Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Tagesordnung um die Beratung des Koalitionsantrages
„Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der
Demokratischen Republik Kongo“ - Drucksache
15/1144 - erweitert werden. Der Zusatzpunkt soll nach
Tagesordnungspunkt 22 aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 15/879 ({0})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 15/1109 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1124 Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Klaus Hagemann
Antje Hermenau
Otto Fricke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
27. Januar dieses Jahres wurde in Berlin durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und den Präsidenten des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem
Zentralrat der Juden in Deutschland unterzeichnet. Mit
diesem Vertrag erhalten die in Jahrzehnten gewachsenen
guten Beziehungen und die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem Zentralrat der Juden erstmals eine
vertragliche Grundlage. Das kann man als einen historischen Vorgang bezeichnen.
({0})
Der Vertrag bedarf der Zustimmung in der Form eines
Bundesgesetzes. Dem dient der vorliegende Gesetzentwurf. Mit diesem Gesetz sollen die vertraglichen Leistungen zügig umgesetzt und Voraussetzungen für die
Gewährung der festgeschriebenen Staatsleistungen geschaffen werden.
Im Jahre 1950, zur Zeit der Gründung des Zentralrates der Juden in Deutschland, lebten nur 25 000 Juden in
Deutschland. Bis 1989 betrug ihre Zahl nicht mehr als
30 000. Heute haben die 83 jüdischen Gemeinden wieder rund 100 000 Mitglieder. Dieser Zuwachs ist - das
darf man feststellen - insbesondere durch Zuwanderung
entstanden. Damit hat Deutschland nach Frankreich und
Großbritannien mittlerweile die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Europa und die weltweit am schnellsten
wachsende.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die
Aufgaben des Zentralrates stark zugenommen haben.
Redetext
Deshalb ist mit dem Vertrag eine wesentliche Erhöhung
der bisherigen Fördermittel verbunden, trotz schwieriger
Haushaltslage. Wir sind froh, dass wir das auch darstellen können.
({1})
Der Zentralrat wird zur Erhaltung und Pflege des
deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft, für seine integrationspolitischen
und sozialen Aufgaben sowie für die gestiegenen Kosten
seines Büros jährlich eine Staatsleistung in Höhe von
3 Millionen Euro erhalten.
Die Bundesregierung erklärt in dem Vertrag auch ihre
Absicht, weiterhin die Hochschule für Jüdische Studien
und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte
der Juden in Deutschland zu unterstützen. Beide Einrichtungen werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland
getragen. Andere Leistungen an die jüdische Gemeinschaft bleiben von diesem Vertrag unberührt, so zum
Beispiel die staatliche Unterstützung aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern aus
dem Jahre 1957 über die Pflege verwaister jüdischer
Friedhöfe.
Zudem würdigen wir mit diesem Staatsvertrag die Arbeit des Zentralrates für den Wiederaufbau jüdischen
Lebens in Deutschland. Bundeskanzler Schröder sagte
anlässlich der Unterzeichnung des Staatsvertrages, aus
Sicht der Bundesregierung sei dieser Vertrag auch ein
Zeichen der hohen Anerkennung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft. Unbeirrt und mutig setze sich diese
für einen Wiederaufbau ihrer Gemeinden ein - und das
„gerade in Deutschland, wo der Völkermord an den europäischen Juden mit solcher verbrecherischer Systematik geplant und ausgeführt worden ist“.
Meine Damen und Herren, dieser Vertrag ist auch ein
Zeichen für den Eintritt in die Normalität und dafür, dass
wir in der Verantwortung gegenüber unserer Geschichte
zu einem konstruktiven und solidarischen Miteinander
kommen.
({2})
Zu Recht hat der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, einen intensiven
christlich-jüdischen Dialog gefordert. Ein solcher Dialog
sei nötig, um das Verhältnis zueinander zu entkrampfen.
Herr Spiegel sagte wörtlich: „Wir müssen normaler, lockerer miteinander umgehen.“ Er fügte hinzu: „Wir reden noch viel zu sehr übereinander.“ In Deutschland
herrsche nach wie vor großes Nichtwissen über das Judentum und den Holocaust. Zu einem großen Teil liege
dies darin begründet, dass bisher keine richtige didaktische Form und kein richtiges Maß gefunden worden
seien, um darüber zu informieren. Dies sollten wir aufnehmen und beachten und uns gemeinsam darum bemühen, dass dieser christlich-jüdische Dialog in Gang gesetzt und verbessert werden kann.
Angesichts eines neuen beunruhigenden Antisemitismus hat der Deutsche Bundestag eine Entschließung mit
der Überschrift „Antisemitismus ächten - Zusammenarbeit in Deutschland stärken“ gefasst. Hier heißt es:
Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl neuer jüdischer
Gemeinden in Deutschland entstanden sind. Dies ist
Ausdruck des Vertrauens in unsere Demokratie und
in die jungen Generationen.
Weiterhin steht in der Entschließung:
Der Deutsche Bundestag unterstützt alle Bemühungen, die dazu beitragen, dass jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die in den vergangenen
Jahren nach Deutschland gekommen sind und hier
ihre Heimat gefunden haben, sich in ihrer Entscheidung bestätigt fühlen können. Hierzu gehört, die jüdischen Gemeinden in Deutschland bei der Aufgabe, jüdische Zuwanderer zu integrieren, nicht
alleine zu lassen, sondern ihnen hierbei zur Seite zu
stehen.
Das wird mit diesem Vertrag geleistet.
({3})
Mit diesem Vertrag soll auch ein substanzieller Beitrag dafür geleistet werden, dass die jüdische Dachorganisation ihren Aufgaben auch in Zukunft nachkommen
und damit die jüdische Gemeinschaft in Deutschland
stärken kann. In der Präambel wird der Vertragsschluss
auch mit der besonderen historischen Verantwortung begründet. Der Vertrag schreibt eine kontinuierliche und
partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland fest. Der Zentralrat hat sich bereits bisher als verlässlicher Partner der Bundesregierung in vielen
gesellschaftspolitischen Fragen erwiesen. Beispielhaft
nenne ich nur seine Mitarbeit in der Zuwanderungskommission und bei der Bekämpfung von Rassenhass und Intoleranz. Dafür gebührt ihm Dank.
({4})
Einen Punkt möchte ich an dieser Stelle hervorheben:
An die Umsetzung des Vertrages knüpfen wir - ich weiß,
dass dies auch die Fraktionen des Deutschen Bundestages so sehen - die klare Erwartung, dass die Zusage und
die Zielsetzung, der Zentralrat der Juden in Deutschland
sei für alle Richtungen innerhalb des Judentums offen, in der Praxis umgesetzt werden.
({5})
Die Bundesregierung geht davon aus und wird darauf
hinwirken, dass ihre damit verbundene Erwartung, alle
jüdischen Richtungen könnten unter Wahrung des religiösen Selbstbestimmungsrechts an der Förderung teilhaben,
in Zukunft erfüllt wird.
({6})
Ich habe es für richtig befunden, diese Erwartung in
diesem Zusammenhang deutlich zum Ausdruck zu bringen. Im Übrigen bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit und bitte um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der 6. Juni 2003 ist ein guter Tag, nicht nur für die Vertragspartner - die Bundesrepublik Deutschland auf der einen und den Zentralrat der Juden auf der anderen Seite -,
nicht nur für die 83 jüdischen Gemeinden in Deutschland
und ihre mittlerweile wieder gut 100 000 Mitglieder, sondern für uns alle. Mit diesem Vertrag soll kein Kapitel abgeschlossen und erst recht kein Schlussstrich unter die
Vergangenheit gezogen, sondern ein neues Kapitel des jüdischen Lebens in Deutschland aufgeschlagen werden.
Vielleicht ist es kein Zufall, sondern glückliche Fügung, dass gerade in diesen Tagen die Erinnerungen des
aus Deutschland geflohenen Philosophen Hans Jonas erschienen sind. Viele kennen sein Buch „Das Prinzip Verantwortung“, das in den 80er-Jahren gerade in Deutschland große Aufmerksamkeit erfahren und Anstöße für
das damals wachsende Bewusstsein für den Schutz der
Schöpfung und das Bemühen um Nachhaltigkeit gegeben
hat. Es ist das Vermächtnis eines der vielen Deutschen,
die durch Flucht und Vertreibung zwar den Mördern entkommen konnten, deren Geist und Kraft unserem Land
dennoch verloren gegangen sind.
Ebenfalls in diesen Tagen ist das neue Buch von
Amos Elon „Zu einer anderen Zeit - Porträt der
deutsch-jüdischen Epoche“ in deutscher Übersetzung
erschienen. In der langen, auch innerjüdischen Kontroverse, ob es denn jemals so etwas wie eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben habe, wird damit ein neuer
Akzent gesetzt und die Erinnerung daran wach gehalten, wie stark gerade Mitbürger jüdischen Glaubens die
Entwicklung von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, aber auch der Medizin oder der Jurisprudenz in
Deutschland ganz entscheidend geprägt haben. Für
viele beispielhaft möchte ich Heinrich Heine, Kurt
Tucholsky oder Walther Rathenau nennen. Erinnern
darf ich aber auch an prominente Vordenker unseres
Rechtsstaates wie Eduard von Simson, Hermann Staub
oder Hans Kelsen.
Dieser Vertrag ist keineswegs selbstverständlich. Er
ist kein Zeichen von Normalität, auch wenn der Staat
sein Verhältnis zu den großen christlichen Kirchen seit
langem durch Staatskirchenverträge oder Konkordate
auf eine dauerhafte und verbindliche Rechtsgrundlage
gestellt hat. Dieser Vertrag ist keine Privilegierung einer
Gruppe; denn die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates bedeutet nicht, dass er mit den Religionsgemeinschaften des Landes nicht vertrauensvoll
zusammenarbeiten und sie unterstützen soll. Das wäre
nicht Neutralität, sondern geradezu Feindlichkeit.
({0})
Als Kulturstaat schützen und fördern wir die religiösen und kulturellen Engagements unserer Bürger. Die
Unterzeichnung des Vertrages durch den Zentralrat der
Juden in Deutschland ist ein beeindruckender Beweis
des Vertrauens der jüdischen Mitbürger in unsere Demokratie, unsere Grundordnung, die freiheitlich ist und
bleibt, und unsere Gesellschaft.
Als die ersten Juden nach dem Schrecken der Nazibarbarei wieder nach Deutschland zurückkehrten, war
dies alles andere als selbstverständlich. Es war für sie zunächst ein großes Wagnis. Sie konnten ja nicht ahnen,
welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen es in der Nachkriegszeit in Deutschland geben
würde und ob jemals wieder jüdisches Leben in
Deutschland erblühen könnte. Es gab nicht wenige, für
die es unvorstellbar war, dass Juden in das Land der Täter zurückkehren, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Deshalb lebten nicht wenige in den ersten Jahren auf gepackten Koffern. Doch mit der Zeit wuchs das Vertrauen
in unseren Staat und damit die Hoffnung, dass es richtig
sein würde, sich wieder für ein Leben in Deutschland zu
entscheiden. Aus dieser Hoffnung wurde im Laufe der
Zeit Gewissheit. Dann wurden diese Koffer ausgepackt
und man war wieder in der Heimat.
Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass dieses Vertrauen der jüdischen Mitbürger in unser Land, in unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auch dazu beigetragen hat, das Vertrauen der
internationalen Staatengemeinschaft in die damals noch
junge Bundesrepublik zu festigen.
({1})
Dieses Vertrauen war und ist nicht selbstverständlich.
Das Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen.
Der Kollege Edathy hat in der ersten Lesung dieses
Vertrages eine Umfrage zitiert, nach der 60 Prozent der
Bevölkerung im Antisemitismus ein Problem sehen. Es
wäre falsch, wenn wir so tun würden, als gäbe es in
Deutschland keinen Antisemitismus.
({2})
Aber ebenso falsch wäre es, wenn wir bei Debatten über
jüdisches Leben in Deutschland zuerst, vor allen Dingen
oder gar ausschließlich über Antisemitismus reden würden. Paul Spiegel hat einmal gefragt: Was geht uns Juden
der Antisemitismus an? Eine zunächst überraschende,
aber zweifelsfrei richtige Frage. Die Frage richtet sich
auch an uns. Entscheidend ist, dass wir alle gemeinsam
geschlossen und entschlossen jeder Form des Antisemitismus entgegentreten, ganz gleich in welcher Gestalt er
uns begegnet, dass wir ihm den Nährboden entziehen
und dass wir stets darauf achten, dass es nie mehr so sein
darf, dass sich unsere jüdischen Mitbürger fragen müssen, ob es richtig war, nach Deutschland zurückzukehren, und ob es richtig ist, hier zu leben.
({3})
Es muss für uns alle nicht nur selbstverständlich sein,
dass sie hier im Sinne von Toleranz und Duldung leben
können - darum kann es nicht gehen -, sondern dass sie
auch hier leben wollen, weil Deutschland ihre Heimat
ist.
Staatssekretär Körper hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass unsere deutsche jüdische Gemeinde weltweit am schnellsten wächst. Der Grund hierfür ist insbesondere die Zuwanderung in der Zeit nach der
Wiedervereinigung. Sie hat zum einen dazu geführt, dass
jüdisches Leben in Deutschland wieder erblüht; aber es
gibt auch Probleme bei der Zuwanderung, die wir nicht
verschweigen dürfen, sondern lösen müssen. Es gibt
neue Aufgaben und Herausforderungen.
Die Integration dieser Migranten jüdischen Glaubens
ist nicht nur für die jüdischen Gemeinden, sondern für
unser Land insgesamt, für die gesamte Gesellschaft eine
wichtige Aufgabe. Der Vertrag soll deshalb auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die notwendige Integration nicht nur in die jüdischen Gemeinden, sondern
auch in unsere Gesellschaft besser gelingt und dass wir
dadurch die Kultur der Verständigung weiter ausbauen.
Unser Dank gilt dem Zentralrat der Juden in Deutschland, an der Spitze seinem Präsidenten Paul Spiegel,
aber auch allen anderen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten um Versöhnung, um Verständigung, um eine
gute und vor allen Dingen eine gute gemeinsame Zukunft bemühen. Dieser Vertrag kann und wird dazu beitragen, nicht nur die besseren Voraussetzungen für eine
gute Integration zu schaffen, das deutsch-jüdische kulturelle Erbe zu pflegen und zu erhalten, sondern auch die
Bemühungen um Verständigung zu unterstützen.
Es wird in den nächsten Jahren aber nicht nur darauf
ankommen, dass die nun zur Verfügung stehenden Mittel
vertragsgerecht und sinnvoll eingesetzt werden; entscheidend wird es vielmehr sein, den Geist des Vertrages
mit Leben zu erfüllen. Das ist nicht nur eine Aufgabe der
Vertragspartner. Das ist eine Aufgabe für alle Menschen,
die guten Willens sind. In diesem Sinne stimmt die
CDU/CSU-Fraktion diesem Vertrag gerne zu.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Staatsvertrag wurde am 27. Januar unterzeichnet. Das ist
der Holocaust-Gedenktag und der Tag der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz. Die erste Lesung dieses Vertrages hatten wir im Deutschen Bundestag am
8. Mai, dem Tag der Befreiung von der Hitler-Diktatur.
Diese beiden Daten werfen ein Schlaglicht darauf, dass
das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrer jüdischen Minderheit immer noch sehr von den Schatten der
Vergangenheit geprägt wird.
Heute ist ebenfalls ein wichtiger Tag, nämlich der jüdische religiöse Feiertag Schawuot. Sieben Wochen nach
Pessach wird die Offenbarung der zehn Gebote am
Berge Sinai gefeiert.
Dass die Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag mit dem Jahrestag dieses religiösen Festes zusammenfällt, war uns allen nicht bewusst, als wir die Tagesordnung zusammengestellt haben. Auch das wirft ein
Schlaglicht auf unsere Situation, weil es zeigt, wie wenig
vertraut die Nichtjuden in diesem Land mit der jüdischen
Kultur und mit den jüdischen Feiertagen sind.
Ich hoffe, dass sich diese Situation mit der Bereicherung durch das jüdische Leben, das durch die Zuwanderung bedingt auch präsenter und sichtbarer wird, verbessert und dass wir alle etwas dazulernen und stärker
aufeinander eingehen. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Aspekt.
({0})
Wir müssen mehr über die Geschichte des Judentums lernen und wissen als das, was sich in den vergangenen Jahrzehnten und im vergangenen Jahrhundert ereignet hat. Wir müssen das Judentum aus sich selbst
heraus verstehen. Darin haben wir wohl alle noch Nachholbedarf.
Der Staatsvertrag zeigt, dass die jüdische Gemeinde
ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens in unserem Lande geworden ist. Der Zentralrat, gegründet nach
dem Krieg als Notgemeinschaft der 15 000 noch in
Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, ist heute fester Bestandteil unseres kulturellen und gesellschaftlichen
Lebens. Der Staatsvertrag kommt vielleicht etwas spät;
aber er dokumentiert diese entscheidende Entwicklung
und er dokumentiert auch, dass sich viele jüdische Bürgerinnen und Bürger entschlossen haben, in unser Land
zu kommen, hier zu bleiben und die Koffer auszupacken.
Wir haben immer wieder darüber gesprochen, dass viele
Jüdinnen und Juden das Gefühl hatten, sie bleiben hier
nur auf Probe. Sie saßen auf ihren Koffern und hatten
sich noch nicht entschieden. Ich denke, dass sich viele
Jüdinnen und Juden trotz aller Probleme, die Juden in
unserem Land immer noch haben, entschieden haben,
dauerhaft hier zu bleiben und ihre Kultur und Religion
zu leben, ist etwas, worüber wir sehr zufrieden sein können.
Der Staatsvertrag soll ein neues Kapitel in der langen
Geschichte jüdischen Lebens in unserem Land aufschlagen. Durch die Zuwanderung aus Osteuropa sind viele
jüdische Gemeinden gewachsen und weitere gegründet
worden. Diese Zuwanderung, die von allen Fraktionen
des Deutschen Bundestages ausdrücklich gewollt ist, hat
Volker Beck ({1})
erheblich zum Reichtum und zur Sichtbarkeit jüdischen
Lebens in Deutschland beigetragen.
Dieser Reichtum bedeutet auch ein zunehmendes
Sichtbarwerden der Vielfalt des jüdischen Lebens. Diese
Vielfalt war auch ein Diskussionspunkt bei der Verabschiedung des Staatsvertrages.
Ich meine, wir sollten fast dankbar dafür sein, dass
wir uns heute darum kümmern müssen, dass Jüdinnen
und Juden ihre religiöse Überzeugung in unterschiedlicher Ausprägung leben können und auch in dieser Unterschiedlichkeit vom Staat akzeptiert und anerkannt werden wollen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland
bekennt sich dazu, dass er die Vielfalt religiöser Strömungen des Judentums in seinen Reihen repräsentiert.
Wir hoffen, dass dieser Staatsvertrag dazu führt, dass
diese gesamte Vielfalt gelebt werden kann. Das gilt auch
für eine Minderheit in unserem Land, die früher die
Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden bildete, und
zwar die liberalen jüdischen Gemeinden, die bislang
noch nicht im Zentralrat vertreten sind.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen Appell an die
Landesinnenminister richten, die für die Anerkennung
von Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts zuständig sind. Eine Religionsgemeinschaft kann normalerweise erst dann eine Körperschaft
des öffentlichen Rechts werden, wenn sie bereits zehn
Jahre existiert und eine gewisse Größe hat.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern daran erinnern: Leo Baeck, der Vorsitzender der
World Union for Progressive Judaism war, hat zu Beginn
des 20. Jahrhunderts in Deutschland begonnen zu wirken. Er hatte bis weit nach dem Krieg eine entscheidende
Bedeutung für das religiöse Leben der Juden in Deutschland und auf der ganzen Welt. Vielleicht sollte man unter
diesem Gesichtspunkt anerkennen, dass es nicht darum
geht, vor wie vielen Jahren die Gemeinden gegründet
wurden. Es geht vielmehr darum, dass das liberale Judentum in Deutschland eine lange Tradition und tiefe
Wurzeln hat. Insofern sollte man in Kenntnis der historischen Umstände vielleicht seine Ermessensspielräume
nutzen, um auch diese Fragen und Probleme im Einvernehmen mit allen Seiten zu lösen.
({2})
Zum Schluss: Bei Debatten über die jüdische Gemeinschaft - auch Herr Bosbach hat das angesprochen wird immer wieder das Stichwort „Normalität“ erwähnt.
Ich wünsche mir in der Tat mehr Normalität für das Leben der Jüdinnen und Juden in unserem Land. Normal
wäre es für mich, wenn Polizeiwagen und Absperrgitter
vor jüdischen Einrichtungen nicht mehr notwendig wären.
({3})
Momentan ist das aber noch notwendig, weil der Antisemitismus in Deutschland noch immer das Leben der Jüdinnen und Juden gefährdet. Ich finde, der schrecklichste
Gedanke dabei ist, dass Kinder, die einen jüdischen Kindergarten besuchen, erst einmal an einem Polizeispalier
vorbeigehen müssen. Was bedeutet das für den Eintritt in
unsere Gesellschaft und welches Grundgefühl vermittelt
das? Es ist unser aller Aufgabe, die geistigen Grundlagen dafür zu schaffen, dass die entsprechenden Gefährdungen abgebaut werden können, damit tatsächlich wieder ein normales jüdisches Leben in unserem Land
möglich wird.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Hans-Joachim Otto, FDPFraktion.
Meine Damen und Herren! Es stimmt, heute ist ein
wirklich guter Tag, und zwar gleichermaßen für Juden
sowie für Nichtjuden in Deutschland. Wir setzen einen
Vertrag in Kraft, den es jedenfalls in dieser Form vor wenigen Jahren wohl noch nicht hätte geben können. Die
Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Zentralrat der Juden in Deutschland werden auf
eine dauerhafte juristische Basis gestellt. Dieser Vertrag
ist - so hoffe ich jedenfalls - Ausdruck wachsenden Vertrauens der jüdischen Bürger in die demokratische Stabilität dieses Landes.
({0})
Kollege Bosbach und Kollege Beck, sicherlich ist das
Verhältnis der Juden zu Deutschland noch weit von der
so genannten Normalität entfernt. Jedenfalls darf diese
nicht einseitig von Nichtjuden ausgerufen werden.
Trotzdem drücke ich die Hoffnung aus, dass der Abschluss dieses Vertrages von den Juden selbst als ein
weiterer Schritt auf Deutschland zu verstanden wird.
Diese bewusste Hinwendung zu einem Land, das vor
70 Jahren unfassbares Leid über Juden in ganz Europa
brachte, ist Reifezeugnis und zugleich Verantwortung für
das neue demokratische Deutschland.
({1})
Ich betrachte den Abschluss dieses Vertrages auch als
ein politisches Signal an die Ewiggestrigen, und zwar
dahin gehend, dass sich Demokraten in Deutschland gemeinsam und konsequent gegen jede Form von Antisemitismus wenden und wehren. Es ist in der Tat beschämend, dass nahezu sämtliche jüdischen Einrichtungen
noch immer mit einem Polizeiaufgebot gesichert werden
müssen.
Lassen Sie mich - ohne das Vorherige zu vergessen heute vor allem eines feststellen: Der heutige Tag, an
dem wir diesen Vertrag ratifizieren, ist für uns vor allem
ein Tag der Freude darüber, wie lebhaft und intensiv sich
jüdisches Leben in Deutschland wieder entwickelt hat.
Hans-Joachim Otto ({2})
Damit meine ich nicht zuletzt auch jüdisches kulturelles
Leben auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Juden haben über Jahrhunderte hinweg das kulturelle Leben in
Deutschland ganz entscheidend mitgestaltet und bereichert. Gerade in Berlin, aber auch in meiner Heimatstadt
Frankfurt kennt man das Engagement und die Verdienste
der jüdischen Bevölkerung in Kunst und Wissenschaft
sowie in Politik und Gesellschaft sehr gut.
({3})
Man weiß deshalb, welchen Verlust ganz Deutschland
durch die Nazibarbarei erlitten hat. Gerade dieser intellektuelle Verlust wird sich natürlich nicht einfach durch
die heute zu beschließenden finanziellen Zuwendungen
ausgleichen lassen. Diese Finanzmittel sind nur ein Baustein, um die durch den Zuzug insbesondere osteuropäischer Juden in finanzielle Bedrängnis geratenen jüdischen Gemeinden zu unterstützen. Der Deutsche
Bundestag würdigt damit ausdrücklich auch die überwiegend ehrenamtliche Arbeit in den jüdischen Gemeinden. Deren soziale Integrationsleistung kann gar nicht
hoch genug bewertet werden.
({4})
Der Vertrag - auch ich möchte das betonen - soll aber
der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland
zugute kommen. Ich appelliere genauso wie meine Vorredner an den Zentralrat, für einen fairen Ausgleich auch
mit den übrigen jüdischen Organisationen zu sorgen.
({5})
In seinem Buch „Geteilte Erinnerung“ schreibt der
Frankfurter Architekt und Publizist Dr. Salomon Korn,
der vorgestern seinen 60. Geburtstag feierte, Folgendes:
Erinnerung an Zerstörung - und Hoffnung auf Zukunft: zwischen diesen Polen bewegt sich heute jüdisches Dasein in Deutschland.
Erinnerung an die Zerstörung und Hoffnung auf die
Zukunft sind auch die Fundamente des heute zu ratifizierenden Vertrages. Ohne die Erinnerung an den staatlich
verordneten Völkermord des Naziregimes gäbe es diesen
Vertrag sicherlich nicht. Aber - viel entscheidender -:
Ohne Hoffnung auf die Zukunft gäbe es ihn erst recht
nicht.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Zentralrat der Juden in Deutschland wurde als
historisch und als Meilenstein auf dem Weg in die Zukunft gewürdigt. Ich finde: zu Recht. Die PDS im Bundestag wird dem Gesetzentwurf daher auch zustimmen.
Mehr als 3 Millionen Euro, die nunmehr pro Jahr vertraglich vereinbart wurden, wiegt das Symbol. Es wurde
spät gesetzt, aber es gilt. Jüdinnen und Juden sind in
Deutschland nicht nur geduldet; sie sind gleichberechtigt
und gefragt. Das macht nichts wieder gut, was Jüdinnen
und Juden in Deutschland angetan wurde, aber mit diesem Vertrag, finde ich, setzen wir heute, wenn auch sehr
spät, ein Zeichen.
({0})
Bei aller Bedeutung will ich aber auch nicht verschweigen: Der Vertrag birgt Klippen und die Vertragspartner versuchen, sie zu umschiffen. Eine Klippe steckt
in dem Satz - der hier schon mehrfach zitiert wurde -,
wonach die vereinbarten Leistungen der gesamten jüdischen Gemeinschaft zugute kommen. Ich will jetzt nicht
auf kulturelle, strukurelle und religiöse Unterschiede der
gesamten jüdischen Gemeinschaft eingehen, aber ich unterstreiche, auch in Kenntnis der Berliner Verhältnisse,
dass dieser Gleichstellungssatz gilt und auch in der Umsetzung des Vertrags gelten muss.
Noch wichtiger ist mir aber Folgendes: Die PDS im
Bundestag fragt die Bundesregierung seit Jahren, wie
viele rechtsextremistische Straftaten je Monat offiziell
registriert werden. Das Ergebnis ist übersichtlich und erschreckend. Jeden Tag gibt es hierzulande eine rechtsextremistische Gewalttat und jede Stunde wird im statistischen Schnitt eine Straftat mit diesem Hintergrund
registriert. Der Anteil der Straftaten, die einen antisemitischen Hintergrund haben, ist hoch und steigt. Deshalb:
Ein Vertrag ist ein Vertrag. Er ersetzt aber nicht das tägliche Leben und das alltägliche Miteinander.
Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen,
noch ein weiterführender Gedanke. Der Staatsvertrag
zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und
der Bundesrepublik war überfällig, aber es gibt weitere
Bevölkerungsgruppen, die noch immer um Anerkennung und Gleichberechtigung kämpfen. Ich meine speziell die Sinti und Roma. Auch ihnen gegenüber gibt es
eine historische Verantwortung und eine aktuelle zudem.
Es ist schon bedenklich, wie lange es dauert, den Opfern
unter ihnen ein Mahnmal zu setzen, und wie schnell dagegen Sinti und Roma selbst in Bürgerkriegsgebiete abgeschoben werden sollen. Jüngst wurde dazu eine Kampagne gestartet. Aber auch in dieser Frage geht es nicht
um Parteipolitik, sondern um die Kultur unseres Landes.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die meisten Mitglieder des Bundestages haben
hier, in Berlin, zusätzlich zu ihrem Wahlkreiswohnsitz
eine Zweitwohnung; meine befindet sich im östlichen
Teil Berlins. Wenn ich in den Sitzungswochen des Bundestages morgens zum Reichstagsgebäude fahre,
komme ich an der Oranienburger Straße entlang. Dort
befindet sich eine jüdische Synagoge. Das Erste, was
ich von dieser Synagoge zur Kenntnis nehme, ist nicht
das Gebäude selbst, sondern sind die Polizeiwagen vor
dem Gebäude. Die Situation in Deutschland verlangt es,
dass - nicht nur religiöse - Einrichtungen der Juden,
anders als etwa christliche Kirchen, eines besonderen
Schutzes bedürfen. Das gilt auch für Schulen und für
Kindergärten.
Es ist wichtig festzuhalten - ich freue mich, dass wir
auch in den Ausschussberatungen Einstimmigkeit in Bezug auf den heute zu ratifizierenden Vertrag erzielt haben -, dass Menschen jüdischen Glaubens, die in
Deutschland leben, Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes, ganz offenkundig eines besonderen Schutzes bedürfen. Dieses Stück Realität aber dürfen wir in
Deutschland niemals als ein Stück Normalität akzeptieren.
({0})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir nach wie
vor ein Problem mit antisemitischen Positionen - diese
gibt es auch in anderen Ländern; aber wir haben in dieser
Hinsicht eine besondere Verantwortung - haben, weil
diese in einem Teil der Bevölkerung Anklang finden. Insofern haben wir nicht nur Anlass, uns über das Vertrauen, das die vielen erfreulicherweise wieder in
Deutschland lebenden Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens diesem Staat entgegenbringen, zu
freuen, sondern auch, dafür ausgesprochen dankbar zu
sein.
({1})
Der Vertrag, den wir heute einvernehmlich und geschlossen verabschieden werden - alle Fraktionen haben
bereits erklärt, dass sie dem entsprechenden Gesetzentwurf zustimmen -, gibt aber auch Anlass, über jüdisches
Leben in Deutschland einmal anders zu sprechen als unter dem Gesichtspunkt, dass jüdische Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland potenzielle Opfer von Übergriffen sind. Die Debatte über diesen Vertrag gibt uns Anlass, darüber zu reden, dass jüdische Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland auch Akteure sind, dass sie unser
Zusammenleben bereichern, dass sie nichts sind, was
man zu der Gesellschaft hinzunimmt, sondern dass sie
elementarer Teil dieser Gesellschaft sind.
Das Zustandekommen dieses Vertrages hat seine Ursache selbstverständlich auch darin - der Kollege Otto hat
zu Recht darauf hingewiesen -, dass wir vor dem Hintergrund der furchtbaren deutschen Geschichte zwischen
1933 und 1945 gerade gegenüber den Jüdinnen und Juden
in Deutschland eine besondere Verantwortung haben.
Dieser Vertrag bringt aber auch zum Ausdruck, dass wir
wieder einen Zustand erreichen wollen - der damit verbundene Prozess wird heute nicht abgeschlossen -, in
dem es ganz selbstverständlich ist, dass deutsche Bürgerinnen und Bürger hier in Frieden und ungefährdet leben
können, egal welcher Glaubensrichtung sie angehören.
({2})
Es ist richtig, auch darauf hinzuweisen, dass rund eine
halbe Million Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens bis zur Zeit des Nationalsozialismus trotz aller Brüche in der deutschen Geschichte ein Teil dieser Gesellschaft gewesen sind, übrigens nicht nur im Bereich der
Eliten, sondern auch in anderen Bereichen der deutschen
Gesellschaft. Sie gehörten dazu. Sie waren ein Teil dieses Landes. Deswegen ist die Judenverfolgung im Nationalsozialismus nicht nur etwas gewesen, was sich gegen
den jüdischen Teil der deutschen Bevölkerung gerichtet
hätte. Vielmehr war die Judenverfolgung in Deutschland
ein Akt der Selbstzerstörung der eigenen Gesellschaft,
der deutschen Gesellschaft.
({3})
Sie war eine Selbstamputation. Wir leiden noch heute
unter diesem Verlust.
Ich selbst bin in den 70er-Jahren in Niedersachsen
aufgewachsen. An meiner Schule, am Gymnasium, gab
es keinen jüdischen Schüler und keine jüdische Schülerin. Übrigens: Ich glaube, dass ein Grund für den Antisemitismus auch darin besteht, dass oftmals kein Wissen
umeinander da ist. Ich war auch überrascht zu hören
- Herr Kollege Beck hat es angesprochen -, dass heute
einer der höchsten jüdischen Feiertage ist. Ich weiß
nicht, wem in diesem Hause das bewusst war.
Der Vertrag, den wir schließen, der den Zentralrat
stärker dazu in die Lage versetzen soll, die Pflege des
deutsch-jüdischen Kulturerbes - des gemeinsamen Kulturerbes - zu betreiben, der den Zentralrat unterstützen
soll bei dem Aufbau der jüdischen Gemeinschaft in
Deutschland, der ihn unterstützen soll insbesondere bei
den integrationspolitischen, bei den sozialen Leistungen,
die er erbringt, sollte vielleicht auch eine Grundlage und
ein Ausgangspunkt dafür sein, dass wir uns miteinander
vornehmen, wechselseitig mehr übereinander erfahren
zu wollen, mehr übereinander wissen zu wollen; denn
Zusammenleben ohne Verständigung kann nicht funktionieren. In dem Sinne ist dieser Vertrag nach meinem
Dafürhalten eben nicht der Abschluss eines Prozesses
oder ein Punkt, ab dem man sagen könnte: Jetzt ist ein
Zustand der Normalität erreicht. Nein, der Vertrag ist ein
Zwischenschritt in diesem langen Prozess.
Ich möchte an dieser Stelle abschließend an Ignatz
Bubis erinnern, den langjährigen Präsidenten des Zentralrates der Juden, der kurz vor seinem Tod mit einiger
Verbitterung sinngemäß gesagt hat - ich zitiere ihn aus
dem Gedächtnis heraus -: Ich habe mich immer bemüht,
dieses Missverständnis, auf der einen Seite gebe es die
Deutschen, auf der anderen Seite gebe es die Juden, zu
überwinden. - Er sagte, er habe in dieser Hinsicht wenig,
nach seiner Einschätzung sogar nichts erreicht. Ich
glaube, dass das Vermächtnis solch großer Menschen
wie Ignatz Bubis für uns auch darin besteht, ihre Ansätze
aufzugreifen und fortzuführen. Wenn wir viel Glück haben und wenn wir dazu beitragen, dass eine Grundlage
dafür da ist, dass wir dieses Glück haben dürfen, werden
vielleicht in einigen Generationen Menschen, die unsere
Bevölkerung - die Deutschen, die jüdischen Deutschen,
die christlichen Deutschen, die muslimischen Deutschen - hier im Bundestag vertreten, feststellen können:
Ja, es gibt dieses Separieren zwischen Deutschen und Juden nicht mehr, Deutsche jüdischen Glaubens sind deutsche Bürgerinnen und Bürger und nicht Juden in
Deutschland. Wenn wir das feststellen können, dann
werden wir, glaube ich, an einem Punkt angelangt sein,
von dem wir sagen können: Es war wichtig, ihn zu erreichen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Martin Hohmann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Alle Redner haben so gesprochen, dass ich nur sagen
kann: Ich kann alles bekräftigen und unterstützen. Besonders möchte ich mich natürlich auf Wolfgang
Bosbach, unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, beziehen. Ich möchte das nicht wiederholen, aber
ich bekräftige: Juden gehörten seit Jahrhunderten zu uns.
Unser aller Wunsch ist: So soll es wieder werden.
Ich darf etwas, was noch keiner gesagt hat - als Letzter hat man es ein wenig schwer, etwas bisher Ungesagtes zu bringen -, hinzufügen: Wir haben bei der Zuwanderung nach Deutschland jetzt sogar die Situation, dass
erstmals mehr Juden nach Deutschland gekommen sind
als nach Israel. Das wird vielleicht noch manchem Kopfzerbrechen bereiten. Aber es ist ein sehr positives, gutes
Zeichen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die ersten
Architekten und Baumeister am Haus der deutsch-jüdischen und der deutsch-israelischen Beziehungen waren
David Ben-Gurion und Konrad Adenauer. Konrad
Adenauer formulierte die noch heute gültige Basis, auf
der auch der zur Abstimmung stehende Staatsvertrag
letztendlich beruht. Ich zitiere:
Wer unsere besondere Verpflichtung gegenüber den
Juden und dem Staat Israel verleugnen will, ist historisch und moralisch, aber auch politisch blind.
Der weiß nichts von der jahrhundertelangen
deutsch-jüdischen Geschichte und nichts von den
reichen Beiträgen, die von Juden zur deutschen
Kultur und Wissenschaft geleistet worden sind. Er
begreift nicht die Schwere der Verbrechen des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden.
So weit Konrad Adenauer.
({0})
Glaube keiner, über dem deutsch-israelischen Verhältnis habe damals so etwas wie der Zauber des Anfangs
gelegen. Nein, zwischen den ersten Geheimkontakten im
Jahr 1951, der Vertragsunterzeichnung im Jahre 1952
und, erst ein ganzes Jahr später, der Ratifizierung im
März 1953 lagen riesige Anstrengungen für alle Beteiligten. Außerdem schwebte das Damoklesschwert des
gänzlichen Scheiterns über dem Vorhaben. Manche Abgeordneten stimmten wegen der Höhe der Entschädigungssumme oder der drohenden Verärgerung der Araber nicht zu oder enthielten sich. Letztendlich war der
erfolgreiche erste Schritt der Mehrheit der CDU und der
geschlossenen Zustimmung der Sozialdemokraten zu
danken. Auch die Anbahnung der diplomatischen Beziehungen glich unter anderem wegen des Kräftevierecks
Bundesrepublik Deutschland, Israel, DDR, Ägypten eher
einer Echternacher Springprozession, bis unter Kanzler
Erhard am 12. Mai 1965 Botschafter ausgetauscht wurden.
Nein, einfach war es nie, weder die deutsch-israelischen Beziehungen noch das deutsch-jüdische Zusammenleben in Deutschland.
Woran das liegt, hat György Konrad, der langjährige
Präsident der Berliner Akademie der Künste, so ausgedrückt:
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind wir weder Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekanntschaften oder kulturelle Bindungen aber gehen sie
uns etwas an. Wir wissen von ihnen… Auf einer inneren Bühne sind sie anwesend, lassen sich nicht
verscheuchen. Sie kommen.
György Konrad hat Recht. Wer eine bewusste geschichtlich-kulturelle Prägung erfahren hat und sich seiner Entität zugehörig fühlt, der ist dem Kommen, besser
gesagt dem Hinzudrängen der Täter-Opfer-Rolle fast
hilflos ausgesetzt. Nicht jeder bringt so viel Geduld auf
und schätzt es als erfreuliche Herausforderung ein wie
Avi Primor, der israelische Botschafter der Jahre 1993
bis 1999, wenn sein deutscher Gesprächspartner unweigerlich und als Erster, was auch immer der Gegenstand
und ursprüngliche Grund des Treffens gewesen sein
mochte, das Thema Nazivergangenheit anschnitt.
Dieser Vergangenheitskomplex führt zu seltsamen
Fehlhaltungen und treibt auch Blüten. Gestatten Sie mir
bitte, Ihnen in diesem Zusammenhang eine Beobachtung
mitzuteilen, die ich beim Nachlesen einschlägiger Bundestagsprotokolle machte. Spricht ein Mitglied des BunMartin Hohmann
destages über einen deutschen Juden, wird meist - Herrn
Beck nehme ich ausdrücklich aus - die Umschreibung
„jüdischer Mitbürger“ oder „jüdischer Bürger“ gewählt.
Professor Dr. Ernst Tugendhat, Philosoph und deutscher Jude, berichtete in dem Wochenblatt „Die Zeit“
Ähnliches. In Deutschland, und nur in Deutschland,
werde die Frage nach der Zugehörigkeit so gestellt: Sind
Sie jüdischer Abstammung? Er fühle sich dann immer
etwas gekränkt und sehe sich genötigt, zu antworten: Ich
bin nicht nur jüdischer Abstammung; ich bin auch Jude.
Die höfliche Vorsicht, die in der umständlichen Frageform liegt, löst bei Tugendhat, so sagt er, ein ungutes
Gefühl aus. Er kann es sich nur so vorstellen, dass der
Fragende das Jude-Sein als etwas Anrüchiges, als einen
Makel empfindet. Wie würde es in unseren Ohren klingen, wenn man beispielsweise den Berliner Kardinal
fragte: Sind Sie katholischer Abstammung?
Auch Ignatz Bubis ging diese gewundene Umschreibung gegen den Strich. 1996 ließ er einen so genannten
koscheren Knigge herausgeben. Darin heißt es wörtlich:
Sie dürfen ruhig „Jude“ sagen. Das Wort ist nicht
beleidigend. Wenn es Ihnen dennoch nur schwer
über die Lippen kommt, dann hat das damit zu tun,
dass irgendwo in Ihrem Hinterkopf noch rudimentär
frühere Zeiten stecken. Das allerdings ist Ihr Problem, nicht unseres.
({1})
Warum nicht von Ignatz Bubis lernen? Mit allem Respekt: Ein Jude ist ein Jude; ein Christ ist ein Christ.
({2})
Die psychologische Erklärung für den Hang, das
schlichte Wort Jude nicht zu gebrauchen, dürfte in der
Tat darin liegen, dass es für viele Deutsche assoziativ mit
der Judenvernichtung besetzt ist. Zugleich - das hat Herr
Beck schon angesprochen - sind uns religiöse Inhalte
und Riten des Judentums weitgehend fremd geworden.
Wir wissen wenig von dem religiösen Universum und
Reichtum einer 5 763-jährigen Geschichte als auserwähltem Volk. Die Juden sind - ich spreche als Christ unsere weit älteren Brüder und Schwestern. Sie waren
sozusagen Gottes erste Liebe. Gott sagt in Genesis 12,3
zu Abraham:
Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen
erlangen. Ich will segnen, die dich segnen, wer dich
verwünscht, den will ich verfluchen.
Indem wir Juden in unserer Vorstellung und aufgrund
unserer Kenntnisdefizite von ihren religiösen Prägungen
separieren, rauben wir ihnen den Wesensteil, der ihnen
als einziges Volk der Welt ein jahrtausendelanges Überleben und ein Bewahren ihrer Identität gesichert hat. Ziel
des Vertrages mit dem Zentralrat der Juden ist jedoch gerade, jüdische Identität sowie jüdisches kulturelles und
religiöses Leben, also Jüdischkeit, in Deutschland langfristig zu sichern.
Wolfgang Bosbach hat das gute Einvernehmen zwischen dem Zentralrat und der Union betont. Ich pflichte
dem auch mit Hinweis auf die gemeinsam gewünschte
Änderung des § 166 StGB bei. Übereinstimmend mit
dem jüdischen Vertreter sprach sich die Unionsfraktion
für eine Verbesserung des Schutzes religiöser Bekenntnisse aus. Parallele Anschauungen sind auch in der Abtreibungsfrage zu verzeichnen. Oberrabiner Berger bezeichnete Abtreibung als strafwürdiges Blutvergießen.
Da vor dem Kriege gerade die liberalen jüdischen Gemeinden in Deutschland stark vertreten waren, bleibt mir
abschließend nur die Bitte an den Zentralrat, die geringe
Zahl der neu gegründeten liberalen jüdischen Gemeinden
an der jährlichen Dotation anteilsmäßig zu beteiligen.
Schließen möchte ich mit einer Vision von einem zukünftigen umfassenden und friedlichen Zusammenleben
aller Menschen guten Willens unter einem Dach und
möchte dazu aus der Offenbarung des Johannes zitieren:
Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen! Und er
wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk
sein.
Danke.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum
Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in
Deutschland, Drucksache 15/879. Der Innenausschuss
empfiehlt auf Drucksache 15/1109, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, möge
sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Storm, Annette Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben
- Drucksache 15/1014 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L.
Kolb, Daniel Bahr ({3}), Dr. Dieter Thomae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154
SGB VI ({4})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2002
- Drucksachen 15/110, 15/318, 15/859 Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Müller
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Andreas Storm von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit
Tagen anhaltende Fortsetzungskomödie der Irrungen
und Wirrungen der Regierungskoalition über bevorstehende Einschnitte bei der gesetzlichen Rente zeigt, dass
Rot-Grün nur zwei Jahre nach der Verabschiedung der - angeblichen - riesterschen Jahrhundertrentenreform heute
vor einem rentenpolitischen Scherbenhaufen steht.
({0})
Die Begründung des Bundeskanzlers im Hinblick auf
eine neue Rentenreform in seiner Agenda-Rede vom
14. März dieses Jahres, in der er gesagt hat, man habe
vor anderthalb Jahren die Arbeitsmarktentwicklung zu
optimistisch und die demographische Entwicklung zu
pessimistisch eingeschätzt, kommt in der Tat einem Offenbarungseid gleich.
Die anhaltende Talfahrt auf dem Arbeitsmarkt macht
auch vor den Rentenkassen nicht Halt. So ist im nächsten Jahr mit einem massiven Anstieg des Rentenbeitragssatzes auf mehr als 20 Prozent zu rechnen. Ein höherer Rentenbeitrag bedeutet zwangsläufig einen
höheren Bundeszuschuss.
Vor diesem Hintergrund muss die Verzweiflung von
Bundesfinanzminister Hans Eichel riesengroß sein.
Denn nicht anders ist es zu erklären, dass der Minister in
der vergangenen Woche panikartig um sich geschlagen
hat. Offenbar hat er vor lauter Haushaltslöchern den
Überblick völlig verloren.
({1})
Es ist doch ein Treppenwitz, wenn ausgerechnet Eichel
erklärt, dass der Bundeszuschuss zur Rente in den letzten Jahren zu dynamisch gewachsen sei.
Ich frage Sie: Wer hat denn unter dem Motto „Tanken
für die Rente“ einen zweiten Rentenbeitrag an der Zapfsäule eingeführt? Welcher Finanzminister hat denn freudig zugestimmt, als beschlossen wurde, die Ökosteuer ab
1999 Jahr für Jahr anzuheben? Wer nun einen steigenden
Steueranteil bei der gesetzlichen Rente beklagt, leidet offenkundig unter einem massiven Gedächtnisverlust.
({2})
Nicht besser sieht es mit Eichels zweitem Vorschlag
aus: den Anteil der Rentner an den Krankenversicherungsbeiträgen von 50 auf 75 Prozent anzuheben. Es ist
ein merkwürdiges Verständnis von Generationengerechtigkeit, wenn allein die Rentner die Fehler der verkorksten Riester-Reform ausbaden sollen.
({3})
Dieser Vorschlag bedeutet nämlich im Klartext nichts
anderes als eine Rentenkürzung um 3,5 Prozent. Das
wäre ein massiver Schnitt in die Substanz. Das ist mit
der Union nicht zu machen.
({4})
- Wenn Sie sagen: „Mit uns auch nicht!“, dann ist es ja
beruhigend, dass die SPD ihren Finanzminister vielleicht
auf Kurs bringt.
Eichels Kopflosigkeit ist allerdings inzwischen auch
auf den Koalitionspartner übergeschlagen. Denn nicht
anders ist der Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden von
Bündnis 90/Die Grünen Katrin Göring-Eckardt zu erklären: Sie will die Rentenanpassung in Zukunft von der
Rentenhöhe abhängig machen. Die Bezieher hoher Renten gehen dann leer aus, die kleiner Renten bekommen
etwas. Das hört sich für den einen oder anderen am Anfang noch ganz vernünftig an. Aber das hätte gewaltige
Konsequenzen. Das wäre der Einstieg in den Ausstieg
aus der beitragsbezogenen gesetzlichen Rente.
({5})
Ich stimme dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD Ludwig Stiegler ja nicht allzu oft zu,
({6})
aber wo der Mann Recht hat, hat er Recht. Er hat es auf
den Punkt gebracht, indem er gesagt hat, Frau GöringEckardt habe das Rentensystem nicht begriffen: „Jeder
kriegt die Rente, die er durch seine Leistung verdient
hat. Wer darauf ein anderes Prinzip anwendet, ist völlig
von der Rolle.“ - Stiegler hat es hiermit auf den Punkt
gebracht.
Nun haben Eingriffe in die Rentenerhöhung allerdings eine klare Tradition in der rot-grünen Bundesregierung. Nahezu kein Jahr vergeht ohne eine Änderung des
Anpassungsverfahrens. Das begann 1999 mit der normalen nettolohnbezogenen Rente. Dann hat Eichel geAndreas Storm
sagt: Renten nach Kassenlage. Noch nicht einmal den Inflationsausgleich gab es im Jahr 2000. Dann ist man im
Jahr 2001 zur bruttolohnbezogenen Rentenanpassung
übergegangen und in den Folgejahren zu einem Abschlag für die Riester-Rente.
Das Fatale ist, dass die Rentner so behandelt werden,
als würden die Beitragszahler zu 100 Prozent einen
Riester-Vertrag abschließen. Aber Fakt ist, dass noch
nicht einmal jeder sechste Förderberechtigte einen
Riestervertrag abgeschlossen hat.
({7})
Damit wird bei den Rentnern abkassiert, was überhaupt
keine Grundlage hat. Wenn Sie im nächsten Jahr für die
Rentner eine Nullrunde anstreben, dann bedeutet das im
Klartext, dass bei Ihnen die Rente nach Kassenlage zum
Dauerzustand wird.
({8})
Eine Rente nach Kassenlage droht auch durch die offenbar angedachte Absenkung der Rentenreserve.
Diese Rentenreserve hat noch immer eine Größenordnung von 6 bis 7 Milliarden Euro. Das ist für den Finanzminister verlockend, der im Sozialetat 6 bis
7 Milliarden Euro einsparen will. Eine solche Absenkung bedeutet im Kern nichts anderes, als dass die Rücklage der Rentenversicherung gänzlich abgeschafft wird.
Damit wäre klar, dass bei jeder nur geringfügigen Verschlechterung der Konjunktur und der Arbeitsmarktlage
der Finanzminister mit Steuergeldern einspringen
müsste, damit die Renten pünktlich gezahlt werden. Genau darauf arbeitet der Finanzminister offenbar hin.
Denn er will - das wäre die Konsequenz einer solchen
Umstellung - jedes Jahr bei der Frage, um wie viel die
Renten erhöht werden, mitreden. Das wäre das Ende der
eigenständigen Rentenversicherung. Die Rentenversicherung wäre am Tropf des Bundesfinanzministers. Das
kann kein Mensch in diesem Haus ernsthaft wollen.
({9})
Völlig absurd wird es aber, wenn der Bundesfinanzminister mit der Begründung, die Rentenfinanzen liefen
aus dem Ruder und deshalb müssten wir bei der gesetzlichen Rente Leistungseinschnitte machen, den Menschen auch noch den Ausweg verbaut. Denn wenn man
sagt, dass die gesetzliche Rente das derzeitige Niveau in
Zukunft nicht mehr garantieren kann, dann brauchen wir
doch den Aufbau eines zweiten Standbeins ergänzender
Vorsorge im Bereich der privaten oder betrieblichen Renten. Nun sagt Eichel: Auch bei der Riester-Förderung
müssen wir überlegen, ob wir die Mittel reduzieren. Schlimmer geht‘s wirklich nimmer!
({10})
Eines ist richtig: Die Riester-Rente hat sich als eine
Fehlkonstruktion erwiesen. Aber die Konsequenz kann
doch nicht sein, die Fördergelder zusammenzustreichen.
Die Konsequenz muss sein, dass wir gemeinsam aus der
Riester-Rente eine echte Förderrente machen, die die
Menschen annehmen, weil sie attraktiv ist, die nicht mit
niedrigen Renditen eingeengt und so gestaltet ist, dass
viele sagen: Ich werde eine solche Rente wählen. Wenn
man die Riester-Rente durch eine attraktive Förderrente
ablösen will, dann braucht man dafür Fördermittel; denn
nur so können die Menschen überhaupt in die Lage versetzt werden, ein zweites Standbein der Alterssicherung
aufzubauen.
Die wichtigste Voraussetzung, um einen Kollaps des
Rentensystems zu verhindern, ist, dass die Kakophonie
innerhalb der Bundesregierung schleunigst beendet wird.
Die Regierung muss den Mut zu einem Neubeginn in
der Rentenpolitik aufbringen. Die zuständige Bundessozialministerin muss einen ungeschminkten Kassensturz bei den Rentenfinanzen vornehmen. Die derzeit betriebene Arbeitsteilung muss ein Ende haben: Die
Ministerin behauptet, dass die Beiträge - wie durch ein
Wunder - stabil bleiben, und der Finanzminister legt aus
Furcht vor steigenden Beiträgen und Bundeszuschüssen
bis zum Gehtnichtmehr Kürzungspläne vor. Wir brauchen noch vor der Sommerpause Klarheit über die tatsächliche Finanzsituation bei den Renten.
({11})
Der von Professor Rürup in die Diskussion eingebrachte Nachhaltigkeitsfaktor, den die Ministerin inzwischen aufgreifen möchte, wird von der Union ausdrücklich begrüßt. Er entspricht in der Zielrichtung ganz
eindeutig dem demographischen Faktor, den wir bereits
in den Jahren 1997/98 in die Rentenformel eingebaut haben. Es war der größte Fehler der rot-grünen Regierung
in der Rentenpolitik, dass sie diese wegweisende Reform
nach dem Regierungswechsel 1998 als erste Maßnahme
rückgängig gemacht hat. Damit haben wir fünf wertvolle
Jahre verloren. Ohne diesen gravierenden Fehler hätten
wir eine ganze Reihe von Problemen nicht gehabt, die
Sie in den vergangenen Jahren versucht haben zu beheben und in den nächsten Jahren versuchen werden zu beheben.
({12})
Deshalb ist es erforderlich, dass die nächste Rentenreform keine Verfallszeit von anderthalb bis zwei Jahren
hat. Die neue Rentenreform muss in jedem Fall auch
Klarheit über die Neuregelung der steuerlichen Behandlung von Alterseinkommen bringen und die Nachfolgeregelung für die Riester-Rente - sie muss durch eine
echte Förderrente auf breiter Grundlage ersetzt werden beinhalten.
Nur wenn Sie bereit sind, eine Verzahnung der drei
Projekte Rentenformel, Besteuerung der Alterseinkünfte
und Aufbau einer ergänzenden Förderrente in Angriff zu
nehmen, sehen wir uns in der Lage, an solchen grundlegenden Weichenstellungen mitzuwirken.
Deshalb lautet meine Forderung: Legen Sie noch in
diesem Jahr ein vernünftiges Gesamtkonzept zur Rente
vor! Dann sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Einer
Rente nach Kassenlage reichen wir mit Sicherheit nicht
die Hand.
({13})
Darauf können sich die Rentnerinnen und Rentner, aber
auch die Beitragszahler in unserem Land verlassen.
({14})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist richtig: Der Rentenversicherungsbeitrag
liegt derzeit bei 19,5 Prozent
({0})
und damit um 0,8 Prozentpunkte über der Zielmarke, die
wir uns gesetzt haben. Damit der Wahrheit Genüge getan
wird, muss aber auch gesagt werden, dass er damit immerhin noch um 0,8 Prozentpunkte unter den
20,3 Prozent, die wir 1998 von Ihnen geerbt haben, liegt.
({1})
Das bedeutet immerhin um 6,5 Milliarden Euro geringere Lohnnebenkosten.
Außerdem muss erwähnt werden, dass die Renten in
der Zeit zwischen 1998 und 2002 um ungefähr
5,97 Prozent gestiegen sind. In den fünf Jahren davor
- also während Ihrer Regierungszeit - lag die Steigerung
bei nur 2,74 Prozent.
({2})
Mit der Rentenreform 2001 wurde die eigenständige
Alterssicherung der Frau ausgebaut, Kindererziehung
wurde stärker berücksichtigt und
({3})
eine kinderbezogene Höherbewertung der Beitragszeiten
ist erfolgt. Die Anrechung von Zeiten für die Erziehung
mehrerer Kinder wurde mit aufgenommen und die
Grundsicherung wurde eingeführt, um verschämte Altersarmut zu verhindern. Erstmalig wurde in Deutschland eine kapitalgedeckte private Altersvorsorge eingeführt.
Der Sozialbeirat hat in seinem Gutachten zum
Rentenversicherungsbericht 2002 im Prinzip sehr positiv
bewertet, dass mit diesem Einstieg in den Aufbau einer
zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge eine richtige Weichenstellung unternommen worden ist, um die
Alterssicherung langfristig zu stabilisieren. Erstmals unterstützt der Staat damit die private Altersvorsorge. Das
ist alles andere als ein rentenpolitischer Scherbenhaufen,
Kollege Storm.
({4})
Das ist und bleibt ein sozialpolitischer Meilenstein in der
Geschichte unseres Sozialstaates.
Aber ich stimme auch der kritischen Bewertung des
Sozialbeirates zu, der in seinem Gutachten sagt: Die Entwicklung im Jahre 2002 - damit meint er die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung der Arbeitslosenzahl - hat deutlich gemacht, dass im Bereich der
gesetzlichen Rentenversicherung auch künftig Reformbedarf besteht.
Das war der Grund dafür, dass die Bundesregierung
die Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme eingesetzt hat. Teilempfehlungen liegen bereits vor. Weitere Empfehlungen
werden im Abschlussbericht folgen. Wir werden sie
sorgfältig prüfen und dann entscheiden. Ich kann Ihnen
aber schon jetzt sagen: Eine Anhebung des Beitrages der
Rentnerinnen und Rentner zur Krankenversicherung
steht für uns nicht zur Debatte. Ich sage dies, damit diese
Mär nicht weiter von Ihnen verbreitet wird.
({5})
Es ist unbestritten: Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen und Problemen.
({6})
Dazu gehören die wirtschaftliche Entwicklung, die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und die demographische Entwicklung. Das sind Herausforderungen, die die
Entscheidungen, vor denen wir alle gemeinsam stehen,
erheblich erschweren. Wenn wir ehrlich sind, werden
wir sagen müssen, dass wir diesen Herausforderungen in
der Vergangenheit vielleicht alle ein Stück weit ausgewichen sind, als sie absehbar gewesen sind und es erforderlich gewesen wäre, die richtigen Schlussfolgerungen zu
ziehen.
({7})
Wir könnten darüber sprechen, wie die Frühverrentung eingeführt worden ist, die mit dazu beigetragen hat,
dass die Rentenkassen zum Teil ausgeblutet sind, und
dass sie von denen ausgeblutet worden sind, die sich als
Unternehmen von den Kosten für die Sozialleistungen
entlasten wollten.
({8})
Wir könnten auch darüber sprechen, wie die deutsche
Einheit finanziert worden ist, nämlich zum großen Teil
über die sozialen Sicherungssysteme und nicht - wie es
gerechter gewesen wäre - durch alle Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler über den Haushalt.
({9})
Hier tragen alle ein Stück Verantwortung für die Vergangenheit. Deswegen ist es wichtig, dass die Antworten, die jetzt gefunden werden müssen, einerseits Fortschritt und Wohlstand in Deutschland gewährleisten,
andererseits dafür sorgen, dass Beschäftigung entsteht
und gleichzeitig soziale Sicherheit diesen Wandel begleitet und unterstützt.
Die rentenpolitische Diskussion bewegt sich zwischen den Rentnerinnen und Rentnern und den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern. Auf der einen Seite
steht das Bedürfnis nach Sicherheit und auf der anderen
Seite das Bedürfnis nach Bezahlbarkeit. Das zeugt von
dem inneren Spannungsverhältnis, in dem wir uns bewegen, dass nämlich Politik versuchen muss, die jeweiligen
Interessen sozial vernünftig auszubalancieren. Deshalb
sind Sicherheit und Bezahlbarkeit die Leitplanken der
Rentenpolitik.
Wir fordern Solidarität ein, um die solidarische Rentenversicherung zukunftsfest zu machen. Der Athener
Staatsmann Solon, 640 vor Christi geboren, 600 vor Christi
maßgeblich an der Ausarbeitung einer Verfassung im damaligen Athen insbesondere zur Wirtschafts- und Sozialordnung beteiligt, hat einmal zur Erläuterung seiner Philosophie Folgendes zum Ausdruck gebracht: Zu ihm soll
einmal ein älteres Ehepaar gekommen sein, um sich über
den gemeinsamen Sohn zu beklagen, der sich geweigert
hatte, seinen Eltern im Alter mit Hilfe und Geld beizustehen. Bevor Solon antwortete, wollte er von den Eltern
wissen, ob sie ihrerseits für den Sohn gesorgt hätten, als er
noch klein und hilfsbedürftig war. Erst nachdem sie diese
Frage mit Ja beantworteten, sprach er den Eltern den Anspruch auf Unterhalt zu.
Das ist Ausdruck einer gegenseitigen Fürsorge und
Verantwortung, die von beiden Seiten einzuhalten ist, die
es aber auch ernst meint mit dem Sozialstaat und der Generationengerechtigkeit. Die Jungen sorgen für die Alten, nachdem die Alten ihrerseits ausreichend für die
Jungen vorgesorgt haben.
Der Punkt, um den es uns in dieser schwierigen ökonomischen Situation gehen muss, ist, einerseits die Beiträge so zu gestalten, dass sie bezahlbar sind und helfen,
Beschäftigung zu fördern, und andererseits den Rentnerinnen und Rentnern angemessene Einkommen zu gewährleisten. Dabei muss der notwendige Spielraum bei
den finanziellen Mitteln gewahrt bleiben, die notwendig
sind, um in Bildung und Forschung zu investieren. Denn
wir müssen den jungen Menschen die Voraussetzungen
für eine gute Zukunft schaffen, damit sie im späteren Arbeitsleben in einer Gesellschaft arbeiten können, die
wettbewerbsfähig ist, und sie ein gutes Bruttosozialprodukt erwirtschaften können, das wiederum die Möglichkeit bietet, die Altersbezüge derjenigen, die dann in
Rente sind, zu finanzieren. Anders formuliert - ich sage
das sehr einfach -: Wir dürfen heute nicht das verzehren,
was wir erarbeitet und erwirtschaftet haben. Wir müssen
auch einen Teil in das Morgen investieren, damit unsere
Kinder eine Zukunft haben und die Rentnerinnen und
Rentner auch künftig ein vernünftiges Auskommen haben.
({10})
Die Herausforderung, die sich aus der demographischen Entwicklung ergibt, ist groß. Dass die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern und Frauen
in den letzten 40 Jahren um acht Jahre gestiegen ist, bedeutet, dass sich auch die Rentenbezugsdauer um acht
Jahre verlängert hat. Wir freuen uns, dass die Menschen
länger leben, aber dass sie acht Jahre länger Rente beziehen, bedeutet für die Kassen einen größeren Aufwand.
({11})
Anfang der 60er-Jahre lag die durchschnittliche Geburtenrate in Deutschland pro Frau bei 2,5 Kindern,
heute liegt sie nur noch bei 1,3 Kindern. Das zeigt, dass
die jüngere Generation nicht mehr in dem Maße wie früher nachwächst. Die Bevölkerungspyramide hat sich
völlig verändert. Heute sorgen drei Beschäftigte für einen Rentner. In Zukunft, in etwa 30 bis 40 Jahren, wird
das Verhältnis wahrscheinlich bei 1,5 Beschäftigten zu
einem Rentner liegen.
Vor diesen Herausforderungen stehen wir nicht nur in
Deutschland. Auch in Frankreich, Österreich und allen
anderen Ländern in Europa muss man sich damit auseinander setzen. Das macht deutlich, dass nicht die Rentenreform Ursache für die jetzige Situation ist - sie wird
immer als Kritikpunkt genannt -, sondern dass auch die
massive Verschlechterung der globalen und der nationalen wirtschaftlichen Situation eine Ursache ist. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zur
Agenda 2010 darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung eine Nachjustierung auch in der Rentenpolitik erfordert.
Eine Teilempfehlung der Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme umfasst den so genannten Nachhaltigkeitsfaktor.
({12})
Mit diesem Nachhaltigkeitsfaktor werden wir dazu beitragen, dass künftig in der neuen Rentenformel die Entwicklung und das Verhältnis der Zahl der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zu der Zahl der Rentnerinnen
und Rentner mit einbezogen wird und Auswirkungen auf
die Rentenentwicklung hat. Verändert sich nämlich dieses Verhältnis zulasten der beruflich aktiven Generation,
müssten die Beiträge steigen. Damit dies nicht ungebremst geschieht, ist die Generation der Rentnerinnen
und Rentner mit an den daraus resultierenden Belastungen und Herausforderungen zu beteiligen. Das heißt, die
Verteilung der Lasten aus der demographischen Entwicklung muss in vernünftigem Rahmen auf beide Seiten verlagert werden.
Dieser Faktor - das erlaube ich mir zu sagen - ist etwas höher als der demographische Faktor, weil wir die
Entwicklung am Arbeitsmarkt und die Entwicklung bei
den Beschäftigtenzahlen bei diesem Faktor mit berücksichtigen. Damit machen wir deutlich, dass beides sehr
stark voneinander abhängig ist.
Der Nachhaltigkeitsfaktor ist somit ein wesentliches
Element, um einerseits die Lohnnebenkosten zu senken
bzw. zu stabilisieren und andererseits über die Gesamtsituation mit dazu beizutragen, dass sich die Renten so
entwickeln, dass sie auf Dauer sicher sind. Das ist sozial
gerecht, das verbessert die Beschäftigungschancen, das
sichert die Rente für die ältere Generation.
({13})
Im Gegensatz zu den Vorstellungen unserer Vorgängerregierung haben wir vor dem Hintergrund der längerfristigen Rentenentwicklung mit der Riester-Rente den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Möglichkeit
gegeben, die Versorgungslücke, die sich im Alter auftun
kann, im Rahmen einer privaten Vorsorge aufzufüllen.
Das war damals in Ihrer Rentenreform nicht enthalten.
Deswegen war es richtig, sie abzulehnen. Über unseren
Weg tragen wir dazu bei, dass die Menschen für ihre private Situation im Alter vorsorgen können.
Die bisherige Inanspruchnahme stimmt mich zuversichtlich. Ich muss mir nur anschauen, in welch kurzer
Zeit nach der Bundestagswahl - bis dahin gab es Boykottaufrufe aus Ihren Reihen, weil Sie alles ändern wollten - in den Betrieben entsprechende Tarifverträge abgeschlossen worden sind und wie viele Menschen sich
mittlerweile mit privaten Verträgen an ihrer Altersvorsorge beteiligen.
Aus diesem Grund sollten vor dem Hintergrund der
notwendigen Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das uns aufgegeben hat, die Besteuerung
der Pensionen und Renten in Übereinstimmung mit der
Verfassung zu regeln, keine weiteren Ängste geschürt
werden. Wir werden die Vorschläge der Kommission genauso wie die ergänzenden Vorschläge zur Vereinfachung und vielleicht Erweiterung der Riester-Rente vernünftig bewerten.
({14})
Uns geht es darum, dass es für die Menschen in Zukunft
eine verlässliche und die derzeitigen Renteneinkommen
berücksichtigende klare politische Grundlage gibt.
Wir halten Ihren Antrag auch aufgrund Ihrer Forderung, das Wohneigentum stärker zu fördern, für nicht
umsetzbar und nicht erforderlich, weil - das ist ganz klar
und eindeutig - mit der Eigenheim- und der Bausparzulage bereits jetzt ausreichende Möglichkeiten dazu bestehen, das Wohneigentum zu fördern.
Mit der bisherigen Reformpolitik, insbesondere mit
der steuerlichen Entlastung der geringen Einkommen,
der Erhöhung des Etats für Bildung und Forschung um
25 Prozent seit 1998, der Gewährung zusätzlicher Kredite an die Gemeinden, sodass sie investieren können
und somit Nachfrage schaffen können, und der Maßnahmen im Rahmen der Agenda 2010, werden wir die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Wandel in
Deutschland so gestaltet werden kann, dass zusätzliche
Beschäftigung entsteht und dass der Fortschritt sowie die
Renten - mit den entsprechenden Nachjustierungen gesichert werden.
Die zukünftige Entwicklung ist nicht ohne Risiken,
aber auch nicht ohne Chancen. Bezüglich der Höhe des
Rentenversicherungsbeitrages in diesem Jahr werden
Planungen durchgeführt und Prognosen erstellt. Es gilt
jetzt, das offensiv zu nutzen und nicht schwarz zu malen,
sondern den notwendigen Reformprozess gemeinsam
mutig zu gestalten.
({15})
Herr Kollege Storm, wir sind sehr gespannt, wie sich
die Opposition verhalten wird, wenn diesem Haus einerseits unsere Entscheidung bezüglich der Gestaltung des
Nachhaltigkeitsfaktors und andererseits die Bewertung
des im Herbst tagenden Schätzerkreises - er wird die
Prognosen für das nächste Jahr abgeben und womöglich
einen Bedarf für Nachjustierungen sehen - vorliegen.
({16})
Ich kann nur herzlichst darum bitten, sich diesem Reformprozess anzuschließen und sich nicht aus parteipolitischen Gründen zu verweigern.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
erste Satz des heute hier zu beratenden FDP-Entschließungsantrags vom 15. Januar dieses Jahres war nie aktueller als in diesen Tagen.
({0})
Dort heißt es nämlich zutreffend: „Die Rentenpolitik der
Bundesregierung ist ein einziges Desaster.“
({1})
Sie haben mit Ihrer Rentenpolitik seit Ihrem Regierungsantritt fünf wertvolle Jahre vertrödelt. Es ist heute
vollkommen klar - ich kann nur hoffen, dass Sie das mittlerweile auch so sehen -, dass es unverantwortlich war,
den demographischen Faktor ersatzlos zu streichen.
Wir haben Sie damals nachdrücklich gewarnt.
({2})
Es war unverantwortlich, mit der Ökosteuer, die
heute 17 Milliarden Euro ausmacht, frisches Geld in ein
nicht zukunftsfähiges System zu leiten,
({3})
anstatt mit wirksamen Strukturreformen die Voraussetzungen für eine breite und dauerhafte Beitragssenkung
zu schaffen.
({4})
Frau Kollegin Bender, die Bürger stellen jetzt fest, dass
das Fass keinen Boden hat. Die Bürger zahlen die Ökosteuer und die Beiträge steigen dennoch munter weiter.
Das ist die Wahrheit!
({5})
Herr Staatssekretär Thönnes, im Rahmen der Rentenreform haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, dass der Beitragssatz im Jahre 2004 bei
18,7 Prozent liegen wird. Sie rühmen sich damit, dass er
heute bei gerade einmal 19,5 Prozent liegt. Dabei unterschlagen Sie aber, dass die Ökosteuer umgerechnet rund
zwei Beitragssatzpunkte ausmacht. Das ist die Wahrheit,
Herr Staatssekretär Thönnes!
({6})
Sie unterschlagen ebenfalls, dass bereits heute feststeht - der Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger geht mittlerweile zwingend davon aus -, dass der
Beitragssatz bis Ende dieses Jahres auf mindestens
19,8 Prozent steigen wird.
({7})
Diese Schätzung wurde noch vor dem Hintergrund der
Wachstumsprognose der Bundesregierung, die von
0,75 Prozent ausging, abgegeben. Das ist aber vollkommen unrealistisch. Das ist doch die Wahrheit!
({8})
Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, ist
die von Rot-Grün in zwei Stufen abgesenkte Schwankungsreserve im Monat April erstmals unter den Referenzwert von 0,5 einer Monatsausgabe gefallen.
({9})
In der Konsequenz heißt das, Frau Kollegin Bender - ich
darf Sie namentlich ansprechen;
({10})
wenn Sie ehrlich sind, geben Sie das zu -: Wir müssen
schon heute davon ausgehen, dass der Beitragssatz im
Jahre 2004 über 20 Prozent liegen wird. Das heißt, Arbeitsplätze werden weiter vernichtet und die Spiralbewegung verläuft weiter nach unten. Wir haben das schon im
Januar in unserem Entschließungsantrag vorausgesagt.
Sie haben das als Panikmache bezeichnet und es geleugnet. Aber es ist leider genau so gekommen, wie wir es
prognostiziert haben.
({11})
Deswegen, Herr Staatssekretär Thönnes, haben Sie
heute in diesem Haus, sozusagen als Prokurist stellvertretend für Ihre Ministerin, den Offenbarungseid einer
verfehlten Rentenpolitik ablegen müssen. Trotz Einführung der Ökosteuer, trotz Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und trotz zweimaliger Absenkung der Rentenreserve kann der Beitragssatz zur gesetzlichen
Rentenversicherung nicht einmal stabilisiert, geschweige
denn gesenkt werden.
Jetzt machen die Verursacher dieses Chaos hektisch
Vorschläge, wie man mit diesem Fiasko umgehen soll.
So schlägt die Fraktionsvorsitzende der Grünen GöringEckardt eine pauschale Rentenkürzung bei höheren Renteneinkommen vor. Der Bundesfinanzminister deutet an,
man könne ja den Krankenversicherungsbeitrag der Rentenversicherung abschmelzen. Das, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Rot-Grün, ist alles Flickwerk. Das ist
auch angesichts der demographischen Herausforderung,
die unaufhaltsam auf uns zukommt, keine langfristige
Strategie zur Behebung der finanziellen Misere der Rentenversicherung.
({12})
Darüber hinaus will der Bundesfinanzminister zusätzlich an der Riester-Förderung sparen. Das ist jetzt
wirklich die absurdeste Forderung, die man überhaupt
erheben kann. Sie haben mit der Rentenreform 2001 das
Rentenniveau deutlich abgesenkt. Wenn Sie ehrlich sind,
müssen Sie zugeben, dass die Riester-Reform in Wirklichkeit eine verkappte Rentenkürzung war.
({13})
Sie haben diese Maßnahme damals mit der grundsätzlich
richtigen, leider aber völlig überregulierten Förderung
der privaten kapitalgedeckten Alterssicherung verbunden.
Nach dem blamablen Start der Riester-Rente, die bis
heute gerade einmal 3 Millionen Bürger - diese Zahl
stammt aus einer Umfrage des Gesamtverbandes der
Versicherungswirtschaft - abgeschlossen haben, wollen
Sie ausgerechnet an dem einzigen innovativen Instrument der Riester-Reform sparen. Sie provozieren damit
absehbar Altersarmut bei der jetzigen Generation der
30- bis 50-Jährigen, die schon jetzt die historisch höchsten Beitragssätze zahlen. Das nennen Sie von Rot-Grün
„kohärente und nachhaltige Politik“. Ich sage Ihnen,
Herr Staatssekretär: Das ist in der Tat ein Scherbenhaufen, vor dem Sie hier stehen.
({14})
Die schlimmsten Populisten in diesem Zusammenhang sind aber die Grünen. Wenn führende Politiker der
Grünen, wie Frau Katrin Göring-Eckardt oder auch der
Kollege Markus Kurth, der im Plenum gerade anwesend
ist, immer wieder die Einbeziehung von Beamten und
Freiberuflern in die gesetzliche Rentenversicherung
fordern, dann ist dies das Schüren einer Neiddiskussion
und blanker Populismus.
({15})
Jeder Rentenexperte in der Bundesrepublik Deutschland,
ob er nun Rürup oder Raffelhüschen heißt, verweist darauf, dass eine Einbeziehung von Freiberuflern und Beamten in die Rentenversicherung keine Lösung der demographischen Herausforderung darstellt, sondern die
Finanzierungskrise der gesetzlichen Rentenversicherung noch verschärft.
({16})
Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen,
Frau Bender. Mein Großvater hat mir die Geschichte von
dem Bauern erzählt, der Eier für 20 Pfennig pro Stück
produziert und sie für 15 Pfennig verkauft.
({17})
Darauf angesprochen, dann mache er doch einen Verlust
von 5 Pfennig pro Ei, antwortete der Bauer: Die Masse
macht’s.
({18})
Genau das ist der Punkt. Auch Beamte erwerben Ansprüche, ebenso werden Freiberufler älter. Kurzfristig
höheren Einnahmen stehen langfristig höhere Defizite
gegenüber. Verabschieden Sie sich endlich von dieser
Schnapsidee.
({19})
Alles in allem: Wir müssen uns in diesem Haus - dazu
fordere ich Sie nachdrücklich auf - endlich den Realitäten stellen; denn ab 2010 wird der Reformdruck aufgrund des demographischen Wandels dramatisch zunehmen. Angesichts dieser Herausforderung brauchen wir
einen Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik. Wir haben auf dem Parteitag in Bremen einen solchen Paradigmenwechsel beschlossen. Wir werden ihn in Antragsform in Kürze in dieses Haus einbringen. Ich kann Sie
nur auffordern, uns auf diesem Weg zu begleiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kolb, manchmal frage ich mich, ob die Gesetze der
Logik eigentlich auch in diesem Hause
({0})
bzw. auch für Ihre Fraktion gelten. Sie erklären hier vom
Rednerpult, es sei entsetzlich, dass mit den Einnahmen
aus der Ökosteuer die Rentenversicherung mitfinanziert
wird. Gleichzeitig legen Sie selber dar, dass der Beitrag
zur Rentenversicherung um nahezu zwei Prozentpunkte
höher wäre, wenn wir die Ökosteuer nicht hätten. Anschließend beklagen Sie, dass der Rentenversicherungsbeitrag so hoch liegt, wie er ist.
({1})
Wie das zusammengeht, das müssen Sie mir einmal erklären. Aber da werden Sie wie in den Schulen ein
PISA-Problem bekommen. Das nimmt Ihnen einfach
niemand ab.
({2})
Nun komme ich zu Ihrem Eierbeispiel.
({3})
Ich gebe zu, es ist unterhaltsam. Die grüne Idee der Bürgerversicherung bedeutet in der Tat, alle Menschen,
auch Beamte, Abgeordnete und Selbstständige, in die
Rentenversicherung einzubeziehen.
({4})
Dies ist - lassen Sie mich das deutlich sagen, Herr Kollege - kein Beitrag zur Lösung des demographischen
Problems und kein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Es ist ein Beitrag zur horizontalen Gerechtigkeit,
({5})
weil alle dann in dem Sicherungssystem sind und alle
dazu beitragen.
({6})
Es wäre auch glaubwürdiger, Herr Kollege, wenn wir
Abgeordnete Maßnahmen zur Rentenversicherung diskutieren würden, die uns selber betreffen. Das wäre dazu
geeignet, in der Bevölkerung in besonderem Maße Akzeptanz zu erreichen, während man so immer weiß, dass
wir über anderer Leute Geld reden.
({7})
Herr Kollege Storm, Sie beschweren sich auch über die
Höhe der Beiträge. Manchmal nützt ein Blick ins Archiv. Ich habe mir den Spaß erlaubt. Es gab eine Zeit vor
der letzten Wahl, in der Rot-Grün die Mehrheit errungen
hat.
({8})
Da hat sich Kollege Seehofer, der heute vielleicht nicht
ganz zufällig nicht anwesend ist, hingestellt und den
Rentnern versprochen, es gebe einen Nachschlag, wenn
die CDU/CSU die Wahl gewinne. „Wir zahlen euch höhere Renten“, hat er damals gesagt. Der Wirtschaftsweise Rürup hat ihm vorgerechnet, dass das 2,5 Milliarden Euro gekostet hätte. Ich frage Sie: Wer hätte denn
das bezahlt? - Doch die heutigen Beitragszahler. Sie
aber vergießen Krokodilstränen über die Höhe der Beiträge. Sie sollten sich selber an die Nase fassen.
({9})
Die CDU/CSU ist bisher jedenfalls nicht als Vertreterin
des Prinzips der Generationengerechtigkeit aufgefallen um das einmal deutlich zu sagen.
({10})
Es war hingegen die rot-grüne Regierung, die durch
die letzte Rentenreform die Weichen für eine nachhaltige Finanzierung und für die Gerechtigkeit zwischen
den Generationen gestellt hat. Ich darf darauf hinweisen,
dass es Teil dieser Reform ist, dass auch die Rentner und
Rentnerinnen ihren Anteil zu der Stabilisierung der Beiträge leisten. Ich will für die Grünen deutlich sagen: Wir
halten an diesem Grundsatz fest. Das heißt auch - auch
dieses gilt es, ehrlich zu sagen -, dass weitere Maßnahmen notwendig sind.
Alle Experten sind davon ausgegangen, dass es gelingen würde, durch die damals getroffenen Maßnahmen
zur Rentenreform bis 2020 einen Beitragssatz von
20 Prozent und bis 2030 einen Beitragssatz von
22 Prozent zu halten. Nach den aktuellen Schätzungen
müssen wir davon ausgehen, dass dieses nicht der Fall
sein wird. Deswegen besteht Handlungsbedarf. Ich sage
Ihnen im Namen der Grünen: Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Beitragssatz von 19,5 Prozent im nächsten Jahr nicht steigen wird.
({11})
Eine solche Steigerung zulasten der jüngeren Generation
werden wir nicht hinnehmen.
({12})
Das heißt auch - Politik soll ja immer ehrlich sein -, dass
es im nächsten Jahr nicht möglich sein wird - ich sage
das sehr deutlich -, die Renten zu erhöhen. Wir werden
die Rentenerhöhung um ein Jahr aussetzen müssen.
Wenn wir erklären, dass dieses im Interesse der Kinder
und Enkel derjenigen geschieht, die es betrifft, weil wir
höhere Beiträge vermeiden wollen, dann werden wir
auch auf Verständnis stoßen. Davon bin ich überzeugt.
Ich will aber auch gerade an die Adresse der Opposition deutlich sagen: Es handelt sich dabei nicht um eine
Rentenkürzung, sondern wir reden über eine Aussetzung
der Rentenerhöhung.
({13})
- Um Ihren längeren Passagen, Herr Kollege Storm,
über Kürzungen im Allgemeinen und im Besonderen gerecht zu werden,
({14})
sage ich auch: Der Finanzminister hat nicht immer
Recht.
({15})
Bevor ich zu der Frage komme, wie eine neue Rentenreform aussehen muss, will ich zu zwei Dingen Stellung nehmen, die gern von der CDU/CSU behauptet
werden. Das eine ist der Mythos, dass alles geregelt
wäre, wenn man den demographischen Faktor beibehalten hätte. Herr Kollege Storm, dem ist nicht so.
({16})
Mit Ihrem demographischen Faktor wären die Renten
bis 2010 stärker gestiegen, als es mit der bereits beschlossenen Rentenreform der Bundesregierung der Fall
ist. Das sollten Sie vielleicht auch deutlich machen.
In Ihrem Antrag findet sich der Vorschlag, die Rentenzugangsberechtigung von der Lebensarbeitszeit der
Versicherten abhängig zu machen. Haben Sie sich das
auch gut überlegt? Schließlich richtet sich die Höhe der
Rente bereits jetzt nach der Dauer und Höhe der Einzahlungen.
Wenn Sie den Renteneintritt zusätzlich von der Lebensarbeitszeit abhängig machen wollen, dann bedeutet
das, dass Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in Rente
gehen können, obwohl sie im Laufe ihres Lebens Einzahlungen in gleicher Höhe und über die gleiche Zeitdauer
hinweg geleistet haben, weil sie zu unterschiedlichen
Zeitpunkten damit begonnen haben. Mithin bekommen
Menschen, die in jüngeren Jahren angefangen haben, insgesamt eine wesentlich höhere Rente. Damit schaffen Sie
eine Zweiklassengesellschaft unter den Rentnern. Was
daran fair sein soll, müssen Sie mir noch erklären.
Ich füge hinzu: Mit einem solchen Mechanismus würden Sie besonders Frauen benachteiligen. Es ist doch interessant, dass die CDU/CSU auf diese Weise ausgerechnet die Rente von Frauen absenken will. Das werden wir
uns merken.
({17})
Jetzt komme ich zu dem, was wir über kurzfristige
Maßnahmen hinaus zur Stabilisierung des Beitragssatzes
im nächsten Jahr unternehmen müssen. Die Rürup-Kommission hat in diesem Zusammenhang gute Vorschläge
vorgelegt. Sie schlägt zum einen die Einführung eines
Nachhaltigkeitsfaktors vor, mit dem bei der Entwicklung der Renten die Zahl der Jüngeren im Verhältnis zur
Zahl der Älteren berücksichtigt würde. Das halten wir
für richtig.
Ein weiterer Vorschlag, der zunächst bei vielen Skepsis hervorruft, lohnt es aber, ihn näher zu betrachten,
nämlich ab dem Jahr 2011 das Renteneintrittsalter zu
erhöhen, sodass es jährlich um einen Monat bis auf
67 Jahre steigt.
({18})
Gegen dieses hohe Renteneintrittsalter wenden viele
ein, dass ältere Menschen zurzeit keine Arbeit finden.
Das ist zwar richtig, aber es geht bei dem Vorhaben um
das Jahr 2011,
({19})
einen Zeitpunkt, zu dem die Wirtschaft wahrscheinlich
händeringend Arbeitskräfte suchen wird. Es geht um einen Übergangszeitraum von 24 Jahren. Für jemanden
beispielsweise in meinem Alter - ich bin Jahrgang 1956 würde das bedeuten, elf Monate länger zu arbeiten als
nach heutigem Recht.
({20})
Wenn Sie berücksichtigen, dass nach allem, was wir
wissen, heutzutage Menschen mit 70 so gesund sind wie
in den 60er-Jahren Menschen mit 65, dann teilen Sie sicherlich meine Auffassung, dass es sich um eine richtige
Maßnahme zur Finanzierung der Rentenversicherung
handelt,
({21})
die auch der Tatsache Rechnung trägt, dass wir alle älter
werden und dabei gesünder bleiben und dass deshalb die
Aktivität im Erwerbsalter von uns allen angestrebt werden sollte.
({22})
Frau Kollegin Bender, kommen Sie bitte zum
Schluss!
Dann fasse ich mich kurz.
Selbstverständlich muss auch die kapitalgedeckte
Vorsorge weiterhin eine Rolle spielen. Sie muss weiter
ausgebaut werden. Die Grünen haben die Einrichtung eines Altersvorsorgekontos vorgeschlagen, wodurch unterschiedliche Anlageformen steuerlich gefördert würden. Das würde den Menschen eine größere Wahlfreiheit
ermöglichen und wäre von daher sicherlich ein guter
Beitrag für die Sicherung des gesamten Lebensstandards
im Alter.
Frau Kollegin Bender, das war jetzt der Schluss Ihrer
Rede. Vielen Dank.
Herr Kollege Storm, spielen Sie nicht den Rächer der
- angeblich - „enterbten“ Rentner, sondern erklären Sie
sich zu einer Rentenreform bereit, die auch das Prinzip
der Generationengerechtigkeit berücksichtigt! Dann finden wir zueinander.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hildegard Müller von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht
auf die lange Bank schieben“ lautete der Titel des Entschließungsantrags der CDU/CSU, den wir eigentlich
jetzt beraten sollten. „Klarheit über Rentenfinanzen und
Alterssicherung schaffen“ war auch die Überschrift einer
Kleinen Anfrage meiner Fraktion vom April, die ich mir
in Vorbereitung auf diese Debatte noch einmal durchgelesen habe. Wenn ich die Antwort der Bundesregierung
auf unsere damalige Anfrage nehme und um das ergänze, was heute gesagt worden ist, Herr Thönnes, dann
muss ich feststellen: Sie haben leider überhaupt keine
konkreten Vorschläge zur Klarheit der Rentenfinanzierung gemacht. Frau Bender, auch von Ihnen sind scheinbar mehr Absichtserklärungen gekommen als tatsächliche Koalitionsbeschlüsse; jedenfalls ist mir insbesondere
das, was Sie zur Heraufsetzung des Renteneintrittsalters
gesagt haben, nicht bekannt gewesen. So kann ich also
nur feststellen, dass bei der Regierung und bei Rot-Grün
keine Klarheit darüber herrscht, was man bei der Rentenfinanzierung vorhat.
({0})
Wer die Schlagzeilen dieser Woche einmal betrachtet,
der muss unweigerlich an den Refrain eines Spottliedes
aus dem Jahre 1928 denken. Dieser lautet: „Wir schlagen
Schaum - Wir seifen ein.“
({1})
Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, die vor
zwei Wochen den 140. Geburtstag ihrer Partei feiern
konnten, wird dieses „Seifenlied“ von Ernst Busch vielleicht noch etwas sagen; denn dieses Lied war die Reaktion der Bevölkerung auf den SPD-Wahlkampf zur
Reichstagswahl von 1928. Es war schon damals der passende Kommentar zu gebrochenen Wahlversprechen.
Dieser Kommentar passt auch zur aktuellen Politik.
({2})
Was haben wir uns im Wahlkampf nicht alles anhören
müssen! Wider besseres Wissen wurden Zahlen vertuscht
und schöngefärbt. Wenn man sich die aktuelle Lage anschaut, dann stellt man fest, dass sie sehr dramatisch ist.
Diesen Eindruck haben nicht nur die Unionsfraktion und
ich, sondern diesen Eindruck hat auch die Bevölkerung
in unserem Land. Übrigens, Frau Bender, drei Rentenanpassungen auszusetzen ist noch keine Reform.
({3})
Ich gebe Herrn Bundesfinanzminister Eichel - ich freue
mich, dass ich das ausnahmsweise einmal tun kann Recht, wenn er sagt, dass dies in Wahrheit Rentenkürzungen und nichts anderes seien.
({4})
Die Schlagzeilen dieser Woche lauten: „Absurdes
Renten-Theater“, „Gefährliches Zündeln an der Rente“,
„Renten im Steuerloch“ und „Renten nach Kassenlage“.
Aus diesen Schlagzeilen kann meiner Ansicht nach nur
eines abgeleitet werden: Die Rente und die Höhe des
Beitragssatzes in der Rentenversicherung sind bestimmt
nicht sicher. Außerdem sollten Sie, Frau Bender, die
Ökosteuer in Ihrer Argumentation zur Kassenlage der
Rentenversicherung immer berücksichtigen.
({5})
Sicher sind aber auch nicht mehr die Aussagen der
Koalitionäre zur eigenen Rentenpolitik. Diesen Eindruck
muss man einfach gewinnen, wenn man die inflationäre
Flut der Schreckensnachrichten aus dem Regierungslager verfolgt. Einmal soll das Rentenalter heraufgesetzt
werden. Ein anderes Mal soll die Riester-Förderung beschnitten werden. Ein weiteres Mal stehen die Kindererziehungszeiten zur Disposition. Dann ist in einem Papier, das intern schon vorliegen soll, angeblich von dem
Ende der Schwankungsreserve die Rede. Ich finde, das
ist eine der unverantwortlichsten Ideen, die ich in diesem
Zusammenhang jemals gehört habe.
({6})
Dann soll wieder einmal die Anpassung der Altersbezüge ausgesetzt werden. Frau Lotz, Sie werden mir bestimmt sagen können - Sie werden ja nach mir reden -,
ob die Koalition das Heraufsetzen des Renteneintrittsalters beschlossen hat. Ich jedenfalls habe aufseiten der
Sozialdemokraten Fassungslosigkeit angesichts der Aussagen von Frau Bender wahrgenommen. Ich hoffe, dass
Sie das gleich aufklären werden.
Schließlich erwacht auch der demographische Faktor
von Norbert Blüm kaum verkleidet wieder zu neuem Leben. Für diesen Faktor hat die SPD uns nicht nur 1998
als „unanständig“ beschimpft. Noch am 17. August 2002
erklärte der Bundeskanzler bei der Betriebsrätekonferenz der IG BAU in Dortmund:
Wir haben den Unsinn des demographischen Faktors gestoppt und eine faire und zukunftsweisende
Reform durchgesetzt.
({7})
Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demographischen Faktors angekündigt. Das war vor vier
Jahren unanständig und das ist heute genauso unanständig.
({8})
Im Parteitagsbeschluss der SPD vom vergangenen
Sonntag kann man nun lesen:
Ein Nachhaltigkeitsfaktor
- oh Wunder! ist ein geeignetes Instrument, um der sich verändernden Relation zwischen Beitragszahlern und
Rentenbeziehern Rechnung zu tragen. Und das ist
in der Rentenanpassungsformel zu berücksichtigen.
Das ist doch nichts anderes als ein demographischer
Faktor. Ich möchte Sie fragen: Ist das unanständig oder
nicht? Hören Sie mit Ihrer Polemik gegen die CDU/CSU
auf; denn der demographische Faktor war ein richtiger
Schritt. Sie haben mit Ihrer falschen Rentenpolitik fünf
Jahre vertändelt.
({9})
Ich freue mich ja, das aus Regierungsmund zu hören,
und auch darüber, dass endlich ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit geleistet werden soll. Dass dies aber
nur ein erster Schritt ist, wissen wir alle; denn wir haben
wertvolle Zeit dadurch verloren, dass Sie diesen Faktor,
der eine wirklich systematische Verteilung der Lasten aus
der demographischen Entwicklung auf alle Generationen
hätte sicherstellen können, 1998 abgeschafft haben. Wie
und wann und wieso überhaupt der Demographiefaktor à
la Schröder genau kommen wird, ist trotz Parteitagsbeschluss unklar. Herr Vater, der Sprecher von Frau
Schmidt, hat am Montag vor der Regierungspressekonferenz das Jahr 2005 angesprochen. Vor dem Parteitag haben wir immer gehört, 2011 sei das Jahr; vorher könne
der Faktor eh nicht wirksam werden. Ich appelliere deshalb noch einmal an Sie: Schaffen Sie Klarheit - heute
haben Sie bisher wieder nichts zur Klarheit beigetragen
-, damit die Menschen endlich wissen, wie ihre Altersversorgung aussehen wird.
({10})
Auch in der zweiten Säule der Altersvorsorge haben
wir weiterhin Stillstand. Angesichts des Durcheinanders
bei Rot-Grün braucht man sich darüber nicht zu wundern. Die Leute sind verunsichert.
({11})
Das zeigt sich an den Zahlen. Bis Ende 2002 wurden gerade einmal 3,4 Millionen Verträge über eine RiesterRente abgeschlossen. Bei 30 Millionen förderfähigen
Bürgern entspricht das 11,3 Prozent. Nach Umfragen
wollen 70 Prozent der Bundesbürger überhaupt keinen
Vertrag über eine Riester-Rente abschließen. Diese fatale
Analyse hat die Bertelsmann-Stiftung in der letzten Woche noch einmal ausdrücklich bestätigt. Die Bereitschaft
der Bundesbürger, für das Alter privat vorzusorgen, ist
nach ihren Analysen in den vergangenen Monaten spürbar gesunken.
({12})
Das ist eine Reaktion auf die Unsicherheit und das
Durcheinander, das wir von der Regierungsseite erleben.
({13})
Die Bertelsmann-Stiftung und Mitglieder der RürupKommission, die Sie ja immer nur zitieren, wenn es Ihnen passt, haben dringend eine Reform der Rente auch in
diesem Bereich angemahnt, weil das sonst zur lahmen
Ente werden würde. Wenn wir angesichts der Zahlen
nicht endlich zu Veränderungen kommen, wird nur ein
Drittel der Zahl von Menschen, die ursprünglich angenommen worden war, einen solchen Vorsorgevertrag abschließen.
Deshalb rate ich noch einmal dazu, auf die Gründe zu
schauen - die Bertelsmann-Stiftung hat das bestätigt -:
zu viel Bürokratie, schlechte Information und fehlende
Transparenz. Herr Thönnes, reden Sie nicht immer nur
darüber, was man ändern muss! Schaffen Sie Fakten!
Bringen Sie hier endlich Anträge ein, die wirklich zur
Verbesserung der Lage führen!
({14})
Es reicht nicht aus, dass es in der Koalitionsvereinbarung heißt:
Wir werden … die Aufwendungen für die Altersvorsorge schrittweise von der Besteuerung befreien.
Wenn Sie das nicht gleichzeitig auch in der privaten
Säule tun, ist das kontraproduktiv und wird verhindern,
dass mehr Verträge abgeschlossen werden.
Bei der sich parallel dazu entwickelnden betrieblichen Altersvorsorge zeigt sich, dass sie durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze deutlich geschwächt worden ist. Sie können uns nach wie vor keine
Angaben darüber machen. Alle Experten haben in den
Anhörungen angeregt, hier zu Veränderungen zu kommen. Sagen Sie uns, wie es auch in der betrieblichen Altersvorsorge durch Ihre Rentenreform zu einer Verschlechterung gekommen ist! Schaffen Sie Klarheit!
Sehen Sie Ihre Fehler ein! Tragen Sie endlich zu einer
Rentenreform im Sinne aller Generationen in diesem
Land bei! Vertuschen Sie nicht weiter die Zahlen!
({15})
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Beim Studieren des CDU/CSU-Antrags habe ich mir natürlich die Frage gestellt: Um was geht es Ihnen? Ich
kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Ihnen
nicht so sehr um die Sache, also um die Rente, und auch
nicht um Klarheit über die Rentenfinanzen, sondern darum geht, Rentner und Rentnerinnen, aber auch die Beitragszahler zu verunsichern.
({0})
Verbreitung von Zukunftsängsten führt nicht zu einer
Lösung. Das ist nicht redlich. Redlich ist auch nicht, so
zu tun, als wäre die Bundesrepublik eine Insel, auf welche weltweite konjunkturelle Probleme keinen Einfluss
hätten. Wir haben ein Wachstumsproblem - ebenso wie
die USA, Japan und andere Staaten Europas. Das mindert unsere Chancen.
Frau Kollegin Müller, Sie haben vorhin die Worte „sichere Renten“ in den Mund genommen. Deshalb will ich
an Folgendes erinnern: Es war der ehemalige Arbeitsminister Blüm, der immer von den sicheren Renten gesprochen hat.
({1})
Aber Sie haben Veränderungen durchführen müssen - so
wie auch wir.
Ich will Ihnen auch nicht ersparen, noch einmal an
Folgendes erinnert zu werden: 1998 betrug der Rentenversicherungsbeitrag 20,3 Prozent. Ein Beitragssatz von
19,5 Prozent ist nach Adam Riese wohl niedriger.
({2})
Seit 30 Jahren werden in Deutschland weniger Kinder
geboren. Die Lebenserwartung nimmt kontinuierlich zu.
Der demographische Wandel - das wissen Sie selbst findet nicht nur in Deutschland statt. Sie entnehmen den
Medien, dass die Diskussionen über Veränderungen bei
der Rente dementsprechend geführt werden.
Was will ich damit sagen? Egal wie ein Rentensystem
aufgebaut ist: Demographische Veränderungen erfordern
ein Nachsteuern im System. Das haben wir schon 2001
gemacht: Mit der Einführung der kapitalgedeckten,
staatlich geförderten, zusätzlichen privaten Alterssicherung haben wir dafür gesorgt, dass die Menschen eine
zweite Säule in der Alterssicherung aufbauen, die der Sicherung des Lebensstandards dient.
Nun hören Sie doch endlich auf, die Riester-Rente zu
kritisieren,
({3})
nur weil sie nicht von Ihnen stammt! Über 30 Millionen
Arbeitnehmer haben Anspruch auf die staatliche Förderung; sie ist aber nicht nur staatlich, sondern auch stattlich.
({4})
Eine Familie mit zwei Kindern und 30 000 Euro Bruttogehalt erhält für eine jährliche Gesamtversorgung in
Höhe von 1 200 Euro 678 Euro Förderung;
({5})
das sind mehr als 50 Prozent; das ist familien- und arbeitnehmerfreundlich. Dadurch wurde die betriebliche
Altersvorsorge wieder attraktiv. Experten schätzen, dass
zwischen zwei Drittel und Dreiviertel der Beschäftigten
eine Betriebsrente aufbauen werden. Die Versicherungsgesellschaften melden, dass bis heute 3,7 Millionen andere Verträge zur Altersvorsorge - Herr Kolb, nicht, wie
Sie vorhin sagten, 3 Millionen - abgeschlossen worden
sind. Ich meine, wir sind in diesem Bereich auf einem
guten Weg. Die Menschen müssen umdenken - das
heißt, sie müssen frühzeitig an das Alter denken -; das
ist ein Prozess, der etwas Zeit braucht.
Wir werden auch die Möglichkeit von Vereinfachungen prüfen und sicherstellen, dass die entsprechenden
Produkte in Zukunft bei gleichen Beiträgen gleiche monatliche Leistungen für Männer und Frauen vorsehen.
Das ist unser Ziel. Man erreicht das Ziel, Arbeitnehmer
zu motivieren, eine zusätzliche Altersvorsorge abzuschließen, nicht dadurch, dass man diese madig macht,
so wie Sie es tun. Was dieses Ziel angeht, erweisen Sie
einen Bärendienst.
Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen. Ich
gehöre zu den Menschen, die ihre Ausbildung mit
14 Jahren begonnen haben. Wir alle wissen, dass dies
schon lange nicht mehr die Regel ist. Der Einstieg ins
Erwerbsleben beginnt später. Ich glaube, wir alle sind
uns einig, dass ein früherer Ausstieg auch wegen der demographischen Veränderung nicht möglich ist. Wir müssen die Frühverrentung deshalb stoppen.
({6})
Der Rentenbeginn und die Regelaltersgrenze von
65 Jahren müssen sich annähern. Ich denke, solange wir
noch eine so hohe Arbeitslosigkeit haben wie derzeit, ist
es müßig, über eine Anhebung der Altersgrenze zu diskutieren. Das versteht niemand. Wir haben mit den
Hartz-Gesetzen erste Schritte getan, um es den Arbeitgebern zu erleichtern, ältere Arbeitslose einzustellen.
Arbeitslose ab 52 können ohne Grund befristet eingestellt werden. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
entfallen für den Arbeitgeber bei Einstellung von Arbeitslosen über 55.
Ich appelliere an die Arbeitgeber, auch älteren Arbeitnehmern Qualifizierungsangebote zu machen. Wir können nicht mehr zulassen, dass sich Unternehmer mit relativ geringem Eigenaufwand von Arbeitnehmern über
55 Jahren auf Kosten der Sozialkassen trennen. So werden wir keine Beiträge senken können. Wir können auch
den nachfolgenden Generationen nicht die damit verbundenen Belastungen aufbürden.
Das deutsche Rentensystem hat schon gewaltige Belastungen getragen; die größte Leistung war die Finanzierung der deutschen Einheit. Rentnerinnen und
Rentner der neuen Länder sind Teil dieses Systems. Kein
anderes, kein kapitalgedecktes System hätte dies leisten
können.
({7})
Ich sage aber auch: Es war falsch, die deutsche Einheit allein über die Sozialversicherungssysteme zu finanzieren.
({8})
Das muss man bei aller Kritik - egal ob an der Ökosteuer
oder eben am erhöhten Bundeszuschuss - bedenken. Das
muss man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen. Wer
die Ökosteuer kritisiert, verschweigt, dass damit letztendlich gesamtgesellschaftliche Aufgaben finanziert
werden.
Der Generationenvertrag funktioniert, aber ein Nachsteuern war schon in der Vergangenheit notwendig und
wird in der Zukunft nicht auszuschließen sein; die Gerechtigkeit zwischen, aber auch innerhalb der Generationen erfordert dies. Ich denke, was für die Rentenversicherung gilt, muss auch für andere Versorgungssysteme
wirkungsgleich gelten. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sind eingeladen, konstruktiv daran mitzuarbeiten.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Uns von der PDS im Bundestag
wird zu viel über die Rentner im Allgemeinen gesprochen, aber Rentner ist nun einmal nicht gleich Rentner.
Auch bei den Renten gibt es oben und unten, Ost und
West, Männer und Frauen. Zum Beispiel leben in der
Bundesrepublik circa 2,5 Millionen Frauen mit einer
Rente unter 300 Euro pro Monat. In den neuen Ländern
wird fast jede dritte neue Rente wegen Altersarbeitslosigkeit gezahlt. Durch die progressive Erhöhung der Altersgrenzen führt das zu Abschlägen von bis zu
18 Prozent.
Da bin ich schon bei einer wichtigen Forderung der
PDS: Wir brauchen einen Zeitplan zur Angleichung
der Ostrenten an die Westrenten.
({0})
Wir wollen die viel beschworene deutsche Einheit auch
bei den Renten. Ich darf Ihnen sagen, dass der aktuelle
Rentenwert Ost nur bei knapp 88 Prozent des
Westrentenwertes liegt. Die SPD erklärt nun in Briefen
an Rentnerinnen und Rentner, sie wolle einen solchen
Zeitplan zur Angleichung der Rentenwerte von Ost und
West nicht, und verweist dabei auf die unterschiedlichen
Einkommensverhältnisse. Da habe ich einen Vorschlag
an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Legen Sie
doch einfach einen Zeitplan für die Angleichung der
Löhne und Gehälter in Ost und West vor, dann haben wir
auch gleich einen Zeitplan für die Angleichung der Rentenwerte in Ost und West.
({1})
Frau Göring-Eckardt von den Grünen, hier in der Debatte schon mehrmals angesprochen, spricht viel über
Generationengerechtigkeit. Jüngst dachte sie in diesem
Zusammenhang über die Absenkung des Rentenniveaus nach. Das Problem ist nur, dass mit dem Begriff
Generationengerechtigkeit unentwegt soziale Unterschiede verwischt werden sollen und er von vielen als
Kampfbegriff missbraucht wird, der die Generationen
gegeneinander aufwiegelt und die Entsolidarisierung in
der Gesellschaft befördert. Es gibt nun einmal eine Erbengeneration, darunter übrigens viele grüne Wählerinnen und Wähler, die bei der geltenden Erbschaftsteuer
bequem ihren Job als angenehmen Zeitvertreib verstehen
können, weil sie materiell durch ihr Erbe abgesichert
sind. In der gleichen Generation gibt es aber auch Menschen, die gar nichts erben werden, die nicht einmal genug Geld haben, um etwas für das Alter zu sparen.
Wer heute einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe stellt,
muss damit rechnen, dass sein Vermögen und Leistungen, die eigentlich der Altersvorsorge dienen sollten,
auf die Arbeitslosenhilfe angerechnet werden. Diese Arbeitslosen wollen eigenverantwortlich für das Alter vorsorgen, wie es von der Regierung verlangt wird, gleichzeitig nimmt diese ihnen ihr Vermögen aber wieder ab.
Im „Stern“ dieser Woche sind dazu einige interessante
Fallbeispiele aufgeführt.
Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich
noch einmal auf den Osten zu sprechen kommen. Gern
wird ja angeführt, wie hoch das Rentenniveau im Osten
im Vergleich zu dem im Westen sei. Laut Statistik verfügen Rentnerehepaare in den alten Bundesländern über
ein durchschnittliches Nettoeinkommen, das nur ungefähr 200 Euro über dem von Rentnerehepaaren in den
ostdeutschen Ländern liegt.
({2})
Das klingt schon ganz gut, aber häufig wird vergessen,
dass das nur die halbe Wahrheit ist; denn der Anteil der
Rente am Nettogesamteinkommen im Westen beträgt
bei kleineren Renten nicht einmal 50 Prozent. Mehr als
die Hälfte machen Pensionen, Mieteinkünfte, Privatrenten und andere Einkommensarten aus. In den neuen
Ländern wird das Nettoeinkommen der Rentnerinnen
und Rentner dagegen fast ausschließlich durch die gesetzliche Rente bestritten.
Meine Damen und Herren, wenn wir über die Weiterentwicklung des Rentensystems sprechen, müssen wir
von folgenden Voraussetzungen ausgehen: Es muss sozial und solidarisch zugehen. Wir von der PDS sagen: Es
muss Rente von allen für alle geben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte einige Aspekte der Debatte aufnehmen. Herr Staatssekretär Thönnes, Sie sagten in einer
Haltung zwischen Autosuggestion und Beschwörung:
Nein, unser Rentensystem ist kein Scherbenhaufen.
Kann man denn nicht von einem Scherbenhaufen sprechen, wenn sich die Jahrhundertreform von 2000 in allen
Werten so grundfalsch entwickelt,
({0})
wie sie es momentan tut, und alle Ziele verfehlt werden?
Das ist doch ein Scherbenhaufen, meine sehr verehrten
Damen und Herren!
({1})
Von sinkenden Beiträgen, Entlastung der Arbeitskosten
und mehr Beschäftigung keine Rede; alle Ziele verfehlt.
Ist es kein Scherbenhaufen, wenn in einer einzigen
Woche folgende Vorschläge aus dem rot-grünen Lager
kommen? Erster Vorschlag: Aussetzung der Rentenanpassung - zum dritten Mal, Herr Staatssekretär, ein willkürlicher Eingriff in die Renten und der Abschied von
der beitragsabhängigen und lohnorientierten Rente; zum
dritten Mal ein systemwidriger Eingriff. Ich wiederhole:
ein Scherbenhaufen!
Zweiter Vorschlag: Erhöhung des Krankenversicherungsbeitrags der Rentner von 50 auf 75 Prozent.
Sie sagen jetzt: Lassen Sie die Mär, das wollen wir gar
nicht. - Das hat Herr Eichel aber gefordert.
({2})
Wenn der Finanzminister von Ihnen als Märchenerzähler
tituliert wird, dann ist das allerdings ein Stück Konsens,
den wir heute feststellen können.
({3})
Dritter Vorschlag: Rentensplitting. Frau GöringEckardt blieb es vorbehalten, zu fordern, höhere Renten
zu deckeln oder Renten gar nicht zu erhöhen. Das ist
doch der Abschied von der leistungsorientierten Rente,
Gerald Weiß ({4})
von der Beitragsäquivalenz im Rentensystem, ein völlig
systemwidriger Eingriff!
({5})
Dann gab es den Vorschlag, die Förderung der
Riester-Rente abzubauen. Frau Lotz, Sie haben eben die
kapitalgedeckte Zusatzversicherung, in Wahrheit eine ersetzende Versicherung, hervorgehoben und sie als zweite
Säule bezeichnet. Das ist nur ein Säulchen und keine
zweite Säule. Wenn nur 11 Prozent der Antragsberechtigten diese Möglichkeit nutzen können,
({6})
die Einkommensschwächeren aber nicht, weil sie das
nicht bezahlen können,
({7})
weil wir eine sozial unausgewogene Förderung haben,
weil wir zu hohe Bürokratiehürden und zu komplizierte
Kriterien haben, dann ist der Weg, den Sie eingeschlagen
haben, ein zwar im Grundsätzlichen richtiger Weg, aber
in der Durchführung total verfehlt.
({8})
Wir müssen - so kam es in diesen Tagen auch in der
Bertelsmann-Studie zum Ausdruck - hier entbürokratisieren, müssen die Förderung verbessern. Wir dürfen die
Förderung natürlich nicht kürzen, weil wir dann noch
mehr Menschen den Zugang zu einer kapitalgedeckten
Zusatzversorgung verbauen.
Ich komme zu einem Aspekt, den Sie, Frau Bender,
gebracht haben. Sie sagten, die Aussetzung der Rentenerhöhung sei keine Rentenkürzung. Wenn bei den
Rentnerinnen und Rentnern eine Nullrunde erfolgt
({9})
und die Abgaben, die Steuern und die Preise weiter steigen, bedeutet das für die Rentner ein Kaufkraftminus.
({10})
Zum dritten Mal betrügen Sie die Rentner. Das ist offenbar ein bereits abgestimmtes Programm. Es bedeutet ein
Kaufkraftminus in den Rentnertaschen.
({11})
Ich nehme ein weiteres Argument von Ihnen, Frau
Bender, auf. Sie sagen, die volle Rente nach 45 Beitragsjahren, die wir anstreben, würde sozusagen zu einer Klassenbildung im Rentensystem führen. Ja, das
streben wir an. Wir wollen, dass diejenigen, die 45 Jahre
geschafft haben, oft in körperlich schwer belastenden
Berufen,
({12})
von frühester Jugend bis ins Alter hinein, und die 45
Jahre lang Beiträge eingezahlt haben, auch die volle
Rente erhalten.
({13})
Ja, wir sind dafür. Das ist ein Stück Leistungsgerechtigkeit und damit eine Verbesserung des Rentensystems.
Frau Lotz, Sie haben davon gesprochen, wir müssten
die Frühverrentung in der Tendenz stoppen, wir müssten die Ist-Verrentung näher an das gesetzlich festgelegte
Renteneintrittsalter rücken; damit haben Sie Recht. Dennoch glaubte ich mich verhört zu haben: Vor ganz kurzem wollten Sie noch ein glorreiches Brückengeld einführen.
({14})
Das wäre ein Signal für eine neue Frühverrentungswelle
in Deutschland gewesen! Die Union und die FDP haben
im Bundesrat verhindert, dass dieser Unsinn umgesetzt
wird
({15})
und dass eine neue Frühverrentungswelle über die Bundesrepublik schwappt.
({16})
Nächster Punkt. Sie machen sich jetzt zum dritten
Mal daran, in die Schwankungsreserve, also in die
Rücklage der Rente, einzugreifen. Diesmal haben Sie sogar den Vorsatz, der Schwankungsreserve den Garaus zu
machen und sie auf null zu fahren. Wenn Sie diesen Weg
gehen, dann führen Sie unser Rentensystem in die totale
Abhängigkeit vom Finanzminister.
({17})
Sie werden mit dieser Maßnahme erreichen, dass Herr
Eichel im Rahmen seiner fiskalischen Handlungen täglich, ja stündlich Einfluss auf die Renten nehmen kann.
Wer eine solche etatistische und staatsdirigistische Rente
will, der muss diesen Schritt gehen. Wir wollen aber eine
von der Finanzpolitik unabhängige Rente, deren Anpassungsmechanismen nicht vom Staat beeinflusst werden.
Das ist ein ganz anderer Weg als der, den Sie einschlagen.
({18})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Storm, die Debatte heute Morgen hat, wie ich fand,
ganz hoffnungsvoll begonnen. Sie ist jetzt allerdings an
einem Punkt angekommen, an dem ich nur sagen kann:
Die Opposition wird ihrer Verantwortung weder im Bundestag noch im Bundesrat gerecht.
({0})
Was Sie heute abgeliefert haben, zeigt, dass Sie niemandem im Haus erklären können, wohin Sie überhaupt
wollen.
({1})
Das Einzige, was man Ihrer Rede entnehmen konnte, ist,
dass Sie den Rentnern höhere Renten,
({2})
denjenigen, die in die betriebliche Altersvorsorge oder in
die Riester-Rente einzahlen, höhere Zuschläge - damit
wollen Sie die Akzeptanz steigern ({3})
und den Beitragszahlern niedrigere Beiträge versprochen
haben. Sagen Sie uns einmal, wo Ihre Gelddruckmaschine steht. Auch wir würden sie gerne nutzen.
({4})
Sie machen einen Fehler: Sie lesen entschieden zu
viel Zeitung.
({5})
Das scheint Sie zu verwirren, weil Sie offensichtlich all
das glauben, was Sie in der Zeitung lesen. Lesen bildet,
da haben Sie absolut Recht. Es wäre aber an der Zeit, Sie
würden einmal etwas anderes lesen und sich mit uns in
der Sache, um die es wirklich geht, auseinander setzen.
({6})
Was Sie hier abliefern, ist Vergangenheitsbewältigung
gepaart mit einem absoluten Mangel an Redlichkeit.
({7})
Sie, Herr Kolb, haben uns gesagt, wir sollten Sie bei
Ihrer Diskussion begleiten; aber Sie wüssten eigentlich
selbst noch nicht so genau, wohin es gehen soll.
({8})
Vielleicht werden Sie es uns im Herbst sagen.
({9})
Das können Sie doch wirklich nicht im Ernst meinen.
Sie behaupten hier, unser Rentensystem sei nicht zukunftsfähig. Dazu muss ich Ihnen sehr deutlich sagen:
Ich glaube, dass dieses System in seiner Grundanlage eines der sichersten und zukunftsfähigsten Alterssicherungssysteme ist. Es ist nur unsere Aufgabe, es in einer
gemeinsamen Anstrengung den wirtschaftlichen und
demographischen Gegebenheiten anzupassen.
({10})
Zu dieser Debatte und zu dieser Diskussion laden wir Sie
im Herbst ein.
({11})
- Erinnern Sie sich einmal an die Einführung des 630DM-Sparens. Trotz vieler Anreize hat es viele Jahre gedauert, bis die Menschen diese Form des Sparens genutzt haben. Sie haben bis zur Bundestagswahl die Menschen aufgefordert - Herr Thönnes hat es Ihnen schon
gesagt -, keine Riester-Verträge abzuschließen, weil
nach der Wahl die Reform sowieso rückgängig gemacht
werden würde.
({12})
Sie können also nicht erwarten, dass wir Ihre Vorwürfe
in Bezug auf die Riester-Rente akzeptieren.
Im Herbst werden wir mit der Diskussion über die
Rente, zu der ich Sie einlade, beginnen. Herr Storm, wir
stimmen mit vielen Ihrer Ansätze überein.
Wir werden über den Nachhaltigkeitsfaktor zu diskutieren haben, darüber, ob er das entscheidende und richtige Instrument ist, um die Ziele zu erreichen,
({13})
die wir erlangen wollen: vertretbare Beitragssatzzahlungen und am Ende eine vertretbare Rente für diejenigen,
die die Rente zum Leben brauchen. Das werden unsere
Zielsetzungen sein. Die Instrumente, die zur Verfügung
stehen, werden wir genau zu überprüfen haben.
Im Herbst wird der Bericht der Rürup-Kommission
vorliegen. Einiges zeichnet sich bereits ab. Wir werden
über die Einführung dieses Nachhaltigkeitsfaktors diskutieren. Wir werden auch darüber diskutieren
({14})
- ich würde erst einmal diskutieren und dann entscheiden; denn dann müssen wir nicht hinterher korrigieren -,
({15})
welche begleitenden Instrumente wir zusätzlich brauchen und wie wir die Riester-Rente und die betriebliche
Altersversorgung verbessern können. Wenn man im Hinblick auf die Zusatzversorgungsrente eine Gesamtschau
vornimmt und feststellen kann, dass sie etwa ein Jahr
nach ihrer Einführung schon eine Größenordnung von
30 bis 40 Prozent erreicht hat, dann kann ich Ihnen dazu
nur sagen: Dies ist ein ganz hervorragender Erfolg, auf
den wir zurückgreifen können.
({16})
Ich möchte noch ein paar Punkte nennen, von denen
ich glaube, dass wir hier - auch wenn viele meinen, man
müsse das Thema Rente zu einem Kriegsschauplatz machen - eine ähnliche Einschätzung haben.
({17})
Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 bzw.
68 Jahre steht nicht zur Debatte. Wir sollten vielmehr gemeinsam unsere Kraft darauf verwenden, dafür zu sorgen, dass das tatsächliche Renteneintrittsalter dem gesetzlichen Renteneintrittsalter entspricht. Meine Kollegin
hat Ihnen zudem bereits gesagt, über welche Punkte wir
gerne bereit sind mit Ihnen zu diskutieren.
({18})
Voraussetzung für diese Diskussion ist: Wir hatten in
der Vergangenheit den Mut zu einer gemeinsamen Verantwortung. Ich erwarte von Ihnen ein bisschen Mut für
die gemeinsame Zukunft.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1014 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale
Sicherung auf Drucksache 15/859 zu dem Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP zum Rentenversiche-
rungsbericht 2002 und zum Gutachten des Sozialbeirats
zu diesem Rentenversicherungsbericht. Der Ausschuss
empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache
15/318 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der FDP und einiger
Kollegen aus der Fraktion der CDU/CSU, im Übrigen
bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung der Förderbanken
des Bundes ({0})
- Drucksache 15/743 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neustrukturierung der Förderbanken
des Bundes ({2})
- Drucksachen 15/902, 15/949 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 15/1127 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Hubert Ulrich
b) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und
zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung ({5})
- Drucksache 15/537 ({6})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und
zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung ({7})
- Drucksache 15/900 ({8})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 15/1042 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kerstin Andreae
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({10}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1043 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Walter Schöler
Antje Hermenau
Zu den Entwürfen eines Kleinunternehmerförderungsgesetzes liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin gebe
ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara
Hendricks das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit den beiden Gesetzentwürfen, die wir heute abschließend beraten, gehen wir zwei scheinbar kleine,
aber doch bedeutsame Schritte, die uns dabei helfen werden, den Mittelstand zu beleben, die Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen und die Schattenwirtschaft einzuschränken.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Neuordnung der Förderbanken setzt die Bundesregierung die
bereits im Koalitionsvertrag vereinbarte Zusammenlegung der Kreditanstalt für Wiederaufbau mit der
Deutschen Ausgleichsbank und die Entscheidung der
europäischen Kommission vom März des vergangenen
Jahres zu Anstaltslast und Gewährträgerhaftung um.
Mit der Verschmelzung von KfW und DtA werden Synergien gehoben und Effizienzgewinne erzielt, die der
Mittelstandsförderung unmittelbar zugute kommen.
Wichtig ist dabei vor allem, dass das Förderangebot der
KfW-Mittelstandsbank übersichtlicher und transparenter wird.
Durch die gewählte Form der Zusammenlegung von
KfW und DtA werden der Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen keine Mittel entzogen. Wir haben uns darüber gefreut, dass in den wesentlichen Punkten des Gesetzes Konsens mit allen Fraktionen besteht
und auch die Wirtschafts- und Bankenverbände die tragenden Elemente des Gesetzes begrüßt haben.
Weder das Subsidiaritätsprinzip noch das Hausbankenprinzip werden durch das Förderbankenneustrukturierungsgesetz aufgehoben oder verletzt. Dies möchte
ich auch in Richtung Bundesrat betonen, auf dessen Zustimmung wir am 20. Juni 2003 hoffen. Die Verständigung mit der EU-Kommission verlangt eine konkrete
und präzise Beschreibung der Aufgaben der Förderbank.
Nur so lässt sich die Fördertätigkeit vom Marktgeschäft
der KfW abgrenzen. Die bewährte Durchleitung der Förderkredite durch die Hausbanken, also Sparkassen und
andere Banken, bleibt bestehen.
Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz bauen
wir gezielt bürokratische Hürden ab, um Existenzgründungen künftig zu erleichtern. Zugleich verbinden wir
damit die Hoffnung, dass viele, die eine bereits ausgeübte Tätigkeit dem Finanzamt heute verschweigen, aus
der Schattenwirtschaft in die Legalität zurückkehren
werden. Im Zentrum dieses Gesetzes steht die Möglichkeit der Gewinnpauschalierung für Existenzgründer
und Kleinunternehmer. Für diese simple Methode der
Gewinnermittlung müssen im Wesentlichen nur noch
Betriebseinnahmen aufgezeichnet werden. Die Hälfte
hiervon wird pauschal als Betriebsausgaben abgezogen,
die andere Hälfte gilt als Gewinn. Das ist im Vergleich
zu anderen Gewinnermittlungsarten, wie zum Beispiel
der Bilanzierung, äußerst einfach, transparent und erfordert nur sehr geringen Aufwand.
Die Gewinnpauschalierung ist vor allem dann von
Vorteil, wenn eine Tätigkeit mit geringem Kapitaleinsatz
ausgeübt wird. Typischerweise ist das bei Dienstleistern
der Fall, die in erster Linie ihre eigene Arbeitskraft anbieten. Für diesen Personenkreis, der Tätigkeiten wie
Rasen mähen, Schnee räumen, Hemden bügeln, Hunde
ausführen, Putz- und Reinigungsdienste, mobile Friseurleistungen oder Besorgungsdienstleistungen wie Autoummeldung oder Behördengänge erbringt, bei denen
üblicherweise nur geringe Betriebsausgaben anfallen, ist
die Pauschalierungsmöglichkeit im Wesentlichen gedacht.
Wer größere Investitionen plant, Arbeitnehmer beschäftigt oder aus anderen Gründen eine geringere Umsatzrendite hat, der fährt natürlich in der Regel mit den
üblichen Gewinnermittlungsmethoden besser und sollte
diese auch weiterhin anwenden.
({0})
Doch auch für diese Unternehmer bringt das vorliegende
Gesetz Verbesserungen. So wird für Existenzgründer die
Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen erleichtert.
Viele Unternehmer werden zudem von der Anhebung
der Buchführungspflichtgrenzen profitieren. Dadurch
werden wir erreichen, dass künftig mehr Unternehmen
als bisher ihren Gewinn mit der einfacheren Einnahmenüberschussrechnung ermitteln dürfen. Sie müssen keine
aufwendige Buchführung einrichten. Zudem wird die Erstellung einer Einnahmenüberschussrechnung durch die
vorgesehene Standardisierung erleichtert, da das hierfür
vorgesehene Formular künftig eine klare Struktur vorgibt. Auch das spart Zeit und Kosten.
Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz soll
schließlich Kreditinstituten eine gewerbesteuerneutrale
Verbriefung ihrer Kreditforderungen und deren Platzierung am Kapitalmarkt als so genannte Asset Backed Securities in Deutschland ermöglicht werden. Mit Hilfe
dieser Neuregelung werden neue nationale und internationale Investorenkreise, wie zum Beispiel Versicherungen und Pensionsfonds, und deren finanzielle Mittel effektiv für die Finanzierung inländischer Unternehmen
mobilisiert. Die kreditgebenden Banken werden durch
die Verbriefung ihrer Kreditforderungen eigenkapitalund bilanzmäßig entlastet, sodass Freiräume für neue
Kredite entstehen.
Davon werden auch kleine und mittlere Unternehmen
profitieren, denen wegen ihrer Größe bisher ein unmittelbarer Kapitalmarktzugang versperrt ist. Es wird ein
neues Marktsegment geschaffen, das dem Finanzplatz
Deutschland neue Impulse verleiht und eine indirekte
Kapitalmarktfinanzierung von Unternehmen in Deutschland fördert. Diese Initiative wird von den Beteiligten
am Kapitalmarkt und auch von internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds sehr begrüßt.
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass wir mit diesen beiden Gesetzen nicht alle Probleme in der Bundesrepublik Deutschland lösen werden, aber sie sind gleichwohl richtige Schritte auf dem Weg zu dem uns
gemeinsam brennend interessierenden Ziel. Wir wollen
alle, dass sich in unserer Wirtschaft ein Aufwärtstrend
abzeichnet, sich die Arbeitsmarktlage verbessert und die
Schattenwirtschaft bekämpft wird. Alle Schritte, die wir
auf diesem Weg machen, sind richtig. Deshalb hoffe ich
auf die Zustimmung des ganzen Hauses.
Vielen Dank.
({1})
Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Otto Bernhardt von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Tagesordnungspunkt geht es um zwei Gesetzesvorhaben. Das erste betrifft die Förderinstitute im Bereich
des Bundes und das zweite Kleinunternehmungen. Ich
werde meinen Beitrag auf das Thema der Förderinstitute
beschränken; zum zweiten Teil wird mein Kollege
Michelbach sprechen.
Worum geht es bei diesem Gesetz? Es geht um die
Zusammenfassung der beiden Förderinstitute im Bereich des Bundes, der Kreditanstalt für Wiederaufbau
und der Deutschen Ausgleichsbank. Dabei soll die kleinere Ausgleichsbank auf die größere KfW fusioniert
werden.
Ich habe bereits in der ersten Lesung für meine Fraktion dargestellt, dass wir diese Absicht im Grundsatz für
richtig halten. Ich will dennoch bei der abschließenden
Beratung darauf hinweisen, dass beide Institute, die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Ausgleichsbank, in ihrer etwa 50-jährigen Geschichte erfolgreiche Arbeit geleistet haben.
({0})
Der Zusammenschluss erfolgt nicht, weil eine Bank
keine gute Arbeit geleistet hätte; das muss meines Erachtens bei dieser Gelegenheit klargestellt werden.
In der letzten Legislaturperiode gab es schon einmal
Überlegungen zur Zusammenfassung. Damals sollte allerdings die KfW die Deutsche Ausgleichsbank kaufen.
Dadurch wären der Wirtschaftsförderung erhebliche
Mittel entzogen worden. Deshalb haben wir dem Vorhaben nicht zugestimmt.
Um der Redlichkeit willen muss man in dieser Sache
sagen, dass es sogar gute Argumente gibt, konkurrierende Förderinstitute im Bundesbereich zu haben. Wir
sind allerdings mit der Regierung der Auffassung, dass
die Vorteile eines Zusammenschlusses weit überwiegen.
Wir erwarten erhebliche Synergieeffekte und somit
mehr Mittel für die Wirtschaftsförderung. Wir erwarten
vor allem, dass durch den Zusammenschluss das öffentliche Förderinstrumentarium transparenter wird.
({1})
Ich habe bereits bei der ersten Lesung gesagt, dass wir
Nachbesserungen in vier Punkten erwarten: beim geplanten Namen,
({2})
bei der Zusammensetzung des Mittelstandsrates, bei der
Vertretung des Parlaments im Verwaltungsrat und bei der
Formulierung des Hausbankenprinzips.
Es war geplant, den Bereich der erweiterten KfW, der
sich mit der Mittelstandsförderung beschäftigt, Mittelstandsbank zu nennen. Wir haben von Anfang an gesagt:
Das ist ein falscher Name.
({3})
Dieser Name ist Etikettenschwindel
({4})
und erweckt beim Mittelstand den Eindruck, man könne
direkt zu dieser Bank gehen und dort entsprechende Kredite erhalten.
Unsere Kritik ist im Anhörungsverfahren von allen,
die sich dazu geäußert haben, insbesondere von den Kreditinstituten, aufgenommen worden. Ich finde es gut
- man muss es auch einmal loben, wenn sich etwas bewegt -, dass sich die Regierung
({5})
und die sie tragenden Fraktionen bewegt haben und wir
uns jetzt auf den Namen KfW-Mittelstandsbank geeinigt haben.
({6})
Damit ist für jeden Außenstehenden klar: Es handelt sich
nicht um die viel gepriesene Mittelstandsbank - das sind
in Deutschland wahrscheinlich die Sparkassen und Genossenschaftsbanken -, sondern es handelt sich um einen unselbstständigen Bereich der KfW. Da jeder weiß,
dass der Weg zur KfW über die Hausbanken führt, ist damit auch klar, dass der Weg zur KfW-Mittelstandsbank
ebenfalls über die Hausbanken führt.
Beim Mittelstandsrat hat es keine Veränderungen
gegeben. Es ist für uns auch kein sehr bedeutendes Gremium, aber auch da ist nicht drin, was draufsteht. Es ist
kein Mittelständler im Mittelstandsrat, aber wenn die
Regierung einen solchen Ausschuss bilden will und
meint, ihre Leute hätten Zeit, dort zu sitzen, soll sie ihn
einrichten. Wir lassen es daran nicht scheitern.
Dem Verwaltungsrat der KfW sollten ursprünglich
nur drei Mitglieder angehören, die vom Parlament bestellt werden. Dem haben wir widersprochen, weil dem
Bundestag vier Fraktionen angehören. Wir haben daraufhin den Antrag gestellt, vier Mitglieder zu bestellen.
Vonseiten der Regierungsfraktionen sind dann sieben
Mitglieder vorgeschlagen worden. Auch dieser Vorschlag wird an uns nicht scheitern, weil damit unser Petitum, dass alle Fraktionen im Verwaltungsrat vertreten
sein sollen, erfüllt ist. Ob es gerade sieben sein müssen,
sei dahingestellt.
Etwas komplizierter wird es bei der Frage der Beibehaltung des Hausbankenprinzips. Um es ganz klar zu
sagen: Wir sind dafür, dass sich hier nichts ändert und es
beim strikten Hausbankenprinzip bleibt. Diese Auffassung hat sich auch im Anhörungsverfahren herauskristallisiert.
Die veränderte Formulierung im Gesetz hat etwas mit
der EU und nichts damit zu tun, dass das Hausbankenprinzip ausgehöhlt werden soll. Die Regierung hat das
bei den Beratungen am Mittwoch noch einmal klargestellt. Die KfW wird eine entsprechende Erklärung abgeben, dass es natürlich beim Subsidiaritäts- und Hausbankenprinzip bleibt. Mit diesen Erklärungen sind wir
zufrieden. Deshalb werden wir keinen Änderungsantrag
in dieser Richtung stellen.
Ich vermute, dass wir das Gesetz heute sogar einstimmig verabschieden werden. Ich habe von Anfang an gesagt: Es ist gut und das war in der Vergangenheit auch
meist so, dass Gesetze, die den Förderbereich des Bundes betreffen, von einer möglichst breiten Mehrheit im
Parlament getragen werden; denn sie gelten nachher
auch für die sehr unterschiedlich regierten Länder.
Wir haben natürlich hohe Erwartungen an die erweiterte KfW. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich - auch
darüber muss man einen Satz verlieren -: Besorgnis erregend ist, wie wenig Mittel die KfW und die heute noch
davon getrennte Deutsche Ausgleichsbank - demnächst
vereint - in der letzter Zeit nur herausgeben konnten. Ich
nenne Ihnen dazu wenige Zahlen: Im Jahre 2000 belief
sich das gesamte Fördervolumen noch auf 7,5 Milliarden Euro. Im letzten Jahr waren es 6,5 Milliarden Euro.
Das ist ein Rückgang um 1 Milliarde Euro bzw. 13 Prozent.
Noch gravierender sind die Zahlen im Bereich der
Existenzgründungen. Die Höhe der zur Verfügung gestellten bzw. abgerufenen Gelder ist vom Jahre 2000 bis
zum Jahre 2002 um etwa 40 Prozent zurückgegangen.
Seit wenigen Tagen kennen wir die Zahlen für das erste
Quartal bzw. für die ersten vier Monate dieses Jahres.
Wenn wir sie mit den Zahlen des Vorjahres vergleichen,
stellen wir fest, dass der Rückgang in einzelnen Programmen bei über 50 Prozent und der durchschnittliche
Rückgang irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent liegt.
({7})
Das zeigt natürlich nicht, dass die KfW und die Deutsche Ausgleichsbank schlecht gearbeitet haben. Das
zeigt, dass sich die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch in diesem Bereich niederschlagen.
({8})
Nachdem ich vorhin ein Lob an die Regierung gegeben habe, was für einen Oppositionspolitiker nicht
selbstverständlich ist, möchte ich an dieser Stelle ein
Lob an die KfW aussprechen.
({9})
Die KfW hat auf die Situation in diesen Tagen mit zwei
sehr vernünftigen Entscheidungen reagiert. Die eine Entscheidung war, dass sie die Zinsen generell um 0,25 Prozent gesenkt hat. Das ist sicher ein Schritt in die richtige
Richtung und entspricht dem, was die europäische Notenbank für einen anderen Bereich gemacht hat.
Die zweite Entscheidung der KfW kann gar nicht
hoch genug eingeschätzt werden: Sie hat den Banken bei
der Zinsgestaltung im Fördergeschäft einen größeren
Korridor von 0,5 Prozent gelassen. Das ist wichtig, denn
mancher Förderkredit ist für die Kreditinstitute inzwischen so unattraktiv geworden, dass man von der Seite
kaum noch bereit war, in dem Sinne tätig zu werden.
Die Antwort darauf kann nicht sein, das Hausbankenprinzip infrage zu stellen. Die Antwort darauf kann nur
sein, auch diesen Bereich für die Banken attraktiver zu
gestalten. Das ist erfolgt. Insofern hoffe ich, dass die gestärkte KfW eine noch bessere Förderpolitik als in der
Vergangenheit macht. In diesem Sinne werden wir dem
Gesetz zustimmen.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wollen den Zugang von kleinen und mittleren Unternehmen zu geeigneten Finanzierungsinstrumenten fördern.
Ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, das
zu unserem gemeinsamen Anliegen zu machen.
Ganz oben auf der Agenda steht deshalb die Schaffung eines klaren und transparenten Förderangebotes des
Bundes und eines zielgruppenspezifischen Beratungsangebotes. Ich halte es für sehr wichtig, uns genau zu überChristine Scheel
legen, welche Zielgruppen wir wie fördern wollen und
wie wir sie am besten erreichen. Wir geben der KfW
durch dieses Gesetz eine zukunftsweisende, aber auch
europakonforme Struktur, eine Struktur, die sie benötigt,
um den veränderten Finanzierungsbedürfnissen gerade
der kleinen und mittleren Unternehmen gerecht werden
zu können.
Bislang gibt es auf Bundes-, aber auch auf Landesebene eine große Vielzahl von Förderinstrumenten
und Förderprogrammen. Selbstverständlich sind sowohl die KfW als auch die DtA - Herr Bernhardt, ich
kann nur unterstützen, was Sie gesagt haben - ihren Aufgaben in den letzten Jahren hervorragend nachgekommen. Wir mussten aber auch feststellen, dass sich sehr
viel an Wissen und an Ressourcen, was in beiden Banken vorhanden ist, nebeneinander entwickelt hat. Das ist
nicht unbedingt so effizient ausgestaltet, wie es sein
könnte.
({0})
Deswegen ist es gut, dass wir nun diesen Entwurf eines
Förderbankenneustrukturierungsgesetzes vorlegen können.
({1})
Die DtA hat im Bereich der Gründungs- und
Wachstumsfinanzierung sehr viel getan. Ich erinnere
nur an das Startgeld, an Mikrodarlehen und an Bürgschaftsprogramme, die vor allen Dingen für die mittelständischen Unternehmen durchaus attraktiv sind. Aber
auch bei der KfW stehen die kleinen und mittleren Unternehmen, die an den Kreditzusagen einen Anteil von
etwa 87 Prozent haben, im Zentrum des Förderinteresses.
Es ist unvermeidlich, dass es - so war es jedenfalls
bislang - zu Überschneidungen zwischen den Programmen kommt. Auch kommt es ab und zu zu schwierigen
Auswahlprozessen und in den Antragsverfahren damit
zu Effizienzverlusten, was wir auf diesem Wege beheben
werden. Die Programme werden neu strukturiert, Überschneidungen werden beseitigt, Prozesse werden gestrafft. KfW und DtA werden ihr Wissen bündeln und
ihre Ressourcen in einem sehr einheitlichen, effizienten
und übersichtlichen Förderangebot zusammenführen.
Gründer und Gründerinnen werden es in Zukunft leichter haben, die richtige Förderung zu finden; die neue
Mittelstandsbank wird ihnen dabei helfen.
Wichtig ist, dass die KfW - das haben wir in den Ausschussberatungen gemeinsam so beschlossen - am bewährten Hausbankprinzip festhält; das wird in dem Bericht bekräftigt. Dies wird sie durch eine so genannte
Selbstverpflichtung noch einmal unterstreichen. Für die
Banken und Sparkassen wird es bei der Mittelstandsförderung nur noch einen Ansprechpartner geben. Dadurch
werden die Wege klarer, die gegangen werden können.
Ich denke, dass im Zuge dieses Zusammenschlusses
auch die Kreditbearbeitungskosten für Förderkredite sinken können. Aber es gibt noch andere Anreizmöglichkeiten. Ich denke zum Beispiel an risikoabhängige Margen für die durchleitenden Banken und vieles mehr. Es
gibt also ein großes Potenzial für unsere Unternehmen.
Daneben müssen selbstverständlich auch die Förderinstrumente weiterentwickelt werden - ich denke, das
ist sinnvoll -, um die Synergien aus der Verschmelzung
voll auszunutzen. Dabei geht es nicht nur um wichtige
Innovationen wie Globaldarlehen und Verbriefungen, es
geht auch um etablierte Instrumentarien wie zinsverbilligte Programmkredite, Eigenkapitalfinanzierungen und
vieles mehr, die weiterentwickelt werden müssen. Das
müssen wir übrigens auch steuerlich sinnvoll begleiten.
Das ist keine Frage. Alles zusammengenommen sind es
klare und übersichtliche Förderprogramme für die Kreditnehmer und Kreditnehmerinnen, kostengünstige und
effiziente Abwicklungsverfahren für die durchleitenden
Banken und Sparkassen und bedarfsgerechte und innovative Förderinstrumente.
Ich glaube, wir haben hier etwas Gutes und Werbewirksames geschaffen. Ich verstehe nicht so recht, warum Sie gesagt haben, dass der Begriff „Die Mittelstandsbank“ irreführend sei. Ich glaube, jeder
Mittelständler und jede Mittelständlerin weiß, dass es
hier Geld für ihn bzw. sie gibt. Den Zugang erhalten sie
aufgrund des entsprechenden Prinzips aber natürlich nur
über die Hausbank. Ich glaube schon, dass die Unternehmen sehr gut wissen, wie sie damit umzugehen haben.
Aber gut, wir haben uns auf die Bezeichnung „KfW-Mittelstandsbank“ verständigt. Das ist in Ordnung; darüber
müssen wir jetzt nicht mehr reden. Ich wollte mir diesen
Schlenker aber nicht ganz ersparen.
({2})
Daneben werden wir mit diesem Gesetz die so genannte Monti-II-Vereinbarung umsetzen und der KfW,
die auch künftig Export- und Projektfinanzierungen
durchführen wird, somit eine EU-konforme Struktur geben. Dazu wird sie eine Tochter gründen, die im freien
Wettbewerb steht und voll der Steuerpflicht unterliegt.
Ich möchte nicht, dass irgendwo in der Öffentlichkeit ein
falscher Eindruck entsteht.
Deshalb war es für uns besonders wichtig, dass Nachhaltigkeitskriterien für diese Finanzierung klar verankert
sind. Mit dem Entschließungsantrag haben wir das noch
einmal unterstrichen; wir haben darüber auch im Finanzausschuss beraten. Es ist völlig klar, dass Umweltrisiken
immer auch Kredit- und Bonitätsrisiken sind.
({3})
Herr Präsident, erlauben Sie mir, noch zwei ganz
kurze Punkte anzusprechen.
Durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz haben
wir den Verbriefungsmarkt in Deutschland neu eröffnet;
auch das ist ein Erfolg. Die Banken und Sparkassen erhalten so bessere Möglichkeiten, ihre Kredite durch Verbriefung zu refinanzieren.
Daneben haben wir - das ist der zweite kurze Punkt durch das Kleinunternehmerförderungsgesetz für eine
verringerte Bürokratie und für geringere Steuerlasten
in der Startphase nach der Neugründung gesorgt. Das ist
gut und stellt einen weiteren Baustein für die Förderung
von Existenzgründungen dar. Es handelt sich praktisch
um eine Ausweitung der Möglichkeiten für die Menschen, die sich selbstständig machen wollen. All das gehört dazu, um auf dem Arbeitsmarkt neue Möglichkeiten
zu schaffen. Als nächster Baustein wird der „Masterplan
Bürokratieabbau“ folgen. So werden wir in Deutschland
vorankommen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas
Pinkwart von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Zusammenhang mit der Fusion der DtA auf
die KfW möchte ich für die FDP-Fraktion die bisherige
besondere Rolle der Deutschen Ausgleichsbank auf dem
Gebiet der Gründungsfinanzierung hervorheben.
Da die Deutsche Ausgleichsbank und die Kreditanstalt für Wiederaufbau in gewissem Umfang bislang
auch miteinander in Konkurrenz standen, hat dies die Innovations- und Leistungskraft der öffentlichen Gründungsförderung beflügelt. Mit unserer Zustimmung zu
dem im Zuge der Ausschussberatungen verbesserten Gesetzentwurf verbinden wir daher die besondere Erwartung, dass dieses für die wirtschaftliche Dynamik wichtige Geschäftsfeld auch in dem fusionierten Institut mit
gleicher Priorität gepflegt und weiter ausgebaut wird.
({0})
Die fusionsbedingten Synergieeffekte sollten besonders
zur Stärkung dieses Bereiches verwendet werden. Finanzinnovationen, wie sie etwa durch die tbg als Tochtergesellschaft der DtA in der Vergangenheit hervorgebracht worden sind, sollten in Zukunft weitergeführt und
fortentwickelt werden.
({1})
Der andere Gesetzentwurf, der uns vorliegt, das von
der Bundesregierung und der Koalition so bezeichnete
Kleinunternehmerförderungsgesetz, sollte aus unserer
Sicht seinem Kernbereich entsprechend zutreffender
doch als Sondersteuergesetz für einen kleinstmöglichen
Personenkreis von Mikroselbstständigen bezeichnet
werden. Mit Ausnahme der zudem halbherzigen Anpassung der Betragsgrenzen für die Buchführungspflicht
und der Beschränkung der Hinzurechnung von Dauerschuldzinsen für Zweckgesellschaften, durch die der
Markt für so genannte Asset Backed Securities am Finanzplatz Deutschland erschlossen werden soll, kann der
vorliegende Gesetzentwurf auf die einfache Formel gebracht werden: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
({2})
So verstößt dieser Gesetzentwurf selbst gegen zwei von
der Bundesregierung öffentlich lautstark vertretene Forderungen nach einem umfassenden Bürokratie- und
Subventionsabbau.
Herr Bundesminister Eichel hat noch am Mittwoch im
Finanzausschuss nachdrücklich bekräftigt, es müssten
sämtliche Subventionen, und zwar nicht nur auf der Ausgabenseite, sondern auch im steuerlichen Bereich, auf
den Prüfstand. Gleichzeitig legen Sie heute dem Parlament einen Gesetzentwurf vor, der einen kleinen Personenkreis in unverhältnismäßiger Weise begünstigt und
zudem Mitnahmeeffekte ermöglicht.
({3})
Statt das Steuerrecht insgesamt für alle Unternehmen und
Arbeitnehmer zu vereinfachen, erhöhen Sie damit den
Subventionsberg um weitere 300 bis 400 Millionen Euro
pro Jahr, ohne dass dadurch ein zusätzlicher wettbewerbsfähiger Arbeitsplatz in Deutschland entstehen
würde.
({4})
Der damit in Aussicht gestellte Bürokratieabbau erweist sich zudem als Bumerang. So bringen die Vorschriften für die Mehrzahl der wenigen, die durch die
Einführung der Regelung begünstigt werden sollen, einen erheblichen Bürokratiemehraufwand.
({5})
Um in die Gunst des Vorteils zu gelangen, muss der
Steuerpflichtige seinen Gewinn in zweifacher Weise ermitteln, um überhaupt abschätzen zu können, welche
Methode für ihn günstiger ist. Zudem muss selbst bei Inanspruchnahme der pauschalen Gewinnermittlung eine
Schattenbuchführung erfolgen, um die Einhaltung der
unterschiedlichen Grenzbeträge, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen haben, zu kontrollieren.
Fazit: Wir hoffen, dass in diesem Gesetz nur die
vernünftigen Elemente, die Sie insbesondere in Art. 4
formuliert haben, im weiteren Gesetzgebungsverfahren
verwirklicht werden und darüber hinaus endlich Maßnahmen zu einer wirksamen Steuervereinfachung und
-entlastung Platz greifen. Hierzu zählt vor allem eine
echte Gemeindefinanzreform, die den Kreis der Gewerbesteuerzahler nicht noch erweitert, sondern endlich
zur Abschaffung der bürokratielastigen und konjunkturanfälligen Gewerbesteuer führt, nicht nur für den kleinen
Personenkreis, den Sie heute definiert haben, sondern für
alle Unternehmen in Deutschland. Das würde dem Mittelstand helfen und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! In unserem Land gibt es viele innovative
und leistungsfähige Menschen, völlig unabhängig von
ihrem Alter, ihrem Geschlecht und ihrer Nationalität.
Aber leider stehen viele dieser Menschen außerhalb der
Arbeitswelt oder sind an Stellen eingegliedert, an denen
sie ihre Fähigkeiten nicht voll entfalten können. Was
liegt also näher, als diesen Menschen unter die Arme zu
greifen und ihnen zu helfen, einen eigenen Weg zu gehen?
Doch aufgrund vieler bürokratischer Hürden scheuten
bisher viele Menschen die Inanspruchnahme dieser
Möglichkeit. Grund sind die bürokratischen Hürden, die
im Bund durch 16 Jahre CDU/CSU-Regierung und
29 Jahre FDP-Mitregierung kontinuierlich aufgebaut
wurden. Diese bürokratischen Hürden machen aber auch
in den einzelnen Bundesländern den innovativen Menschen das Leben schwer und existieren nicht unbedingt
aufgrund der Gesetzeslage.
Ich komme aus Sachsen und kann davon ein Lied singen. Dass auch in Sachsen Ausnahmen möglich sind,
kann man derzeit am Beispiel der CDU-Sozialministerin
Christine Weber sehen. Hier wurden bürokratische Hürden einfach tiefer gelegt, damit Frau Weber noch schnell
Fluthilfegelder für Regenwasserschäden bekommen
konnte. Als Mitglied des Kabinetts wusste sie, dass sich
der Freistaat Sachsen gegen die Anerkennung von Regenwasserschäden ausgesprochen hatte. Also war Eile
geboten. Bei allen anderen Anträgen mit gleicher Sachlage - auch von Mittelständlern und Kindergärten wurde erst geprüft und vor Ort kontrolliert. Somit entfiel
die Förderung, weil mittlerweile durch die Veränderung
der Verwaltungsvorschrift in Sachsen Regenwasserschäden nicht mehr als Flutschäden anerkannt wurden. Man
sieht also: Nicht immer ist die Gesetzeslage der Grund
für eine langsame Bearbeitung oder eine aufgeblähte Bürokratie.
Aber da nicht alle über die Möglichkeiten der sächsischen Sozialministerin verfügen, will die Bundesregierung, unterstützt durch die rot-grüne Koalition, mit dem
Kleinunternehmerförderungsgesetz neben anderen Maßnahmen auch Bürokratie allgemeinverbindlich abbauen.
Gerade Menschen, die sich entschließen, sich selbstständig zu machen, brauchen Unterstützung. Sie brauchen
anfangs ihre ganze Zeit und Kraft für die Akquirierung
von Aufträgen, nicht für die Befriedigung des Finanzamtes.
Deshalb haben wir unter anderem eine vereinfachte
Gewinnermittlungsmöglichkeit für Existenzgründer
und Kleinunternehmer geschaffen. Nach der Vereinfachungsregelung darf der Kleinunternehmer pauschal die
Hälfte seiner Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben
abziehen. Der unter die Regelung fallende Steuerpflichtige muss lediglich seine Betriebseinnahmen einschließlich seiner Entnahmen aufzeichnen und wird von weiter
gehenden Steueraufzeichnungspflichten entlastet. Damit
möglichst viele davon profitieren, haben wir die Grenzen
erheblich angehoben: die Umsatzgrenze von bisher
260 000 Euro auf 350 000 Euro, die Wirtschaftswertgrenze von bisher 20 500 Euro auf 25 000 Euro und die
Gewinngrenzen von bisher 25 000 Euro auf 30 000 Euro.
Die FDP ist in ihrem Antrag der Meinung, das Gesetz
sei nicht geeignet, Existenzgründer oder kleine Betriebe
zu fördern. Aber schon einen Satz später kommen Sie zu
der Erkenntnis, dass sich Vorteile für einen eingeschränkten Personenkreis ergeben. Was denn nun:
nicht geeignet oder doch geeignet?
Sie beziehen sich in Ihren weiteren Ausführungen
auch auf die Anhörung. Allerdings war auch bei dieser
Anhörung das Problem, dass es sich augenscheinlich
viele Experten nicht vorstellen konnten, dass man sich
mit wenig Anschaffungen, wenig Betriebsausstattungen
und wenig Kapital sehr wohl selbstständig machen kann.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass
es schon viele sind: all die Freizeithandwerker, die mit
ihrem Werkzeug unterwegs sind, die Frisösen, die Hausbesuche machen, oder die kreativen Frauen und Männer,
die mit wenig Material gefragte Artikel herstellen und
im Internet vertreiben.
Warum soll man diesen Menschen nicht eine Brücke
bauen, sie aus der Schwarzarbeit herausholen und ihnen
die Möglichkeit geben, sich mit ihren Fähigkeiten eine
legale und auskömmliche Existenz aufzubauen?
({0})
Wenn das Geschäft gut läuft, die Betriebe expandieren
und sich vergrößern, dann ist das zwar sehr begrüßensund wünschenswert, aber wir dürfen doch nicht so tun,
als gebe es nicht die Kleinen, die es nie über die genannten Grenzen hinaus schaffen werden. Denen ermöglichen wir eine möglichst unbürokratische selbstständige
Existenz, die sie unter der jetzigen, von Ihnen übernommenen Gesetzeslage nicht in Betracht ziehen.
Sie zielen immer wieder auf Steuerentlastungen ab.
Schauen Sie sich doch einmal die Einkommensteuersätze in Ihrer Regierungszeit an! Bei Ihnen lag der Eingangssteuersatz bei 25,9 Prozent, wir haben ihn auf
19,9 Prozent gesenkt und senken ihn weiter auf
15 Prozent.
Herr Professor Pinkwart hat den Abbau von Subventionen angesprochen. Ich frage mich, warum das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Bundesrat blockiert worden ist. Dort ging es um den Abbau von Subventionen.
({1})
Damit haben Sie den Kommunen Beträge in Milliardenhöhe verweigert. Diese Mittel stehen den kommunalen
Vertretungen nun nicht zur Verfügung. Sie helfen damit
auch dem Mittelstand nicht, weil Aufträge nicht ausgelöst werden können. Vielleicht sollten Sie sich das das
nächste Mal überlegen, bevor Sie im Bundesrat wieder
blockieren, damit Sie nicht später genau das fordern, was
schon im Gesetzentwurf stand. Das ist unlogisch und
wird auf lange Zeit nicht tragbar sein.
({2})
Wir wollen mit unserem Gesetz den Kleinunternehmern und Mittelständlern helfen und die Finanzausstattung der Unternehmer verbessern. Wir passen uns an andere Länder an, in denen es schon längst üblich ist, dass
die Liquidität der Kreditinstitute verbessert wird, indem sie Kreditforderungen verbriefen und durch Zweckgesellschaften am Kapitalmarkt platzieren. Damit wird
der Nachteil beseitigt, dass auf bestimmte Fremdmittel
zu zahlende Entgelte als Dauerschuldzinsen erfasst werden. Das verbessert die Finanzierungsbedingungen der
Wirtschaft, weil den Unternehmen mehr Kapital zur Verfügung steht und die Banken eine bessere Eigenkapitalbasis bekommen. Eventuelle Umgehungstatbestände und
Missbrauch werden schon allein dadurch vermieden,
dass nur Kapital anerkannt wird, das tatsächlich ausgeliehen wird. Andere übliche betriebliche Transaktionen
werden nicht berücksichtigt.
Nicht unerwähnt lassen will ich die finanziellen Auswirkungen. Denn zugunsten der Kleinunternehmen verzichten wir im Jahr 2003 auf Steuereinnahmen in Höhe
von 264 Millionen Euro und bis zum Jahr 2006 wird sich
diese Summe auf 390 Millionen Euro erhöhen. Ich
denke, das sollte es uns wert sein. Ich bitte daher alle,
den Kleinunternehmern und Mittelständlern diese Unterstützung nicht zu verwehren, und hoffe auf Ihre Zustimmung.
({3})
Das Wort hat der Herr Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel: Die wirtschaftliche Lage
des Mittelstands hat sich auch im Frühjahr 2003 nicht
verbessert, sondern weiter verschlechtert.
Wenn man diese Debatte verfolgt, meint man, beim
Mittelstand sei alles in Butter. Aber das Gegenteil ist der
Fall.
({0})
Lediglich 21 Prozent der Mittelständler beurteilen ihre
Geschäftslage noch als gut. Viele haben das Gefühl, dass
es nicht mehr vorwärts geht. Vor allem die Existenzgründer und Kleinunternehmer sind von dieser Abwärtsentwicklung hart betroffen. Die Zahl der Neugründungen
sank im Vergleich zum Vorjahr um 4 Prozent. Angesichts der verschlechterten Umsatz- und Ertragssituation
ist die Zahl der Insolvenzen auf 40 000 gestiegen. Das
entspricht einer Zunahme um 17 Prozent und ist ein bisher einmaliger Negativrekord. Gegenwärtig geht in
Deutschland alle 15 Minuten ein Unternehmen Pleite.
Allein dadurch werden mehrere Hunderttausend Arbeitsplätze vernichtet.
Die wirtschafts- und finanzpolitische Lage ist sehr
ernst. Es gibt kein Signal für einen Aufschwung. Wenn
wir nicht aufpassen, entwickelt sich diese Wirtschaftskrise zu einer Politikkrise, weil die Menschen an der Politik verzweifeln. Wenn sie hier eine Debatte verfolgen,
in der alles in Watte gepackt und nichts differenziert
wird, dann verlieren sie sicherlich den Glauben an die
Politikfähigkeit.
({1})
Der vorgestellte Entwurf des Förderbankenneustrukturierungsgesetzes allein kann das Problem nicht lösen.
Denn bei allen Schalmeienklängen, die hier ertönen: Es
fehlt der zielführende ordnungspolitische Rahmen der
sozialen Marktwirtschaft. Es fehlen das Vertrauen
der Konsumenten und die Planungssicherheit der Investoren. Das ist das Ergebnis einer rot-grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die gegen den Mittelstand gerichtet ist. Rot-Grün ist und bleibt nichts anderes als ein
Mittelstandsvernichtungsprogramm.
({2})
Aber der Mittelstand wird sich auch durch noch so schön
verpackte Gesetze nicht mehr täuschen lassen.
({3})
Wir erleben in diesen Wochen geradezu einen gesellschaftspolitischen Generalangriff von Rot-Grün auf die
Selbstständigen.
({4})
Der Irrweg der Bundesregierung zulasten der mittelständischen Wirtschaft führt von den Wettbewerbsverzerrungen der Ich-AG zur Zerschlagung der Handwerksordnung, zur Einführung einer Ausbildungsteuer, zur
Erhöhung der Erbschaftsteuer, zur Revitalisierung und
Erhöhung der Gewerbesteuer und zur immer weiteren
Zunahme der Lohnnebenkosten, zu Steuer- und Bürokratielasten. Diese Liste der Marterinstrumente gegen den
Mittelstand ließe sich jederzeit verlängern.
({5})
Dieser Kurs ist ein Crashkurs gegen den Mittelstand.
({6})
Weder die Agenda 2010 noch die großsprecherischen
Einzelaktionen unter dem Titel „Mittelstandsförderung“
bieten einen zufrieden stellenden Lösungsansatz. Sie jagen sozusagen jede Woche eine neue Worthülse durch
das Regierungsviertel.
Heute soll es ein halbherziges, völlig unzureichendes
Kleinunternehmerförderungsgesetz richten. Nur die Förderbankenneustrukturierung und die Asset-Backed-Security-Gesellschaften und -Transaktionen
({7})
sind von der Union mit zu tragen.
Das Kleinunternehmerförderungsgesetz zeigt: Die
rot-grüne Flickschusterei geht weiter. Teilweise ist nur
eine Scheinförderung vorgesehen. Hinter dem großsprecherischen Etikett der Mittelstandsförderung verbirgt
sich eher ein Etikettenschwindel als eine wirkliche Förderung.
({8})
Ich versichere Ihnen aus meiner praxisnahen Erfahrung:
({9})
Das Kleinunternehmerförderungsgesetz, das heute verabschiedet wird, ist nicht in der Lage, den Rückgang der
Zahl von Existenzgründungen aufzuhalten und die Eindämmung der Schattenwirtschaft zu erreichen sowie die
Überforderung der kleinen und mittleren Betriebe und
den Anstieg der Insolvenzzahlen zu verhindern. Diesen
Anspruch erfüllt das Gesetz bei weitem nicht. Es verkennt den gewaltigen Reformbedarf für mehr Wachstum und Beschäftigung. Es verkennt auch den ganzheitlichen Förderungsbedarf im Mittelstand und den
Handlungsbedarf insbesondere für eine grundsätzliche
Vereinfachung des Steuersystems. Es verkennt zudem,
dass nur mit einer erheblichen Reduzierung der Bürokratiebelastung für alle Unternehmen und Bürger das
wirtschaftliche Wachstum verstärkt und neue Beschäftigung geschaffen werden kann.
Mit dem Kleinunternehmerförderungsgesetz versucht
die Regierung - wieder einmal erfolglos -, an Symptomen herumzukurieren. Es werden aus ideologischen
Gründen falsche Weichenstellungen vorgenommen. Dieses Gesetz wird weitere Wettbewerbsverzerrungen in
unserem Land hervorrufen. Sie sind in der Wirtschaftspolitik völlig von der Rolle; denn es kann doch nicht sein,
dass ein Handwerksmeister mit Mitarbeitern keine Aufträge mehr bekommt, weil sein ehemaliger Geselle, der
nebenan eine Ich-AG mit staatlicher Förderung gegründet
hat, sie ihm alle wegnimmt. Das ist doch ein Widerspruch. Das entspricht allenfalls dem rot-grünen Gesellschaftsbild. Aber die Etablierung von Selbstständigkeitstagelöhnern anstelle stabiler Existenzen kann doch nicht
allen Ernstes unser Weg in die wirtschaftspolitische Zukunft sein.
({10})
Die Leistungsträger und nicht die ideologischen Selbstständigkeitsvorstellungen von Rot-Grün sollten gefördert werden. Es sollte Freiraum für alle Betriebe und
weniger staatliche Bevormundung geben. Durch Luftbuchungen, Worthülsen und Scheinförderung lässt sich
die Situation jedenfalls nicht verbessern.
Für wen ist dieses Gesetz eigentlich gedacht?
99 Prozent der mittelständischen Existenzen haben nur
eine Nettoumsatzrendite von bis zu 10 Prozent. Sie sehen nun einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug
von 50 Prozent der Betriebseinnahmen vor. Davon profitiert der größte Teil des Mittelstandes nicht. Das weckt
bei Existenzgründern außerdem völlig falsche Erwartungen; denn einen pauschalierten Betriebsausgabenabzug von 50 Prozent können die meisten Unternehmen
gar nicht in Anspruch nehmen. Bei diesen machen nämlich die Betriebsausgaben mehr als 50 Prozent des „Gewinns“ aus. Das Gesetz nützt nur einem gewerblichen
Nebenberufstätigen, der vielleicht in einer Behörde sitzt,
dort keine eigenen Kosten hat und von einem entsprechenden Gewinn träumt, oder nützt einem Ich-AGler,
der sein Gewerbe schnell auf- und wieder zumacht. Wer
kann denn als Selbstständiger so viel Gewinn erwirtschaften, um einen 50-prozentigen Betriebsausgabenabzug zu nutzen? Das können doch hauptsächlich nur die
von Rot-Grün geförderten Pseudoselbstständigen sein,
die große Wettbewerbsverzerrungen hervorrufen werden. Sie fördern nicht die gesunden Betriebe, sondern
ideologische Maßnahmen wie die Ich-AG. Eine solche
Einzelbegünstigung im Steuerrecht hat es in dieser Form
in Deutschland noch nicht gegeben. Sie sollten stattdessen eine zielführende Gesamtsteuerreform machen.
Heute kam die Tickermeldung, dass Bundesfinanzminister Hans Eichel nach einem Vorabbericht des Magazins „Focus“ erwäge, die für 2005 geplante dritte
Stufe der Steuerreform um ein Jahr vorzuziehen. Dazu
kann ich nur sagen: Das ist überfällig. Machen Sie das
endlich und dementieren Sie nicht mehr!
({11})
Die Wirtschaft und insbesondere der Mittelstand brauchen einen solchen Impuls. Unsere Arbeitnehmer brauchen mehr Freiraum. Diese wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahme ist längst überfällig. Es ist aber
kontraproduktiv, wenn der Bundesfinanzminister in der
Sitzung des Finanzausschusses in dieser Woche gleichzeitig ankündigt, 41 Steuererhöhungen von der Giftliste
des Steuervergünstigungsabbaugesetzes wieder hervorholen zu wollen, genauso wie die Ankündigung der
SPD, man wolle wieder eine Vermögensteuer einführen
und die Erbschaftsteuer erhöhen.
({12})
Machen Sie endlich reinen Tisch! Ziehen Sie endlich
die dritte Stufe der Steuerreform wie angekündigt vor
und dementieren Sie nicht wieder! Ich hoffe, dass Sie das
schaffen werden und dass Sie nicht jede Woche eine neue
Steuersau durch unser Land treiben werden. Machen Sie
eine klare Steuerpolitik, keine Einzelvorschriften!
Herzlichen Dank.
({13})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Sigrid SkarpelisSperk von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich erspare mir, auf die Rede des Kollegen
Michelbach einzugehen;
({0})
denn alle anderen Reden insbesondere zum Förderbankenneustrukturierungsgesetz haben erfreulicherweise erkennen lassen, dass es in diesem Haus einen Konsens
gibt.
Es ist auch wichtig, dass wir diesen Konsens erreicht
haben und diesen Teilschritt gehen. Angesichts einer
Schwächephase von Wirtschaft, Arbeitsmarkt,
({1})
einer deutlich rezessiven Entwicklung und nicht geringen Problemen auf den Kreditmärkten sind dieses Gesetzeswerk und diese Fusion ein wichtiger Teilschritt, um
die Kreditversorgung und die Finanzierungsbedingungen gerade für kleine und mittlere Unternehmen
zu verbessern, die in einer solchen Situation natürlich
deutlich angespannt sind.
Diese Schwierigkeiten sind von der Europäischen
Zentralbank übrigens lange heruntergespielt worden.
Themen wie die Kreditklemme oder der Credit Crunch,
wurden vom Sachverständigenrat und anderen wissenschaftlichen Beratungsgremien lange nicht zur Kenntnis
genommen. Jetzt aber ist diese Kreditklemme und die
Tatsache, dass die Finanzinstitutionen und die Banken
bei der Vergabe von Krediten und Beteiligungskapital
immer vorsichtiger werden allen offenbar. Umso wichtiger ist jede Maßnahme, die die monetären Bedingungen
für die Volkswirtschaft und die Unternehmen verbessert.
Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle anzumerken, dass der gestrige Zinsschritt der Europäischen
Zentralbank überfällig war und dass es uns gefreut hätte,
wenn er früher gekommen und mutiger ausgefallen
wäre.
({2})
Deutschland bringt insbesondere wegen seiner sehr
niedrigen Preissteigerungsraten auch jetzt noch, nach
diesem Zinsschritt, ein deutliches Stabilitätsopfer für den
Euro und - das muss man deutlich sagen - das geht zulasten der Dynamik und der Wachstumsmöglichkeiten
der deutschen Wirtschaft. Das werden wir auch über öffentliche Förderkredite nicht ausgleichen können.
({3})
Auch dieser Schritt der Europäischen Zentralbank
wird die tief greifenden Veränderungsprozesse in denen
sich die Angebotsseite des Markts für Finanzierungen
befindet, nicht aufheben können. Der scharfe Wettbewerb im deutschen Bankwesen, das im Vergleich anderer
Länder ein dichtes Zweigstellennetz mit hohen Kosten
hat, ist die eine Seite der angespannten Lage. Die andere
Seite ist, dass die hohen Gewinne der Boom-Phasen in
den 90er-Jahren nicht zur Lösung der Strukturprobleme
der Banken genutzt worden sind. Stattdessen wurden
schwerwiegende Fehler gemacht, die nun voll auf den
Bilanzen lasten. Im Kreditgeschäft mussten die Banken
steigende Ausfälle verkraften. Es schlägt sich auch in einer sehr viel restriktiveren Kreditvergabe nieder. Das
bedeutet, dass die Kreditinstitute die Risikostruktur ihrer
Ausleihungen massiv verbessern und ihre Kreditportfolios insgesamt sehr deutlich herunter fahren - zulasten
der kleinen und mittleren Unternehmen, die deutliche
Einschränkungen bei der Vergabe und strengere Anforderungen bei der Offenlegung ihrer Geschäfte und beim
Controlling hinnehmen müssen. Auch ihre Eigenkapitalausstattung wird unerbittlich und viel kritischer als bisher geprüft. Die Risikoprämien in den Zinskonditionen
steigen ebenfalls deutlich. Die Zeiten der Durchschnittskalkulation im Kreditgeschäft sind vorbei.
Auch auf der Kapitalmarktseite vollziehen sich große
Veränderungen, die die Finanzierungsbedingungen nicht
positiv für den gesamten deutschen Mittelstand beeinflussen werden. Ein wichtiger und hilfreicher Schritt in
diesem Prozess ist die Disintermediation: Ein Teil des
Bankgeschäfts ist nicht mehr Kreditgeschäft, sondern Investmentbanking; ein Teil der Zinsgewinne wird Provision.
In dieser Zeit gravierender Strukturveränderungen der
Finanzsphäre hat die neu fusionierte Förderbank gewichtige bzw. neue Aufgaben:
Es geht erstens darum, die beim Wiederaufbau, bei
der Wachstumsfinanzierung Westdeutschlands und beim
Prozess der deutschen Einheit bewährten Förderinstrumente in schwierigen Zeiten fortzuführen und auch weiterzuentwickeln.
({4})
Zum Zweiten muss die Förderbank den Sparkassen
und Banken helfen, sich zu refinanzieren und so den
Mittelstand weiter angemessen zu finanzieren. Gerade
dann, wenn die Kreditkanäle - darauf weist der Internationale Währungsfonds hin - nicht nur in Deutschland,
sondern europa- und weltweit unter Stress stehen, ist es
wichtig, mit Instrumenten wie Globaldarlehen und Verbriefungsprogrammen gerade den mittleren und kleineren Instituten gangbare Wege zur Ausweitung ihrer Kreditausreichungsmöglichkeiten anzubieten.
({5})
Die Senkung der Bearbeitungs- und Prozesskosten sowie die Herstellung größerer Transparenz bei den Förderprogrammen werden bei der neu fusionierten Bank
jetzt schon angegangen - Gott sei Dank im Vorgriff auf
das Gesetz, das wir heute verabschieden. Das ist notwendig. Ich freue mich, dass alle diese Schritte von allen
Fraktionen in diesem Haus voll und ganz mitgetragen
werden.
Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden; aber
es bleibt auch noch vieles zu tun, gerade bei der Beteiligungsfinanzierung, die neben dem Bankkredit die wichtigste Finanzierungsquelle kleinerer und mittlerer Unternehmen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich zum
Abschluss ein warnendes Wort sagen. Wir haben im
Unterausschuss „ERP“ heute früh die Probleme der Beteiligungsfinanzierung diskutiert. Vieles, was mit hohen
Risiken verbunden ist, wird nicht zulasten des Bundeshaushalts finanziert werden können.
Wenn die Eigenkapitalausstattung vieler kleiner
und mittlerer Unternehmen so bleibt, wie sie ist, dann
muss man sich auch fragen, ob das deutsche Steuer-, Unternehmens-, Bilanz- und Insolvenzrecht nicht dazu
führt, dass Vermögenswerte nicht als Eigenkapital in Unternehmen gesteckt, sondern in der privaten Sphäre gehalten werden.
({6})
Dies werden die Förderbanken durch die ihnen zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel nicht ausgleichen
können. Wir werden uns vielmehr überlegen müssen,
wie wir dieses Problem gemeinsam lösen können.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe
von Gesetzen zur Neustrukturierung der Förderbanken
des Bundes auf den Drucksachen 15/743, 15/902 und
15/949. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1127, die
genannten Gesetzentwürfe als Gesetz zur Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Ich stelle
fest, dass dieser Gesetzentwurf auch in dritter Lesung
einstimmig angenommen ist.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1127 empfiehlt der Ausschuss die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b: Abstimmung über die von
den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen sowie der Bundesregierung eingebrachten
Entwürfe von Gesetzen zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung, Drucksachen 15/537 und 15/900. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/1042, die genannten Gesetzentwürfe als
Gesetz zur Förderung von Kleinunternehmern und zur
Verbesserung der Unternehmensfinanzierung in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion der CDU/CSU
verlangt dazu getrennte Abstimmungen.
Wir kommen deshalb zunächst zu Art. 1 bis Art. 3 in
der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die diesen
Artikeln zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind Art. 1
bis Art. 3 mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Wir kommen zu Art. 4 in der Ausschussfassung. Ich
bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich
enthalten? - Damit ist dieser Artikel einstimmig angenommen.
Wir kommen zu Art. 5 bis 9 sowie zur Einleitung und
Überschrift in der Ausschussfassung. Diejenigen, die
diesen Artikeln und diesen Teilen des Gesamtpakets zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind auch
diese Artikel sowie Einleitung und Überschrift mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf im Ganzen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1116? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mehrheitlich abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1046? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Auch dieser Entschließungsantrag ist
bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold
Vaatz, Ulrich Adam, Günter Baumann, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Bereinigung von SED-Unrecht ({0})
- Drucksache 15/932 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dieses Jahr ist ein besonderes Jahr. Wir begehen
in diesem Jahr ein Jubiläum, und zwar das Jubiläum des
Volksaufstandes in der damaligen DDR am 17. Juni
1953.
Ich möchte heute als Einstieg Ihre Aufmerksamkeit
auf die damaligen Akteure lenken. Wer waren denn die
Leute, die damals auf der Stalinallee in Berlin, aber auch
in vielen anderen Städten Ostdeutschlands auf die Straße
gegangen sind, zuerst die Rücknahme der Normerhöhungen und dann den Rücktritt der Regierung gefordert haben? Das waren Menschen, die damals schon einiges
hinter sich hatten: Sie sind mit 18 oder 20, etliche schon
mit 16, in den Zweiten Weltkrieg gejagt worden und haben dort Dinge erlebt, die sie im Laufe ihres Lebens
kaum verarbeiten konnten. Sie haben Tod und Elend gesehen und kamen, als sie nach Deutschland zurückkehrten, in ein Land, in dem alles in Trümmern lag.
Die Leute, die aus der Gefangenschaft wieder in ihre
ostdeutsche Heimat zurückgekehrt sind, hätten natürlich
auch gern ein neues Leben nach den Regeln einer sozialen Marktwirtschaft begonnen. Es war ihnen nicht möglich. Sie sahen sich mit einer ihnen schon bekannten Situation konfrontiert: Eine beginnende totalitäre Diktatur
nahm ihr Leben immer mehr in Besitz. Nun haben diese
Menschen, die in ihrem Leben schon Kämpfe ausgefochten hatten, die wir uns alle wahrscheinlich nicht vorstellen können, erneut gewagt zu sagen: Nicht mit uns! Wir
stellen uns diesen Dingen entgegen! - Sie sind auf die
Straße gegangen und ihr Aufstand ist schließlich von der
Staatsgewalt blutig niedergeschlagen worden. Das geschah am 17. Juni. Ich habe vor diesen Menschen einen
hohen Respekt.
({0})
Es handelt sich hierbei um die Generation unserer Eltern, denen wir alles, was wir sind, zu verdanken haben.
Meine Damen und Herren, wie ist es dann weitergegangen? Diejenigen, die es damals gewagt hatten, der
Staatsmacht zu widersprechen, mussten nicht nur die
Konsequenz tragen, vielleicht zurückgeprügelt zu werden, was schon schlimm genug gewesen wäre. Nein, in
aller Regel hatten sie Konsequenzen in Bezug auf die
Ausbildung zu ertragen: Sie sind von den Schulen und
Universitäten geflogen. Jemand, der gehofft hatte, Arzt
oder vielleicht einmal Klinikdirektor zu werden, konnte
vielleicht nur noch Krankenpfleger werden. Der Kollege, der nicht mit auf die Straße gegangen ist, der Kommilitone, der auf diese Weise seinen Studienplatz behalten konnte, hat einen seiner Begabung entsprechenden
Beruf ergreifen und ausüben können. Es sei ihm herzlich
gegönnt. Jetzt hat er auch die entsprechenden Rentenansprüche. Der andere hingegen, der Krankenpfleger geworden ist, der einen Einsatzwagen gefahren hat, der
seine Lebensperspektiven drastisch zurückschneiden
musste, der seiner Familie nicht das bieten konnte, was
er als Arzt hätte bieten können, musste bei seiner Verrentung feststellen, dass ihm die Demokratie auch im Alter
nicht das zurückgibt, was er durch seine Handlungen damals in die Demokratie einbringen wollte.
Es ist keine Frage schlechter oder guter ökonomischer
Zeiten, ob man eine solche Ungerechtigkeit wieder bereinigt; es ist eine Frage der Selbstachtung von Demokratie und Demokraten.
({1})
Der Herr Bundespräsident hat vor kurzem eine Briefmarke vorgestellt, die an den 17. Juni erinnern soll. Er
hat sinngemäß gesagt: Viele Opfer des DDR-Regimes
haben nicht bekommen, worauf sie Anspruch gehabt
hätten. Das sind die Worte von Bundespräsident Rau. Er
hat Recht.
({2})
Das ist auch den Kollegen im Deutschen Bundestag
von Anfang an bewusst gewesen. Aus diesem Grunde
wollte man zunächst einmal das Ausmaß der Repression
in der damaligen DDR zweifelsfrei feststellen. Deshalb
war es richtig, dass eine Enquete-Kommission einberufen wurde. Sie hat als Ergebnis ihrer Arbeit gefordert,
dass die personelle Würde der von Unrecht und Leid Betroffenen wiederhergestellt wird; dazu gehören sowohl
die öffentliche Würdigung der Opfer als auch die Notwendigkeit, ihnen, so irgend möglich, nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das hat der Deutsche
Bundestag so beschlossen.
({3})
Meine Damen und Herren, nach 13 Jahren Wiedervereinigung hat sich der Bundespräsident zu diesen Worten veranlasst gesehen. Wir müssen nach 13 Jahren deutscher Einheit feststellen, dass die Folgen der 40-jährigen
Repression insbesondere im sozial- und rentenrechtlichen Bereich für die Verfolgten nach wie vor spürbar
sind und dass diese Defizite dann besonders peinlich
sind, wenn man sie mit der relativen Besserstellung derjenigen vergleicht, die dieses System maßgeblich mitgetragen haben.
Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht die Vergangenheit bis ins Kleinste aufrollen. Aber ich will hier
eines sagen, vor allem an die Adresse unserer sozialdemokratischen und grünen Kollegen: Die CDU/CSUFDP-Regierung hat einige Schritte unternommen, um
dieses Unrecht zu beseitigen. Es ist aber nicht vollständig gelungen. Ich betrachte das als Defizit. Wenn Sie kritisieren, dass wir das zu unserer Zeit nicht geschafft haben, dann kritisieren Sie das zu Recht.
Ich möchte auch nicht, dass unsere Suche nach dem
richtigen Weg in einen Schlagabtausch zwischen der Regierungskoalition und den Oppositionsfraktionen ausartet. Es ist richtig: Die Oppositionsfraktionen haben die
Regierung zu kontrollieren und Alternativen vorzulegen.
Doch in diesem Punkt wollen wir Sie nicht kontrollieren
und auch keine Alternative vorlegen, sondern wir wollen
Sie einladen, mit uns gemeinsam eine Lösung zu finden
für Demokraten wie wir, die etwas für diesen Staat getan
haben. Sie sollen sich nicht länger zurückgesetzt, sondern anerkannt und angenommen fühlen. Wir laden Sie
ein, gemeinsam mit uns eine Lösung dafür zu finden.
({4})
Wir bitten Sie, die Tür für ein gemeinsames Handeln bei
dieser Einbringungsdebatte nicht zuzuschlagen.
Es ist keine saubere Argumentation, wenn Sie sagen:
Das Gleiche haben wir vor etlichen Jahren von der Regierung Kohl verlangt, aber die Regierung Kohl hat uns das
verweigert. Deswegen verweigern wir jetzt eine Mitarbeit, bei dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion. Mit dieser Argumentation würden Sie einräumen, dass
Sie schon damals nicht aufrichtig gewesen sind.
({5})
Es geht nicht um die Anliegen der Opposition und auch
nicht um die Anliegen der Regierung. Es geht um die
Anliegen der Benachteiligten des DDR-Regimes.
({6})
Wir legen im Prinzip nichts Neues vor; denn wir haben über dieses Thema in diesem Haus schon sehr oft
gesprochen.
({7})
Der Weg, der bisher beschritten worden ist, ist nicht
falsch gewesen. Mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wurde das gröbste Unrecht geheilt. Das
Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das ebenfalls
unter der CDU/CSU-FDP-Regierung verabschiedet
wurde, hat etliche Rehabilitierungsmöglichkeiten geschaffen. All das waren Schritte in die richtige Richtung.
Alle zu Zeiten der DDR erworbenen Sozialversicherungsansprüche, die jedermann erwerben konnte - ich
nenne beispielsweise die freiwillige Zusatzrente - wurden ausnahmslos und in vollem Umfang übertragen. Allerdings mussten die Verfolgten mit ansehen, wie die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1999
umgesetzt wurde: Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes wurden die Ansprüche und
Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR zugunsten bestimmter Personenkreise in die gesetzliche Rentenversicherung des
wiedervereinigten Deutschlands überführt. Damit wurden Rentenansprüche und Anwartschaften für Repräsentanten der DDR, die andere Menschen unterdrückt haben - ich nenne beispielsweise Angehörige des
Ministeriums für Staatssicherheit -, angehoben. Das ist
die Realität.
({8})
Wenn Sie es ernst meinen, dann schließen Sie mit uns
gemeinsam diese Gerechtigkeitslücke.
({9})
Wir haben die Chance dazu. Lieber Herr Kollege
Hacker, Sie sagen, diese Maßnahmen würden nicht in
die Rechtssystematik passen. Dann lassen Sie uns doch
gemeinsam überlegen, wie wir das ändern können. Wir
sind jederzeit bereit, darüber zu reden. Es ist dringend
notwendig, diesen immer noch bestehenden Skandal zu
beenden. Die Opfer der ehemaligen DDR dürfen nicht
zurückgesetzt werden.
({10})
Mit unserem Gesetzentwurf unternehmen wir den
Versuch, den jetzigen Zustand zu ändern. Es geht nicht
mehr um eine Ehrenpension - das wäre wirklich vermessen -, sondern es geht um die Entschädigung von erlittenem Unrecht. Wir wollen versuchen, das zu erreichen.
Zum einen wollen wir eine monatliche Entschädigung
für politische Verfolgung oder berufliche Beeinträchtigung, die nach der Zeitdauer des Unrechts gestaffelt ist.
Zum anderen wollen wir eine Kapitalentschädigung,
mit der die Tatsache berücksichtigt wird, dass die Haft in
der DDR nicht mit einer Haft in der Bundesrepublik
Deutschland zu vergleichen war.
Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Lassen Sie
uns einen Weg finden, diese Ansprüche zu befriedigen.
Wenn wir es nicht tun, dann werden die Opfer der DDRDiktatur, die die Feiern zum 50. Jahrestag des 17. Juni
1953 verfolgen, zu der Auffassung kommen, dass die
Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland unaufrichtig ist, weil das demokratische Engagement dieser
Menschen nicht anerkannt wird. Wir können nicht auf
der einen Seite den 17. Juni als positiven Teil unserer
Geschichte betrachten, aber auf der anderen Seite nicht
bereit sein, die entstandenen erheblichen Benachteiligungen im Rahmen unserer Möglichkeiten auszugleichen.
Ich bedanke mich, dass Sie mir zugehört haben. Ich
gebe die Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung nicht
auf. Die Türen sind offen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Karsten Schönfeld,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
17. Juni erinnert uns daran, mit welchem Mut Menschen
in der damaligen DDR für ihre Freiheit gekämpft haben
und mit welcher Brutalität das Regime zurückgeschlagen hat. Der 17. Juni steht als Tag der Erinnerung stellvertretend für die vielen Tausend Menschen, die in den
Jahren der SED-Diktatur Repression und Verfolgung
ausgesetzt waren.
Mit der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands galt es, auch dieses Stück deutscher Geschichte
aufzuarbeiten. Es ging um eine schwierige Aufgabe:
zum einen darum, Verantwortliche eines verbrecherischen Regimes zur Rechenschaft zu ziehen, zum anderen
aber auch darum, Opfer dieses Regimes für das erlittene
Unrecht zu rehabilitieren und dafür zu entschädigen.
Seit 1992 ist eine Reihe von Gesetzen auf den Weg gebracht worden, die diese Entschädigung ansatzweise regeln. Es begann - darin sind wir, so glaube ich, einer Meinung - mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz
aus dem Jahre 1992, mit dem erste Schritte unternommen
wurden. In dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ging es darum, Opfern von Verwaltungswillkür in
der DDR einen Weg zu eröffnen, sich vom Makel persönlicher Diskriminierung zu befreien und soziale Ausgleichsleistungen in Anspruch zu nehmen. In diesem Gesetz wurde ebenfalls die berufliche Rehabilitierung
geregelt. Sie hatte zum Ziel, schwerwiegende Nachteile
zu lindern, die ein Betroffener aufgrund seiner Verfolgung im Beruf oder in der Ausbildung erlitten hatte.
Sicherlich ist es schwer, das alles ganz genau zu regeln. Herr Kollege Vaatz, es ist Spekulation, ob jemand
wirklich Arzt oder Chefarzt oder ein Ingenieur Leiter eines Betriebes geworden wäre. Vieles in diesem Bereich
kann man heute nicht in Gesetzen regeln.
Aber es ging immer - das war der Ansatz - um Rehabilitation von Unrecht und um Ersatz von entstandenem
Schaden in persönlicher, beruflicher und auch gesundheitlicher Hinsicht. Diesen Gedanken von Rehabilitation
und Entschädigung hat die SPD-geführte Bundesregierung konsequent fortgesetzt und weitergedacht, immer
mit dem Ziel, gerechte Lösungen für die Opfer des SEDRegimes zu finden.
Mit dem Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften, das seit 1. Januar 2000 in
Kraft ist, haben wir die Kapitalentschädigung ehemaliger politischer Häftlinge auf einheitlich 600 DM pro
Haftmonat erhöht und damit eine Ungleichbehandlung
zwischen Opfern, die später in den Westen gegangen
sind, und denjenigen, die in der DDR geblieben sind, beseitigt. Zudem wurde der Rechtsanspruch der nächsten
Angehörigen von Todesopfern neu geregelt. Sie erhalten
nun Leistungen der Stiftung für ehemalige politische
Häftlinge, ohne dass, wie es bisher üblich war, ihre wirtschaftliche Situation überprüft wird. Außerdem haben
wir die Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden
verbessert. Besonders wichtig ist in meinen Augen auch
die Weiterentwicklung der beruflichen Rehabilitation.
Ich denke, all das muss man im Blick behalten und
dessen müssen wir uns bewusst sein, wenn es darum
geht, Ihren Gesetzentwurf, meine Damen und Herren
von der Union, heute zu bewerten. Das Thema ist zu
wichtig und zu ernst, um es parteipolitisch zu missbrauchen. Leider - das ist mein Eindruck - ist es Ihnen mit
diesem Entwurf nicht ganz gelungen, das nicht zu tun.
Es ist natürlich leicht, die Forderung nach einer Opferpension aufzustellen. Hier spielen Emotionen, Hoffnungen - leider auch falsche Hoffnungen - eine große
Rolle. Ihr Gesetzentwurf ist weder gerecht noch folgt er
der Logik des Systems der Rehabilitation und Entschädigung, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik praktiziert wird. Die Bundesrepublik hat alle
Opfer von Verfolgung - sowohl zur NS-Zeit als auch in
der DDR - mit den gleichen Rechten ausgestattet: Rückübertragung und Rückgabe von Vermögenswerten,
Erstattung von Geldstrafen und Verfahrenskosten, Kapitalentschädigung für Freiheitsentzug, Unterstützungsleistungen und Ausgleich von Nachteilen in der Rentenversicherung. Eine Opferpension für die Verfolgten des
SED-Regimes wäre demgegenüber ungerecht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Büttner?
Ich habe nur wenige Minuten Redezeit und möchte
meine Rede im Zusammenhang vortragen.
Ihr Gesetzentwurf ist auch aus einem anderen Grund
ungerecht. Sie formulieren:
Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet erhalten auf Antrag eine Opferpension ... bei einer zu
Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung von insgesamt mehr als einem Jahr bis zu zwei Jahren in
Höhe von 150 Euro monatlich.
Ich frage Sie: Was passiert mit denen, die nur ein halbes
Jahr oder zehn Monate in Haft waren? Die Dauer der
Verfolgung sagt oft nichts darüber aus, wie die Verfolgten in DDR-Zuchthäusern gelitten haben.
Des Weiteren gewährt Ihr Gesetzentwurf Inhaftierten
wie Verfolgten gleichermaßen Ansprüche. Sie setzen jemanden, der wegen Verfolgung berufliche Nachteile erlitten hat, mit jemandem gleich, der inhaftiert wurde. Sie
werfen damit verschiedene Opfergruppen - sprichwörtlich gesagt - in einen Topf.
Ich sage noch einmal abschließend: Die Menschen,
die sich in der DDR für Freiheit und gegen die Diktatur
eingesetzt haben, verdienen nicht nur unseren Respekt,
sondern haben einen Anspruch auf eine entsprechend gerechte Entschädigung. Aber das kann nicht so passieren,
wie Sie es hier wieder vorgetragen haben.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Silke Stokar für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre
haben wir gebraucht, um einen Weg zu finden, den
17. Juni 1953 gemeinsam angemessen und öffentlich zu
würdigen. Wir haben eine spannende Diskussion über
die Bewertung dieses Datums. Manche reden von einer
demokratischen Erhebung, manche gar von einer sozialdemokratischen Erhebung. Vielleicht war es auch ein revolutionärer Arbeiteraufstand. Es finden viele spannende
Veranstaltungen und Diskussionen statt.
Ich denke, dass auch dies eine Form der Würdigung
der Menschen ist, die damals nicht nur den Mut hatten,
gegen die Arbeitsnormen aufzutreten, sondern die für
Demokratie und Freiheit kämpften und mit der Forderung nach Freiheit für die politischen Gefangenen, die es
auch schon vor dem 17. Juni gab, auf die Straße gingen.
Es ist hier gesagt worden: Ihren Mut mussten diese Menschen teuer bezahlen. Das Ergebnis waren zerstörte Lebensläufe und zerstörte Gesundheit durch die Unrechtshaft, die sie erleiden mussten.
Es fällt mir immer wieder schwer, zu diesem Thema
eine Rede zu halten. Ich habe auch die vergangenen Auseinandersetzungen um das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz nur nachlesen können. Ich weiß, dass fast alle Argumente mehrfach ausgetauscht worden sind. Ich
möchte das nicht fortsetzen, weil es den Opfern nicht gerecht würde, wenn wir uns gegenseitig die Versäumnisse
der Vergangenheit vorwerfen würden. Es würde den Opfern ebenso nicht gerecht, wenn Sie von der Opposition
der rot-grünen Bundesregierung vorwerfen würden, dass
die Schritte, die wir gemacht haben, zu klein gewesen
sind.
Ich würde in einer Rede lieber ausführen, dass wir
über die finanziellen Ressourcen für Pensionen verfügen. Zur Ehrlichkeit der Debatte gehört für mich, zu sagen: Ja, wir erkennen die Opfer an. Ich habe wirklich
großes Verständnis für die vielen enttäuschten und verbitterten Menschen, die zu mir und meiner Fraktion
kommen und die Forderung nach Ehrenpensionen aufrechterhalten.
Wir haben mit der Stiftung einen finanzierbaren und
verlässlichen Weg eingeschlagen; das zu sagen gehört
ebenfalls zur Ehrlichkeit der Debatte. Rot-Grün hat in
den vergangenen Jahren mit mehreren Nachbesserungsgesetzen zumindest den Versuch unternommen, Härtefälle, die in der Praxis entstanden sind, abzumildern.
Die Ergebnisse sind nicht befriedigend und können
auch nicht befriedigend sein. Aber Ihre Forderungen - das
wissen Sie sehr genau - sind nicht finanzierbar. Sie wollten von uns hören, mit welchen weiteren Vorstellungen
wir in die Beratung gehen. Dazu gehört selbstverständlich, dass wir die Antragsfristen verlängern und die Verfahren zur Anerkennung gesundheitlicher Schäden - darüber gab es Klagen - überprüfen. Wir werden permanent
die Härtefälle überprüfen, weil wir dafür sorgen wollen,
dass die Opfer nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind.
({0})
- Meine Redezeit ist zu Ende. Ich möchte Ihre Fragen im
Innenausschuss - dahin gehören sie - beantworten und
werde dort auch meine zahlreichen Fragen an Sie richten.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es
gleich vorwegzunehmen: Die FDP-Bundestagsfraktion
begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf der Union vom
Grundsatz her.
({0})
Die Opfer politischer Verfolgung in der SBZ bzw. der
DDR warten bis zum heutigen Tag auf eine angemessene
finanzielle Wiedergutmachtung für ihr erlittenes Schicksal. Wir als FDP haben bereits in der alten Koalition mit
Ihnen, meine verehrten Kollegen von der Union, versucht, den Opfern der politischen Verfolgung zu helfen.
Aber leider - das muss ich Ihnen ins Stammbuch schreiben - sind unsere Bemühungen immer an einem, nämlich an Herrn Dr. Waigel, gescheitert.
Umso mehr freut es uns, dass Sie nun von sich aus die
Initiative ergriffen haben. Dass hieran das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 28. April
1999 einen gewissen Anteil hatte, als es zu den Fragen
der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften
aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR
in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschlands Stellung nahm, sollten wir an dieser
Stelle der Ehrlichkeit halber sagen.
Wir Liberale sind uns völlig einig: Der Gesetzgeber
muss im Hinblick auf den bevorstehenden 50. Jahrestag
des Aufstandes vom 17. Juni 1953 endlich die herausragende Bedeutung des Einsatzes der Betroffenen bei ihrem
Widerstand gegen die zweite deutsche Diktatur würdigen.
({1})
Wir müssen endlich die gesellschaftliche Bedeutung dieses Einsatzes für eine rechtsstaatliche und freiheitliche
Demokratie würdigen. Ziel muss es sein, gerade die
Wichtigkeit dieses mutigen Eintretens auch für unsere
heutige Demokratie im wiedervereinigten Deutschland
herauszustellen. Der von diesen Menschen bewusst gewagte Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie
und die Inkaufnahme erheblicher sozialer Nachteile
muss vom wiedervereinigten deutschen Staat endlich angemessen gewürdigt werden.
Ob dies in der Art und Weise geschehen muss, wie es
im Gesetzentwurf von CDU/CSU vorgeschlagen wird,
wird man im Innen- und Rechtsausschuss noch diskutieren. Wir sollten uns im Rechtsausschuss, der sich feder4156
führend mit der Thematik zu beschäftigen hat, darüber
Gedanken machen, wie die Betroffenen möglichst unbürokratisch an die ihnen so lange vorenthaltene Rente gelangen können. Ob die Staffelung des Rentensatzes der
richtige Weg ist, darüber müssen wir diskutieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hacker für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Vorsitzender! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Bevor ich auf die Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfes eingehe, möchte auch ich noch
einmal meine Gedanken in das Jahr 1953 schweifen lassen. In wenigen Tagen jährt sich zum 50. Mal der Tag,
an dem Männer und Frauen in Ostberlin, Leipzig, Chemnitz und anderen Städten auf die Straße gegangen sind
und sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt haben. Ich glaube, viele von ihnen haben schon damals den Gedanken an die deutsche Einheit im Herzen
und im Kopf getragen.
In der friedlichen Revolution in der DDR im
Herbst 1989 und in der deutschen Wiedervereinigung
am 3. Oktober 1990 hat sich dieser historische Auftrag
für uns, die wir das SED-Regime nicht wollten, erfüllt.
Dafür haben sich auch viele Mitglieder dieses Hauses
eingesetzt. Heute gilt unser Gedanke in erster Linie den
Männern und Frauen, die am 17. Juni 1953 auf der
Straße gegen die SED-Diktatur und die Sowjets demonstriert haben.
Die Politik in Deutschland hatte und hat den moralischen Auftrag, diese Opfer nicht zu vergessen. Die letzte
demokratisch gewählte Volkskammer hatte sich dieser
Thematik gestellt. Wir haben diese Thematik anschließend sehr zögerlich und mit einschränkenden Vorgaben
der damaligen Bundesregierung diskutiert.
Herr Funke, ich wundere mich ein wenig darüber,
dass Sie heute als Verantwortliche für diese auch damals
schon erkennbar unbefriedigende Gesetzgebung die
Union nennen. Bei Ihnen war zwar eine größere Bereitschaft zur Öffnung zu erkennen. Aber auch Ihnen muss
ich ins Stammbuch schreiben, dass Sie sich nicht konsequent genug eingesetzt haben. Ich denke hier nur an die
erniedrigende Diskussion über die Zwangausgesiedelten,
die von FDP und Union nicht in das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz aufgenommen werden sollten.
({0})
Wir haben es am Ende anders gemacht; aber zuvor
gab es schwierige und quälende Diskussionen. Wir dürfen das heute nicht vergessen.
Mein zentraler Vorwurf geht dahin, dass bei der damaligen Gesetzgebung eine Spaltung der Opfer nach ihrem Wohnsitz betrieben worden ist. Diejenigen, die freigekauft wurden, wurden anders behandelt als diejenigen,
die in der DDR geblieben sind. Herr Funke, die geringe
Kapitalentschädigung, die Sie mit der Union eingeführt
haben, war doch ein Skandal. Die Entschädigung belief
sich auf 300 DM für die im Westen lebenden und auf
550 DM für die in der DDR verbliebenen Opfer. Diese
Beträge lagen unterhalb der Beträge, die jemand in der
Bundesrepublik nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen bekommt. Das
Beispiel Stoph war himmelschreiend. Deswegen war
Ihre Gesetzgebung so schlecht. Das muss man hier einmal ansprechen.
({1})
Sie haben überhaupt nicht an die Angehörigen derjenigen gedacht, die in den Gefängnissen im Rahmen ihrer
politischen Haft umgekommen sind bzw. wenige hundert
Meter von hier entfernt in der Spree erschossen worden
sind.
({2})
- Lieber Herr Büttner, das will ich Ihnen sagen. Diese
Mängel, die Sie produziert haben und die bei den Opfergruppen berechtigterweise zu Frustration und Enttäuschung geführt haben, haben wir beseitigt.
({3})
Wir haben mit der Novelle 1999 eine einheitliche
Kapitalentschädigung in Höhe von 600 DM für alle
eingeführt. Ich wiederhole noch einmal die Position der
SPD, die lautet: Ein Jahr Bautzen ist ein Jahr Bautzen.
Da kann man nicht danach differenzieren, ob die Betreffenden später in Bochum oder in Dresden gelebt haben.
({4})
Wir haben Ihnen immer wieder deutlich gemacht,
welchen Widerspruch Sie produziert haben mit der milliardenschweren vermögensrechtlichen Regelung auf der
einen und den Defiziten in der Entschädigungsgesetzgebung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze auf der anderen Seite.
Wir haben für die Menschen, die Angehörige verloren
haben, etwas getan. Diese haben heute Zugang zu Entschädigungsleistungen. Wir haben für eine bestimmte
Gruppe von Opfern der Nachkriegszeit, die deutschen
Zwangsarbeiter, etwas getan. Zum Thema Entschädigung der deutschen Zwangsarbeiter haben Sie gestern einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir mit der Novelle von
1999 gerade für die deportierten Zivilisten aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Entschädigungsleistungen eingeführt haben, die von Ihren Vorstellungen
gravierend abweichen. Wir haben die Höhe der Fondsbeiträge für die Stiftung für ehemalige politische HäftHans-Joachim Hacker
linge verfünffacht und haben in den Folgejahren jährlich
- auch im letzten Jahr - Millionenbeträge für die Stiftung bereitgestellt. Das sind die Tatsachen. An diesen
Tatsachen dürfen Sie nicht vorbeigehen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Funke?
Gerne, Herr Funke.
Nachdem Sie ausführlich dargelegt haben, was Sie in
den letzten Jahren im Einzelnen alles getan haben, muss
ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, im Rahmen dieses Gesetzes, dessen Entwurf Ihnen vorliegt, für die Betroffenen konkret etwas zu tun?
Herr Funke, auf diese Frage kann ich Ihnen klipp und
klar antworten: Wir sind bereit, etwas zu tun; das hat
eben schon der Vorredner aus meiner Fraktion gesagt.
Wir werden die Antragsfristen verlängern. Wir werden
darauf achten, dass die Stiftung für ehemalige politische
Häftlinge ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung
gestellt bekommt, um zu verhindern, dass die Opfer in
die Sozialhilfe abrutschen. Wir haben nach dem Beruflichen und nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz Ausgleichsleistungen und Unterstützungsleistungen
vorgesehen.
Mein Appell richtet sich heute an die Opferverbände
und an diejenigen, die persönlich betroffen sind, jetzt
ihre Anträge zu stellen und die Antragsmöglichkeiten
auch auszuschöpfen. Noch immer bekommen wir jährlich aus den neuen Ländern Tausende von Anträgen auf
Rehabilitierung und Entschädigung. Wir wollen, dass
das Geld fließt. Wir werden denjenigen, die es, aus welchen Gründen auch immer - Traumatisierung und andere
Gründe spielen eine Rolle -, nicht schaffen, in diesem
Jahr einen Antrag zu stellen, durch eine mehrjährige Verlängerung der Antragsfrist die Chance geben, auch weiterhin Anträge stellen zu können.
Die Stiftung ist bei uns in guten Händen. Wir setzen
uns dafür ein, dass diese Stiftung ausreichend ausgestattet wird.
Einen Punkt, der heute schon angesprochen wurde,
will ich verdeutlichen: So sehr wir uns dagegen gewehrt
haben, dass Opfergruppen gegeneinander ausgespielt
werden, so sehr muss ich mich dagegen wehren, dass wir
durch dieses Gesetz, wenn wir es umsetzen, eine Spaltung der Opfer des NS-Regimes und der SED-Opfer herbeiführen. Das ist vielleicht nicht gewollt, Herr Vaatz, ist
aber Inhalt Ihres Vorschlages. Sie können nicht verlangen, dass wir für eine solche Ungleichbehandlung von
Menschen, die in NS-Haft, die in Konzentrationslagern
waren, die Hand heben.
({0})
Wir können die Opfer zweier Diktaturen unserer jüngsten deutschen Geschichte nicht mit so unterschiedlichen
rechtlichen Anspruchsgrundlagen ausstatten. Ich empfehle Ihnen dringend, sich dieser Problematik bewusst
zu werden und das bei den weiteren Beratungen im Ausschuss zu berücksichtigen.
({1})
Herr Kollege, ich mache Sie noch einmal auf Ihre Redezeit aufmerksam.
Jawohl, Herr Präsident.
Abschließend möchte ich sagen: Herr Vaatz, ich
möchte Ihnen dafür danken, dass Sie mit mir, jedenfalls
außerhalb des Plenums, aber auch hier, bisher sachgerecht diskutiert haben und dass Sie nicht versucht haben,
diese Bühne zu einem Tribunal umzugestalten.
({0})
Ich will Ihnen aber sagen: Versuchen Sie nicht, die Politik gegenüber der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen auf dem Rücken der Opfer der beiden deutschen Diktaturen auszutragen!
({1})
Das haben die Betroffenen nicht verdient. Bleiben Sie in
der Bewertung sachlich! Ich erinnere noch einmal daran:
Sie müssen diese beiden Opfergruppen aus dem vorhergehenden Jahrhundert gleich behandeln.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/932 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes
- Drucksache 15/810 ({0})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes
- Drucksache 15/1067 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- Drucksache 15/1121 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Bülow
Doris Meyer ({3})
Angelika Brunkhorst
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst das
Wort dem Bundesminister Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über eine zielgenaue Lösung für Betriebe, die
in besonderer Weise stromintensiv sind und deshalb
durch die Umlage auf erneuerbare Energien bestimmte
zusätzliche Kosten haben. Dabei darf sich allerdings
nicht der Eindruck verfestigen, dass der Strom in
Deutschland immer teurer geworden sei, weshalb die
deutsche Industrie einen Wettbewerbsnachteil habe. Dies
ist definitiv falsch.
Die von der alten Bundesregierung eingeleitete und
damals von meiner Fraktion - Michaele Hustedt vorneweg - immer unterstützte Liberalisierung der Strommärkte hat gerade für die Industriekunden in Deutschland beachtliche Folgen gehabt. Zwischen 1995 und
2002 ist der Industriestrom in Deutschland um gut ein
Drittel billiger geworden. In diesem Zeitraum sanken die
Industriestrompreise um 30 Prozent. Innerhalb der EU
waren es nur 9 Prozent. Zum Vergleich: Die von vielen
immer hoch angesehenen USA hatten im gleichen Zeitraum eine Steigerung von 7 Prozent zu verzeichnen. Das
heißt, wir können feststellen, dass wir es mit einer Situation zu tun haben, in der sich die Wettbewerbssituation
der deutschen Industrie bezogen auf die Industriestrompreise auch und insbesondere im Vergleich zu ihren
Wettbewerbern insgesamt drastisch verbessert und nicht
verschlechtert hat.
Man kann das auch in Zahlen ausdrücken: Kostete die
Kilowattstunde Industriestrom im Jahre 1995 im Schnitt
noch 7,6 Cent, so kostet sie heute 5,3 Cent. Das alles gilt
trotz des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, der KWKUmlage und der Stromsteuer im Rahmen der ökologischen Steuerreform. Ich drücke es anders aus: Für die Industrie stehen jedem Euro durch die Verteuerung des
Stroms durch diese Umlagemaßnahmen 8 Euro infolge
der Verbilligung des Stroms gegenüber.
Wenn ich die Gesamtbetrachtung für die Industrie an
dieser Stelle mit diesem Nachdruck unterstreiche, so will
ich dabei nicht verkennen, dass es einzelne Unternehmen
geben kann, die mit dieser Entwicklung auch negative
Erfahrungen gemacht haben. Hierfür haben wir mit dem
Vorschaltgesetz eine Lösung gefunden, die besonders
stromintensiven Betrieben im Einzelfall nützt.
Bei der Betrachtung dieser Vorgänge ist uns allerdings auch aufgefallen, dass die von den Netzbetreibern
umgelegten EEG-Umlagen außerordentlich uneinheitlich ist. Die Beträge belaufen sich auf 0,2 Cent bis
0,66 Cent. In Wirklichkeit liegt der Betrag bei ungefähr
0,29 Cent. Das bedarf zweier Regelungen:
Erstens. Bei einer endgültigen Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes müssen wir klarstellen,
was umlagefähige Kosten überhaupt sind. Es kann nicht
sein, dass ohnehin vorhandene Netzkosten kurzerhand
umgelegt und auf diese Weise nicht nur den erneuerbaren Energien in die Schuhe geschoben, sondern auch in
den Stahlhütten und in den Aluminium- und Kupferwerken abkassiert werden. Das können und werden wir
nicht akzeptieren.
({0})
Zweitens. Es kann auch nicht sein, dass die Verfügung über das Netz die letzte Schranke für den Wettbewerb auf dem Strommarkt ist. Mittlerweile liegen mehrere Urteile gegen diverse Stadtwerke vor. In drei Fällen
geht es um den Missbrauch der Netzhoheit. Das Landgericht Berlin hat festgestellt, dass die Verbändevereinbarung über den Netzzugang gegen das Kartellrecht verstößt. Diese Urteile liegen auf dem Tisch. Das heißt, wir
müssen sicherstellen, dass es im Netz tatsächlich zu
Wettbewerb kommt. Dies wird uns nur dann gelingen,
wenn wir das umsetzen, wozu sich die Bundesregierung
ausdrücklich verpflichtet hat, nämlich eine Wettbewerbsbehörde einzurichten.
Das ist der Grund für unser Vorschaltgesetz, das für
ein Jahr gilt. In der Kombination mit der Verabschiedung
einer entsprechenden Verordnung über eine Wettbewerbsbehörde und der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes werden wir diese Probleme, nämlich den
Missbrauch von Marktmacht zulasten der Industrie und
der erneuerbaren Energien, gemeinsam angehen.
({1})
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Diejenigen, die meinen, es sei nun genug für die erneuerbaren Energien getan, muss ich darauf hinweisen: Heute
sparen die erneuerbaren Energien 50 Millionen Tonnen
CO2 ein. Legt man die Nachhaltigkeitsstrategie unserer
Bundesregierung zugrunde, werden es bis zum Jahr
2010 ungefähr 100 Millionen Tonnen CO2 sein, zehn
Prozent unseres Emissionsvolumens. Wer diese Entwicklung bremsen möchte, wie ich das gelegentlich aus
den Reihen der Opposition höre, muss sich an dieser
Stelle sagen lassen: Es wird in allen anderen Fällen teuer.
Die Förderung erneuerbarer Energien hat in diesem Jahr
den bundesdeutschen Haushalt im Schnitt ein Euro pro
Monat gekostet. Eine billigere Variante für Klimaschutz
ist mir nicht bekannt.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile der Kollegin Doris Meyer, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Zuletzt haben wir uns Ende Januar
in diesem Haus mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
beschäftigt. Damals haben wir bei der Debatte zum Erfahrungsbericht unser Augenmerk allerdings auf die
große Novelle des EEG gerichtet. Damals sollte eine
umfassende Überarbeitung dieses Gesetzes in Angriff
genommen werden. Damals war die Härtefallregelung,
um die es heute geht, noch in weiter Ferne. Bundesminister Trittin war komplett gegen eine Härtefallregelung.
({0})
Heute müssen wir allerdings feststellen: Er hat einen
völligen Sinneswandel vollzogen.
({1})
Wie sonst ließe sich erklären, dass der Entwurf für eine
Härtefallregelung für die stromintensive Industrie in geradezu überfallartiger Weise vorgelegt wurde? Zwar
stimmt die Zielrichtung, in die dieses Vorschaltgesetz
steuert. Doch die gesetzeshandwerkliche Vorgehensweise bei der kleinen Novelle des EEG überzeugt uns als
Unionsfraktion überhaupt nicht.
({2})
Ich werde kurz den Ausgangspunkt für diesen Entwurf skizzieren. Durch den Anstieg der Stromeinspeisevergütungen kam es zu besonderen Belastungen der
stromintensiven Industrie; insbesondere die Aluminium-,
Chemie-, Zement- und Papierindustrie sind betroffen.
Dem versucht die Bundesregierung mit ihrem Entwurf
entgegenzuwirken. Bei einem bloßen Versuch wird es
aber auch bleiben. Wie gesagt: Das Ziel einer Entlastung
streben auch wir, die CDU/CSU, an. Doch der vorliegende Gesetzentwurf lässt noch zu viele Fragen offen.
Durch die Anhörung mehrerer Sachverständiger im
Umweltausschuss am 19. Mai traten etliche Mängel des
Entwurfs sehr deutlich zutage. Erster Kritikpunkt ist die
willkürliche Wahl der hohen Schwellenwerte von
100 Gigawattstunden Stromverbrauch pro Jahr und das
Verhältnis von Stromkosten zur Bruttowertschöpfung
von 20 Prozent. So sind die hohen Schwellenwerte des
Koalitionsentwurfs in jeweils etwa zehn Betrieben sowohl der chemischen als auch der Zementindustrie derzeit erreicht. Insgesamt dürften von der Entlastungsregelung nur etwa 30 bis 40 Unternehmen profitieren. Ich
frage daher: Wo bleiben da die anderen Unternehmen?
Warum muss die Grenze gerade bei 100 Gigawattstunden liegen? Warum muss das Verhältnis von Stromkosten zu Bruttowertschöpfung ausgerechnet 20 Prozent betragen? Fragen, die bislang von keinem der
Sachverständigen beantwortet werden konnten. Der
Sachverständige Professor Leprich gibt in seiner Stellungnahme gar an, es gebe keine sachliche Rechtfertigung für genau diese Grenzen.
Problematisch ist überdies noch, dass beide Voraussetzungen kumuliert, also gleichzeitig, vorliegen müssen. Bei einigen kleineren Unternehmen beträgt der
Stromkostenanteil an der Bruttowertschöpfung mehr als
20 Prozent; der andere Grenzwert von 100 Gigawattstunden Stromverbrauch pro Jahr wird aber nicht überschritten. Für diese Unternehmen stellen die Stromkosten aber doch auch eine enorme Belastung dar - oder
etwa nicht?
Mit der neuen Regelung hätten sie die überwälzten
Kosten der befreiten größeren Unternehmen mitzutragen. Kann dies wirklich beabsichtigt sein? Wollen wir
wirklich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Belastungen von einigen Dutzend Unternehmen wegnehmen, um
sie sofort wieder anderen Unternehmen aufzuhalsen und
diese damit zu schwächen?
Durch die willkürlich gewählten Schwellenwerte
kommt es in der Folge zu brancheninternen Wettbewerbsverzerrungen und Strukturveränderungen. Die
Konsequenzen liegen auf der Hand. Die schlechte Konjunktur am Bau zusammen mit Befreiungen für einige
wenige Unternehmen, beispielsweise der Zementindustrie, kann die anderen, die nicht befreit sind, in den Ruin
treiben.
Zweiter Kritikpunkt: Juristisch klare Aussagen sind
Mangelware. Es gibt in dem Entwurf etliche Formulierungen, deren Definition auf Nachfrage im Umweltausschuss weder die Parlamentarische Staatssekretärin noch
ihre zuständigen Referenten kannten.
({3})
Sie wollten sich da erst noch schlau machen.
({4})
Doris Meyer ({5})
Wie stellt sich die im Gesetz genannte Gefährdung der
Ziele des EEG dar? Wann sind die Ziele gefährdet und
wann gerade noch nicht? Will dies eine Behörde festlegen? Wie will man beurteilen, ob die Begrenzung der
Kosten mit den Interessen der Gesamtheit der Stromverbraucher vereinbar ist?
Der ebenfalls unklare, in der Diskussion über diesen Gesetzentwurf häufig genannte Begriff der Abnahmestelle
bleibt ohne Inhalt. Ich frage heute noch einmal: Was ist
eine so genannte Abnahmestelle? Etwa ein Unternehmen
oder doch eine Betriebsstätte? Wissen Sie das heute? Am
vergangenen Mittwoch herrschte bei diesem Thema
noch großes Rätselraten.
Wie soll ein Unternehmen nachweisen, dass die Kosten - so der Gesetzeswortlaut - zu einer „erheblichen
Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit“ des Unternehmens führen? Haben Sie für die entscheidende Behörde eine einleuchtende Erklärung? Welche messbaren
Werte können Sie nennen, anhand derer die maßgebliche
Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens festgestellt werden kann? All diese Fragen sind
noch immer offen. Die Bundesregierung trägt mit der juristisch unpräzisen Formulierung nicht zur Klärung dieser Fragen bei.
({6})
Sie lässt sich hier auf ein Experiment ein. Wie in der
Praxis mit den unbestimmten Rechtsbegriffen, beispielsweise dem der Wettbewerbsfähigkeit, umgegangen
werden soll, muss sich erst noch zeigen. Vermutlich
muss sich dieses Problems wieder eine Clearingstelle annehmen - oder die Gerichte oder die Unternehmen
selbst. Denn auf diese schieben Sie die Verantwortung.
({7})
Sie sollen den Nachweis ihres Stromverbrauchs und der
damit verbundenen Kosten durch Testate von Wirtschaftsprüfern selbst führen.
Ein Zwischenfazit: Verantwortung abgeschoben, neue
Kosten und Belastungen und Bürokratie erzeugt. Damit
bewegen wir uns weg von Deregulierung und Bürokratieabbau.
({8})
Müssen die Unternehmen nicht schon im Vorfeld die Voraussetzungen kennen, nach denen eine maßgebliche Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit vorliegt? Müssen wir nicht den Unternehmen ein Stück mehr Rechtsund Planungssicherheit geben?
Die Planungssicherheit führt mich zum nächsten
Stichwort. Die Prognoseentscheidung nach § 11 a Abs. 3
des Gesetzentwurfs, mit der laut Gesetzesbegründung
das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle arbeiten muss, stellt doch nur einen weiteren Unsicherheitsfaktor dar.
Warum müssen die Anträge auf Befreiung durch das
Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle bearbeitet werden? Welchen sachlich oder rechtlich zwingenden
Grund gibt es für diese Aufgabenverteilung?
Ist die Entscheidung von dieser Behörde gefällt worden, bleibt die Frage, wie lange sie Gültigkeit hat. Dem
Gesetzentwurf zufolge ist es ein Jahr. Das mag wiederum damit zu tun haben, dass diese Regelung noch
keinen endgültigen Charakter hat, sondern erst einmal
zur Probe eingeführt werden soll.
Ich möchte aber nicht nur Kritik üben. Infolge des
ausgeübten Druckes wurde wenigstens ein Kritikpunkt
beseitigt. Zuerst sollte das Bundesamt für Wirtschaft und
Ausfuhrkontrolle auch noch einen Ermessensspielraum
bei der Entscheidung erhalten, ob es einem Unternehmen
die Befreiung genehmigt oder nicht. Es sollte sich um
eine Kannbestimmung handeln, obwohl bereits Schwellenwerte als Voraussetzungen für eine Befreiung im Gesetz festgeschrieben waren. Entweder liegen die Voraussetzungen vor und es besteht ein Anspruch auf Befreiung
oder nicht; ein Ermessensspielraum, wie er ursprünglich
vorgesehen war, geht nicht an. Was sich die Väter dieser
Formulierung dabei gedacht haben, wird wohl ein Geheimnis bleiben.
({9})
Zum Ende möchte ich Ihnen noch einmal das Wichtigste aufzeigen: Die juristischen Unklarheiten bei diesem Gesetzentwurf werden uns noch ebenso Kopfzerbrechen bereiten wie die enormen brancheninternen
Wettbewerbsverzerrungen, die durch die Härtefallregelung in der jetzigen Ausgestaltung hervorgerufen werden. Diese Wettbewerbsverzerrungen dürfen wir nicht
zulassen. Eine weitere Schieflage muss unbedingt verhindert werden. Als verantwortungsvolle Parlamentarier
dürfen wir dieser Flickschusterei nicht zustimmen.
Danke schön.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Marco Bülow,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Hier sehen Sie
({0})
den Umriss meines Heimatlandes Nordrhein-Westfalen.
In dem Umriss sind 210 kleine Sonnen eingezeichnet.
Jede Sonne steht für zehn Betriebe im Bereich des Anlagensystembaus für erneuerbare Energien. Es gibt also
2 100 nordrhein-westfälische Unternehmen im Bereich
der erneuerbaren Energien, mit wachsender Tendenz.
Angesichts der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland und Nordrhein-Westfalen ist es
umso positiver, dass die Branche der erneuerbaren Energien in Nordrhein-Westfalen allein in den vergangenen
drei Jahren einen Arbeitsplatzzuwachs von circa 30 Prozent zu verzeichnen hatte. Bundesweit wurden
130 000 Arbeitsplätze gesichert, 80 000 durch das
EEG.
({1})
Wir haben allen Grund, die Debatte selbstbewusst und
optimistisch zu führen.
({2})
- Das gilt auch für die Härtefallregelung.
Das EEG ist sowohl klimapolitisch als auch wirtschaftspolitisch eine Erfolgsgeschichte.
({3})
Dennoch ziehen einige Politiker und Lobbyisten durch
das Land, drucksen gequält „Erneuerbare Energien? Zukunftsvision? Schön und gut!“ und betonen vor allem,
wie schädlich das EEG für die Wirtschaft sei. Damit zerreden sie eine der innovativsten Zukunftsbranchen in unserem Land. Das ist wirtschaftsschädlich. Hören Sie damit auf!
({4})
- Fühlen Sie sich angesprochen von dem, was ich gerade
ausgeführt habe?
({5})
Schlimmer noch: Sie benutzen falsche Zahlen, übertreiben und manche lügen, ohne rot zu werden. Bei den
Lobbyisten kann man das vielleicht noch nachvollziehen, wenn auch nicht verstehen; bei Politikern halte ich
das für eine Frechheit.
Es ist eben nicht wahr, dass durch das EEG die Kosten explodieren. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Die
Kostenschere zwischen fossilen und erneuerbaren
Energien wird sich schließen, und zwar aus folgenden
Gründen: Erstens werden die fossilen Energieträger teurer. Das ergibt sich schon daraus, dass sie endlich sind
und bald zur Neige gehen. Zweitens müssen in den
nächsten 25 Jahren 80 Prozent des Kraftwerksparks der
fossilen Energieträger erneuert werden. Drittens gibt es
für die erneuerbaren Energien keine Regelungen zum Inflationsausgleich; vielmehr sind im Gegenteil bereits
Degressionsstufen eingebaut und die Förderung wird
stetig weiter reduziert. Viertens finden hier Innovationsschübe statt, von denen andere Energieträger nur träumen können.
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Im Bereich
der Windkraftenergie sind die Erzeugerpreise im gesamten Zeitraum um 60 Prozent gesunken. Weil die erneuerbaren Energien immer vorhanden sind und kostenfrei zur
Verfügung stehen, werden sie effizienter und kostengünstiger. Bereits 2006/07 wird die Höchstförderung erreicht. Danach wird das Fördervolumen absinken.
Wie innovativ und wirtschaftlich die erneuerbaren
Energien sind, zeigt ein Vergleich zwischen der Atomund der Windenergie. Elf Jahre nach Markteinführung
produzierte die Windkraftbranche doppelt so viel Energie wie zu diesem Zeitpunkt seinerzeit die Atombranche,
und das, obwohl der Atomstrom damals stärker gefördert wurde als heute die Windenergie. Vergessen wir
nicht, dass das EEG eigentlich ein Instrument zum Klimaschutz ist. Diese Rolle erfüllt es auch vorbildlich.
Aber es ist auch ein erfolgreiches Wirtschaftsförderungsgesetz und wird nicht umsonst von vielen Ländern in der
Welt kopiert. Das EEG ist weltweit das effizienteste Förderinstrument für umweltfreundlichen Strom.
({6})
Da ich aus dem Ruhrgebiet komme, weiß ich um die
Brisanz der energieintensiven Unternehmen, deren
Mahnungen ernst zu nehmen sind. Damit haben wir uns
ernsthaft auseinander zu setzen, und zwar nicht nur
heute, sondern auch in Zukunft. Mir liegen aber auch die
Tausenden Betriebe der Erneuerbare-Energien-Branche
am Herzen. Ich erinnere daran - deswegen ist es eine
schwierige Diskussion über Grenzen -, dass wir für jeden Betrieb, den wir entlasten, andere Betriebe und die
Verbraucher belasten müssen. Deshalb gibt es keine einfache Lösung für eine Härtefallregelung; denn man kann
jede Grenze anzweifeln. Ich meine, unser Vorschlag ist
eine schnelle und ausgewogene Lösung - das wurde uns
übrigens vom Bundesrat bestätigt -; nichtsdestotrotz
müssen wir sie im nächsten Jahr anhand neuer Erkenntnisse überprüfen.
Ich appelliere an Sie: Zerreden Sie nicht eines der
nachhaltigsten Projekte. Betonen Sie dagegen den Erfolg, die Chancen und die Wirtschaftlichkeit der erneuerbaren Energien und des Erneuerbare-Energien-Gesetzes!
Stimmen Sie bitte unserem Gesetzentwurf zu, damit wir
den Betroffenen schnell helfen können und damit die
2 100 Firmen in Nordrhein-Westfalen erst der Anfang
sind.
Danke schön. Glück auf!
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Einbringung der EEG-Novelle erkennt Rot-Grün zum
ersten Mal an, dass das EEG unzumutbare Kostenbelastungen mit sich bringt und dass gegengesteuert werden
muss. Das muss hier klar festgestellt werden.
({0})
Dies ist die Entlarvung der grundlegenden Schwäche
dieses Gesetzes. Es kann auf Dauer nicht funktionieren,
staatliche Planzahlen mit garantierten Abnahmepreisen
für den Ökostrom dirigistisch durchzusetzen.
Zu der vorliegenden EEG-Novelle möchte ich Folgendes sagen: Das EEG in seiner aktuellen Form wird in
keiner Weise den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Erfordernissen gerecht. Um ein ideologisches Ziel zu erreichen, setzt man Scheuklappen auf.
({1})
Die ständig steigenden Kosten mutet man dem einzelnen
Bürger und den Unternehmen zu. Auf die Stellungnahme
des Bundesrates und die darin enthaltenen Änderungsvorschläge hat Rot-Grün zuerst mit einer Absage reagiert, um dann am vergangenen Mittwoch doch noch
kurzfristig einige Dinge zu berücksichtigen. So wurde
im Sinne von Planungssicherheit in § 11 a Abs. 3 die
Belastungsgrenze auf 0,05 Cent pro Kilowattstunde festgelegt. Außerdem wurde § 11 a Abs. 4 gestrichen, sicherlich mit der ehrenwerten Absicht, bürokratischen
Aufwand zu minimieren und - das ist ganz wichtig - das
Ermessen zu binden. Eine wirklich gute Absicht, doch
aufgepasst! Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle bekommt nun in dem neu hinzugefügten sehr
folgenschweren Nebensatz in § 11 a Abs. 1 das Ermessen wieder eingeräumt. Dort heißt es:
… soweit hierdurch die Ziele des Gesetzes nicht gefährdet werden und die Begrenzung mit den Interessen der Gesamtheit der Stromverbraucher vereinbar ist.
Das finde ich absurd. Dass sich die Ermessensregelung
nun an anderer Stelle findet, hat nicht zur Folge, dass die
sozusagen hochherrschaftlichen Befugnisse der Verwaltung eingeengt werden, sondern hat das Gegenteil zur
Folge - darüber müssen wir uns klar sein -, dass sie verstärkt werden.
({2})
Wir reden hier über eine kleine Novelle des EEG. Dadurch werden die Fehler im Konzept des EEG insgesamt
überhaupt nicht ausgebügelt, sondern in puncto Dirigismus verstärkt.
Ich möchte noch auf einige Kritikpunkte zu sprechen
kommen, die hier schon erwähnt worden sind. Es gibt
die Kappungsgrenze von 100 Gigawattstunden und die
zusätzliche Voraussetzung, dass die Strombezugskosten
mehr als 20 Prozent der Bruttowertschöpfung ausmachen. Das wird nur von einer Hand voll großer Unternehmen in den stromintensiven Branchen erfüllt werden
können. Diese Novelle - davon gehe ich aus - soll wohl
eher Symbolcharakter haben; den Mittelstand vergisst
man hierbei völlig.
({3})
Auch unter marktwirtschaftlichen Aspekten ist es
sehr bedenklich, nur die Riesen einer Branche zu entlasten. In den kleineren Betrieben sind die Energiekosten,
die pro Arbeitsplatz zu Buche schlagen, ebenfalls hoch.
Die Verzerrung des Wettbewerbs innerhalb einer Branche kann überhaupt keine Zustimmung finden. Man
muss hier wirklich noch einmal klar sagen: Wettbewerbsverzerrung lässt sich nicht an der Größe eines Unternehmens festmachen. Das wäre unlogisch und ist auch
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten überhaupt nicht
nachvollziehbar.
Für die kleinen und mittleren Unternehmen befürchte
ich, dass dies angesichts der Kosten, die schon jetzt von
ihnen getragen werden müssen - ich nenne nur die Ökosteuer -, der Tropfen sein wird, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es könnte sein - ich hoffe es nicht -, dass
die Unternehmen darauf mit Personalabbau oder Verlagerung der Produktion ins Ausland reagieren.
Zu dem Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion möchte ich Folgendes sagen: Wir teilen die gesamten Bedenken, die darin vorgetragen werden. Er ist aus
unserer Sicht aber zu kurz gesprungen. Selbst wenn die
Bundesregierung auf alles das eingehen würde, bliebe es
beim Status quo, einem konzeptionell fehlgeleiteten Gesetz. Wir von der FDP wollen das nicht.
Wir haben bereits langfristig wirkende andere Lösungsvorschläge aufgezeigt. Unser Konzept zur marktwirtschaftlichen Förderung erneuerbarer Energien liegt
schon lange vor. Darüber können wir weiter diskutieren.
Wir werden uns daher bei der Abstimmung über den
Entschließungsantrag der CDU/CSU enthalten.
Es erscheint mir wichtig, zum Abschluss eines zu sagen, insbesondere in Richtung des Kollegen Bülow: Die
Errungenschaften des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
werden von Rot-Grün immer als sehr glorreich geschildert. Dass die Branche der Hersteller und Betreiber usw.
wächst, will ich gar nicht infrage stellen.
({4})
Auch das Anwachsen der Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich ist unbestritten.
({5})
- Moment! Auch ich freue mich über jeden zusätzlichen
Arbeitsplatz in diesem Bereich, ganz klar.
({6})
- Nein, das ist kein guter Schlusssatz. Ich muss da noch
etwas anfügen.
Nein, das wird leider nicht möglich sein, verehrte
Frau Kollegin.
({0})
Weil die Redezeiten von den Fraktionen und nicht vom
Präsidium festgelegt werden, sind meiner Großzügigkeit
leider enge Grenzen gesetzt.
({1})
Ich bin auch sofort am Schluss.
Wenn wir hier über die Schaffung von Arbeitsplätzen
reden, dann müssen wir einfach sehen, dass sich die nach
dem EEG gewährten Unterstützungszahlungen pro Arbeitsplatz - ich will hier gar nicht von Subventionen
sprechen - mittlerweile denen im Steinkohlebergbau annähern, fast schon gleich hoch sind.
({0})
Entsprechend unserem Credo sind uns Arbeitsplätze
natürlich lieb und teuer, aber nicht um jeden Preis.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nun hat die Kollegin Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nutzung der erneuerbaren Energien - Sonne, Wind, Biomasse, Erdwärme - entwickelt sich sehr dynamisch. Der
Beitrag dieser Energien stieg von 6 auf 8 Prozent und
wird in naher Zukunft auf 12 Prozent steigen. Das ist
sehr erfreulich. 130 000 Arbeitsplätze - das wurde schon
gesagt - sind zu verzeichnen. Marco Bülow hat eine
Zahl für Nordrhein-Westfalen genannt. Im Osten wurden
mehr als 1 000 neue Unternehmen in diesem Bereich gegründet. Es handelt sich um eine dynamisch wachsende
Branche in Zeiten der Wirtschaftskrise und um ein sichtbares Zeichen dafür, dass Maßnahmen zum Klimaschutz
greifen. Das sind doch wirklich positive Nachrichten.
({0})
Aber manchen ist das ein Dorn im Auge. Die Gegner
nutzen auch diese Debatte zum Frontalangriff. Ich weiß,
Frau Meyer, Sie gehören nicht dazu. Das ist völlig klar.
Aber Sie wissen, von welchen Personen ich hier spreche.
Darüber hinaus machen sich gerade die Vertreter der
energieintensiven Industrie Sorgen, dass die Belastungen
durch die Umlage steigen, wenn sich die erneuerbaren
Energien so positiv entwickeln.
Diejenigen, die das Instrument EEG grundsätzlich infrage stellen, müssen sagen, wie man Klimaschutz sonst
betreiben soll. Die erneuerbaren Energien sind eine der
tragenden Säulen des Klimaschutzprogramms. Zum Beispiel ist es so, dass das EEG die Hälfte der gesamten
CO2-Einsparungen bis 2005 im Bereich der Stromwirtschaft leistet. Wer an das EEG gewissermaßen die Axt
anlegen will, der muss Alternativen anbieten.
({1})
Aber ich nehme die Fragen durchaus ernst: Geht mit
der dynamischen Entwicklung auch eine Erhöhung der
Kosten einher? - Das eben ist mitnichten so, sondern
eine schlichte Falschaussage. Die Kosten werden perspektivisch sinken, weil wir in das Gesetz marktwirtschaftliche Anreize eingestellt haben. Die Kosten der
Windenergie sind in den letzten zehn Jahren um
50 Prozent gesunken und sie werden in den nächsten
Jahren weiter sinken. Die Kosten für Photovoltaik sind
in den letzten zehn Jahren um 60 Prozent gesunken. Dagegen sieht das Gesetz eine Degression von 5 Prozent
vor. Gibt es irgendein Gesetz, das einen dermaßen großen Anreiz zur Entwicklung neuer Technologien enthält? Ich glaube, ein solches Gesetz gibt es nicht. Das
EEG ist auch ein ganz starkes Instrument zur Förderung
von Innovationen.
({2})
Hinzu kommt, dass die Kosten pro produzierter Kilowattstunde sinken werden. Gleichzeitig - Marco
Bülow hat das schon angesprochen - werden die Kosten
pro produzierter Kilowattstunde im fossilen Bereich steigen. Das hat zwei Gründe: Perspektivisch werden die
fossilen Primärenergieträger teurer und - das ist für die
nahe Zukunft noch viel wichtiger - es werden nicht mehr
die Altinvestitionen, sondern die Neuinvestitionen entscheidend sein, das heißt, dass die Kosten pro produzierter Kilowattstunde im fossilen Bereich in nächster Zeit
ansteigen werden. Die Differenz zwischen einer Kilowattstunde, die aus erneuerbaren Energien produziert
worden ist, und einer Kilowattstunde, die aus fossilen
Energieträgern produziert worden ist, wird also geringer
werden. Es wird deswegen zu einem dynamischen Aufwuchs von Strom kommen, der aus Sonne, Wind, Biomasse und Erdwärme produziert worden ist. Gleichzeitig
werden die Kosten begrenzt; perspektivisch werden sie
sinken. - Das verstehe ich unter einem Zukunftsgesetz.
So sollte der Staat handeln: Rahmenbedingungen schaffen, damit in Zukunftstechnologien investiert wird, damit in Zukunftstechnologien Arbeitsplätze geschaffen
werden, damit gleichzeitig die Kostenbelastung der Gesellschaft sinkt.
Wir nehmen die Sorgen, die aus der Wirtschaft kommen, ernst und wir werden die Diskussion über das EEG
sehr offensiv führen. Jeder, der über Kostensenkungen
bei der Industrie spricht, aber gleichzeitig nicht darüber
diskutiert, wie die Wettbewerbsintensität in diesem Bereich erhöht werden kann, ist unglaubwürdig.
({3})
Der durchschnittliche Durchleitungspreis beträgt in
Deutschland circa 2,6 Cent pro Kilowattstunde. Das ist
1 Cent mehr als der europäische Durchschnitt und doppelt so viel wie die Gesamtbelastung, die vom EEG ausgeht.
({4})
Ich komme zum Schluss. Wer die Kosten bei Industrie und Verbrauchern senken will, der sollte in erster Linie nicht über das EEG, sondern über eine höhere Wettbewerbsintensität sprechen und gemeinsam mit uns den
Staat als Schiedsrichter in diesem Bereich stärken.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nun erteile ich dem Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich geht es ja heute um eine Sachfrage, und
zwar die Ausgestaltung der Härtefallregelung. Wenn ich
jetzt einmal Revue passieren lasse, was Sie, Herr Trittin,
Sie, Herr Bülow, und leider auch Sie, Frau Hustedt, in
weiten Teilen Ihrer Reden gesagt haben, dann muss ich
feststellen, dass Sie undifferenzierte Hallelujareden auf
das EEG gehalten haben und sich nicht zur Frage der
Ausgestaltung der Härtefallregelung geäußert haben.
({0})
Ich muss Ihnen daher leider attestieren: Sie haben das
Thema verfehlt.
Im Übrigen haben Sie damit genau das gemacht, was
Sie angeprangert haben: Sie haben Fakten falsch dargestellt und die ideologischen Scheuklappen - Sie haben ja
anderen vorgeworfen, diese aufgesetzt zu haben - nicht
abgelegt.
({1})
Ich möchte mir deshalb erlauben, auf einige Punkte einzugehen, die hier angesprochen worden sind, und Ihnen
einfach einmal die Fakten darlegen.
Wir reden über steigende Belastungen durch die Sozialversicherungen, durch Steuern, die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt und viele andere Dinge mehr.
Die Energiepreise, insbesondere der Strompreis, werden
aber leider in der öffentlichen und in der politischen Diskussion etwas außen vor gelassen. Wir brauchen gar
nicht drum herum zu reden: Es ist so, dass der Strompreis eine wichtige Rolle im nationalen und vor allem
auch im internationalen Wettbewerb spielt. Da stimmt
es nicht, Herr Trittin, dass, wie Sie sagen, die Strompreise insbesondere für die Industrie auf breiter Front gesunken sind. Fakt ist, dass das in rein nationaler Sicht
richtig ist; ich werde gleich noch auf ein paar absolute
Zahlen eingehen. Fakt ist aber auch, dass Deutschland
nach wie vor in Europa die dritthöchsten Strompreise
hat, unsere Strompreise also europaweit in der Spitze liegen. Das ist Faktenlage.
({2})
Faktenlage ist auch - Sie haben einige Zahlen auf Kilowattstundenbasis genannt -, dass wir im Jahre 2002 und
mit steigender Tendenz im Jahre 2003 zusätzliche Belastungen auf Energie haben, die je nach Berechnung zwischen 10,7 und 12 Milliarden Euro erreichen. Dem stehen
- das haben Sie richtigerweise angeführt - Liberalisierungs- und Rationalisierungseffekte gegenüber. Die machen aber nur 7,5 bis 8 Milliarden Euro aus. Das heißt, die
Nettobelastung beträgt in der Summe - da können Sie
sich noch so krümmen, dadurch wird Ihre Aussage von
vorhin auch nicht richtiger - 4 Milliarden Euro.
({3})
Noch eine Anmerkung zum Thema CO2: Wir sind uns
doch hoffentlich einig, dass es Ziel ist, die CO2-Emissionen zu reduzieren. Aber auch hier sollte man vielleicht
ein paar Effizienzkriterien mitberücksichtigen. Dies ist
ja nicht das Kernthema der heutigen Debatte, deswegen
habe ich die Zahlen nicht hundertprozentig präsent, kann
sie aber gerne noch einmal nachreichen. Es ist auf jeden
Fall so, dass zwar, wie Sie sagen, etliche Tonnen an CO2
aufgrund des verstärkten Einsatzes von erneuerbaren Energien nicht entstehen. Sie müssen aber auch fragen, wie
viele Millionen Tonnen mehr mit dem gleichen Aufwand
durch andere Maßnahmen eingespart werden könnten.
Beispielsweise durch die Verbesserung der Gebäudeeffizienz und andere Dinge könnten noch zehnmal mehr
CO2-Emissionen eingespart werden als durch den Einsatz von erneuerbaren Energien.
({4})
Wenn wir hier über Brosamen redeten, könnte man
Ihre Argumentation nachvollziehen, müsste aber gleichzeitig feststellen, dass es sich um eine Spielwiese handelt, die wirtschaftspolitisch vernachlässigbar ist und
über die zu sprechen sich nicht weiter lohnt. Da der
Wirtschaft das Wasser aber bis zum Hals steht, spielen
die Strompreise für die Unternehmen - das ist keine
bloße Theorie, sondern Praxiserfahrung - bei Standortund Investitionsentscheidungen sowie bei Verlagerungsüberlegungen eine Rolle.
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel - Sie können das
überprüfen; das ist Realität -: Ein kleines mittelständisches Unternehmen in der Region Stuttgart mit
400 Beschäftigten, nicht einmal aus der Aluminiumoder Zementbranche, sondern aus der Automobilzulieferindustrie, hat nach der jüngsten Ökosteuererhöhung
zum 1. Januar dieses Jahres seine Investitionsentscheidung zwischen dem Standort Stuttgart und dem Standort
Tschechien wesentlich mit den Energiepreisen begründet
- ich kann es Ihnen im Detail belegen - und sich letztlich
gegen den Standort Deutschland, also gegen Stuttgart
entschieden. Auch solche Fakten müssen Sie bei den
Zahlen, die Sie in Ihren Halleluja- und Hurrareden vorhin genannt haben und die ich nicht im Detail bestreiten
will, gegenrechnen, meine sehr geehrten Damen und
Herren.
Jetzt möchte ich versuchen, zum Thema zurückzukehren, nachdem Sie das Feld verlassen haben und ich
das so nicht stehen lassen kann. Herr Schlauch, ich weiß,
Sie wissen alles besser, insbesondere von der Wirtschaft
verstehen Sie mehr, aber sicherlich nicht von der Wirtschaft, von der ich rede; Sie haben Ihre Kompetenzen in
anderen Wirtschaftsbereichen.
({5})
Kommen wir noch einmal zur Härtefallregelung. Einige Punkte sind angesprochen worden; ich will das nicht
wiederholen. Mit der vorgeschlagenen Härtefallregelung
wird leider ein bürokratisches Monstrum, das auch ordnungspolitisch mehr als fragwürdig ist, institutionalisiert,
das nur eine Feigenblattfunktion hat. Die Kollegin von
der FDP hat es angesprochen: Wir sprechen heute erfreulicherweise zum ersten Mal darüber, dass wir die Stromund Energiepreise senken müssen. Wir sind über das Ziel
hinausgeschossen. In den vergangenen vier Jahren haben
Sie immer weiter draufgesattelt. Die jetzt erfolgte Regelung hat aber leider nur eine Feigenblattfunktion und
wird auch nicht funktionieren. Wenn Sie einmal gute Ansätze verfolgen, setzen Sie diese leider immer nur
schlecht oder dilettantisch um, ob das die Riester-Rente,
das Hartz-Konzept oder auch das EEG ist.
Das Thema Wettbewerbsverzerrungen ist angesprochen worden. Die Unternehmen werden sich überlegen,
wie sie die jetzige Lösung umgehen können. Ich nenne
einmal ein Beispiel, wozu das führen wird. Die jetzige
Regelung wird nur einige wenige Dutzend Unternehmen
treffen. Was werden die Unternehmen zum Beispiel hinsichtlich des Kriteriums des Anteils der Stromkosten von
größer 20 Prozent an der Bruttowertschöpfung machen?
Es gibt bereits einen konkreten Fall, den auch Sie wahrscheinlich kennen. Sie lagern ihre Beschäftigten in eine
Industriebeschäftigungsgesellschaft aus und kommen
durch diese intelligente Gestaltung über 20 Prozent. Die
Frage ist noch, wie sie das mit der Abnahmestelle umsetzen; Frau Kollegin Meyer hat das angesprochen. Aber
ansonsten ist der Plan konkret und muss nur noch umgesetzt werden.
Das heißt, wir werden die Kreativität der Unternehmen nicht dahin gehend fördern, wie sie ihre Produkte
innovativ voranbringen, sondern sie werden ihre Kreativität auf die möglichst geschickte Umgehung von Regelungen richten. Das kann nicht Sinn der Übung sein.
Das ganze Gesetz bewirkt im Ergebnis leider das Gegenteil dessen, was Sie beabsichtigt haben. Sie sprechen
- auch Herr Trittin hat das vorhin getan - von einer zielgenauen Lösung. Es ist aber keine zielgenaue Lösung,
weil Sie genau die, die am meisten betroffen sind, nicht
entlasten.
In der Summe ist es so: 100 Prozent der Wirtschaft
steht das Wasser nicht nur bis zum Hals, sondern bis zur
Oberkante Unterlippe. Mit der jetzt vorgeschlagenen
Härtefallregelung werden einige Promille temporär entlastet, sodass sie nicht unmittelbar untergehen. Im Ergebnis müssen aber die restlichen 99,9 Prozent die
Mehrbelastung tragen. Wir haben also letztlich nur die
Wahl zwischen Scylla und Charybdis.
Auch hinsichtlich der Effizienz, der Bürokratie und
der Unklarheit des Gesetzes haben wir deutlich gemacht,
dass wir als Gesetzgeber - da sind wir als Bundestag gefordert - diesem Murks, dieser Planwirtschaft, dieser
überbordenden Bürokratie, die Sie hier vorstellen, nicht
zustimmen werden.
({6})
Sie werden sehen, bei der Novellierung des EEG - darüber werden wir uns noch unterhalten - wird es wie bei
allen anderen Fragen, ob Hartz-Konzept oder RiesterRente, sein: In einem halben Jahr werden wir feststellen,
dass es hinten und vorne nicht funktioniert hat;
({7})
außer Bürokratie und Plan- und Staatswirtschaft ist
nichts gewesen und Sie haben die Unternehmen wiederum aus dem Land getrieben.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
({0})
- Entschuldigung! Die Versuchung zumindest war groß,
die durch Addition von längeren Redezeiten überschrittene Gesamtredezeit durch einen kühnen Streichungsversuch wieder einzuspielen. Aber ich will das nicht auf
Ihrem Rücken austragen.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hempelmann für die SPD-Fraktion.
({1})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihnen bleibt nichts erspart. Aber auch bei Ihrer Rede,
Herr Dr. Pfeiffer, blieb uns nichts erspart. Allerdings muss
ich zugeben, dass Ihre Rede Stärken und Schwächen
hatte. Sie haben schwach angefangen und anschließend
stark nachgelassen.
({0})
Ich will trotzdem versuchen, sachlich zu reagieren.
Der Kollege Marco Bülow hat wie auch einige andere
Kollegen schon deutlich gemacht, welche positiven Wirkungen das EEG entfaltet hat, nicht nur für die Ökologie, sondern insbesondere für den Anlagenbau, für den
Export und für die Schaffung von Arbeitsplätzen bei uns
im Lande. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist etwas,
auf das wir durchaus stolz sein können.
({1})
Wenn gesagt wird, man müsste eigentlich mehr tun,
um die CO2-Emissionen zu reduzieren, dann muss ich
sagen, Herr Dr. Pfeiffer: Sie haben sicherlich Recht. Wir
können Ihnen mit Freude hier vermelden, dass wir die
Maßnahmen, die Sie gerade beispielsweise in Sachen
Gebäudeeffizienz eingefordert haben, bereits umgesetzt
haben.
({2})
Wenn Sie das aus dieser Debatte mitnehmen, dann haben
wir einen gewissen Fortschritt in der Verständigung erzielt.
Es stimmt aber auch, dass es einige Unternehmen
gibt, die aufgrund der Kosten, die das EEG verursacht,
Probleme haben. Das haben wir dem vom Bundeswirtschaftsministerium vorgelegten Erfahrungsbericht entnehmen können. Ich denke, es ist angemessen, dass die
Politik darauf reagiert und eine entsprechende Härtefallregelung auf den Weg bringt.
Wir wissen, dass die Unternehmen durch die Kumulation von Wirkungen verschiedener Instrumente - sie sind
bereits genannt worden: Ökosteuer, KWK und eben
EEG - betroffen sind. Wir haben bei den anderen Instrumenten bereits reagiert und wir werden das auch beim
EEG tun. Wir haben schon angekündigt, dass wir im
weiteren Verfahren nachjustieren werden. Die Branchen
sind aufgefordert, die entsprechenden Daten und Fakten
zu liefern, damit zielgenau reagiert werden kann. Es ist
heute schon richtig gesagt worden: Wenn wir an der einen Stelle entlasten, dann belasten wir an der anderen
Stelle. Es ist daher aufgrund der jetzigen Datenlage klug,
eine eng gefasste Härtefallregelung zu formulieren. Wir
helfen schnell und wir helfen denen, die am härtesten betroffen sind.
({3})
Es ist uns der Vorwurf gemacht worden, die Schwellen seien willkürlich und sie seien zu hoch. Zunächst
einmal muss man sagen: Jede Schwelle - dabei ist es
völlig egal, um welches Gesetz es sich handelt - ist letztendlich in einem gewissen Maße willkürlich, weil sich
jede Schwelle begründen lässt. Eine niedrigere Schwelle
ist genauso zu begründen wie eine höhere. Die Begründung für die höhere Schwelle ist, dass mit einer sehr eng
gefassten Härtefallregelung die am härtesten Betroffenen
entlastet werden. Eine breit angelegte Härtefallregelung
würde zu einer breiten Belastung der restlichen Betroffenen führen. Insofern haben wir keine willkürliche, sondern eine gut begründbare Regelung geschaffen.
Wir wollen trotzdem den Versuch machen, im weiteren Verfahren weitere betroffene Unternehmen zu erfassen. Ich denke dabei insbesondere an mittelständische
Unternehmen, die besonders energieintensiv produzieren. Ich bin ganz sicher, dass wir einen entsprechenden
Vorschlag im Rahmen der EEG-Novelle vorlegen werden.
({4})
Ich will nun auf die Härtefallregelung konkret eingehen. Wir haben eine Anhörung durchgeführt, über die
heute schon gesprochen worden ist. Dort gab es im Wesentlichen eine Botschaft, die Sie heute leider nicht wiedergegeben haben. Alle Sachverständigen haben deutlich gesagt, dass sie in jedem Fall eine schnelle Regelung
haben wollen. Obwohl sie an der einen oder anderen
Stelle Änderungswünsche hatten, waren sie dennoch der
Meinung, dass diese Änderungswünsche gemessen an
dem Ziel, eine schnelle Regelung zu schaffen, nachrangig sind. Die Experten waren daher bereit, der jetzt vorliegenden Regelung zuzustimmen.
({5})
Es gab noch eine Übereinstimmung, und zwar interessanterweise zwischen Sachverständigen, die sich ansonsten in manchen Punkten überhaupt nicht einig waren. Es
wurde zur Begrenzung der anteilig weitergereichten
Strommenge tatsächlich eine Grenze von 0,05 Cent je
Kilowattstunde festgelegt, wie es auch der Bundesrat gefordert hatte. Wir, die Koalitionsfraktionen, sind der Forderung der Sachverständigen entgegengekommen. Insofern haben wir hier den Nachweis erbracht, dass wir in
der Lage sind, aus Anhörungen Lehren zu ziehen, und
bereit sind, Anregungen aus dem Bundesrat aufzunehmen. Wir haben durch die Festlegung einer Grenze von
0,05 Cent je Kilowattstunde eine Entlastung beschlossen.
Das ist eine ganz maßgebliche Einschränkung des Ermessensspielraums der Prüfbehörde. Wer behauptet,
dass hiermit Bürokratie aufgebaut und Planwirtschaft
eingeführt wird - und was da noch alles gesagt worden
ist -, ist widerlegt. Wir haben im Gegenteil ganz eindeutig dafür gesorgt, dass eine Überprüfung sehr zügig erfolgen kann, nämlich in dem im Gesetz festgelegten und
angekündigten Vierwochenzeitraum.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie geht es weiter?
Ich habe es gerade angedeutet: Wir werden uns im weiteren Verlauf des Jahres mit der EEG-Novelle befassen.
Auch das Thema Emissionshandel steht auf der Tagesordnung. Sie wissen, dass es aus Brüssel den Entwurf einer Richtlinie zum Thema Energiebesteuerung und
auch zur Frage von Ausnahmetatbeständen in diesem
Bereich gibt. Ich denke, das wird das Anregungsmaterial
sein, das wir aufnehmen werden, wenn wir im weiteren
Vollzug an einer möglicherweise zu verändernden Definition des Begriffs „stromintensive Unternehmen“ arbeiten werden. Möglicherweise kommen wir dazu, dies
sukzessive auf die drei vorgesehenen Instrumente auszuweiten.
Unsere Arbeit an einem Wettbewerbs- bzw. Regulierungsrahmen - auch das ist hier angedeutet worden wird genauso entscheidend sein. Diesen wollen und
müssen wir in der zweiten Jahreshälfte vorantreiben;
denn ab dem 1. Juli des nächsten Jahres hat auch in
Deutschland der Regulierer über den Wettbewerb bei
den leitungsgebundenen Energien zu wachen. In diesem
Bereich versprechen wir uns eine ganze Menge mehr
Transparenz. Wir gehen davon aus, dass es dann zu sehr
viel einheitlicheren Kostendefinitionen kommen wird,
wobei wir uns durchaus niedrigere Kosten und geringere
Kostenumwälzungen im Bereich der erneuerbaren Energien erhoffen.
Jetzt ist eine Spreizung zu beobachten. Sie ist sogar
noch größer, als sie soeben vom Minister beschrieben
worden ist. Sie liegt nämlich zwischen 0,0 und etwa
0,6 Cent. Es gibt also Unternehmen, die von bestimmten
Versorgern gar nicht zur Kasse gebeten werden, andere,
die 0,3 Cent zahlen, und wiederum andere, die circa
0,6 Cent bezahlen. Diese Spreizung muss ein Ende haben. Wir müssen dazu kommen, dass nur die tatsächlichen EEG-Kosten weitergewälzt werden. Das wird einen
maßgeblichen Beitrag dazu leisten, im Zuge des weiteren Aufbaus der erneuerbaren Energien in die Situation
zu kommen, dass eine Verdoppelung der erneuerbaren
Energien nicht heißt: Verdoppelung der Kosten. Dazu ist
schon einiges ausgeführt worden.
Zum Schluss möchte ich sagen: Ich bin den Kollegen
im Bundesrat für ihre konstruktive Beratung ausdrücklich dankbar. Ich weiß, dass dabei mancher von denjenigen, die hier sitzen, durchaus hilfreich war und dass das,
was wir hier im Plenum zu hören bekommen, manchmal
nur die eine Seite der Medaille ist. Im Grunde wissen
Sie, dass wir eine solche Härtefallregelung brauchen. Sie
wissen, dass der Bundesrat diese Regelung durch seine
konstruktive Einlassung mitgestaltet hat.
Ich wünsche mir ein solches Vorgehen auch für so
manches andere Thema, das wir hier zu bereden haben.
Bewährungsproben kommen genug: nicht nur, aber auch
in der Energiepolitik.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe nun tatsächlich die Aussprache zu diesem
Tagesordnungspunkt und führe die angekündigten Abstimmungen durch.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksache
15/810. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1121, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erheben. - Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Dann
ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit der Koalition gegen die Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1147. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer möchte dagegen stimmen? - Wer möchte
sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt.
Wir befinden uns noch immer bei Tagesordnungspunkt
22. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1121 empfiehlt der Ausschuss, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Drucksache 15/1067 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Möchte jemand dagegen
stimmen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten?
- Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot
Erler, Karin Kortmann, Gert Weisskirchen ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele, Thilo Hoppe, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten
der Demokratischen Republik Kongo
- Drucksache 15/1144 Dazu ist interfraktionell eine Beratungszeit von einer
halben Stunde vorgesehen. - Es erhebt sich dagegen kein
Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart.
Ich erteile zunächst das Wort der Staatsministerin
Kerstin Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
in den letzten neun Tagen die Region der Großen Seen
besucht und in Kinshasa, Kampala und Kigali Gespräche
mit allen wichtigen politischen Repräsentanten und mit
Vertretern internationaler Organisationen geführt. Ich
kann nur sagen: Die Lage ist dramatisch, und zwar nicht
nur in der Provinz Ituri - das ist die Provinz, aus der uns
Bilder in den letzten Monaten erreichten -, sondern auch
in der angrenzenden Region Kivu und insgesamt im
Kongo.
Nehmen wir als Beispiel Bunia. Bunia war eine Stadt
mit circa 250 000 Einwohnern. Nach Angaben internationaler Organisationen sind es jetzt gerade einmal 20 000.
Davon befinden sich 12 000 in zwei Camps am Flughafen und in der Nähe des MONUC-Lagers. Mehrere Hundert Tote wurde von den MONUC-Soldaten gefunden.
Allein 50 000 Menschen, so schätzt man, sind in die
Wälder und Nachbarregionen im Süden geflüchtet,
20 000 nach Uganda und von den übrigen weiß man es
nicht genau.
Tagtäglich erreichen uns Nachrichten von neuen Metzeleien und Massakern aus den Nachbardörfern. Ituri
ist, so hat es einer meiner Gesprächspartner formuliert,
„nur ein weiterer Schritt zur Hölle“. Es herrscht Angst,
dass noch mehr folgen werden. Denn im Kongo-Krieg,
Afrikas erstem Weltkrieg, sind seit 1998 mehr als
3 Millionen Menschen umgekommen, circa 2,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht oder wurden vertrieben. Folter, Exekutionen, Verstümmelungen, Kindersoldaten und Massenvergewaltigungen gehören zu den
alltäglichen Kampfmitteln. Erst jüngst gab es wieder einen Bericht von der stellvertretenden Leiterin von
OCHA über eine Vergewaltigungskampagne in Kivu.
Die Menschenrechte werden also systematisch missachtet und auf das Grausamste verletzt.
Die internationale Gemeinschaft kann diesem Morden
nicht länger zusehen.
({0})
Wir tragen eine Verantwortung für die Durchsetzung der
Menschenrechte. Deshalb ist es richtig, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nun so schnell wie
möglich eine multinationale Truppe, und zwar mit einem
robusten Mandat, nach Ituri, nach Bunia entsendet.
({1})
Deshalb ist es auch richtig, dass Deutschland diesen
Einsatz im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstützt.
Wir denken dabei vor allem an medizinische und logistische Hilfen. Ich würde mich sehr freuen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU und FDP, wenn dieses
deutsche Angebot die Zustimmung aller Fraktionen in
diesem Hause finden würde. Ich glaube, den Einsatz der
Vereinten Nationen zu unterstützen, ist das Mindeste,
was wir tun können.
({2})
Eines kann ich Ihnen aus meinen Gesprächen versichern: Die Regierungen in Kinshasa, Kampala und Kigali begrüßen die Einsatztruppe und vor allem die Tatsache, dass sie zu einem großen Teil von Europäern im
Rahmen einer ESVP-Operation gestellt wird.
Manche wenden ein, das Mandat der Truppe sei angesichts der Dimension des Konflikts zeitlich und räumlich viel zu begrenzt. Ich glaube nach meiner Reise und
den vielen Gesprächen, die ich geführt habe, dass dieses
Signal der Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft weit über die Grenzen von Ituri hinaus in der Region verstanden werden wird. Wir zeigen damit: Wir
sind entschlossen, wir werden handeln und lassen nicht
zu, dass weiter gemordet und Gewalt ausgeübt wird. Ich
bin ziemlich zuversichtlich, dass dieses Signal verstanden werden wird.
({3})
Fest steht für mich: Der Konflikt in Ituri und der angrenzenden Region Kivu gefährdet den gesamten Friedensprozess im Kongo. Eigentlich sollte in der Woche
meiner Reise die nach den Vereinbarungen von Sun City
und Pretoria vorgesehene Übergangsregierung in Kinshasa gebildet werden, aber die Machtverteilung und der
Aufbau der gemeinsamen Armee sind weiterhin heftig
umstritten, sodass der Prozess ins Stocken geraten ist.
Damit komme ich zu einem zentralen Punkt: Wenn
der politische Prozess im Kongo nicht vorankommt,
wird eine noch so starke internationale Truppe wenig
ausrichten können. Deshalb muss der Einsatz vor allem
politisch flankiert werden. Das heißt, wir müssen allen
Akteuren unsere Erwartung, dass die vereinbarten
Friedensabkommen endlich umgesetzt werden, deutlich machen.
Ich habe deshalb den Präsidenten Kabila, Museveni
und Kagame die eindeutige Botschaft überbracht, dass
Deutschland und Europa von ihnen die rasche und vollständige Umsetzung der Vereinbarungen von Sun City,
Pretoria und Luanda erwarten, nur so können sie zu diesem Friedensprozess konstruktiv beitragen.
({4})
Ich bin fest davon überzeugt: Wenn es gelänge, in Kinshasa als ersten Schritt eine Übergangsregierung unter
Beteiligung der maßgeblichen politischen Kräfte zu bilden, wäre dies ein entscheidender Schritt auf dem langen
Weg zur Beilegung dieses furchtbaren Konfliktes.
Hinzu kommt, dass wir wissen, dass in Ituri, aber
auch in anderen Gebieten Ostkongos, die Nachbarstaaten
Uganda und Ruanda Milizen, oft sogar Kindersoldaten,
ausrüsten und militärisch unterstützen. Auch die Regierung in Kinshasa setzt auf bewaffnete Gruppierungen,
um ihre Interessen durchzusetzen. Sie stehen unter dem
Verdacht, einen Stellvertreterkrieg um die Ausbeutung
von Ressourcen im Ostkongo auszutragen. Daher habe
ich deutlich gemacht, dass wir erwarten, dass Uganda
und Ruanda ihre Unterstützung der Milizen aufgeben.
Frau Staatsministerin, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass die gemeldete Redezeit abgelaufen ist.
Ich bin gleich fertig. Ich denke, es ist von Interesse,
den Bericht zu hören.
Daran habe ich keinen Zweifel, aber da Sie die strengen Anrechnungsvorschriften kennen, wollte ich vermeiden, dass hinterher ein fehlender Hinweis moniert wird.
Ich denke, der Bericht ist für alle Fraktionen von Interesse. Ich war aus Krankheitsgründen vorgestern leider
nicht in der Lage, zur Ausschusssitzung zu kommen,
was ich gerne gemacht hätte. Ich hoffe deshalb, meinen
Bericht noch schnell beenden zu können.
Wegen der regionalen Verflechtung kann nur eine Gesamtlösung dauerhaften Frieden bringen. Daher könnte
nach Bildung einer Übergangsregierung im Kongo auf
einer regionalen Konferenz für Frieden und Demokratie über die Zukunft der Region der Großen Seen beraten
werden.
Meine Damen und Herren, wir müssen im Kongo
nicht nur humanitäre Hilfe leisten und mit einer internationalen Truppe das Morden in Bunia stoppen. Wir müssen uns intensiv bei den Konfliktparteien dafür einsetzen, dass der politische Prozess vorankommt. Dabei
müssen wir uns eng mit den europäischen und internationalen Partnern abstimmen. Vor allem aber müssen wir
dafür sorgen, dass die Menschenrechte wieder geachtet
werden.
({0})
Wir müssen dem in der Region weit verbreiteten Eindruck entgegenwirken, Afrika sei ein von uns, von den
Europäern, vergessener Kontinent. Wir müssen den Afrikanern helfen, ihre Probleme künftig selbst anzupacken
und für ihre Sicherheit selbst zu sorgen.
Heute wird im Kongo das Recht durch Gewalt ersetzt.
Sorgen wir gemeinsam mit den internationalen, den europäischen und afrikanischen Partnern dafür, dass das
Recht wieder die Schwachen schützt.
Vielen Dank.
({1})
Nun erteile ich dem Kollegen Friedbert Pflüger,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal wünsche ich Ihnen, Frau Staatsministerin Müller,
gute Besserung. Sie sind aus dem Kongo mit einer
Krankheit zurückgekommen und wir wünschen Ihnen
rasche Genesung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU hat aufgrund eines Mandates der Vereinten Nationen beschlossen, 1 400 Soldaten in die Provinz Ituri zu entsenden,
um einen drohenden Völkermord zu verhindern. CDU
und CSU werden sich der aus diesem Beschluss folgenden Verantwortung nicht entziehen. Deutschland muss
aber bei einer Unterstützung der EU-Mission seinen begrenzten militärischen und finanziellen Möglichkeiten
Rechnung tragen. Wir können deshalb als Deutsche bei
dieser Mission keine tragende Rolle übernehmen.
({1})
Wir können nicht überall auf der Welt, wo es Krisen,
Konflikte und Kriege gibt, an vorderster Front tätig werden. Wenn wir für Zurückhaltung bei diesem weiteren
Engagement deutscher Soldaten plädieren, dann geschieht das nicht aus moralischer Gleichgültigkeit gegenüber den von Frau Müller beschriebenen Gräueln,
sondern aus Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten. Deshalb und aus unserer Fürsorgepflicht für unsere
Soldaten und deren Familien haben CDU und CSU von
Beginn an klar gemacht: Es wird keine deutschen
Kampftruppen, auch keine Fallschirmjäger, im Kongo
geben.
({2})
Wir sind froh darüber, dass der Verteidigungsminister
inzwischen klargestellt hat, dass sich die Unterstützungsmaßnahmen für die EU-Militärmission auf logistische
Unterstützung, Transportleistungen und ein MEDEVACHospitalflugzeug für Notfälle konzentrieren. Es wird
keine deutschen Soldaten im Kongo geben.
Meine Kollegen Christian Ruck, Christian Schmidt
und ich hatten bereits in der vergangenen Woche eine
solche Beschränkung des deutschen Engagements vorgeschlagen. Wir warnen ausdrücklich davor, in den
nächsten Tagen weitere Verpflichtungen einzugehen.
Wir werden in der übernächsten Woche über ein
Mandat für die Kongo-Mission entscheiden. CDU und
CSU stehen den entsprechenden Vorschlägen der Bundesregierung, soweit sie sich in diesem Rahmen halten,
aufgeschlossen gegenüber. Aber wir haben einige klare
Fragen, deren Beantwortung wir bis dahin von der Bundesregierung erwarten:
Erstens. Sind die vorgesehenen 1 400 Soldaten wirklich in der Lage, dort Frieden zu schaffen? Die französische Verteidigungsministerin hat heute von einer überaus schwierigen und gefährlichen Mission gesprochen.
Schon der Name der Operation, „Operation Mamba“,
verheißt wenig Gutes. Darf ich einfach die Frage an Sie
richten, ob man diesen Namen noch verändern kann?
Die Start- und Landebahnen des Flughafens Bunia in
Ituri sind in einem denkbar schlechten Zustand. Material
und Soldaten können nur nach und nach in das Land
transportiert werden. Wegen des Regens können in Bunia keine Panzer patrouillieren. Schweres Material ist
aber notwendig, weil der Friedenstruppe zahlenmäßig
überlegene und schwer bewaffnete Kämpfer gegenüber
stehen, unter anderem - ich zitiere die französische Ministerin - „junge, unter Drogen stehende, völlig unkontrollierbare Milizen“ mit moderner Ausrüstung, zum
Beispiel mit Boden-Luft-Raketen.
Das Mandat soll auf die Stadt Bunia konzentriert werden. Stefan Mair, der Experte der Stiftung Wissenschaft
und Politik, hält die Begrenzung des Einsatzgebietes auf
die Stadt für problematisch. Massaker außerhalb Bunias
und eventuell Flüchtlingsströme in die Stadt wären die
Folge. Ich finde, wir müssen solche Fragen klären, bevor
wir zustimmen.
Zweitens. Wir sind unseren französischen Freunden
dankbar, dass sie bereit sind, die tragende Rolle bei dieser Friedensmission zu übernehmen. Aber es muss auch
erlaubt sein, ohne jedes Vorurteil die Frage zu stellen, ob
Frankreich als Friedensstifter von allen Konfliktparteien
anerkannt ist. Oder unterstellt man in der Region Frankreich nicht automatisch machtpolitische Eigeninteressen? Stefan Mair von der SWP sagt, es sei das dominante Motiv französischer Afrikapolitik, seine
Bedeutung als weltpolitischer Akteur zu stützen. Es sei
zu vermuten, dass die Auseinandersetzung mit den USA
über den Irakkrieg zu einer Renaissance dieser alten
französischen Motivation geführt habe. - Wie gesagt,
das sind keine Vorurteile, sondern Fragen, die zu klären
sind.
Drittens. Nach der bisherigen Planung soll der EUEinsatz ohne Rückgriff auf NATO-Strukturen erfolgen.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt dazu
heute:
Frankreich hofft damit auch dem politischen Ziel
näher zu kommen, autonome EU-Einsätze ohne die
Nato zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen.
Entspricht das der bisherigen deutschen Politik? Ist
das unser Interesse? Bisher war es doch unsere Politik
- so ist das noch auf der Webseite des Auswärtigen Amtes nachzulesen -, dass es vor dem Einsatz militärischer
Mittel zunächst Sache der NATO ist, zu entscheiden, ob
sie eine militärische Operation einleiten will oder nicht.
Erst wenn die NATO als Ganzes nicht bereit ist, sich in
einem Konflikt zu engagieren, soll die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefragt werden. War
es wirklich klug, dem französischen Drängen nachzugeben, in jedem Fall eine reine isolierte EU-Operation
durchzuführen? Hätte sich nicht wenigstens einmal der
NATO-Rat mit diesem Einsatz befassen sollen? Ist das in
der Vereinbarung Berlin Plus zwischen NATO und EU
nicht so vorgesehen? Der NATO-Rat hat bisher nicht
darüber befunden.
Selbst wenn die NATO nicht als Ganzes bereit wäre,
einzugreifen, warum nimmt man für diese Operation
nicht wenigstens die Fähigkeiten und Möglichkeiten der
NATO, etwa das NATO-Hauptquartier, in Anspruch?
Meine Sorge ist: Wir als EU überheben uns in diesem
schwierigen Konflikt. Werden wir als Deutsche und Europäer nicht in einen afrikanischen Konflikt hineingezogen? Wäre es nicht unsere Aufgabe, die bisherige Sicherheitspolitik, die die europäische Verteidigung als
Säule, nicht aber als Gegengewicht zu den Amerikanern
verstanden hat, zu stärken?
({3})
Meine letzte, die vierte Frage. Das Mandat der UNO
ist bis zum 1. September begrenzt. Vor Mitte Juli wird
die Operation Mamba aber kaum voll einsatzfähig sein.
Ist es realistisch, in weniger als zwei Monaten Frieden
schaffen und Kindersoldaten entwaffnen zu wollen? Die
Bundesregierung sollte uns ehrlich sagen, ob sie das
glaubt. Selbst wenn eine Stabilisierung gelänge, was
passiert nach dem 1. September, wenn Blauhelme aus
Bangladesch wieder Verantwortung tragen sollen? Geht
dann wieder alles von vorne los? Was ist die mittelfristige Erfolgschance? Was ist die politische Perspektive?
Was ist die Exit-Strategie, das heißt, gibt es die Möglichkeit, aus dem Konflikt herauszukommen, in dem man
sich engagiert? Oder werden wir auf ewig in diesen Konflikt hineingezogen?
Herr Kollege Pflüger, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - CDU und CSU erwarten
die Beantwortung dieser Fragen. Ich darf noch einmal
sagen: Der Verantwortung, die aus dem EU-Mandat für
uns alle erwächst, werden wir uns nicht entziehen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin!
Lieber Kollege Pflüger, Sie haben die Fragen richtig gestellt. Jetzt muss es aber darauf ankommen, dass wir
Antworten geben und dass wir deutlich machen - ich bin
für Ihren Schlusssatz dankbar -, dass wir die Menschen
im Kongo nicht alleine lassen. Das ist die zentrale Botschaft, die heute von dieser Debatte ausgehen muss.
Denn das Herz Afrikas blutet.
({0})
Natürlich müssen wir uns fragen, welche Möglichkeiten und welche operativen Fähigkeiten wir haben. Es ist
völlig richtig, darauf eine vernünftige Antwort zu verlangen. Das Problem wurde richtig beschrieben. Ich glaube,
wir können uns dieser Verantwortung nicht einfach entziehen. Wie könnten wir das gegenüber den Menschen,
die in der Stadt Bunia und in der Region Hoffnung äußern und Fragen stellen, die uns erreichen und die wir
beantworten müssen? Ich glaube, dass wir gar nicht anders können, als darauf die klare und eindeutige Antwort
zu geben: Ja, wir wollen innerhalb unserer operativen
Fähigkeiten helfen. Diese Antwort muss heute gegeben
werden.
Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung in
Brüssel mitgeholfen hat, dass diese Entscheidung in der
Europäischen Union getroffen worden ist. Lieber Herr
Dr. Pflüger, den Begriff, den Sie hier genannt haben, habe
ich heute zum ersten Mal gehört. Soweit mir bekannt ist,
hat die Präsidentschaft der EU den Vorschlag gemacht,
eine Mission mit dem Namen „Artemis“ zu entsenden.
Das hat etwas mit der klassischen griechischen Philosophie und mit einer Göttin zu tun, die eine doppelte BedeuGert Weisskirchen ({1})
tung hat. Ein Teil dieser doppelten Bedeutung betrifft die
Rettung und den Willen, mitzuhelfen, dass die Menschen
in diesem geschundenen Land, in der Demokratischen
Republik Kongo, eine wirkliche Chance haben.
Lieber Kollege Dr. Pflüger, ich bitte Sie: Verdunkeln
wir unsere Bereitschaft, den Menschen zu helfen, nicht
mit allzu vielen - berechtigten - Fragen. Diese Fragen
werden wir im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss behandeln. Seien Sie sich sicher: Aufgrund der begrenzten operativen Fähigkeiten, von denen wir von der Bundesregierung gehört haben, ist es
klar und eindeutig, dass wir die Bundeswehr und diejenigen, die sich an dieser Mission beteiligen, nicht in Gefahr bringen werden. Wir wissen, in welche ungeheuren,
ungewissen, ja chaotischen Situationen wir sie entsenden
könnten. Diese müssen in erster Linie diejenigen bewältigen, die Kenntnisse vor Ort haben, die wissen, wie man
solche chaotischen Räume beherrschen und kontrollieren kann und die ihren Beitrag dazu leisten können, dass
diese so geschundene Region die Chance zur Stabilisierung hat.
Wir werden uns an einem solchen Mandat beteiligen,
und zwar nicht allein deshalb, weil die Vereinten Nationen das einstimmig beschlossen haben oder weil es die
internationale Staatengemeinschaft von uns geradezu
verlangt, sondern deshalb, weil wir Europäer eine Verantwortung gegenüber unserem Nachbarkontinent haben.
({2})
Afrika darf nicht aus unserem Blickfeld geraten. Die
Menschen in Afrika sollen wissen: Sie sind unsere Nachbarn. Wir müssen ihnen helfen, auf dem guten Weg weiter zu gehen, der sich in vielen Regionen Afrikas schon
abzeichnet.
Es gibt aber nicht nur das Zentrum, das ins Chaos fällt
und sich in großer Gefahr befindet, der Gewaltspirale
noch stärker ausgesetzt zu werden. Nein, es gibt auch
sehr viele ermutigende Anzeichen in vielen anderen
Staaten Afrikas. Wir helfen diesen Staaten, ihre Zivilgesellschaften aufzubauen. Wir unterstützen gutes Regierungshandeln und helfen mit, dass diese Staaten entschuldet werden; denn die Schuldenlast drückt auf ihre
Perspektive. Durch sie werden ihre Chancen unterdrückt, eine Demokratie zu entwickeln und von unten
her neue zivilgesellschaftliche Strukturen aufzubauen.
Seit 1999, seit der Kölner Entschuldungsinitiative,
haben wir mitgeholfen, dass sich Demokratien in Afrika
entwickeln können. Dafür gibt es gute Beispiele: Nehmen Sie Mali, Mosambik und schließlich Kenia.
({3})
Hier zeigt sich, dass diese Chance von den Afrikanern
selbst in die Hand genommen wird. Um genau das geht
es uns.
({4})
Wir wollen mithelfen, dass die Menschen selbst handeln
und demokratische Strukturen von innen und unten her
aufbauen können. Deshalb ist es jetzt erforderlich, den
Menschen die Sicherheit zu geben, die sie dringend benötigen.
Erinnern Sie sich alle bitte daran, was wir selbst
durchgemacht haben. 1995 kam es in Jugoslawien zu
der furchtbaren Situation, dass Soldaten aus Holland
- sie mussten einem nur begrenzten und, wie man im
Nachhinein erkennen musste, falschen Mandat folgen einfach fassungslos vor der fürchterlichen Tragödie des
Abschlachtens von Tausenden von Moslems standen.
Damit sich diese fürchterliche Tragödie nicht wiederholt, damit ein solches Massaker von vornherein verhindert wird, brauchen wir ein robustes Mandat. Es ist die
Aufgabe der Europäer, den Afrikanern jetzt zu helfen,
lieber Kollege Pflüger.
({5})
Wenn es dafür eine Möglichkeit gibt, dann möchte ich
darum bitten, dass sich die zuständigen Minister auch in
Brüssel überlegen, inwiefern es gelingen kann, Assets
der NATO dort, wo es sinnvoll, notwendig und möglich
ist, einzubeziehen. Ich finde, wir sollten in diesem Punkt
offen und flexibel an diese Probleme herangehen. Wir
dürfen uns ideologisch nicht auf das fixieren, was sich
irgendwer dazu erdacht hat. Es kommt darauf an, alle
praktischen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu nutzen,
damit das Herz Afrikas aufhört zu bluten und die Menschen eine Chance haben, ihr Leben selber in die Hand
zu nehmen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Heinrich,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Staatsministerin, ich bedanke mich
ausdrücklich für Ihren Vortrag, mit dem Sie uns darüber
informiert haben, wie die Situation vor Ort ist. Die Tatsache, dass Sie heute zu diesem Thema gesprochen haben, unterstreicht die Wichtigkeit dieses Themas.
Lassen Sie mich zu Anfang sagen: Ich hätte gerne zusammen mit den anderen Fraktionen einen gemeinsamen
Antrag formuliert. Leider Gottes ist dieser nicht zustande
gekommen. Aber an uns hat es nicht gelegen. Wir werden die Debatte aber in diesem Sinne weiterführen. Wir
begrüßen es ausdrücklich, dass der UN-Sicherheitsrat
am Freitag vergangener Woche die Entsendung einer internationalen Friedenstruppe in die Demokratische Republik Kongo einstimmig beschlossen hat. Auch begrüßen wir, dass der EU-Ministerrat gestern das Gleiche
gemacht hat. Aus Zeitgründen - mir bleiben nur noch
knapp drei Minuten Redezeit - möchte ich auf die Militär- und Außenpolitik nicht eingehen. Ich verweise auf
die gestrige Erklärung von Werner Hoyer, als in der
NATO-Debatte die Frage einer deutschen Beteiligung
angesprochen worden ist.
Ich als Entwicklungspolitiker möchte einen anderen
Blickwinkel darstellen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass
die Delegation des UN-Sicherheitsrates nach Kinshasa
reisen wird, um zu versuchen, dort eine Übergangsregierung zu installieren. Dies hätte schon längst stattfinden
sollen. Es ist erfreulich, dass dies von der höchsten UNEbene erneut angepackt wird. Der UN-Sicherheitsrat ist
in den letzten Jahren dreimal mit einer Delegation in diese
Region gereist. Wir als Deutscher Bundestag müssen dieses Unternehmen unterstützen. Wir hoffen natürlich, dass
diese Delegation erfolgreich sein wird.
Dies alles gibt Hoffnung, dass sich die schrecklichen
Ereignisse in Ruanda und Uganda, der Völkermord,
nicht wiederholen. Damals versäumte es die internationale Gemeinschaft, rechtzeitig einzugreifen. Der Genozid wurde tragischerweise nicht verhindert. Deshalb
muss die Völkergemeinschaft heute handeln. Noch ist
Zeit, eine große Katastrophe und massenhaftes Blutvergießen zu verhindern.
Besonders dramatisch ist die Situation in der Region
an den Großen Seen in Afrika wegen der fehlenden Autorität des Staates, insbesondere im Osten Kongos. Es
gibt keine Infrastruktur. Die zivile Bevölkerung wird mit
dem Notwendigsten nur schlecht versorgt. Die Gesundheitsversorgung ist mangelhaft. Die Menschen hungern.
Seuchen wie Malaria und Aids breiten sich ungehindert
aus. Am schlimmsten sind die Kinder betroffen. Viele
von ihnen sind aufgrund von Mord, Totschlag und Aids
schon als Kleinkinder zu Waisen geworden. Im Osten
Kongos gibt es nach Angaben der Welthungerhilfe
10 000 Kindersoldaten. Wir müssen alles tun, um diesen
Kindern wieder eine Zukunft zu geben.
({0})
Die GTZ und die KfW haben in Projekten in Sierra
Leone sehr gute Ergebnisse bei der Wiedereingliederung
von ehemaligen Kindersoldaten erzielt. Diesem Thema
müssen wir uns heute zuwenden. Diese Erfahrungen können und müssen jetzt sofort im Kongo genutzt werden.
Herr Kollege Heinrich, schauen Sie bitte einmal auf
die Uhr vor Ihnen.
Es reicht nicht aus, wenn die Koalition für den Herbst
ein Demobilisierungs- und Wiedereingliederungsprogramm erwartet. Wir wollen heute konkrete Aussagen
dazu hören, dass diese Bundesregierung und die Koalition bereit sind, parallel zur Entwaffnung der Kindersoldaten ihre Aufgaben in diesem Sinne tatsächlich wahrzunehmen.
({0})
Ich hätte noch einige gute Anregungen geben wollen,
aber leider Gottes ist mir das aufgrund der Zeit verwehrt.
Drei Minuten in einer so wichtigen Frage sind eben doch
zu wenig.
({1})
Herzlichen Dank.
({2})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Gäste! Seit einigen Tagen lesen wir
in der Presse verschiedene Variationen darüber, wie die
deutsche Bundeswehr im Kongo eingesetzt werden
könnte. Nun haben wir einen Antrag auf dem Tisch liegen, der sich sehr ausführlich mit der Situation im
Kongo befasst, sehr ausführlich über humanitäre Maßnahmen schreibt, aber an der entscheidenden Frage undeutlich und offen bleibt.
Die Frage, die zuerst zu stellen und nicht beantwortet
ist, lautet: Warum hat die Staatengemeinschaft jahrelang
dem Morden im Kongo zugesehen und warum wird jetzt
die Initiative ergriffen? Die zweite Frage leitet sich aus
der kürzesten Formulierung im Antrag ab, wo es heißt
- ich zitiere: „entsprechend den deutschen Möglichkeiten Hilfe für die Interims-Eingreiftruppe und für
MONUC zuzusagen;“. Diese Formulierung lässt alles
offen und sagt uns nicht, worum es eigentlich geht.
Ich finde es nicht redlich, in einer Debatte zum Kongo
die Fakten nicht klar auf den Tisch zu legen. Stattdessen
erfahren wir aus den Medien, dass im Kabinett dann und
dann dieses und jenes entschieden wird. Andere haben
schon interne Absprachen getroffen. Warum schreiben
Sie nicht klar auf, was Sie wollen? Warum tragen Sie die
Entscheidung nicht ins Parlament? Warum geben Sie
Entscheidungen über Presseerklärungen bekannt?
({0})
- Das ist klar. Die Entwicklung läuft und der Diskussionsprozess läuft, aber über die Medien und in Pressekonferenzen werden schon Zahlen verbreitet und Tatsachen bekannt gegeben.
({1})
Heute wird eine Debatte angesetzt, in der die entscheidende Frage nicht klar und deutlich genannt wird. Das
kritisieren wir. Wir fordern, dass die Parlamentarierinnen
und Parlamentarier Angaben auf den Tisch bekommen,
aufgrund derer sie verantwortungsbewusst entscheiden
können. Wir wollen uns nicht auf Pressespekulationen
verlassen müssen.
({2})
Wichtig ist, dass den Menschen im Kongo schnell geholfen wird. Wichtig ist, dass der Deutsche Bundestag
klare Entscheidungen treffen kann. Ich finde an diesem
Antrag besonders kritikwürdig, dass er sich zu vielen
richtigen Fragen mit wichtigen Argumenten äußert, aber
bei der entscheidenden Frage offen, unklar und undeutlich bleibt. Das sollten Sie sehr schnell ändern.
Danke schön.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! „Im Kongo verblutet auch die Glaubwürdigkeit
der Weltorganisation“, so titelte der „Rheinische Merkur“. „Kindersoldaten machen Jagd auf Menschen“, so
berichtet Kurt Pelda als Korrespondent aus Bunia. Die
Blauhelme sind nur Beobachter.
Seit Dezember 2002 und Januar 2003 wissen wir,
dass ein Machtvakuum durch den Rückzug von Uganda
und Ruanda entsteht. Dieses Machtvakuum hat in Bunia
und Drodro in der Region Ituri zu Übergriffen, Massakern, Vertreibungen, Flucht, Vergewaltigungen und ständiger Gewalt geführt. Es gibt Tausende vagabundierende
Kindersoldaten. Circa ein Drittel der Armee besteht aus
Kindersoldaten.
Im März sind die Berichte immer grausamer geworden. Ich habe am 31. März beim Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den
Länderbericht Kongo angefordert. Am 3. und 4. April
haben nach Berichten der „Neuen Zürcher Zeitung“ und
der „taz“ die Massaker von Bunia und Drodro stattgefunden.
In der ersten Aprilwoche habe ich den Länderbericht
erhalten. Ich zitiere aus diesem Bericht:
Die Gründe für diesen von der internationalen Öffentlichkeit nur wenig beachteten Krieg sind komplex. Im Kern dreht sich der Konflikt um die politische Herrschaft im Land und die Kontrolle über die
enormen Rohstoffe. Die Konflikte in Ruanda und
Burundi wirken in die Demokratische Republik
Kongo hinein … Derzeit konzentrieren sich die
Kämpfe mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, Massenhinrichtungen, systematischen Vergewaltigungen, Vertreibungen und Plünderungen auf
die im Nord-Kivu gelegene Region Ituri.
Frau Staatsministerin, herzlichen Dank für die Informationen, die Sie uns mit der Schilderung Ihrer persönlichen Erlebnisse gegeben haben. Aber wir haben bereits
am 8. Mai im Bundestag eine entwicklungspolitische
Debatte geführt, für die wir am 6. Mai einen Antrag vorgelegt haben, der sich mit genau diesen Themen befasst
hat.
({0})
Aber die Ministerin hat in ihrer gesamten Regierungserklärung mit keinem einzigen Wort zu dem Thema Kongo
Stellung genommen, obwohl die Fakten aus dem Länderbericht des Ministeriums bekannt waren. Wir mussten
versuchen, uns per E-Mail Informationen von kirchlichen Organisationen und Menschenrechtsorganisationen zu beschaffen.
Für mich ist es nicht zu verstehen, dass in der Regierungserklärung die Chance, die Öffentlichkeit über die
Zielsetzung der Bundesregierung in dieser Frage zu informieren, nicht genutzt wurde.
({1})
Ich danke den Medien, die das Thema Kongo aufgegriffen haben, als wir sie nach dieser Regierungserklärung
mit unseren Informationen versorgt haben.
Sie, Frau Ministerin, haben erst am 20. Mai zum ersten Mal öffentlich Stellung genommen. Dann ging es
plötzlich los: Das Verteidigungsministerium, Ihr Ministerium und das Auswärtige Amt haben das Thema aufgegriffen. Dann wurde Frau Müller in einer hektischen Aktion nach Kinshasa geschickt.
Wir hatten, wie gesagt, schon einen Antrag eingebracht. Ich sage dem entwicklungspolitischen Sprecher
der Grünen: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf uns zugegangen sind. Wir hätten mit diesem Antrag zu einer
Einigung kommen können.
({2})
Wir waren uns in diesem Thema schon sehr nahe. Man
hätte auch einen Sprung machen können. Ich hätte mir
gewünscht, Herr Hoppe, dass Sie sich insofern hätten
durchsetzen können. Das wäre der Sache dienlich gewesen.
({3})
In Ihrem Antrag haben Sie einen großen Teil unseres
Antrags wörtlich übernommen.
Lassen Sie mich kurz darauf zu sprechen kommen,
was Sie, Frau Staatssekretärin Eid, in der vorigen Plenarsitzung in einer Kurzintervention ausgeführt haben.
Frau Eid, ich bin der festen Überzeugung, dass Sie die
Afrikapolitik mit Herz und Verstand betreiben. Aber ich
habe - auch nach der Regierungserklärung - den Eindruck, dass Sie nicht das Ohr Ihrer Ministerin haben.
Denn dann wäre die Regierungserklärung anders ausgefallen. Ich habe auch den Eindruck, dass der Kanzler,
dessen G-8-Beauftragte für Afrika Sie sind, Sie im Regen stehen lassen hat.
({4})
Wenn Sie es ernst meinen, dann können Sie unserem
Antrag, der noch in der parlamentarischen Beratung ist,
in der nächsten Plenarwoche zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Antrag auf Drucksache 15/1144 mit dem
Titel „Für einen stärkeren UN-Einsatz im Nordosten der
Demokratischen Republik Kongo“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen
Mitglieder des Hauses angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Sofortige und bedingungslose Freilassung von
Aung San Suu Kyi
- Drucksache 15/1105 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Neumann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor einer Woche ist die burmesische Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San
Suu Kyi verhaftet und in ein Gefängnis wahrscheinlich
in der Nähe von Rangun gesteckt worden. Wir verurteilen die erneute Verhaftung der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin auf das Schärfste und fordern zusammen mit der Bundesregierung die Regierung Myanmars
auf, sie und auch die Begleiter von der NLD, ihrer Partei, freizulassen.
Die für ihren friedlichen Kampf für Menschenrechte
und Demokratie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete burmesische Oppositionspolitikerin wird auf
brutale Weise ihrer Menschenrechte beraubt. Im Juli
1989, also vor 14 Jahren, ist sie zum ersten Mal in Haft
genommen worden. Als sie 1991 den Friedensnobelpreis
bekommen hat, konnte sie ihn nicht persönlich in Empfang nehmen, weil sie sich in Haft befand. Nach ihrer
Entlassung 1995 wurde sie im Jahr 2000 wiederum verhaftet. Bis zum Jahr 2002 stand sie unter Hausarrest. Zu
ihrer erneuten Festnahme in der vergangenen Woche haben die Militärmachthaber gegenüber der internationalen
Gemeinschaft erklärt, man halte sie zu ihrem eigenen
Schutz an einem unbekannten Ort in Gewahrsam. Ihre
Freilassung lehnt die Regierung Myanmars ebenso ab
wie die Bitte des Roten Kreuzes und von Diplomaten um
Zugang zu Aung San Suu Kyi. Heute Morgen ist der
Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs, Herr
Razali, in Rangun eingetroffen. Er will versuchen zu
vermitteln. Obwohl er noch keine feste Zusage für ein
Treffen mit Aung San Suu Kyi hat, sind Bemühungen in
vollem Gange, Zugang zu ihr zu bekommen.
Wie kam es zu der erneuten Verhaftung? Als ich Mitte
Mai zusammen mit meinem Kollegen Eppelmann von
der CDU/CSU im Auftrag des Ausschusses für Menschenrechte in Myanmar war, hatten wir keine Gelegenheit, mit Aung San Suu Kyi zu sprechen. Sie war gerade
zu einer Reise in den nördliche Teil Burmas, in den
Kachin-Staat, aufgebrochen. Diese Reise war bis dahin
geheim gehalten und von der Regierung genehmigt worden. Aber schon als wir ankamen, hörten wir von massiven Bedrohungen und Behinderungen dieser Reise
durch die örtlichen Behörden. Die Veranstaltungen von
Aung San Suu Kyi wurden gestört. Trotz dieser Einschüchterungsversuche schlossen sich immer mehr Menschen der Friedensnobelpreisträgerin an und zeigten so
ihre Solidarität.
Letzten Freitag war sie nach Augenzeugenberichten
wieder unterwegs. Als sie in der Stadt Monywa angegriffen wurde, war das das Ende ihrer Reise. Sie war mit
drei Autos und 18 Personen aus ihrer engeren Umgebung losgefahren. Dieser Autokolonne haben sich dann
mehrere Menschen und Autos angeschlossen. Mit einem
Mal kam es zu einer blutigen Auseinandersetzung, bei
der nach offiziellen Angaben vier Menschen ums Leben
kamen und 50 verletzt wurden. Nach dem, was wir gehört haben, sind es wesentlich mehr gewesen. Wir wissen bis heute nicht, ob Aung San Suu Kyi leicht oder,
wie Gerüchte besagen, sogar schwer verletzt ist. Während sich die Regierung von Myanmar bemüht, diesen
Angriff als eine Auseinandersetzung zwischen Gegnern
und Anhängern Aung San Suu Kyis und ihrer Oppositionspartei darzustellen, erscheint es heute nahezu sicher,
dass dies eine lang geplante Geheimdienstoperation
war, die die Militärregierung zum Anlass für einen
Schlag gegen die Opposition genommen hat; denn alle
Büros der Oppositionspartei NLD sind geschlossen und
ihre Anhänger zum Teil verhaftet worden. Außerdem
wurden Schulen und Universitäten geschlossen.
Berichte, wonach die Militärregierung in Myanmar
fest im Sattel sitze, fanden wir bestätigt, als wir dort waren. Dennoch sind wir über die brutale Art und Weise
überrascht, in der Aung San Suu Kyi verhaftet und in
Isolationshaft gebracht worden ist. Dabei hatte es im
Mai letzten Jahres so hoffnungsvoll begonnen. Damals
wurde sie aus dem Hausarrest entlassen. Es gab dann
Gespräche mit der Militärregierung, die Anlass für einen
Hoffnungsschimmer gaben. Auch wenn die Gespräche
in der Phase der Vertrauensbildung stecken geblieben
waren und ein substanzieller Dialog nicht stattgefunden
hatte, gab es ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit
für die Opposition. So konnte die Oppositionspartei
NLD ihre Büros wieder eröffnen und bei ihr ließen sich
- man höre! - 1 Million Menschen als Mitglieder registrieren.
Der anfängliche Optimismus ist aber längst der Resignation gewichen. Das Vorgehen der Regierung gegen die
demokratischen Kräfte hat alle positiven Entwicklungen
mit einem Schlag zunichte gemacht.
Volker Neumann ({0})
Ein Blutbad wie 1988, dem Tausende Menschen zum
Opfer fielen, muss verhindert werden. Wir fordern daher
erstens die Freilassung von Aung San Suu Kyi und allen
politischen Häftlingen.
({1})
Zweitens fordern wir, dass unverzüglich ein Vertreter
des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, das
sich vor Ort befindet, Aung San Suu Kyi besuchen kann
und dass der UN-Sondergesandte Razali, der heute Morgen angekommen ist, seine Mission fortsetzen kann. Wir
fordern drittens vor allem, dass die Militärjunta endlich
zu substanziellen Gesprächen mit der Opposition und
auch mit den ethnischen Minderheiten kommt.
Die Bevölkerung Myanmars leidet größte Not. Eine
Familie muss durchschnittlich 70 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. Ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren ist mangelernährt. Weniger als die
Hälfte der Kinder schließt die Grundschule ab. Die Situation im Bildungsbereich verschlechtert sich von Jahr zu
Jahr. Der Zustand im Bildungssektor ist desolat. Hinzu
kommt, dass 2 Prozent der Bevölkerung HIV-infiziert
sind.
In den von 135 ethnischen Minderheiten bewohnten
Gebieten ist die Lage noch dramatischer. Die Angehörigen der Minderheitenvölker sind am stärksten belastet
und leiden unter Menschenrechtsverletzungen. In den
Gesprächen haben sie uns glaubhaft versichert, dass es
auch dort systematische Vergewaltigungen gibt, dass
Zwangsarbeit an der Tagesordnung ist - das hat die ILO
bestätigt -, dass Eigentum konfisziert wird, dass es
Zwangsumsiedlungen gibt und dass im Nordteil Myanmars eine chinesische Mafia von Drogenbossen die
staatliche Gewalt faktisch abgelöst hat.
Die Bundesrepublik verfolgt mit der EU und anderen
westlichen Staaten eine Sanktionspolitik gegenüber
Myanmar. Erst im April hat die EU den gemeinsamen
Standpunkt bestätigt und eine Ausweitung der Sanktionen angedroht, falls die Regierung nicht bis Ende Oktober dieses Jahres zu substanziellen Gesprächen mit der
Opposition bereit ist. Bislang weigert sich die Regierung
strikt, einen Zeitplan oder Modalitäten zu nennen.
Danach ist nach meiner Überzeugung ein politischer
Wandel durch Sanktionen nicht erreichbar. Die Sanktionen werden im Übrigen durch die Nachbarländer Myanmars konterkariert. Diese Ansicht teilen viele Beobachter der Situation im Land. Das brutale Vorgehen der
Militärregierung zeigt: Sie fürchtet keine Sanktionen
durch die internationale Gemeinschaft.
Uns liegen die Not leidenden Menschen Myanmars
am Herzen.
({2})
Humanitäre Hilfe ist von den Sanktionen zwar ausgenommen; dennoch sind die Hilfsleistungen für Burma
nur minimal. Nach meiner persönlichen Einschätzung ist
es nicht zu rechtfertigen, dass beispielweise Kambodscha von der internationalen Gemeinschaft 70-mal so
viel humanitäre Hilfe erhält wie Burma, 70-mal so viel
wie Burma!
Deshalb empfehle ich, die humanitäre Hilfe für Myanmar zu einem geeignetem Zeitpunkt auszuweiten und
die Entwicklungszusammenarbeit in bestimmten Bereichen des Bildungs- und Gesundheitssektors wieder aufzunehmen. Dies würde - wie unsere Gespräche gezeigt
haben - auch von den meisten burmesischen Oppositions- und Minderheitengruppen befürwortet. Verstärkte
humanitäre Hilfe kann eine Reihe von positiven Nebenwirkungen, auch politischen, entfalten. Mitarbeiter von
Hilfsorganisationen etwa können eine gewisse
Schutzwirkung für die Angehörigen der Minderheitenvölker entfalten.
Die Menschen in Myanmar sind zurzeit, wie es ein
UNO-Vertreter in Rangun treffend formulierte, doppelt
bestraft: durch das repressive Vorgehen der Regierung
und durch das Ausbleiben westlicher Hilfe. Deshalb
möchte ich auch zu der Diskussion darüber ermutigen,
ob diese Art der Sanktionspolitik dazu geeignet ist, uns
dem Ziel politischer Veränderung hin zu Freiheit und
Demokratie näher zu bringen.
Der Deutsche Bundestag unterstützt heute die Bemühungen um die Freilassung von Aung San Suu Kyi.
Diese Forderung ist in einem interfraktionellen Antrag
enthalten, der vom Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe initiiert wurde. Wir sind uns darin mit
fast allen Regierungen der Welt und allen Parlamenten
der Welt einig.
Der Vater der Friedensnobelpreisträgerin, Aung San,
hat 1947/48 die Unabhängigkeit des Landes vom britischen Kolonialreich erkämpft. Ich hoffe, dass wir bald
den Tag erleben, an dem wir sagen können: Seine Tochter Aung San Suu Kyi hat dem Land Freiheit und Demokratie erkämpft.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Holger Haibach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Verhaftung der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und die Tatsache, dass ihr Aufenthaltsort bis heute ungeklärt ist, hat in
den letzten Tagen in der Weltöffentlichkeit für Empörung und Bestürzung gesorgt.
Aung San Suu Kyi gilt als die Vorkämpferin für die
Demokratisierung Burmas. Dies hat mir noch in dieser
Woche der Kollege Eppelmann, der selbst in Burma war
- Kollege Neumann hat es soeben erwähnt - und eigentlich auch mit Frau Suu Kyi sprechen sollte, nochmals
bestätigt. In der Weltpresse wird Frau Suu Kyi manchmal sogar als „die Mandela“ oder auch als „die Gandhi“
Burmas bezeichnet. Dieser Vergleich trifft insofern zu,
als Frau Suu Kyi in Burma den Status einer Nationalheldin hat. Sie - Tochter des Staatsgründers und legitime
Siegerin der Parlamentswahlen von 1990 - verkörpert
mehr als jeder andere Oppositionspolitiker die Hoffnung
der Einwohner Burmas auf eine bessere Zukunft. Ihr
Schicksal steht beispielhaft für das vieler Menschen in
Burma, die - Herr Kollege Neumann hat schon darauf
hingewiesen - unter einer menschenrechtlich und humanitär höchst bedenklichen Situation leiden.
Seit 41 Jahren wird Burma nun durch ein Militärregime
regiert, das das Land auch wirtschaftlich an den Rand
des Ruins getrieben hat. Einige Zahlen mögen dies verdeutlichen: Die Inflationsrate liegt bei über 60 Prozent
pro Jahr. Das durchschnittliche Tageseinkommen eines
Bauern beträgt knapp 1 US-Dollar. Ein Mädchen in einem Handwerksbetrieb verdient kaum 30 Cent. Etwa
25 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Jedes dritte Kind ist unterernährt. Das ist eine
geradezu irrwitzige Tatsache für ein Land, das mit Nahrungsmitteln jeglicher Art gesegnet ist. Krankheiten wie
Aids, Tuberkulose und Malaria greifen immer schneller
um sich. Schließlich ist ein wie auch immer geartetes
Bildungssystem kaum noch vorhanden. Die Zahl der
Analphabeten steigt von Jahr zu Jahr. Zu allem Überfluss hat die Regierung nach der Verhaftung Aung San
Suu Kyis beschlossen, landesweit alle Schulen und Universitäten zu schließen, um Proteste zu verhindern.
Diese neuerlichen Aktionen der Junta gegen die Demokratiebewegung haben gezeigt, dass die Sanktionen
der Europäischen Union gegenüber Burma - ich habe
hierzu eine andere Meinung als mein Vorredner - schon
noch ihre Berechtigung haben. Die internationale Staatengemeinschaft hat bisher jede weitere Zusammenarbeit
im Bereich der Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe abgelehnt, um den Druck auf die burmesischen Machthaber weiter zu erhöhen, damit sie politische und wirtschaftliche Reformen einleiten.
Diese Strategie schien sich zu Beginn des Jahres 2002
erstmals auszuzahlen, als der Hausarrest gegen Aung
San Suu Kyi aufgehoben wurde und sie die Erlaubnis erhielt, sich in ihrem Heimatland frei zu bewegen. Zudem
wurde der Nationalen Liga für Demokratie, NLD, erlaubt, wieder landesweit Büros zu eröffnen. Doch trotz
dieses eher symbolischen Akts blieb die menschenrechtliche Situation nach wie vor bedenklich. Das bedrückende Schicksal von Frau Suu Kyi steht leider stellvertretend für das vieler Menschen, die vom burmesischen
Regime brutal unterdrückt wurden.
Ich möchte auch hierfür einige Beispiele nennen: Besonders ethnische Minderheiten werden vom Militär zu
Zwangsarbeit herangezogen. Kinder werden als Soldaten
rekrutiert und müssen teilweise schwerste Arbeiten verrichten. Trotz der Teilamnestie aus dem Jahr 2002 befanden sich zu Beginn dieses Jahres noch immer etwa 1 300
politische Gefangene in Haft, davon 18 Parlamentsabgeordnete. Diese und andere Personen werden nach wie
vor mit Folter bedroht. Es gibt Fälle von extralegalen
Hinrichtungen. Es wird gegen ethnische und religiöse
Minderheiten vorgegangen, etwa gegen die Moslems,
die aus Bangladesch in den Rankhine-State zurückgekehrt waren, oder gegen die mehr als 2 Millionen katholischen Christen.
In einigen Provinzen gibt es bürgerkriegsähnliche
Zustände. Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben; etwa 120 000 Burmesen halten sich in Thailand auf,
etwa 40 000 in Indien. Die Presse- und Meinungsfreiheit
ist eingeschränkt; der bloße Besitz eines Faxgerätes kann
unter Umständen - das wäre in Deutschland kaum vorstellbar - mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren
belegt werden.
Von der vollständigen Überwachung sind auch ausländische Besucher nicht ausgenommen: Paulo Sergio Pinheiro,
der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen,
wurde bei Gesprächen mit politischen Gefangenen sogar
abgehört. Auch hierauf hat die internationale Staatengemeinschaft reagiert: Die UN-Menschenrechtskommission
hat das Mandat zur Sonderberichterstattung für Burma
in einer einstimmig gefassten Resolution zum elften Mal
verlängert. Ich finde, dies ist ein trauriger Höhepunkt.
Mit der Freilassung von Aung San Suu Kyi im letzten
Jahr wurde trotz all dieser Umstände die Hoffnung verknüpft, die Militärs in Burma könnten bereit sein, einen
Schritt in die Richtung einer Demokratisierung ihres
Landes und seines Regimes zu tun. Alle, die diese Hoffnung bisher gehegt hatten, sehen sich heute getäuscht.
Doch nicht nur das: Mit der Verhaftung ging eine Welle
der Repression gegen die Partei Suu Kyis einher. Sämtliche Büros der Nationalen Liga für Demokratie wurden
geschlossen, sogar nach offiziellen Angaben - auch das
hat der Kollege Neumann schon gesagt - wurden bei den
Zusammenstößen vier Personen getötet und 50 weitere
verletzt. Heute konnte man lesen, dass es sogar bis zu
70 Tote gegeben haben soll.
Noch mehr Anlass zur Sorge gibt allerdings die Tatsache, dass die Regierung Burmas trotz des internationalen
Drucks nicht bereit ist, den Aufenthaltsort und den Gesundheitszustand von Frau Suu Kyi bekannt zu geben.
Viele Regierungen, unter anderem die amerikanische
und die Bundesregierung, haben bereits die sofortige
und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi
gefordert. Der Deutsche Bundestag kann, darf und wird
hier nicht schweigen.
({0})
Es ist wahr und auch richtig, dass der Bundestag nur
sehr selten und in besonderen Fällen in Anträgen und
Resolutionen davon Gebrauch macht, sich des Schicksals von Einzelpersonen anzunehmen. Aber dieser Fall
- darauf möchte ich noch einmal ganz besonders hinweisen - steht symbolisch für den Umgang der Militärjunta
in Burma mit Menschenrechtspolitikern und für die Unterdrückung jeglicher Freiheitsrechte. Aus diesem Grund
ist eine gemeinsame, schnelle und abgestimmte Intervention der Bundesregierung, befreundeter Regierungen,
der Europäischen Union und auch der Vereinten Nationen dringend geboten. Auf die Frage, was die internationale Staatengemeinschaft für Burma tun könne, antwortete Aung San Suu Kyi einmal: Ich wünsche mir ein
aktiveres Interesse an dem, was in meinem Land geschieht, verbunden mit der Anerkennung der Notwendigkeit für einen grundlegenden Wandel in Burma.
Der heute vorliegende Antrag ist aus meiner und aus
unserer Sicht ein erster Schritt dazu, dass auch ein Land
wie Burma mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen InHolger Haibach
teresses rückt. Setzen wir uns jetzt gemeinsam dafür ein,
dass Aung San Suu Kyi und ihre Weggefährten baldmöglichst freigelassen werden. Setzen wir uns über den
heutigen Tag hinaus gemeinsam dafür ein, dass sich die
Verhältnisse in Burma nachhaltig verbessern.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Nickels,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte die Fakten, die meine Kollegen in ihren Beiträgen genannt haben, nicht wiederholen. Wie viele andere ist Frau Suu Kyi wirklich in allergrößter Gefahr.
Ich glaube, dass eine solche Debatte - Kollege
Haibach sagte schon, dass wir so etwas nur selten machen - wichtig ist, damit einfach einmal die Person, die
sich schon so viele Jahre unter Einsatz ihres Lebens für
die Menschenrechte einsetzt, hier bei uns besser bekannt
wird. Frau Suu Kyi ist, wie Kollege Neumann schon
sagte, die Tochter eines sehr berühmten Unabhängigkeitskämpfers und Nationalhelden. Ein Schlaglicht auf
ihr Leben wirft aber auch die Tatsache, dass sie im Alter
von zwei Jahren diesen Vater verlor; er wurde ermordet.
Sie selber gilt als Ikone der Demokratie - die Kollegen haben es schon gesagt -, wird auf eine Stufe mit
Gandhi und Nelson Mandela gestellt. Dabei ging Frau
Suu Kyi erst spät in die Politik und trat ihr Amt, wie wir
es bei vielen aktiven und klugen Frauen aus Asien erleben, eher als Vermächtnis in der Tradition ihres Vaters
an.
Sie kehrte nach einer Eliteausbildung in Rangun, in
Indien und in Oxford, wo sie den britischen Tibetexperten Michael Aris heiratete, mit dem sie zwei Kinder hat,
1988 wieder in ihre Heimat zurück, um ihre Mutter zu
pflegen. Während der Pflege ihrer Mutter zeigte sie sich
nicht unberührt von dem, was in ihrem Land passierte.
Meine Kollegen Vorredner haben es hier schon sehr
deutlich dargestellt. Sie hat dann sehr kompetent, sehr
energisch und sehr erfolgreich in die Politik eingegriffen. Die Kollegen haben auch das schon dargestellt.
Die Konsequenz daraus war, dass sie mehrmals Verhaftungen, Misshandlungen und Freiheitsberaubungen
erleben musste. Sie hat jahrelang im Gefängnis gesessen,
allein bis 1995 sechs Jahre. Nach ihrer Freilassung hat
sie wieder einen Dialog begonnen, Ende 2000 einen geheimen Dialog mit den Generälen, um nationale Versöhnung zu erreichen. Sie hat wirklich mit allen Möglichkeiten, die einer Politikerin zur Verfügung stehen,
versucht, hier ein Stück voranzukommen. Das Ergebnis
war erneuter Arrest.
1999 hat sie von sich aus darauf verzichtet, ihren
Mann und ihre Söhne, die in England leben, zu besuchen, als ihr Mann schwer krebserkrankt war; 1999 ist er
gestorben. Sie hat deshalb darauf verzichtet, weil sie sicher war, dass die Regierung ihres Heimatlandes ihr die
Wiedereinreise nicht erlauben würde. Sie sah sich als
charismatische, für ihre Partei und die Bevölkerung ganz
wichtige und ermutigende Persönlichkeit in der Pflicht,
das Land nicht zu verlassen. Dieses Ausmaß der Tragödie muss man sich hier einmal vorstellen.
Ich glaube, dass gerade wir als Parlamentarier, die wir
manchmal unter der Last der Erarbeitung von Reformen
und anderen komplizierten Prozeduren ächzen, uns in
dieser Debatte klarmachen müssen, wie schwer, drückend, lebensbedrohlich, schmerzlich das Auseinanderreißen von Familien, Ehepartnern, Eltern und Kindern ist
und wie schwer es sein kann, ganz simple, einfachste politische und parlamentarische Rechte in Anspruch zu
nehmen.
Ich bin sehr froh und sehr dankbar, dass es in diesem
Fall eine schnelle konzertierte Aktion von vielen Parlamenten, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen
und auch der Vereinten Nationen gibt. Aber ich glaube,
das Beispiel von Frau Suu Kyi zeigt uns auch, dass Tausende in aller Welt, die einen derartigen Mut aufbringen,
die allerdings gern darauf verzichten würden, zu solchen
Helden zu werden, stärker in unseren Blick kommen müssen und dass wir erheblich mehr Anstrengungen unternehmen müssen und erheblich mehr Kraft mobilisieren
müssen, gerade als Parlamentarier und Parlamentarierinnen, um nachhaltig bedrohte Menschenrechtsverteidiger,
Parlamentarier und Politiker wirksamer zu schützen.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
mir wichtig, feststellen zu können: Der gesamte Deutsche Bundestag ist empört und entsetzt über die erneute
Festnahme der burmesischen Demokratin, Freiheitskämpferin und Oppositionellen Frau Suu Kyi. Wir fordern die sofortige Freilassung der Nobelpreisträgerin.
({0})
Es geht uns dabei nicht nur um das Schicksal von Frau
Suu Kyi selbst, sondern auch um die Menschenrechte,
um die Sache der Freiheit und der Demokratie insgesamt. Der Tag der erneuten Festnahme der burmesischen
Nobelpreisträgerin war ein schwarzer Tag im weltweiten
Kampf für die Menschenrechte.
Frau Suu Kyi ist mit ihrem engagierten, mutigen Einsatz für die Freiheit und die Menschenrechte in ihrem
Land und mit ihrem langen Leidensweg zu einem weltweiten Symbol für die Menschenrechte und den Freiheitskampf engagierter Oppositioneller in den vielen unfreien Ländern der Welt geworden. Sie ist dafür mit
unzähligen internationalen Preisen ausgezeichnet worden, zum Beispiel 1995 mit dem Prize for Freedom der
Liberalen Internationale.
Die Militärjunta in Rangun muss merken, dass die
Festnahme von Frau Suu Kyi nicht einfach hingenommen wird und dass dieser Tag auch ein schwarzer Tag
für das Regime in Burma selbst war und sein muss.
({1})
Es hatte im vergangenen Jahr vorsichtige Anzeichen
für eine Öffnung des Landes gegeben, Anzeichen, die einem der ärmsten Länder Südostasiens auch Hoffnung
auf eine bessere Zukunft, auf wirtschaftliche Hilfe und
Entwicklung sowie auf internationale Einbindung gegeben hatten.
Dies ist alles umsonst gewesen.
Es ist gut, dass sich der Deutsche Bundestag heute in
dieser spontan angesetzten Debatte mit einem, wie ich
finde, sehr guten interfraktionellen Antrag für die sofortige Freilassung von Frau Suu Kyi einsetzt. Aber wir
müssen mehr tun. Burma darf nicht einer der letzten
schwarzen Flecken auf der Landkarte der globalisierten
Welt bleiben. Wir müssen uns kümmern. Das heißt, wir
dürfen das Land und seine vor allem jungen Menschen
nicht schon bald wieder dem Zugriff der skrupellosen
Militärjunta überlassen.
Das Militär hat nicht nur Frau Suu Kyi festgesetzt,
sondern auch die Universitäten und höheren Bildungseinrichtungen des Landes geschlossen. Die Junta verspielt in ihrem verzweifelten Kampf um Machterhalt die
Zukunft der Jugend ihres Landes und setzt dabei darauf,
dass sich die internationale Aufregung und der internationale Druck schon bald wieder legen werden. So weit
dürfen wir es nicht kommen lassen.
Wir sollten eine Burma-Initiative der Europäischen
Union starten. Die Bundesregierung sollte ihren Sitz und
ihre Stimme im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen nutzen, um das Schicksal dieses Landes auf der internationalen Tagesordnung zu halten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP eingebrachten Antrag mit dem
Titel „Sofortige und bedingungslose Freilassung von
Aung San Suu Kyi“. Wer stimmt für diesen Antrag auf
Drucksache 15/1105? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus
Heil, Klaus Brandner, Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ulrike
Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Bestimmungen der Post-Universaldienstleistungsverordnung verbraucherfreundlich
durchsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar
Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Funke, Birgit Homburger, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Wettbewerbsbedingungen bei Vertrieb von
Postdienstleistungen schaffen
- Drucksachen 15/615, 15/466, 15/579, 15/1129 Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Barthel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit mehreren Wochen macht die Deutsche Post wieder
Schlagzeilen: positive Schlagzeilen im internationalen Geschäft und an den Börsen, aber negative Schlagzeilen in den
Wahlkreisen, in Stadt und Land. Gestern gab es - wir haben
es gehört - sehr zwiespältige Schlagzeilen von der
Hauptversammlung.
In der internationalen Entwicklung ist spannend zu
erleben, dass die Postmärkte in vielen anderen Ländern
längst nicht so offen sind, wie immer getan wird, noch
nicht einmal so offen wie in der Bundesrepublik. So sehen wir, wie ausgerechnet in den USA, der Speerspitze
der Liberalisierung auf den Weltmärkten, Tochterunternehmen der Deutschen Post - in diesem Fall im Luftverkehr - am Markteintritt gehindert werden sollen. Das erinnert uns daran, dass die Liberalisierungsdebatte bei uns
im Bezug auf den Postsektor nicht immer unter den richtigen Voraussetzungen und Grundannahmen geführt
wird. Die Post bleibt ein besonderes Thema, was sowohl
den internationalen Vergleich als auch die emotionale
und alltägliche Wahrnehmung durch die Bürgerinnen
und Bürger betrifft.
Ob es um die neuen Verträge für die partnerbetriebenen Agenturen geht, ob es um die Umstrukturierungen
zulasten der Dienste-Angebote und der Qualität im Filialnetz geht, ob es um neue Entgelte für Lagerungen und
Nachsendungen geht, ob es um Nacht-und-Nebel-Aktionen beim Abbau von Briefkästen geht: Wir haben den
Klaus Barthel ({0})
Eindruck, die Post testet gerade die Belastbarkeit und die
Geduld ihrer Kundinnen und Kunden, ihrer Beschäftigten und ihrer Geschäftspartner.
Wir wollen heute deutlich machen, was wir davon
halten. Dabei haben wir natürlich im Blick, was der politische Mehrheitswille Anfang der 90er-Jahre war. Der
Postsektor sollte liberalisiert, privatisiert und dereguliert
werden. Auf diesem Markt sollten private Unternehmen
unter betriebswirtschaftlichen und wettbewerblichen
Bedingungen und auch unter den Bedingungen internationaler Konkurrenz agieren. Die Märkte wurden und
werden schrittweise geöffnet, das ehemalige Staatsunternehmen Deutsche Post an die Börse gebracht und schrittweise verkauft, also privatisiert.
Manchem konnte das - daran sei heute trotz aller Gemeinsamkeiten erinnert - nicht schnell genug gehen. Ein
Blick in die Parlamentsreden, in die Presseerklärungen
und in die Anträge von Union und FDP legen beredtes
Zeugnis darüber ab, dass die Aktien möglichst schnell
verkauft werden sollten. Es wurde gefordert, dass es
keine bürokratischen Regelungen hinsichtlich der Verpflichtungen der Post so wie beim Universaldienst und
keine Einmischung zugunsten der Beschäftigten oder in
das sonstige Alltagsgeschäft geben solle und dass Politik
und Regierung herausgehalten werden sollten, da es der
Markt schon richten werde. Das waren und sind die Parolen aus dem bürgerlichen Lager, wie es sich selbst so
gern bezeichnet.
({1})
Aber immer dann, wenn die Folgen dieser ideologischen Fixierungen kommen, ist plötzlich alles anders.
Seitdem Edmund Stoiber im Wahlkampf sinngemäß die
Entlassung von Ron Sommer gefordert hat, sind insbesondere bei der Union alle Dämme gebrochen. Seitdem
feiert der Bund als Haupteigentümer ein Comeback. All
das, was über das Aktienrecht, über Börsenkurse, Privatisierung und Wettbewerb gesagt worden ist, ist vergessen. Man solle wieder die politische Verantwortung
wahrnehmen, heißt es dann plötzlich.
Die SPD hat sich im Unterschied zu diesen Spielchen
stets dazu bekannt, dass die Post wie andere ehemalige
Infrastrukturmonopole Gemeinwohlverpflichtungen
hat, wie sich das aus dem Grundgesetz und dem Postgesetz - übrigens auch aus dem europäischen Recht ergibt. Wir haben deswegen für einen stufenweisen, harmonisierten und abgefederten Übergang in den Wettbewerb
und auch für einen schrittweisen Verkauf derAktienpakete gesorgt. Zuletzt haben wir das im vergangenen Jahr
im Rahmen der Änderungen des Postgesetzes und des
Postumwandlungsgesetzes getan.
Dabei haben wir die Liberalisierung und die Regulierung, den reservierten Bereich und die Gemeinwohlverpflichtungen, Einnahmen und Kosten sowie die Harmonisierung im internationalen Kontext in der Balance
gehalten. Aufgrund unserer Erfahrungen in den Kommunen und der Erfahrungen der Kundinnen und Kunden haben wir nicht nur 1999 die Post-Universaldienstleistungsverordnung geschaffen und damit den rechtsfreien
Zustand diesbezüglich beendet, sondern im vergangenen
Jahr zusätzliche Präzisierungen im Sinne der Bevölkerung und der strukturschwachen Kommunen vorgenommen, und zwar gegen den Widerstand der gesamten Opposition.
({2})
Ich kann nur sagen: Bloß gut, dass wir damals hart geblieben sind und uns durchgesetzt haben. Dafür könnten
uns die Union und die FDP heute eigentlich dankbar
sein. Denn worauf würden Sie sonst Ihre Anträge und
Ihre zu erwartenden Reden stützen, wenn Sie damals die
Mehrheit gehabt hätten?
({3})
Dann gäbe es nämlich weder die von Ihnen damals als
bürokratisches Monster gescholtene Post-Universaldienstleistungsverordnung noch den Hauptaktionär Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Denn unsere Aktien wären längst - sehr zum Leidwesen
der Kleinaktionäre und übrigens auch des Bundeshaushaltes - ausgerechnet auf dem Tiefpunkt an den Börsen
verschleudert worden. Sie könnten dann Ihre heutigen
Anträge in den Papierkorb schmeißen. Es wäre ja nicht
nur um die Anträge und Reden von heute, sondern auch
um die betroffenen Bürgerinnen und Bürger sowie um
die Geschäftspartner der Deutschen Post, zum Beispiel
die Agenturnehmer, schade. Deswegen freuen wir uns
besonders, dass Sie jetzt bei uns angekommen sind und
sich zur Post-Universaldienstleistungsverordnung und
zu einem stufenweisen Anteilsverkauf bekennen.
({5})
Wir können uns deswegen heute ein bisschen mehr
Ehrlichkeit leisten. Die Möglichkeiten des politischen
Einflusses von Bundestag und Bundesregierung auf das
Geschäftsgebaren der Deutschen Post tendieren immer
mehr gegen null.
({6})
Das wissen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union und der FDP. Unterlassen Sie deswegen
Appelle an den Bund als Anteilseigner bitte auch dann,
wenn es Ihnen stimmungstechnisch und taktisch gerade
einmal in den Kram passt! Bleiben Sie bei einer geraden
Linie!
Das, was wir heute gemeinsam tun, kann nur eines
sein: ein klares Signal an den Vorstand des Unternehmens Deutsche Post AG zu geben. Dieses Signal ist
umso klarer, als sich der ganze Deutsche Bundestag
heute hinter dieses Signal stellen wird.
Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?
Aber sicher.
Herr Kollege Barthel, ist Ihnen bekannt, dass die gesamten Aufsichtsratsmitglieder der Post AG auf der Kapitalseite vom Bund gestellt werden und dass deren Tätigkeit auch vom Bundesfinanzministerium überwacht
wird?
Herr Funke, da irren Sie sich. Es gibt, wenn ich das
richtig weiß, nur zwei Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat der Deutschen Post. Das sind also nicht einmal
10 Prozent. Das heißt, es gibt dort keine Mehrheit des
Bundes im Aufsichtsrat. Im Übrigen wissen Sie, dass es
laut Aktienrecht auch dann, wenn es anders wäre, nur
schwer möglich ist, dass sich der Aufsichtsrat ins tägliche Geschäft eines Vorstandes einmischt.
({0})
Ich habe gerade vom Signal an die Deutsche Post gesprochen. Ich habe damit kein Problem, in diesem Fall
aus der Politik ein Signal an die Wirtschaft zu senden.
Denn es gibt genügend Spitzenmanager und Vertreter
von Unternehmensverbänden, die ständig mit dem erhobenen Zeigefinger und mit klugen Ratschlägen an
die Politik herantreten - oft genug leider auch, um
vom eigenen Versagen und von eigenen Fehlprognosen
und -einschätzungen abzulenken. Deswegen können wir
das heute auch einmal tun.
Bei der Post geht es aber um mehr; das müssen wir
noch einmal deutlich machen. Das Unternehmen hat
Verpflichtungen übernommen. Die Post bekommt dafür
einen milliardenschweren Ausgleich in Form des reservierten Bereichs zu festgelegten Tarifen. Dieser Bereich
und diese Tarife orientieren sich an den Kostenstrukturen bis 2002. Von daher gibt es von der Seite überhaupt
keine Legitimation für demontageartige Kostensenkungsprogramme im Universaldienstbereich. Das muss
man hier einmal ganz klar festhalten. Es gibt erst recht
keine Legitimation für das ständige Lustwandeln an den
Grenzen der Post-Universaldienstleistungsverordnung
und das selbstherrliche Verhalten gegenüber den Kunden
und Kommunen.
({1})
Deswegen sagen wir heute ganz klar: Wir werden,
was diese Vorgaben betrifft, am Ball bleiben. Es darf
keine Lücken geben, auch nicht zeitweise. Die Kommunen müssen informiert und beteiligt werden, die
Kontrollmöglichkeiten der Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post sind entsprechend herzustellen und die Sanktionsmöglichkeiten sind voll auszuschöpfen. Wenn diese nicht ausreichen, werden wir
diesbezüglich über Verbesserungen nachdenken müssen,
so, wie es im Antrag steht, und zwar auch im wohlverstandenen Interesse der Deutschen Post.
Wir alle haben nämlich nichts davon - auch das müssen wir uns heute einmal überlegen -, wenn im In- und
Ausland der derzeit sicher falsche Eindruck entstehen
sollte, dass die Einnahmen aus der Exklusivlizenz nicht
für ihren eigentlichen Zweck, nämlich für die Kosten
politisch bedingter Sonderlasten und Umstrukturierungsmaßnahmen, also zum Beispiel für die betriebswirtschaftlich nicht erbringbaren Kosten des Universaldienstes, verwendet werden, sondern dass diese Einnahmen
letzten Endes zum Gewinnen von Wettbewerbsvorteilen
in andere Bereiche umgelenkt werden. Das ist ein sehr
gefährliches Thema.
Insofern kritisieren wir auch in aller Schärfe den in all
den schönen Rechtfertigungsschreiben, die wir alle und
die Bürgermeister immer wieder bekommen, für Abbaumaßnahmen aller Art verwendeten Hinweis der Post, das
Unternehmen sei in jeder Hinsicht gezwungen, nur betrieblichen Kostensenkungszwängen zu gehorchen. Das
ist eine Verdrehung der Tatsachen; die müssen wir in aller Öffentlichkeit klarstellen.
({2})
Der Vorstand des Unternehmens bewegt sich hier auf
sehr dünnem Eis. Es mag sich zwar auf der Hauptversammlung vor den Aktionären ganz gut machen, sich gegen „politisches Störfeuer“, wie dort gesagt wurde, zu
verwahren. Wer aber an anderer Stelle gesetzlichen
Schutz gern in Anspruch nimmt, sollte den Mund nicht
zu voll nehmen, wenn es darum geht, die Gegenleistung
zu erbringen, für die die Postkunden und Postkundinnen
in dieser Republik bezahlen.
Ich freue mich sehr, dass wir mit unserem gemeinsamen Beschluss heute deutlich machen werden, dass wir
nicht bereit sind, dafür Schmiere zu stehen, dass ein so
großes Unternehmen so mit seinen Gemeinwohlverpflichtungen umgeht.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Dobrindt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Kollege Barthel, lassen Sie mich nach den Angriffen auf die Opposition, die Sie hier natürlich wieder gestartet haben, zunächst einmal die Gelegenheit nutzen,
meine Erleichterung darüber zum Ausdruck zu bringen,
dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren,
({0})
der im Wesentlichen mit dem Antrag der Union „Flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sicherstellen“ identisch ist. Hier zeigt sich, dass es auch in
diesem Hause sicherlich nur von Vorteil sein kann, ab
und zu einmal auf die Vorschläge der Opposition einzugehen.
Ich bin der Überzeugung, wir hätten diesen Antrag
schon viel früher formulieren können, hätte die SPD die
Verantwortung der Bundesregierung gegenüber der
Deutschen Post AG, den Postagenturbetreibern und den
Postkunden nicht immer kategorisch abgelehnt.
Herr Barthel, wir beide waren doch im Februar dieses
Jahres gemeinsam auf einer Veranstaltung der Postagenturbetreiber in Peißenberg zugegen. Sie erinnern sich sicher noch, was Sie damals gesagt haben.
({1})
Sie haben jegliche Verantwortung der Bundesregierung
und die Möglichkeiten einer korrektiven Gestaltung abgelehnt. Umso erfreulicher ist es, dass wir heute einer
Meinung sind und einen vernünftigen Antrag gemeinsam beschließen werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, seit Monaten ist die öffentliche Diskussion um die Versorgung mit
Postdienstleistungen im Gange. Mittlerweile stapeln sich
die Klagen der Postagenturbetreiber auf unseren
Schreibtischen; so wird es uns allen gehen. Täglich liest
man über drohende Schließungen von Postagenturen.
Die besorgten Anrufe von Bürgerinnen und Bürgern, die
große Bedenken haben, ob sie ihre Postgeschäfte zukünftig noch wie gewohnt erledigen können, zeigen,
welch hoher Stellenwert diesem Thema in der öffentlichen Diskussion beigemessen wird.
Diesem Zustand kann der Bundestag nicht tatenlos
zusehen. Wir müssen klar und deutlich unsere Forderungen auch an die Bundesregierung als Mehrheitseigentümer der Post formulieren.
({2})
- Kollege, hören Sie doch erst einmal, was ich sagen
will.
({3})
- Na klar! Er ist ja breit genug, um Angst zu machen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kelber?
Aber bitte.
Herr Kollege.
Der Kollege Barthel hat schon auf die Geschichte
der Post-Universaldienstleistungsverordnung hingewiesen. Würden Sie mir aber bestätigen, dass folgende Aussage die Situation richtig beschreibt?
Der Bund hat als Aktionär der Deutschen Post AG
keinen Einfluss auf die Geschäftspolitik. Nach § 76
des Aktiengesetzes leitet der Vorstand die Gesellschaft in eigener Verantwortung und ist nicht an
Weisungen anderer Gesellschaftsorgane oder der
Aktionäre gebunden.
Ich nenne Ihnen natürlich auch die Quelle: Dagmar
Wöhrl, CSU, wirtschaftspolitische Sprecherin Ihrer Fraktion.
({0})
Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unserem heutigen Antrag. Wir wollen nicht in das Aktienrecht eingreifen. Wenn Sie unseren gemeinsamen Antrag
durchlesen, dann werden Sie feststellen, dass wir explizit
die Bundesregierung auffordern, tätig zu werden. Deswegen weiß ich nicht, weshalb Sie sich an meiner Aussage stören.
({0})
Ich formuliere die Forderungen, die wir an die Bundesregierung und die Post stellen müssen:
Erstens. Für alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland muss weiterhin eine flächendeckende Versorgung
mit Postdienstleistungen sichergestellt werden.
Zweitens. Eine faire und partnerschaftliche Beziehung muss zwischen Deutscher Post AG und den privaten Postagenturbetreibern bestehen. Dazu gehört, dass
man seine Partner offen und umfassend informiert und
ihnen die nötige Luft zum Atmen lässt. Dies ist sicher
nicht mehr gegeben, wenn aufgrund der neuen Vertragsverhältnisse den Agenturbetreibern eine Einkommensreduzierung um 25 bis 35 Prozent bevorsteht.
({1})
Man muss sich fragen, welcher Gedanke eigentlich
hinter einer solchen Geschäftspolitik steckt. Üblicherweise wird doch in der freien Wirtschaft versucht, gerade die Schnittstellen zum Kunden höchst attraktiv zu
gestalten: durch attraktive Öffnungszeiten, durch eine
angenehme Atmosphäre, durch freundliches, hoch motiviertes Personal. Mir erschließt sich nicht ganz, wie jemand hoch motiviert und leistungsbereit seiner Arbeit
am Kunden nachgehen soll, wenn man ihn eines Drittels
seines Einkommens beraubt. Ich bin der Überzeugung,
dass diese Strategie schlichtweg nicht zielführend ist.
Die Frustrationsgrenze seitens der Agenturbetreiber ist
überschritten, was zwangsweise zu einem Rückgang der
Kundenzufriedenheit führen wird.
Natürlich wollen auch wir, dass die Deutsche Post AG
als privatwirtschaftliches Unternehmen profitabel arbeitet und Gewinne erwirtschaftet. Aber in diesem Zusammenhang spielen doch der Kunde und das Werben um
die Kunden die ausschlaggebende Rolle.
Die Deutsche Post AG bestreitet gar nicht, dass es
bei den privaten Agenturen zu Einkommenseinbußen
kommen wird. Sie gibt sogar Handlungsempfehlungen
heraus, wie diese Einkommensverluste kompensiert werden können. Ich darf hier aus der Zeitschrift „Postforum“ einen Sprecher der Deutschen Post AG zitieren,
der darauf verweist:
Darüber hinaus besteht durch den neuen Vertrag die
Möglichkeit, die täglichen Öffnungszeiten der Partner-Filiale etwas flexibler zu gestalten, und so kann
der Partner seine Personalkosten senken.
Im Klartext heißt das: Personalkosten senken durch verkürzte Öffnungszeiten.
Ich kann mich noch sehr gut an die Diskussion in
meiner Heimatgemeinde Peißenberg erinnern, als bekannt wurde, dass das Postamt geschlossen und dafür ein
Partnershop eingerichtet werden soll. Ich war einer der
wenigen, die das begrüßt haben. Ich bin der Überzeugung, dass die Marktwirtschaft hier wesentlich kundenorientierter arbeiten kann als eine Monopolgesellschaft.
Die erweiterten Öffnungszeiten waren für mich damals
der ganz entscheidende Vorteil des Systems. Das hat
auch gut funktioniert. Der Postagenturbetreiber bei mir
zu Hause hat den neuen Vertrag bis heute noch nicht unterzeichnet.
Ich sage es noch einmal: Der Weg zum Erfolg führt
über die Kundenzufriedenheit und dazu brauche ich
eine funktionierende Schnittstelle zwischen Unternehmen und Kunden. Dies sehe ich momentan jedoch nicht
in ausreichender Form sichergestellt. Deswegen haben
wir in unserem Antrag formuliert, dass die Bundesregierung als Mehrheitseigentümerin der Deutschen Post AG
auf die Angemessenheit der Agenturverträge achten und
sich vor allem für einen fairen und partnerschaftlichen
Umgang der Deutschen Post AG mit ihren Partnern einsetzen soll.
({2})
Die Verantwortung liegt hier mit bei der Bundesregierung und wir fordern sie auf, im Interesse der Kunden,
im Interesse der Agenturnehmer und nicht zuletzt im Interesse der Deutschen Post AG zu handeln.
Die Ankündigung der Deutschen Post AG vom gestrigen Tag, ihr Filialnetz weiter auszudünnen, halte ich für
bedenklich. Nach Berichten sollen zusätzlich 700 Filialen geschlossen werden. Die Deutsche Post AG will offensichtlich auf die gesetzlich vorgeschriebene Grenze
von mindestens 12 000 Filialen und Agenturen schrumpfen. Ich habe diese Grenze immer als ein absolutes Minimum betrachtet, das der Gesetzgeber vorgegeben hat.
Dass die Deutsche Post AG dies nun als Zielvorgabe betrachtet, die es schnellstmöglich zu erreichen gilt, kann
man eigentlich nur bedauern. Auch hier gilt, dass die
Kundenorientierung und nicht das Planziel von 12 000
Einheiten im Vordergrund stehen muss.
({3})
Die Privatisierung der Deutschen Post AG war in
meinen Augen auch ein breit angelegtes Mittelstandsförderprogramm. Über 7 000 kleine und mittelständische private Postagenturen sind hier aus der Taufe gehoben worden.
({4})
Das war ein sinnvoller Beitrag zur Mittelstandsförderung. Hier muss weiter gearbeitet werden. Es darf keine
Umkehrung des Erreichten erfolgen.
Die Deutsche Post AG ist ein profitables Unternehmen. Wir können auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Unternehmens durchaus stolz sein. Post-Chef
Dr. Klaus Zumwinkel hat gestern für das Jahr 2003 ein
operatives Ergebnis von 2,8 Milliarden Euro in Aussicht
gestellt. Das ist gerade in der heutigen Zeit eine positive
Nachricht
({5})
- Herr Barthel -, die wir sehr gerne hören. Diese gab es
seit Ihrem Regierungsantritt nicht mehr so oft.
({6})
Wir müssen trotzdem feststellen, dass auch Aktionärsvertreter gestern die aktuell vollzogenen und geplanten
Einsparungen kritisiert haben. Der gute Ruf des „gelben
Riesen“, der maßgeblich mit seinen Erfolgen zusammenhängt, leidet zurzeit vor allem durch den offensiv betriebenen Abbau von Briefkästen und der mangelnden
Informationspolitik gegenüber den Kommunen. Wenn
die Deutsche Post AG die Auswahl der abzubauenden
Briefkästen schon durch eine Hightechsoftware ermitteln kann, dann dürfte sie wohl auch in der Lage sein,
rechtzeitig ausreichende Informationen an die Städte und
Gemeinden zu übermitteln.
({7})
Stattdessen wird nur ein Standardinformationsbrief verschickt, oft sogar erst hinterher, der vieles Weitere im
Unklaren lässt.
Die Menschen, also die Kunden, stellen den Abbau
der Briefkästen erst dann fest, wenn sie an den bekannten Stellen stehen und die Briefkästen nicht mehr vorfinden. Die Freude darüber hält sich natürlich in Grenzen.
Das haben wir alle in den letzten Wochen in unseren
Wahlkreisen erlebt. Das Schönste dabei ist: Wenn man
nachfragt, welche Briefkästen abgebaut worden sind, bekommt man eine Liste jener Briefkästen, die noch vorhanden sind. Dazu gibt es den Hinweis, nachdem einige
Briefkästen nicht mehr da seien, helfe es niemandem
mehr, zu wissen, wo sie vorher einmal gestanden haben.
Das ist, denke ich, nicht die offene Informationspolitik, die ich mir von der Deutschen Post AG wünsche. Ich
bin der Überzeugung, man könnte bei den Bürgerinnen
und Bürger viel Unverständnis und viel Verärgerung vermeiden, wenn man rechtzeitig und offen informiert hätte
und nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an den Abbau von Briefkästen herangegangen wäre.
({8})
Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, dass die
Deutsche Post AG über Änderungen der Standorte von
Briefkästen vorab informiert. Bei einer Schließung von
stationären Einrichtungen erachte ich das ohnehin für
eine Selbstverständlichkeit.
Nochmals: Mehr Fairness, mehr Partnerschaft, mehr
Gemeinsamkeit und Information, das sind die Grundlagen unseres Antrags. Wir wollen eine kundenorientierte
und flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen. Wir wollen leistungsfähige und überlebensfähige
Postagenturen. Wir wollen eine erfolgreiche Post AG.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich begrüße es, dass wir es geschafft haben, einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema aufzusetzen, und
dass wir es schaffen, ihn zu verabschieden. Natürlich
hängt das nicht damit zusammen, dass wir die Vorschläge der Opposition übernommen hätten. Vielmehr
gab es aus allen Fraktionen ähnlich lautende Anträge.
Aber ich will nicht kleinlich sein: Es ist trotzdem eine
große Leistung, dass wir uns zu einem gemeinsamen
Antrag durchgerungen haben.
({0})
Heute geht es also darum, wie viele Briefkästen, wie
viele Filialen und wie viele Agenturen die Post bereitzustellen hat; das haben wir in der berühmten PUDLV festgelegt. Ich sage vorweg: Dass sie das muss, hat weniger
damit zu tun, wie viele Aktien der Bund besitzt, sondern
schlichtweg damit, dass die Post in diesem Bereich noch
ein Monopolunternehmen ist und deswegen verpflichtet
ist, eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen.
({1})
Deswegen hat dieser Streit, ob Aktien ja oder nein - Sie
wissen, ich bin eher dem Wettbewerb zugeneigt -, in
dieser Debatte, wie ich finde, nichts zu suchen.
Man kann darüber lächeln, dass wir hier im Bundestag darüber diskutieren müssen, wo ein Briefkasten stehen und wo es eine Postagentur geben soll. Aber man
muss sich bewusst machen, dass heute nicht jeder im Internet chattet und dass nicht jeder einen fahrbaren Untersatz hat, mit dem er 40 Kilometer fahren kann, um seinen Brief aufzugeben. Zu denjenigen, die nicht so mobil
sind, gehören viele ältere Menschen und ganz junge
Menschen, die zum Beispiel einer Brieffreundin schreiben wollen. Es gibt Menschen, die einfach das Briefeschreiben mögen und ab und zu zur Feder greifen. Gerade für diese Gruppen, die auf die Post angewiesen
sind, ist eine flächendeckende Versorgung notwendige
Voraussetzung für Kommunikation. Deswegen ist das
durchaus ein ernstes Thema.
Die Post als marktbeherrschendes Unternehmen, als
Monopolunternehmen hat, wie gesagt, die Verpflichtung,
die Post-Universaldienstleistungsverordnung einzuhalten. Teilweise wurden den Agenturen aber Verträge angeboten, die sie nicht annehmen konnten. Diese Agenturen gehören häufig zu den Tante-Emma-Läden im Dorf,
die den Zusatzverdienst, den sie durch ihre Funktion als
Postagenturen erhalten, benötigen. Wenn sie diesen
nicht erhalten, müssen die Tante-Emma-Läden schließen
und wir könnten die Versorgung der ländlichen Struktur
und der älteren Menschen im Dorf nicht mehr garantieren. Es hängt also ein riesiger Rattenschwanz daran.
Ich sage es noch einmal: Es ist notwendig, dass die
Post die Verordnung einhält. Wie sie das tut, ist uns im
Grunde genommen egal. Sie muss die flächendeckende
Versorgung aber sicherstellen.
({2})
Ich finde es sehr gut, dass wir einen gemeinsamen
Antrag gestellt und in diesem deutlich gemacht haben,
dass wir es nicht akzeptieren werden, wenn diese Verordnung nicht eingehalten wird. Wir fordern die Post
dazu auf, mit der Schließung der Agenturen zu warten,
bis die Kartellbehörde die Verträge überprüft hat. Daneben fordern wir dazu auf, dass die gesetzlich vorgesehenen Bußgelder eingefordert werden, wenn die Verordnung nicht eingehalten wird; auch das gehört dazu. Ich
finde, das ist ein eindeutiges Signal, dass wir es sehr
ernst meinen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die bestehenden rechtlichen Instrumente ausreichen, um die flächendeckende Versorgung sicherzustellen.
Wie gesagt: Ich finde es gut, dass wir einen gemeinsamen Antrag gestellt haben, und ich denke, dass wir damit der Post gegenüber signalisieren, dass es uns ernst ist
und dass wir hier zusammenhalten.
Ich danke Ihnen.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Rainer Funke, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einem
sind wir uns einig: Im Interesse der Wirtschaft und der
Verbraucher wollen wir eine flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen sichern.
({0})
- Seien Sie einmal ganz ruhig! Ich komme gleich zum
Kern der Sache.
({1})
In einem sind wir uns aber nicht einig, lieber Herr
Kollege Barthel, nämlich darin, wie dies am besten zu
geschehen hat.
Während die Koalitionsfraktionen und auch Teile der
CDU/CSU-Fraktion glauben, Postdienstleistungen sichere man am besten durch Marktregulierung, zum
Beispiel durch eine extensive Auslegung von Universaldienstleistungen, durch Regelungen, wie viele Briefkästen wann und wo zu leeren sind und vieles mehr,
({2})
glauben wir Liberale daran, dass Markt und Wettbewerb
die Verbraucherwünsche am besten befriedigen können.
({3})
In allen Bereichen unserer Wirtschaft, ob im produzierenden Gewerbe oder im Dienstleistungsbereich, erhält der Verbraucher, der Kunde, all das, was er benötigt,
am Markt. Nur bezogen auf den Postdienstleistungsbereich glauben die Sozialdemokraten, die Grünen und
auch Teile der CDU/CSU offensichtlich immer noch,
dass reguliert werden muss. Das halten wir in der Tat für
falsch.
({4})
- Wir haben diese Regulierung, weil die Post ein Monopolunternehmen ist. Herr Tauss, Sie wissen, dass wir das
Postmonopol so schnell wie irgend möglich - am besten
schon morgen - beseitigen wollen. Wir wollen die
Post AG zu einem wettbewerbsfähigen Marktteilnehmer
gestalten.
({5})
Statt also die richtige Konsequenz zu ziehen, der Post
AG ihr Postmonopol zu nehmen und den Wettbewerb zu
stärken, zum Beispiel durch die Zulassung von privaten
Wettbewerbern, was auch heute noch sehr gut möglich
wäre, wird die typisch sozialdemokratische Antwort gefunden: Da kein Wettbewerb sein darf, wird reguliert.
({6})
In einem Punkt gebe ich den Sozialdemokraten Recht:
Weil sie Monopolist ist, bewegt sich die Post AG in arroganter Weise im Postregulierungsmarkt. Ein typisches
Beispiel dafür war ihr Verhalten gegenüber ihren Partnern, den Postagenturen: Anfang dieses Jahres hat die
Post AG ihren Agenturpartnern einen 39-seitigen Änderungsvertrag übersandt, der mit dem Wort „Partnervertrag“ überschrieben war. Bei der Art dieses Vertrages
kann man dabei nur von Hohn und Spott sprechen. So
kann sich eigentlich nur jemand benehmen, der keinen
Wettbewerb zu scheuen hat, weil gesetzlich kein Wettbewerb zugelassen ist. Die Postagenturen werden nach
diesen Verträgen im Schnitt 25 bis 30 Prozent ihrer Einkommen verlieren, obwohl sie noch zusätzlich Frondienste für die Post AG erbringen müssen.
Herr Kollege Funke, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich weiß, aber der Kollege Barthel hat gerade seinen
Arm erhoben, um eine Zwischenfrage zu stellen.
Gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen
Barthel?
Natürlich.
Ich erinnere Sie trotzdem daran: Ihre Redezeit ist inzwischen deutlich überschritten.
Da Herr Funke so viel von Wettbewerbern gesprochen hat, möchte ich ihn etwas fragen. Zwei Drittel des
Postmarktes sind inzwischen für den Wettbewerb geöffnet. Es gibt zum Beispiel im Fracht- und Paketbereich
Wettbewerber. Vielleicht können Sie uns einmal erklären, wie wunderbar die Vertragsbedingungen auf dem
Paketsektor zwischen Großversendern und Konkurrenten der Post im Verhältnis zu deren Agenturnehmern
sind.
Herr Kollege Barthel, der Post- und Paketdienst ist
schon seit 1935 dem freien Wettbewerb ausgesetzt. Insofern hat das mit dem Monopolunternehmen überhaupt
nichts zu tun.
({0})
Das gilt sowohl für die Wettbewerber als auch für die
Post AG. Da sind die gleichen Wettbewerbsbedingungen
vorhanden.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
auf Drucksache 15/1129. Der Ausschuss empfiehlt, die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Anträge auf den Drucksachen 15/615, 15/466 und 15/579
zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Cornelia Pieper, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Bildungsstandort Deutschland stärken ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch
erleichtern
- Drucksache 15/471 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Christoph Hartmann, FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn wir hier in einem überschaubaren
Kreis sitzen, so ist es uns, der FDP, mit dem Bürokratieabbau Ernst. Dieses Thema anzugehen ist dringend notwendig. Über 70 000 Verordnungen und Gesetze gibt es
in diesem Land, die zum Leidwesen der Bevölkerung jedes Politikfeld durchziehen. Deswegen hat es sich die
FDP zur Daueraufgabe gemacht, innovations- und
wachstumshemmende Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
({0})
Seit Ende Januar stellen wir Woche für Woche einen
Antrag, um Gesetze und Verordnungen zu erleichtern
oder sie sogar abzuschaffen. Hemmnisse der Bürokratie
betreffen übrigens nicht nur die Wirtschafts- und Steuerpolitik. Auch der Bildungsstandort Deutschland wird
insbesondere im Hinblick auf Schülerinnen und Schüler
unzumutbar behindert. Deswegen stellt die FDP den Antrag, ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch in unserem Land zu erleichtern.
({1})
Seit Ende Oktober 2002 gilt eine weitere Form des
bürokratischen Irrsinns. In der Neuformulierung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz, in der die Aufenthaltsbewilligungen für den Schulbesuch geregelt sind, können wir unter Nr. 28.5.6.1
lesen:
Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen
zum Schulbesuch … nicht erteilt werden.
Das ist schade; denn diese Formulierung kommt von
der sich als weltoffen sehenden rot-grünen Bundesregierung. - In Nr. 28.5.6.2 sind die Ausnahmen geregelt. Das
führt dazu, dass jeder Einzelfall überprüft werden muss,
ob wirklich ein Ausnahmetatbestand vorliegt. So ist der
Willkür der Ausländerbehörden vor Ort Tür und Tor
geöffnet.
Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Kürzlich verweigerte der Landkreis Dessau 50 chinesischen Schülerinnen und Schülern die Aufenthaltsgenehmigung. Das
hatte zur Folge, dass diese keinen Intensivsprachkurs mit
anschließendem Bildungsgang in den neuen Bundesländern belegen konnten. Diese chinesischen Schülerinnen
und Schüler sind dann glücklicherweise hartnäckig gewesen und nicht nach Großbritannien gegangen, wie es
häufig genug vorkommt. Vielmehr absolvieren sie jetzt
den fast identischen Bildungsgang in Heidelberg, weil
der Landkreis Heidelberg weltoffener ist und wirtschaftlicher denkt und deswegen anders entschieden hat.
({2})
Dieses Beispiel zeigt, dass die Ausnahme vielleicht,
eventuell, gewissermaßen als Gnadenakt der Behörden,
gewährt wird oder eben nicht.
({3})
Genau das wollen wir Liberalen nicht.
({4})
In Großbritannien oder der Schweiz sind Schülerinnen
und Schüler als zahlende Kunden und später als Kulturund Wirtschaftsbotschafter ihrer Gastländer hoch willkommen. In England gibt es circa 120 000 ausländische
Schüler, insbesondere in privaten Internaten. Diese sichern 90 000 Arbeitsplätze und bringen mindestens
3,5 Milliarden Euro pro Jahr ins Land.
Dort herrscht ein einfacher Grundsatz: Sind alle Unterlagen vorhanden, gibt es eine Versicherung, gibt es
eine Garantie des Lebensunterhalts durch die aufnehmende Einrichtung, liegen Zahlungsbestätigungen vor,
dann wird das Visum erteilt. Dort gibt es eben keine
Ängste vor illegaler Einwanderung, denn die sind durch
diese Regelung ausgeräumt. Eine ähnliche Regelung
würde uns in diesem Land gut zu Gesicht stehen.
({5})
Wir wollen Bürokratie nicht nur deswegen abbauen,
weil es etwa populär wäre, sondern weil es notwendig
ist. Wir wollen unser Bildungssystem für die internationalen Herausforderungen fit machen. Wir wollen freien
Schulträgern und Bildungsunternehmen die Chance geben, ihre Kompetenz im wirtschaftlichen Wettbewerb zu
beweisen.
Christoph Hartmann ({6})
Herr Tauss, in einer Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 28. Februar
2000 können wir lesen: „Die Bundesbildungsministerin
kündigte an, mit einem offensiven Marketing für
Deutschland als Bildungsstandort und Forschungsstandort künftig werben zu wollen.“
({7})
Das hat unsere volle Unterstützung.
({8})
Wenn Sie ernst nehmen, was dort steht, dann dürften Sie
mit unserem Antrag keine Probleme haben, Herr Tauss.
Daran werden wir Sie messen.
({9})
Wir müssen Nicht-EU-Bürgern Schulbesuche ermöglichen, wenn sie die notwendigen Voraussetzungen erfüllen. Wir dürfen nicht die aus Deutschland wegschicken,
die hierher kommen, um zu lernen. Das ist gut für das
Image des Bildungsstandorts nach dem PISA-Desaster.
Sichern wir die Arbeitsplätze in unseren Schulen und
Bildungsunternehmen! Lassen Sie uns unnötige Bürokratie vermeiden! Präsentieren wir uns als würdige Gastgeber! Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Vielen Dank.
({10})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Kollege Hartmann, ich würde mir wünschen, dass
Sie das starke Ausmaß an Weltoffenheit, das Sie gerade
am Beispiel Heidelbergs aufgezeigt haben, der badenwürttembergischen Landesregierung empfehlen würden, damit diese sich positiv zu unserem Zuwanderungsgesetz verhalten kann.
({0})
Ich muss zugeben: Die tatsächlichen oder angeblichen
Hindernisse für ausländische Jugendliche, ein deutsches
Internat zu besuchen, standen bisher nicht unbedingt im
Zentrum unserer langen, sehr intensiven migrationspolitischen Diskussion. Ich denke da sehr viel stärker an bessere Chancen in unseren Bildungseinrichtungen etwa für
Kinder aus Migrantenfamilien, für Angehörige von Spätaussiedlern oder Söhne und Töchter von Asylbewerbern,
auch für illegal im Lande lebende Migranten. Das sind
sicherlich gravierende Probleme.
Aber gleichwohl, Herr Kollege Hartmann, wirft der
Antrag der FDP ein Schlaglicht auf einen bestimmten
Teilbereich der Zuwanderung oder der zeitweiligen Zuwanderung junger Menschen und stellt die Frage, ob wir
die Zugangsbarrieren zu hoch stellen. Ich finde schon, es
lohnt sich, daran Gedanken zu knüpfen.
({1})
Es geht also um den Besuch von Internaten. Daran anknüpfend kann man folgern, dass nicht wenige dieser Jugendlichen anschließend in Deutschland studieren wollen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Bitte schön.
Frau Kollegin, es überrascht mich zwar nicht, dass Sie
die Fragestellung in einen Zusammenhang mit der Zuwanderungsregelung bringen. Geht es aber in dem Antrag der FDP nicht vielmehr um die Möglichkeit eines
Dienstleistungsexportes in dem Sinne, dass Bildungsdienstleistungen - übrigens auch im beruflichen Bereich - zwar in Deutschland, aber für Ausländer angeboten werden können? Sollte nicht die Möglichkeit eines
Dienstleistungsexports eröffnet werden? Das hat aber
mit der Zuwanderungsregelung in Ihrem Sinne nichts zu
tun.
Das Thema hat schon deswegen sowohl mit Dienstleistungs- und Bildungsangeboten als auch mit der Zuwanderungs- und Ausländerpolitik zu tun,
({0})
weil es die Verwaltungsvorschriften im Ausländergesetz,
das in seiner jetzigen Fassung bekanntlich noch auf die
Epoche der christlich-liberalen Koalition zurückgeht, betrifft. Insofern sind beide Bereiche miteinander zu verknüpfen.
({1})
Es geht darum, dass ausländische Jugendliche später
vielleicht in Deutschland bleiben wollen. Um noch einmal auf das Thema des Antrags zu sprechen zu kommen:
Die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz - die
seitens der Länder übrigens schon seit 1998 vorbereitet
wurde und nicht erst seit 2002, sondern bereits seit dem
7. Oktober 2000 offiziell in Kraft ist - sieht keine Aufenthaltsbewilligungen vor und erwähnt insbesondere
Fälle, in denen nicht die Eltern des ausländischen Schülers oder der Schülerin in Deutschland leben, sondern
andere Verwandte. Dahinter verbirgt sich wohl die
Sorge, dass sich in solchen Fällen ein Daueraufenthalt
entwickeln könnte.
Ausnahmen sind nach dieser Vorschrift nur möglich,
wenn es sich um einen zeitlich begrenzten Schüleraustausch oder um eine Schule mit internationaler AusrichDr. Cornelie Sonntag-Wolgast
tung handelt. Außerdem bezieht sich die Vorschrift auf
Schulen, die vollständig oder zu einem überwiegenden
Teil aus Schulgeldern finanziert werden, die von den Eltern zu entrichten sind.
Die Verwaltungsvorschrift hat insofern auch den internationalen Aspekt und den Aspekt der Weltoffenheit
des Bildungsstandortes mit erfasst. In diesem Zusammenhang stellt sich auch mir die Frage, ob diese Weltoffenheit deutlich genug zutage tritt.
({2})
Die Frage, ob diese Vorschrift einladend oder eher abschottend und abschreckend wirkt, sollte uns durchaus
beschäftigen.
Das Bundesinnenministerium hat keine Kenntnis von
nennenswerten Problemen im Zusammenhang mit dieser
Vorschrift. Dennoch könnte uns die praktische Erfahrung
in den Ländern ein anderes Bild liefern. Sie haben bereits ein Beispiel genannt. Deswegen rege ich an, dass
wir bei den Beratungen des Antrags in den zuständigen
Ausschüssen die Praxis der Behörden, der Länder und
vielleicht auch die Erfahrungen der betroffenen Kinder
und Eltern berücksichtigen. Das ist sicherlich interessant.
Unumstritten ist sicherlich, dass im Visumverfahren
Nachweise in Bezug auf die internationale Ausrichtung
der Schule, auf die private Finanzierung und den gesicherten Lebensunterhalt für die interessierten Schüler erbracht werden müssen. Daran kommen wir nicht vorbei
- darin sind wir uns sicherlich einig -, weil für den Aufenthalt der Jugendlichen im Interesse aller Beteiligten
eine solide Grundlage nötig ist.
Ich möchte aber betonen, dass es zu begrüßen ist,
wenn Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern hierher kommen, um Privatschulen oder Internate zu besuchen. Das spricht übrigens auch dafür, dass die Unterrichtsangebote in den Bundesländern allen PISAgeprägten Unkenrufen zum Trotz ihre Anziehungskraft
nicht völlig eingebüßt haben.
Es tut deutschen Internatszöglingen sicherlich auch
gut, wenn sie begabte und interessierte Mitschüler anderer Haut- und Haarfarbe aus anderen Kulturkreisen und
Religionsgemeinschaften zur Seite haben und mit ihnen
zusammen lernen. Diejenigen ausländischen Jugendlichen, die später wieder in ihre Heimat zurückkehren,
können wiederum Botschafter eines friedlichen Lebens
und der Weltoffenheit in der Bundesrepublik sein.
Deswegen ist zu überlegen, ob die Voraussetzungen
für solche Privatschulen und Internatsaufenthalte ausländischer Kinder und Jugendlicher im Ausländerrecht
offener, sprich: gastfreundlicher, formuliert werden sollten. Das entspricht übrigens auch dem Gesinnungswandel - es tut mir Leid, dass ich noch einmal auf das
Zuwanderungsgesetz zu sprechen komme, aber der Zusammenhang ist zwingend -, den wir in unserem Zuwanderungsgesetz deutlich machen, dass nämlich längst
nicht jede Form der Zuwanderung des Teufels ist, wie es
die CDU/CSU uns und leider auch den Bürgern einhämmert. Vielmehr gibt es viele Fälle, in denen die Zuwanderung durchaus wünschenswert ist, übrigens auch zum
Vorteil unserer Gesellschaft.
({3})
Dieser Gedanke - da das oft vergessen wird, erinnere ich
daran - liegt auch dem Passus des Gesetzes zugrunde,
der es ausländischen Hochschulabsolventen ermöglicht,
nach ihrem Studium in Deutschland zu bleiben, wenn sie
binnen eines Jahres eine geeignete Tätigkeit finden. Dieses Element des Gesetzes wird leider in der öffentlichen
Diskussion unterschlagen, ist aber im Interesse des Bildungsstandorts Deutschland.
Reden wir im Innenausschuss und in den anderen mitberatenden Ausschüssen darüber, und zwar hoffentlich
ohne die Feindseligkeiten und die Drohkulissen, die
sonst die Debatten über die Migration begleiten. Wir
sollten uns bei diesem Thema ruhig einmal eine positive
und gastfreundliche Diskussion genehmigen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ernst-Reinhard Beck, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Tauss, lassen Sie sich überraschen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zuerst drei Vorbemerkungen, mit denen ich Bezug auf Ihre Ausführungen nehmen möchte, liebe Frau Sonntag-Wolgast. Erste
Vorbemerkung: Nach meiner Auffassung handelt es sich
bei dem zur Diskussion stehenden Thema im Kern um
eine bildungspolitische und nicht um eine ausländerpolitische Fragestellung.
({1})
Entscheidend ist einfach - ich begrüße sehr, dass Sie das
bereits dargestellt haben -, wie man mit diesen Bildungsfragen umgeht, ob man ermunternd oder abschottend formuliert. Ich meine, in einer Zeit der Europäisierung und der Globalisierung stünde es uns gut an, wenn
wir eine weltoffene Formulierung fänden, die einen ermunternden und nicht einen dumpf-abschottenden Effekt hat.
({2})
Ernst-Reinhard Beck ({3})
Zweite Vorbemerkung: Es geht auch nicht um den
Schulbesuch von Schülern aus EU-Staaten, sondern ausschließlich um Schüler aus Nicht-EU-Staaten, die eine
deutsche Schullaufbahn gewählt haben.
Dritte Vorbemerkung: Betroffen ist auch nicht der
Schüleraustausch. Er hat sich seit vielen Jahren eingespielt und bewährt. Hier sind uns auch keine Probleme
bekannt. Wir wünschen uns nur, dass er intensiver betrieben wird. Es geht außerdem - das haben schon meine
beiden Vorredner ausgeführt - nicht primär um die staatliche Regelschule, sondern um Bildungsangebote privater Träger, zumeist von Internaten.
In Deutschland gibt es zurzeit 2 600 Schulen mit ungefähr 580 000 Schülern in freier Trägerschaft. Der Anteil der ausländischen Schüler beträgt an manchen dieser Schulen bis zu 20 Prozent. Hier zeigt sich trotz PISA
- auch das haben Sie zu Recht hervorgehoben - die
durchaus noch vorhandene Attraktivität des Bildungsstandorts Deutschland, den wir mit bürokratischen Regelungen nicht weiter beschädigen dürfen. Ausländische
Schüler - das ist bereits am Beispiel Englands und der
Schweiz dargestellt worden - stellen einen nicht unbeträchtlichen Wirtschaftsfaktor dar. Die Kinder, die ein
deutsches Internat besuchen, sind im Anschluss an ihren
Schulbesuch hervorragende Botschafter auch der deutschen Kultur und der deutschen Sprache in ihren Heimatländern.
({4})
Allein im Hinblick auf eine weitere Europäisierung
und Globalisierung - das habe ich schon vorhin gesagt ist eine internationale Ausrichtung der deutschen Schule
eine Notwendigkeit. Herr Tauss, auch dem werden Sie
wahrscheinlich zustimmen.
({5})
Die Schulen in freier Trägerschaft haben auf diesem
Gebiet bereits eine Vorreiterrolle übernommen. Es
nimmt nicht wunder, dass zum Beispiel die Schule
Schloss Salem im Internet auf Englisch, Französisch,
Spanisch, aber auch auf Russisch und Chinesisch wirbt.
Lassen Sie mich auf die entsprechende Verwaltungsvorschrift im Ausländergesetz eingehen. Dort heißt es:
Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen zum
Schulbesuch nicht erteilt werden. Frau Sonntag-Wolgast,
genau das ist eine ängstliche und abwehrende Formulierung, bei der meiner Meinung nach die Asyl- und Zuwanderungsdebatte eine Rolle gespielt hat und die nach
meiner festen Überzeugung fehl am Platz ist.
({6})
Im Hinblick auf so genannte staatlich anerkannte Privatschulen wird gesagt: Ausnahmen können in Betracht
kommen, wenn es sich um eine staatlich anerkannte
Schule handelt, die ganz oder überwiegend aus den von
den Eltern zu entrichtenden Schulgeldern finanziert
wird, und wenn der Lebensunterhalt des ausländischen
Schülers durch Zahlungen der Eltern gesichert ist.
Vorhin ist schon etwas zu den Auswirkungen gesagt
worden. Da, wo ich in Baden-Württemberg nachgefragt
habe, hat es keine Probleme gegeben.
({7})
Ich habe in sehr vielen Fällen gehört, dass es überhaupt
keine Probleme gibt und dass auch bei Heimatländern
wie China, Ukraine oder Mexiko die Anträge problemlos bearbeitet und die Aufenthaltsgenehmigungen erteilt
werden. Allerdings - das Beispiel ist vorhin von Herrn
Hartmann genannt worden - gibt es offenbar eine unterschiedliche Handhabung. Das ist im Sinne der Chancengleichheit nicht akzeptabel.
Wie geht man damit um? Man sollte daran keine
grundsätzliche Diskussion aufhängen. Man könnte einfach den Passus in der Verwaltungsvorschrift streichen.
Aber das ist Ausländerrecht. Es steht mir als Bildungspolitiker nicht unbedingt zu, den Innenpolitikern zu sagen, was sie in ihre Vorschriften hineinschreiben sollen.
({8})
- Ich habe gesagt: Ich maße mir das nicht an. - Meines
Erachtens wäre natürlich schon sehr viel gewonnen,
wenn mit einer positiven Formulierung auch ein positives Signal gesetzt würde. Ein Beispiel - damit das konkret wird -: Aufenthaltsbewilligungen zum Schulbesuch
können unter den nachfolgenden Bedingungen erteilt
werden. - Als Bedingungen könnten die Ausnahmetatbestände genannt werden, die in der Verwaltungsvorschrift stehen.
Ich komme aus Baden-Württemberg. Da schaut man
manchmal zum südlichen Nachbarn. Von der Schweiz,
die nicht gerade in dem Ruf steht, im Bereich der Ausländerpolitik eine Vorreiterrolle zu spielen, als klassischem Internatsland könnten wir das übernehmen, was
dort geregelt worden ist; man könnte es sich zumindest
einmal anschauen.
Wer in der Schweiz ein Internat besuchen will, hat
folgende Voraussetzungen zu erfüllen - das ist in der
Schweiz gesetzlich geregelt -: Erstens. Er muss allein
einreisen, das heißt ohne Immigrationsabsichten der Familie. Zweitens. Er muss eine Ganztagsschule allgemein- oder berufsbildender Art im Sinne einer staatlichen Schule besuchen. Drittens. Der Schulleiter muss
die Schulanmeldung und den Schulbesuch bestätigen.
Viertens. Der Schüler muss über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Fünftens. Bei minderjährigen
Schülern muss für Betreuung gesorgt sein. Die Wiederausreise nach dem Schulbesuch muss gesichert sein.
Mehr nicht. Das sind klar umrissene Voraussetzungen.
({9})
Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!
Danke schön, Frau Präsidentin. Ich komme zum
Schluss.
Die Bundesregierung ist laut Antwort auf eine Große
Anfrage der CDU/CSU-Fraktion daran interessiert, dass
möglichst viele Menschen in möglichst vielen Ländern
Deutsch lernen; in besonderem Maße gelte das für Länder, mit denen Deutschland besonders enge politische,
wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen pflege. Wenn
das so ist, dann gilt es in der Tat, den Schulbesuch ausländischer Schüler in Deutschland zu fördern und ihn
nicht zu be- oder gar zu verhindern.
Vielen Dank.
({0})
Lieber Herr Kollege Beck, ich gratuliere Ihnen recht
herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause
und wünsche Ihnen alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Beim vorliegenden Antrag der FDP ist der Titel
in Ordnung, aber mit dem Inhalt müssen wir uns noch
einmal näher befassen. „Den Bildungsstandort Deutschland stärken“ - dagegen kann niemand etwas haben.
„Ausländischen Jugendlichen den Schulbesuch erleichtern“ - wenn ich nach rechts schaue, bin ich mir nicht
ganz so sicher, ob die Bereitschaft dazu so groß ist.
({0})
Mit dem vorliegenden Antrag kritisiert die FDP eine
uneinheitliche und bürokratische Verwaltungspraxis bei
der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für ausländische Jugendliche zum Besuch deutscher Schulen. Die
FDP führt das auf eine zu restriktive Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz zurück. Sie haben auch ausgeführt, die unterschiedlichen Ergebnisse der Prüfungen
durch die Ausländerbehörden stellten eine Negativwerbung für den Bildungsstandort Deutschland dar. Zu Ihren Ausführungen dazu möchte ich sagen: Irgendwo ist
zumindest die Gruppe, die hier angesprochen worden ist,
untergekommen.
Ein sicherlich recht schroff klingender Satz aus der
Verwaltungsvorschrift wurde bereits erwähnt. Allerdings
gibt es eine ganze Reihe von Ausnahmekategorien, die
die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zum Schulbesuch ermöglichen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn
ein Schüler aus einem Land stammt, das im Ausnahmekatalog der Arbeitsaufenthalteverordnung genannt ist
- etwa die Schweiz, die USA, Kanada, Australien und
Japan -, wenn es um einen zeitlich begrenzten Schüleraustausch in Zusammenarbeit mit einer öffentlichen
Stelle geht, wenn es sich um eine besondere Schule mit
internationaler Ausrichtung bzw. um eine staatlich anerkannte Privatschule handelt oder wenn eine Schülerin
einmal Weinkönigin war.
({1})
Dieser Ausnahmekatalog macht deutlich, dass in
Deutschland die Qualität und die Kompatibilität des Bildungsabschlusses die Hauptkriterien bei der Erteilung
der Erlaubnis eines zweckgerichteten Aufenthaltes zum
Schulbesuch sein müssen. Durch den FDP-Antrag kann
man allerdings den Eindruck gewinnen, dass es vor allem um eine weitere Öffnung der privaten Bildungseinrichtungen geht, also nicht nur um Schulbildung, sondern um eine Mischung aus betrieblichen Interessen und
schulischer Bildung.
Problematisch ist dieser Ansatz nach unserer Meinung oft für die betroffenen ausländischen Jugendlichen,
insbesondere für die genannte Gruppe aus China, deren
Eltern so genannten Kontaktbüros viel Geld für die Erteilung eines befristeten Aufenthalts zum Besuch von
Bildungsgängen zahlen. Die bei den privaten Bildungsträgern erreichten Abschlüsse werden jedoch leider oft
nicht anerkannt. Das heißt, dass ein ausländischer Schüler nach der Rückkehr in sein Heimatland außer Kenntnissen der deutschen Sprache - das ist immerhin etwas nichts in der Hand hat, was ihm auf seinem weiteren Lebensweg helfen kann. Insofern ist dieser Ansatz durchaus kritisch zu betrachten.
Für eine Öffnung dieser Verwaltungsvorschrift zur
Ermöglichung der Teilnahme an solch fragwürdigen
Ausbildungen werden wir uns nicht einsetzen. Einen
akuten Handlungsbedarf sehen wir hinsichtlich der Konkretisierung der weiteren Ausnahmetatbestände dieser
Verwaltungsvorschrift nicht. Wenn sich wirklich erweist,
dass größere Probleme vorliegen - das kann ich im Moment noch nicht erkennen -, dann werden wir natürlich
bereit sein, darüber zu sprechen.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bildung ist für uns der entscheidende Standortfaktor.
Für die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche
Weiterentwicklung der Bundesrepublik ist es sicherlich
von elementarer Bedeutung, den Bildungsstandort
Deutschland zu stärken und insgesamt attraktiver zu
gestalten. Beim Stichwort Bildungsdienstleistungen
denkt man in erster Linie an die Länder Großbritannien
oder Schweiz, aber kaum an Deutschland.
Wenn wir Schulbesuche von ausländischen Jugendlichen in unserem Land unbürokratisch ermöglichen, dann
ist dies eine gute und richtige Maßnahme, damit wir als
Bildungsdienstleister weltweit wahrgenommen werden.
({0})
Daher halte ich den Antrag der FDP-Fraktion in der Sache für richtig.
Wir reden hier nicht von Zuwanderung. Zuwanderung
ist ein auf Dauer angelegter Aufenthalt. Wir reden hier
von einem temporären und die Solidarität nicht strapazierenden Aufenthalt.
({1})
Es gibt einige gute Gründe, die Möglichkeit des
Schulbesuchs in Deutschland zu erleichtern. Die Internatsschüler in England und in der Schweiz haben sich zu
einem Wirtschaftsfaktor für viele Regionen entwickelt.
({2})
Niemand von uns kann ernsthaft etwas dagegen haben,
wenn wir kleine, aber dennoch positive Effekte für unsere wirtschaftliche Entwicklung erzielen. Aber auch
langfristig gibt es positive Effekte für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Diese Effekte sind nicht so einfach wie die Ausgaben der Schüler während ihres Aufenthaltes in Eurobeträge zu fassen. Viele der jungen
Menschen, die einen Schulbesuch im Ausland absolvieren, werden in einigen Jahren in Wirtschaft und Politik
ihres Heimatlandes in herausgehobenen Positionen tätig
sein.
({3})
Gerade in Zeiten der verstärkten Vernetzung der internationalen Märkte und des Zusammenrückens in Europa
ist es wichtig, schon frühestmöglich funktionierende
Netzwerke zu knüpfen. Was, meine sehr geehrten Damen und Herren, spricht dagegen, bereits in der Schule
damit zu beginnen, diese zukunftsorientierten Netzwerke
aufzubauen?
({4})
Eine wesentliche Hürde, für Firmen und Institutionen
in unserem Lande tätig zu werden, ist in meinen Augen
das Fehlen von Grundkenntnissen des Deutschen bei
Fachkräften aus dem europäischen und vor allem dem
außereuropäischen Ausland.
({5})
- Nein, da bekomme ich viel Beifall, sehr geehrter Herr
Kollege. - Wir können und sollten uns nicht darauf verlassen, dass es die Goethe-Institute schon richten werden. Wenn sie auf erworbenen Grundkenntnissen in der
deutschen Sprache aufbauen können, fällt es den ausländischen Fachkräften leichter, sich für eine Tätigkeit für
deutsche Firmen und Institutionen in Deutschland zu
entscheiden.
Neben dem Erlernen der Sprache dient ein Schulbesuch in der Bundesrepublik auch dem gegenseitigen
kulturellen Austausch. Viele Jugendliche stellen fest,
dass das Leben in Deutschland oftmals anders ist, als sie
im Vorfeld vermutet haben. So können verzerrende Darstellungen im Ausland über unser Land zumindest im
Kleinen korrigiert werden. Was wir uns für unsere Kinder wünschen - nämlich einen bildenden Auslandsaufenthalt -, sollten wir auch Kindern aus anderen Ländern zugestehen.
({6})
Es ist daher notwendig, dass die betreffenden Jugendlichen viele positive Eindrücke sammeln. Zu den positiven Eindrücken zählt zweifelsohne nicht der lange
Kampf mit den Behörden in unserem Land. Ich denke,
das können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen mit unseren Behörden
nachvollziehen.
Ein großes Problem in diesem Zusammenhang ist die
unterschiedliche Handhabe der einzelnen Bundesländer
bei der Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen.
Bayern wird in diesen Fragen gerne der schwarze Peter
zugeschoben, wie Sie es eben wieder versuchten, aber
die Realität sieht anders aus. So können beispielsweise
chinesische Staatsbürger komplette Ausbildungsprogramme in der Benedict-Schule München absolvieren.
({7})
Die Visaerteilung für die Teilnehmer erfolgt in Zusammenarbeit des Deutschen Generalkonsulats in Peking
und Schanghai mit dem bayerischen Ausländeramt und
ist regelmäßig unproblematisch.
({8})
Für uns politisch Handelnde muss es vorrangige Aufgabe sein, darauf zu drängen, dass die bestehenden Verwaltungsvorschriften so geändert werden, dass eine
schnellstmögliche, unbürokratische sowie bundesweit
einheitliche Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen für
Schüler erfolgen kann.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns
einig und halten es alle für widersinnig, wenn in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz
formuliert wird:
Im Allgemeinen können Aufenthaltsbewilligungen
zum Schulbesuch nicht erteilt werden.
({10})
- Ich glaube, das Rederecht liegt bei mir, verehrter Herr
Kollege. - Nachfolgend werden in der genannten Verwaltungsvorschrift zwar die Ausnahmen aufgeführt, aber
durch den ersten Satz wird bereits eine negative Grundstimmung erzeugt.
Damit sind wir bei dem, was auch Sie, Frau Kollegin
Sonntag-Wolgast, gesagt haben: Ich denke, wir sollten
die Formulierung dahin gehend ändern, dass die Kernaussage dieses Passus nicht das halb leere Glas beschreibt, sondern das halb volle Glas. Demnach sollten
wir in Deutschland Aufenthaltsbewilligungen zum
Zweck des Schulbesuchs grundsätzlich erteilen. Die daran zu knüpfenden Bedingungen wurden schon mehrfach angeführt. Das können wir alle unterstützen. Ich bin
davon überzeugt: Wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, gibt es keinen Grund, ausländischen Schülern
die Aufenthaltsbewilligung, in welches Bundesland sie
auch immer gehen wollen, zu verweigern.
Ich bedanke mich.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Ernst Dieter
Rossmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang den Kollegen
Beck zu seiner ersten Rede beglückwünschen. So, wie
Sie ein paar Vorbemerkungen gemacht haben, mache ich
ein paar Nachbemerkungen.
Die erste Nachbemerkung lautet: Es ist erfreulich,
welch große Übereinstimmung wir darin haben, dass Internationalität im Bildungswesen ein gemeinsames
Anliegen ist.
({0})
Auf einem Teilgebiet, nämlich bei den Studenten, können wir ja seit 1998 einen deutlichen Zuwachs verzeichnen; ein Plus von 20 Prozent bei den ausländischen Studierenden wäre den Beifall des ganzen Hauses wert.
Dies ist gemeinsamen Anstrengungen von uns allen zu
verdanken.
({1})
Zweite Vorbemerkung: Ich fand es sehr gut, dass Sie
in der Sache dargelegt haben, dass wir nicht allein über
EU-Ausländer sprechen, sondern hierbei auch unseren
Blick über die EU hinaus richten müssen. Auch das ist
uns ein wichtiges Anliegen, denn eine Bildungsfestung
Europa würde nicht für Internationalität sorgen. Von daher hat die FDP hiermit einen richtigen Punkt angesprochen. Wir müssen an diesem Punkt arbeiten.
Drittens. Uns hat sehr gefallen, dass Sie nicht nur auf
das Internatswesen abgehoben haben, sondern auch auf
den Schüleraustausch, auf die Internationalität insgesamt. Es ist nahe liegend, dass er sich eher im europäischen Rahmen abspielt, aber die Horizonte haben wir
mittlerweile erweitert. Die Zahlen sind auch nicht niedrig. Nach den Zahlen der EU und der KMK zu entsprechenden Austauschangeboten liegen wir wohl bei rund
20 000 deutschen Austauschschülern und rund 17 000
ausländischen Jugendlichen, die im Schüleraustausch zu
uns kommen. Diese Zahlen beziehen sich nur auf den
gut ausgestatteten, reglementierten Austausch. Der
Schüleraustausch über die Schulen ist noch deutlich höher.
Ich breite das hier deshalb aus, weil mir in der Vorbereitung auf dieses Thema aufgefallen ist, dass wir dazu
bisher eigentlich keine gute Statistik haben. Statistiken
sollen keine Ausflucht sein, sondern eine Statistik könnte
hier der Politik Hinweise geben, in welchem Bereich es
Schwächen gibt. Vielleicht könnte ein bildungspolitisches Anliegen sein, internationale Bildungsstatistik und
Austauschstatistik in Deutschland zu vervollkommnen
und für andere Länder in Europa fruchtbar zu machen.
Viertens. Die FDP hat speziell die Internate in den
Blick genommen. Dazu zu später Stunde vor Pfingsten
einen kleinen Hinweis - das ist schon vom Kollegen
Beck dargelegt worden - auf die Realitäten. Eine Zahl
als Ergänzung: Wir haben rund 20 000 Internatsplätze,
von denen - wie man erfährt, wenn man sich sachkundig
macht - 5 000 nicht besetzt sind. Es würde eine Chance
bedeuten, wenn diese 5 000 Plätze - das wäre ein Drittel,
das hinzukommt - vielleicht auch mit der neuen gemeinschaftlichen Offenheit in Bezug auf Internationalität
schneller zu besetzen wären. Es wäre wirtschaftlich gut,
wenn dieses Potenzial, das bereits vorhanden ist, genutzt
würde und entsprechend angenommen werden könnte.
Dadurch könnte man auch andere Perspektiven eröffnen.
Man sollte also Leerkapazitäten in diesem Bereich
vermeiden und unter Umständen mit einem entsprechend anderen Verständnis von Verwaltungsvorschriften
in Bezug auf das Ausländergesetz für mehr Zugänglichkeit sorgen. Ich will gar nicht so weit gehen, über die internationale Hochschulmarketinginitiative hinaus auch
noch eine internationale Schulmarketinginitiative in
Deutschland zu fordern. Aber es kann auch dahin noch
kommen. Es wäre doch grandios, wenn das nicht allein
Sache der Länder wäre, sondern Bund und Länder hier
gemeinsam vorgehen würden.
({2})
Das könnte bezogen auf das kritische Thema Bund-Länder-Zusammenarbeit bei Schul- und Bildungsfragen hilfreich sein.
({3})
- Ich glaube nicht, dass es das komplizieren würde; es
könnte es befruchten, wie es auch bei den Hochschulen
der Fall war.
Fünfte Bemerkung. Kollege Beck, auch ich habe mich
umgehört, und zwar in vier Bundesländern, nicht nur
beim Verband Deutscher Privatschulen. In Luisenlund in
Schleswig-Holstein ist man sehr zufrieden, weil es einen
guten Kontakt zu den Ausländerbehörden gibt und man
aufeinander eingespielt ist. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es keine Kritik von der beispielhaften Schule.
Auch von Brandenburg gibt es keine Kritik. Mit Salem
habe ich ebenfalls gesprochen. Sie sagten hier, von dort
gebe es keine Kritik; mir sagte man, es hätte Schwierigkeiten gegeben, weil man alles schriftlich haben wollte
und bestimmte Unterlagen nicht aufs Faxgerät legen
konnte, um so einen schnellen Kontakt zwischen den
Behörden zu bekommen.
Ich will damit sagen, dass das Bild uneinheitlich ist.
Aber ich habe auch das Gefühl: Wir können uns noch so
große Mühe geben, beim Verwaltungsvollzug wird es
immer gewisse Differenzen geben. Wir sollten aber darauf achten, dass wir über die kleinen Differenzen im
Verwaltungsvollzug nicht die grundsätzliche Perspektive
aus den Augen verlieren.
Diese Perspektive - sechster Punkt - wollen wir gerne
aufnehmen. Wir sind als Bildungspolitiker ganz begeistert, welche Offenheit es aufseiten der FDP gibt, der wir
dort nichts vorzuwerfen haben.
({4})
- Das war jetzt die Überleitung zur CDU/CSU. Wenn es
möglich wäre, diese Verwaltungsvorschrift so zu überarbeiten, dass der bildungspolitische Duktus, die Offenheit, das Werben stärker zum Ausdruck kommen, dann
würden wir uns an erster Stelle freuen. Aber damit es so
weit kommt, müssen die Innenpolitiker überzeugt werden. Deshalb ist es strategisch goldrichtig, diesen Antrag
federführend an den Innenausschuss zu überweisen.
({5})
Das ist die Stunde der Wahrheit, in der wir uns mit ganzer Kraft einbringen wollen. Wenn es dort einen breiten
CDU/CSU-SPD-FDP-Grüne-Konsens gäbe, wäre das
nur zum Besten. Wenn dieser noch in die Länder hineinreichte, wäre das zum Allerbesten.
Fakt ist, dass die restriktiven Vorschriften im Juli
1998 in der Verwaltungsvereinbarung zwischen den
Ländern niedergelegt würden. Sie wissen, was danach
kam: unsere Regierungszeit. 2000 wurden sie von den
Ländern exekutiert und seitdem nicht verändert. Chance
also für den Innenausschuss, dort Liberalität und Offenheit zu zeigen.
Es besteht die Chance für den Bildungsausschuss - siebter Punkt -, in einem gemeinsamen Antrag Vorschläge
zu entwickeln, was man unterhalb der gesetzlichen und
der Verwaltungsebene tun kann: Bitten an das Auswärtige Amt, über die Konsulate darauf einzuwirken, Bitten,
Statistiken zu erstellen, Bitten, eine Werbung aufzubauen.
Ich möchte abschließend sagen: Es ist wunderbar, mit
dieser Gemeinsamkeit in die Pfingsttage aufbrechen zu
können.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/471 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 17. Juni 2003, 14 Uhr, ein. In
dieser Sitzung soll die erste Lesung des Antrags der
Bundesregierung über die Beteiligung an der EU-Operation im Kongo erfolgen. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den
Besuchern auf der Tribüne ein schönes Pfingstwochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.