung zwischen Opfern, die später in den Westen gegangen sind, und denjenigen, die in der DDR geblieben sind, beseitigt. Zudem wurde der Rechtsanspruch der nächsten Angehörigen von Todesopfern neu geregelt. Sie erhalten nun Leistungen der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge, ohne dass, wie es bisher üblich war, ihre wirtschaftliche Situation überprüft wird. Außerdem haben wir die Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden verbessert. Besonders wichtig ist in meinen Augen auch die Weiterentwicklung der beruflichen Rehabilitation. Ich denke, all das muss man im Blick behalten und dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn es darum geht, Ihren Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der Union, heute zu bewerten. Das Thema ist zu wichtig und zu ernst, um es parteipolitisch zu missbrauchen. Leider - das ist mein Eindruck - ist es Ihnen mit diesem Entwurf nicht ganz gelungen, das nicht zu tun. Es ist natürlich leicht, die Forderung nach einer Opferpension aufzustellen. Hier spielen Emotionen, Hoffnungen - leider auch falsche Hoffnungen - eine große Rolle. Ihr Gesetzentwurf ist weder gerecht noch folgt er der Logik des Systems der Rehabilitation und Entschädigung, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik praktiziert wird. Die Bundesrepublik hat alle Opfer von Verfolgung - sowohl zur NS-Zeit als auch in der DDR - mit den gleichen Rechten ausgestattet: Rückübertragung und Rückgabe von Vermögenswerten, Erstattung von Geldstrafen und Verfahrenskosten, Kapitalentschädigung für Freiheitsentzug, Unterstützungsleistungen und Ausgleich von Nachteilen in der Rentenversicherung. Eine Opferpension für die Verfolgten des SED-Regimes wäre demgegenüber ungerecht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Karsten Schönfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003229, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe nur wenige Minuten Redezeit und möchte meine Rede im Zusammenhang vortragen. Ihr Gesetzentwurf ist auch aus einem anderen Grund ungerecht. Sie formulieren: Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet erhalten auf Antrag eine Opferpension ... bei einer zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung von insgesamt mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren in Höhe von 150 Euro monatlich. Ich frage Sie: Was passiert mit denen, die nur ein halbes Jahr oder zehn Monate in Haft waren? Die Dauer der Verfolgung sagt oft nichts darüber aus, wie die Verfolgten in DDR-Zuchthäusern gelitten haben. Des Weiteren gewährt Ihr Gesetzentwurf Inhaftierten wie Verfolgten gleichermaßen Ansprüche. Sie setzen jemanden, der wegen Verfolgung berufliche Nachteile erlitten hat, mit jemandem gleich, der inhaftiert wurde. Sie werfen damit verschiedene Opfergruppen - sprichwörtlich gesagt - in einen Topf. Ich sage noch einmal abschließend: Die Menschen, die sich in der DDR für Freiheit und gegen die Diktatur eingesetzt haben, verdienen nicht nur unseren Respekt, sondern haben einen Anspruch auf eine entsprechend gerechte Entschädigung. Aber das kann nicht so passieren, wie Sie es hier wieder vorgetragen haben. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort die Kollegin Silke Stokar für Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre haben wir gebraucht, um einen Weg zu finden, den 17. Juni 1953 gemeinsam angemessen und öffentlich zu würdigen. Wir haben eine spannende Diskussion über die Bewertung dieses Datums. Manche reden von einer demokratischen Erhebung, manche gar von einer sozialdemokratischen Erhebung. Vielleicht war es auch ein revolutionärer Arbeiteraufstand. Es finden viele spannende Veranstaltungen und Diskussionen statt. Ich denke, dass auch dies eine Form der Würdigung der Menschen ist, die damals nicht nur den Mut hatten, gegen die Arbeitsnormen aufzutreten, sondern die für Demokratie und Freiheit kämpften und mit der Forderung nach Freiheit für die politischen Gefangenen, die es auch schon vor dem 17. Juni gab, auf die Straße gingen. Es ist hier gesagt worden: Ihren Mut mussten diese Menschen teuer bezahlen. Das Ergebnis waren zerstörte Lebensläufe und zerstörte Gesundheit durch die Unrechtshaft, die sie erleiden mussten. Es fällt mir immer wieder schwer, zu diesem Thema eine Rede zu halten. Ich habe auch die vergangenen Auseinandersetzungen um das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz nur nachlesen können. Ich weiß, dass fast alle Argumente mehrfach ausgetauscht worden sind. Ich möchte das nicht fortsetzen, weil es den Opfern nicht gerecht würde, wenn wir uns gegenseitig die Versäumnisse der Vergangenheit vorwerfen würden. Es würde den Opfern ebenso nicht gerecht, wenn Sie von der Opposition der rot-grünen Bundesregierung vorwerfen würden, dass die Schritte, die wir gemacht haben, zu klein gewesen sind. Ich würde in einer Rede lieber ausführen, dass wir über die finanziellen Ressourcen für Pensionen verfügen. Zur Ehrlichkeit der Debatte gehört für mich, zu sagen: Ja, wir erkennen die Opfer an. Ich habe wirklich großes Verständnis für die vielen enttäuschten und verbitterten Menschen, die zu mir und meiner Fraktion kommen und die Forderung nach Ehrenpensionen aufrechterhalten. Wir haben mit der Stiftung einen finanzierbaren und verlässlichen Weg eingeschlagen; das zu sagen gehört ebenfalls zur Ehrlichkeit der Debatte. Rot-Grün hat in den vergangenen Jahren mit mehreren Nachbesserungsgesetzen zumindest den Versuch unternommen, Härtefälle, die in der Praxis entstanden sind, abzumildern. Die Ergebnisse sind nicht befriedigend und können auch nicht befriedigend sein. Aber Ihre Forderungen - das wissen Sie sehr genau - sind nicht finanzierbar. Sie wollten von uns hören, mit welchen weiteren Vorstellungen wir in die Beratung gehen. Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die Antragsfristen verlängern und die Verfahren zur Anerkennung gesundheitlicher Schäden - darüber gab es Klagen - überprüfen. Wir werden permanent die Härtefälle überprüfen, weil wir dafür sorgen wollen, dass die Opfer nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind. ({0}) - Meine Redezeit ist zu Ende. Ich möchte Ihre Fragen im Innenausschuss - dahin gehören sie - beantworten und werde dort auch meine zahlreichen Fragen an Sie richten. Danke schön. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorwegzunehmen: Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf der Union vom Grundsatz her. ({0}) Die Opfer politischer Verfolgung in der SBZ bzw. der DDR warten bis zum heutigen Tag auf eine angemessene finanzielle Wiedergutmachtung für ihr erlittenes Schicksal. Wir als FDP haben bereits in der alten Koalition mit Ihnen, meine verehrten Kollegen von der Union, versucht, den Opfern der politischen Verfolgung zu helfen. Aber leider - das muss ich Ihnen ins Stammbuch schreiben - sind unsere Bemühungen immer an einem, nämlich an Herrn Dr. Waigel, gescheitert. Umso mehr freut es uns, dass Sie nun von sich aus die Initiative ergriffen haben. Dass hieran das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 28. April 1999 einen gewissen Anteil hatte, als es zu den Fragen der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschlands Stellung nahm, sollten wir an dieser Stelle der Ehrlichkeit halber sagen. Wir Liberale sind uns völlig einig: Der Gesetzgeber muss im Hinblick auf den bevorstehenden 50. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 endlich die herausragende Bedeutung des Einsatzes der Betroffenen bei ihrem Widerstand gegen die zweite deutsche Diktatur würdigen. ({1}) Wir müssen endlich die gesellschaftliche Bedeutung dieses Einsatzes für eine rechtsstaatliche und freiheitliche Demokratie würdigen. Ziel muss es sein, gerade die Wichtigkeit dieses mutigen Eintretens auch für unsere heutige Demokratie im wiedervereinigten Deutschland herauszustellen. Der von diesen Menschen bewusst gewagte Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie und die Inkaufnahme erheblicher sozialer Nachteile muss vom wiedervereinigten deutschen Staat endlich angemessen gewürdigt werden. Ob dies in der Art und Weise geschehen muss, wie es im Gesetzentwurf von CDU/CSU vorgeschlagen wird, wird man im Innen- und Rechtsausschuss noch diskutieren. Wir sollten uns im Rechtsausschuss, der sich feder4156 führend mit der Thematik zu beschäftigen hat, darüber Gedanken machen, wie die Betroffenen möglichst unbürokratisch an die ihnen so lange vorenthaltene Rente gelangen können. Ob die Staffelung des Rentensatzes der richtige Weg ist, darüber müssen wir diskutieren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hacker für die SPD-Fraktion.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Vorsitzender! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfes eingehe, möchte auch ich noch einmal meine Gedanken in das Jahr 1953 schweifen lassen. In wenigen Tagen jährt sich zum 50. Mal der Tag, an dem Männer und Frauen in Ostberlin, Leipzig, Chemnitz und anderen Städten auf die Straße gegangen sind und sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt haben. Ich glaube, viele von ihnen haben schon damals den Gedanken an die deutsche Einheit im Herzen und im Kopf getragen. In der friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 und in der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 hat sich dieser historische Auftrag für uns, die wir das SED-Regime nicht wollten, erfüllt. Dafür haben sich auch viele Mitglieder dieses Hauses eingesetzt. Heute gilt unser Gedanke in erster Linie den Männern und Frauen, die am 17. Juni 1953 auf der Straße gegen die SED-Diktatur und die Sowjets demonstriert haben. Die Politik in Deutschland hatte und hat den moralischen Auftrag, diese Opfer nicht zu vergessen. Die letzte demokratisch gewählte Volkskammer hatte sich dieser Thematik gestellt. Wir haben diese Thematik anschließend sehr zögerlich und mit einschränkenden Vorgaben der damaligen Bundesregierung diskutiert. Herr Funke, ich wundere mich ein wenig darüber, dass Sie heute als Verantwortliche für diese auch damals schon erkennbar unbefriedigende Gesetzgebung die Union nennen. Bei Ihnen war zwar eine größere Bereitschaft zur Öffnung zu erkennen. Aber auch Ihnen muss ich ins Stammbuch schreiben, dass Sie sich nicht konsequent genug eingesetzt haben. Ich denke hier nur an die erniedrigende Diskussion über die Zwangausgesiedelten, die von FDP und Union nicht in das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz aufgenommen werden sollten. ({0}) Wir haben es am Ende anders gemacht; aber zuvor gab es schwierige und quälende Diskussionen. Wir dürfen das heute nicht vergessen. Mein zentraler Vorwurf geht dahin, dass bei der damaligen Gesetzgebung eine Spaltung der Opfer nach ihrem Wohnsitz betrieben worden ist. Diejenigen, die freigekauft wurden, wurden anders behandelt als diejenigen, die in der DDR geblieben sind. Herr Funke, die geringe Kapitalentschädigung, die Sie mit der Union eingeführt haben, war doch ein Skandal. Die Entschädigung belief sich auf 300 DM für die im Westen lebenden und auf 550 DM für die in der DDR verbliebenen Opfer. Diese Beträge lagen unterhalb der Beträge, die jemand in der Bundesrepublik nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bekommt. Das Beispiel Stoph war himmelschreiend. Deswegen war Ihre Gesetzgebung so schlecht. Das muss man hier einmal ansprechen. ({1}) Sie haben überhaupt nicht an die Angehörigen derjenigen gedacht, die in den Gefängnissen im Rahmen ihrer politischen Haft umgekommen sind bzw. wenige hundert Meter von hier entfernt in der Spree erschossen worden sind. ({2}) - Lieber Herr Büttner, das will ich Ihnen sagen. Diese Mängel, die Sie produziert haben und die bei den Opfergruppen berechtigterweise zu Frustration und Enttäuschung geführt haben, haben wir beseitigt. ({3}) Wir haben mit der Novelle 1999 eine einheitliche Kapitalentschädigung in Höhe von 600 DM für alle eingeführt. Ich wiederhole noch einmal die Position der SPD, die lautet: Ein Jahr Bautzen ist ein Jahr Bautzen. Da kann man nicht danach differenzieren, ob die Betreffenden später in Bochum oder in Dresden gelebt haben. ({4}) Wir haben Ihnen immer wieder deutlich gemacht, welchen Widerspruch Sie produziert haben mit der milliardenschweren vermögensrechtlichen Regelung auf der einen und den Defiziten in der Entschädigungsgesetzgebung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze auf der anderen Seite. Wir haben für die Menschen, die Angehörige verloren haben, etwas getan. Diese haben heute Zugang zu Entschädigungsleistungen. Wir haben für eine bestimmte Gruppe von Opfern der Nachkriegszeit, die deutschen Zwangsarbeiter, etwas getan. Zum Thema Entschädigung der deutschen Zwangsarbeiter haben Sie gestern einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir mit der Novelle von 1999 gerade für die deportierten Zivilisten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Entschädigungsleistungen eingeführt haben, die von Ihren Vorstellungen gravierend abweichen. Wir haben die Höhe der Fondsbeiträge für die Stiftung für ehemalige politische HäftHans-Joachim Hacker linge verfünffacht und haben in den Folgejahren jährlich - auch im letzten Jahr - Millionenbeträge für die Stiftung bereitgestellt. Das sind die Tatsachen. An diesen Tatsachen dürfen Sie nicht vorbeigehen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Funke?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, Herr Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nachdem Sie ausführlich dargelegt haben, was Sie in den letzten Jahren im Einzelnen alles getan haben, muss ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, im Rahmen dieses Gesetzes, dessen Entwurf Ihnen vorliegt, für die Betroffenen konkret etwas zu tun?

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Funke, auf diese Frage kann ich Ihnen klipp und klar antworten: Wir sind bereit, etwas zu tun; das hat eben schon der Vorredner aus meiner Fraktion gesagt. Wir werden die Antragsfristen verlängern. Wir werden darauf achten, dass die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt bekommt, um zu verhindern, dass die Opfer in die Sozialhilfe abrutschen. Wir haben nach dem Beruflichen und nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz Ausgleichsleistungen und Unterstützungsleistungen vorgesehen. Mein Appell richtet sich heute an die Opferverbände und an diejenigen, die persönlich betroffen sind, jetzt ihre Anträge zu stellen und die Antragsmöglichkeiten auch auszuschöpfen. Noch immer bekommen wir jährlich aus den neuen Ländern Tausende von Anträgen auf Rehabilitierung und Entschädigung. Wir wollen, dass das Geld fließt. Wir werden denjenigen, die es, aus welchen Gründen auch immer - Traumatisierung und andere Gründe spielen eine Rolle -, nicht schaffen, in diesem Jahr einen Antrag zu stellen, durch eine mehrjährige Verlängerung der Antragsfrist die Chance geben, auch weiterhin Anträge stellen zu können. Die Stiftung ist bei uns in guten Händen. Wir setzen uns dafür ein, dass diese Stiftung ausreichend ausgestattet wird. Einen Punkt, der heute schon angesprochen wurde, will ich verdeutlichen: So sehr wir uns dagegen gewehrt haben, dass Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden, so sehr muss ich mich dagegen wehren, dass wir durch dieses Gesetz, wenn wir es umsetzen, eine Spaltung der Opfer des NS-Regimes und der SED-Opfer herbeiführen. Das ist vielleicht nicht gewollt, Herr Vaatz, ist aber Inhalt Ihres Vorschlages. Sie können nicht verlangen, dass wir für eine solche Ungleichbehandlung von Menschen, die in NS-Haft, die in Konzentrationslagern waren, die Hand heben. ({0}) Wir können die Opfer zweier Diktaturen unserer jüngsten deutschen Geschichte nicht mit so unterschiedlichen rechtlichen Anspruchsgrundlagen ausstatten. Ich empfehle Ihnen dringend, sich dieser Problematik bewusst zu werden und das bei den weiteren Beratungen im Ausschuss zu berücksichtigen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, ich mache Sie noch einmal auf Ihre Redezeit aufmerksam.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl, Herr Präsident. Abschließend möchte ich sagen: Herr Vaatz, ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie mit mir, jedenfalls außerhalb des Plenums, aber auch hier, bisher sachgerecht diskutiert haben und dass Sie nicht versucht haben, diese Bühne zu einem Tribunal umzugestalten. ({0}) Ich will Ihnen aber sagen: Versuchen Sie nicht, die Politik gegenüber der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen auf dem Rücken der Opfer der beiden deutschen Diktaturen auszutragen! ({1}) Das haben die Betroffenen nicht verdient. Bleiben Sie in der Bewertung sachlich! Ich erinnere noch einmal daran: Sie müssen diese beiden Opfergruppen aus dem vorhergehenden Jahrhundert gleich behandeln. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes - Drucksache 15/810 ({0}) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes - Drucksache 15/1067 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - Drucksache 15/1121 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Bülow Doris Meyer ({3}) Angelika Brunkhorst Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das Wort dem Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über eine zielgenaue Lösung für Betriebe, die in besonderer Weise stromintensiv sind und deshalb durch die Umlage auf erneuerbare Energien bestimmte zusätzliche Kosten haben. Dabei darf sich allerdings nicht der Eindruck verfestigen, dass der Strom in Deutschland immer teurer geworden sei, weshalb die deutsche Industrie einen Wettbewerbsnachteil habe. Dies ist definitiv falsch. Die von der alten Bundesregierung eingeleitete und damals von meiner Fraktion - Michaele Hustedt vorneweg - immer unterstützte Liberalisierung der Strommärkte hat gerade für die Industriekunden in Deutschland beachtliche Folgen gehabt. Zwischen 1995 und 2002 ist der Industriestrom in Deutschland um gut ein Drittel billiger geworden. In diesem Zeitraum sanken die Industriestrompreise um 30 Prozent. Innerhalb der EU waren es nur 9 Prozent. Zum Vergleich: Die von vielen immer hoch angesehenen USA hatten im gleichen Zeitraum eine Steigerung von 7 Prozent zu verzeichnen. Das heißt, wir können feststellen, dass wir es mit einer Situation zu tun haben, in der sich die Wettbewerbssituation der deutschen Industrie bezogen auf die Industriestrompreise auch und insbesondere im Vergleich zu ihren Wettbewerbern insgesamt drastisch verbessert und nicht verschlechtert hat. Man kann das auch in Zahlen ausdrücken: Kostete die Kilowattstunde Industriestrom im Jahre 1995 im Schnitt noch 7,6 Cent, so kostet sie heute 5,3 Cent. Das alles gilt trotz des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, der KWKUmlage und der Stromsteuer im Rahmen der ökologischen Steuerreform. Ich drücke es anders aus: Für die Industrie stehen jedem Euro durch die Verteuerung des Stroms durch diese Umlagemaßnahmen 8 Euro infolge der Verbilligung des Stroms gegenüber. Wenn ich die Gesamtbetrachtung für die Industrie an dieser Stelle mit diesem Nachdruck unterstreiche, so will ich dabei nicht verkennen, dass es einzelne Unternehmen geben kann, die mit dieser Entwicklung auch negative Erfahrungen gemacht haben. Hierfür haben wir mit dem Vorschaltgesetz eine Lösung gefunden, die besonders stromintensiven Betrieben im Einzelfall nützt. Bei der Betrachtung dieser Vorgänge ist uns allerdings auch aufgefallen, dass die von den Netzbetreibern umgelegten EEG-Umlagen außerordentlich uneinheitlich ist. Die Beträge belaufen sich auf 0,2 Cent bis 0,66 Cent. In Wirklichkeit liegt der Betrag bei ungefähr 0,29 Cent. Das bedarf zweier Regelungen: Erstens. Bei einer endgültigen Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes müssen wir klarstellen, was umlagefähige Kosten überhaupt sind. Es kann nicht sein, dass ohnehin vorhandene Netzkosten kurzerhand umgelegt und auf diese Weise nicht nur den erneuerbaren Energien in die Schuhe geschoben, sondern auch in den Stahlhütten und in den Aluminium- und Kupferwerken abkassiert werden. Das können und werden wir nicht akzeptieren. ({0}) Zweitens. Es kann auch nicht sein, dass die Verfügung über das Netz die letzte Schranke für den Wettbewerb auf dem Strommarkt ist. Mittlerweile liegen mehrere Urteile gegen diverse Stadtwerke vor. In drei Fällen geht es um den Missbrauch der Netzhoheit. Das Landgericht Berlin hat festgestellt, dass die Verbändevereinbarung über den Netzzugang gegen das Kartellrecht verstößt. Diese Urteile liegen auf dem Tisch. Das heißt, wir müssen sicherstellen, dass es im Netz tatsächlich zu Wettbewerb kommt. Dies wird uns nur dann gelingen, wenn wir das umsetzen, wozu sich die Bundesregierung ausdrücklich verpflichtet hat, nämlich eine Wettbewerbsbehörde einzurichten. Das ist der Grund für unser Vorschaltgesetz, das für ein Jahr gilt. In der Kombination mit der Verabschiedung einer entsprechenden Verordnung über eine Wettbewerbsbehörde und der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes werden wir diese Probleme, nämlich den Missbrauch von Marktmacht zulasten der Industrie und der erneuerbaren Energien, gemeinsam angehen. ({1}) Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Diejenigen, die meinen, es sei nun genug für die erneuerbaren Energien getan, muss ich darauf hinweisen: Heute sparen die erneuerbaren Energien 50 Millionen Tonnen CO2 ein. Legt man die Nachhaltigkeitsstrategie unserer Bundesregierung zugrunde, werden es bis zum Jahr 2010 ungefähr 100 Millionen Tonnen CO2 sein, zehn Prozent unseres Emissionsvolumens. Wer diese Entwicklung bremsen möchte, wie ich das gelegentlich aus den Reihen der Opposition höre, muss sich an dieser Stelle sagen lassen: Es wird in allen anderen Fällen teuer. Die Förderung erneuerbarer Energien hat in diesem Jahr den bundesdeutschen Haushalt im Schnitt ein Euro pro Monat gekostet. Eine billigere Variante für Klimaschutz ist mir nicht bekannt. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Doris Meyer, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Doris Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zuletzt haben wir uns Ende Januar in diesem Haus mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz beschäftigt. Damals haben wir bei der Debatte zum Erfahrungsbericht unser Augenmerk allerdings auf die große Novelle des EEG gerichtet. Damals sollte eine umfassende Überarbeitung dieses Gesetzes in Angriff genommen werden. Damals war die Härtefallregelung, um die es heute geht, noch in weiter Ferne. Bundesminister Trittin war komplett gegen eine Härtefallregelung. ({0}) Heute müssen wir allerdings feststellen: Er hat einen völligen Sinneswandel vollzogen. ({1}) Wie sonst ließe sich erklären, dass der Entwurf für eine Härtefallregelung für die stromintensive Industrie in geradezu überfallartiger Weise vorgelegt wurde? Zwar stimmt die Zielrichtung, in die dieses Vorschaltgesetz steuert. Doch die gesetzeshandwerkliche Vorgehensweise bei der kleinen Novelle des EEG überzeugt uns als Unionsfraktion überhaupt nicht. ({2}) Ich werde kurz den Ausgangspunkt für diesen Entwurf skizzieren. Durch den Anstieg der Stromeinspeisevergütungen kam es zu besonderen Belastungen der stromintensiven Industrie; insbesondere die Aluminium-, Chemie-, Zement- und Papierindustrie sind betroffen. Dem versucht die Bundesregierung mit ihrem Entwurf entgegenzuwirken. Bei einem bloßen Versuch wird es aber auch bleiben. Wie gesagt: Das Ziel einer Entlastung streben auch wir, die CDU/CSU, an. Doch der vorliegende Gesetzentwurf lässt noch zu viele Fragen offen. Durch die Anhörung mehrerer Sachverständiger im Umweltausschuss am 19. Mai traten etliche Mängel des Entwurfs sehr deutlich zutage. Erster Kritikpunkt ist die willkürliche Wahl der hohen Schwellenwerte von 100 Gigawattstunden Stromverbrauch pro Jahr und das Verhältnis von Stromkosten zur Bruttowertschöpfung von 20 Prozent. So sind die hohen Schwellenwerte des Koalitionsentwurfs in jeweils etwa zehn Betrieben sowohl der chemischen als auch der Zementindustrie derzeit erreicht. Insgesamt dürften von der Entlastungsregelung nur etwa 30 bis 40 Unternehmen profitieren. Ich frage daher: Wo bleiben da die anderen Unternehmen? Warum muss die Grenze gerade bei 100 Gigawattstunden liegen? Warum muss das Verhältnis von Stromkosten zu Bruttowertschöpfung ausgerechnet 20 Prozent betragen? Fragen, die bislang von keinem der Sachverständigen beantwortet werden konnten. Der Sachverständige Professor Leprich gibt in seiner Stellungnahme gar an, es gebe keine sachliche Rechtfertigung für genau diese Grenzen. Problematisch ist überdies noch, dass beide Voraussetzungen kumuliert, also gleichzeitig, vorliegen müssen. Bei einigen kleineren Unternehmen beträgt der Stromkostenanteil an der Bruttowertschöpfung mehr als 20 Prozent; der andere Grenzwert von 100 Gigawattstunden Stromverbrauch pro Jahr wird aber nicht überschritten. Für diese Unternehmen stellen die Stromkosten aber doch auch eine enorme Belastung dar - oder etwa nicht? Mit der neuen Regelung hätten sie die überwälzten Kosten der befreiten größeren Unternehmen mitzutragen. Kann dies wirklich beabsichtigt sein? Wollen wir wirklich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Belastungen von einigen Dutzend Unternehmen wegnehmen, um sie sofort wieder anderen Unternehmen aufzuhalsen und diese damit zu schwächen? Durch die willkürlich gewählten Schwellenwerte kommt es in der Folge zu brancheninternen Wettbewerbsverzerrungen und Strukturveränderungen. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Die schlechte Konjunktur am Bau zusammen mit Befreiungen für einige wenige Unternehmen, beispielsweise der Zementindustrie, kann die anderen, die nicht befreit sind, in den Ruin treiben. Zweiter Kritikpunkt: Juristisch klare Aussagen sind Mangelware. Es gibt in dem Entwurf etliche Formulierungen, deren Definition auf Nachfrage im Umweltausschuss weder die Parlamentarische Staatssekretärin noch ihre zuständigen Referenten kannten. ({3}) Sie wollten sich da erst noch schlau machen. ({4}) Doris Meyer ({5}) Wie stellt sich die im Gesetz genannte Gefährdung der Ziele des EEG dar? Wann sind die Ziele gefährdet und wann gerade noch nicht? Will dies eine Behörde festlegen? Wie will man beurteilen, ob die Begrenzung der Kosten mit den Interessen der Gesamtheit der Stromverbraucher vereinbar ist? Der ebenfalls unklare, in der Diskussion über diesen Gesetzentwurf häufig genannte Begriff der Abnahmestelle bleibt ohne Inhalt. Ich frage heute noch einmal: Was ist eine so genannte Abnahmestelle? Etwa ein Unternehmen oder doch eine Betriebsstätte? Wissen Sie das heute? Am vergangenen Mittwoch herrschte bei diesem Thema noch großes Rätselraten. Wie soll ein Unternehmen nachweisen, dass die Kosten - so der Gesetzeswortlaut - zu einer „erheblichen Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit“ des Unternehmens führen? Haben Sie für die entscheidende Behörde eine einleuchtende Erklärung? Welche messbaren Werte können Sie nennen, anhand derer die maßgebliche Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens festgestellt werden kann? All diese Fragen sind noch immer offen. Die Bundesregierung trägt mit der juristisch unpräzisen Formulierung nicht zur Klärung dieser Fragen bei. ({6}) Sie lässt sich hier auf ein Experiment ein. Wie in der Praxis mit den unbestimmten Rechtsbegriffen, beispielsweise dem der Wettbewerbsfähigkeit, umgegangen werden soll, muss sich erst noch zeigen. Vermutlich muss sich dieses Problems wieder eine Clearingstelle annehmen - oder die Gerichte oder die Unternehmen selbst. Denn auf diese schieben Sie die Verantwortung. ({7}) Sie sollen den Nachweis ihres Stromverbrauchs und der damit verbundenen Kosten durch Testate von Wirtschaftsprüfern selbst führen. Ein Zwischenfazit: Verantwortung abgeschoben, neue Kosten und Belastungen und Bürokratie erzeugt. Damit bewegen wir uns weg von Deregulierung und Bürokratieabbau. ({8}) Müssen die Unternehmen nicht schon im Vorfeld die Voraussetzungen kennen, nach denen eine maßgebliche Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit vorliegt? Müssen wir nicht den Unternehmen ein Stück mehr Rechtsund Planungssicherheit geben? Die Planungssicherheit führt mich zum nächsten Stichwort. Die Prognoseentscheidung nach § 11 a Abs. 3 des Gesetzentwurfs, mit der laut Gesetzesbegründung das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle arbeiten muss, stellt doch nur einen weiteren Unsicherheitsfaktor dar. Warum müssen die Anträge auf Befreiung durch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle bearbeitet werden? Welchen sachlich oder rechtlich zwingenden Grund gibt es für diese Aufgabenverteilung? Ist die Entscheidung von dieser Behörde gefällt worden, bleibt die Frage, wie lange sie Gültigkeit hat. Dem Gesetzentwurf zufolge ist es ein Jahr. Das mag wiederum damit zu tun haben, dass diese Regelung noch keinen endgültigen Charakter hat, sondern erst einmal zur Probe eingeführt werden soll. Ich möchte aber nicht nur Kritik üben. Infolge des ausgeübten Druckes wurde wenigstens ein Kritikpunkt beseitigt. Zuerst sollte das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle auch noch einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung erhalten, ob es einem Unternehmen die Befreiung genehmigt oder nicht. Es sollte sich um eine Kannbestimmung handeln, obwohl bereits Schwellenwerte als Voraussetzungen für eine Befreiung im Gesetz festgeschrieben waren. Entweder liegen die Voraussetzungen vor und es besteht ein Anspruch auf Befreiung oder nicht; ein Ermessensspielraum, wie er ursprünglich vorgesehen war, geht nicht an. Was sich die Väter dieser Formulierung dabei gedacht haben, wird wohl ein Geheimnis bleiben. ({9}) Zum Ende möchte ich Ihnen noch einmal das Wichtigste aufzeigen: Die juristischen Unklarheiten bei diesem Gesetzentwurf werden uns noch ebenso Kopfzerbrechen bereiten wie die enormen brancheninternen Wettbewerbsverzerrungen, die durch die Härtefallregelung in der jetzigen Ausgestaltung hervorgerufen werden. Diese Wettbewerbsverzerrungen dürfen wir nicht zulassen. Eine weitere Schieflage muss unbedingt verhindert werden. Als verantwortungsvolle Parlamentarier dürfen wir dieser Flickschusterei nicht zustimmen. Danke schön. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Marco Bülow, SPD-Fraktion.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Hier sehen Sie ({0}) den Umriss meines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen. In dem Umriss sind 210 kleine Sonnen eingezeichnet. Jede Sonne steht für zehn Betriebe im Bereich des Anlagensystembaus für erneuerbare Energien. Es gibt also 2 100 nordrhein-westfälische Unternehmen im Bereich der erneuerbaren Energien, mit wachsender Tendenz. Angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland und Nordrhein-Westfalen ist es umso positiver, dass die Branche der erneuerbaren Energien in Nordrhein-Westfalen allein in den vergangenen drei Jahren einen Arbeitsplatzzuwachs von circa 30 Prozent zu verzeichnen hatte. Bundesweit wurden 130 000 Arbeitsplätze gesichert, 80 000 durch das EEG. ({1}) Wir haben allen Grund, die Debatte selbstbewusst und optimistisch zu führen. ({2}) - Das gilt auch für die Härtefallregelung. Das EEG ist sowohl klimapolitisch als auch wirtschaftspolitisch eine Erfolgsgeschichte. ({3}) Dennoch ziehen einige Politiker und Lobbyisten durch das Land, drucksen gequält „Erneuerbare Energien? Zukunftsvision? Schön und gut!“ und betonen vor allem, wie schädlich das EEG für die Wirtschaft sei. Damit zerreden sie eine der innovativsten Zukunftsbranchen in unserem Land. Das ist wirtschaftsschädlich. Hören Sie damit auf! ({4}) - Fühlen Sie sich angesprochen von dem, was ich gerade ausgeführt habe? ({5}) Schlimmer noch: Sie benutzen falsche Zahlen, übertreiben und manche lügen, ohne rot zu werden. Bei den Lobbyisten kann man das vielleicht noch nachvollziehen, wenn auch nicht verstehen; bei Politikern halte ich das für eine Frechheit. Es ist eben nicht wahr, dass durch das EEG die Kosten explodieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Die Kostenschere zwischen fossilen und erneuerbaren Energien wird sich schließen, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens werden die fossilen Energieträger teurer. Das ergibt sich schon daraus, dass sie endlich sind und bald zur Neige gehen. Zweitens müssen in den nächsten 25 Jahren 80 Prozent des Kraftwerksparks der fossilen Energieträger erneuert werden. Drittens gibt es für die erneuerbaren Energien keine Regelungen zum Inflationsausgleich; vielmehr sind im Gegenteil bereits Degressionsstufen eingebaut und die Förderung wird stetig weiter reduziert. Viertens finden hier Innovationsschübe statt, von denen andere Energieträger nur träumen können. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Im Bereich der Windkraftenergie sind die Erzeugerpreise im gesamten Zeitraum um 60 Prozent gesunken. Weil die erneuerbaren Energien immer vorhanden sind und kostenfrei zur Verfügung stehen, werden sie effizienter und kostengünstiger. Bereits 2006/07 wird die Höchstförderung erreicht. Danach wird das Fördervolumen absinken. Wie innovativ und wirtschaftlich die erneuerbaren Energien sind, zeigt ein Vergleich zwischen der Atomund der Windenergie. Elf Jahre nach Markteinführung produzierte die Windkraftbranche doppelt so viel Energie wie zu diesem Zeitpunkt seinerzeit die Atombranche, und das, obwohl der Atomstrom damals stärker gefördert wurde als heute die Windenergie. Vergessen wir nicht, dass das EEG eigentlich ein Instrument zum Klimaschutz ist. Diese Rolle erfüllt es auch vorbildlich. Aber es ist auch ein erfolgreiches Wirtschaftsförderungsgesetz und wird nicht umsonst von vielen Ländern in der Welt kopiert. Das EEG ist weltweit das effizienteste Förderinstrument für umweltfreundlichen Strom. ({6}) Da ich aus dem Ruhrgebiet komme, weiß ich um die Brisanz der energieintensiven Unternehmen, deren Mahnungen ernst zu nehmen sind. Damit haben wir uns ernsthaft auseinander zu setzen, und zwar nicht nur heute, sondern auch in Zukunft. Mir liegen aber auch die Tausenden Betriebe der Erneuerbare-Energien-Branche am Herzen. Ich erinnere daran - deswegen ist es eine schwierige Diskussion über Grenzen -, dass wir für jeden Betrieb, den wir entlasten, andere Betriebe und die Verbraucher belasten müssen. Deshalb gibt es keine einfache Lösung für eine Härtefallregelung; denn man kann jede Grenze anzweifeln. Ich meine, unser Vorschlag ist eine schnelle und ausgewogene Lösung - das wurde uns übrigens vom Bundesrat bestätigt -; nichtsdestotrotz müssen wir sie im nächsten Jahr anhand neuer Erkenntnisse überprüfen. Ich appelliere an Sie: Zerreden Sie nicht eines der nachhaltigsten Projekte. Betonen Sie dagegen den Erfolg, die Chancen und die Wirtschaftlichkeit der erneuerbaren Energien und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes! Stimmen Sie bitte unserem Gesetzentwurf zu, damit wir den Betroffenen schnell helfen können und damit die 2 100 Firmen in Nordrhein-Westfalen erst der Anfang sind. Danke schön. Glück auf! ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Einbringung der EEG-Novelle erkennt Rot-Grün zum ersten Mal an, dass das EEG unzumutbare Kostenbelastungen mit sich bringt und dass gegengesteuert werden muss. Das muss hier klar festgestellt werden. ({0}) Dies ist die Entlarvung der grundlegenden Schwäche dieses Gesetzes. Es kann auf Dauer nicht funktionieren, staatliche Planzahlen mit garantierten Abnahmepreisen für den Ökostrom dirigistisch durchzusetzen. Zu der vorliegenden EEG-Novelle möchte ich Folgendes sagen: Das EEG in seiner aktuellen Form wird in keiner Weise den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen gerecht. Um ein ideologisches Ziel zu erreichen, setzt man Scheuklappen auf. ({1}) Die ständig steigenden Kosten mutet man dem einzelnen Bürger und den Unternehmen zu. Auf die Stellungnahme des Bundesrates und die darin enthaltenen Änderungsvorschläge hat Rot-Grün zuerst mit einer Absage reagiert, um dann am vergangenen Mittwoch doch noch kurzfristig einige Dinge zu berücksichtigen. So wurde im Sinne von Planungssicherheit in § 11 a Abs. 3 die Belastungsgrenze auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde festgelegt. Außerdem wurde § 11 a Abs. 4 gestrichen, sicherlich mit der ehrenwerten Absicht, bürokratischen Aufwand zu minimieren und - das ist ganz wichtig - das Ermessen zu binden. Eine wirklich gute Absicht, doch aufgepasst! Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle bekommt nun in dem neu hinzugefügten sehr folgenschweren Nebensatz in § 11 a Abs. 1 das Ermessen wieder eingeräumt. Dort heißt es: … soweit hierdurch die Ziele des Gesetzes nicht gefährdet werden und die Begrenzung mit den Interessen der Gesamtheit der Stromverbraucher vereinbar ist. Das finde ich absurd. Dass sich die Ermessensregelung nun an anderer Stelle findet, hat nicht zur Folge, dass die sozusagen hochherrschaftlichen Befugnisse der Verwaltung eingeengt werden, sondern hat das Gegenteil zur Folge - darüber müssen wir uns klar sein -, dass sie verstärkt werden. ({2}) Wir reden hier über eine kleine Novelle des EEG. Dadurch werden die Fehler im Konzept des EEG insgesamt überhaupt nicht ausgebügelt, sondern in puncto Dirigismus verstärkt. Ich möchte noch auf einige Kritikpunkte zu sprechen kommen, die hier schon erwähnt worden sind. Es gibt die Kappungsgrenze von 100 Gigawattstunden und die zusätzliche Voraussetzung, dass die Strombezugskosten mehr als 20 Prozent der Bruttowertschöpfung ausmachen. Das wird nur von einer Hand voll großer Unternehmen in den stromintensiven Branchen erfüllt werden können. Diese Novelle - davon gehe ich aus - soll wohl eher Symbolcharakter haben; den Mittelstand vergisst man hierbei völlig. ({3}) Auch unter marktwirtschaftlichen Aspekten ist es sehr bedenklich, nur die Riesen einer Branche zu entlasten. In den kleineren Betrieben sind die Energiekosten, die pro Arbeitsplatz zu Buche schlagen, ebenfalls hoch. Die Verzerrung des Wettbewerbs innerhalb einer Branche kann überhaupt keine Zustimmung finden. Man muss hier wirklich noch einmal klar sagen: Wettbewerbsverzerrung lässt sich nicht an der Größe eines Unternehmens festmachen. Das wäre unlogisch und ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht nachvollziehbar. Für die kleinen und mittleren Unternehmen befürchte ich, dass dies angesichts der Kosten, die schon jetzt von ihnen getragen werden müssen - ich nenne nur die Ökosteuer -, der Tropfen sein wird, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es könnte sein - ich hoffe es nicht -, dass die Unternehmen darauf mit Personalabbau oder Verlagerung der Produktion ins Ausland reagieren. Zu dem Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Folgendes sagen: Wir teilen die gesamten Bedenken, die darin vorgetragen werden. Er ist aus unserer Sicht aber zu kurz gesprungen. Selbst wenn die Bundesregierung auf alles das eingehen würde, bliebe es beim Status quo, einem konzeptionell fehlgeleiteten Gesetz. Wir von der FDP wollen das nicht. Wir haben bereits langfristig wirkende andere Lösungsvorschläge aufgezeigt. Unser Konzept zur marktwirtschaftlichen Förderung erneuerbarer Energien liegt schon lange vor. Darüber können wir weiter diskutieren. Wir werden uns daher bei der Abstimmung über den Entschließungsantrag der CDU/CSU enthalten. Es erscheint mir wichtig, zum Abschluss eines zu sagen, insbesondere in Richtung des Kollegen Bülow: Die Errungenschaften des Erneuerbare-Energien-Gesetzes werden von Rot-Grün immer als sehr glorreich geschildert. Dass die Branche der Hersteller und Betreiber usw. wächst, will ich gar nicht infrage stellen. ({4}) Auch das Anwachsen der Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich ist unbestritten. ({5}) - Moment! Auch ich freue mich über jeden zusätzlichen Arbeitsplatz in diesem Bereich, ganz klar. ({6}) - Nein, das ist kein guter Schlusssatz. Ich muss da noch etwas anfügen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, das wird leider nicht möglich sein, verehrte Frau Kollegin. ({0}) Weil die Redezeiten von den Fraktionen und nicht vom Präsidium festgelegt werden, sind meiner Großzügigkeit leider enge Grenzen gesetzt. ({1})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin auch sofort am Schluss. Wenn wir hier über die Schaffung von Arbeitsplätzen reden, dann müssen wir einfach sehen, dass sich die nach dem EEG gewährten Unterstützungszahlungen pro Arbeitsplatz - ich will hier gar nicht von Subventionen sprechen - mittlerweile denen im Steinkohlebergbau annähern, fast schon gleich hoch sind. ({0}) Entsprechend unserem Credo sind uns Arbeitsplätze natürlich lieb und teuer, aber nicht um jeden Preis. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat die Kollegin Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nutzung der erneuerbaren Energien - Sonne, Wind, Biomasse, Erdwärme - entwickelt sich sehr dynamisch. Der Beitrag dieser Energien stieg von 6 auf 8 Prozent und wird in naher Zukunft auf 12 Prozent steigen. Das ist sehr erfreulich. 130 000 Arbeitsplätze - das wurde schon gesagt - sind zu verzeichnen. Marco Bülow hat eine Zahl für Nordrhein-Westfalen genannt. Im Osten wurden mehr als 1 000 neue Unternehmen in diesem Bereich gegründet. Es handelt sich um eine dynamisch wachsende Branche in Zeiten der Wirtschaftskrise und um ein sichtbares Zeichen dafür, dass Maßnahmen zum Klimaschutz greifen. Das sind doch wirklich positive Nachrichten. ({0}) Aber manchen ist das ein Dorn im Auge. Die Gegner nutzen auch diese Debatte zum Frontalangriff. Ich weiß, Frau Meyer, Sie gehören nicht dazu. Das ist völlig klar. Aber Sie wissen, von welchen Personen ich hier spreche. Darüber hinaus machen sich gerade die Vertreter der energieintensiven Industrie Sorgen, dass die Belastungen durch die Umlage steigen, wenn sich die erneuerbaren Energien so positiv entwickeln. Diejenigen, die das Instrument EEG grundsätzlich infrage stellen, müssen sagen, wie man Klimaschutz sonst betreiben soll. Die erneuerbaren Energien sind eine der tragenden Säulen des Klimaschutzprogramms. Zum Beispiel ist es so, dass das EEG die Hälfte der gesamten CO2-Einsparungen bis 2005 im Bereich der Stromwirtschaft leistet. Wer an das EEG gewissermaßen die Axt anlegen will, der muss Alternativen anbieten. ({1}) Aber ich nehme die Fragen durchaus ernst: Geht mit der dynamischen Entwicklung auch eine Erhöhung der Kosten einher? - Das eben ist mitnichten so, sondern eine schlichte Falschaussage. Die Kosten werden perspektivisch sinken, weil wir in das Gesetz marktwirtschaftliche Anreize eingestellt haben. Die Kosten der Windenergie sind in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gesunken und sie werden in den nächsten Jahren weiter sinken. Die Kosten für Photovoltaik sind in den letzten zehn Jahren um 60 Prozent gesunken. Dagegen sieht das Gesetz eine Degression von 5 Prozent vor. Gibt es irgendein Gesetz, das einen dermaßen großen Anreiz zur Entwicklung neuer Technologien enthält? Ich glaube, ein solches Gesetz gibt es nicht. Das EEG ist auch ein ganz starkes Instrument zur Förderung von Innovationen. ({2}) Hinzu kommt, dass die Kosten pro produzierter Kilowattstunde sinken werden. Gleichzeitig - Marco Bülow hat das schon angesprochen - werden die Kosten pro produzierter Kilowattstunde im fossilen Bereich steigen. Das hat zwei Gründe: Perspektivisch werden die fossilen Primärenergieträger teurer und - das ist für die nahe Zukunft noch viel wichtiger - es werden nicht mehr die Altinvestitionen, sondern die Neuinvestitionen entscheidend sein, das heißt, dass die Kosten pro produzierter Kilowattstunde im fossilen Bereich in nächster Zeit ansteigen werden. Die Differenz zwischen einer Kilowattstunde, die aus erneuerbaren Energien produziert worden ist, und einer Kilowattstunde, die aus fossilen Energieträgern produziert worden ist, wird also geringer werden. Es wird deswegen zu einem dynamischen Aufwuchs von Strom kommen, der aus Sonne, Wind, Biomasse und Erdwärme produziert worden ist. Gleichzeitig werden die Kosten begrenzt; perspektivisch werden sie sinken. - Das verstehe ich unter einem Zukunftsgesetz. So sollte der Staat handeln: Rahmenbedingungen schaffen, damit in Zukunftstechnologien investiert wird, damit in Zukunftstechnologien Arbeitsplätze geschaffen werden, damit gleichzeitig die Kostenbelastung der Gesellschaft sinkt. Wir nehmen die Sorgen, die aus der Wirtschaft kommen, ernst und wir werden die Diskussion über das EEG sehr offensiv führen. Jeder, der über Kostensenkungen bei der Industrie spricht, aber gleichzeitig nicht darüber diskutiert, wie die Wettbewerbsintensität in diesem Bereich erhöht werden kann, ist unglaubwürdig. ({3}) Der durchschnittliche Durchleitungspreis beträgt in Deutschland circa 2,6 Cent pro Kilowattstunde. Das ist 1 Cent mehr als der europäische Durchschnitt und doppelt so viel wie die Gesamtbelastung, die vom EEG ausgeht. ({4}) Ich komme zum Schluss. Wer die Kosten bei Industrie und Verbrauchern senken will, der sollte in erster Linie nicht über das EEG, sondern über eine höhere Wettbewerbsintensität sprechen und gemeinsam mit uns den Staat als Schiedsrichter in diesem Bereich stärken. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich dem Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich geht es ja heute um eine Sachfrage, und zwar die Ausgestaltung der Härtefallregelung. Wenn ich jetzt einmal Revue passieren lasse, was Sie, Herr Trittin, Sie, Herr Bülow, und leider auch Sie, Frau Hustedt, in weiten Teilen Ihrer Reden gesagt haben, dann muss ich feststellen, dass Sie undifferenzierte Hallelujareden auf das EEG gehalten haben und sich nicht zur Frage der Ausgestaltung der Härtefallregelung geäußert haben. ({0}) Ich muss Ihnen daher leider attestieren: Sie haben das Thema verfehlt. Im Übrigen haben Sie damit genau das gemacht, was Sie angeprangert haben: Sie haben Fakten falsch dargestellt und die ideologischen Scheuklappen - Sie haben ja anderen vorgeworfen, diese aufgesetzt zu haben - nicht abgelegt. ({1}) Ich möchte mir deshalb erlauben, auf einige Punkte einzugehen, die hier angesprochen worden sind, und Ihnen einfach einmal die Fakten darlegen. Wir reden über steigende Belastungen durch die Sozialversicherungen, durch Steuern, die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt und viele andere Dinge mehr. Die Energiepreise, insbesondere der Strompreis, werden aber leider in der öffentlichen und in der politischen Diskussion etwas außen vor gelassen. Wir brauchen gar nicht drum herum zu reden: Es ist so, dass der Strompreis eine wichtige Rolle im nationalen und vor allem auch im internationalen Wettbewerb spielt. Da stimmt es nicht, Herr Trittin, dass, wie Sie sagen, die Strompreise insbesondere für die Industrie auf breiter Front gesunken sind. Fakt ist, dass das in rein nationaler Sicht richtig ist; ich werde gleich noch auf ein paar absolute Zahlen eingehen. Fakt ist aber auch, dass Deutschland nach wie vor in Europa die dritthöchsten Strompreise hat, unsere Strompreise also europaweit in der Spitze liegen. Das ist Faktenlage. ({2}) Faktenlage ist auch - Sie haben einige Zahlen auf Kilowattstundenbasis genannt -, dass wir im Jahre 2002 und mit steigender Tendenz im Jahre 2003 zusätzliche Belastungen auf Energie haben, die je nach Berechnung zwischen 10,7 und 12 Milliarden Euro erreichen. Dem stehen - das haben Sie richtigerweise angeführt - Liberalisierungs- und Rationalisierungseffekte gegenüber. Die machen aber nur 7,5 bis 8 Milliarden Euro aus. Das heißt, die Nettobelastung beträgt in der Summe - da können Sie sich noch so krümmen, dadurch wird Ihre Aussage von vorhin auch nicht richtiger - 4 Milliarden Euro. ({3}) Noch eine Anmerkung zum Thema CO2: Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass es Ziel ist, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Aber auch hier sollte man vielleicht ein paar Effizienzkriterien mitberücksichtigen. Dies ist ja nicht das Kernthema der heutigen Debatte, deswegen habe ich die Zahlen nicht hundertprozentig präsent, kann sie aber gerne noch einmal nachreichen. Es ist auf jeden Fall so, dass zwar, wie Sie sagen, etliche Tonnen an CO2 aufgrund des verstärkten Einsatzes von erneuerbaren Energien nicht entstehen. Sie müssen aber auch fragen, wie viele Millionen Tonnen mehr mit dem gleichen Aufwand durch andere Maßnahmen eingespart werden könnten. Beispielsweise durch die Verbesserung der Gebäudeeffizienz und andere Dinge könnten noch zehnmal mehr CO2-Emissionen eingespart werden als durch den Einsatz von erneuerbaren Energien. ({4}) Wenn wir hier über Brosamen redeten, könnte man Ihre Argumentation nachvollziehen, müsste aber gleichzeitig feststellen, dass es sich um eine Spielwiese handelt, die wirtschaftspolitisch vernachlässigbar ist und über die zu sprechen sich nicht weiter lohnt. Da der Wirtschaft das Wasser aber bis zum Hals steht, spielen die Strompreise für die Unternehmen - das ist keine bloße Theorie, sondern Praxiserfahrung - bei Standortund Investitionsentscheidungen sowie bei Verlagerungsüberlegungen eine Rolle. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel - Sie können das überprüfen; das ist Realität -: Ein kleines mittelständisches Unternehmen in der Region Stuttgart mit 400 Beschäftigten, nicht einmal aus der Aluminiumoder Zementbranche, sondern aus der Automobilzulieferindustrie, hat nach der jüngsten Ökosteuererhöhung zum 1. Januar dieses Jahres seine Investitionsentscheidung zwischen dem Standort Stuttgart und dem Standort Tschechien wesentlich mit den Energiepreisen begründet - ich kann es Ihnen im Detail belegen - und sich letztlich gegen den Standort Deutschland, also gegen Stuttgart entschieden. Auch solche Fakten müssen Sie bei den Zahlen, die Sie in Ihren Halleluja- und Hurrareden vorhin genannt haben und die ich nicht im Detail bestreiten will, gegenrechnen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Jetzt möchte ich versuchen, zum Thema zurückzukehren, nachdem Sie das Feld verlassen haben und ich das so nicht stehen lassen kann. Herr Schlauch, ich weiß, Sie wissen alles besser, insbesondere von der Wirtschaft verstehen Sie mehr, aber sicherlich nicht von der Wirtschaft, von der ich rede; Sie haben Ihre Kompetenzen in anderen Wirtschaftsbereichen. ({5}) Kommen wir noch einmal zur Härtefallregelung. Einige Punkte sind angesprochen worden; ich will das nicht wiederholen. Mit der vorgeschlagenen Härtefallregelung wird leider ein bürokratisches Monstrum, das auch ordnungspolitisch mehr als fragwürdig ist, institutionalisiert, das nur eine Feigenblattfunktion hat. Die Kollegin von der FDP hat es angesprochen: Wir sprechen heute erfreulicherweise zum ersten Mal darüber, dass wir die Stromund Energiepreise senken müssen. Wir sind über das Ziel hinausgeschossen. In den vergangenen vier Jahren haben Sie immer weiter draufgesattelt. Die jetzt erfolgte Regelung hat aber leider nur eine Feigenblattfunktion und wird auch nicht funktionieren. Wenn Sie einmal gute Ansätze verfolgen, setzen Sie diese leider immer nur schlecht oder dilettantisch um, ob das die Riester-Rente, das Hartz-Konzept oder auch das EEG ist. Das Thema Wettbewerbsverzerrungen ist angesprochen worden. Die Unternehmen werden sich überlegen, wie sie die jetzige Lösung umgehen können. Ich nenne einmal ein Beispiel, wozu das führen wird. Die jetzige Regelung wird nur einige wenige Dutzend Unternehmen treffen. Was werden die Unternehmen zum Beispiel hinsichtlich des Kriteriums des Anteils der Stromkosten von größer 20 Prozent an der Bruttowertschöpfung machen? Es gibt bereits einen konkreten Fall, den auch Sie wahrscheinlich kennen. Sie lagern ihre Beschäftigten in eine Industriebeschäftigungsgesellschaft aus und kommen durch diese intelligente Gestaltung über 20 Prozent. Die Frage ist noch, wie sie das mit der Abnahmestelle umsetzen; Frau Kollegin Meyer hat das angesprochen. Aber ansonsten ist der Plan konkret und muss nur noch umgesetzt werden. Das heißt, wir werden die Kreativität der Unternehmen nicht dahin gehend fördern, wie sie ihre Produkte innovativ voranbringen, sondern sie werden ihre Kreativität auf die möglichst geschickte Umgehung von Regelungen richten. Das kann nicht Sinn der Übung sein. Das ganze Gesetz bewirkt im Ergebnis leider das Gegenteil dessen, was Sie beabsichtigt haben. Sie sprechen - auch Herr Trittin hat das vorhin getan - von einer zielgenauen Lösung. Es ist aber keine zielgenaue Lösung, weil Sie genau die, die am meisten betroffen sind, nicht entlasten. In der Summe ist es so: 100 Prozent der Wirtschaft steht das Wasser nicht nur bis zum Hals, sondern bis zur Oberkante Unterlippe. Mit der jetzt vorgeschlagenen Härtefallregelung werden einige Promille temporär entlastet, sodass sie nicht unmittelbar untergehen. Im Ergebnis müssen aber die restlichen 99,9 Prozent die Mehrbelastung tragen. Wir haben also letztlich nur die Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Auch hinsichtlich der Effizienz, der Bürokratie und der Unklarheit des Gesetzes haben wir deutlich gemacht, dass wir als Gesetzgeber - da sind wir als Bundestag gefordert - diesem Murks, dieser Planwirtschaft, dieser überbordenden Bürokratie, die Sie hier vorstellen, nicht zustimmen werden. ({6}) Sie werden sehen, bei der Novellierung des EEG - darüber werden wir uns noch unterhalten - wird es wie bei allen anderen Fragen, ob Hartz-Konzept oder RiesterRente, sein: In einem halben Jahr werden wir feststellen, dass es hinten und vorne nicht funktioniert hat; ({7}) außer Bürokratie und Plan- und Staatswirtschaft ist nichts gewesen und Sie haben die Unternehmen wiederum aus dem Land getrieben. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. ({0}) - Entschuldigung! Die Versuchung zumindest war groß, die durch Addition von längeren Redezeiten überschrittene Gesamtredezeit durch einen kühnen Streichungsversuch wieder einzuspielen. Aber ich will das nicht auf Ihrem Rücken austragen. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({1})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihnen bleibt nichts erspart. Aber auch bei Ihrer Rede, Herr Dr. Pfeiffer, blieb uns nichts erspart. Allerdings muss ich zugeben, dass Ihre Rede Stärken und Schwächen hatte. Sie haben schwach angefangen und anschließend stark nachgelassen. ({0}) Ich will trotzdem versuchen, sachlich zu reagieren. Der Kollege Marco Bülow hat wie auch einige andere Kollegen schon deutlich gemacht, welche positiven Wirkungen das EEG entfaltet hat, nicht nur für die Ökologie, sondern insbesondere für den Anlagenbau, für den Export und für die Schaffung von Arbeitsplätzen bei uns im Lande. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist etwas, auf das wir durchaus stolz sein können. ({1}) Wenn gesagt wird, man müsste eigentlich mehr tun, um die CO2-Emissionen zu reduzieren, dann muss ich sagen, Herr Dr. Pfeiffer: Sie haben sicherlich Recht. Wir können Ihnen mit Freude hier vermelden, dass wir die Maßnahmen, die Sie gerade beispielsweise in Sachen Gebäudeeffizienz eingefordert haben, bereits umgesetzt haben. ({2}) Wenn Sie das aus dieser Debatte mitnehmen, dann haben wir einen gewissen Fortschritt in der Verständigung erzielt. Es stimmt aber auch, dass es einige Unternehmen gibt, die aufgrund der Kosten, die das EEG verursacht, Probleme haben. Das haben wir dem vom Bundeswirtschaftsministerium vorgelegten Erfahrungsbericht entnehmen können. Ich denke, es ist angemessen, dass die Politik darauf reagiert und eine entsprechende Härtefallregelung auf den Weg bringt. Wir wissen, dass die Unternehmen durch die Kumulation von Wirkungen verschiedener Instrumente - sie sind bereits genannt worden: Ökosteuer, KWK und eben EEG - betroffen sind. Wir haben bei den anderen Instrumenten bereits reagiert und wir werden das auch beim EEG tun. Wir haben schon angekündigt, dass wir im weiteren Verfahren nachjustieren werden. Die Branchen sind aufgefordert, die entsprechenden Daten und Fakten zu liefern, damit zielgenau reagiert werden kann. Es ist heute schon richtig gesagt worden: Wenn wir an der einen Stelle entlasten, dann belasten wir an der anderen Stelle. Es ist daher aufgrund der jetzigen Datenlage klug, eine eng gefasste Härtefallregelung zu formulieren. Wir helfen schnell und wir helfen denen, die am härtesten betroffen sind. ({3}) Es ist uns der Vorwurf gemacht worden, die Schwellen seien willkürlich und sie seien zu hoch. Zunächst einmal muss man sagen: Jede Schwelle - dabei ist es völlig egal, um welches Gesetz es sich handelt - ist letztendlich in einem gewissen Maße willkürlich, weil sich jede Schwelle begründen lässt. Eine niedrigere Schwelle ist genauso zu begründen wie eine höhere. Die Begründung für die höhere Schwelle ist, dass mit einer sehr eng gefassten Härtefallregelung die am härtesten Betroffenen entlastet werden. Eine breit angelegte Härtefallregelung würde zu einer breiten Belastung der restlichen Betroffenen führen. Insofern haben wir keine willkürliche, sondern eine gut begründbare Regelung geschaffen. Wir wollen trotzdem den Versuch machen, im weiteren Verfahren weitere betroffene Unternehmen zu erfassen. Ich denke dabei insbesondere an mittelständische Unternehmen, die besonders energieintensiv produzieren. Ich bin ganz sicher, dass wir einen entsprechenden Vorschlag im Rahmen der EEG-Novelle vorlegen werden. ({4}) Ich will nun auf die Härtefallregelung konkret eingehen. Wir haben eine Anhörung durchgeführt, über die heute schon gesprochen worden ist. Dort gab es im Wesentlichen eine Botschaft, die Sie heute leider nicht wiedergegeben haben. Alle Sachverständigen haben deutlich gesagt, dass sie in jedem Fall eine schnelle Regelung haben wollen. Obwohl sie an der einen oder anderen Stelle Änderungswünsche hatten, waren sie dennoch der Meinung, dass diese Änderungswünsche gemessen an dem Ziel, eine schnelle Regelung zu schaffen, nachrangig sind. Die Experten waren daher bereit, der jetzt vorliegenden Regelung zuzustimmen. ({5}) Es gab noch eine Übereinstimmung, und zwar interessanterweise zwischen Sachverständigen, die sich ansonsten in manchen Punkten überhaupt nicht einig waren. Es wurde zur Begrenzung der anteilig weitergereichten Strommenge tatsächlich eine Grenze von 0,05 Cent je Kilowattstunde festgelegt, wie es auch der Bundesrat gefordert hatte. Wir, die Koalitionsfraktionen, sind der Forderung der Sachverständigen entgegengekommen. Insofern haben wir hier den Nachweis erbracht, dass wir in der Lage sind, aus Anhörungen Lehren zu ziehen, und bereit sind, Anregungen aus dem Bundesrat aufzunehmen. Wir haben durch die Festlegung einer Grenze von 0,05 Cent je Kilowattstunde eine Entlastung beschlossen. Das ist eine ganz maßgebliche Einschränkung des Ermessensspielraums der Prüfbehörde. Wer behauptet, dass hiermit Bürokratie aufgebaut und Planwirtschaft eingeführt wird - und was da noch alles gesagt worden ist -, ist widerlegt. Wir haben im Gegenteil ganz eindeutig dafür gesorgt, dass eine Überprüfung sehr zügig erfolgen kann, nämlich in dem im Gesetz festgelegten und angekündigten Vierwochenzeitraum. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie geht es weiter? Ich habe es gerade angedeutet: Wir werden uns im weiteren Verlauf des Jahres mit der EEG-Novelle befassen. Auch das Thema Emissionshandel steht auf der Tagesordnung. Sie wissen, dass es aus Brüssel den Entwurf einer Richtlinie zum Thema Energiebesteuerung und auch zur Frage von Ausnahmetatbeständen in diesem Bereich gibt. Ich denke, das wird das Anregungsmaterial sein, das wir aufnehmen werden, wenn wir im weiteren Vollzug an einer möglicherweise zu verändernden Definition des Begriffs „stromintensive Unternehmen“ arbeiten werden. Möglicherweise kommen wir dazu, dies sukzessive auf die drei vorgesehenen Instrumente auszuweiten. Unsere Arbeit an einem Wettbewerbs- bzw. Regulierungsrahmen - auch das ist hier angedeutet worden wird genauso entscheidend sein. Diesen wollen und müssen wir in der zweiten Jahreshälfte vorantreiben; denn ab dem 1. Juli des nächsten Jahres hat auch in Deutschland der Regulierer über den Wettbewerb bei den leitungsgebundenen Energien zu wachen. In diesem Bereich versprechen wir uns eine ganze Menge mehr Transparenz. Wir gehen davon aus, dass es dann zu sehr viel einheitlicheren Kostendefinitionen kommen wird, wobei wir uns durchaus niedrigere Kosten und geringere Kostenumwälzungen im Bereich der erneuerbaren Energien erhoffen. Jetzt ist eine Spreizung zu beobachten. Sie ist sogar noch größer, als sie soeben vom Minister beschrieben worden ist. Sie liegt nämlich zwischen 0,0 und etwa 0,6 Cent. Es gibt also Unternehmen, die von bestimmten Versorgern gar nicht zur Kasse gebeten werden, andere, die 0,3 Cent zahlen, und wiederum andere, die circa 0,6 Cent bezahlen. Diese Spreizung muss ein Ende haben. Wir müssen dazu kommen, dass nur die tatsächlichen EEG-Kosten weitergewälzt werden. Das wird einen maßgeblichen Beitrag dazu leisten, im Zuge des weiteren Aufbaus der erneuerbaren Energien in die Situation zu kommen, dass eine Verdoppelung der erneuerbaren Energien nicht heißt: Verdoppelung der Kosten. Dazu ist schon einiges ausgeführt worden. Zum Schluss möchte ich sagen: Ich bin den Kollegen im Bundesrat für ihre konstruktive Beratung ausdrücklich dankbar. Ich weiß, dass dabei mancher von denjenigen, die hier sitzen, durchaus hilfreich war und dass das, was wir hier im Plenum zu hören bekommen, manchmal nur die eine Seite der Medaille ist. Im Grunde wissen Sie, dass wir eine solche Härtefallregelung brauchen. Sie wissen, dass der Bundesrat diese Regelung durch seine konstruktive Einlassung mitgestaltet hat. Ich wünsche mir ein solches Vorgehen auch für so manches andere Thema, das wir hier zu bereden haben. Bewährungsproben kommen genug: nicht nur, aber auch in der Energiepolitik. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe nun tatsächlich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt und führe die angekündigten Abstimmungen durch. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksache 15/810. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1121, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erheben. - Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Dann ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit der Koalition gegen die Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1147. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer möchte dagegen stimmen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt. Wir befinden uns noch immer bei Tagesordnungspunkt 22. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1121 empfiehlt der Ausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksache 15/1067 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Möchte jemand dagegen stimmen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Karin Kortmann, Gert Weisskirchen ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Thilo Hoppe, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo - Drucksache 15/1144 Dazu ist interfraktionell eine Beratungszeit von einer halben Stunde vorgesehen. - Es erhebt sich dagegen kein Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart. Ich erteile zunächst das Wort der Staatsministerin Kerstin Müller.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe in den letzten neun Tagen die Region der Großen Seen besucht und in Kinshasa, Kampala und Kigali Gespräche mit allen wichtigen politischen Repräsentanten und mit Vertretern internationaler Organisationen geführt. Ich kann nur sagen: Die Lage ist dramatisch, und zwar nicht nur in der Provinz Ituri - das ist die Provinz, aus der uns Bilder in den letzten Monaten erreichten -, sondern auch in der angrenzenden Region Kivu und insgesamt im Kongo. Nehmen wir als Beispiel Bunia. Bunia war eine Stadt mit circa 250 000 Einwohnern. Nach Angaben internationaler Organisationen sind es jetzt gerade einmal 20 000. Davon befinden sich 12 000 in zwei Camps am Flughafen und in der Nähe des MONUC-Lagers. Mehrere Hundert Tote wurde von den MONUC-Soldaten gefunden. Allein 50 000 Menschen, so schätzt man, sind in die Wälder und Nachbarregionen im Süden geflüchtet, 20 000 nach Uganda und von den übrigen weiß man es nicht genau. Tagtäglich erreichen uns Nachrichten von neuen Metzeleien und Massakern aus den Nachbardörfern. Ituri ist, so hat es einer meiner Gesprächspartner formuliert, „nur ein weiterer Schritt zur Hölle“. Es herrscht Angst, dass noch mehr folgen werden. Denn im Kongo-Krieg, Afrikas erstem Weltkrieg, sind seit 1998 mehr als 3 Millionen Menschen umgekommen, circa 2,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht oder wurden vertrieben. Folter, Exekutionen, Verstümmelungen, Kindersoldaten und Massenvergewaltigungen gehören zu den alltäglichen Kampfmitteln. Erst jüngst gab es wieder einen Bericht von der stellvertretenden Leiterin von OCHA über eine Vergewaltigungskampagne in Kivu. Die Menschenrechte werden also systematisch missachtet und auf das Grausamste verletzt. Die internationale Gemeinschaft kann diesem Morden nicht länger zusehen. ({0}) Wir tragen eine Verantwortung für die Durchsetzung der Menschenrechte. Deshalb ist es richtig, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nun so schnell wie möglich eine multinationale Truppe, und zwar mit einem robusten Mandat, nach Ituri, nach Bunia entsendet. ({1}) Deshalb ist es auch richtig, dass Deutschland diesen Einsatz im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützt. Wir denken dabei vor allem an medizinische und logistische Hilfen. Ich würde mich sehr freuen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und FDP, wenn dieses deutsche Angebot die Zustimmung aller Fraktionen in diesem Hause finden würde. Ich glaube, den Einsatz der Vereinten Nationen zu unterstützen, ist das Mindeste, was wir tun können. ({2}) Eines kann ich Ihnen aus meinen Gesprächen versichern: Die Regierungen in Kinshasa, Kampala und Kigali begrüßen die Einsatztruppe und vor allem die Tatsache, dass sie zu einem großen Teil von Europäern im Rahmen einer ESVP-Operation gestellt wird. Manche wenden ein, das Mandat der Truppe sei angesichts der Dimension des Konflikts zeitlich und räumlich viel zu begrenzt. Ich glaube nach meiner Reise und den vielen Gesprächen, die ich geführt habe, dass dieses Signal der Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft weit über die Grenzen von Ituri hinaus in der Region verstanden werden wird. Wir zeigen damit: Wir sind entschlossen, wir werden handeln und lassen nicht zu, dass weiter gemordet und Gewalt ausgeübt wird. Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass dieses Signal verstanden werden wird. ({3}) Fest steht für mich: Der Konflikt in Ituri und der angrenzenden Region Kivu gefährdet den gesamten Friedensprozess im Kongo. Eigentlich sollte in der Woche meiner Reise die nach den Vereinbarungen von Sun City und Pretoria vorgesehene Übergangsregierung in Kinshasa gebildet werden, aber die Machtverteilung und der Aufbau der gemeinsamen Armee sind weiterhin heftig umstritten, sodass der Prozess ins Stocken geraten ist. Damit komme ich zu einem zentralen Punkt: Wenn der politische Prozess im Kongo nicht vorankommt, wird eine noch so starke internationale Truppe wenig ausrichten können. Deshalb muss der Einsatz vor allem politisch flankiert werden. Das heißt, wir müssen allen Akteuren unsere Erwartung, dass die vereinbarten Friedensabkommen endlich umgesetzt werden, deutlich machen. Ich habe deshalb den Präsidenten Kabila, Museveni und Kagame die eindeutige Botschaft überbracht, dass Deutschland und Europa von ihnen die rasche und vollständige Umsetzung der Vereinbarungen von Sun City, Pretoria und Luanda erwarten, nur so können sie zu diesem Friedensprozess konstruktiv beitragen. ({4}) Ich bin fest davon überzeugt: Wenn es gelänge, in Kinshasa als ersten Schritt eine Übergangsregierung unter Beteiligung der maßgeblichen politischen Kräfte zu bilden, wäre dies ein entscheidender Schritt auf dem langen Weg zur Beilegung dieses furchtbaren Konfliktes. Hinzu kommt, dass wir wissen, dass in Ituri, aber auch in anderen Gebieten Ostkongos, die Nachbarstaaten Uganda und Ruanda Milizen, oft sogar Kindersoldaten, ausrüsten und militärisch unterstützen. Auch die Regierung in Kinshasa setzt auf bewaffnete Gruppierungen, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie stehen unter dem Verdacht, einen Stellvertreterkrieg um die Ausbeutung von Ressourcen im Ostkongo auszutragen. Daher habe ich deutlich gemacht, dass wir erwarten, dass Uganda und Ruanda ihre Unterstützung der Milizen aufgeben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Staatsministerin, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass die gemeldete Redezeit abgelaufen ist.

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Ich bin gleich fertig. Ich denke, es ist von Interesse, den Bericht zu hören.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Daran habe ich keinen Zweifel, aber da Sie die strengen Anrechnungsvorschriften kennen, wollte ich vermeiden, dass hinterher ein fehlender Hinweis moniert wird.

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Ich denke, der Bericht ist für alle Fraktionen von Interesse. Ich war aus Krankheitsgründen vorgestern leider nicht in der Lage, zur Ausschusssitzung zu kommen, was ich gerne gemacht hätte. Ich hoffe deshalb, meinen Bericht noch schnell beenden zu können. Wegen der regionalen Verflechtung kann nur eine Gesamtlösung dauerhaften Frieden bringen. Daher könnte nach Bildung einer Übergangsregierung im Kongo auf einer regionalen Konferenz für Frieden und Demokratie über die Zukunft der Region der Großen Seen beraten werden. Meine Damen und Herren, wir müssen im Kongo nicht nur humanitäre Hilfe leisten und mit einer internationalen Truppe das Morden in Bunia stoppen. Wir müssen uns intensiv bei den Konfliktparteien dafür einsetzen, dass der politische Prozess vorankommt. Dabei müssen wir uns eng mit den europäischen und internationalen Partnern abstimmen. Vor allem aber müssen wir dafür sorgen, dass die Menschenrechte wieder geachtet werden. ({0}) Wir müssen dem in der Region weit verbreiteten Eindruck entgegenwirken, Afrika sei ein von uns, von den Europäern, vergessener Kontinent. Wir müssen den Afrikanern helfen, ihre Probleme künftig selbst anzupacken und für ihre Sicherheit selbst zu sorgen. Heute wird im Kongo das Recht durch Gewalt ersetzt. Sorgen wir gemeinsam mit den internationalen, den europäischen und afrikanischen Partnern dafür, dass das Recht wieder die Schwachen schützt. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erteile ich dem Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal wünsche ich Ihnen, Frau Staatsministerin Müller, gute Besserung. Sie sind aus dem Kongo mit einer Krankheit zurückgekommen und wir wünschen Ihnen rasche Genesung. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU hat aufgrund eines Mandates der Vereinten Nationen beschlossen, 1 400 Soldaten in die Provinz Ituri zu entsenden, um einen drohenden Völkermord zu verhindern. CDU und CSU werden sich der aus diesem Beschluss folgenden Verantwortung nicht entziehen. Deutschland muss aber bei einer Unterstützung der EU-Mission seinen begrenzten militärischen und finanziellen Möglichkeiten Rechnung tragen. Wir können deshalb als Deutsche bei dieser Mission keine tragende Rolle übernehmen. ({1}) Wir können nicht überall auf der Welt, wo es Krisen, Konflikte und Kriege gibt, an vorderster Front tätig werden. Wenn wir für Zurückhaltung bei diesem weiteren Engagement deutscher Soldaten plädieren, dann geschieht das nicht aus moralischer Gleichgültigkeit gegenüber den von Frau Müller beschriebenen Gräueln, sondern aus Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten. Deshalb und aus unserer Fürsorgepflicht für unsere Soldaten und deren Familien haben CDU und CSU von Beginn an klar gemacht: Es wird keine deutschen Kampftruppen, auch keine Fallschirmjäger, im Kongo geben. ({2}) Wir sind froh darüber, dass der Verteidigungsminister inzwischen klargestellt hat, dass sich die Unterstützungsmaßnahmen für die EU-Militärmission auf logistische Unterstützung, Transportleistungen und ein MEDEVACHospitalflugzeug für Notfälle konzentrieren. Es wird keine deutschen Soldaten im Kongo geben. Meine Kollegen Christian Ruck, Christian Schmidt und ich hatten bereits in der vergangenen Woche eine solche Beschränkung des deutschen Engagements vorgeschlagen. Wir warnen ausdrücklich davor, in den nächsten Tagen weitere Verpflichtungen einzugehen. Wir werden in der übernächsten Woche über ein Mandat für die Kongo-Mission entscheiden. CDU und CSU stehen den entsprechenden Vorschlägen der Bundesregierung, soweit sie sich in diesem Rahmen halten, aufgeschlossen gegenüber. Aber wir haben einige klare Fragen, deren Beantwortung wir bis dahin von der Bundesregierung erwarten: Erstens. Sind die vorgesehenen 1 400 Soldaten wirklich in der Lage, dort Frieden zu schaffen? Die französische Verteidigungsministerin hat heute von einer überaus schwierigen und gefährlichen Mission gesprochen. Schon der Name der Operation, „Operation Mamba“, verheißt wenig Gutes. Darf ich einfach die Frage an Sie richten, ob man diesen Namen noch verändern kann? Die Start- und Landebahnen des Flughafens Bunia in Ituri sind in einem denkbar schlechten Zustand. Material und Soldaten können nur nach und nach in das Land transportiert werden. Wegen des Regens können in Bunia keine Panzer patrouillieren. Schweres Material ist aber notwendig, weil der Friedenstruppe zahlenmäßig überlegene und schwer bewaffnete Kämpfer gegenüber stehen, unter anderem - ich zitiere die französische Ministerin - „junge, unter Drogen stehende, völlig unkontrollierbare Milizen“ mit moderner Ausrüstung, zum Beispiel mit Boden-Luft-Raketen. Das Mandat soll auf die Stadt Bunia konzentriert werden. Stefan Mair, der Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, hält die Begrenzung des Einsatzgebietes auf die Stadt für problematisch. Massaker außerhalb Bunias und eventuell Flüchtlingsströme in die Stadt wären die Folge. Ich finde, wir müssen solche Fragen klären, bevor wir zustimmen. Zweitens. Wir sind unseren französischen Freunden dankbar, dass sie bereit sind, die tragende Rolle bei dieser Friedensmission zu übernehmen. Aber es muss auch erlaubt sein, ohne jedes Vorurteil die Frage zu stellen, ob Frankreich als Friedensstifter von allen Konfliktparteien anerkannt ist. Oder unterstellt man in der Region Frankreich nicht automatisch machtpolitische Eigeninteressen? Stefan Mair von der SWP sagt, es sei das dominante Motiv französischer Afrikapolitik, seine Bedeutung als weltpolitischer Akteur zu stützen. Es sei zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit den USA über den Irakkrieg zu einer Renaissance dieser alten französischen Motivation geführt habe. - Wie gesagt, das sind keine Vorurteile, sondern Fragen, die zu klären sind. Drittens. Nach der bisherigen Planung soll der EUEinsatz ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt dazu heute: Frankreich hofft damit auch dem politischen Ziel näher zu kommen, autonome EU-Einsätze ohne die Nato zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Entspricht das der bisherigen deutschen Politik? Ist das unser Interesse? Bisher war es doch unsere Politik - so ist das noch auf der Webseite des Auswärtigen Amtes nachzulesen -, dass es vor dem Einsatz militärischer Mittel zunächst Sache der NATO ist, zu entscheiden, ob sie eine militärische Operation einleiten will oder nicht. Erst wenn die NATO als Ganzes nicht bereit ist, sich in einem Konflikt zu engagieren, soll die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefragt werden. War es wirklich klug, dem französischen Drängen nachzugeben, in jedem Fall eine reine isolierte EU-Operation durchzuführen? Hätte sich nicht wenigstens einmal der NATO-Rat mit diesem Einsatz befassen sollen? Ist das in der Vereinbarung Berlin Plus zwischen NATO und EU nicht so vorgesehen? Der NATO-Rat hat bisher nicht darüber befunden. Selbst wenn die NATO nicht als Ganzes bereit wäre, einzugreifen, warum nimmt man für diese Operation nicht wenigstens die Fähigkeiten und Möglichkeiten der NATO, etwa das NATO-Hauptquartier, in Anspruch? Meine Sorge ist: Wir als EU überheben uns in diesem schwierigen Konflikt. Werden wir als Deutsche und Europäer nicht in einen afrikanischen Konflikt hineingezogen? Wäre es nicht unsere Aufgabe, die bisherige Sicherheitspolitik, die die europäische Verteidigung als Säule, nicht aber als Gegengewicht zu den Amerikanern verstanden hat, zu stärken? ({3}) Meine letzte, die vierte Frage. Das Mandat der UNO ist bis zum 1. September begrenzt. Vor Mitte Juli wird die Operation Mamba aber kaum voll einsatzfähig sein. Ist es realistisch, in weniger als zwei Monaten Frieden schaffen und Kindersoldaten entwaffnen zu wollen? Die Bundesregierung sollte uns ehrlich sagen, ob sie das glaubt. Selbst wenn eine Stabilisierung gelänge, was passiert nach dem 1. September, wenn Blauhelme aus Bangladesch wieder Verantwortung tragen sollen? Geht dann wieder alles von vorne los? Was ist die mittelfristige Erfolgschance? Was ist die politische Perspektive? Was ist die Exit-Strategie, das heißt, gibt es die Möglichkeit, aus dem Konflikt herauszukommen, in dem man sich engagiert? Oder werden wir auf ewig in diesen Konflikt hineingezogen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Pflüger, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - CDU und CSU erwarten die Beantwortung dieser Fragen. Ich darf noch einmal sagen: Der Verantwortung, die aus dem EU-Mandat für uns alle erwächst, werden wir uns nicht entziehen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Lieber Kollege Pflüger, Sie haben die Fragen richtig gestellt. Jetzt muss es aber darauf ankommen, dass wir Antworten geben und dass wir deutlich machen - ich bin für Ihren Schlusssatz dankbar -, dass wir die Menschen im Kongo nicht alleine lassen. Das ist die zentrale Botschaft, die heute von dieser Debatte ausgehen muss. Denn das Herz Afrikas blutet. ({0}) Natürlich müssen wir uns fragen, welche Möglichkeiten und welche operativen Fähigkeiten wir haben. Es ist völlig richtig, darauf eine vernünftige Antwort zu verlangen. Das Problem wurde richtig beschrieben. Ich glaube, wir können uns dieser Verantwortung nicht einfach entziehen. Wie könnten wir das gegenüber den Menschen, die in der Stadt Bunia und in der Region Hoffnung äußern und Fragen stellen, die uns erreichen und die wir beantworten müssen? Ich glaube, dass wir gar nicht anders können, als darauf die klare und eindeutige Antwort zu geben: Ja, wir wollen innerhalb unserer operativen Fähigkeiten helfen. Diese Antwort muss heute gegeben werden. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung in Brüssel mitgeholfen hat, dass diese Entscheidung in der Europäischen Union getroffen worden ist. Lieber Herr Dr. Pflüger, den Begriff, den Sie hier genannt haben, habe ich heute zum ersten Mal gehört. Soweit mir bekannt ist, hat die Präsidentschaft der EU den Vorschlag gemacht, eine Mission mit dem Namen „Artemis“ zu entsenden. Das hat etwas mit der klassischen griechischen Philosophie und mit einer Göttin zu tun, die eine doppelte BedeuGert Weisskirchen ({1}) tung hat. Ein Teil dieser doppelten Bedeutung betrifft die Rettung und den Willen, mitzuhelfen, dass die Menschen in diesem geschundenen Land, in der Demokratischen Republik Kongo, eine wirkliche Chance haben. Lieber Kollege Dr. Pflüger, ich bitte Sie: Verdunkeln wir unsere Bereitschaft, den Menschen zu helfen, nicht mit allzu vielen - berechtigten - Fragen. Diese Fragen werden wir im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss behandeln. Seien Sie sich sicher: Aufgrund der begrenzten operativen Fähigkeiten, von denen wir von der Bundesregierung gehört haben, ist es klar und eindeutig, dass wir die Bundeswehr und diejenigen, die sich an dieser Mission beteiligen, nicht in Gefahr bringen werden. Wir wissen, in welche ungeheuren, ungewissen, ja chaotischen Situationen wir sie entsenden könnten. Diese müssen in erster Linie diejenigen bewältigen, die Kenntnisse vor Ort haben, die wissen, wie man solche chaotischen Räume beherrschen und kontrollieren kann und die ihren Beitrag dazu leisten können, dass diese so geschundene Region die Chance zur Stabilisierung hat. Wir werden uns an einem solchen Mandat beteiligen, und zwar nicht allein deshalb, weil die Vereinten Nationen das einstimmig beschlossen haben oder weil es die internationale Staatengemeinschaft von uns geradezu verlangt, sondern deshalb, weil wir Europäer eine Verantwortung gegenüber unserem Nachbarkontinent haben. ({2}) Afrika darf nicht aus unserem Blickfeld geraten. Die Menschen in Afrika sollen wissen: Sie sind unsere Nachbarn. Wir müssen ihnen helfen, auf dem guten Weg weiter zu gehen, der sich in vielen Regionen Afrikas schon abzeichnet. Es gibt aber nicht nur das Zentrum, das ins Chaos fällt und sich in großer Gefahr befindet, der Gewaltspirale noch stärker ausgesetzt zu werden. Nein, es gibt auch sehr viele ermutigende Anzeichen in vielen anderen Staaten Afrikas. Wir helfen diesen Staaten, ihre Zivilgesellschaften aufzubauen. Wir unterstützen gutes Regierungshandeln und helfen mit, dass diese Staaten entschuldet werden; denn die Schuldenlast drückt auf ihre Perspektive. Durch sie werden ihre Chancen unterdrückt, eine Demokratie zu entwickeln und von unten her neue zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen. Seit 1999, seit der Kölner Entschuldungsinitiative, haben wir mitgeholfen, dass sich Demokratien in Afrika entwickeln können. Dafür gibt es gute Beispiele: Nehmen Sie Mali, Mosambik und schließlich Kenia. ({3}) Hier zeigt sich, dass diese Chance von den Afrikanern selbst in die Hand genommen wird. Um genau das geht es uns. ({4}) Wir wollen mithelfen, dass die Menschen selbst handeln und demokratische Strukturen von innen und unten her aufbauen können. Deshalb ist es jetzt erforderlich, den Menschen die Sicherheit zu geben, die sie dringend benötigen. Erinnern Sie sich alle bitte daran, was wir selbst durchgemacht haben. 1995 kam es in Jugoslawien zu der furchtbaren Situation, dass Soldaten aus Holland - sie mussten einem nur begrenzten und, wie man im Nachhinein erkennen musste, falschen Mandat folgen einfach fassungslos vor der fürchterlichen Tragödie des Abschlachtens von Tausenden von Moslems standen. Damit sich diese fürchterliche Tragödie nicht wiederholt, damit ein solches Massaker von vornherein verhindert wird, brauchen wir ein robustes Mandat. Es ist die Aufgabe der Europäer, den Afrikanern jetzt zu helfen, lieber Kollege Pflüger. ({5}) Wenn es dafür eine Möglichkeit gibt, dann möchte ich darum bitten, dass sich die zuständigen Minister auch in Brüssel überlegen, inwiefern es gelingen kann, Assets der NATO dort, wo es sinnvoll, notwendig und möglich ist, einzubeziehen. Ich finde, wir sollten in diesem Punkt offen und flexibel an diese Probleme herangehen. Wir dürfen uns ideologisch nicht auf das fixieren, was sich irgendwer dazu erdacht hat. Es kommt darauf an, alle praktischen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu nutzen, damit das Herz Afrikas aufhört zu bluten und die Menschen eine Chance haben, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Staatsministerin, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihren Vortrag, mit dem Sie uns darüber informiert haben, wie die Situation vor Ort ist. Die Tatsache, dass Sie heute zu diesem Thema gesprochen haben, unterstreicht die Wichtigkeit dieses Themas. Lassen Sie mich zu Anfang sagen: Ich hätte gerne zusammen mit den anderen Fraktionen einen gemeinsamen Antrag formuliert. Leider Gottes ist dieser nicht zustande gekommen. Aber an uns hat es nicht gelegen. Wir werden die Debatte aber in diesem Sinne weiterführen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass der UN-Sicherheitsrat am Freitag vergangener Woche die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe in die Demokratische Republik Kongo einstimmig beschlossen hat. Auch begrüßen wir, dass der EU-Ministerrat gestern das Gleiche gemacht hat. Aus Zeitgründen - mir bleiben nur noch knapp drei Minuten Redezeit - möchte ich auf die Militär- und Außenpolitik nicht eingehen. Ich verweise auf die gestrige Erklärung von Werner Hoyer, als in der NATO-Debatte die Frage einer deutschen Beteiligung angesprochen worden ist. Ich als Entwicklungspolitiker möchte einen anderen Blickwinkel darstellen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Delegation des UN-Sicherheitsrates nach Kinshasa reisen wird, um zu versuchen, dort eine Übergangsregierung zu installieren. Dies hätte schon längst stattfinden sollen. Es ist erfreulich, dass dies von der höchsten UNEbene erneut angepackt wird. Der UN-Sicherheitsrat ist in den letzten Jahren dreimal mit einer Delegation in diese Region gereist. Wir als Deutscher Bundestag müssen dieses Unternehmen unterstützen. Wir hoffen natürlich, dass diese Delegation erfolgreich sein wird. Dies alles gibt Hoffnung, dass sich die schrecklichen Ereignisse in Ruanda und Uganda, der Völkermord, nicht wiederholen. Damals versäumte es die internationale Gemeinschaft, rechtzeitig einzugreifen. Der Genozid wurde tragischerweise nicht verhindert. Deshalb muss die Völkergemeinschaft heute handeln. Noch ist Zeit, eine große Katastrophe und massenhaftes Blutvergießen zu verhindern. Besonders dramatisch ist die Situation in der Region an den Großen Seen in Afrika wegen der fehlenden Autorität des Staates, insbesondere im Osten Kongos. Es gibt keine Infrastruktur. Die zivile Bevölkerung wird mit dem Notwendigsten nur schlecht versorgt. Die Gesundheitsversorgung ist mangelhaft. Die Menschen hungern. Seuchen wie Malaria und Aids breiten sich ungehindert aus. Am schlimmsten sind die Kinder betroffen. Viele von ihnen sind aufgrund von Mord, Totschlag und Aids schon als Kleinkinder zu Waisen geworden. Im Osten Kongos gibt es nach Angaben der Welthungerhilfe 10 000 Kindersoldaten. Wir müssen alles tun, um diesen Kindern wieder eine Zukunft zu geben. ({0}) Die GTZ und die KfW haben in Projekten in Sierra Leone sehr gute Ergebnisse bei der Wiedereingliederung von ehemaligen Kindersoldaten erzielt. Diesem Thema müssen wir uns heute zuwenden. Diese Erfahrungen können und müssen jetzt sofort im Kongo genutzt werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Heinrich, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr vor Ihnen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es reicht nicht aus, wenn die Koalition für den Herbst ein Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsprogramm erwartet. Wir wollen heute konkrete Aussagen dazu hören, dass diese Bundesregierung und die Koalition bereit sind, parallel zur Entwaffnung der Kindersoldaten ihre Aufgaben in diesem Sinne tatsächlich wahrzunehmen. ({0}) Ich hätte noch einige gute Anregungen geben wollen, aber leider Gottes ist mir das aufgrund der Zeit verwehrt. Drei Minuten in einer so wichtigen Frage sind eben doch zu wenig. ({1}) Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, fraktionslos.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Seit einigen Tagen lesen wir in der Presse verschiedene Variationen darüber, wie die deutsche Bundeswehr im Kongo eingesetzt werden könnte. Nun haben wir einen Antrag auf dem Tisch liegen, der sich sehr ausführlich mit der Situation im Kongo befasst, sehr ausführlich über humanitäre Maßnahmen schreibt, aber an der entscheidenden Frage undeutlich und offen bleibt. Die Frage, die zuerst zu stellen und nicht beantwortet ist, lautet: Warum hat die Staatengemeinschaft jahrelang dem Morden im Kongo zugesehen und warum wird jetzt die Initiative ergriffen? Die zweite Frage leitet sich aus der kürzesten Formulierung im Antrag ab, wo es heißt - ich zitiere: „entsprechend den deutschen Möglichkeiten Hilfe für die Interims-Eingreiftruppe und für MONUC zuzusagen;“. Diese Formulierung lässt alles offen und sagt uns nicht, worum es eigentlich geht. Ich finde es nicht redlich, in einer Debatte zum Kongo die Fakten nicht klar auf den Tisch zu legen. Stattdessen erfahren wir aus den Medien, dass im Kabinett dann und dann dieses und jenes entschieden wird. Andere haben schon interne Absprachen getroffen. Warum schreiben Sie nicht klar auf, was Sie wollen? Warum tragen Sie die Entscheidung nicht ins Parlament? Warum geben Sie Entscheidungen über Presseerklärungen bekannt? ({0}) - Das ist klar. Die Entwicklung läuft und der Diskussionsprozess läuft, aber über die Medien und in Pressekonferenzen werden schon Zahlen verbreitet und Tatsachen bekannt gegeben. ({1}) Heute wird eine Debatte angesetzt, in der die entscheidende Frage nicht klar und deutlich genannt wird. Das kritisieren wir. Wir fordern, dass die Parlamentarierinnen und Parlamentarier Angaben auf den Tisch bekommen, aufgrund derer sie verantwortungsbewusst entscheiden können. Wir wollen uns nicht auf Pressespekulationen verlassen müssen. ({2}) Wichtig ist, dass den Menschen im Kongo schnell geholfen wird. Wichtig ist, dass der Deutsche Bundestag klare Entscheidungen treffen kann. Ich finde an diesem Antrag besonders kritikwürdig, dass er sich zu vielen richtigen Fragen mit wichtigen Argumenten äußert, aber bei der entscheidenden Frage offen, unklar und undeutlich bleibt. Das sollten Sie sehr schnell ändern. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Im Kongo verblutet auch die Glaubwürdigkeit der Weltorganisation“, so titelte der „Rheinische Merkur“. „Kindersoldaten machen Jagd auf Menschen“, so berichtet Kurt Pelda als Korrespondent aus Bunia. Die Blauhelme sind nur Beobachter. Seit Dezember 2002 und Januar 2003 wissen wir, dass ein Machtvakuum durch den Rückzug von Uganda und Ruanda entsteht. Dieses Machtvakuum hat in Bunia und Drodro in der Region Ituri zu Übergriffen, Massakern, Vertreibungen, Flucht, Vergewaltigungen und ständiger Gewalt geführt. Es gibt Tausende vagabundierende Kindersoldaten. Circa ein Drittel der Armee besteht aus Kindersoldaten. Im März sind die Berichte immer grausamer geworden. Ich habe am 31. März beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Länderbericht Kongo angefordert. Am 3. und 4. April haben nach Berichten der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „taz“ die Massaker von Bunia und Drodro stattgefunden. In der ersten Aprilwoche habe ich den Länderbericht erhalten. Ich zitiere aus diesem Bericht: Die Gründe für diesen von der internationalen Öffentlichkeit nur wenig beachteten Krieg sind komplex. Im Kern dreht sich der Konflikt um die politische Herrschaft im Land und die Kontrolle über die enormen Rohstoffe. Die Konflikte in Ruanda und Burundi wirken in die Demokratische Republik Kongo hinein … Derzeit konzentrieren sich die Kämpfe mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, Massenhinrichtungen, systematischen Vergewaltigungen, Vertreibungen und Plünderungen auf die im Nord-Kivu gelegene Region Ituri. Frau Staatsministerin, herzlichen Dank für die Informationen, die Sie uns mit der Schilderung Ihrer persönlichen Erlebnisse gegeben haben. Aber wir haben bereits am 8. Mai im Bundestag eine entwicklungspolitische Debatte geführt, für die wir am 6. Mai einen Antrag vorgelegt haben, der sich mit genau diesen Themen befasst hat. ({0}) Aber die Ministerin hat in ihrer gesamten Regierungserklärung mit keinem einzigen Wort zu dem Thema Kongo Stellung genommen, obwohl die Fakten aus dem Länderbericht des Ministeriums bekannt waren. Wir mussten versuchen, uns per E-Mail Informationen von kirchlichen Organisationen und Menschenrechtsorganisationen zu beschaffen. Für mich ist es nicht zu verstehen, dass in der Regierungserklärung die Chance, die Öffentlichkeit über die Zielsetzung der Bundesregierung in dieser Frage zu informieren, nicht genutzt wurde. ({1}) Ich danke den Medien, die das Thema Kongo aufgegriffen haben, als wir sie nach dieser Regierungserklärung mit unseren Informationen versorgt haben. Sie, Frau Ministerin, haben erst am 20. Mai zum ersten Mal öffentlich Stellung genommen. Dann ging es plötzlich los: Das Verteidigungsministerium, Ihr Ministerium und das Auswärtige Amt haben das Thema aufgegriffen. Dann wurde Frau Müller in einer hektischen Aktion nach Kinshasa geschickt. Wir hatten, wie gesagt, schon einen Antrag eingebracht. Ich sage dem entwicklungspolitischen Sprecher der Grünen: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf uns zugegangen sind. Wir hätten mit diesem Antrag zu einer Einigung kommen können. ({2}) Wir waren uns in diesem Thema schon sehr nahe. Man hätte auch einen Sprung machen können. Ich hätte mir gewünscht, Herr Hoppe, dass Sie sich insofern hätten durchsetzen können. Das wäre der Sache dienlich gewesen. ({3}) In Ihrem Antrag haben Sie einen großen Teil unseres Antrags wörtlich übernommen. Lassen Sie mich kurz darauf zu sprechen kommen, was Sie, Frau Staatssekretärin Eid, in der vorigen Plenarsitzung in einer Kurzintervention ausgeführt haben. Frau Eid, ich bin der festen Überzeugung, dass Sie die Afrikapolitik mit Herz und Verstand betreiben. Aber ich habe - auch nach der Regierungserklärung - den Eindruck, dass Sie nicht das Ohr Ihrer Ministerin haben. Denn dann wäre die Regierungserklärung anders ausgefallen. Ich habe auch den Eindruck, dass der Kanzler, dessen G-8-Beauftragte für Afrika Sie sind, Sie im Regen stehen lassen hat. ({4}) Wenn Sie es ernst meinen, dann können Sie unserem Antrag, der noch in der parlamentarischen Beratung ist, in der nächsten Plenarwoche zustimmen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Antrag auf Drucksache 15/1144 mit dem Titel „Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Mitglieder des Hauses angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Sofortige und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi - Drucksache 15/1105 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Volker Neumann, SPD-Fraktion.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor einer Woche ist die burmesische Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi verhaftet und in ein Gefängnis wahrscheinlich in der Nähe von Rangun gesteckt worden. Wir verurteilen die erneute Verhaftung der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin auf das Schärfste und fordern zusammen mit der Bundesregierung die Regierung Myanmars auf, sie und auch die Begleiter von der NLD, ihrer Partei, freizulassen. Die für ihren friedlichen Kampf für Menschenrechte und Demokratie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete burmesische Oppositionspolitikerin wird auf brutale Weise ihrer Menschenrechte beraubt. Im Juli 1989, also vor 14 Jahren, ist sie zum ersten Mal in Haft genommen worden. Als sie 1991 den Friedensnobelpreis bekommen hat, konnte sie ihn nicht persönlich in Empfang nehmen, weil sie sich in Haft befand. Nach ihrer Entlassung 1995 wurde sie im Jahr 2000 wiederum verhaftet. Bis zum Jahr 2002 stand sie unter Hausarrest. Zu ihrer erneuten Festnahme in der vergangenen Woche haben die Militärmachthaber gegenüber der internationalen Gemeinschaft erklärt, man halte sie zu ihrem eigenen Schutz an einem unbekannten Ort in Gewahrsam. Ihre Freilassung lehnt die Regierung Myanmars ebenso ab wie die Bitte des Roten Kreuzes und von Diplomaten um Zugang zu Aung San Suu Kyi. Heute Morgen ist der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs, Herr Razali, in Rangun eingetroffen. Er will versuchen zu vermitteln. Obwohl er noch keine feste Zusage für ein Treffen mit Aung San Suu Kyi hat, sind Bemühungen in vollem Gange, Zugang zu ihr zu bekommen. Wie kam es zu der erneuten Verhaftung? Als ich Mitte Mai zusammen mit meinem Kollegen Eppelmann von der CDU/CSU im Auftrag des Ausschusses für Menschenrechte in Myanmar war, hatten wir keine Gelegenheit, mit Aung San Suu Kyi zu sprechen. Sie war gerade zu einer Reise in den nördliche Teil Burmas, in den Kachin-Staat, aufgebrochen. Diese Reise war bis dahin geheim gehalten und von der Regierung genehmigt worden. Aber schon als wir ankamen, hörten wir von massiven Bedrohungen und Behinderungen dieser Reise durch die örtlichen Behörden. Die Veranstaltungen von Aung San Suu Kyi wurden gestört. Trotz dieser Einschüchterungsversuche schlossen sich immer mehr Menschen der Friedensnobelpreisträgerin an und zeigten so ihre Solidarität. Letzten Freitag war sie nach Augenzeugenberichten wieder unterwegs. Als sie in der Stadt Monywa angegriffen wurde, war das das Ende ihrer Reise. Sie war mit drei Autos und 18 Personen aus ihrer engeren Umgebung losgefahren. Dieser Autokolonne haben sich dann mehrere Menschen und Autos angeschlossen. Mit einem Mal kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung, bei der nach offiziellen Angaben vier Menschen ums Leben kamen und 50 verletzt wurden. Nach dem, was wir gehört haben, sind es wesentlich mehr gewesen. Wir wissen bis heute nicht, ob Aung San Suu Kyi leicht oder, wie Gerüchte besagen, sogar schwer verletzt ist. Während sich die Regierung von Myanmar bemüht, diesen Angriff als eine Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Anhängern Aung San Suu Kyis und ihrer Oppositionspartei darzustellen, erscheint es heute nahezu sicher, dass dies eine lang geplante Geheimdienstoperation war, die die Militärregierung zum Anlass für einen Schlag gegen die Opposition genommen hat; denn alle Büros der Oppositionspartei NLD sind geschlossen und ihre Anhänger zum Teil verhaftet worden. Außerdem wurden Schulen und Universitäten geschlossen. Berichte, wonach die Militärregierung in Myanmar fest im Sattel sitze, fanden wir bestätigt, als wir dort waren. Dennoch sind wir über die brutale Art und Weise überrascht, in der Aung San Suu Kyi verhaftet und in Isolationshaft gebracht worden ist. Dabei hatte es im Mai letzten Jahres so hoffnungsvoll begonnen. Damals wurde sie aus dem Hausarrest entlassen. Es gab dann Gespräche mit der Militärregierung, die Anlass für einen Hoffnungsschimmer gaben. Auch wenn die Gespräche in der Phase der Vertrauensbildung stecken geblieben waren und ein substanzieller Dialog nicht stattgefunden hatte, gab es ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit für die Opposition. So konnte die Oppositionspartei NLD ihre Büros wieder eröffnen und bei ihr ließen sich - man höre! - 1 Million Menschen als Mitglieder registrieren. Der anfängliche Optimismus ist aber längst der Resignation gewichen. Das Vorgehen der Regierung gegen die demokratischen Kräfte hat alle positiven Entwicklungen mit einem Schlag zunichte gemacht. Volker Neumann ({0}) Ein Blutbad wie 1988, dem Tausende Menschen zum Opfer fielen, muss verhindert werden. Wir fordern daher erstens die Freilassung von Aung San Suu Kyi und allen politischen Häftlingen. ({1}) Zweitens fordern wir, dass unverzüglich ein Vertreter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, das sich vor Ort befindet, Aung San Suu Kyi besuchen kann und dass der UN-Sondergesandte Razali, der heute Morgen angekommen ist, seine Mission fortsetzen kann. Wir fordern drittens vor allem, dass die Militärjunta endlich zu substanziellen Gesprächen mit der Opposition und auch mit den ethnischen Minderheiten kommt. Die Bevölkerung Myanmars leidet größte Not. Eine Familie muss durchschnittlich 70 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. Ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren ist mangelernährt. Weniger als die Hälfte der Kinder schließt die Grundschule ab. Die Situation im Bildungsbereich verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Der Zustand im Bildungssektor ist desolat. Hinzu kommt, dass 2 Prozent der Bevölkerung HIV-infiziert sind. In den von 135 ethnischen Minderheiten bewohnten Gebieten ist die Lage noch dramatischer. Die Angehörigen der Minderheitenvölker sind am stärksten belastet und leiden unter Menschenrechtsverletzungen. In den Gesprächen haben sie uns glaubhaft versichert, dass es auch dort systematische Vergewaltigungen gibt, dass Zwangsarbeit an der Tagesordnung ist - das hat die ILO bestätigt -, dass Eigentum konfisziert wird, dass es Zwangsumsiedlungen gibt und dass im Nordteil Myanmars eine chinesische Mafia von Drogenbossen die staatliche Gewalt faktisch abgelöst hat. Die Bundesrepublik verfolgt mit der EU und anderen westlichen Staaten eine Sanktionspolitik gegenüber Myanmar. Erst im April hat die EU den gemeinsamen Standpunkt bestätigt und eine Ausweitung der Sanktionen angedroht, falls die Regierung nicht bis Ende Oktober dieses Jahres zu substanziellen Gesprächen mit der Opposition bereit ist. Bislang weigert sich die Regierung strikt, einen Zeitplan oder Modalitäten zu nennen. Danach ist nach meiner Überzeugung ein politischer Wandel durch Sanktionen nicht erreichbar. Die Sanktionen werden im Übrigen durch die Nachbarländer Myanmars konterkariert. Diese Ansicht teilen viele Beobachter der Situation im Land. Das brutale Vorgehen der Militärregierung zeigt: Sie fürchtet keine Sanktionen durch die internationale Gemeinschaft. Uns liegen die Not leidenden Menschen Myanmars am Herzen. ({2}) Humanitäre Hilfe ist von den Sanktionen zwar ausgenommen; dennoch sind die Hilfsleistungen für Burma nur minimal. Nach meiner persönlichen Einschätzung ist es nicht zu rechtfertigen, dass beispielweise Kambodscha von der internationalen Gemeinschaft 70-mal so viel humanitäre Hilfe erhält wie Burma, 70-mal so viel wie Burma! Deshalb empfehle ich, die humanitäre Hilfe für Myanmar zu einem geeignetem Zeitpunkt auszuweiten und die Entwicklungszusammenarbeit in bestimmten Bereichen des Bildungs- und Gesundheitssektors wieder aufzunehmen. Dies würde - wie unsere Gespräche gezeigt haben - auch von den meisten burmesischen Oppositions- und Minderheitengruppen befürwortet. Verstärkte humanitäre Hilfe kann eine Reihe von positiven Nebenwirkungen, auch politischen, entfalten. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen etwa können eine gewisse Schutzwirkung für die Angehörigen der Minderheitenvölker entfalten. Die Menschen in Myanmar sind zurzeit, wie es ein UNO-Vertreter in Rangun treffend formulierte, doppelt bestraft: durch das repressive Vorgehen der Regierung und durch das Ausbleiben westlicher Hilfe. Deshalb möchte ich auch zu der Diskussion darüber ermutigen, ob diese Art der Sanktionspolitik dazu geeignet ist, uns dem Ziel politischer Veränderung hin zu Freiheit und Demokratie näher zu bringen. Der Deutsche Bundestag unterstützt heute die Bemühungen um die Freilassung von Aung San Suu Kyi. Diese Forderung ist in einem interfraktionellen Antrag enthalten, der vom Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe initiiert wurde. Wir sind uns darin mit fast allen Regierungen der Welt und allen Parlamenten der Welt einig. Der Vater der Friedensnobelpreisträgerin, Aung San, hat 1947/48 die Unabhängigkeit des Landes vom britischen Kolonialreich erkämpft. Ich hoffe, dass wir bald den Tag erleben, an dem wir sagen können: Seine Tochter Aung San Suu Kyi hat dem Land Freiheit und Demokratie erkämpft. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Verhaftung der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und die Tatsache, dass ihr Aufenthaltsort bis heute ungeklärt ist, hat in den letzten Tagen in der Weltöffentlichkeit für Empörung und Bestürzung gesorgt. Aung San Suu Kyi gilt als die Vorkämpferin für die Demokratisierung Burmas. Dies hat mir noch in dieser Woche der Kollege Eppelmann, der selbst in Burma war - Kollege Neumann hat es soeben erwähnt - und eigentlich auch mit Frau Suu Kyi sprechen sollte, nochmals bestätigt. In der Weltpresse wird Frau Suu Kyi manchmal sogar als „die Mandela“ oder auch als „die Gandhi“ Burmas bezeichnet. Dieser Vergleich trifft insofern zu, als Frau Suu Kyi in Burma den Status einer Nationalheldin hat. Sie - Tochter des Staatsgründers und legitime Siegerin der Parlamentswahlen von 1990 - verkörpert mehr als jeder andere Oppositionspolitiker die Hoffnung der Einwohner Burmas auf eine bessere Zukunft. Ihr Schicksal steht beispielhaft für das vieler Menschen in Burma, die - Herr Kollege Neumann hat schon darauf hingewiesen - unter einer menschenrechtlich und humanitär höchst bedenklichen Situation leiden. Seit 41 Jahren wird Burma nun durch ein Militärregime regiert, das das Land auch wirtschaftlich an den Rand des Ruins getrieben hat. Einige Zahlen mögen dies verdeutlichen: Die Inflationsrate liegt bei über 60 Prozent pro Jahr. Das durchschnittliche Tageseinkommen eines Bauern beträgt knapp 1 US-Dollar. Ein Mädchen in einem Handwerksbetrieb verdient kaum 30 Cent. Etwa 25 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Jedes dritte Kind ist unterernährt. Das ist eine geradezu irrwitzige Tatsache für ein Land, das mit Nahrungsmitteln jeglicher Art gesegnet ist. Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria greifen immer schneller um sich. Schließlich ist ein wie auch immer geartetes Bildungssystem kaum noch vorhanden. Die Zahl der Analphabeten steigt von Jahr zu Jahr. Zu allem Überfluss hat die Regierung nach der Verhaftung Aung San Suu Kyis beschlossen, landesweit alle Schulen und Universitäten zu schließen, um Proteste zu verhindern. Diese neuerlichen Aktionen der Junta gegen die Demokratiebewegung haben gezeigt, dass die Sanktionen der Europäischen Union gegenüber Burma - ich habe hierzu eine andere Meinung als mein Vorredner - schon noch ihre Berechtigung haben. Die internationale Staatengemeinschaft hat bisher jede weitere Zusammenarbeit im Bereich der Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe abgelehnt, um den Druck auf die burmesischen Machthaber weiter zu erhöhen, damit sie politische und wirtschaftliche Reformen einleiten. Diese Strategie schien sich zu Beginn des Jahres 2002 erstmals auszuzahlen, als der Hausarrest gegen Aung San Suu Kyi aufgehoben wurde und sie die Erlaubnis erhielt, sich in ihrem Heimatland frei zu bewegen. Zudem wurde der Nationalen Liga für Demokratie, NLD, erlaubt, wieder landesweit Büros zu eröffnen. Doch trotz dieses eher symbolischen Akts blieb die menschenrechtliche Situation nach wie vor bedenklich. Das bedrückende Schicksal von Frau Suu Kyi steht leider stellvertretend für das vieler Menschen, die vom burmesischen Regime brutal unterdrückt wurden. Ich möchte auch hierfür einige Beispiele nennen: Besonders ethnische Minderheiten werden vom Militär zu Zwangsarbeit herangezogen. Kinder werden als Soldaten rekrutiert und müssen teilweise schwerste Arbeiten verrichten. Trotz der Teilamnestie aus dem Jahr 2002 befanden sich zu Beginn dieses Jahres noch immer etwa 1 300 politische Gefangene in Haft, davon 18 Parlamentsabgeordnete. Diese und andere Personen werden nach wie vor mit Folter bedroht. Es gibt Fälle von extralegalen Hinrichtungen. Es wird gegen ethnische und religiöse Minderheiten vorgegangen, etwa gegen die Moslems, die aus Bangladesch in den Rankhine-State zurückgekehrt waren, oder gegen die mehr als 2 Millionen katholischen Christen. In einigen Provinzen gibt es bürgerkriegsähnliche Zustände. Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben; etwa 120 000 Burmesen halten sich in Thailand auf, etwa 40 000 in Indien. Die Presse- und Meinungsfreiheit ist eingeschränkt; der bloße Besitz eines Faxgerätes kann unter Umständen - das wäre in Deutschland kaum vorstellbar - mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren belegt werden. Von der vollständigen Überwachung sind auch ausländische Besucher nicht ausgenommen: Paulo Sergio Pinheiro, der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, wurde bei Gesprächen mit politischen Gefangenen sogar abgehört. Auch hierauf hat die internationale Staatengemeinschaft reagiert: Die UN-Menschenrechtskommission hat das Mandat zur Sonderberichterstattung für Burma in einer einstimmig gefassten Resolution zum elften Mal verlängert. Ich finde, dies ist ein trauriger Höhepunkt. Mit der Freilassung von Aung San Suu Kyi im letzten Jahr wurde trotz all dieser Umstände die Hoffnung verknüpft, die Militärs in Burma könnten bereit sein, einen Schritt in die Richtung einer Demokratisierung ihres Landes und seines Regimes zu tun. Alle, die diese Hoffnung bisher gehegt hatten, sehen sich heute getäuscht. Doch nicht nur das: Mit der Verhaftung ging eine Welle der Repression gegen die Partei Suu Kyis einher. Sämtliche Büros der Nationalen Liga für Demokratie wurden geschlossen, sogar nach offiziellen Angaben - auch das hat der Kollege Neumann schon gesagt - wurden bei den Zusammenstößen vier Personen getötet und 50 weitere verletzt. Heute konnte man lesen, dass es sogar bis zu 70 Tote gegeben haben soll. Noch mehr Anlass zur Sorge gibt allerdings die Tatsache, dass die Regierung Burmas trotz des internationalen Drucks nicht bereit ist, den Aufenthaltsort und den Gesundheitszustand von Frau Suu Kyi bekannt zu geben. Viele Regierungen, unter anderem die amerikanische und die Bundesregierung, haben bereits die sofortige und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi gefordert. Der Deutsche Bundestag kann, darf und wird hier nicht schweigen. ({0}) Es ist wahr und auch richtig, dass der Bundestag nur sehr selten und in besonderen Fällen in Anträgen und Resolutionen davon Gebrauch macht, sich des Schicksals von Einzelpersonen anzunehmen. Aber dieser Fall - darauf möchte ich noch einmal ganz besonders hinweisen - steht symbolisch für den Umgang der Militärjunta in Burma mit Menschenrechtspolitikern und für die Unterdrückung jeglicher Freiheitsrechte. Aus diesem Grund ist eine gemeinsame, schnelle und abgestimmte Intervention der Bundesregierung, befreundeter Regierungen, der Europäischen Union und auch der Vereinten Nationen dringend geboten. Auf die Frage, was die internationale Staatengemeinschaft für Burma tun könne, antwortete Aung San Suu Kyi einmal: Ich wünsche mir ein aktiveres Interesse an dem, was in meinem Land geschieht, verbunden mit der Anerkennung der Notwendigkeit für einen grundlegenden Wandel in Burma. Der heute vorliegende Antrag ist aus meiner und aus unserer Sicht ein erster Schritt dazu, dass auch ein Land wie Burma mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen InHolger Haibach teresses rückt. Setzen wir uns jetzt gemeinsam dafür ein, dass Aung San Suu Kyi und ihre Weggefährten baldmöglichst freigelassen werden. Setzen wir uns über den heutigen Tag hinaus gemeinsam dafür ein, dass sich die Verhältnisse in Burma nachhaltig verbessern. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/Die Grünen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Fakten, die meine Kollegen in ihren Beiträgen genannt haben, nicht wiederholen. Wie viele andere ist Frau Suu Kyi wirklich in allergrößter Gefahr. Ich glaube, dass eine solche Debatte - Kollege Haibach sagte schon, dass wir so etwas nur selten machen - wichtig ist, damit einfach einmal die Person, die sich schon so viele Jahre unter Einsatz ihres Lebens für die Menschenrechte einsetzt, hier bei uns besser bekannt wird. Frau Suu Kyi ist, wie Kollege Neumann schon sagte, die Tochter eines sehr berühmten Unabhängigkeitskämpfers und Nationalhelden. Ein Schlaglicht auf ihr Leben wirft aber auch die Tatsache, dass sie im Alter von zwei Jahren diesen Vater verlor; er wurde ermordet. Sie selber gilt als Ikone der Demokratie - die Kollegen haben es schon gesagt -, wird auf eine Stufe mit Gandhi und Nelson Mandela gestellt. Dabei ging Frau Suu Kyi erst spät in die Politik und trat ihr Amt, wie wir es bei vielen aktiven und klugen Frauen aus Asien erleben, eher als Vermächtnis in der Tradition ihres Vaters an. Sie kehrte nach einer Eliteausbildung in Rangun, in Indien und in Oxford, wo sie den britischen Tibetexperten Michael Aris heiratete, mit dem sie zwei Kinder hat, 1988 wieder in ihre Heimat zurück, um ihre Mutter zu pflegen. Während der Pflege ihrer Mutter zeigte sie sich nicht unberührt von dem, was in ihrem Land passierte. Meine Kollegen Vorredner haben es hier schon sehr deutlich dargestellt. Sie hat dann sehr kompetent, sehr energisch und sehr erfolgreich in die Politik eingegriffen. Die Kollegen haben auch das schon dargestellt. Die Konsequenz daraus war, dass sie mehrmals Verhaftungen, Misshandlungen und Freiheitsberaubungen erleben musste. Sie hat jahrelang im Gefängnis gesessen, allein bis 1995 sechs Jahre. Nach ihrer Freilassung hat sie wieder einen Dialog begonnen, Ende 2000 einen geheimen Dialog mit den Generälen, um nationale Versöhnung zu erreichen. Sie hat wirklich mit allen Möglichkeiten, die einer Politikerin zur Verfügung stehen, versucht, hier ein Stück voranzukommen. Das Ergebnis war erneuter Arrest. 1999 hat sie von sich aus darauf verzichtet, ihren Mann und ihre Söhne, die in England leben, zu besuchen, als ihr Mann schwer krebserkrankt war; 1999 ist er gestorben. Sie hat deshalb darauf verzichtet, weil sie sicher war, dass die Regierung ihres Heimatlandes ihr die Wiedereinreise nicht erlauben würde. Sie sah sich als charismatische, für ihre Partei und die Bevölkerung ganz wichtige und ermutigende Persönlichkeit in der Pflicht, das Land nicht zu verlassen. Dieses Ausmaß der Tragödie muss man sich hier einmal vorstellen. Ich glaube, dass gerade wir als Parlamentarier, die wir manchmal unter der Last der Erarbeitung von Reformen und anderen komplizierten Prozeduren ächzen, uns in dieser Debatte klarmachen müssen, wie schwer, drückend, lebensbedrohlich, schmerzlich das Auseinanderreißen von Familien, Ehepartnern, Eltern und Kindern ist und wie schwer es sein kann, ganz simple, einfachste politische und parlamentarische Rechte in Anspruch zu nehmen. Ich bin sehr froh und sehr dankbar, dass es in diesem Fall eine schnelle konzertierte Aktion von vielen Parlamenten, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und auch der Vereinten Nationen gibt. Aber ich glaube, das Beispiel von Frau Suu Kyi zeigt uns auch, dass Tausende in aller Welt, die einen derartigen Mut aufbringen, die allerdings gern darauf verzichten würden, zu solchen Helden zu werden, stärker in unseren Blick kommen müssen und dass wir erheblich mehr Anstrengungen unternehmen müssen und erheblich mehr Kraft mobilisieren müssen, gerade als Parlamentarier und Parlamentarierinnen, um nachhaltig bedrohte Menschenrechtsverteidiger, Parlamentarier und Politiker wirksamer zu schützen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist mir wichtig, feststellen zu können: Der gesamte Deutsche Bundestag ist empört und entsetzt über die erneute Festnahme der burmesischen Demokratin, Freiheitskämpferin und Oppositionellen Frau Suu Kyi. Wir fordern die sofortige Freilassung der Nobelpreisträgerin. ({0}) Es geht uns dabei nicht nur um das Schicksal von Frau Suu Kyi selbst, sondern auch um die Menschenrechte, um die Sache der Freiheit und der Demokratie insgesamt. Der Tag der erneuten Festnahme der burmesischen Nobelpreisträgerin war ein schwarzer Tag im weltweiten Kampf für die Menschenrechte. Frau Suu Kyi ist mit ihrem engagierten, mutigen Einsatz für die Freiheit und die Menschenrechte in ihrem Land und mit ihrem langen Leidensweg zu einem weltweiten Symbol für die Menschenrechte und den Freiheitskampf engagierter Oppositioneller in den vielen unfreien Ländern der Welt geworden. Sie ist dafür mit unzähligen internationalen Preisen ausgezeichnet worden, zum Beispiel 1995 mit dem Prize for Freedom der Liberalen Internationale. Die Militärjunta in Rangun muss merken, dass die Festnahme von Frau Suu Kyi nicht einfach hingenommen wird und dass dieser Tag auch ein schwarzer Tag für das Regime in Burma selbst war und sein muss. ({1}) Es hatte im vergangenen Jahr vorsichtige Anzeichen für eine Öffnung des Landes gegeben, Anzeichen, die einem der ärmsten Länder Südostasiens auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf wirtschaftliche Hilfe und Entwicklung sowie auf internationale Einbindung gegeben hatten. Dies ist alles umsonst gewesen. Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag heute in dieser spontan angesetzten Debatte mit einem, wie ich finde, sehr guten interfraktionellen Antrag für die sofortige Freilassung von Frau Suu Kyi einsetzt. Aber wir müssen mehr tun. Burma darf nicht einer der letzten schwarzen Flecken auf der Landkarte der globalisierten Welt bleiben. Wir müssen uns kümmern. Das heißt, wir dürfen das Land und seine vor allem jungen Menschen nicht schon bald wieder dem Zugriff der skrupellosen Militärjunta überlassen. Das Militär hat nicht nur Frau Suu Kyi festgesetzt, sondern auch die Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen des Landes geschlossen. Die Junta verspielt in ihrem verzweifelten Kampf um Machterhalt die Zukunft der Jugend ihres Landes und setzt dabei darauf, dass sich die internationale Aufregung und der internationale Druck schon bald wieder legen werden. So weit dürfen wir es nicht kommen lassen. Wir sollten eine Burma-Initiative der Europäischen Union starten. Die Bundesregierung sollte ihren Sitz und ihre Stimme im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen nutzen, um das Schicksal dieses Landes auf der internationalen Tagesordnung zu halten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP eingebrachten Antrag mit dem Titel „Sofortige und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi“. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 15/1105? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Heil, Klaus Brandner, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ulrike Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Bestimmungen der Post-Universaldienstleistungsverordnung verbraucherfreundlich durchsetzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von Postdienstleistungen schaffen - Drucksachen 15/615, 15/466, 15/579, 15/1129 Berichterstattung: Abgeordneter Johannes Singhammer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel, SPD-Fraktion.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit mehreren Wochen macht die Deutsche Post wieder Schlagzeilen: positive Schlagzeilen im internationalen Geschäft und an den Börsen, aber negative Schlagzeilen in den Wahlkreisen, in Stadt und Land. Gestern gab es - wir haben es gehört - sehr zwiespältige Schlagzeilen von der Hauptversammlung. In der internationalen Entwicklung ist spannend zu erleben, dass die Postmärkte in vielen anderen Ländern längst nicht so offen sind, wie immer getan wird, noch nicht einmal so offen wie in der Bundesrepublik. So sehen wir, wie ausgerechnet in den USA, der Speerspitze der Liberalisierung auf den Weltmärkten, Tochterunternehmen der Deutschen Post - in diesem Fall im Luftverkehr - am Markteintritt gehindert werden sollen. Das erinnert uns daran, dass die Liberalisierungsdebatte bei uns im Bezug auf den Postsektor nicht immer unter den richtigen Voraussetzungen und Grundannahmen geführt wird. Die Post bleibt ein besonderes Thema, was sowohl den internationalen Vergleich als auch die emotionale und alltägliche Wahrnehmung durch die Bürgerinnen und Bürger betrifft. Ob es um die neuen Verträge für die partnerbetriebenen Agenturen geht, ob es um die Umstrukturierungen zulasten der Dienste-Angebote und der Qualität im Filialnetz geht, ob es um neue Entgelte für Lagerungen und Nachsendungen geht, ob es um Nacht-und-Nebel-Aktionen beim Abbau von Briefkästen geht: Wir haben den Klaus Barthel ({0}) Eindruck, die Post testet gerade die Belastbarkeit und die Geduld ihrer Kundinnen und Kunden, ihrer Beschäftigten und ihrer Geschäftspartner. Wir wollen heute deutlich machen, was wir davon halten. Dabei haben wir natürlich im Blick, was der politische Mehrheitswille Anfang der 90er-Jahre war. Der Postsektor sollte liberalisiert, privatisiert und dereguliert werden. Auf diesem Markt sollten private Unternehmen unter betriebswirtschaftlichen und wettbewerblichen Bedingungen und auch unter den Bedingungen internationaler Konkurrenz agieren. Die Märkte wurden und werden schrittweise geöffnet, das ehemalige Staatsunternehmen Deutsche Post an die Börse gebracht und schrittweise verkauft, also privatisiert. Manchem konnte das - daran sei heute trotz aller Gemeinsamkeiten erinnert - nicht schnell genug gehen. Ein Blick in die Parlamentsreden, in die Presseerklärungen und in die Anträge von Union und FDP legen beredtes Zeugnis darüber ab, dass die Aktien möglichst schnell verkauft werden sollten. Es wurde gefordert, dass es keine bürokratischen Regelungen hinsichtlich der Verpflichtungen der Post so wie beim Universaldienst und keine Einmischung zugunsten der Beschäftigten oder in das sonstige Alltagsgeschäft geben solle und dass Politik und Regierung herausgehalten werden sollten, da es der Markt schon richten werde. Das waren und sind die Parolen aus dem bürgerlichen Lager, wie es sich selbst so gern bezeichnet. ({1}) Aber immer dann, wenn die Folgen dieser ideologischen Fixierungen kommen, ist plötzlich alles anders. Seitdem Edmund Stoiber im Wahlkampf sinngemäß die Entlassung von Ron Sommer gefordert hat, sind insbesondere bei der Union alle Dämme gebrochen. Seitdem feiert der Bund als Haupteigentümer ein Comeback. All das, was über das Aktienrecht, über Börsenkurse, Privatisierung und Wettbewerb gesagt worden ist, ist vergessen. Man solle wieder die politische Verantwortung wahrnehmen, heißt es dann plötzlich. Die SPD hat sich im Unterschied zu diesen Spielchen stets dazu bekannt, dass die Post wie andere ehemalige Infrastrukturmonopole Gemeinwohlverpflichtungen hat, wie sich das aus dem Grundgesetz und dem Postgesetz - übrigens auch aus dem europäischen Recht ergibt. Wir haben deswegen für einen stufenweisen, harmonisierten und abgefederten Übergang in den Wettbewerb und auch für einen schrittweisen Verkauf derAktienpakete gesorgt. Zuletzt haben wir das im vergangenen Jahr im Rahmen der Änderungen des Postgesetzes und des Postumwandlungsgesetzes getan. Dabei haben wir die Liberalisierung und die Regulierung, den reservierten Bereich und die Gemeinwohlverpflichtungen, Einnahmen und Kosten sowie die Harmonisierung im internationalen Kontext in der Balance gehalten. Aufgrund unserer Erfahrungen in den Kommunen und der Erfahrungen der Kundinnen und Kunden haben wir nicht nur 1999 die Post-Universaldienstleistungsverordnung geschaffen und damit den rechtsfreien Zustand diesbezüglich beendet, sondern im vergangenen Jahr zusätzliche Präzisierungen im Sinne der Bevölkerung und der strukturschwachen Kommunen vorgenommen, und zwar gegen den Widerstand der gesamten Opposition. ({2}) Ich kann nur sagen: Bloß gut, dass wir damals hart geblieben sind und uns durchgesetzt haben. Dafür könnten uns die Union und die FDP heute eigentlich dankbar sein. Denn worauf würden Sie sonst Ihre Anträge und Ihre zu erwartenden Reden stützen, wenn Sie damals die Mehrheit gehabt hätten? ({3}) Dann gäbe es nämlich weder die von Ihnen damals als bürokratisches Monster gescholtene Post-Universaldienstleistungsverordnung noch den Hauptaktionär Bundesrepublik Deutschland. ({4}) Denn unsere Aktien wären längst - sehr zum Leidwesen der Kleinaktionäre und übrigens auch des Bundeshaushaltes - ausgerechnet auf dem Tiefpunkt an den Börsen verschleudert worden. Sie könnten dann Ihre heutigen Anträge in den Papierkorb schmeißen. Es wäre ja nicht nur um die Anträge und Reden von heute, sondern auch um die betroffenen Bürgerinnen und Bürger sowie um die Geschäftspartner der Deutschen Post, zum Beispiel die Agenturnehmer, schade. Deswegen freuen wir uns besonders, dass Sie jetzt bei uns angekommen sind und sich zur Post-Universaldienstleistungsverordnung und zu einem stufenweisen Anteilsverkauf bekennen. ({5}) Wir können uns deswegen heute ein bisschen mehr Ehrlichkeit leisten. Die Möglichkeiten des politischen Einflusses von Bundestag und Bundesregierung auf das Geschäftsgebaren der Deutschen Post tendieren immer mehr gegen null. ({6}) Das wissen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP. Unterlassen Sie deswegen Appelle an den Bund als Anteilseigner bitte auch dann, wenn es Ihnen stimmungstechnisch und taktisch gerade einmal in den Kram passt! Bleiben Sie bei einer geraden Linie! Das, was wir heute gemeinsam tun, kann nur eines sein: ein klares Signal an den Vorstand des Unternehmens Deutsche Post AG zu geben. Dieses Signal ist umso klarer, als sich der ganze Deutsche Bundestag heute hinter dieses Signal stellen wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sicher.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Barthel, ist Ihnen bekannt, dass die gesamten Aufsichtsratsmitglieder der Post AG auf der Kapitalseite vom Bund gestellt werden und dass deren Tätigkeit auch vom Bundesfinanzministerium überwacht wird?

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Funke, da irren Sie sich. Es gibt, wenn ich das richtig weiß, nur zwei Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat der Deutschen Post. Das sind also nicht einmal 10 Prozent. Das heißt, es gibt dort keine Mehrheit des Bundes im Aufsichtsrat. Im Übrigen wissen Sie, dass es laut Aktienrecht auch dann, wenn es anders wäre, nur schwer möglich ist, dass sich der Aufsichtsrat ins tägliche Geschäft eines Vorstandes einmischt. ({0}) Ich habe gerade vom Signal an die Deutsche Post gesprochen. Ich habe damit kein Problem, in diesem Fall aus der Politik ein Signal an die Wirtschaft zu senden. Denn es gibt genügend Spitzenmanager und Vertreter von Unternehmensverbänden, die ständig mit dem erhobenen Zeigefinger und mit klugen Ratschlägen an die Politik herantreten - oft genug leider auch, um vom eigenen Versagen und von eigenen Fehlprognosen und -einschätzungen abzulenken. Deswegen können wir das heute auch einmal tun. Bei der Post geht es aber um mehr; das müssen wir noch einmal deutlich machen. Das Unternehmen hat Verpflichtungen übernommen. Die Post bekommt dafür einen milliardenschweren Ausgleich in Form des reservierten Bereichs zu festgelegten Tarifen. Dieser Bereich und diese Tarife orientieren sich an den Kostenstrukturen bis 2002. Von daher gibt es von der Seite überhaupt keine Legitimation für demontageartige Kostensenkungsprogramme im Universaldienstbereich. Das muss man hier einmal ganz klar festhalten. Es gibt erst recht keine Legitimation für das ständige Lustwandeln an den Grenzen der Post-Universaldienstleistungsverordnung und das selbstherrliche Verhalten gegenüber den Kunden und Kommunen. ({1}) Deswegen sagen wir heute ganz klar: Wir werden, was diese Vorgaben betrifft, am Ball bleiben. Es darf keine Lücken geben, auch nicht zeitweise. Die Kommunen müssen informiert und beteiligt werden, die Kontrollmöglichkeiten der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post sind entsprechend herzustellen und die Sanktionsmöglichkeiten sind voll auszuschöpfen. Wenn diese nicht ausreichen, werden wir diesbezüglich über Verbesserungen nachdenken müssen, so, wie es im Antrag steht, und zwar auch im wohlverstandenen Interesse der Deutschen Post. Wir alle haben nämlich nichts davon - auch das müssen wir uns heute einmal überlegen -, wenn im In- und Ausland der derzeit sicher falsche Eindruck entstehen sollte, dass die Einnahmen aus der Exklusivlizenz nicht für ihren eigentlichen Zweck, nämlich für die Kosten politisch bedingter Sonderlasten und Umstrukturierungsmaßnahmen, also zum Beispiel für die betriebswirtschaftlich nicht erbringbaren Kosten des Universaldienstes, verwendet werden, sondern dass diese Einnahmen letzten Endes zum Gewinnen von Wettbewerbsvorteilen in andere Bereiche umgelenkt werden. Das ist ein sehr gefährliches Thema. Insofern kritisieren wir auch in aller Schärfe den in all den schönen Rechtfertigungsschreiben, die wir alle und die Bürgermeister immer wieder bekommen, für Abbaumaßnahmen aller Art verwendeten Hinweis der Post, das Unternehmen sei in jeder Hinsicht gezwungen, nur betrieblichen Kostensenkungszwängen zu gehorchen. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen; die müssen wir in aller Öffentlichkeit klarstellen. ({2}) Der Vorstand des Unternehmens bewegt sich hier auf sehr dünnem Eis. Es mag sich zwar auf der Hauptversammlung vor den Aktionären ganz gut machen, sich gegen „politisches Störfeuer“, wie dort gesagt wurde, zu verwahren. Wer aber an anderer Stelle gesetzlichen Schutz gern in Anspruch nimmt, sollte den Mund nicht zu voll nehmen, wenn es darum geht, die Gegenleistung zu erbringen, für die die Postkunden und Postkundinnen in dieser Republik bezahlen. Ich freue mich sehr, dass wir mit unserem gemeinsamen Beschluss heute deutlich machen werden, dass wir nicht bereit sind, dafür Schmiere zu stehen, dass ein so großes Unternehmen so mit seinen Gemeinwohlverpflichtungen umgeht. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kollege Barthel, lassen Sie mich nach den Angriffen auf die Opposition, die Sie hier natürlich wieder gestartet haben, zunächst einmal die Gelegenheit nutzen, meine Erleichterung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, ({0}) der im Wesentlichen mit dem Antrag der Union „Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen“ identisch ist. Hier zeigt sich, dass es auch in diesem Hause sicherlich nur von Vorteil sein kann, ab und zu einmal auf die Vorschläge der Opposition einzugehen. Ich bin der Überzeugung, wir hätten diesen Antrag schon viel früher formulieren können, hätte die SPD die Verantwortung der Bundesregierung gegenüber der Deutschen Post AG, den Postagenturbetreibern und den Postkunden nicht immer kategorisch abgelehnt. Herr Barthel, wir beide waren doch im Februar dieses Jahres gemeinsam auf einer Veranstaltung der Postagenturbetreiber in Peißenberg zugegen. Sie erinnern sich sicher noch, was Sie damals gesagt haben. ({1}) Sie haben jegliche Verantwortung der Bundesregierung und die Möglichkeiten einer korrektiven Gestaltung abgelehnt. Umso erfreulicher ist es, dass wir heute einer Meinung sind und einen vernünftigen Antrag gemeinsam beschließen werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit Monaten ist die öffentliche Diskussion um die Versorgung mit Postdienstleistungen im Gange. Mittlerweile stapeln sich die Klagen der Postagenturbetreiber auf unseren Schreibtischen; so wird es uns allen gehen. Täglich liest man über drohende Schließungen von Postagenturen. Die besorgten Anrufe von Bürgerinnen und Bürgern, die große Bedenken haben, ob sie ihre Postgeschäfte zukünftig noch wie gewohnt erledigen können, zeigen, welch hoher Stellenwert diesem Thema in der öffentlichen Diskussion beigemessen wird. Diesem Zustand kann der Bundestag nicht tatenlos zusehen. Wir müssen klar und deutlich unsere Forderungen auch an die Bundesregierung als Mehrheitseigentümer der Post formulieren. ({2}) - Kollege, hören Sie doch erst einmal, was ich sagen will. ({3}) - Na klar! Er ist ja breit genug, um Angst zu machen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber?

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber bitte.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege Barthel hat schon auf die Geschichte der Post-Universaldienstleistungsverordnung hingewiesen. Würden Sie mir aber bestätigen, dass folgende Aussage die Situation richtig beschreibt? Der Bund hat als Aktionär der Deutschen Post AG keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Nach § 76 des Aktiengesetzes leitet der Vorstand die Gesellschaft in eigener Verantwortung und ist nicht an Weisungen anderer Gesellschaftsorgane oder der Aktionäre gebunden. Ich nenne Ihnen natürlich auch die Quelle: Dagmar Wöhrl, CSU, wirtschaftspolitische Sprecherin Ihrer Fraktion. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unserem heutigen Antrag. Wir wollen nicht in das Aktienrecht eingreifen. Wenn Sie unseren gemeinsamen Antrag durchlesen, dann werden Sie feststellen, dass wir explizit die Bundesregierung auffordern, tätig zu werden. Deswegen weiß ich nicht, weshalb Sie sich an meiner Aussage stören. ({0}) Ich formuliere die Forderungen, die wir an die Bundesregierung und die Post stellen müssen: Erstens. Für alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland muss weiterhin eine flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sichergestellt werden. Zweitens. Eine faire und partnerschaftliche Beziehung muss zwischen Deutscher Post AG und den privaten Postagenturbetreibern bestehen. Dazu gehört, dass man seine Partner offen und umfassend informiert und ihnen die nötige Luft zum Atmen lässt. Dies ist sicher nicht mehr gegeben, wenn aufgrund der neuen Vertragsverhältnisse den Agenturbetreibern eine Einkommensreduzierung um 25 bis 35 Prozent bevorsteht. ({1}) Man muss sich fragen, welcher Gedanke eigentlich hinter einer solchen Geschäftspolitik steckt. Üblicherweise wird doch in der freien Wirtschaft versucht, gerade die Schnittstellen zum Kunden höchst attraktiv zu gestalten: durch attraktive Öffnungszeiten, durch eine angenehme Atmosphäre, durch freundliches, hoch motiviertes Personal. Mir erschließt sich nicht ganz, wie jemand hoch motiviert und leistungsbereit seiner Arbeit am Kunden nachgehen soll, wenn man ihn eines Drittels seines Einkommens beraubt. Ich bin der Überzeugung, dass diese Strategie schlichtweg nicht zielführend ist. Die Frustrationsgrenze seitens der Agenturbetreiber ist überschritten, was zwangsweise zu einem Rückgang der Kundenzufriedenheit führen wird. Natürlich wollen auch wir, dass die Deutsche Post AG als privatwirtschaftliches Unternehmen profitabel arbeitet und Gewinne erwirtschaftet. Aber in diesem Zusammenhang spielen doch der Kunde und das Werben um die Kunden die ausschlaggebende Rolle. Die Deutsche Post AG bestreitet gar nicht, dass es bei den privaten Agenturen zu Einkommenseinbußen kommen wird. Sie gibt sogar Handlungsempfehlungen heraus, wie diese Einkommensverluste kompensiert werden können. Ich darf hier aus der Zeitschrift „Postforum“ einen Sprecher der Deutschen Post AG zitieren, der darauf verweist: Darüber hinaus besteht durch den neuen Vertrag die Möglichkeit, die täglichen Öffnungszeiten der Partner-Filiale etwas flexibler zu gestalten, und so kann der Partner seine Personalkosten senken. Im Klartext heißt das: Personalkosten senken durch verkürzte Öffnungszeiten. Ich kann mich noch sehr gut an die Diskussion in meiner Heimatgemeinde Peißenberg erinnern, als bekannt wurde, dass das Postamt geschlossen und dafür ein Partnershop eingerichtet werden soll. Ich war einer der wenigen, die das begrüßt haben. Ich bin der Überzeugung, dass die Marktwirtschaft hier wesentlich kundenorientierter arbeiten kann als eine Monopolgesellschaft. Die erweiterten Öffnungszeiten waren für mich damals der ganz entscheidende Vorteil des Systems. Das hat auch gut funktioniert. Der Postagenturbetreiber bei mir zu Hause hat den neuen Vertrag bis heute noch nicht unterzeichnet. Ich sage es noch einmal: Der Weg zum Erfolg führt über die Kundenzufriedenheit und dazu brauche ich eine funktionierende Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kunden. Dies sehe ich momentan jedoch nicht in ausreichender Form sichergestellt. Deswegen haben wir in unserem Antrag formuliert, dass die Bundesregierung als Mehrheitseigentümerin der Deutschen Post AG auf die Angemessenheit der Agenturverträge achten und sich vor allem für einen fairen und partnerschaftlichen Umgang der Deutschen Post AG mit ihren Partnern einsetzen soll. ({2}) Die Verantwortung liegt hier mit bei der Bundesregierung und wir fordern sie auf, im Interesse der Kunden, im Interesse der Agenturnehmer und nicht zuletzt im Interesse der Deutschen Post AG zu handeln. Die Ankündigung der Deutschen Post AG vom gestrigen Tag, ihr Filialnetz weiter auszudünnen, halte ich für bedenklich. Nach Berichten sollen zusätzlich 700 Filialen geschlossen werden. Die Deutsche Post AG will offensichtlich auf die gesetzlich vorgeschriebene Grenze von mindestens 12 000 Filialen und Agenturen schrumpfen. Ich habe diese Grenze immer als ein absolutes Minimum betrachtet, das der Gesetzgeber vorgegeben hat. Dass die Deutsche Post AG dies nun als Zielvorgabe betrachtet, die es schnellstmöglich zu erreichen gilt, kann man eigentlich nur bedauern. Auch hier gilt, dass die Kundenorientierung und nicht das Planziel von 12 000 Einheiten im Vordergrund stehen muss. ({3}) Die Privatisierung der Deutschen Post AG war in meinen Augen auch ein breit angelegtes Mittelstandsförderprogramm. Über 7 000 kleine und mittelständische private Postagenturen sind hier aus der Taufe gehoben worden. ({4}) Das war ein sinnvoller Beitrag zur Mittelstandsförderung. Hier muss weiter gearbeitet werden. Es darf keine Umkehrung des Erreichten erfolgen. Die Deutsche Post AG ist ein profitables Unternehmen. Wir können auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Unternehmens durchaus stolz sein. Post-Chef Dr. Klaus Zumwinkel hat gestern für das Jahr 2003 ein operatives Ergebnis von 2,8 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Das ist gerade in der heutigen Zeit eine positive Nachricht ({5}) - Herr Barthel -, die wir sehr gerne hören. Diese gab es seit Ihrem Regierungsantritt nicht mehr so oft. ({6}) Wir müssen trotzdem feststellen, dass auch Aktionärsvertreter gestern die aktuell vollzogenen und geplanten Einsparungen kritisiert haben. Der gute Ruf des „gelben Riesen“, der maßgeblich mit seinen Erfolgen zusammenhängt, leidet zurzeit vor allem durch den offensiv betriebenen Abbau von Briefkästen und der mangelnden Informationspolitik gegenüber den Kommunen. Wenn die Deutsche Post AG die Auswahl der abzubauenden Briefkästen schon durch eine Hightechsoftware ermitteln kann, dann dürfte sie wohl auch in der Lage sein, rechtzeitig ausreichende Informationen an die Städte und Gemeinden zu übermitteln. ({7}) Stattdessen wird nur ein Standardinformationsbrief verschickt, oft sogar erst hinterher, der vieles Weitere im Unklaren lässt. Die Menschen, also die Kunden, stellen den Abbau der Briefkästen erst dann fest, wenn sie an den bekannten Stellen stehen und die Briefkästen nicht mehr vorfinden. Die Freude darüber hält sich natürlich in Grenzen. Das haben wir alle in den letzten Wochen in unseren Wahlkreisen erlebt. Das Schönste dabei ist: Wenn man nachfragt, welche Briefkästen abgebaut worden sind, bekommt man eine Liste jener Briefkästen, die noch vorhanden sind. Dazu gibt es den Hinweis, nachdem einige Briefkästen nicht mehr da seien, helfe es niemandem mehr, zu wissen, wo sie vorher einmal gestanden haben. Das ist, denke ich, nicht die offene Informationspolitik, die ich mir von der Deutschen Post AG wünsche. Ich bin der Überzeugung, man könnte bei den Bürgerinnen und Bürger viel Unverständnis und viel Verärgerung vermeiden, wenn man rechtzeitig und offen informiert hätte und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an den Abbau von Briefkästen herangegangen wäre. ({8}) Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass die Deutsche Post AG über Änderungen der Standorte von Briefkästen vorab informiert. Bei einer Schließung von stationären Einrichtungen erachte ich das ohnehin für eine Selbstverständlichkeit. Nochmals: Mehr Fairness, mehr Partnerschaft, mehr Gemeinsamkeit und Information, das sind die Grundlagen unseres Antrags. Wir wollen eine kundenorientierte und flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen. Wir wollen leistungsfähige und überlebensfähige Postagenturen. Wir wollen eine erfolgreiche Post AG. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich begrüße es, dass wir es geschafft haben, einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema aufzusetzen, und dass wir es schaffen, ihn zu verabschieden. Natürlich hängt das nicht damit zusammen, dass wir die Vorschläge der Opposition übernommen hätten. Vielmehr gab es aus allen Fraktionen ähnlich lautende Anträge. Aber ich will nicht kleinlich sein: Es ist trotzdem eine große Leistung, dass wir uns zu einem gemeinsamen Antrag durchgerungen haben. ({0}) Heute geht es also darum, wie viele Briefkästen, wie viele Filialen und wie viele Agenturen die Post bereitzustellen hat; das haben wir in der berühmten PUDLV festgelegt. Ich sage vorweg: Dass sie das muss, hat weniger damit zu tun, wie viele Aktien der Bund besitzt, sondern schlichtweg damit, dass die Post in diesem Bereich noch ein Monopolunternehmen ist und deswegen verpflichtet ist, eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. ({1}) Deswegen hat dieser Streit, ob Aktien ja oder nein - Sie wissen, ich bin eher dem Wettbewerb zugeneigt -, in dieser Debatte, wie ich finde, nichts zu suchen. Man kann darüber lächeln, dass wir hier im Bundestag darüber diskutieren müssen, wo ein Briefkasten stehen und wo es eine Postagentur geben soll. Aber man muss sich bewusst machen, dass heute nicht jeder im Internet chattet und dass nicht jeder einen fahrbaren Untersatz hat, mit dem er 40 Kilometer fahren kann, um seinen Brief aufzugeben. Zu denjenigen, die nicht so mobil sind, gehören viele ältere Menschen und ganz junge Menschen, die zum Beispiel einer Brieffreundin schreiben wollen. Es gibt Menschen, die einfach das Briefeschreiben mögen und ab und zu zur Feder greifen. Gerade für diese Gruppen, die auf die Post angewiesen sind, ist eine flächendeckende Versorgung notwendige Voraussetzung für Kommunikation. Deswegen ist das durchaus ein ernstes Thema. Die Post als marktbeherrschendes Unternehmen, als Monopolunternehmen hat, wie gesagt, die Verpflichtung, die Post-Universaldienstleistungsverordnung einzuhalten. Teilweise wurden den Agenturen aber Verträge angeboten, die sie nicht annehmen konnten. Diese Agenturen gehören häufig zu den Tante-Emma-Läden im Dorf, die den Zusatzverdienst, den sie durch ihre Funktion als Postagenturen erhalten, benötigen. Wenn sie diesen nicht erhalten, müssen die Tante-Emma-Läden schließen und wir könnten die Versorgung der ländlichen Struktur und der älteren Menschen im Dorf nicht mehr garantieren. Es hängt also ein riesiger Rattenschwanz daran. Ich sage es noch einmal: Es ist notwendig, dass die Post die Verordnung einhält. Wie sie das tut, ist uns im Grunde genommen egal. Sie muss die flächendeckende Versorgung aber sicherstellen. ({2}) Ich finde es sehr gut, dass wir einen gemeinsamen Antrag gestellt und in diesem deutlich gemacht haben, dass wir es nicht akzeptieren werden, wenn diese Verordnung nicht eingehalten wird. Wir fordern die Post dazu auf, mit der Schließung der Agenturen zu warten, bis die Kartellbehörde die Verträge überprüft hat. Daneben fordern wir dazu auf, dass die gesetzlich vorgesehenen Bußgelder eingefordert werden, wenn die Verordnung nicht eingehalten wird; auch das gehört dazu. Ich finde, das ist ein eindeutiges Signal, dass wir es sehr ernst meinen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die bestehenden rechtlichen Instrumente ausreichen, um die flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Wie gesagt: Ich finde es gut, dass wir einen gemeinsamen Antrag gestellt haben, und ich denke, dass wir damit der Post gegenüber signalisieren, dass es uns ernst ist und dass wir hier zusammenhalten. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rainer Funke, FDP-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem sind wir uns einig: Im Interesse der Wirtschaft und der Verbraucher wollen wir eine flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sichern. ({0}) - Seien Sie einmal ganz ruhig! Ich komme gleich zum Kern der Sache. ({1}) In einem sind wir uns aber nicht einig, lieber Herr Kollege Barthel, nämlich darin, wie dies am besten zu geschehen hat. Während die Koalitionsfraktionen und auch Teile der CDU/CSU-Fraktion glauben, Postdienstleistungen sichere man am besten durch Marktregulierung, zum Beispiel durch eine extensive Auslegung von Universaldienstleistungen, durch Regelungen, wie viele Briefkästen wann und wo zu leeren sind und vieles mehr, ({2}) glauben wir Liberale daran, dass Markt und Wettbewerb die Verbraucherwünsche am besten befriedigen können. ({3}) In allen Bereichen unserer Wirtschaft, ob im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungsbereich, erhält der Verbraucher, der Kunde, all das, was er benötigt, am Markt. Nur bezogen auf den Postdienstleistungsbereich glauben die Sozialdemokraten, die Grünen und auch Teile der CDU/CSU offensichtlich immer noch, dass reguliert werden muss. Das halten wir in der Tat für falsch. ({4}) - Wir haben diese Regulierung, weil die Post ein Monopolunternehmen ist. Herr Tauss, Sie wissen, dass wir das Postmonopol so schnell wie irgend möglich - am besten schon morgen - beseitigen wollen. Wir wollen die Post AG zu einem wettbewerbsfähigen Marktteilnehmer gestalten. ({5}) Statt also die richtige Konsequenz zu ziehen, der Post AG ihr Postmonopol zu nehmen und den Wettbewerb zu stärken, zum Beispiel durch die Zulassung von privaten Wettbewerbern, was auch heute noch sehr gut möglich wäre, wird die typisch sozialdemokratische Antwort gefunden: Da kein Wettbewerb sein darf, wird reguliert. ({6}) In einem Punkt gebe ich den Sozialdemokraten Recht: Weil sie Monopolist ist, bewegt sich die Post AG in arroganter Weise im Postregulierungsmarkt. Ein typisches Beispiel dafür war ihr Verhalten gegenüber ihren Partnern, den Postagenturen: Anfang dieses Jahres hat die Post AG ihren Agenturpartnern einen 39-seitigen Änderungsvertrag übersandt, der mit dem Wort „Partnervertrag“ überschrieben war. Bei der Art dieses Vertrages kann man dabei nur von Hohn und Spott sprechen. So kann sich eigentlich nur jemand benehmen, der keinen Wettbewerb zu scheuen hat, weil gesetzlich kein Wettbewerb zugelassen ist. Die Postagenturen werden nach diesen Verträgen im Schnitt 25 bis 30 Prozent ihrer Einkommen verlieren, obwohl sie noch zusätzlich Frondienste für die Post AG erbringen müssen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Funke, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß, aber der Kollege Barthel hat gerade seinen Arm erhoben, um eine Zwischenfrage zu stellen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Barthel?

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Natürlich.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich erinnere Sie trotzdem daran: Ihre Redezeit ist inzwischen deutlich überschritten.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Herr Funke so viel von Wettbewerbern gesprochen hat, möchte ich ihn etwas fragen. Zwei Drittel des Postmarktes sind inzwischen für den Wettbewerb geöffnet. Es gibt zum Beispiel im Fracht- und Paketbereich Wettbewerber. Vielleicht können Sie uns einmal erklären, wie wunderbar die Vertragsbedingungen auf dem Paketsektor zwischen Großversendern und Konkurrenten der Post im Verhältnis zu deren Agenturnehmern sind.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Barthel, der Post- und Paketdienst ist schon seit 1935 dem freien Wettbewerb ausgesetzt. Insofern hat das mit dem Monopolunternehmen überhaupt nichts zu tun. ({0}) Das gilt sowohl für die Wettbewerber als auch für die Post AG. Da sind die gleichen Wettbewerbsbedingungen vorhanden. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/1129. Der Ausschuss empfiehlt, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Anträge auf den Drucksachen 15/615, 15/466 und 15/579 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Bildungsstandort Deutschland stärken ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch erleichtern - Drucksache 15/471 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Christoph Hartmann, FDP-Fraktion. ({1})

Christoph Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003548, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn wir hier in einem überschaubaren Kreis sitzen, so ist es uns, der FDP, mit dem Bürokratieabbau Ernst. Dieses Thema anzugehen ist dringend notwendig. Über 70 000 Verordnungen und Gesetze gibt es in diesem Land, die zum Leidwesen der Bevölkerung jedes Politikfeld durchziehen. Deswegen hat es sich die FDP zur Daueraufgabe gemacht, innovations- und wachstumshemmende Hindernisse aus dem Weg zu räumen. ({0}) Seit Ende Januar stellen wir Woche für Woche einen Antrag, um Gesetze und Verordnungen zu erleichtern oder sie sogar abzuschaffen. Hemmnisse der Bürokratie betreffen übrigens nicht nur die Wirtschafts- und Steuerpolitik. Auch der Bildungsstandort Deutschland wird insbesondere im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler unzumutbar behindert. Deswegen stellt die FDP den Antrag, ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch in unserem Land zu erleichtern. ({1}) Seit Ende Oktober 2002 gilt eine weitere Form des bürokratischen Irrsinns. In der Neuformulierung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz, in der die Aufenthaltsbewilligungen für den Schulbesuch geregelt sind, können wir unter Nr. 28.5.6.1 lesen: Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen zum Schulbesuch … nicht erteilt werden. Das ist schade; denn diese Formulierung kommt von der sich als weltoffen sehenden rot-grünen Bundesregierung. - In Nr. 28.5.6.2 sind die Ausnahmen geregelt. Das führt dazu, dass jeder Einzelfall überprüft werden muss, ob wirklich ein Ausnahmetatbestand vorliegt. So ist der Willkür der Ausländerbehörden vor Ort Tür und Tor geöffnet. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Kürzlich verweigerte der Landkreis Dessau 50 chinesischen Schülerinnen und Schülern die Aufenthaltsgenehmigung. Das hatte zur Folge, dass diese keinen Intensivsprachkurs mit anschließendem Bildungsgang in den neuen Bundesländern belegen konnten. Diese chinesischen Schülerinnen und Schüler sind dann glücklicherweise hartnäckig gewesen und nicht nach Großbritannien gegangen, wie es häufig genug vorkommt. Vielmehr absolvieren sie jetzt den fast identischen Bildungsgang in Heidelberg, weil der Landkreis Heidelberg weltoffener ist und wirtschaftlicher denkt und deswegen anders entschieden hat. ({2}) Dieses Beispiel zeigt, dass die Ausnahme vielleicht, eventuell, gewissermaßen als Gnadenakt der Behörden, gewährt wird oder eben nicht. ({3}) Genau das wollen wir Liberalen nicht. ({4}) In Großbritannien oder der Schweiz sind Schülerinnen und Schüler als zahlende Kunden und später als Kulturund Wirtschaftsbotschafter ihrer Gastländer hoch willkommen. In England gibt es circa 120 000 ausländische Schüler, insbesondere in privaten Internaten. Diese sichern 90 000 Arbeitsplätze und bringen mindestens 3,5 Milliarden Euro pro Jahr ins Land. Dort herrscht ein einfacher Grundsatz: Sind alle Unterlagen vorhanden, gibt es eine Versicherung, gibt es eine Garantie des Lebensunterhalts durch die aufnehmende Einrichtung, liegen Zahlungsbestätigungen vor, dann wird das Visum erteilt. Dort gibt es eben keine Ängste vor illegaler Einwanderung, denn die sind durch diese Regelung ausgeräumt. Eine ähnliche Regelung würde uns in diesem Land gut zu Gesicht stehen. ({5}) Wir wollen Bürokratie nicht nur deswegen abbauen, weil es etwa populär wäre, sondern weil es notwendig ist. Wir wollen unser Bildungssystem für die internationalen Herausforderungen fit machen. Wir wollen freien Schulträgern und Bildungsunternehmen die Chance geben, ihre Kompetenz im wirtschaftlichen Wettbewerb zu beweisen. Christoph Hartmann ({6}) Herr Tauss, in einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 28. Februar 2000 können wir lesen: „Die Bundesbildungsministerin kündigte an, mit einem offensiven Marketing für Deutschland als Bildungsstandort und Forschungsstandort künftig werben zu wollen.“ ({7}) Das hat unsere volle Unterstützung. ({8}) Wenn Sie ernst nehmen, was dort steht, dann dürften Sie mit unserem Antrag keine Probleme haben, Herr Tauss. Daran werden wir Sie messen. ({9}) Wir müssen Nicht-EU-Bürgern Schulbesuche ermöglichen, wenn sie die notwendigen Voraussetzungen erfüllen. Wir dürfen nicht die aus Deutschland wegschicken, die hierher kommen, um zu lernen. Das ist gut für das Image des Bildungsstandorts nach dem PISA-Desaster. Sichern wir die Arbeitsplätze in unseren Schulen und Bildungsunternehmen! Lassen Sie uns unnötige Bürokratie vermeiden! Präsentieren wir uns als würdige Gastgeber! Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Kollege Hartmann, ich würde mir wünschen, dass Sie das starke Ausmaß an Weltoffenheit, das Sie gerade am Beispiel Heidelbergs aufgezeigt haben, der badenwürttembergischen Landesregierung empfehlen würden, damit diese sich positiv zu unserem Zuwanderungsgesetz verhalten kann. ({0}) Ich muss zugeben: Die tatsächlichen oder angeblichen Hindernisse für ausländische Jugendliche, ein deutsches Internat zu besuchen, standen bisher nicht unbedingt im Zentrum unserer langen, sehr intensiven migrationspolitischen Diskussion. Ich denke da sehr viel stärker an bessere Chancen in unseren Bildungseinrichtungen etwa für Kinder aus Migrantenfamilien, für Angehörige von Spätaussiedlern oder Söhne und Töchter von Asylbewerbern, auch für illegal im Lande lebende Migranten. Das sind sicherlich gravierende Probleme. Aber gleichwohl, Herr Kollege Hartmann, wirft der Antrag der FDP ein Schlaglicht auf einen bestimmten Teilbereich der Zuwanderung oder der zeitweiligen Zuwanderung junger Menschen und stellt die Frage, ob wir die Zugangsbarrieren zu hoch stellen. Ich finde schon, es lohnt sich, daran Gedanken zu knüpfen. ({1}) Es geht also um den Besuch von Internaten. Daran anknüpfend kann man folgern, dass nicht wenige dieser Jugendlichen anschließend in Deutschland studieren wollen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bergner?

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Christoph Bergner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003505, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, es überrascht mich zwar nicht, dass Sie die Fragestellung in einen Zusammenhang mit der Zuwanderungsregelung bringen. Geht es aber in dem Antrag der FDP nicht vielmehr um die Möglichkeit eines Dienstleistungsexportes in dem Sinne, dass Bildungsdienstleistungen - übrigens auch im beruflichen Bereich - zwar in Deutschland, aber für Ausländer angeboten werden können? Sollte nicht die Möglichkeit eines Dienstleistungsexports eröffnet werden? Das hat aber mit der Zuwanderungsregelung in Ihrem Sinne nichts zu tun.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Thema hat schon deswegen sowohl mit Dienstleistungs- und Bildungsangeboten als auch mit der Zuwanderungs- und Ausländerpolitik zu tun, ({0}) weil es die Verwaltungsvorschriften im Ausländergesetz, das in seiner jetzigen Fassung bekanntlich noch auf die Epoche der christlich-liberalen Koalition zurückgeht, betrifft. Insofern sind beide Bereiche miteinander zu verknüpfen. ({1}) Es geht darum, dass ausländische Jugendliche später vielleicht in Deutschland bleiben wollen. Um noch einmal auf das Thema des Antrags zu sprechen zu kommen: Die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz - die seitens der Länder übrigens schon seit 1998 vorbereitet wurde und nicht erst seit 2002, sondern bereits seit dem 7. Oktober 2000 offiziell in Kraft ist - sieht keine Aufenthaltsbewilligungen vor und erwähnt insbesondere Fälle, in denen nicht die Eltern des ausländischen Schülers oder der Schülerin in Deutschland leben, sondern andere Verwandte. Dahinter verbirgt sich wohl die Sorge, dass sich in solchen Fällen ein Daueraufenthalt entwickeln könnte. Ausnahmen sind nach dieser Vorschrift nur möglich, wenn es sich um einen zeitlich begrenzten Schüleraustausch oder um eine Schule mit internationaler AusrichDr. Cornelie Sonntag-Wolgast tung handelt. Außerdem bezieht sich die Vorschrift auf Schulen, die vollständig oder zu einem überwiegenden Teil aus Schulgeldern finanziert werden, die von den Eltern zu entrichten sind. Die Verwaltungsvorschrift hat insofern auch den internationalen Aspekt und den Aspekt der Weltoffenheit des Bildungsstandortes mit erfasst. In diesem Zusammenhang stellt sich auch mir die Frage, ob diese Weltoffenheit deutlich genug zutage tritt. ({2}) Die Frage, ob diese Vorschrift einladend oder eher abschottend und abschreckend wirkt, sollte uns durchaus beschäftigen. Das Bundesinnenministerium hat keine Kenntnis von nennenswerten Problemen im Zusammenhang mit dieser Vorschrift. Dennoch könnte uns die praktische Erfahrung in den Ländern ein anderes Bild liefern. Sie haben bereits ein Beispiel genannt. Deswegen rege ich an, dass wir bei den Beratungen des Antrags in den zuständigen Ausschüssen die Praxis der Behörden, der Länder und vielleicht auch die Erfahrungen der betroffenen Kinder und Eltern berücksichtigen. Das ist sicherlich interessant. Unumstritten ist sicherlich, dass im Visumverfahren Nachweise in Bezug auf die internationale Ausrichtung der Schule, auf die private Finanzierung und den gesicherten Lebensunterhalt für die interessierten Schüler erbracht werden müssen. Daran kommen wir nicht vorbei - darin sind wir uns sicherlich einig -, weil für den Aufenthalt der Jugendlichen im Interesse aller Beteiligten eine solide Grundlage nötig ist. Ich möchte aber betonen, dass es zu begrüßen ist, wenn Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern hierher kommen, um Privatschulen oder Internate zu besuchen. Das spricht übrigens auch dafür, dass die Unterrichtsangebote in den Bundesländern allen PISAgeprägten Unkenrufen zum Trotz ihre Anziehungskraft nicht völlig eingebüßt haben. Es tut deutschen Internatszöglingen sicherlich auch gut, wenn sie begabte und interessierte Mitschüler anderer Haut- und Haarfarbe aus anderen Kulturkreisen und Religionsgemeinschaften zur Seite haben und mit ihnen zusammen lernen. Diejenigen ausländischen Jugendlichen, die später wieder in ihre Heimat zurückkehren, können wiederum Botschafter eines friedlichen Lebens und der Weltoffenheit in der Bundesrepublik sein. Deswegen ist zu überlegen, ob die Voraussetzungen für solche Privatschulen und Internatsaufenthalte ausländischer Kinder und Jugendlicher im Ausländerrecht offener, sprich: gastfreundlicher, formuliert werden sollten. Das entspricht übrigens auch dem Gesinnungswandel - es tut mir Leid, dass ich noch einmal auf das Zuwanderungsgesetz zu sprechen komme, aber der Zusammenhang ist zwingend -, den wir in unserem Zuwanderungsgesetz deutlich machen, dass nämlich längst nicht jede Form der Zuwanderung des Teufels ist, wie es die CDU/CSU uns und leider auch den Bürgern einhämmert. Vielmehr gibt es viele Fälle, in denen die Zuwanderung durchaus wünschenswert ist, übrigens auch zum Vorteil unserer Gesellschaft. ({3}) Dieser Gedanke - da das oft vergessen wird, erinnere ich daran - liegt auch dem Passus des Gesetzes zugrunde, der es ausländischen Hochschulabsolventen ermöglicht, nach ihrem Studium in Deutschland zu bleiben, wenn sie binnen eines Jahres eine geeignete Tätigkeit finden. Dieses Element des Gesetzes wird leider in der öffentlichen Diskussion unterschlagen, ist aber im Interesse des Bildungsstandorts Deutschland. Reden wir im Innenausschuss und in den anderen mitberatenden Ausschüssen darüber, und zwar hoffentlich ohne die Feindseligkeiten und die Drohkulissen, die sonst die Debatten über die Migration begleiten. Wir sollten uns bei diesem Thema ruhig einmal eine positive und gastfreundliche Diskussion genehmigen. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Tauss, lassen Sie sich überraschen. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zuerst drei Vorbemerkungen, mit denen ich Bezug auf Ihre Ausführungen nehmen möchte, liebe Frau Sonntag-Wolgast. Erste Vorbemerkung: Nach meiner Auffassung handelt es sich bei dem zur Diskussion stehenden Thema im Kern um eine bildungspolitische und nicht um eine ausländerpolitische Fragestellung. ({1}) Entscheidend ist einfach - ich begrüße sehr, dass Sie das bereits dargestellt haben -, wie man mit diesen Bildungsfragen umgeht, ob man ermunternd oder abschottend formuliert. Ich meine, in einer Zeit der Europäisierung und der Globalisierung stünde es uns gut an, wenn wir eine weltoffene Formulierung fänden, die einen ermunternden und nicht einen dumpf-abschottenden Effekt hat. ({2}) Ernst-Reinhard Beck ({3}) Zweite Vorbemerkung: Es geht auch nicht um den Schulbesuch von Schülern aus EU-Staaten, sondern ausschließlich um Schüler aus Nicht-EU-Staaten, die eine deutsche Schullaufbahn gewählt haben. Dritte Vorbemerkung: Betroffen ist auch nicht der Schüleraustausch. Er hat sich seit vielen Jahren eingespielt und bewährt. Hier sind uns auch keine Probleme bekannt. Wir wünschen uns nur, dass er intensiver betrieben wird. Es geht außerdem - das haben schon meine beiden Vorredner ausgeführt - nicht primär um die staatliche Regelschule, sondern um Bildungsangebote privater Träger, zumeist von Internaten. In Deutschland gibt es zurzeit 2 600 Schulen mit ungefähr 580 000 Schülern in freier Trägerschaft. Der Anteil der ausländischen Schüler beträgt an manchen dieser Schulen bis zu 20 Prozent. Hier zeigt sich trotz PISA - auch das haben Sie zu Recht hervorgehoben - die durchaus noch vorhandene Attraktivität des Bildungsstandorts Deutschland, den wir mit bürokratischen Regelungen nicht weiter beschädigen dürfen. Ausländische Schüler - das ist bereits am Beispiel Englands und der Schweiz dargestellt worden - stellen einen nicht unbeträchtlichen Wirtschaftsfaktor dar. Die Kinder, die ein deutsches Internat besuchen, sind im Anschluss an ihren Schulbesuch hervorragende Botschafter auch der deutschen Kultur und der deutschen Sprache in ihren Heimatländern. ({4}) Allein im Hinblick auf eine weitere Europäisierung und Globalisierung - das habe ich schon vorhin gesagt ist eine internationale Ausrichtung der deutschen Schule eine Notwendigkeit. Herr Tauss, auch dem werden Sie wahrscheinlich zustimmen. ({5}) Die Schulen in freier Trägerschaft haben auf diesem Gebiet bereits eine Vorreiterrolle übernommen. Es nimmt nicht wunder, dass zum Beispiel die Schule Schloss Salem im Internet auf Englisch, Französisch, Spanisch, aber auch auf Russisch und Chinesisch wirbt. Lassen Sie mich auf die entsprechende Verwaltungsvorschrift im Ausländergesetz eingehen. Dort heißt es: Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen zum Schulbesuch nicht erteilt werden. Frau Sonntag-Wolgast, genau das ist eine ängstliche und abwehrende Formulierung, bei der meiner Meinung nach die Asyl- und Zuwanderungsdebatte eine Rolle gespielt hat und die nach meiner festen Überzeugung fehl am Platz ist. ({6}) Im Hinblick auf so genannte staatlich anerkannte Privatschulen wird gesagt: Ausnahmen können in Betracht kommen, wenn es sich um eine staatlich anerkannte Schule handelt, die ganz oder überwiegend aus den von den Eltern zu entrichtenden Schulgeldern finanziert wird, und wenn der Lebensunterhalt des ausländischen Schülers durch Zahlungen der Eltern gesichert ist. Vorhin ist schon etwas zu den Auswirkungen gesagt worden. Da, wo ich in Baden-Württemberg nachgefragt habe, hat es keine Probleme gegeben. ({7}) Ich habe in sehr vielen Fällen gehört, dass es überhaupt keine Probleme gibt und dass auch bei Heimatländern wie China, Ukraine oder Mexiko die Anträge problemlos bearbeitet und die Aufenthaltsgenehmigungen erteilt werden. Allerdings - das Beispiel ist vorhin von Herrn Hartmann genannt worden - gibt es offenbar eine unterschiedliche Handhabung. Das ist im Sinne der Chancengleichheit nicht akzeptabel. Wie geht man damit um? Man sollte daran keine grundsätzliche Diskussion aufhängen. Man könnte einfach den Passus in der Verwaltungsvorschrift streichen. Aber das ist Ausländerrecht. Es steht mir als Bildungspolitiker nicht unbedingt zu, den Innenpolitikern zu sagen, was sie in ihre Vorschriften hineinschreiben sollen. ({8}) - Ich habe gesagt: Ich maße mir das nicht an. - Meines Erachtens wäre natürlich schon sehr viel gewonnen, wenn mit einer positiven Formulierung auch ein positives Signal gesetzt würde. Ein Beispiel - damit das konkret wird -: Aufenthaltsbewilligungen zum Schulbesuch können unter den nachfolgenden Bedingungen erteilt werden. - Als Bedingungen könnten die Ausnahmetatbestände genannt werden, die in der Verwaltungsvorschrift stehen. Ich komme aus Baden-Württemberg. Da schaut man manchmal zum südlichen Nachbarn. Von der Schweiz, die nicht gerade in dem Ruf steht, im Bereich der Ausländerpolitik eine Vorreiterrolle zu spielen, als klassischem Internatsland könnten wir das übernehmen, was dort geregelt worden ist; man könnte es sich zumindest einmal anschauen. Wer in der Schweiz ein Internat besuchen will, hat folgende Voraussetzungen zu erfüllen - das ist in der Schweiz gesetzlich geregelt -: Erstens. Er muss allein einreisen, das heißt ohne Immigrationsabsichten der Familie. Zweitens. Er muss eine Ganztagsschule allgemein- oder berufsbildender Art im Sinne einer staatlichen Schule besuchen. Drittens. Der Schulleiter muss die Schulanmeldung und den Schulbesuch bestätigen. Viertens. Der Schüler muss über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Fünftens. Bei minderjährigen Schülern muss für Betreuung gesorgt sein. Die Wiederausreise nach dem Schulbesuch muss gesichert sein. Mehr nicht. Das sind klar umrissene Voraussetzungen. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Frau Präsidentin. Ich komme zum Schluss. Die Bundesregierung ist laut Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion daran interessiert, dass möglichst viele Menschen in möglichst vielen Ländern Deutsch lernen; in besonderem Maße gelte das für Länder, mit denen Deutschland besonders enge politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen pflege. Wenn das so ist, dann gilt es in der Tat, den Schulbesuch ausländischer Schüler in Deutschland zu fördern und ihn nicht zu be- oder gar zu verhindern. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Lieber Herr Kollege Beck, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen alles Gute. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beim vorliegenden Antrag der FDP ist der Titel in Ordnung, aber mit dem Inhalt müssen wir uns noch einmal näher befassen. „Den Bildungsstandort Deutschland stärken“ - dagegen kann niemand etwas haben. „Ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch erleichtern“ - wenn ich nach rechts schaue, bin ich mir nicht ganz so sicher, ob die Bereitschaft dazu so groß ist. ({0}) Mit dem vorliegenden Antrag kritisiert die FDP eine uneinheitliche und bürokratische Verwaltungspraxis bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für ausländische Jugendliche zum Besuch deutscher Schulen. Die FDP führt das auf eine zu restriktive Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz zurück. Sie haben auch ausgeführt, die unterschiedlichen Ergebnisse der Prüfungen durch die Ausländerbehörden stellten eine Negativwerbung für den Bildungsstandort Deutschland dar. Zu Ihren Ausführungen dazu möchte ich sagen: Irgendwo ist zumindest die Gruppe, die hier angesprochen worden ist, untergekommen. Ein sicherlich recht schroff klingender Satz aus der Verwaltungsvorschrift wurde bereits erwähnt. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Ausnahmekategorien, die die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zum Schulbesuch ermöglichen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein Schüler aus einem Land stammt, das im Ausnahmekatalog der Arbeitsaufenthalteverordnung genannt ist - etwa die Schweiz, die USA, Kanada, Australien und Japan -, wenn es um einen zeitlich begrenzten Schüleraustausch in Zusammenarbeit mit einer öffentlichen Stelle geht, wenn es sich um eine besondere Schule mit internationaler Ausrichtung bzw. um eine staatlich anerkannte Privatschule handelt oder wenn eine Schülerin einmal Weinkönigin war. ({1}) Dieser Ausnahmekatalog macht deutlich, dass in Deutschland die Qualität und die Kompatibilität des Bildungsabschlusses die Hauptkriterien bei der Erteilung der Erlaubnis eines zweckgerichteten Aufenthaltes zum Schulbesuch sein müssen. Durch den FDP-Antrag kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass es vor allem um eine weitere Öffnung der privaten Bildungseinrichtungen geht, also nicht nur um Schulbildung, sondern um eine Mischung aus betrieblichen Interessen und schulischer Bildung. Problematisch ist dieser Ansatz nach unserer Meinung oft für die betroffenen ausländischen Jugendlichen, insbesondere für die genannte Gruppe aus China, deren Eltern so genannten Kontaktbüros viel Geld für die Erteilung eines befristeten Aufenthalts zum Besuch von Bildungsgängen zahlen. Die bei den privaten Bildungsträgern erreichten Abschlüsse werden jedoch leider oft nicht anerkannt. Das heißt, dass ein ausländischer Schüler nach der Rückkehr in sein Heimatland außer Kenntnissen der deutschen Sprache - das ist immerhin etwas nichts in der Hand hat, was ihm auf seinem weiteren Lebensweg helfen kann. Insofern ist dieser Ansatz durchaus kritisch zu betrachten. Für eine Öffnung dieser Verwaltungsvorschrift zur Ermöglichung der Teilnahme an solch fragwürdigen Ausbildungen werden wir uns nicht einsetzen. Einen akuten Handlungsbedarf sehen wir hinsichtlich der Konkretisierung der weiteren Ausnahmetatbestände dieser Verwaltungsvorschrift nicht. Wenn sich wirklich erweist, dass größere Probleme vorliegen - das kann ich im Moment noch nicht erkennen -, dann werden wir natürlich bereit sein, darüber zu sprechen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Marion Seib (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist für uns der entscheidende Standortfaktor. Für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Weiterentwicklung der Bundesrepublik ist es sicherlich von elementarer Bedeutung, den Bildungsstandort Deutschland zu stärken und insgesamt attraktiver zu gestalten. Beim Stichwort Bildungsdienstleistungen denkt man in erster Linie an die Länder Großbritannien oder Schweiz, aber kaum an Deutschland. Wenn wir Schulbesuche von ausländischen Jugendlichen in unserem Land unbürokratisch ermöglichen, dann ist dies eine gute und richtige Maßnahme, damit wir als Bildungsdienstleister weltweit wahrgenommen werden. ({0}) Daher halte ich den Antrag der FDP-Fraktion in der Sache für richtig. Wir reden hier nicht von Zuwanderung. Zuwanderung ist ein auf Dauer angelegter Aufenthalt. Wir reden hier von einem temporären und die Solidarität nicht strapazierenden Aufenthalt. ({1}) Es gibt einige gute Gründe, die Möglichkeit des Schulbesuchs in Deutschland zu erleichtern. Die Internatsschüler in England und in der Schweiz haben sich zu einem Wirtschaftsfaktor für viele Regionen entwickelt. ({2}) Niemand von uns kann ernsthaft etwas dagegen haben, wenn wir kleine, aber dennoch positive Effekte für unsere wirtschaftliche Entwicklung erzielen. Aber auch langfristig gibt es positive Effekte für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Diese Effekte sind nicht so einfach wie die Ausgaben der Schüler während ihres Aufenthaltes in Eurobeträge zu fassen. Viele der jungen Menschen, die einen Schulbesuch im Ausland absolvieren, werden in einigen Jahren in Wirtschaft und Politik ihres Heimatlandes in herausgehobenen Positionen tätig sein. ({3}) Gerade in Zeiten der verstärkten Vernetzung der internationalen Märkte und des Zusammenrückens in Europa ist es wichtig, schon frühestmöglich funktionierende Netzwerke zu knüpfen. Was, meine sehr geehrten Damen und Herren, spricht dagegen, bereits in der Schule damit zu beginnen, diese zukunftsorientierten Netzwerke aufzubauen? ({4}) Eine wesentliche Hürde, für Firmen und Institutionen in unserem Lande tätig zu werden, ist in meinen Augen das Fehlen von Grundkenntnissen des Deutschen bei Fachkräften aus dem europäischen und vor allem dem außereuropäischen Ausland. ({5}) - Nein, da bekomme ich viel Beifall, sehr geehrter Herr Kollege. - Wir können und sollten uns nicht darauf verlassen, dass es die Goethe-Institute schon richten werden. Wenn sie auf erworbenen Grundkenntnissen in der deutschen Sprache aufbauen können, fällt es den ausländischen Fachkräften leichter, sich für eine Tätigkeit für deutsche Firmen und Institutionen in Deutschland zu entscheiden. Neben dem Erlernen der Sprache dient ein Schulbesuch in der Bundesrepublik auch dem gegenseitigen kulturellen Austausch. Viele Jugendliche stellen fest, dass das Leben in Deutschland oftmals anders ist, als sie im Vorfeld vermutet haben. So können verzerrende Darstellungen im Ausland über unser Land zumindest im Kleinen korrigiert werden. Was wir uns für unsere Kinder wünschen - nämlich einen bildenden Auslandsaufenthalt -, sollten wir auch Kindern aus anderen Ländern zugestehen. ({6}) Es ist daher notwendig, dass die betreffenden Jugendlichen viele positive Eindrücke sammeln. Zu den positiven Eindrücken zählt zweifelsohne nicht der lange Kampf mit den Behörden in unserem Land. Ich denke, das können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen mit unseren Behörden nachvollziehen. Ein großes Problem in diesem Zusammenhang ist die unterschiedliche Handhabe der einzelnen Bundesländer bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen. Bayern wird in diesen Fragen gerne der schwarze Peter zugeschoben, wie Sie es eben wieder versuchten, aber die Realität sieht anders aus. So können beispielsweise chinesische Staatsbürger komplette Ausbildungsprogramme in der Benedict-Schule München absolvieren. ({7}) Die Visaerteilung für die Teilnehmer erfolgt in Zusammenarbeit des Deutschen Generalkonsulats in Peking und Schanghai mit dem bayerischen Ausländeramt und ist regelmäßig unproblematisch. ({8}) Für uns politisch Handelnde muss es vorrangige Aufgabe sein, darauf zu drängen, dass die bestehenden Verwaltungsvorschriften so geändert werden, dass eine schnellstmögliche, unbürokratische sowie bundesweit einheitliche Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für Schüler erfolgen kann. ({9}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns einig und halten es alle für widersinnig, wenn in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz formuliert wird: Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen zum Schulbesuch nicht erteilt werden. ({10}) - Ich glaube, das Rederecht liegt bei mir, verehrter Herr Kollege. - Nachfolgend werden in der genannten Verwaltungsvorschrift zwar die Ausnahmen aufgeführt, aber durch den ersten Satz wird bereits eine negative Grundstimmung erzeugt. Damit sind wir bei dem, was auch Sie, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, gesagt haben: Ich denke, wir sollten die Formulierung dahin gehend ändern, dass die Kernaussage dieses Passus nicht das halb leere Glas beschreibt, sondern das halb volle Glas. Demnach sollten wir in Deutschland Aufenthaltsbewilligungen zum Zweck des Schulbesuchs grundsätzlich erteilen. Die daran zu knüpfenden Bedingungen wurden schon mehrfach angeführt. Das können wir alle unterstützen. Ich bin davon überzeugt: Wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, gibt es keinen Grund, ausländischen Schülern die Aufenthaltsbewilligung, in welches Bundesland sie auch immer gehen wollen, zu verweigern. Ich bedanke mich. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang den Kollegen Beck zu seiner ersten Rede beglückwünschen. So, wie Sie ein paar Vorbemerkungen gemacht haben, mache ich ein paar Nachbemerkungen. Die erste Nachbemerkung lautet: Es ist erfreulich, welch große Übereinstimmung wir darin haben, dass Internationalität im Bildungswesen ein gemeinsames Anliegen ist. ({0}) Auf einem Teilgebiet, nämlich bei den Studenten, können wir ja seit 1998 einen deutlichen Zuwachs verzeichnen; ein Plus von 20 Prozent bei den ausländischen Studierenden wäre den Beifall des ganzen Hauses wert. Dies ist gemeinsamen Anstrengungen von uns allen zu verdanken. ({1}) Zweite Vorbemerkung: Ich fand es sehr gut, dass Sie in der Sache dargelegt haben, dass wir nicht allein über EU-Ausländer sprechen, sondern hierbei auch unseren Blick über die EU hinaus richten müssen. Auch das ist uns ein wichtiges Anliegen, denn eine Bildungsfestung Europa würde nicht für Internationalität sorgen. Von daher hat die FDP hiermit einen richtigen Punkt angesprochen. Wir müssen an diesem Punkt arbeiten. Drittens. Uns hat sehr gefallen, dass Sie nicht nur auf das Internatswesen abgehoben haben, sondern auch auf den Schüleraustausch, auf die Internationalität insgesamt. Es ist nahe liegend, dass er sich eher im europäischen Rahmen abspielt, aber die Horizonte haben wir mittlerweile erweitert. Die Zahlen sind auch nicht niedrig. Nach den Zahlen der EU und der KMK zu entsprechenden Austauschangeboten liegen wir wohl bei rund 20 000 deutschen Austauschschülern und rund 17 000 ausländischen Jugendlichen, die im Schüleraustausch zu uns kommen. Diese Zahlen beziehen sich nur auf den gut ausgestatteten, reglementierten Austausch. Der Schüleraustausch über die Schulen ist noch deutlich höher. Ich breite das hier deshalb aus, weil mir in der Vorbereitung auf dieses Thema aufgefallen ist, dass wir dazu bisher eigentlich keine gute Statistik haben. Statistiken sollen keine Ausflucht sein, sondern eine Statistik könnte hier der Politik Hinweise geben, in welchem Bereich es Schwächen gibt. Vielleicht könnte ein bildungspolitisches Anliegen sein, internationale Bildungsstatistik und Austauschstatistik in Deutschland zu vervollkommnen und für andere Länder in Europa fruchtbar zu machen. Viertens. Die FDP hat speziell die Internate in den Blick genommen. Dazu zu später Stunde vor Pfingsten einen kleinen Hinweis - das ist schon vom Kollegen Beck dargelegt worden - auf die Realitäten. Eine Zahl als Ergänzung: Wir haben rund 20 000 Internatsplätze, von denen - wie man erfährt, wenn man sich sachkundig macht - 5 000 nicht besetzt sind. Es würde eine Chance bedeuten, wenn diese 5 000 Plätze - das wäre ein Drittel, das hinzukommt - vielleicht auch mit der neuen gemeinschaftlichen Offenheit in Bezug auf Internationalität schneller zu besetzen wären. Es wäre wirtschaftlich gut, wenn dieses Potenzial, das bereits vorhanden ist, genutzt würde und entsprechend angenommen werden könnte. Dadurch könnte man auch andere Perspektiven eröffnen. Man sollte also Leerkapazitäten in diesem Bereich vermeiden und unter Umständen mit einem entsprechend anderen Verständnis von Verwaltungsvorschriften in Bezug auf das Ausländergesetz für mehr Zugänglichkeit sorgen. Ich will gar nicht so weit gehen, über die internationale Hochschulmarketinginitiative hinaus auch noch eine internationale Schulmarketinginitiative in Deutschland zu fordern. Aber es kann auch dahin noch kommen. Es wäre doch grandios, wenn das nicht allein Sache der Länder wäre, sondern Bund und Länder hier gemeinsam vorgehen würden. ({2}) Das könnte bezogen auf das kritische Thema Bund-Länder-Zusammenarbeit bei Schul- und Bildungsfragen hilfreich sein. ({3}) - Ich glaube nicht, dass es das komplizieren würde; es könnte es befruchten, wie es auch bei den Hochschulen der Fall war. Fünfte Bemerkung. Kollege Beck, auch ich habe mich umgehört, und zwar in vier Bundesländern, nicht nur beim Verband Deutscher Privatschulen. In Luisenlund in Schleswig-Holstein ist man sehr zufrieden, weil es einen guten Kontakt zu den Ausländerbehörden gibt und man aufeinander eingespielt ist. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es keine Kritik von der beispielhaften Schule. Auch von Brandenburg gibt es keine Kritik. Mit Salem habe ich ebenfalls gesprochen. Sie sagten hier, von dort gebe es keine Kritik; mir sagte man, es hätte Schwierigkeiten gegeben, weil man alles schriftlich haben wollte und bestimmte Unterlagen nicht aufs Faxgerät legen konnte, um so einen schnellen Kontakt zwischen den Behörden zu bekommen. Ich will damit sagen, dass das Bild uneinheitlich ist. Aber ich habe auch das Gefühl: Wir können uns noch so große Mühe geben, beim Verwaltungsvollzug wird es immer gewisse Differenzen geben. Wir sollten aber darauf achten, dass wir über die kleinen Differenzen im Verwaltungsvollzug nicht die grundsätzliche Perspektive aus den Augen verlieren. Diese Perspektive - sechster Punkt - wollen wir gerne aufnehmen. Wir sind als Bildungspolitiker ganz begeistert, welche Offenheit es aufseiten der FDP gibt, der wir dort nichts vorzuwerfen haben. ({4}) - Das war jetzt die Überleitung zur CDU/CSU. Wenn es möglich wäre, diese Verwaltungsvorschrift so zu überarbeiten, dass der bildungspolitische Duktus, die Offenheit, das Werben stärker zum Ausdruck kommen, dann würden wir uns an erster Stelle freuen. Aber damit es so weit kommt, müssen die Innenpolitiker überzeugt werden. Deshalb ist es strategisch goldrichtig, diesen Antrag federführend an den Innenausschuss zu überweisen. ({5}) Das ist die Stunde der Wahrheit, in der wir uns mit ganzer Kraft einbringen wollen. Wenn es dort einen breiten CDU/CSU-SPD-FDP-Grüne-Konsens gäbe, wäre das nur zum Besten. Wenn dieser noch in die Länder hineinreichte, wäre das zum Allerbesten. Fakt ist, dass die restriktiven Vorschriften im Juli 1998 in der Verwaltungsvereinbarung zwischen den Ländern niedergelegt würden. Sie wissen, was danach kam: unsere Regierungszeit. 2000 wurden sie von den Ländern exekutiert und seitdem nicht verändert. Chance also für den Innenausschuss, dort Liberalität und Offenheit zu zeigen. Es besteht die Chance für den Bildungsausschuss - siebter Punkt -, in einem gemeinsamen Antrag Vorschläge zu entwickeln, was man unterhalb der gesetzlichen und der Verwaltungsebene tun kann: Bitten an das Auswärtige Amt, über die Konsulate darauf einzuwirken, Bitten, Statistiken zu erstellen, Bitten, eine Werbung aufzubauen. Ich möchte abschließend sagen: Es ist wunderbar, mit dieser Gemeinsamkeit in die Pfingsttage aufbrechen zu können. Vielen Dank fürs Zuhören. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/471 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 17. Juni 2003, 14 Uhr, ein. In dieser Sitzung soll die erste Lesung des Antrags der Bundesregierung über die Beteiligung an der EU-Operation im Kongo erfolgen. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den Besuchern auf der Tribüne ein schönes Pfingstwochenende. Die Sitzung ist geschlossen.