Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/5/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer feierte am 31. Mai ihren 60. Geburtstag und der Kollege Haupt am 29. Mai ebenfalls seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere der Kollegin und dem Kollegen im Namen des Hauses nachträglich sehr herzlich. ({0}) Sodann müssen zwei Nachwahlen vorgenommen werden. Im Wahlprüfungsausschuss ist die bei der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen noch offene Position des stellvertretenden Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird der Kollege Josef Philip Winkler vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Josef Philip Winkler als stellvertretendes Mitglied in den Wahlprüfungsausschuss gewählt. Für den Beirat bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR schlägt die Fraktion der CDU/CSU das bisherige Mitglied Professor Dr. Manfred Wilke für eine weitere Amtszeit vor. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist Professor Wilke gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in den Beirat gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt: 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Forderungen aus Union und FDP zum Verzicht auf Schuldenerlasse und zur Eintreibung von Schulden im Ausland ({1}) 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen - Drucksache 15/1090 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({4}), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren - Drucksache 15/1130 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Kranz, Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({6}), Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg - Drucksache 15/1091 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Eckhardt Barthel ({8}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({9}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen - Drucksache 15/1092 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien 5 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 15/898 - ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung - Drucksache 15/1137 - Berichterstattung: Abgeordneter Jens Spahn Redetext Präsident Wolfgang Thierse b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Gabriele Lösekrug-Möller, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Umfassender Schutz der Walbestände Verbot kommerziellen Walfangs konsequent durchsetzen - Drucksachen 15/995 ({13}), 15/1128 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Peter Bleser Dr. Christel Happach-Kasan 6 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU für die vom Deutschen Bundestag gemäß §§ 31 und 36 des Gesetzes über die Rundfunkanstalt des Bundesrechts „Deutsche Welle“ ({14}) zu wählenden Mitglieder des Rundfunkrates und des Verwaltungsrates der Deutschen Welle - Drucksache 15/1122 7 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ - Drucksache 15/1123 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Hinsken, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Handwerk mit Zukunft - Drucksache 15/1107 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Meisterbrief erhalten und Handwerksordnung zukunftsfest machen - Drucksache 15/1108 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({16}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN und FDP: Sofortige und bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi - Drucksache 15/1105 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 14 - Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsgesetz - mit den Beratungen ohne Aussprache aufzurufen und den Tagesordnungspunkt 23 - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - abzusetzen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik Estland, der Republik Lettland, der Republik Litauen, Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Republik Slowenien - Drucksachen 15/906, 15/1063 ({17}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({18}) - Drucksache 15/1117 Berichterstattung: Abgeordnete Markus Meckel Dr. Friedbert Pflüger Dr. Werner Hoyer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Monika Heubaum, SPD-Fraktion, das Wort.

Monika Heubaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002674, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitritt Bulgariens, Estlands, Lettlands, Litauens, Rumäniens, der Slowakei und Sloweniens zur NATO ist ein wichtiger Meilenstein zur Festigung der Stabilität und Sicherheit des euroatlantischen Raums. ({0}) Mit ihm wird ein weiteres Kapitel in der Geschichte des erfolgreichsten Sicherheitsprojektes nach dem Ende des Kalten Krieges geschrieben. Zugleich rückt mit der Aufnahme dieser sieben Staaten die große transatlantische Vision eines „Europe whole and free“ wieder ein Stück näher. Die NATO der Zukunft nimmt weiter Gestalt an. Das sollte für uns alle ein Grund zur Freude sein. ({1}) Blicken wir zurück: Vor vier Jahren hat das Bündnis mit der Aufnahme Ungarns, der Tschechischen Republik sowie Polens bereits einen entscheidenden Schritt hin zur Überwindung der Teilung Europas gemacht. Damals war und heute ist Deutschland einer der entscheidendsten Verfechter der Öffnung des Bündnisses für weitere Mitgliedstaaten. Niemand in diesem Hause dürfte ernstMonika Heubaum haft Zweifel daran haben, dass sich der Beitritt dieser drei Länder als großer Gewinn für das Bündnis erwiesen hat. Die Stabilitäts- und Sicherheitszone, die die NATO für ihre Mitglieder schafft, wurde ausgeweitet und der Demokratisierungsprozess in den Beitrittsstaaten gestärkt. Im Jahre 1999 hätte es wohl keiner von uns für möglich gehalten, dass die Allianz in einer der Hauptstädte der Beitrittsstaaten nur wenige Jahre später eine Entscheidung von historischer Dimension fällen würde. Mit dem Prager Gipfel vom vergangenen November hat die NATO entscheidende Weichen für das 21. Jahrhundert gestellt: nicht nur durch den Beschluss zur Aufnahme von sieben neuen Mitgliedstaaten, sondern auch durch die Festlegung ganz konkreter Maßnahmen vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Zudem hat die Allianz hier konkrete Handlungsziele für das im Jahr 1999 verabschiedete neue strategische Konzept beschlossen. An dieser Stelle möchte ich nur beispielhaft die Schaffung einer NATOResponse-Force, die Umsetzung des Aktionsplanes zur zivilen Notfallplanung sowie die Initiativen für die Verteidigung gegen nukleare, biologische und chemische Waffen nennen. Mit dem Gipfel von Prag hat die NATO ihre Handlungs- und Zukunftsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Ich möchte anfügen: Die Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO - vor gut einer Woche ebenfalls in Prag - hat ein weiteres Beispiel dafür geliefert, wie gut sich neben Ungarn und Polen auch die Tschechische Republik in das Bündnis integriert hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch mit der weiteren Beitrittsrunde eine Erfolgsgeschichte für das Bündnis verbunden sein wird. ({2}) Die transatlantische Gemeinschaft wird gestärkt, sie wird aber auch den weiteren neu definierten Aufgaben gerecht werden und sich den komplexen Herausforderungen sowohl als Bündnis gemeinsamer Verteidigung und des gegenseitigen Beistandes, insbesondere gegen den internationalen Terrorismus, als auch als Forum umfassender Krisen- und Konfliktprävention stellen können. Fest steht, die Eintrittskarten in die NATO haben die Beitrittsländer nicht zum Nulltarif erhalten. Es darf nicht verkannt werden, dass jedes der sieben Länder erhebliche Anstrengungen unternehmen musste, um die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft zu erfüllen. Aber die Aufnahme in das Bündnis bedeutet für die Beitrittsländer Stabilität und bildet damit auch die Grundlage für gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Prosperität. Nur solche sicheren Rahmenbedingungen eröffnen den Weg für Investitionen und fördern die Einbringung von ausländischem Kapital. Die Perspektive der Aufnahme in das Bündnis hat die Reformanstrengungen und den Demokratisierungsprozess in diesen Ländern erheblich beschleunigt. Besondere Bedeutung bekommt hier neben dem Membership Action Plan die Parlamentarische Versammlung der NATO. Sie führt die Parlamentarier der Beitrittskandidaten an die Denkstrukturen im Bündnis heran und ermöglicht die Festigung persönlicher Kontakte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage einer europäischen Friedensordnung ist nicht allein Sache der NATO. Die Osterweiterung der Europäischen Union leistet einen großen Beitrag zur euroatlantischen Sicherheit. Sie ist eine historische Investition in eine präventive Friedens- und Sicherheitspolitik. EU und NATO müssen eine strategische Partnerschaft eingehen. Dafür setzen wir uns mit Nachdruck ein. Sie bildet die Basis für ein konstruktives Zusammenwirken zwischen einem starken Amerika und einem gestärkten Europa. Bei allem, was NATO und EU für die Verbesserung der europäischen Sicherheit unternehmen, ist die Partnerschaft mit einem sich demokratisierenden Russland von herausragender Bedeutung. Dies ist eine der transatlantischen Gestaltungsaufgaben im 21. Jahrhundert. Einem modernen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Russland kommt bei der Gestaltung der europäischen Sicherheit eine große Rolle zu. Die Kooperation des Bündnisses mit Russland, aber auch mit der Ukraine ist unverzichtbar. Der NATO-Russland-Rat und der von der NATO-Ukraine-Kommission beschlossene Aktionsplan sind hier wesentliche Meilensteine und stehen als Symbol für eine funktionierende und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diese muss auch in Zukunft weiter ausgebaut werden. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Arbeit der Joint Monitoring Groups bezüglich Russlands und der Ukraine des NATO-Parlaments hervorheben, die ebenfalls ein gutes Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit darstellen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand wird an dieser Stelle daran zweifeln, dass Deutschland als ein Land in der Mitte Europas von der zweiten Beitrittsrunde besonders profitieren wird. Aber nicht nur vor diesem Hintergrund heißen wir die neuen Mitgliedstaaten der NATO herzlich willkommen. ({4}) Nach erfolgreichem Ratifizierungsverfahren könnten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien bereits im Mai 2004 formell Mitglieder der Allianz sein. Das wäre für Europa ein wichtiges politisches Signal. Gleichzeitig - das möchte ich zum Schluss meiner Ausführungen ausdrücklich sagen - bleibt die Tür des Bündnisses offen für weitere Mitglieder. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Volker Rühe, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freude, die die Kollegin Heubaum zum Ausdruck gebracht hat, teilt der ganze Bundestag. Dass sich die NATO um sieben Staaten erweitert, ist ein ganz entscheidender Beitrag zur Einheit und Sicherheit Europas. Fast wirkt das selbstverständlich; aber man muss sich noch einmal vor Augen führen, wie hart die Debatten vor zehn Jahren waren und von wem die Initiative ausging. Sie ist nicht von den Mitgliedstaaten der NATO ausgegangen, sie ist von außen gekommen. Es waren Staatsmänner wie Arpád Göncz in Ungarn, Lech Walesa in Polen und Vaclav Havel in Tschechien, die an die Tür der NATO geklopft und gesagt haben: Wir wollen rein, wir wollen zu euch, wir wollen dieselbe Sicherheit und Freiheit haben wie ihr. Kaum jemand hat zunächst auf sie gehört. Man hat alle möglichen Einwände dagegen vorgebracht. Übrigens war auch die Terminologie immer falsch. Es war falsch, von der Erweiterung der NATO zu sprechen; einige haben sogar „expansion of NATO“, Expansion der NATO, gesagt. Es war eine Öffnung nach dem Klopfen derjenigen, die sich aus dem Gefängnis des Warschauer Paktes befreit haben. ({0}) Es ist gut, dass wir letztlich darauf gehört haben und sich der Prozess heute in eindrucksvoller Weise fortsetzt. Ich will nicht zu viele Anekdoten erzählen; aber ich will, weil immer das Zerrbild von den Militärs dargestellt wird, als hätten sie sich nichts Schöneres vorstellen können als eine Ausweitung der NATO, darauf hinweisen, dass das Ganze nicht von den Militärs ausging. Ich erinnere mich an ein Gespräch 1996 mit einem deutschen Mehrsternegeneral, um es dezent auszudrücken, der mir gesagt hat, Polen könne noch nicht Mitglied der NATO werden, die Panzer seien nicht gut genug. Ich sage das nur, um die Geisteshaltung einiger zu verdeutlichen. Wir sollten den Prozess nie vergessen. Wir haben heute eine Situation, die uns allen nützt. Aber ausgegangen ist sie von denjenigen, die ihre Völker befreit und gesagt haben: Entweder haben wir in Europa alle gemeinsam Sicherheit und Freiheit im Bündnis oder niemand wird sie auf Dauer haben. Das ist die historische Leistung. ({1}) Natürlich war in vielen Hauptstädten, auch in Bonn, die Rücksichtnahme auf Russland ein ganz wesentlicher Faktor. Man muss auch die Veränderung der russischen Position von Jelzin bis Putin würdigen. Ich glaube, dass es eine der großen Leistungen auch von Helmut Kohl war, Jelzin zu bewegen, 1997 den Widerstand letztlich aufzugeben. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, den ersten Schritt damals in den 90er-Jahren zu vollziehen. Jetzt tun sich manche schwer mit der Nähe dieser neuen Mitgliedstaaten zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich weiß, das ist bei Ihnen nicht der Fall, Herr Außenminister. Wir müssen aber berücksichtigen, dass jeder mit seiner ganz eigenen Geschichte in die NATO kommt. ({2}) Das gilt am allermeisten für Deutschland. Man muss sich nur einmal daran erinnern, mit welcher Geschichte wir 1955 in die NATO gekommen sind. Bis heute sind unsere militärischen Entscheidungen davon geprägt. Deswegen sage ich: Den neuen Mitgliedstaaten - das sind überwiegend Staaten aus dem ehemaligen Warschauer Pakt -, die vier oder fünf Jahrzehnte länger sozusagen eingesperrt waren und die nicht frei entscheiden konnten, darf man keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sicherheits- und freiheitsdominiert sind und dass sie ganz besonderen Wert auf die Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika legen. ({3}) Das ist historisch verständlich; denn jeder kommt mit seiner eigenen Geschichte in dieses Bündnis. Jeder neue Mitgliedstaat muss natürlich beachten, dass es immer einmal Situationen geben kann, in denen er europäische Interessen in einem Konflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika vertreten muss. Die Messlatte für eine Mitgliedschaft - die Öffnung bleibt bestehen; das hat die Kollegin eben zu Recht im Hinblick auf weitere Staaten angesprochen - bleibt hoch: einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten, hohe Ansprüche an die demokratischen Strukturen und ökonomische Fortschritte der Beitrittsstaaten. Die Zusammenarbeit auf dem Balkan, die die Armeen näher zusammengebracht hat, ist wichtig. Ich möchte aber in diesen Tagen an das zehnjährige Jubiläum des Marshall-Centers in Garmisch-Partenkirchen erinnern, wo sich der Verteidigungsminister mit Rumsfeld treffen wird. Dieses deutsch-amerikanische Gemeinschaftsprojekt ist den Deutschen weitgehend unbekannt. Hier sind in den letzten zehn Jahren Tausende von Militärs und Zivilisten ausgebildet worden. Nicht die Hardware wie zum Beispiel die Modernisierung der Panzer oder der Flugzeuge, sondern die Software wie die Veränderung in den Köpfen ist das Entscheidende. Wenn das nicht so wäre, dann wäre die Mitgliedschaft der drei neuen Staaten kein Erfolg geworden. Gleiches gilt auch für die anstehende Mitgliedschaft von sieben weiteren Staaten. Deswegen geht mein Dank an das Marshall-Center in Garmisch-Partenkirchen für seine Arbeit im Rahmen dieses deutsch-amerikanischen Gemeinschaftprojekts. ({4}) Ich habe dieses Center vor zehn Jahren mit dem verstorbenen Kollegen Les Aspin eingeweiht; Bill Perry hat sich besonders darum gekümmert. Ich muss selbstkritisch zugeben: Meine amerikanischen Kollegen waren manchmal mehr daran interessiert, was in Garmisch passierte, als andere deutsche Kollegen und auch ich selbst. Was bis zum heutigen Tage dort geleistet wird, ist von großer strategischer Bedeutung. Als die Öffnung der NATO für neue Mitgliedstaaten kaum noch abzuwenden war, wurde eine Diskussion über die Kosten der Erweiterung initiiert und es wurden gigantische Summen in Milliardenhöhe genannt - als ob man Mitglied durch Modernisierung der Panzer wird -, um abzuschrecken. Das war eine fehlgeleitete Debatte. Wir haben inzwischen gesehen: Die eigentlichen Veränderungen - darauf können diese Staaten stolz sein - sind die Veränderungen in den Köpfen. Diese haben die Mitgliedschaft ermöglicht und nicht die Modernisierung der Flugzeuge und der Panzer. ({5}) Ich darf sagen, dass es ein Verdienst der Regierung Helmut Kohls war - natürlich verbunden mit internen Diskussionen und Auseinandersetzungen; das ist gar keine Frage -, 1993 in der NATO Studien über die Machbarkeit einer Öffnung zu beginnen. Nachdem die Regierung Clinton zunächst den Schwerpunkt auf das Verhältnis zu Russland gelegt hatte, ist es ihr großes Verdienst gewesen, dass sie diesen Weg eingeschlagen hat. Ohne die USA wäre es letztlich nicht möglich gewesen, diesen Prozess zu beginnen und ihn jetzt erfolgreich fortzusetzen. Die Kollegin Heubaum hat schon die Beschlüsse des Prager Gipfels und die Tatsache angesprochen - das ist richtig -, dass die NATO eine neue NATO werden wird, die sich neuen Herausforderungen stellen muss. Ich glaube, die neuen Mitglieder werden sich dieser Sache annehmen. Die in Prag getroffenen Entscheidungen sind Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung, dass europäische und amerikanische Sicherheit unteilbar ist. Angesichts der aktuellen Irritationen, die wir erleben, tun wir gut daran, zu überlegen, wo es Schwierigkeiten und wo es Gemeinsamkeiten gibt. Die Anschläge der Terroristen bedrohen uns alle. Das gilt auch für die Massenvernichtungswaffen. Sie bedrohen Amerikaner und Europäer gleichermaßen. Obgleich Europäer und Amerikaner manchmal wirtschaftliche Konkurrenten und Konkurrenten hinsichtlich moderner Technologie sind, kann man eines nicht bezweifeln: Wo immer auf der Welt Europa politisch oder ökonomisch Erfolg hat, nützt es den USA. Umgekehrt gilt: Wenn die Vereinigten Staaten Erfolg haben, dann nützt dies auch Europa. Ich kann keine existenziellen Interessen Europas und Amerikas erkennen, von denen man sagen kann: Wenn sich der eine durchsetzt, dann werden die existenziellen Interessen des anderen berührt. Wir müssen in dieser Situation erkennen: Es verbinden die USA mit Europa und Europa mit den USA mehr politische und weltanschauliche Gemeinsamkeiten als mit allen anderen Regionen der Welt. Deswegen hat die NATO auch weiterhin ein ganz solides politisches und geistiges Fundament. ({6}) Wichtig ist aber, dass wir Europäer unsere Verpflichtung ernst nehmen und unsere militärischen Fähigkeiten verbessern, um ein gleichwertiger Partner der USA zu werden und auch in Zukunft gemeinsame Operationen mit den USA durchführen zu können. Wir werden die Verteidigungshaushalte nicht drastisch erhöhen können. Ein Regierungswechsel in Deutschland würde sicherlich zu einer Erhöhung des Verteidigungshaushaltes führen, aber nicht zu einer drastischen Erhöhung. Es kommt darauf an, die Gelder klüger auszugeben, als wir das bisher in Europa tun. Eigentlich ist die Analyse ganz klar: In Amerika gibt es eine Luftwaffe; in Europa gibt es 25 Luftwaffen. Wir vergeuden jede Menge Geld, weil wir im Wesentlichen noch nationalstaatlich vorgehen. Wir geben immerhin fast 60 Prozent der Mittel aus, die die Amerikaner für Verteidigung ausgeben. Wir haben mehr Soldaten als die Amerikaner, aber wir erreichen nur 10 Prozent des Ergebnisses, das die Amerikaner erzielen. Fast jeder Staat, selbst wenn er im Binnenland liegt, hat ein eigenes Heer, eine eigene Luftwaffe und eine eigene Marine. Wir sollten uns stärker darauf besinnen, nicht mehr nur national - natürlich gibt es nationale Interessen, nationale Profile - vorzugehen. Es gibt bereits Ansätze in dieser Richtung. Ich kann die Bundesregierung nur sehr darin unterstützen, diesen Teil der Vereinbarung in Brüssel umzusetzen, auf diesem Weg fortzufahren und zu neuen Strukturen zu kommen: zu komplementären militärischen Strukturen, zu konsequenter Arbeitsteilung, zu einem Pooling von Ressourcen. Nur durch eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Hinblick auf unsere Fähigkeiten können wir erfolgreich sein. Hier ist die Zusammenarbeit von Großbritannien und Frankreich die Nagelprobe. Dahinter fällt auch Deutschland - von anderen einmal ganz zu schweigen - in seinen Möglichkeiten, zur Verteidigungsunion in Europa beizutragen, weit zurück. Großbritannien und Frankreich, das ist der Schlüssel. An diesem Projekt wird man erkennen können, ob wir weiterhin nur reden oder ob es einen wirklichen Quantensprung nach vorne gibt. Die Franzosen haben einen Flugzeugträger. Wenn er repariert wird, steht keiner zur Verfügung. Bei den Engländern ist es ähnlich. Sie brauchen weitere Flugzeugträger. Jetzt gibt es Überlegungen, baugleiche englische und französische Flugzeugträger herzustellen, sodass auf einem britischen Flugzeugträger auch französische Flugzeuge - dies geht bisher überhaupt nicht - und umgekehrt auf einem französischen Flugzeugträger englische Flugzeuge landen können. Wenn dies möglich ist, dann ist das ein ganz entscheidender Schritt. Wenn aber jedes Land wieder einen eigenen Flugzeugträger baut, der in verschiedene Himmelsrichtungen fährt, und englische Flugzeuge nicht bei den Franzosen landen können und umgekehrt, dann - das muss ich sagen - ist das eine schlimme Niederlage für die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität. ({7}) Das wird eine ganz entscheidende Nagelprobe sein. Wir sollten die Kolleginnen und Kollegen ermuntern, diesen Schritt zu gehen. Dass jetzt Transportflugzeuge in einem Pool zusammengefasst werden, ist ein richtiger Schritt. Schon vor zehn Jahren habe ich gesagt - ich weiß, das ist nicht ganz leicht -: Warum kann man nicht auch U-Boot-Flotten zusammenlegen? Warum haben die Deutschen, die Niederländer und die Norweger - ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was das angesichts der Geschichte des letzten Jahrhunderts bedeutet - keine gemeinsame U-Boot-Flotte? Dann muss man vielleicht auch sagen: Das Hauptquartier sollte nicht in Deutschland sein - als großer Staat treten wir zurück -, sondern in den Niederlanden. Genau das wäre ein Beitrag, um Overheads zu sparen, komplementär vorzugehen und die europäische Verteidigung besser zu organisieren. So gibt es viele weitere Möglichkeiten, Synergien zu erreichen und auch Staaten wie Norwegen, die Türkei und Dänemark einzubeziehen. Ich glaube, dass der NATO die verbesserten Fähigkeiten der europäischen Länder zugute kommen werden. Insofern ist dies eine Politik, die die NATO und gleichzeitig das europäische Gewicht in der NATO stärkt. Denken wir an die letzte Krise: Was wäre denn gewesen, wenn wir den Konvent vor fünf Jahren und in dieser Krise einen europäischen Außenminister mit zwei Hüten gehabt hätten? Was hätte dieser arme Außenminister sagen sollen? Er hätte sich ähnlich ausgedrückt, wie man es in den Kommuniqués getan hat, in denen alle Positionen zusammengefügt worden sind. Das allein ist nicht die Lösung. Was wäre, wenn niemand Flugzeugträger hat, mit denen man einmal in die eine und einmal in die andere Richtung fährt, sondern wenn man in einer militärischen Krise von den Instrumenten her gezwungen ist, sich politisch zu einigen, ohne nationale Interessen zu vernachlässigen? Deswegen glaube ich, dass es nicht ausreicht, nur politische Institutionen zu schaffen. Die militärische Reorganisation in Europa, also weg von einer rein nationalstaatlichen Organisation, hat vielmehr eine eminent politische Bedeutung. Würde sie umgesetzt, wären wir in einer Krise gezwungen, gemeinsame politische Positionen zu ergreifen. Dies ist, wie ich glaube, ein heilsamer Zwang, wenn wir wollen, dass Europa eine größere Rolle spielt. Mir ist klar, dass das, was ich sage, für die neuen Staaten eine große emotionale Zumutung darstellt; denn sie sind ja gerade wieder freie Nationalstaaten geworden. Als Erstes schafften sich selbst relativ kleine Staaten wie Ungarn und Tschechien Jagdflugzeuge an - auch ich habe damals dagegen polemisiert - und hatten kaum noch Geld für irgendetwas anderes. Das scheint aber Ausdruck ihrer nationalen Identität und Unabhängigkeit zu sein. Besser wären allerdings vier, fünf große Verbände in Europa zum Schutz des Luftraumes, auf die man sich dann auch verlassen kann. Zwar wäre es für die neuen Staaten emotional besonders schwer, wenn man von ihnen verlangte, diesen Schutz übernational zu organisieren. Aber es gibt keinen anderen Weg und deshalb müssen wir, die älteren Nationen in der NATO, die die rein nationalstaatliche Phase schon ein bisschen länger hinter sich haben und die bereit sind, nationale Ressourcen in gemeinsame europäische Fähigkeiten einzubringen, mit gutem Beispiel vorangehen. Während die Initiative zur Öffnung der NATO ein entscheidender Beitrag zur Sicherheit und Einheit Europas in den 90er-Jahren war - man muss sich nur einmal vorstellen, wir hätten die NATO nicht erweitert -, kommt es jetzt darauf an, Europa in der NATO so zu organisieren, dass sie den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird. Wir freuen uns, dass wir durch sehr motivierte Mitgliedstaaten Unterstützung bekommen. Wir heißen sie alle willkommen und freuen uns auf die Zusammenarbeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung - ich freue mich, dass hier seitens der Fraktionen weit gehende Übereinstimmung über die historische Notwendigkeit dieses Schrittes erzielt wurde - wird meines Erachtens ein ganz wichtiger Schritt getan, um Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent dauerhaft zu garantieren. Da der frühere Bundesverteidigungsminister Rühe gerade gesprochen hat und vieles von dem, was er gesagt hat, auch die Zustimmung der Bundesregierung findet - er hat zu Recht auf die historischen Leistungen der Vorgängerregierung hingewiesen -, möchte ich es der Fairness wegen nicht versäumen - wir hatten in der Vergangenheit manchen heftigen Streit -, seine ganz besondere Rolle als Bundesverteidigungsminister beim Anstoßen der NATO-Osterweiterung zu würdigen. Herr Kollege Rühe, ich bringe Ihnen im Namen des ganzen Hauses, zumindest aber der Bundesregierung unseren Dank zum Ausdruck. ({0}) Die NATO-Erweiterung ist ein zentraler Schritt. Ich beginne da, wo mein Vorredner aufgehört hat. Die jetzige Erweiterung bis hin zu den baltischen Staaten und nach Südosteuropa - Polen, Ungarn und Tschechien waren schon vorher Mitglieder - erfolgt in einem parallelen Prozess zur EU-Osterweiterung. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn in jüngster Zeit Diskussionen aufkamen, in denen versucht wurde, einen Gegensatz von NATO-Erweiterung und Erweiterung der Europäischen Union zu konstatieren, dann kann ich nur sagen, dass es sich aus unserer Sicht als ein paralleler Prozess darstellt. Zu Beginn meiner Amtszeit war es noch ein Anathema, ein Tabu, dass EU und NATO zusammen tagen und die beiden Spitzen, Javier Solana, der Hohe Repräsentant der Europäischen Union, und NATO-Generalsekretär Robertson, zusammenarbeiten. Heute ist diese Kooperation eine Selbstverständlichkeit - bei allen Problemen im Detail, die es immer wieder gibt. Daran wird deutlich, welchen Fortschritt wir hier erzielt haben. An dieser Stelle würdige ich die Leistungen der Zusammenarbeit von Europäischer Union und NATO in Mazedonien. Die Zusammenarbeit von Diplomatie und militärischem Druck sowie die Sicherheitsgarantie von NATO und Europäischer Union, von Lord Robertson und Javier Solana, haben eine weitere humanitäre Katastrophe, einen barbarischen Bürgerkrieg auf dem Balkan verhindert. ({1}) Das macht klar: Wir reden hier über die Zukunft unserer gemeinsamen Sicherheit. Deutschland liegt inmitten eines zusammenwachsenden Europas, inmitten eines neuen Stabilitäts- und Sicherheitsraums. Das wird unsere Lage dramatisch verändern, das wird die Anforderungen an die deutsche Außenpolitik, eingebettet in die europäische und in die Bündnispolitik, grundsätzlich verändern, ebenso die Fähigkeiten und die Notwendigkeiten, denen die Bundeswehr gegenüber steht. Seien wir einmal ehrlich: Wer von uns hätte vor zwei Jahren gedacht, dass die Bundeswehr am Hindukusch und am Horn von Afrika in solchen Größenordnungen eingesetzt wird, wie es heute der Fall ist? Das hätte keiner hier im Hause, egal von welcher Seite des Hauses, als eine realistische Perspektive betrachtet. All das macht deutlich, dass es um eine dramatische Veränderung geht. Die neue, die erweiterte NATO muss hierfür auch neue Strukturen entwickeln. Lassen Sie mich an diesem Punkt wiederholen, was ich beim NATO-Frühjahrstreffen der Außenminister gesagt habe: Das transatlantische Bündnis gründet auf zwei Pfeilern: auf dem nordamerikanischen, bestehend aus den USA und Kanada, und auf dem europäischen Pfeiler. Dieses Bündnis kann nur geschwächt oder gar gefährdet werden, wenn einer der Pfeiler so geschwächt wird, dass er nicht mehr belastbar ist. Deswegen liegt ein starkes Europa im Interesse des Bündnisses; ein schwaches Europa würde dieses Bündnis gefährden. ({2}) Deswegen kommt es meines Erachtens ganz entscheidend auf die erweiterte NATO an. Kollege Rühe hat über deren Fähigkeiten gesprochen; ich möchte das nicht wiederholen, sondern unterstreiche das. Wenn ich richtig informiert bin, haben Frankreich und Großbritannien bereits die notwendigen Schritte eingeleitet, um einen gemeinsamen Flugzeugträger zu bauen. Ja, das erleben wir in der Europäischen Union wie in der NATO: Wir müssen Verständnis dafür haben - es ging uns doch über die Jahrzehnte des Kalten Krieges hinweg nicht sehr viel anders und wir erleben es auch im Inneren -, wie viel Zeit, wie viel Verständnis und Aufeinanderzugehen notwendig sind, um die Folgen der Teilung im Inneren zu überwinden. Selbstverständlich sagen viele Menschen in den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO: Wir haben gerade eine Union überlebt, wir haben für unsere Unabhängigkeit gekämpft. Ja, Jagdflugzeuge sind Symbol der nationalen Unabhängigkeit, genauso wie Sprache, eigenes Geld und anderes mehr. Das erfordert aus deren Sicht Geduld, das erfordert Zeit. Machen Sie nicht den Boten für die Botschaft verantwortlich. Ich teile diese Position nicht; ich plädiere nur für das zur Überwindung dieser Positionen notwendige Verständnis. Das, was Kollege Rühe über die gemeinsamen Fähigkeiten gesagt hat, ist selbstverständlich richtig, zutiefst rational und muss die Zukunft im Bündnis wie auch in der Europäischen Union bestimmen. Wir müssen begreifen, dass dies seine Zeit braucht, aber wir müssen dieses transatlantische Bündnis, das so grundsätzlichen Veränderungen unterworfen ist, auch stärken. Die NATO betreibt heute nicht mehr klassische Landesverteidigung. Wir sind heute nicht mehr in der Situation eines geteilten Landes, einer geteilten Stadt, wo die erstarrte Frontlinie im Grunde genommen die permanente Bedrohung, die Konfrontationslinie war. Die NATO betreibt heute gemeinsam mit der Europäischen Union im Wesentlichen „nation building“, um Nationen zu helfen, sich zu stabilisieren, um in langfristigen Einsätzen regionale Stabilisierung zu betreiben. Das ist ein völlig anderes Einsatzprofil. In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich die Frage stellen: Was heißt Stärkung des europäischen Pfeilers? Europa hat drei Defizite. Das erste Defizit ist die politische Willensbildung. Darüber wird gar nicht vorrangig in der NATO entschieden, sondern sie wird im Wesentlichen innerhalb der Europäischen Union vorankommen müssen. Das leistet jetzt der Konvent. Zweitens bestehen große Probleme in den Institutionen bei der Umsetzung des politischen Willens und drittens in Bezug auf die Fähigkeiten, den so genannten Capabilities. Das sind die drei großen Defizite. Aber ansonsten hat Europa überall dort, wo es um Softpower-Faktoren geht, etwa hinsichtlich des Mittelmeerraumes oder des Nahen Ostens, einen Instrumentenkasten, der teilweise über das hinausgeht, was die Vereinigten Staaten von Amerika in Bezug auf regionale Konflikte zu bieten haben. Ich hoffe, dass der Prozess zur Beilegung des Nahostkonfliktes jetzt, angeschoben vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, wirklich vorangehen wird; ich halte ihn für die regionale Stabilisierung für unverzichtbar. Aber die Roadmap ist ein europäisches Kind und wurde in der Europäischen Union entwickelt. An diesem Punkt sei auch erwähnt, dass die Reform in den palästinensischen Institutionen bis hin zum Premierminister vorangegangen ist und dass dies vor allen Dingen Miguel Moratinos und Javier Solana zu verdanken ist. ({3}) Oder nehmen wir das letzte EUROMED-Treffen der arabischen Nachbarn, Israels und der Türkei mit der EU auf Kreta, in dessen Folge sich jetzt der Blockadefaktor Nahostkonflikt auflöst. Hier sehe ich, welche Möglichkeiten strategischer Natur sich für Frieden und Stabilität in dieser Zone eröffnen. Der Golfkooperationsrat wird ein ähnliches Instrument sein. Bezüglich der Türkei bitte ich die Union, nochmals zu überdenken, was es hieße, der Türkei die europäische Tür zuzumachen. Ich nenne auch die Stabilitäts- und Partnerschaftsabkommen. Dieser ganze Instrumentenkasten zeigt: Wenn wir mit der institutionellen Willensbildung und den Fähigkeiten vorankommen, wird Europa bei der Sicherung der strategischen Nachbarschaft eine ganz andere Rolle spielen. ({4}) Dazu gehört aber auch der große Kontinent Afrika, der unsere Sicherheit ganz entscheidend mitbestimmen wird, und zwar nicht nur der Mahgreb, sondern - in Verbindung mit dem Terrorismus und der Gefahr durch zusammenbrechende Staatsstrukturen - der gesamte Kontinent. Das werden wir an anderer Stelle zu debattieren haben, aber auch hier ist Europa gefragt. Was heißt also Stärkung der europäischen Säule? Auf der NATO-Frühjahrstagung habe ich die amerikanische Seite gefragt, ob sie bereit sei, ernsthaft über so etwas wie eine Eurogroup in der NATO zu diskutieren und sie dann auch zuzulassen. Ich bin der Meinung, dass die europäische Sicherheit im Wesentlichen in Verbindung mit EU und NATO bzw. - was die Fähigkeiten betrifft innerhalb der NATO geschaffen werden sollte. Das ist die Position nicht nur dieser Bundesregierung, sondern auch die der vorherigen. Ich meine, dass man dann ehrlicherweise das Tabu der Bildung einer europäischen Gruppe brechen und darüber ernsthaft diskutieren muss. ({5}) Es mag sein, dass man am Ende zu einer Negativposition kommt. Ich möchte das nicht ausschließen. Aber die Diskussion mit der nordamerikanischen Seite muss beginnen. Ich meine damit die USA und Kanada. ({6}) Das halte ich für einen wichtigen Punkt; denn sonst werden die Prozesse außerhalb stattfinden. Das hielte ich nur für die zweit- oder drittbeste Lösung. Im Klartext heißt das: Den neuen Gefahren, die uns heute, im Moment der Erweiterung, angesichts der dramatischen strategischen Veränderungen alle gemeinsam bedrohen und die eine andere Sicherheitsstrategie erfordern - diese Gefahren sind in der Wirkung mit den alten Gefahren zu vergleichen -, ihnen zu begegnen, das wird aber eine neue Sicherheitsstrategie mit anderem Einsatzprofil und hinsichtlich der regionalen Stabilisierung ähnliche Zeithorizonte wie bei der Überwindung des Kalten Krieges erforderlich machen. Wenn man das zusammennimmt, werden wir die erweiterte NATO neu erfinden müssen. Wir müssen kein neues Bündnis schaffen, werden aber dieses Bündnis neu erfinden müssen, wenn es seine Wirkung entfalten soll. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich denke, das ist eine der Botschaften, die mit der Erweiterung verbunden sind. Wenn es darüber hinaus gelingt, die strategische Partnerschaft mit Russland auf eine dauerhafte, stabile Grundlage zu stellen, werden wir eine völlig veränderte und sehr positive Sicherheitslandschaft in unserem direkten Umfeld haben. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zu Beginn des Ratifizierungsverfahrens vor vier Wochen hier im Deutschen Bundestag einhellig die Aufnahme der sieben neuen Mitglieder in die NATO begrüßt. Ja, wir haben dieses Ergebnis als geradezu tektonische Veränderung in Europa, die eine Verschiebung der Geografie bedeutet, begrüßt. Ich freue mich, dass diese in schwierigen außenpolitischen Zeiten leider seltener gewordene Einigkeit in diesem Hause auch heute bestehen bleibt. Der Deutsche Bundestag freut sich über diesen Schritt; denn er ist - Kollege Rühe hat völlig zu Recht darauf hingewiesen - insbesondere mit Blick auf die letzten 15 Jahre alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die große Leistung, die erreicht worden ist, wird nicht dadurch erbracht, dass wir heute dem Ratifikationsgesetz zustimmen. Sie ist vielmehr durch eine gigantische Freiheitsrevolution erbracht worden, die die Bürgerinnen und Bürger in Mittel-, Ost- und Südosteuropa getragen haben. ({0}) Diese Länder sind einen langen Weg gegangen. Wir nehmen sie heute in eine NATO auf, die jetzt eine andere ist als zu dem Zeitpunkt, als sie den Aufnahmeantrag zum ersten Mal erwogen haben. Nachdem sie sich seinerzeit vom Joch der sowjetischen Unterdrückung befreit haben, haben sie in allererster Linie die Sicherheit und die Garantien des NATO-Bündnisses gesehen und haben deshalb oft genug gesagt: Das ist uns zunächst einmal wichtiger als die Integration in wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen, die wir im Rahmen der Europäischen Union vorantreiben. Das ist verständlich. Der Interessenschwerpunkt hat sich mittlerweile verschoben, denn die NATO ist eine andere geworden. Das ist eine Erkenntnis, die auch für die Bürgerinnen und Bürger in den Beitrittsstaaten nicht ganz leicht ist. Es erfordert nämlich eine erneute Anpassung, eine gigantische Veränderung nach den ungeheuren Veränderungen, die den Menschen in Mittel- und Osteuropa in den letzten gut zehn Jahren abverlangt worden sind. Meine Damen und Herren, die Selbstverständlichkeit, mit der NATO und EU miteinander umgehen - Herr Fischer hat das eben zu Recht angesprochen -, war ja vor zehn oder auch vor acht Jahren noch keineswegs gegeben. Ich erinnere mich noch sehr gut: Wenige Tage nachdem unser damaliger EU-Ratspräsident, der damalige spanische Außenminister Javier Solana, in das Amt des NATO-Generalsekretärs gewechselt ist, haben wir einmal ganz vorsichtig versucht, ihn anlässlich eines informellen Mittagessens in den Kreis des Rates einzuladen, um über Fragen von militärischen und sicherheitspolitischen Dimensionen zu diskutieren. Das ist sofort strikt abgelehnt worden; das wäre weder in Paris noch in Washington vermittelbar gewesen. Das ist gerade einmal acht Jahre her. Das zeigt, dass inzwischen gigantische Fortschritte erzielt worden sind. Dennoch steckt die NATO in einer tiefen Krise. Wir haben das bei der sehr eindrucksvollen Debatte anlässlich der NATO-Parlamentarierversammlung in der letzten Woche erlebt. Es ist ein spannender Diskussionsprozess, der alles andere als abgeschlossen ist. Ich denke, wir sollten an dem festhalten, was wir in der NATO haben. Sie ist das einzige operative Militärbündnis, sie ist nicht nur das erfolgreichste in der Geschichte, sondern bietet auch für die Zukunftsgestaltung die beste Perspektive. Die NATO leistet zurzeit in Afghanistan schon Großartiges und wird ihre Rolle in der zweiten Jahreshälfte noch verstärken. Aber die NATO kann mehr und wir werden sie mehr machen lassen müssen. Die Welt ist nicht sicherer, die Bedrohung nicht geringer geworden; das wissen wir alle. Nordamerikaner und Europäer sitzen an einem Tisch - in institutionalisierter Form, mit jahrzehntelanger positiver Erfahrung und sogar mit einem funktionsfähigen, operativ verwendbaren Militärapparat ausgestattet. Wer, wenn nicht die NATO, sollte für eine gemeinsame westliche Sicherheitspolitik den Rahmen bilden, aber eben zugleich auch den Arm? Die Realität sieht heute anders aus. Die NATO spielt bei brandheißen aktuellen Entscheidungen und Herausforderungen der Sicherheitspolitik praktisch keine Rolle. Das war nach dem 11. September so, trotz der erstmaligen Ausrufung des Bündnisfalles, das war im Irak so und das ist jetzt im Kongo wieder der Fall. Was diesen letzten Fall angeht, bedauere ich das übrigens sehr. Ich finde es sehr gut und begrüße auch die Unterstützung der Bundesregierung bei dem Ansinnen, dass die Vereinten Nationen sich dem Thema Kongo jetzt in großer Intensität und mit großer Kraftanstrengung zuwenden. Aber die sicherheitspolitische Aufgabe, die dort jetzt wahrscheinlich zu erledigen ist - und das ist nur ein ganz kleiner Teil der Aufgaben, die in Afrika zu erledigen sind -, ist nach meiner Auffassung möglicherweise doch besser bei der NATO anzusiedeln als bei der Europäischen Union. ({1}) Als glühender Verfechter des europäischen Integrationsprozesses, der die Meinung vertritt, dass wir auch unsere sicherheitspolitisch-militärischen Strukturen in der EU verbessern müssen, bin ich dezidiert der Auffassung, dass wir uns nicht überheben dürfen, wenn wir noch nicht so weit sind. Ich erinnere mich an die Debatte vor wenigen Monaten, als wir gefragt haben, ob nicht vielleicht der Einsatz in Bosnien-Herzegowina neben dem in Mazedonien besser von der EU wahrgenommen werden sollte. Da hieß es: Nein, das können wir in der EU noch nicht; so weit sind wir noch nicht. Aber jetzt plötzlich können wir es im Kongo. Beim Einsatz im Kongo sprach Kofi Annan in seiner gestrigen Vorlage für den Weltsicherheitsrat schon von 11 000 Mann, auch mit einer großen Aufwuchsperspektive, zusätzlich zu dem, was bei MONUC jetzt schon der Fall ist. Es geht dort um eine gigantische, eine riesige militärische Operation, die nichts mit Blauhelmeinsätzen oder dem Auseinanderhalten von bereits getrennten Konfliktparteien zu tun hat. Es geht um einen sehr gefährlichen, einen schmutzigen Einsatz. Ich bin übrigens der Auffassung, dass die Bundeswehr aufgrund ihrer Ausbildungsphilosophie in den letzten 50 Jahren aus gutem Grunde nicht befähigt ist, dort einen Kampfeinsatz zu leisten. Wir sollten die Bundeswehr dafür gar nicht kritisieren, denn wir haben sie aus gutem Grund anders ausgebildet. Die verteidigungspolitischen Richtlinien, über die wir gegenwärtig diskutieren, zeigen, dass auch für die Bundeswehr hier ein erheblicher Anpassungs- und Modernisierungsbedarf besteht. Aber wir müssen diese Schritte vorsichtig vollziehen und uns auch genau überlegen, mit welchen Fähigkeiten wir die Bundeswehr ausstatten wollen. Meine Damen und Herren, die Befürworter der NATO, zu denen ich mich selbstverständlich auch seit vielen Jahren zähle, haben immer gesagt, wenn die NATO nicht bereit sei, „out of area“ zu gehen, sei sie bald „out of business“. Jetzt hat die NATO ihr theoretisches und zum Teil auch schon ihr praktisches Operationsgebiet längst ausgedehnt. Sie ist längst „out of area“ und droht trotzdem mehr denn je „out of business“ zu gehen. Woran das liegt, ist klar. Wir müssen die Pfeiler und den Bogen der transatlantischen Freundschaftsbrücke wieder auf beiden Seiten stärken. ({2}) Das heißt, nicht nur auf politische Deklamation bedacht zu sein, sondern auch die Bereitschaft zu haben, den amerikanischen Freunden auf militärischem Gebiet mehr anzubieten und mehr zu leisten. Herr Kollege Rühe hat völlig Recht: Das ist nicht an 24,4 Milliarden Euro festzumachen. Es muss darauf ankommen, was wir aus dem vorhandenen Geld machen. Ich erinnere, da Sie eben das Thema Jagdflugzeuge angesprochen haben, an die Debatte, die wir Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre über den Jäger 90, später Eurofighter, geführt haben. Durch unsere Entscheidungen haben wir dafür gesorgt, dass in Westeuropa drei Jagdflugzeuge gleichzeitig entwickelt wurden, Gripen, Rafale und Eurofighter, die jetzt peu à peu in die Luftwaffen der europäischen Länder eingeführt werden. Wäre schon damals die Bereitschaft vorhanden gewesen, über echte Arbeitsteilung im Bündnis zu sprechen, dann - ({3}) - Das hat nichts mit Regierung dieser oder jener Couleur zu tun. Farblich war es in Europa immer sehr bunt. Herr Kollege Tauss, Sie liegen völlig falsch. ({4}) Das ist eine Frage von Mentalität auf unserem gesamten Kontinent, seinerzeit wie heute. ({5}) Die Bereitschaft, darüber nachzudenken, ob man nicht eine wirkliche Arbeitsteilung in dem Sinne vornehmen sollte, dass man unsere relativ großen und zumindest damals recht neuen Luftangriffskapazitäten in Tornadoverbänden konsolidiert und stärkt und gleichzeitig die Luftverteidigungsaufgaben Partnern im Bündnis überlässt, die ihre Stärke im Bereich der Luftabwehr haben, war seinerzeit nicht vorhanden. Wir müssen auch heute sehr viel mehr daran arbeiten, eine solche Bereitschaft herzustellen. Das setzt allerdings den Willen voraus, die Diskussion über Souveränitätsverzicht zu führen. ({6}) In diesem Rahmen müssten wir uns nämlich auch darüber unterhalten, ob es möglich ist, dass in einem solchen Fall, den wir leider vor einiger Zeit in Frankfurt erleben mussten - der Verteidigungsminister war in einer überaus schwierigen Entscheidungssituation -, der dann eventuell notwendig werdende Einsatz auch von einem britischen, französischen oder niederländischen Flugzeug durchgeführt werden kann. Diese Diskussion müssen wir führen. Ich denke, wir sollten jetzt, ermutigt durch den Beitritt der neuen Mitglieder der NATO, die Kraft aufbringen, solche Diskussionen zu führen. Wir sagen diesen neuen Mitgliedern: Welcome to the Club. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer, SPDFraktion.

Rolf Kramer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem NATO-Gipfel in Prag am 21. November letzten Jahres haben die Staats- und Regierungschefs entschieden, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprächen einzuladen. Mit den schon 1999 erfolgten Beitritten Polens, Tschechiens und Ungarns findet damit ein Prozess seinen vorläufigen Höhepunkt, den man vor dem Hintergrund der Geschichte des letzten Jahrhunderts nur als atemberaubend bezeichnen kann. Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom Sommer 1939 wurde im Prinzip eine Trennlinie durch Europa von Finnland bis an das Schwarze Meer gezogen. Hier wurden Interessensphären abgegrenzt, über die Köpfe der betroffenen Länder und der Menschen hinweg. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurden die baltischen Staaten der Sowjetunion einverleibt, ebenso ein großer Teil Polens und Teile Rumäniens. Im Prinzip hielt diese Aufteilung, allerdings mit einer erheblichen Westverschiebung verbunden, bis zum Ende des Kalten Krieges, also länger als 50 Jahre. Das faschistische Deutschland hatte als Akteur maßgeblichen Anteil an dieser verfehlten und verbrecherischen Politik. Deutschland wurde, auch das darf nicht verschwiegen werden, selber Opfer der Folgen dieser Politik. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lehre, die die Eliten in den meisten der am Ersten Weltkrieg beteiligten Länder aus diesem Krieg gezogen hatten, nämlich eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Ländern in West- und Zentraleuropa zu vermeiden, zogen die Eliten in Deutschland, zumindest mehrheitlich, endgültig erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die Politik der sozialliberalen Koalition ab 1969, die durch die Anerkennung der Folgen des Zweiten Weltkrieges dazu führte, dass sich die Blöcke anfangs zwar kaum wahrnehmbar, aber dennoch mit zunehmender Beschleunigung annäherten. Der Beginn dieser Politik war in der damaligen Bundesrepublik Deutschland mit einer großen politischen Auseinandersetzung, ja einer innenpolitischen Zerreißprobe verbunden. Heute steht fest: Die Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der damaligen Tschechoslowakei und der Grundlagenvertrag mit der DDR waren die grundlegenden Vorbedingungen für den Helsinki-Prozess und für die nachfolgenden KSZE- und OSZE-Vereinbarungen. ({0}) Es war der so genannte Korb 3 der Helsinki-Vereinbarungen, der in den Ländern des damaligen Ostblocks mit dafür sorgte, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse anfangs langsam, dann aber mit Urgewalt wandelten. Das Konzept von Willy Brandt und Egon Bahr, das Konzept des Wandels durch Annäherung, war, das kann man heute mit Genugtuung und vor allen Dingen mit Dankbarkeit sagen, erfolgreich. ({1}) Als Teile dieses Hauses noch in den Schützengräben des Kalten Krieges verharrten, sorgte diese kluge und vertrauensbildende Politik dafür, dass die notwendigen Vorbedingungen geschaffen wurden, um das gemeinsame Haus Europa wieder in Frieden und Freiheit bewohnbar zu machen. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland und in Europa hat das damals intuitiv schnell verstanden. Konnte die Sowjetunion den Prager Frühling 1968, den Versuch also, einen Sozialismus mit einem menschlichen Angesicht zu schaffen, mit dem Warschauer Pakt noch mit Gewalt stoppen, war dies nach der Einleitung des Helsinki-Prozesses in Europa nicht mehr möglich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen nicht vergessen, dass der Wandel im damaligen Ostblock von Polen ausging - ich erinnere an die Solidarnosc-Bewegung - und sich in der Sowjetunion unter Gorbatschow mit Perestroika und Glasnost fortsetzte. Die von der SPD und von Willy Brandt zu Beginn der 70er-Jahre eingeleitete Politik hat mit zu diesem Wandel beigetragen. Das bleibt das große Verdienst. ({2}) Durchgeführt und umgesetzt haben diesen Prozess aber die vielen Menschen in den Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes. Das bleibt ihr Verdienst. ({3}) Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die Länder, die durch den Hitler-Stalin-Pakt der Willkür der Diktaturen ausgeliefert wurden, Mitglieder der NATO werden. Das dient dem Frieden und der Entwicklung in diesen Ländern und damit auch bei uns. Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich hat sich auch die NATO seit ihrer Gründung verändert. Die NATO wirkt nicht mehr in erster Linie aufgrund der atomaren Abschreckung. Das ist aus meiner Sicht der eigentliche Bedeutungswandel. Wie schon in den vergangenen Jahren wird die NATO auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Überzeugungen ihrer Mitglieder in Zukunft noch stärker der internationalen Krisen- und Konfliktbewältigung verpflichtet sein. Die notwendige verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und der NATO ist dabei der Weg, um ein starkes Amerika und ein sich entwickelndes gemeinsames Europa konstruktiv zusammenwirken zu lassen. Der Beitritt der sieben Länder ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Ein wesentlicher Teil der NATO-Entwicklung seit 1990 zielte darauf, den mittel- und osteuropäischen Raum unter anderem durch die Einbindung in ein Netz von Sicherheitsbeziehungen politisch und wirtschaftlich zu stabilisieren. Elemente dieser Politik waren und sind der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, das Programm Partnerschaft für den Frieden sowie die besonderen Beziehungen der Allianz zu Russland und zur Ukraine. Alle neuen Mitglieder haben im Rahmen des PfP-Programms und mit der anschließenden Teilnahme am so genannten Membership Action Plan in den Bereichen Standardisierung und Interoperabilität ihrer militärischen Möglichkeiten große Anstrengungen unternommen. Das war auch eine der Grundvoraussetzungen für die Einladung zur Mitgliedschaft. Deutschland hat die zukünftigen Mitglieder in den vergangenen Jahren bei der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft bilateral ganz konkret unterstützt, zum Beispiel durch Ausbildungshilfe, Materialhilfe, Austausch von Soldaten und militärpolitische Konsultationen. Damit unsere neuen NATO-Partner die geltenden Standards in allen Bereichen erfüllen können, wird auch in den kommenden Jahren eine weitere Unterstützung notwendig sein. Dieser Aufgabe wird sich Deutschland nicht verschließen. Wir sollten schon aus unserem Eigeninteresse heraus daran interessiert sein; denn Deutschland profitiert allein aufgrund seiner geographischen Lage in Zentraleuropa vom Beitritt der neuen Mitglieder. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die NATO ist seit 1990 in verstärktem Maße keine bloße Militärorganisation mehr. Dies würde nicht nur dem Art. 2 des Nordatlantikvertrages von 1949, sondern auch der aktuellen Aufgabenzuweisung durch die NATO selbst bzw. ihrer Erweiterungsperspektive widersprechen. Dieser Grundsachverhalt wird schon durch die Vorbedingungen deutlich, die die NATO den sieben neuen Mitgliedern für eine Aufnahme gestellt hat. Sie waren nicht nur militärischer, sondern ausdrücklich auch politischer Natur: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Regelung von internationalen Streitfragen einschließlich ethnischer Konflikte mit friedlichen Mitteln, Respektierung der Menschenrechte, Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und zivile Kontrolle der Streitkräfte. Alle diese Punkte sind bei den sieben Beitrittsstaaten auf einem guten Weg. Wir freuen uns darauf, die neuen demokratischen Staaten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei als Mitglieder der NATO im alten Europa zu begrüßen. ({4}) Der Weg zur Überwindung der Spaltung Europas als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges ist damit abermals ein großes Stück vorangekommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun dem Kollegen Gerd Müller, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die NATO ist die größte Friedensbewegung in Europa. Sie ist unser Garant für Frieden, Freiheit, Stabilität und Demokratie. Der frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht: Es waren die Beitrittsstaaten, die an die Tür zur NATO geklopft haben. Ganz bescheiden hat er sein Licht unter den Scheffel gestellt: Es waren natürlich auch Helmut Kohl und Volker Rühe, die die Tür aufgemacht haben. Ich erinnere an den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat, an die Partnerschaft für den Frieden, die den ersten Erweiterungsschritt um Polen, Ungarn und Tschechien nach sich zog, und an unser Bemühen, die baltischen Staaten in die NATO aufzunehmen. Dafür gebühren Volker Rühe und Helmut Kohl unser Dank und unsere Anerkennung. ({0}) Die NATO reicht heute, wenn man die fast assoziierten Mitglieder mitrechnet, von Vancouver bis Wladiwostok. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob uns bewusst ist, wie wir diese enormen Herausforderungen an die Politik, aber auch an unsere Soldatinnen und Soldaten schultern können. Es stellt sich auch die Frage: Wo liegt die Zukunft der NATO? Die NATO ist heute in der Tat weit über den eigenen Raum hinaus auf den Krisenschauplätzen der Welt präsent. Sie ist seit vielen Jahren auf dem Balkan, ab August in Afghanistan, im kommenden Jahr wohl auch im Irak und möglicherweise zusammen mit der EU im Kongo tätig. Diese Einsätze sind in der Bevölkerung nicht unumstritten. Die Frage muss gestellt werden: Können die NATO und unsere Bundeswehr diesen Auftrag erfüllen? Minister Struck und unser Außenminister denken über einen Kongoeinsatz der Bundeswehr nach. Der Bundesverteidigungsminister überlegt die Erweiterung des Afghanistaneinsatzes. Die Bundeswehr leistet schon jetzt hervorragende Dienste in Bosnien, im Kosovo und in Mazedonien. Die Bundeswehr erbringt ihren Einsatz in Nahost. Über 10 000 Soldaten sind derzeit im Friedensdienst der NATO und der EU tätig. Angesichts dieser Belastungen, die wir unseren Soldatinnen und Soldaten auferlegen, stellt sich die Frage: Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur Bundeswehr im Innern? Ich stelle fest: Es hat noch nie einen Bundeskanzler, einen Bundesverteidigungsminister und einen Außenminister gegeben, die so schnell und so viele Zusagen für Auslandseinsätze gegeben haben und die gleichzeitig die Bundeswehr zu Hause so schlecht behandeln, wie sie derzeit behandelt wird. ({1}) All das passt nicht zusammen. Wenn Sie mit den Soldatinnen und Soldaten sprechen, dann werden Ihnen diese Klagen vorgetragen. Die Bundeswehr leidet heute nicht nur unter drastischer Unterfinanzierung und schlechter Ausstattung. Was noch viel schlimmer ist: Es fehlt ihr die Anerkennung dieser Bundesregierung für ihren Dienst! ({2}) Einen Bundeswehreinsatz im Kongo über humanitäre Hilfe hinaus lehnen wir ab. ({3}) Auch eine qualitative Ausweitung des deutschen Afghanistaneinsatzes findet nicht unsere Zustimmung. Zum Kongo: Zunächst wurde ein Angebot für ein Ambulanzflugzeug gemacht. Dann wurden Transallflugzeuge und Stabsoffiziere genannt. Seit heute sind Fallschirmjäger und Pioniere im Gespräch. Herr Struck, Sie werden heute in der „Welt“ zitiert mit den Worten: Ich glaube nicht, dass Deutschlands Soldaten als Kampftruppen ins Gebiet gehen werden. Ich frage Sie: Schließen Sie das aus? Sagen Sie uns, was Sie wollen! Auf der einen Seite werden minensichere Fahrzeuge für die Bundeswehr heute abbestellt; der Dingo wird auf 2009 verschoben. Auf der anderen Seite schicken Sie die Bundeswehr in höchst gefährliche Auslandseinsätze. Dies passt nicht zusammen. ({4}) Sie sagen, die Situation im Kongo gehöre nicht zum Thema. Das gehört sehr wohl zum Thema und heute muss darüber gesprochen werden. Im Kongo zeigt sich, Herr Außenminister, natürlich auch noch etwas anderes, nämlich das Scheitern der Afrikapolitik dieser Bundesregierung. Jahrelang wurde der schwarze Kontinent vergessen und vernachlässigt. Jetzt brennt es - nicht nur im Kongo. Was wir benötigen, ist nicht die Eingreiftruppe der Bundeswehr. Wir benötigen ein politisches Gesamtkonzept für die afrikanischen Staaten zur wirtschaftlichen Kooperation und Stabilisierung. Wo sind die Vorschläge des Bundesaußenministers hierzu? ({5}) Die Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen auch politisch flankiert sein. Der Bundesaußenminister aber stellt nur Forderungen auf. Herr Bundesaußenminister, wer in Einsätze hineingeht, muss auch wieder herausgehen. Wo ist Ihre politische Strategie? Wo sind Ihre Initiativen für Bosnien, für Kosovo, für Mazedonien, für Afghanistan? Die Soldatinnen und Soldaten, unsere Bevölkerung und wir wollen wissen, ob es sich dort um unbeschränkte, immer währende Einsätze handelt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich einige Anmerkungen zur Zukunft der NATO machen, und zwar zunächst einige aktuelle Anmerkungen zur laufenden Konventsdebatte und zur Rolle der ESVP. Meine Einschätzung ist klar: Die ESVP ist wichtig, aber sie kann und soll die NATO nicht ersetzen. Die atlantische Allianz und unsere Freundschaft im Bündnis mit den Vereinigten Staaten von Amerika bleiben weiterhin zuständig für die kollektive Verteidigung der Mitglieder, aber auch für internationales Krisenmanagement. Amerika ist auch in Zukunft unser unverzichtbarer Partner für Sicherheit und Stabilität. Ebenso wenig sehe ich das Ziel bei der ESVP in der Schaffung einer europäischen Armee. Darüber müssen wir miteinander diskutieren. Die Streitkräfte bleiben auch in Zukunft ihrem jeweiligen nationalen Kommando unterstellt. Wir brauchen keine eigenständigen militärischen EU-Strukturen, parallel und in Duplizierung von NATO-Strukturen. Das verschwendet Ressourcen, untergräbt die transatlantischen Beziehungen und erschwert eine enge Abstimmung zwischen EU und NATO. Die EU kann die NATO nur ergänzen, nicht ersetzen. Offen ist auch, für welche Einsatzszenarien die neuen Krisenreaktionskräfte vorgesehen sind: Auf welcher Grundlage und unter welchen Voraussetzungen können unsere Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden? Wie weit reicht dafür im Einzelfall der Konsens unter den europäischen Mitgliedstaaten? Es muss insbesondere auch die Frage geklärt werden, wie weit das Recht auf humanitäre Intervention gehen kann und gehen darf. Wir müssen uns dabei hier in diesem Haus und darüber hinaus über die notwendigen Rechtsgrundlagen verständigen und Initiativen zur Anpassung des humanitären Völkerrechts an die neuen Bedrohungen entwickeln. Betrachten wir die Massengräber und Massaker im Irak: Der Einsatz der Amerikaner wurde von Ihnen mit allen Mitteln heftigst bekämpft. Betrachten wir den Massenmord im Kongo: Er wurde von uns allen über Jahre hinweg ignoriert, rechtfertigt jetzt aber offensichtlich den Einsatz der Bundeswehr. - Das ist eine verlogene Moral. Das ist eine gespaltene Moral. Das ist die grüne Moral des Außenministers Ihrer Partei. ({6}) Europa muss handlungsfähig sein. Das ist unbestritten. Deshalb werden wir im Rahmen der Konventsdebatte für mehr Mut in der Frage der Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit eintreten, Herr Außenminister. Einzelnen Staaten darf in Zukunft weder ein nationaler Sonderweg möglich sein, noch dürfen sie das gemeinschaftliche Handeln durch ihr Veto verhindern. In dieser Hinsicht ist sozusagen ein Quantensprung in der europäischen Ordnung erforderlich. Wir befürworten deshalb die Zusammenlegung der Positionen Solanas und des Außenkommissars der EU. Wir sind aber nicht für die Schaffung eines Königreichs für Joschka Fischer. Dies wird es nicht geben. ({7}) Es wird weder einen diplomatischen Dienst für Joschka noch eine Hofgarde für seine Eminenz, den deutschen Außenminister, geben. ({8}) Wir hätten etwas mehr Initiative vonseiten dieses Außenministers erwartet, um die neuen Entscheidungsstrukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik voranzubringen. Auch die NATO und der UNSicherheitsrat sind reformbedürftig. Lassen Sie mich zum Schluss eine grundsätzliche Anmerkung machen. ({9}) Wir alle - über die Parteigrenzen und Generationen hinaus - brauchen mehr Mut für den Frieden in der Welt. Das fängt nicht bei den Truppen an, Herr Außenminister, sondern das fängt im Kopf an. Notwendig sind eine humanitäre Strategie, eine stärkere Entwicklungskooperation zwischen Reich und Arm und ein Dialog der Weltkulturen und Weltregionen. Dazu gehört aber auch und in erster Linie der Wille, diese Welt nicht mit Waffen zu überschwemmen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Müller, leider haben Sie das vorzügliche Niveau der Rede Ihres Kollegen Rühe in keiner Weise halten können. ({0}) Sie gestatten, dass ich jetzt zum Thema zurückkehre. Wenn der Deutsche Bundestag heute der Aufnahme von sieben ost- und südosteuropäischen Staaten in die NATO zustimmt, dann geschieht das in größter Einmütigkeit, aber auch ohne sonderlich starken Widerhall in der Öffentlichkeit. Nichtsdestoweniger ist der bevorstehende Beitritt der sieben Staaten ein Vorgang von historischer Bedeutung, besonders aus der Sicht der betroffenen neuen Mitgliedstaaten. Ich bin erleichtert und froh, dass sich der Erweiterungsprozess ohne die Brüche und neue Spaltungen vollzogen hat, die ich und viele andere in der damaligen Opposition Mitte der 90er-Jahre befürchtet hatten. Bei der gängigen Feststellung, mit der NATO-Erweiterung und ihrer Öffnung dehne sich der transatlantische Stabilitätsraum aus, handelt es sich ausdrücklich nicht um das übliche Selbstlob einer großen Institution oder um bloße NATO-Lyrik. Die Erweiterung wurde und wird als Prozess gestaltet, der aus Dialog, Kooperation, inneren Reformen und Konfliktbeilegung besteht. Die Membership Action Plans stellen Anforderungen an die künftigen Mitglieder: hinsichtlich der friedlichen Regulierung von inneren - auch von ethnischen und territorialen - Konflikten, der Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte. Schließlich fordern sie Beiträge zur nationalen Verteidigung, zur Bündnisverteidigung und zu PeacekeepingEinsätzen der NATO und der Vereinten Nationen. Die sieben Anwärterstaaten haben hierbei höchst unterschiedliche Anforderungen zu bewältigen. Bulgarien, Rumänien und die Slowakei müssen ihre Armeen aus der Zeit des Warschauer Paktes in den kommenden Jahren erheblich reduzieren, und zwar um ungefähr ein Drittel ihrer Kopfstärke. Sie haben sie umzubauen und auf ihre Interoperabilität im Bündnis umzustellen. Die baltischen Staaten und Slowenien müssen neue Streitkräfte aufbauen, die als Teil des Bündnisses aber viel kleiner sein können, als wenn sie national auf sich allein angewiesen wären. Der Anspruch kollektiver und kooperativer Sicherheit findet seinen praktischen Niederschlag in ersten multinationalen Verbänden, zum Beispiel - man höre! - in einer tschechisch-polnisch-slowakischen Brigade, und in einer breiten Beteiligung an friedensbewahrenden Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Kabul und sogar bei Enduring Freedom. Zusammengefasst: Die NATO-Beitritte sind bedeutsame Beiträge zur Stabilisierung eines Raums, der sich nach der Implosion des Ostblocks wahrhaftig auch sehr explosiv hätte entwickeln können. ({1}) Die militärische Integration in Europa, in der Europäischen Union und in der NATO schreitet voran. Die politische Gemeinsamkeit fiel demgegenüber allerdings in den letzten Monaten massiv zurück. Die Frühjahrstagung der NATO-Parlamentarierversammlung vor einigen Tagen in Prag war von der Erfahrung einer regelrechten Spaltung und Marginalisierung der NATO im Umfeld der Irakkrise geprägt. Aber die Meinungsrisse auf dieser Tagung verliefen nicht einfach zwischen dem so genannten alten und dem neuen Europa, sondern oft mitten durch die nationalen Delegationen hindurch. Das notorische Bemühen der Union hierzulande, vor allem die Bundesregierung zum Sündenbock für die Turbulenzen in der NATO zu machen, zielt - das zeigte die Parlamentarierversammlung sehr deutlich - an der Realität völlig vorbei. ({2}) Offenkundig wurde bei der NATO-Parlamentarierversammlung die Notwendigkeit, sich über die viel beschworenen gemeinsamen Werte und Interessen sowie über eine gemeinsame Bedrohungsanalyse neu zu verständigen. Einmütig war aber der Wille der Abgeordneten der NATO-Staaten, zu gemeinsamer Handlungsfähigkeit der NATO zurückzufinden. Unüberhörbar war dabei die Forderung, dass dies nur in transatlantischer Partnerschaft und nicht in Gefolgschaft geschehen kann. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über die Zukunft der NATO, über die Zukunft eines Militärpaktes. Mit dem Ende des Kalten Krieges war ihm der Sinn abhanden gekommen. Heute wollen Sie ihn aber mit höheren Weihen versehen. Sie nennen das „alternativlos“, „unverzichtbar“ und sogar „historisch“, wie meine Vorredner mehrfach betont haben. Die PDS im Bundestag hingegen hält das schlicht für falsch. ({0}) Deshalb, Herr Kollege Rühe und Herr Kollege Fischer, teile ich ausdrücklich nicht Ihre Freude, die Sie über die Erweiterung der NATO zum Ausdruck gebracht haben. ({1}) Der Krieg gegen den Irak hat eines verdeutlicht: Die weitere Militarisierung des Politischen führt in eine historische Sackgasse. Das löst keine Probleme, sondern mehrt sie eher ins Unerträgliche. Nun hat Ludger Volmer vor Wochen an dieser Stelle erinnert, dass es 1990 zwei Perspektiven bzw. Möglichkeiten gegeben hat: Entweder wird die NATO als Hegemon weiter ausgebaut oder es wird ein wirkliches System kollektiver Sicherheit geschaffen. Können Sie sich daran erinnern, wann der Bundestag zuletzt ernsthaft über ein wirkliches System kollektiver Sicherheit debattiert hat? Ich vermute, dass selbst die Dienstälteren unter Ihnen diesbezüglich Erinnerungslücken haben. ({2}) Ludger Volmer meinte des Weiteren, man habe einen Mittelweg gefunden und man tue jetzt beides, also verkürzt gesagt: Hegemon und Sicherheit. Mich erinnert das fatal an das Römische Reich. Sie wissen, wie das endete. Allerdings wurde damals mit Schild und Schwert gekämpft. Heute bedrohen uns weltvernichtende Waffen. Das heißt, dass die Losung „Frieden schaffen ohne Waffen“ nichts, aber auch gar nichts von ihrer Brisanz eingebüßt hat, ganz im Gegenteil. Wir reden hier übrigens fast nebenbei über einen Verfassungsbruch. Das Grundgesetz enthält ein Friedensgebot. Es beschränkt die Bundeswehr auf die Landesverteidigung und daran ändert auch eine erweiterte NATO nichts. ({3}) Innenminister Schily hat vor wenigen Wochen den Jahresbericht 2002 des Verfassungsschutzes vorgestellt. Darin wird die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg als staatsgefährdend aufgeführt. Der Bundesinnenminister, finde ich, sollte den Millionen, die gegen diesen Krieg demonstriert haben, endlich sagen, warum. Jüngst hat Bundesverteidigungsminister Struck seine neuen verteidigungspolitischen Richtlinien vorgestellt. Danach findet die Verteidigung der Bundesrepublik künftig weltweit, je nach Gutdünken und Interessenlage, statt. Damit, finde ich, ist der Herr Minister Struck zumindest ein Prüffall für die Verfassungsschützer des Ministerkollegen Schily geworden. Ich hoffe, dass Herr Schily ihn von dieser Prüfung schon unterrichtet hat. ({4}) Parallel zu all diesen Debatten wirbt die CDU/CSU für ein militärisches Erstschlagsrecht, also genau das, was die US-Führung im Irak und anderswo wider alles Völkerrecht für sich in Anspruch nimmt. Deshalb wiederhole ich hier: Eine falsche NATO wird nicht besser, nur weil sie größer wird, und eine falsche Politik wird nicht richtig, nur weil SPD und Grüne sowie CDU und CSU den militärischen Gleichschritt üben. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion, das Wort.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Pau, es ist schon interessant, sich die Situation anzusehen. Heute, nun wirklich lange nach den Umbrüchen, den Freiheitsrevolutionen von 1989/90, feiern wir ein wesentliches Ergebnis dieser Umbrüche, nämlich dass Europa zusammenwächst und eben auch sicherheitspolitisch zusammenwächst. Volker Rühe hat sehr klar gesagt: Das geschieht nicht etwa deshalb, weil die NATO schon am Anfang begriffen hat, was da passiert; nein - das muss man so klar sagen -, sie hat es lange nicht begriffen. Vielmehr haben die Völker, die Freiheit und Demokratie errungen haben, gesagt: Wir wollen, dass es keine geteilte Sicherheit in Europa und im transatlantischen Verhältnis gibt. - Erst dann, so nach und nach, übrigens sehr viel später als die Europäische Union, hat sich die NATO - ausgehend vom Treffen der Verteidigungsminister in Travemünde 1994 - auf den Weg gemacht und versucht, sich zu öffnen. Nach langen und schwierigen Debatten hat das jetzt zu diesem Ergebnis geführt. Wie wesentlich das war, haben viele von uns in vielen Prozessen - wir könnten die Konflikte, mit denen wir uns in den letzten zehn Jahren beschäftigen mussten, einzeln durchgehen - schmerzlich lernen müssen. Der Bundesaußenminister hat oft betont, dass eine militärische Sicherung der zivilen, administrativen und NationBuilding-Prozesse notwendig ist, damit diese Prozesse überhaupt ablaufen können. ({0}) Es ist also sehr wohl wichtig, auf der Höhe der Zeit zu leben. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir eine Institution wie die NATO brauchen. Ich kann mich deshalb der Freude, die zum Ausdruck gebracht worden ist, nur anschließen. Die NATO hat nicht nur am Anfang die Frage der Erweiterung erst allmählich begriffen, sondern es war und ist zum Teil bis heute eine schwierige Frage, wie sie angesichts der neuen Herausforderungen in Zukunft aussehen soll. Es ist klar, dass der Wunsch der Kandidaten, hineinzukommen, von militärischen Drohungen bestimmt war, von denen manche von uns sagten, sie bestünden so nicht. Aber sie waren da und die Kandidaten haben gesagt: Wir wollen in diesen Sicherheitsraum hinein. - Das war, denke ich, völlig legitim. Gleichzeitig verändert sich die Situation. Wir haben neue Herausforderungen. Wie in vorangegangenen Reden schon angesprochen worden ist, besteht die Notwendigkeit einer verstärkten Integration. Der zentrale Punkt, der schon 1989/90 für die NATO sprach, war, dass auch die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ihre Sicherheit nicht mehr national organisieren. Dies hätte nämlich zu einer weiteren Destabilisierung Europas geführt. Was wir heute brauchen, ist eine verstärkte Integration. ({1}) Es gibt eine solche Integration schon innerhalb der NATO. Aber wenn wir genau hinsehen, dann erkennen wir, dass sie zunächst formal und noch relativ wenig entwickelt ist. Jeder Staat in Europa - darauf ist hingewiesen worden - macht das Gleiche. Was das transatlantische Verhältnis angeht, ist es ähnlich. Zwar gibt es die militärische Integration in den Stäben, in der Planung durch SHAPE und in dem, was in Brüssel aufgebaut worden ist - das ist ganz gewiss wichtig -; aber ansonsten sind die militärischen Fähigkeiten und Strukturen, vielleicht abgesehen von den AWACS, noch nicht besonders stark integriert. Die zentrale Aufgabe von uns Europäern ist, diesbezüglich Abhilfe zu schaffen. Das, was hier zur Effektivität beim Einsatz von Mitteln von Herrn Rühe und anderen dazu gesagt worden ist, kann ich nur ausnahmslos unterstützen. Eine andere wesentliche Aufgabe besteht darin - auch das müssen wir sehen -, die Fähigkeit zur Integration zu bewahren. Glücklicherweise ist die Zahl der zivilen Opfer des Irakkriegs geringer, als viele befürchtet haben. Dass dies so ist, haben wir den Fähigkeiten von Präzisionswaffen zu verdanken. Im Hinblick auf künftige Konflikte ist das von zentraler Bedeutung. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, wie sich europäische und amerikanische militärische Einsätze in Zukunft entwickeln und inwieweit wir auch in diesem Bereich in Zukunft partnerschaftsfähig sein können. Partnerschaftsfähigkeit wird nur durch Zusammenarbeit möglich sein. Wer glaubt, man könne Rüstung und andere militärische Fähigkeiten noch national entwickeln, der geht fehl. Es ist zu beobachten, dass innerhalb der NATO - es war gerade von der Tagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Prag die Rede - immer wieder über die Bedeutung der NATO gesprochen wird. Das ist richtig und, wenn es um Europa geht, existenziell. Wir werden Sicherheit ohne die transatlantischen Beziehungen und ohne die Institutionen der NATO nämlich nicht gewährleisten können. Angesichts dieser Reden müssen wir natürlich auch feststellen: Die Praxis war in den vergangenen Jahren oft anders. Im Angesicht der großen Herausforderung bei der Bekämpfung des Terrorismus hat die NATO erstmals Art. 5 des NATO-Vertrages ausgerufen. Sie hat damit ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht diese Herausforderung anzunehmen; aber umgesetzt wurde er von zentralen und wichtigen NATO-Partnern eben nicht. In der NATO selbst wurde noch nicht einmal eine zentrale sicherheitspolitische Debatte zu den wesentlichen Fragen geführt. Das zeigt: Wir selbst - trotz unserer unterschiedlichen Perspektiven, zum Beispiel im transatlantischen Verhältnis, was ja in der Irakfrage deutlich geworden ist - müssen noch sehr viel dafür tun, die NATO auf die Höhe der Zeit zu bringen. Die Amerikaner haben im letzten Jahr ihre nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Diese Strategie beinhaltet die Möglichkeit präemptiver Schläge. Darüber gibt es im Bündnis mit Sicherheit keinen Konsens. Dennoch haben wir darüber bis heute noch nicht einmal eine Debatte geführt. Ich bin deshalb sehr froh, dass wir, die Europäer, Herrn Solana gebeten haben, für Europa eine Bedrohungsanalyse zu entwickeln. Eine solche Analyse käme zwar sehr spät; aber es wird nun wirklich Zeit, dass wir selbst unsere Herausforderungen benennen können und klären, mit welchen Mitteln und auf welcher Ebene wir sie bewältigen wollen. ({2}) Auf der Ebene der Parlamentarier sind in den letzten Jahren immer wieder sehr intensive Diskussionen geführt worden. Wir können nur hoffen - wir fordern die Regierung auf, einen entsprechenden Beitrag zu leisten -, dass auch in den Institutionen der NATO und im NATO-Rat die notwendige Diskussion geführt wird. Wir wissen, dass Versuche unternommen wurden, eine solche Diskussion anzustoßen. Ich möchte auch von hier aus in Richtung unseres Partners Frankreich deutlich sagen: Gerade weil wir im transatlantischen Verhältnis den europäischen Pfeiler stärken wollen - viele Redner haben das hier zu Recht gesagt - und ihn zu einer integrierten Kraft, das heißt zu einer Kraft gemeinsamen Handelns, machen müssen, darf es nicht sein, dass die Franzosen als eine zentrale und wichtige Kraft in Europa auf Dauer eine Sonderstellung beanspruchen und sich jeweils vorbehalten, ob sie mitmachen. Wir sollten die Franzosen auch von dieser Stelle aus bitten, in die militärische Struktur der NATO zurückzukehren und damit unsere gemeinsamen Fähigkeiten zu stärken. ({3}) Das Gleiche gilt natürlich auch für andere Partner innerhalb der Europäischen Union. Wir sollten uns deutlich machen - der Außenminister hat darauf hingewiesen -, dass es bei den Erweiterungsprozessen, mit denen wir uns im Rahmen der Ratifikationsprozesse jetzt glücklicherweise beschäftigen können, durchaus manche Inkongruenzen bei den Mitgliedschaften gibt. Wir müssten eigentlich ein Interesse daran haben, dass so viele Länder wie möglich Mitglied sowohl in der EU als auch in der NATO sind; denn so kann der europäische Pfeiler gestärkt werden. Deshalb begrüße ich es, dass die NATO-Parlamentarierversammlung beschlossen hat, Schweden jetzt den assoziierten Status zu geben. Wir müssen den Schweden aber sagen: Überlegt euch doch einmal - wir wissen, dass das eine Reihe schwedischer Kollegen dort zur Sprache bringen -, ob die Neutralitätsfrage nach dem Ende des Kalten Krieges wirklich noch so relevant ist. Die Schweden sollten lieber sagen: Lasst uns mitmachen. Sowohl die Schweden als auch die Finnen haben in internationalen Friedensmissionen große Erfahrungen gesammelt, die Europa im Zusammenhang mit der Integration gebrauchen kann. ({4}) Ein letzter Punkt, auf den ich noch zu sprechen kommen möchte: Wir müssen auch innerhalb der NATO darüber nachdenken, wie die Strukturen künftig aussehen sollen. Der US-Senat hat im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Abkommen über die Erweiterung zwei Aufgaben gestellt, über die der Präsident berichten soll. Zum einen ist das die Frage, ob das Konsensprinzip erhalten bleiben soll. Im Grunde hat er dazu aufgefordert, das Konsensprinzip in der NATO zu verlassen. Das betrachte ich sehr skeptisch. Darüber brauchen wir sowohl in unseren Ländern als auch in der NATO eine intensive Debatte. Der zweite Punkt ist die Frage der Suspendierung eines Mitglieds. Was passiert, wenn sich jemand an die gemeinsamen Regeln und Gesetze nicht mehr hält und gegen die demokratischen Strukturen verstößt? Ich halte eine solche Diskussion für alle demokratischen Institutionen für durchaus akzeptabel; auch innerhalb der NATO sollten wir im Rahmen des Rates darüber sprechen. Lasst uns in Zukunft diese Debatte miteinander führen! Wir stehen im transatlantischen Verhältnis vor großen Aufgaben, weil die Risiken in dieser Welt leider nun einmal nicht weniger geworden sind, sondern anders. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Freiherr von und zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am heutigen Tag ist vieles begrüßenswert: zum einen die klaren Bestandsaufnahmen, zum anderen die - insbesondere vom Kollegen Volker Rühe - aufgezeigKarl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg ten Perspektiven, die nicht nur den europäischen Pfeiler beleuchten, sondern auch über den Atlantik hinweg reichen. Eine der entscheidenden Linien, die von diesem Tag mitgenommen werden müssen, ist, dass wir über die Kommunikationsebenen im europäischen Rahmen die transatlantische Struktur weiterhin pflegen und ihr den Stellenwert geben müssen, den sie tatsächlich verdient. Begrüßenswert ist auch die parlamentarische Einigkeit in diesem Hause; allerdings will ich die in meinen Augen erschreckende Realitätsferne der PDS erwähnen. Begrüßenswert ist ebenso die Zusammensetzung und Struktur der neuen Mitgliedsländer, deren Beitritt Ausdruck der Hoffnung auf eine wirkliche Stabilität und eine Überwindung der einstigen Spaltung Europas ist. - So viel zum Istzustand. Gestatten Sie mir auch einige Punkte zum Sollzustand: Es wäre begrüßenswert, wenn mit derselben Anstrengung und mit demselben Eifer, mit dem noch vor kurzem eine transatlantische Gegenposition geschmiedet wurde, eine transatlantische gemeinsame Sicherheitsanalyse angegangen würde. Auch diese Arbeit ist zu leisten. Sie erfordert die Fähigkeit und den Willen, sich überhaupt einmal gemeinsamen Sicherheitsinteressen zuzuwenden. Sie bedarf des Willens, einen gemeinsamen Sicherheitsbegriff zu formulieren, der über Europa und gegebenenfalls auch über den atlantischen Raum hinweg zu reichen vermag. Außerdem bedarf sie der daraus resultierenden Bereitschaft, eine über den eigenen Tellerrand hinweg blickende Sicherheitsstrategie zu entwickeln. Ausgangspunkt hierfür ist ein kooperatives, komplementäres und letztlich partnerschaftliches Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika; ({0}) nicht spaltend gegengewichtig, sondern ergänzend nebengewichtig. Wir könnten nicht törichter handeln, als uns den Marktschreiern einer europäischen Gegengewichtsstrategie zu unterwerfen. Das wäre der größte Fehler, den wir in dieser Zeit machen könnten. Wer nämlich nicht willens oder in der Lage ist, bildlich gesprochen das Gerüst der transatlantischen Waagschalen mit zu definieren, der muss zwangsläufig an der Gegengewichtsstrategie scheitern. ({1}) - Gleichgewicht wäre insoweit begrüßenswert, Herr Kollege, als es ergänzend und nicht konkurrierend stattfindet. ({2}) Es geht dabei auch weniger um die Frage, wie wir eine amerikanische Supermacht verhindern, sondern eher darum, wie wir mit dem Faktum umgehen, dass Amerika tatsächlich eine ist. Auch hier müssen wir den Tatsachen ins Auge blicken, ohne uns als Europäer dabei klein zu reden. Das kann nicht die Konsequenz sein. Ein gutes, erneuertes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, gerade im Kontext internationaler Organisationen, schließt Kritik nicht aus, aber die Kultivierung von Sprachlosigkeit auf oberster Ebene. ({3}) Das gilt auch für unser Verhältnis zum amerikanischen Präsidenten. Da darf man schon fragen, wie abgeschieden, wie unbeobachtet, wie finster eigentlich der Ort sein muss, an dem auch unser Bundeskanzler einmal offen auf den amerikanischen Präsidenten zugeht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Neu-, partiell vielleicht eine Redefinition des transatlantischen Verhältnisses, auch und gerade der NATO, erfordert neben der notwendigen, heute oft genannten Ergänzung der militärischen Fähigkeiten auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Hausaufgaben, die die anderen bereits gemacht haben. Hier ist unter anderem die nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten zu nennen, die in einigen Punkten sicherlich kritikwürdig ist; aber wir können sie nicht auf Begriffe wie Unipolarität, Unilateralität, einseitiges Hegemonialstreben verkürzen. Wir müssen uns mit den Hausaufgaben, die andere gemacht haben, auseinander setzen. Sie sind ein Teil der amerikanischen Realität und damit ein Teil der transatlantischen Realität. Von daher müssen wir über den Status, mit den Fragestellungen zu ringen, hinausgehen können und uns mit den Antworten, die andere mittlerweile gegeben haben, auseinander setzen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich schließe. Grundsätzlich bin ich dankbar für die große Übereinstimmung. In der Frage der Zukunft der NATO, im Zusammenspiel mit den Amerikanern ist allerdings weniger eine erschöpfende Retrospektive denn eine klare Perspektive notwendig. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu den Proto- kollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik Estland, der Republik Lettland, der Republik Litauen, Präsident Wolfgang Thierse Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Repu- blik Slowenien, Drucksachen 15/906 und 15/1063. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1117, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje- nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei den Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Abgeord- neten angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so- wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation - Drucksache 15/925 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2003 - Drucksache 15/1000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert, Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen - Drucksache 15/1090 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({4}), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren - Drucksache 15/1130 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({6}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer an der Debatte nicht teilnehmen möchte, den bitte ich, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen. Bitte schön.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland fehlen derzeit weit über 171 200 Lehrstellen; allein in den neuen Ländern sind es 85 000. Die Bundesregierung geht intern davon aus, dass im September noch zwischen 50 000 und 70 000 Lehrstellen fehlen werden. Rot-Grün bietet den jungen Menschen derzeit keine Perspektive; sie fühlen sich im Stich gelassen. Aber das alles ist keineswegs über Nacht über Deutschland hereingebrochen. Der Bundesregierung ist diese Entwicklung seit über einem Jahr bekannt; jetzt tut sie überrascht. Erst seit wenigen Wochen sieht sich die Bundesregierung zu Aktionen veranlasst. Der Berufsbildungsbericht 2003 ist ein Beleg dafür, dass die Bundesregierung die Lehrstellenkatastrophe sehenden Auges auf sich zutreiben ließ. Der Mantel des Schweigens wurde darüber ausgebreitet. Für das Ausmaß der Misere muss die Bundesregierung deshalb die Mitverantwortung übernehmen. Die Zahlen im Berufsbildungsbericht zeigen ganz deutlich, dass bereits Mitte Mai 2002 die Entwicklung absehbar war. Damals gab es eine Lehrstellenlücke von 5 400 Stellen. Die Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge in Wirtschaft und Verwaltung ging gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent zurück. Aus politischen Gründen wurde die Lage vertuscht. Auch wegen der Bundestagswahl wurde das Thema zu einem Nichtthema erklärt. ({0}) Erst jetzt, also ein Jahr später, wird das Thema wiederentdeckt, und das auch nur, weil der Bundesregierung demoskopisch und innenpolitisch das Wasser bis zum Hals steht. Die SPD-Linke lehnt sich gegen jede noch so kleine Reform auf. Deshalb wurde der SPD-Linken jetzt die Beruhigungspille Ausbildungsplatzabgabe verabreicht. Das ist der zweite schwerwiegende politische Sündenfall. ({1}) Es kann nicht angehen, dass ein tief greifendes gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Problem zum Schaden junger Menschen ideologisiert und parteipolitisch missbraucht wird. ({2}) Die Pläne der Bundesregierung streuen der Öffentlichkeit Sand in die Augen. Vom vorgeschlagenen freiwilligen Fonds bis zum angedrohten Zwangsfonds ist es nur ein kleiner Schritt. Die entsprechenden Vorbereitungen im BMBF laufen auf Hochtouren. Die Bundesregierung droht ganz offen damit. Richtig ist aber, dass jede weitere Belastung für die Unternehmen das falsche Mittel ist; denn jede weitere Belastung wirkt lehrstellenvernichtend. Welche Antworten hat nun die Bundesregierung? Zum Beispiel die Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre. Das unterstützen wir ganz ausdrücklich. Weitere Aktionen erweisen sich aber als falsch und untauglich. Ich nenne als Beispiel JUMP plus, über das vor kurzem im Kabinett gesprochen wurde. Es sollen 300 Millionen Euro zusätzlich ausgegeben werden, um bereits laufende Maßnahmen zu verstetigen und sozusagen am Leben zu erhalten. Aber damit wird keine einzige neue Lehrstelle geschaffen. Ich nenne weiterhin das Kreditprogramm für Ausbildungsbetriebe. Für die Unternehmen sind nicht Kredite, sondern die Senkung der Lohnnebenkosten entscheidend. Ich nenne ferner das Verbot der Prüfgebühren für die Kammern. Auch dadurch ist keine einzige zusätzliche Lehrstelle zu erwarten. ({3}) Zweifelsohne - das möchte ich für unsere Fraktion deutlich sagen - tragen die Unternehmen eine gesellschaftspolitische Verantwortung, gerade für die junge Generation. Zahlreiche Unternehmen stehen jedoch mit dem Rücken zur Wand. Die Wahrheit ist, dass es einen traurigen Rekord bei den Insolvenzen gibt. Im letzten Jahr waren es 38 000 und in diesem Jahr sind es bereits 10 000. Nun bekommen die noch existierenden Unternehmen weitere finanzielle Belastungen und Bürokratie aufgebürdet. Das verschärft das Insolvenzrisiko; weitere Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze sind gefährdet. Die derzeitige Ausbildung im dualen System ist bedarfsorientiert. Ein Modell, das sich an der Nachfrage der Schulabgänger orientiert, läuft am Bedarf vorbei. Wer entscheidet denn eigentlich aufgrund welcher Kompetenz, ab wann eine Zwangsabgabe eingeführt werden soll? Mit welchem Recht will Frau Bulmahn oder Herr Clement ein Unternehmen vor Ort, das um seine Existenz kämpft, und einen Unternehmer, der mit seinem Vermögen haftet, bestrafen? Soll die Zwangsabgabe bei einer Lücke von 10 000, von 20 000 oder von 50 000 Lehrstellenplätzen eingeführt werden? Welche Quotierungen will man denn dann anlegen? Für sämtliche der 2,45 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten müsste also die Sollstärke an Auszubildenden errechnet, die Differenz zur Istgröße gebildet und daraus eine Zwangsverpflichtung errechnet werden. Das ist schlichtweg verrückt. ({4}) Wie viel Geld wird für den bürokratischen Aufwand verloren gehen und was soll mit dem restlichen Geld geschehen? Es würden letztlich mehr außerbetriebliche Ausbildungsplätze entstehen, die wiederum kaum Beschäftigungsperspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt eröffnen. Außerdem ist eine solche Umlage schon in der Praxis gescheitert. Sie existiert bereits in der Bauwirtschaft. ({5}) - Herr Tauss, die Zahl neuer Ausbildungsverträge ist nicht höher geworden: Sie sank von 1994 bis zum Jahr 2002 von 20 000 auf 9 000 und damit proportional zum Rückgang der Beschäftigten in der Bauwirtschaft. Die Veranstaltung der Unionsfraktion mit 700 Handwerkern am vergangenen Dienstag war - Herr Tauss, Sie hätten kommen sollen - beeindruckend und lehrreich zugleich: Seit mehr als drei Jahrzehnten bewältigen Handwerksbetriebe Umsatz- und Ertragsrückgänge. Sie leben vielfach von der Substanz und versuchen dennoch, auszubilden und so weit wie möglich ihre Mitarbeiter zu halten und sie weiterzubilden. Parallel dazu stehen 130 000 Handwerksmeister in der Reserve, die sich sofort selbstständig machen würden, wenn sie entsprechende Rahmenbedingungen vorfinden würden. Das hätte eine Katapultwirkung auch für Lehrstellen. Dieses Potenzial sollten wir erschließen. Die jetzige Situation sollte nicht durch ausgeklügelte Stufenmodelle und Ausbildungsplatzabgaben verschärft werden. Eine Ausbildungsplatzabgabe führt dazu, dass die Verantwortung im Hinblick auf die berufliche Ausbildung von der Wirtschaft auf den Staat überginge. Weniger betriebliche und mehr außerbetriebliche Ausbildungsplätze wären die Folge. Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, einen Weg zur Sicherung eines ausreichenden Lehrstellenangebotes und zur Stärkung des ersten Ausbildungsmarktes über eine Modernisierung der Ausbildungsordnungen, ({6}) über eine wachstumsorientierte Steuer- und Finanzpolitik sowie über die Senkung der Lohnnebenkosten zu suchen. Ein erster Schritt wäre es, die Mittel des erfolglosen JUMP-Programms, die immerhin 1 Milliarde Euro betragen, direkt zur Senkung der Lohnnebenkosten einzusetzen, um ausbildende Betriebe zu entlasten. ({7}) Wir haben in unserem Antrag notwendige Wege aufgezeigt: zum Beispiel eine Novelle zum Berufsbildungsgesetz. Schaffen Sie eine international ausgerichtete berufliche Bildung, die aus Modulen besteht! Schaffen Sie theoriegeminderte Berufe für Jugendliche ohne Schulabschluss bzw. für benachteiligte Jugendliche! Fördern Sie die Verbundausbildung im Handwerk und bei kleinen Unternehmen und heben Sie die Schwelle für den besonderen Kündigungsschutz auf 20 Beschäftigte bei Neueinstellungen an! Das Vertrauen sowie die Verlässlichkeit von Politik müssen wiederhergestellt werden. Die Drohung mit einer weiteren Abgabe, mit einer weiteren bürokratischen Hürde ist ein zusätzlicher Beitrag zur Verunsicherung der Unternehmen. Der richtige Weg wäre, Mut und Risiko zu belohnen. Nur so können Sie die fehlenden Lehrstellen auffüllen und ersetzen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesministerin Edelgard Bulmahn. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die aktuelle Ausbildungssituation gibt Anlass zu wirklich sehr großer Sorge. Was ich allerdings bei Ihnen, Frau Reiche, und in den Anträgen der Opposition vermisse, ist ein konkreter Vorschlag, wie wir vorgehen sollen und was wir verändern sollen. ({0}) In Ihren Anträgen steht nicht ein einziger neuer Vorschlag. Sie beinhalten vielmehr die Aufzählung dessen, was wir seit mehreren Jahren tun. Es freut mich, dass Sie das, was wir tun, so ausdrücklich unterstützen und für richtig halten. Nur, ich vermisse einen einzigen neuen konkreten Vorschlag. ({1}) - Auch Ihr Vorschlag, Frau Pieper, bezüglich einer Ausbildungsbeihilfe von 3 500 Euro ist nichts Neues. Wir gehen so seit Jahren in den neuen Bundesländern vor nur, ohne wirksame Effekte. Das ist doch das Problem. ({2}) Deswegen bitte ich die Opposition, nicht zu schlafen, sondern zur Kenntnis zu nehmen, was bereits durchaus mit Erfolg geschieht, was aber nicht verhindert hat, dass wir in diesem Jahr wieder eine sehr ernsthafte, bedrohliche Situation haben. ({3}) Ein nächster Punkt. Ich sage ausdrücklich: In diesem Jahr haben wir eine sehr ernsthafte Situation. ({4}) Nur, ich erwarte von einem Abgeordneten - auch von Ihnen, Herr Kollege -, dass er ein Gedächtnis hat, das zumindest vier Jahre zurückreicht. ({5}) Im Jahre 1998 hatten wir eine gleich große Ausbildungslücke. Die jetzige Bundesregierung und die Koalition unterscheiden sich von Ihnen dadurch, dass wir nicht einfach zusehen, so wie Sie es in den 90er-Jahren getan haben. ({6}) Wir handeln vielmehr. Das werden wir in diesem Jahr so wie auch in den vergangenen Jahren wieder tun. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Lücke um 50 000 größer als im letzten Jahr. Wir verharmlosen dies nicht, sondern haben nach vielen Vorgesprächen und Verhandlungen, die sich über mehrere Monate hinzogen, eine Ausbildungsoffensive gestartet - eine solche Offensive entsteht ja nicht aus dem Nichts -, mit der wir erreichen wollen, dass am Ende dieses Jahres alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz erhalten. ({7}) - Das ist unser Ziel, darum geht es. Keine Bundesregierung - darauf weise ich ausdrücklich hin - und im Übrigen auch keine Opposition, kein Wirtschaftsverband und keine Gewerkschaft darf es zulassen, dass Zehntausende von Jugendlichen - es sind 60 000, 70 000, 80 000 - ohne Ausbildungsplatz bleiben. ({8}) Das können wir nicht hinnehmen. Deshalb muss es uns gemeinsam gelingen, eine Änderung herbeizuführen. Das Nachfrageverhalten der Jugendlichen hat sich durchaus verändert. Sie haben sich in den Vorjahren deutlich flexibler verhalten und sich auch für alternative Qualifizierungswege entschieden. Nach wie vor gibt es große regionale Unterschiede. Besonders kritisch ist die Situation in Ostdeutschland - trotz der Prämie, die Sie jetzt wieder fordern. Deshalb haben wir vor zwei Wochen wieder mit den Ländern einen Vertrag geschlossen, in dessen Rahmen die Bundesregierung 14 000 betriebsnahe Ausbildungsplätze mit rund 95 Millionen Euro finanziert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der aktuellen Situation kann die Gewinnung neuer Ausbildungsplätze nur durch entschlossenes und gemeinsames Handeln gelingen. Um gemeinsam mit den Sozialpartnern dieses Ziel zu erreichen, haben wir die Ausbildungsoffensive gestartet. Wir wollen mit dieser Offensive mehr Betriebe für Ausbildung gewinnen, aber auch für zusätzliche Ausbildungsplätze in den Betrieben sorgen, die bereits ausbilden. Zusätzlich zu dem unterzeichneten Ausbildungsplatzprogramm Ost öffnen wir im Rahmen der Ausbildungsplatzoffensive das Programm „Kapital für Arbeit“ auch für neue Ausbildungsplätze. Mit JUMP plus schaffen wir neue Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote für 100 000 Sozialhilfeempfänger zwischen 15 und 25 Jahren. ({9}) Wir haben außerdem die Berufsausbildungsvorbereitung in das Berufsbildungsgesetz integriert, um die Ausbildungschancen von schwer vermittelbaren Jugendlichen zu erleichtern. Diesem Ziel dient auch ein neues System von Qualifizierungsbausteinen, die wir zurzeit gemeinsam mit den Sozialpartnern entwickeln. Schließlich wird die Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre ausgesetzt. Damit machen wir den Weg frei, dass deutlich mehr Betriebe ausbilden können. Die Ausbildungsoffensive 2003 gibt uns die Chance, meine sehr geehrten Herren und Damen, nicht nur kurzfristig eine Kehrtwende bei der verschlechterten Ausbildungslage zu erreichen, sondern auch langfristig gemeinsame Wege zur strukturellen Verbesserung des dualen Ausbildungssystems einzuschlagen. Jetzt kommt es allerdings ganz entscheidend darauf an, dass auch die Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden und sicherstellen, dass kein Jugendlicher ohne ein Ausbildungsplatzangebot bleibt. ({10}) Wenn alle Unternehmen für ihren Bedarf ausbildeten, dann gäbe es in Deutschland kein Ausbildungsplatzproblem. Tatsächlich bilden in Deutschland weniger als 30 Prozent aller Unternehmen überhaupt aus. Das heißt im Umkehrschluss: Mehr als 70 Prozent aller Unternehmen entziehen sich ihrer sozialen und übrigens auch ökonomischen Verantwortung; denn diese Betriebe verweigern sich der Aufgabe, selbst für qualifizierte Fachkräfte zu sorgen. Qualifizierte Fachkräfte aber fallen nun einmal nicht vom Himmel. ({11}) Unternehmen müssen sie ausbilden; darauf sind letztlich alle Unternehmen angewiesen. Daher sage ich erneut klipp und klar: Wir werden uns nicht damit abfinden, dass sich mehr als 70 Prozent dieser Aufgabe verweigern. Das ist nicht hinzunehmen, wenn wir wirklich wollen, dass das duale System auch in Zukunft eine bedeutende Funktion hat und gewährleistet, dass zwei Drittel aller Jugendlichen ausgebildet werden. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung gibt es auch jetzt noch fast 1,2 Millionen Betriebe, die ausbilden könnten, aber in der Realität bilden nur rund 640 000 Betriebe aus. Das heißt, mehr als 500 000 Betriebe könnten ausbilden, tun es aber nicht. Genau das darf auf Dauer nicht so bleiben. ({12}) Denn lassen Sie es mich klar sagen: Ausbildung ist eine lohnende Investition in die Zukunft für alle Betriebe und für unsere Gesellschaft insgesamt. Das sagt im Übrigen auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag klipp und klar: In der Regel ist es teurer, Fachkräfte über den Arbeitsmarkt zu rekrutieren, als den Fachkräftebedarf durch eigene Ausbildung zu decken. Ich hoffe also, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es uns durch die verabredeten und eingeleiteten Initiativen gelingen wird, bis zum Jahr 2003 eine bundesweit ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen. Das wird nur gelingen, wenn sich die Unternehmen selbst deutlich stärker engagieren. Bleibt dieses Engagement aus, sind die Verbände der Wirtschaft aufgefordert, einen realistischen Vorschlag vorzulegen, wie dieses Ziel bis zum Ende dieses Jahres erreicht werden kann. Ich stelle lobend heraus, dass es einen Verband gibt, der diese Aufgabe wirklich ernst nimmt und ernst genommen hat. In Niedersachsen hat der Arbeitgeberverband Metall mit der IG Metall in der letzten Woche einen Tarifvertrag abgeschlossen, in dem sie auf der einen Seite die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal deutlich erhöhen und auf der anderen Seite erklären, zusätzlich 1 Million Euro bereitzustellen, um das Ziel von 10 Prozent mehr Ausbildungsplätzen tatsächlich zu erreichen. ({13}) Ich wünsche mir, dass jeder Verband, jede Branche, jede Region in unserem Lande diese Aufgabe genauso ernst nimmt und deutliche Signale gibt, dass ihnen Ausbildung wichtig ist. Wäre dies der Fall, dann müssten wir hier im Bundestag nicht überlegen, wie wir dieses Ziel erreichen können. Wir tun das Unsere dafür, aber ich sage ausdrücklich: Die Wirtschaft und die Gewerkschaften müssen ebenfalls das Ihrige dazu tun; sonst können wir das Ziel nicht erreichen. ({14}) Wichtig ist dabei im Übrigen immer, so wie das in dem angesprochenen Tarifvertrag auch gemacht worden ist, dass der Vorschlag verbindlich und umsetzbar sowie seine Realisierung nachprüfbar ist. Sollte das nicht der Fall sein, wird die Bundesregierung geeignete, auch gesetzgeberische Maßnahmen ergreifen müssen. Das hat der Bundeskanzler bereits im März angekündigt. ({15}) An dieser Stelle unterstreiche ich allerdings auch ausdrücklich: Solche freiwilligen Vereinbarungen, wie sie in Niedersachsen geschlossen worden sind, müssen und sollten unserer Meinung nach Vorrang haben. Das Engagement, die Mühe und die Initiative jedes Einzelnen hierzu lohnen sich also. ({16}) Eine gesetzliche Regelung ist sicherlich das letzte Mittel, ({17}) ein letztes Mittel, das sich erübrigt, wenn die Wirtschaft ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommt und ihre eigene Zukunftssicherung energisch vorantreibt. Deshalb ist es auch verfrüht, hier und heute über die Ausgestaltung einer möglichen gesetzlichen Regelung zu spekulieren. ({18}) Jedem sollte aber klar sein, dass in keinem Fall diejenigen Unternehmen von einer solchen Regelung profitierten, die bis heute und in der Vergangenheit ihrer Aufgabe und ihrer Verantwortung in Bezug auf die Ausbildung nicht nachgekommen sind. Das ist ein klares Kriterium, das in einer solchen gesetzlichen Regelung auch berücksichtigt werden wird. ({19}) Mit anderen Worten: Wer heute nicht oder mit Blick auf den eigenen Fachkräftebedarf nur unzureichend ausbildet, kann morgen nicht darauf hoffen, Zuschüsse für dann eingestellte Auszubildende zu kassieren. ({20}) Wer so kalkuliert, handelt kurzsichtig und wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Wenn die Wirtschaft in diesem Jahr ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommt - das hoffe ich -, dann wird es auch keine gesetzliche Regelung geben. Wenn sie ihr nicht nachkommt, müssen wir eine solche Regelung treffen. Ich gebe auch denjenigen Kolleginnen und Kollegen Recht, die sich hier sehr kritisch geäußert haben: Es ist eigentlich eine Schande, dass wir dann zu solchen Mitteln greifen müssen. Aber es ist auch eine Schande, wenn diejenigen Unternehmen, die nicht ausbilden - es sind viel zu viele -, ihrer Verantwortung nicht nachkommen. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, erwarte ich, dass alle jetzt ihren Part erfüllen und alle Kräfte für die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen einsetzen und mobilisieren - in ihrem eigenen Interesse, aber vor allen Dingen im Interesse der Jugendlichen in unserem Lande und damit im Interesse unserer Zukunft. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Tauss! Am 1. August beginnt das neue Ausbildungsjahr. Es sind gerade noch zwei Monate bis dahin. Die Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland ist dramatisch und gibt Anlass zu größter Sorge. Die rechnerische Lücke zwischen Ausbildungsangebot und -nachfrage beträgt im April mehr als 160 000 Plätze. Selbst der DGB rechnet im Berufsbildungsbericht bis zum Sommer noch mit einem echten Fehlbestand von 80 000 Plätzen. Frau Ministerin, ich will Sie einmal darauf hinweisen, dass es selbst 1998, unter der alten Bundesregierung - das ist der Vergleich, mit dem Sie immer agieren -, in Deutschland 44 189 Ausbildungsplätze mehr gab - ohne JUMP-Programm. ({0}) Bitte lassen Sie doch diese Fehlinformationen! Wir kommen mit diesen Zahlenspielereien hier nicht weiter. Das kann man den Menschen draußen, den Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen, nicht erklären. Ich sage Ihnen ganz klar: Die Schelte gegenüber der Wirtschaft, gegenüber den kleinen und mittelständischen Unternehmen hilft nicht. Sie haben die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland mit mehr Steuern und Abgaben belastet. ({1}) - Das ist unser Grundproblem! Meine Damen und Herren, ich frage mich manchmal, ob Sie verinnerlicht haben, wie ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz überhaupt entsteht. Er fällt doch nicht vom Himmel. Da entstehen Kosten. Da braucht man wirtschaftliche Dynamik. Die kleinen Firmen brauchen Aufträge, damit Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen können. ({2}) Sie können den Ausbildungsplatzmangel, die dramatische Situation, in der wir uns jetzt befinden, nicht allein mit einer anderen Bildungspolitik beheben. Das Grundübel in Deutschland ist die falsche Wirtschaftsund Finanzpolitik der Bundesregierung. ({3}) Das Einzige, was Ihnen noch einfällt, ist das Patentrezept der Ausbildungsplatzabgabe. ({4}) Da kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Dann wird alles noch schlimmer. Noch eine Abgabe mehr wird der Wirtschaft aufgehalst. Das wird garantiert nicht mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze bringen. Der Meisterbrief, der die Garantie dafür ist, dass Ausbildung im Handwerk stattfindet, soll aufgeweicht werden. Auch das ist keine Maßnahme, um Ausbildung zu sichern. ({5}) Auch hier wollen wir dem Handwerk die Treue halten und für den Meisterbrief kämpfen. Keine Frage! Längst hätte die Koalition konkrete Schritte zur Differenzierung und vor allem zur Verkürzung der Ausbildungszeiten tun können. Längst hätten Sie, Frau Ministerin, die Möglichkeit gehabt, das Berufsbildungsgesetz zu novellieren. Wir fordern das schon seit langem. ({6}) - Herr Tauss, da Sie nur ein Kurzzeitgedächtnis haben, darf ich Sie daran erinnern, dass wir schon lange eine Modularisierung, eine größere Differenzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung fordern. ({7}) Wir wollen Grundberufe mit geminderten Theorieanforderungen. Wir wollen, dass man mit Qualifizierungsbausteinen darauf aufbauen kann. Das wäre eine wichtige Reform, um in Deutschland Ausbildungsplätze zu schaffen. ({8}) Sie werden eine verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht durch neue bürokratische, staatlich orientierte Programme wettmachen können. Das sage ich Ihnen ganz deutlich für die FDP-Fraktion. Ich habe noch heute früh mit einem Unternehmer gesprochen, der mir gesagt hat: Wir müssen von dieser Bürokratielast befreit werden, gerade auch bei den Ausbildungsplätzen. Er hat mir erzählt, dass er noch jetzt wegen eines Ausbildungsplatzes von 1998 bis 2000 eine versicherungsrechtliche Überprüfung durch die LVA am Hals hat. Das muss man sich einmal vorstellen. Wo leben wir denn? Endlich weg mit dieser überflüssigen Bürokratie, die letztendlich auch Arbeits- und Ausbildungsplätze vernichtet! ({9}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihr JUMP-Programm mit 1,1 Milliarden Euro Umfang hat nichts gebracht. ({10}) Es hat nicht dazu geführt, dass junge Menschen auf den Arbeitsmarkt zurückkehren können. Im Gegenteil: Sie engagieren sich wieder auf dem zweiten Arbeitsmarkt, im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Dies stellt doch eine Spirale abwärts und keinen Weg aufwärts zum Sprung in den Arbeitsmarkt dar. Deswegen kritisieren wir auch diese Maßnahme, nicht in allen Teilen, aber in vielen. Wir sind der Auffassung, dass man gerade auch in die Betriebe investieren und sie unterstützen muss, damit Ausbildungsplätze entstehen. ({11}) Seit Ihrer Regierungsübernahme machen Sie eine mittelstandsfeindliche Politik. Sie haben das Steuerrecht immer noch nicht vereinfacht, Sie haben es nicht reformiert. Immer noch werden Personengesellschaften gegenüber Aktiengesellschaften ungerecht behandelt. Die Rentenversicherungsbeiträge steigen trotz der Einführung der Ökosteuer. Ich erinnere an Folgendes: Die Grünen wollten durch die Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge senken; das war die Begründung für diese unsinnige Steuer in Deutschland. Wir erleben das Gegenteil. ({12}) Ich möchte in diesem Zusammenhang an die verschlafene Gesundheitsstrukturreform und vieles andere mehr erinnern. ({13}) Ich höre zum Thema Ausbildungsabgabe von der grünen Fraktionschefin Krista Sager folgende Worte: Wenn man merkt, dass sich die Wirtschaft nicht rührt, dann sollte man auch die Folterinstrumente vorzeigen. ({14}) Wo leben wir denn? Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft und nicht in einer Diktatur, in der man Selbstständigen, die Eigeninitiative zeigen, mit Folterinstrumenten droht. ({15}) Die Grünen schlagen vor - O-Ton Thea Dückert und Minister Trittin -, eine Stiftung für betriebliche Bildungschancen einzurichten. Die Stiftung solle verbindliche Zusagen für einen Kapitalaufbau bekommen. Der Gesetzgeber solle Mindestanforderungen definieren, durch die alle Unternehmen an den Kosten der betrieblichen Ausbildung beteiligt würden. Nach Berechnung der Grünen seien 0,3 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme von Unternehmen notwendig, um die Nettokosten für rund 700 000 Lehrstellen pro Jahr aufzubringen. Wissen Sie, was das ist? Diese Ausbildungsumlage ist ein Taschenspielertrick. Damit werden die Lohnnebenkosten noch einmal erhöht und die kleinen Betriebe noch mehr kaputtgemacht. ({16}) Das ist nicht die Politik, die wir als liberale Mittelstandsund Bildungspartei vertreten. Das sage ich hier ganz deutlich. ({17}) Das Recht auf Bildung ist nach unserer Auffassung ein grundlegender Bestandteil der Menschenrechte. Es ist für uns ein Freiheitsthema. Jeder junge Mensch muss die Chance bekommen, durch eine gute Ausbildung in den Arbeitsmarkt einzusteigen. ({18}) - Das haben Sie nur nicht verinnerlicht. - Weil das so ist, weil wir in einer Notsituation sind und weil Sie die Reform verschlafen haben, haben wir einen Alternativvorschlag eingebracht: die Gelder des JUMP-Programms in eine Ausbildungsprämie von 3 500 Euro einfließen zu lassen. Das sind die Kosten für einen Ausbildungsplatz in den ersten fünf Monaten in kleinen mittelständischen Unternehmen. ({19}) Diesen Vorschlag haben wir mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag, DIHK, erarbeitet. Die Notsituation in diesem Bereich haben Sie herbeigeführt. Wir wären heute gar nicht gezwungen, solch ein Programm zu initiieren, wenn Sie diese Notsituation nicht herbeigeführt hätten. ({20}) Die Ausbildungsprämie ist für dieses Jahr ein geeigneter Weg. Sie ist keine Lösung für die Zukunft. Wir brauchen eine andere Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, ({21}) aber vor allen Dingen brauchen wir in Zukunft wohl eine andere Bundesregierung, weil diese Bundesregierung nicht in der Lage ist, die Herausforderungen anzunehmen und die Probleme dieses Landes zu lösen. Vielen Dank. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin von Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pieper, so viele Widersprüche wie in Ihrer Rede habe ich selten in sieben Minuten gehört. ({0}) Was fordern Sie eigentlich: Regulierung oder Deregulierung? ({1}) Sie hatten viele Jahre Zeit zu Reformen, zum Beispiel zur Reform des Berufsbildungsgesetzes. Wir packen das nun endlich an. ({2}) Ich denke, Sie sollten uns dabei unterstützen. ({3}) Alle meine Vorrednerinnen und Vorredner haben es angesprochen: Die aktuelle Situation am Ausbildungsmarkt ist beängstigend. Tausende junger Menschen, die demnächst aus der Schule kommen, stehen beim Zugang in das Ausbildungs- und Berufsleben vor einer riesengroßen Hürde, die sie allein nicht nehmen können. Neben der Politik steht in besonderer Weise die Wirtschaft in der Verantwortung, alle Energie aufzuwenden, um jeder Schulabgänger und jeder Schulabgängerin ein Ausbildungsplatzangebot unterbreiten zu können. ({4}) Knappe Kassen oder die konjunkturelle Krise dürfen nicht als pauschale Erklärung und Entschuldigung herhalten. Oberstes gemeinsames Ziel muss es sein, kontinuierlich ein Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen unterbreiten zu können. Gemeinsam müssen wir der jungen Generation eine Perspektive aufzeigen. ({5}) Dort, wo Ausbildungsplätze trotz aller Bemühungen noch immer fehlen, müssen wir Brücken bauen. Wir brauchen nicht irgendwelche Beschäftigungsmaßnahmen, sondern müssen Angebote von Qualifikationsbausteinen bereitstellen, mit denen insbesondere benachteiligte junge Menschen nach und nach eine vollwertige Ausbildung erwerben können. Auf Dauer reicht es aber nicht, den jungen Menschen Ersatzmaßnahmen anzubieten, mit denen sie am Ende die Hürde ins Berufsleben doch nicht nehmen können. Es kann grundsätzlich nicht sinnvoll sein, dass die Kosten der beruflichen Bildung zunehmend vom Staat übernommen werden. ({6}) Staatliche Mittel sind stark begrenzt. Sie müssen - PISA hat das gezeigt - vor allem für vorschulische und schulische Bildung verwendet werden. Davon profitiert der Einzelne, ebenso profitieren davon aber auch die Unternehmer und Unternehmerinnen. Das weltweit hoch gelobte duale System lebt davon, dass die Ausbildung im Betrieb stattfindet, also praxisbezogen und anwendungsorientiert ausgelegt ist. Vor dem Hintergrund der Lage am Ausbildungsmarkt ist die Schaffung einer von der Konjunktur unabhängigen Ausbildungsstruktur unser zentrales Ziel. In einem Hörfunkinterview hat BDI-Präsident Michael Rogowski die Notwendigkeit anerkannt, dass „wir einen Weg finden müssen, um diejenigen, die nicht ausbilden, zur Ausbildung zu bewegen.“ Welchen Weg schlagen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, dazu vor? In Ihrem Antrag gehen Sie über diese Frage wortlos hinweg. Die FDP schlägt eine Prämie für neue Ausbildungsplätze vor. ({7}) Hier ist die Wirtschaft schon viel weiter. Der Präsident des DIHK spricht davon, dass eine Ablösesumme fällig werden könnte, die von nicht ausbildenden Betrieben an ausbildende Betriebe gezahlt werden müsse. Klar ist: Wenn die Wirtschaft nicht eigenständig ihren Ausbildungspflichten nachkommt, muss auf andere Weise ein gerechter Mechanismus geschaffen werden. Aus diesem Grund haben wir Grüne das Stiftungsmodell entwickelt, das schon angesprochen wurde. Dieses Modell könnte ein Weg sein, um Ungerechtigkeit zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben zu beseitigen. ({8}) Die Zustimmung des BDI-Präsidenten zu einem solchen verpflichtenden Ausbildungsfonds ist ermutigend. Nach den einsichtigen Worten erwarten wir Taten. Bis zum Herbst müssen die Arbeitgeber ein umsetzungsfähiges Konzept vorlegen; denn nicht nur die Politik, auch sie tragen ein hohes Maß an gesellschaftlicher und sozialer Verantwortung. Vor allem aber sind hohe Ausbildungszahlen und Standards Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit und betrieblichen Erfolg. Es geht also auch um die ureigenen Interessen der Unternehmerschaft selbst. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten, dass die Wirtschaft aus eigener Kraft bereit ist, den Ausbildungsplatzmangel zu beheben. Weder der Zeitpunkt noch die Lage am Ausbildungsmarkt lassen es zu, dass wir uns hinhalten lassen. Sichtbare und nachvollziehbare Schritte müssen seitens der Wirtschaft in Gang gesetzt werden. In dieser Frage dürfen sich alle Unternehmensverbände der Unterstützung durch die Politik sicher sein. Wir wollen aber auch Ergebnisse sehen. Deshalb werden wir bei Nichterreichen dieses Ziels zu Mitteln der gesetzlichen Verpflichtung greifen müssen. Das sind wir den jungen Menschen und der Zukunftsfähigkeit unseres Landes schuldig. Abschließend möchte ich an die Bundesregierung appellieren, dass sie die Wirtschaft mit Nachdruck zum Handeln auffordern und gleichzeitig deutlich machen muss, dass sie, im Interesse der jungen Menschen in unserem Land, für den Notfall alle Vorbereitungen getroffen hat. Danke schön. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Lensing von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der von der Bundesregierung vorgelegte Berufsbildungsbericht 2003 geht an der aktuellen Realität völlig vorbei. ({0}) Selbst die Realität wirkt irreal. ({1}) Wem nützt dieser Bericht eigentlich? ({2}) Nach gründlichem Studium bin ich der Meinung, dass er allenfalls der Druckerei nützt, in der dieser Bericht gedruckt wurde. Ich hoffe, zumindest dadurch wurden in diesem Betrieb Ausbildungsplätze geschaffen. Ich will Ihnen diese kesse Bemerkung erläutern und begründen. ({3}) Gegenüber dem Vorjahr ist ein Rückgang der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge um insgesamt 42 000 zu verzeichnen. Dies entspricht einem Rückgang von etwa 6,8 Prozent. ({4}) Jetzt kommt es aber: Ende September 2002 hieß es: Nur noch 4 Prozent fehlen, um allen Lehrstellensuchenden helfen zu können. ({5}) Hört sich das nicht eigentlich gut an? - Ist es aber gar nicht; denn die Zahlen vom September 2002 sind inzwischen haltlos veraltet. Sie sind Schnee von gestern, dabei wartet draußen ein heißer Sommer auf uns alle. Hierbei geht es nicht um den heißen Sommer des DGB; der wartet nur auf den Kanzler. Im Ausbildungsjahr 2003/2004 fehlen inzwischen über 171 000 Lehrstellen; Frau Reiche hat bereits darauf verwiesen. Ich muss es noch einmal sagen und ich sage es nicht mit Schadenfreude, sondern mit Traurigkeit: Das ist der höchste Wert seit 1998. ({6}) Die Lehrstellenlücke hat sich damit um weitere 10 000 vergrößert. Der Rückgang der Zahl der betrieblichen Lehrstellen beträgt im Vergleich zum Vorjahresmonat 11,5 Prozent. Dazu sind 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren berufslos. Ende März waren 561 800 Arbeitslose jünger als 25. Das sind 56 700 mehr als vor einem Jahr. ({7}) In dieser verhängnisvollen Situation dürfte die Zahl wirklich unnützer rot-grüner Reformvorschläge inzwischen an die Hunderte reichen, während neue Haushaltslöcher von der Presse und der Öffentlichkeit nur noch wahrgenommen werden - und das natürlich auch nur nebulös -, wenn sie mindestens eine mehrstellige Milliardenhöhe erreichen. Insofern stimmt es, wenn man sagt: Die desaströse Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung hat den Lehrstellenmarkt inzwischen mit voller Macht und Wucht erreicht. ({8}) Genau das ist die Wurzel allen Übels. ({9}) Frau Ministerin, solange Sie dies nicht begreifen, wird sich die Lage am Lehrstellenmarkt bedauerlicherweise auch weiterhin dramatisch verschlechtern. ({10}) Frau Ingrid Sehrbrock, - sie ist immerhin Mitglied im DGB-Vorstand -, hat am 3. April in Berlin erklärt: Die Lücke hat sich seit Februar also um rund 30 000 fehlende Ausbildungsplätze vergrößert. Diese Entwicklung ist dramatisch und es muss schnell gegengesteuert werden. ({11}) Recht hat sie: Es muss sich etwas ändern, und zwar sofort. ({12}) Das Handwerk und der Mittelstand haben in den vergangenen Jahren die größte Last übernommen. Dafür gebührt ihnen unser aller Dank. ({13}) Doch, das sage ich hier auch sehr deutlich: So manche Großunternehmer haben sich dieser Ausbildungsverantwortung leider entzogen. ({14}) Diese haben in besseren Zeiten just an dem Ast gesägt, auf dem sie heute selbst sitzen. ({15}) Sie haben die Kosten für die Ausbildung gespart und anschließend den Rahm, nämlich die qualifizierten Fachkräfte, abgeschöpft. ({16}) Das ist zu kritisieren ({17}) - ich bin erstaunt, dass dies selbst Herr Tauss wahrnimmt -, und zwar ist das laut zu kritisieren. Das machen wir auch. Doch in dieser Krisensituation führt der Ruf nach einer Ausbildungsplatzabgabe völlig in die Irre. Da feiert der Wahnsinn geradezu Triumphe. ({18}) Der Knüppel aus dem Sack trifft doch die Falschen, nämlich insbesondere die meisten kleinen Betriebe, die zwar willig sind, auszubilden, denen aber aus konjunkturellen Gründen der Atem auszugehen droht. ({19}) Sie trifft auch völlig zu Unrecht diejenigen, die trotz aller persönlichen Bemühungen keinen geeigneten Bewerber finden. Große Unternehmen hingegen, die sich um ihre Verantwortung drücken, lässt eine solche Abgabe eher kalt. Mehr Lehrlinge werden sie deswegen garantiert nicht einstellen. ({20}) Das Geld, das sie zu zahlen haben, fließt bestenfalls in die überbetriebliche Ausbildung, ({21}) die nicht die beste ist. Die Handwerker schauen dann wieder in die Röhre. Die Ausbildung zu einer staatlichen Veranstaltung zu machen ist das Gegenteil von dem, was das duale Ausbildungssystem zu seinem tollen Erfolg gebracht hat. ({22}) Wir wollen das noch einmal im Klartext sagen: Durch die geplante Ausbildungsabgabe werden die Anstrengungen der deutschen Wirtschaft, speziell des Mittelstandes und damit auch des Handwerks, in diesem Jahr noch eine möglichst hohe Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung zu stellen, geradezu konterkariert und erheblich behindert. ({23}) Allein schon die zynische - ich kann sie wirklich nicht anders nennen - Ankündigung der Regierungsfraktionen, diese umstrittene Zwangsabgabe, die von Schröder, als er noch Ministerpräsident in Niedersachsen war, zu Recht durchgehend vehement abgelehnt worden war, nun ausschließlich „zum Wohle der Wirtschaft“ erheben zu wollen, ({24}) belastet die kritische Ausbildungssituation in diesem Jahr und in Ihrer Verantwortung zusätzlich. ({25}) Im Ergebnis ist diese Zwangsabgabe nichts anderes als ein Schritt hin zur Verstaatlichung der Ausbildung. ({26}) Es ist immer wieder das Gleiche: umverteilen und gleichzeitig das Niveau senken, mehr Zwang und weniger Kreativität. Genau in diese armselige Denkstruktur passt Ihre Forderung nach Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe ({27}) und nach einer flächendeckenden Reduzierung der Meistertitel. Dabei garantiert gerade beispielsweise der Meister die Qualität beruflicher Ausbildung. Frau Minister Bulmahn hat gemeint, sagen zu können und zu müssen, dass wir keine eigenen Vorschläge unterbreiten. ({28}) Wir haben so viele eigene Vorschläge, ({29}) dass Sie, Frau Bulmahn - das ist mein Eindruck -, hierbei die Übersicht verloren haben. Mir liegt ein Katalog von mindestens acht konkreten Vorschlägen vor, ({30}) die ich unglaublich gerne im Einzelnen hier erläutern möchte, woran mich aber die Tagesordnung und die Redezeitbegrenzung hindern. ({31}) Aber drei möchte ich Ihnen nennen. ({32})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lensing, Ihre Zeit ist aber abgelaufen. ({0})

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist aber sehr traurig, Herr Präsident. Dann sage ich noch einen Satz als Höhepunkt der Darstellung: ({0}) Das wichtigste und effektivste Ausbildungsprogramm für ganz Deutschland sind möglichst baldige Neuwahlen. In diesem Sinne! ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Lensing, es wäre schön gewesen, wir hätten wenigstens einen Vorschlag und nicht nur nebulöse Ankündigungen von Ihnen gehört. ({0}) Wenn die Ausbildungssituation so kritisch ist, wie sie sich zurzeit tatsächlich darstellt, dann müssen alle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen, diese auch wahrnehmen. ({1}) Das ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass junge Menschen tatsächlich Startchancen für ihr Berufsleben bekommen. ({2}) Diese Verantwortung muss auch deshalb wahrgenommen werden, weil unser wirtschaftliches Wachstum und der damit verknüpfte Wohlstand in den nächsten Jahren davon abhängen wird, ob es auch in 10 oder in 20 Jahren genügend qualifizierte Menschen gibt, die Ideen entwickeln, Innovationen auf den Weg bringen und hochwertige Güter und Dienstleistungen produzieren. Dafür müssen wir jetzt die Basis legen. ({3}) Diese Verantwortung liegt auch bei denen, die politisch verantwortlich sind. Sie liegt natürlich besonders stark bei der Wirtschaft. Es kann nicht angehen, dass vonseiten der Wirtschaft immer wieder - wie ich finde: zu Recht - angemahnt wird, dass die Politik mittelfristige und langfristige Perspektiven entwickelt, dass die Wirtschaft selbst aber bei der Ausbildung der eigenen Fachkräfte völlig darauf verzichtet, mittelfristig zu denken. Das kann doch wirklich nicht wahr sein. ({4}) Deshalb halten wir es für so problematisch, dass gegenüber dem Vorjahresmonat 57 000 betriebliche Ausbildungsstellen weniger gemeldet worden sind und dass der Anteil der ausbildenden Betriebe auf weniger als ein Drittel zurückgegangen ist. Es gibt inzwischen - sicherlich auch wegen der Ausbildungsoffensive der Bundesregierung - Hoffnungsschimmer. Dazu gehört zum Beispiel der neue Tarifvertrag für die chemische Industrie wie auch die Initiative des Metall-Arbeitgeberverbandes Niedersachsen. ({5}) Wir unterstützen solche freiwilligen Aktionen, um es ganz deutlich zu sagen. Wir werden aber nicht nur zusehen dürfen und können, falls sich immer größere Teile der Wirtschaft dieser Aufgabe und dieser Verantwortung nicht stellen. Es geht nicht, dass wir einfach nur zusehen. Sie haben heute den ganzen Morgen gejammert, schlechtgeredet und zugeschaut, ({6}) weil Sie von dem profitieren wollen, was sich entwickelt. ({7}) Das ist nicht die Übernahme politischer Verantwortung, um es ganz deutlich zu sagen. Hier sind andere Wege gefragt. ({8}) Es ist deshalb so wichtig, dass wir nicht nur zusehen, weil wir hier über einen Bereich reden, in dem es um die Lebenschancen von jungen Menschen geht, um ihr Selbstwertgefühl, um ihren zukünftigen Platz in der Gesellschaft. Wie sollen denn junge Menschen zu diesem Staat, zu dieser Gesellschaft, zu dieser Demokratie stehen können, wenn sie erleben, dass wir nicht alle - ich sage bewusst: alle - Maßnahmen ergreifen, um ihnen tatsächlich Startchancen geben zu können. ({9}) Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir, wenn es nicht gelingt, durch freiwillige Vereinbarungen zu einem ausreichenden Ausbildungsplatzangebot zu kommen, gesetzliche Regelungen vorlegen werden, um ausbildende Betriebe von ihren Kosten zu entlasten. Dies wird dann selbstverständlich von Unternehmen finanziert, die sich an dieser Aufgabe nicht beteiligen. Um auch dies noch einmal deutlich zu sagen: Dieser Entscheidung geht eine Vielzahl von Maßnahmen voraus, um die Ausbildungsplatzsituation zu verbessern. Dazu gehört die Ausbildungsplatzoffensive. Dazu gehören die Erleichterungen bei der Möglichkeit, auszubilden. Dazu gehören aber natürlich auch Maßnahmen wie die Modernisierung von Ausbildungsordnungen. ({10}) Bei diesem Thema wird es in Ihrem Antrag richtig absurd. Da fordern Sie die Modernisierung von Ausbildungsordnungen. In Wirklichkeit hat erst diese Koalition und hat erst diese Regierung sich bewegt, während sich vor unserer Zeit im Bereich der Modernisierung von Ausbildungsordnungen so gut wie nichts getan hat. ({11}) Ein Beispiel: Am 1. August 2002 sind 24 neue Ausbildungsordnungen, davon acht zu neuen Berufen, in Kraft getreten - und dieser Prozess ist keineswegs am Ende. Dann schauen wir noch einmal in den Antrag der CDU/CSU: Welcher Zynismus und welche Doppelzüngigkeit spricht denn aus diesem Antrag, wenn Sie fordern, die - erfolgreichen - Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit einzustellen? Gleichzeitig erlebe ich, wie sich sämtliche Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion bei Veranstaltungen - manchmal sind es ja in Person die gleichen - darüber beschweren, dass wir bei der Bundesanstalt für Arbeit dafür kämpfen mussten, dass die Programme für Berufsvorbereitungsmaßnahmen weitergeführt werden - das haben wir erreicht. ({12}) Da schimpfen und jammern Sie und gleichzeitig fordern Sie, das JUMP-Programm abzuschaffen. Das ist wirklich purer Zynismus und pure Doppelzüngigkeit! ({13}) Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie werden sich schon entscheiden müssen, welchen Weg Sie gehen wollen. Die sozialdemokratische Fraktion hat sich, wie gesagt, erfolgreich für den Erhalt dieser Maßnahmen eingesetzt. Gerade bei diesem Thema erwarten die Menschen von der Politik zu Recht, dass gemeinsame Lösungswege gesucht werden, statt zu versuchen, aus der kritischen Situation politisches Kapital zu schlagen. ({14}) Ich finde, Sie sollten diese gemeinsamen Lösungswege nicht ideologisch versperren. ({15}) Das muss auch nicht sein. Ich darf kurz aus der „Frankfurter Rundschau“ aus dem Jahr 1999 zitieren. Darin wurde über einen Beschluss berichtet, den die Sozialausschüsse der CDU damals gefasst haben: Es muss einen Lastenausgleich geben zwischen ausbildenden und nicht-ausbildenden Betrieben. ({16}) Zwar favorisiere die CDA tarifliche Lösungen falls aber dieser Weg nicht zum Ausgleich führe, müsse auch über gesetzliche Regelungen nachgedacht werden. ({17}) Jetzt hingegen unterstellen Sie uns dirigistische Maßnahmen, und zwar aus reiner Ideologie. ({18}) - Herr Niebel, dass Sie das feststellen, während Sie sich weiterhin massiv für den Schutzwall für die Handwerkerordnung einsetzen, finde ich Klasse. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Tauss, bitte.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Kressl, nur weil es so schön war: Könnten Sie noch einmal sagen, wen Sie zitiert haben? ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war die CDA im Jahr 1999. Um es Ihnen noch etwas näher zu erläutern, Herr Tauss: Dabei handelt es sich um die Sozialausschüsse der CDU. ({0}) - Nein, das war kein Ortsverband, sondern bundesweit -, um es Ihnen noch einmal zu erläutern. Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Unterstützen Sie das Engagement aller, die sich für die Ausbildungsoffensive stark machen! Benutzen Sie die schwierige Situation nicht für billige Polemik, sondern ziehen Sie mit uns an einem Strang! Wir finden, die jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen und darauf warten müssen, haben ein Recht darauf. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Schummer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Damen! Werte Herren! Im Januar fehlten nach den Angaben der Bundesanstalt für Arbeit 90 000 Ausbildungsplätze für das neue Ausbildungsjahr. Im Februar waren es 118 000, im März 140 000 und im Mai 171 000. Die Dramatik der Ausbildungssituation nimmt von Monat zu Monat weiter zu. Jeder zweite Schulabgänger in diesem Jahr wird voraussichtlich keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, sondern eine Ersatzmaßnahme wahrnehmen müssen. Das heißt, es gibt eine Erosion der betrieblichen dualen Ausbildung. Was ist Ihre Reaktion darauf? - Ein Ausbildungsgipfel. Die Minister Clement und Bulmahn luden zu diesem Gipfel ein. Erstmals seit 1983 war es nicht der Bundeskanzler, sondern die nachgeordneten Ministerien, die dazu einluden. Der Bundeskanzler fehlte. Gerhard Schröder ist wie Richard Kimble auf der Flucht vor den Ergebnissen seiner Arbeitsmarktpolitik. ({0}) Die Zukunftschancen junger Menschen sind für diesen Bundeskanzler eine nachgeordnete Angelegenheit nachgeordneter Instanzen. Das ist der Gipfel seiner Verantwortungslosigkeit. ({1}) - Und es kam von Herzen, lieber Kollege. Es gibt einen sozialdemokratischen Reflex: Hier ist ein Problem und dort ist eine Steuer. So tanken wir für die Rente und rauchen für die innere Sicherheit. Demnächst heißt es „Trinken für die Gesundheit“ und als Rezept gegen die Ausbildungskrise gibt es eine Ausbildungsplatzabgabe. ({2}) Tatsache ist, dass mit 40 000 betrieblichen Insolvenzen eine Rekordzahl erreicht wurde. Mit diesen 40 000 Insolvenzen wurden mehr als 400 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze vernichtet. ({3}) - Wenn Sie nicht nur Ihren Kehlkopf, sondern auch den Kopf nutzen würden, dann könnten Sie auch besser zuhören. ({4}) Die Ausbildungsschwäche der Betriebe ist ein Spiegelbild der miserablen wirtschaftlichen Lage, die auch von Ihrer Steuer- und Abgabenpolitik verursacht wurde. Da wir nur noch wenige Monate bis zum September 2003 Zeit haben, möchte ich drei ganz konkrete Vorschläge - den Rest werden wir nachliefern - machen, über die wir reden sollten. ({5}) Erster konkreter Vorschlag: Entlasten wir anteilig Betriebe von Sozialversicherungsbeiträgen für Auszubildende. Die Mittel dafür nehmen wir aus dem JUMPProgramm, da es für 70 Prozent der betroffenen Jugendlichen eine reine Warteschleife ist. Dieses Geld sollte besser in die Unterstützung der betrieblichen Ausbildung fließen. ({6}) Bei den kleinen Einkommen von 401 bis 800 Euro haben wir bereits einen solchen Anreiz zur Arbeitsaufnahme parteiübergreifend beschlossen. ({7}) Der Sozialversicherungsbeitrag steigt für die Beschäftigten nur langsam an. Nach diesem Vorbild könnten wir auch einen Anreiz für betriebliche Ausbildungsplätze schaffen. Etwas Ähnliches bei den Arbeitgeberbeiträgen für Auszubildende zu machen wäre kreativer und intelligenter, als immer neue Abgaben zu erheben. Zweiter konkreter Vorschlag: Auf einem Ausbildungsgipfel sollte mit den Tarifpartnern vereinbart werden, dass die Ausbildungsgehälter in den nächsten drei Jahren eingefroren werden. Mit dem gesparten Geld könnten die Unternehmen zusätzliche Ausbildungsplätze finanzieren. Im Schnitt liegen die Ausbildungsvergütungen in Deutschland zwischen 430 und 800 Euro. Hier ist eine Atempause vertretbar, wenn dafür zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen werden. ({8}) Dritter konkreter Vorschlag: Ausbildungsmeister ist das Handwerk. Dort befinden sich über 80 Prozent der Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Die freie Berufswahl ist ein Verfassungsrecht. Das Handwerk leistet hierfür einen elementaren Beitrag. Die Handwerksberufe - das ist ein Punkt, über den wir noch heute Nachmittag beraten werden -, die bis zum Dezember 2004 die Ausbildungsquote der übrigen Wirtschaft massiv übersteigen, erhalten sich so ihren Meisterbrief. Wettbewerb als Instrument für unser Gemeinwohl - das wäre klassisch für soziale Marktwirtschaft. ({9}) Der Staat entlastet Ausbildungsbetriebe von Lohnnebenkosten. Die Gewerkschaften garantieren Ruhe bei den Lohnkosten. Die Arbeitgeber sorgen für zusätzliche Ausbildungsplätze und im Handwerk startet ein Wettbewerb für mehr Lehrstellen. Das wäre ein Gesamtkonzept, das wir bis zur Sommerpause auf den Weg bringen könnten und mit dem wir schon in diesem Jahr den Schulabgängerinnen und Schulabgängern eine Perspektive eröffnen würden. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, folgen Sie uns zeitnah, damit die Jugend in Deutschland eine Chance hat! ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Thea Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schummer, mit der Beschreibung der Situation haben Sie ja Recht: 140 000 Ausbildungsplätze werden möglicherweise im Herbst fehlen. Damit dürfen wir uns wirklich nicht abfinden. Nur 30 Prozent der Betriebe bilden aus. In diesem Jahr werden bis jetzt ungefähr 11 Prozent weniger Ausbildungsplätze angeboten als im letzten Jahr. Das geht nicht. Nur: Das, was Sie anbieten, lieber Herr Kollege Schummer, stellt Ihnen ein Armutszeugnis hoch zehn aus. ({0}) Sie schlagen vor, die Mittel für das JUMP-Programm zu streichen und dafür andere Angebote zu machen. ({1}) Das geht aber auf Kosten der Jugendlichen, die im JUMP-Programm einen Ausbildungsplatz oder ein Angebot gefunden haben - schließlich bilden nur 30 Prozent der Betriebe aus. Auch diese Jugendlichen haben ein Anrecht auf Hilfe und Ausbildung. ({2}) Das gilt übrigens genauso für alle anderen Jugendlichen in diesem Land, die die Schule verlassen und in den Arbeitsmarkt hinein wollen, die sich also ihrer Erwerbsbiographie gerade nähern. Vor diesem Hintergrund finde ich, dass Ihre Vorschläge nicht nur untauglich, sondern auch zynisch sind; denn Sie wollen ausgerechnet die Maßnahmen zur Disposition stellen und sich zur Finanzierung Ihrer Vorschläge der Programme bedienen - das wollten Sie auch schon in den letzten Jahren; übrigens, Frau Pieper, die betreffenden Programme sind vor allen Dingen in den neuen Bundesländern sehr stark nachgefragt -, die insbesondere an diejenigen Jugendlichen gerichtet sind, die Schwierigkeiten haben, sich dem ArDr. Thea Dückert beitsmarkt zu nähern, weil sie zum Beispiel in der Ausbildung Probleme hatten oder sich aus anderen Gründen arbeitsmarktfern aufgehalten haben. ({3}) Im dualen System - das ist natürlich ein Pfund für die Wirtschaft in Deutschland - haben die Unternehmen eine Ausbildungspflicht. Der Staat kann, zum Beispiel durch JUMP, durch außerbetriebliche Maßnahmen, immer nur Second-best-Lösungen anbieten. ({4}) Wir müssen sehen, dass die Jugendlichen in die Betriebe hineinkommen. ({5}) Deswegen sage ich hier ganz deutlich: Wenn die Unternehmen in diesem Sommer dieser Verpflichtung nicht nachkommen, weil sie nicht können oder nicht wollen, ({6}) dann werden wir gesetzlich eingreifen müssen und die Unternehmen in die Pflicht nehmen müssen. Das gebietet uns das Recht der Jugendlichen auf Ausbildung. ({7}) Die Ministerin hat gesagt, dass 500 000 Betriebe noch ausbilden könnten. Wenn wir nur die Hälfte dieser Betriebe erreichen könnten, hätten wir in diesem Jahr das Problem schon gelöst. Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was Sie in Wahrheit vorschlagen. In Ihrem Antrag steht, dass Sie JUMP streichen und die 1 Milliarde Euro zur Senkung der Lohnnebenkosten benutzen wollen. Haben Sie eigentlich einmal ausgerechnet, Frau Reiche, wie hoch der Effekt wäre? Dadurch würde eine Senkung der Lohnnebenkosten um maximal 0,1 Prozentpunkte erreicht. ({8}) Sagen Sie einmal ganz im Ernst - denken Sie dabei an Ihren eigenen Betrieb -: Sind Sie wirklich der Auffassung, dass wir die Probleme auf dem Ausbildungsplatzmarkt in diesem Jahr lösen können, wenn wir JUMP streichen, also die jungen Leute in die Wüste schicken, um dafür die Lohnnebenkosten um 0,1 Prozentpunkte zu senken? Erklären Sie mir in diesem Zusammenhang -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Dückert, ich muss einmal dazwischengehen. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kretschmer?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, wenn ich meinen Satz zu Ende geführt habe. Erklären Sie mir in diesem Zusammenhang, wie Sie auf der anderen Seite der Streichung der Ökosteuer das Wort reden können, wodurch die Lohnnebenkosten, nämlich der Rentenversicherungsteil, um mehrere 0,1 Prozentpunkte steigen würden! ({0}) Frau Reiche, so wird doch kein Schuh daraus. ({1}) Man erkennt, was Sie wirklich verfolgen. Sie haben überhaupt kein Interesse daran, Jugendlichen, die ausbildungsfern sind, ein Angebot zu machen. Das ist die Realität. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kretschmer, bitte schön.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, Sie haben gerade gesagt, die Unternehmen könnten oder wollten nicht ausbilden. Wir möchten von Ihnen doch gern wissen, was denn nun Ihrer Meinung nach zutrifft. Es ist nämlich ein großer Unterschied zwischen Können und Wollen. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Unternehmen nicht können - wegen Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik, ({0}) wegen der 5 Millionen Arbeitslosen, wegen der Situation im Handwerk, wegen rückgängiger Umsätze, wegen 40 000 Unternehmenspleiten im Jahr. 40 000 Unternehmen bilden nicht mehr aus, aus welchen Gründen auch immer. Es gibt eine Ausbildungslücke. Sie ist jetzt auch in großem Maß in den alten Ländern entstanden. Die jungen Leute aus meiner Heimat, aus den neuen Bundesländern, sind ja bisher immer in die alten Bundesländer gegangen. Ist es also nicht Ihre Wirtschaftspolitik, die dafür gesorgt hat, dass die Situation jetzt so schlimm ist? Sollten Sie nicht doch etwas daran ändern, bevor Sie anfangen, mit einer Ausbildungsplatzabgabe die Probleme noch zu verschlimmern? ({1})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege. - Es gibt Unternehmen, die wollen nicht, und es gibt Unternehmen, die können nicht. ({0}) Dies, lieber Herr Kollege, hat die Wirtschaft schon besser erkannt als Sie, als die CDU/CSU-Fraktion und vor allem die FDP-Fraktion. Herr Rogowski hat am Anfang dieser Woche vorgeschlagen, einen Fonds einzurichten, um den Unternehmen, die Schwierigkeiten haben auszubilden, weil sie finanzielle Probleme haben, über ein Umlageverfahren quasi einen Bonus zu geben. ({1}) So etwas gibt es in der chemischen Industrie und so etwas gibt es in der Metallindustrie. Es ist ein kluger Ansatz, Fonds zu bilden. Alle zahlen ein und die, die ausbilden - ich antworte noch auf Ihre Frage, Herr Kretschmer; bleiben Sie bitte stehen -, bekommen etwas aus diesen Fonds. Vom Ansatz her halten auch wir Grüne das für einen sinnvollen Weg: Alle zahlen ein, niemand kann sich aus der Verantwortung stehlen, wie zum Beispiel im Rahmen der Behindertenabgabe. Bei diesem System muss jeder seinen Obolus leisten und wer ausbildet, wird unterstützt. ({2}) - Das war Rogowski. Einen solchen Weg geht man in der chemischen Industrie und in der Metallindustrie. Diesen Ansatz können wir aufgreifen und weiterentwickeln. Wir Grüne möchten zu diesem Zweck gern ein Stiftungsmodell entwickeln, ähnlich wie es die Hartz-Kommission vorgeschlagen hat. Lassen Sie uns über diese Dinge reden und streiten! Aber hören Sie auf, den Jugendlichen, die mit der Streichung von JUMP besondere Schwierigkeiten haben, auf den Pelz zu rücken! ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Wir von der „PDS im Bundestag“ meinen: Der Bundeskanzler muss jetzt sein Wort halten. Er hat in seiner Regierungserklärung „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“ am 14. März eine gesetzlich verordnete Ausbildungsplatzabgabe angekündigt, ({0}) wenn die Wirtschaft nicht aus eigener Kraft in der Lage ist, ausreichend Ausbildungsplätze zu schaffen. Die Wirtschaft hat den Beweis geliefert: Sie ist dazu nicht in der Lage. In regelmäßigen Abständen beklagen die Arbeitgeberverbände zwar den Mangel an Fachkräften; sie sind aber offensichtlich nicht bereit, etwas zur Beseitigung dieses Mangels zu tun. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat am 17. April eine Umfrage zu den Lehrstellenangeboten der DAX-Unternehmen veröffentlicht. Das Ergebnis ist mehr als niederschmetternd: Die Schlusspositionen nehmen Lufthansa, Deutsche Börse und SAP ein. Besonders bedauerlich ist, dass die Deutsche Post, deren Hauptaktionär der Bund ist, die Zahl der Lehrstellen in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 350 reduziert hat. Da frage ich mich natürlich: Wie wird der Bund als Aktionär gegenüber der Deutschen Post und anderen Unternehmen, an denen er beteiligt ist, seiner Pflicht gerecht? Schaut man sich das Verhältnis zwischen Gesamtbelegschaft und der Zahl der Auszubildenden an, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass die Deutsche Post weit abgeschlagen hinter vielen privaten Unternehmen liegt. Wo ist da die Vorbildwirkung des Bundes, Frau Bulmahn? ({1}) Bemerkenswert ist auch, dass ein DAX-Unternehmen wie Adidas-Salomon - da ist der Bund nicht Aktionär im Jahre 2003 insgesamt 15 Lehrstellen - ich wiederhole: 15 Lehrstellen - bereitstellt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil gerade dieses Unternehmen seine Produkte an junge Menschen verkauft und mit dem Image eines besonders jugendlichen Lebensgefühls um jugendliche Kunden wirbt, aber offensichtlich kaum bereit ist, etwas für junge Menschen zu tun. Das zeigt sich, wenn man sich die Zahl der Ausbildungsplätze anschaut. Die CDU/CSU lehnt in ihrem Antrag eine Ausbildungsplatzabgabe ab. Dieser Antrag ist überschrieben: „Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation“. Wessen Motivation meinen Sie eigentlich: die der Jugendlichen oder die der Unternehmer? ({2}) Ich denke, Sie machen sich Sorgen um die Motivation der Unternehmer. Sie machen sich in Ihrem Antrag nämlich keine Sorgen um die Motivation der Jugendlichen, die dringend einen Ausbildungsplatz brauchen und immer wieder vertröstet werden. Ich möchte auf das Beispiel Adidas-Salomon zurückkommen. Wie viel Motivation brauchte dieses Unternehmen eigentlich, um 15 Jugendliche auszubilden? Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt ist dramatisch. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Im Ausbildungsjahr 2003/2004 fehlen derzeit 148 000 Lehrstellen. Davon allein 105 000 in den neuen Ländern. So weit, so schlecht. Was ist nun Ihr Rezept? Warten auf die Konjunktur und Abbau von Bürokratie. Die Jugendlichen können aber nicht warten. Sie haben auch noch nie erlebt, dass in dieser Republik Bürokratie abgebaut wird, weder unter Kohl noch unter Schröder. ({3}) Sie sagen den Jugendlichen nicht, wie Sie neue Ausbildungsplätze schaffen wollen. Deshalb ist Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der CDU, untauglich und wird von uns entschieden abgelehnt. ({4}) Der Bundeskanzler hat die Ausbildungsplatzabgabe mittlerweile in Aussicht gestellt, wenn die Unternehmen nicht bereit sind, ausreichend Ausbildungsplätze zu schaffen. Für diese Ankündigung - ich hoffe, sie wird umgesetzt - möchte ich ihn ausdrücklich loben; denn diese Drohung hat schon - zumindest partiell - Wirkung gezeigt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat in einem Flugblatt erklärt: Nicht ausbilden könnte teuer werden. Plötzlich finden Arbeitgeber Argumente, warum Ausbildung gar kein Verlustgeschäft ist; im Gegenteil: Es rechnet sich. Das Klagen über zu hohe Ausbildungsvergütungen ist unehrlich. Das Argument steht in dem genannten Flugblatt. Man kommt zu dem Schluss, dass viele Auszubildende ihren Unternehmen mehr einbringen als sie kosten. Die Arbeitgeberverbände haben den Wert von Azubis richtig erkannt. Das Problem ist nur, dass die Unternehmen offensichtlich nicht bereit sind, sich durch eine Selbstverpflichtung für die Schaffung der fehlenden Ausbildungsplätze zu sorgen. Ich darf daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht bereits 1980 darauf verwiesen hat, dass die Verantwortung der Arbeitgeber besteht, für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen zu sorgen und eine gesetzliche Regelung anmahnte. Diese Mahnung ist inzwischen 23 Jahre alt, Frau Ministerin. Aus den genannten Gründen fordert die PDS die schnelle Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe für die Unternehmen, die nicht ausbilden. Das sollte keine Drohung sein, die sich im Nirwana verliert, sondern muss jetzt, wo es Not tut, angewandt werden: Nur Mut, meine Damen und Herren von der Koalition! ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Anton Schaaf von der SPD-Fraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Pieper, die größten Deregulierer dieses Landes sind hier heute eingeknickt, als es um ihre ureigene Klientel ging. ({0}) Diejenigen, die in diesem Land - an vielen Stellen zu Recht - am lautesten nach Subventionsabbau schreien, haben heute neue Subventionen gefordert. ({1}) Der Berufsbildungsbericht macht die ökonomische, aber auch die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der beruflichen Bildung eindrücklich klar. Unser wertvollstes Kapital sind die jungen Menschen. Wir sind ihnen verpflichtet. Kommen wir unseren Verpflichtungen nicht nach, verspielen wir ihre Zukunft und gefährden die ökonomische Zukunft unseres Landes. Noch immer bildet die betriebliche Ausbildung für die Mehrzahl der jungen Menschen den Einstieg in das Berufsleben. Die Grundlage unserer Industriegesellschaft ist die Erwerbsarbeit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schaaf, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte gerne im Zusammenhang reden. Danke. Ich glaube nicht, dass wir im Laufe der Debatte noch substanzielle Beiträge - ich habe heute zumindest keine gehört - erwarten dürfen. ({0}) Erwerbsarbeit bedeutet nicht nur Gelderwerb, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung und materielle Sicherheit. Umfragen zeigen, dass Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren insbesondere vor Arbeitslosigkeit Angst haben. Wir wollen verhindern, dass das Leben junger Menschen von Unsicherheiten geprägt wird. Wie sollen sie aber Vertrauen aufbauen, wenn Jahr um Jahr ein Lehrstellendebakel droht? Die Unternehmer in diesem Land müssen jedes Jahr von ihren eigenen Verbänden und den jeweiligen Regierungen - ich sage ausdrücklich: den jeweiligen Regierungen - mit Kampagnen und aufwendiger Öffentlichkeitsarbeit dazu aufgerufen werden, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Das muss jungen Menschen den Eindruck vermitteln, nicht gebraucht zu werden, ja überflüssig zu sein. Das trägt nicht unbedingt zum Zusammenhalt einer Gesellschaft bei. ({1}) In Schule, betrieblicher Ausbildung und Studium sollen junge Menschen auf das Berufsleben vorbereitet werden. Darauf haben sie einen Anspruch. Nur ein Drittel der Unternehmen in Deutschland bildet aus, aber 100 Prozent der Unternehmen sind auf gut ausgebildete Mitarbeiter angewiesen. Im April dieses Jahres klafft zwischen Angebot und Nachfrage bei den Ausbildungsplätzen eine Lücke von 160 000. Es ist keineswegs so, als stünden ausreichend ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung. In den nächsten Jahren droht ein erheblicher Mangel an Fachkräften, wenn heute nicht genügend junge Menschen ausgebildet werden. Auf der einen Seite haben wir dann schlecht Qualifizierte ohne Arbeit und auf der anderen Seite einen steigenden Bedarf an Fachkräften, den wir nicht decken können. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, die deutsche Wirtschaft nachdrücklich an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Falls die Wirtschaft keine Lösung anbietet - unseren Antrag haben Sie in diesem Punkt offensichtlich nicht richtig gelesen -, ist die Bundesregierung gefordert, Maßnahmen zu treffen. ({2}) Das heißt, sie muss eine gesetzliche Regelung verabschieden. Die Ziele der Regelung sind eine gerechte Verteilung der Kosten für die Berufsausbildung und die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze. Wenn bis zum Ende des laufenden Vermittlungsjahres zu wenig Lehrstellen zur Verfügung stehen, muss die Bundesregierung aktiv werden. Die Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots ist zusammen mit der Modernisierung der beruflichen Bildung im dualen System Voraussetzung für die Erhaltung der Berufs- und Lebenschancen eines überwiegenden Teils der jungen Generation. Über Jahrzehnte entstandene Fehlentwicklungen müssen jetzt korrigiert werden. Der Staat trägt mittlerweile einen sehr großen Anteil an den Ausbildungskosten, nämlich 11 Milliarden Euro. Die Verantwortung wurde Stück für Stück auf den Staat abgewälzt. ({3}) Ob es sich um einen Mangel an Ausbildungsplätzen oder einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften handelt, die Öffentlichkeit nimmt die Politik, zumeist die Regierenden, als Verantwortliche wahr. Das war übrigens schon zu Ihren Zeiten so. Auch die Unternehmer sind schnell dabei, der Politik den schwarzen Peter zuzuschieben. Unsere Kinder und Jugendlichen werden demnach unzureichend auf die Berufstätigkeit vorbereitet. In Teilen stimmt das, aber wir handeln. Für die Qualität der betrieblichen Ausbildung ist die Wirtschaft zum größten Teil selbst verantwortlich. Die Unternehmen müssen ihre eigene Verantwortung erkennen, ihre Strukturen und Erwartungen überprüfen und vor allen Dingen endlich handeln. ({4}) Nur wenn sie dazu nicht bereit sind, muss die Politik, auch im Interesse der Wirtschaft, eingreifen. Ohne ausreichende Ausbildung werden wir in den folgenden Jahren auf der einen Seite einen massiven Fachkräftemangel und auf der anderen Seite einen noch größeren Anstieg der Arbeitslosenquote erleben. Die Wirtschaft höhlt ihre eigenen Grundlagen aus, wenn sie nicht ausbildet. Ausbildung ist die Basis unserer Ökonomie und auch unseres Sozialstaats. Ohne sie werden wir in Deutschland kein nennenswertes Wirtschaftswachstum erreichen; Deutschland wird international nicht mehr mithalten können. Meine Damen und Herren, überrascht hat mich die Lektüre eines gemeinsamen Positionspapiers von Herrn Kollegen Schummer und Dietmar Schäfers von der IG BAU. Herr Schummer, unsere Positionen scheinen gar nicht so weit auseinander zu sein. Zumindest habe ich das beim Lesen so verstanden; denn in dem Papier steht: Betriebe, die nicht ausbilden, wollen wir anreizen, ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung für die berufliche Bildung nachzukommen. ({5}) Da stimme ich absolut mit Ihnen überein, Herr Schummer. Jetzt geht es darum, diese gesellschaftliche Verpflichtung von den Unternehmern in diesem Land auch einzufordern. Dabei können Sie gerne behilflich sein. ({6}) - Sie brauchen sich nicht zu melden, ich rede im Zusammenhang weiter. Weiter heißt es in dem Papier - auch das zitiere ich sehr gern -: Gäbe es die tarifliche vereinbarte Umlagefinanzierung in der Bauwirtschaft nicht, sähen die Ausbildungsplatzzahlen in der krisengeschüttelten Baubranche noch schlechter aus. ({7}) Da gebe ich Ihnen Recht: Ausbildung muss tatsächlich konjunkturunabhängiger gestaltet werden. Dafür treten wir gerade ein. Helfen Sie mit dabei! ({8}) Sie haben weiter gesagt: Die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen hat oberste Priorität. Dazu haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon Deutliches gesagt. Auch Bundesregierung, Unternehmerverbände und Gewerkschaften haben in ihrer gemeinsamen Kampagne für tarifliche Vereinbarungen nach diesem Vorbild geworben. Handeln wir jetzt nicht, nehmen wir in Kauf, dass einem zunehmenden Teil unserer Jugendlichen die materielle wie auch die soziale Lebensperspektive fehlt. Die Folgekosten für die Gesellschaft würden dramatische Ausmaße annehmen. Deshalb müssen wir jetzt vernünftige Instrumente zur Förderung der betrieblichen Ausbildung entwickeln. Eine Alternative dazu gibt es nicht. Sonst überlassen wir den Umgang mit ausgegrenzten Jugendlichen, die dann zu ausgegrenzten Erwachsenen werden, den sozialen Sicherungssystemen. Das wäre verantwortungslos. ({9}) 70 Prozent der Unternehmen bilden nicht mehr aus. Das ist nicht nur konjunkturell oder steuerpolitisch bedingt, wie Sie behaupten, sondern mittlerweile strukturell begründet. Es ist eben bequemer und auch günstiger, nicht auszubilden. In der betrieblichen Ausbildung erleben wir seit Jahren, eigentlich schon seit Jahrzehnten, zumindest seit einem Jahrzehnt, eine Wackelpartie. Im ureigensten Interesse der Wirtschaft und vor allen Dingen im gesamtgesellschaftlichen Interesse, jungen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, muss mit dieser Wackelpartie Schluss sein. Die jungen Menschen in diesem Land brauchen eine Politik, die sich für ihre Zukunft verantwortlich zeigt. Diese Politik machen wir. Politik allein wird unsere Zukunft aber nicht sichern können. Wir brauchen die Bereitschaft aller Akteure dieser Gesellschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dazu rufen wir gerade die Unternehmerinnen und Unternehmer dieses Landes auf. Wir leisten unseren Beitrag. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich will mit Ihnen einmal ein bisschen das Lang- und das Kurzzeitgedächtnis überprüfen. Wissen Sie, wie die Zahl der Jugendarbeitslosen gegenüber dem Vorjahresmonat angestiegen ist? - Um 33 000 allein im Monat Mai. Richten wir das Kurzzeitgedächtnis aber auch auf etwas noch näher Liegendes. Sie haben Ende April auf dem berühmten Ausbildungsgipfel Folgendes zusammen mit Bundesminister Clement gesagt: Die gemeinsamen Anstrengungen, um so viele Arbeitsplätze wie möglich zu mobilisieren, haben absolute Priorität. - Einverstanden! Jegliche Diskussion über eine Ausbildungsabgabe lehnen wir ab, da dies den gemeinsamen Anstrengungen schadet. ({0}) Was wollen Sie eigentlich? Gleichzeitig, Frau Ministerin, sitzen Sie, wie wir gehört haben, der SPD-Arbeitsgruppe vor, die an den Plänen eines zweistufigen Modells zur Ausbildungsplatzabgabe arbeitet. Ich kann das nur als Täuscherei bezeichnen. ({1}) - Das genau ist Ihre Politik: Zuerst erzählen Sie den Unternehmen, dass Sie einen Vorschlag ablehnen und da nicht mitmachen werden, weil er der wirtschaftlichen Entwicklung schadet. Aber nur einige Tage später - ich sage nur: Kurzzeitgedächtnis - wird dann großartig verkündet, dass doch eine Ausbildungsplatzabgabe kommt. Genau das ist Ihre Politik. ({2}) - Hören Sie besser zu! Dann lernen Sie etwas. ({3}) Sie sorgen nicht für die Verlässlichkeit, die wichtig ist, damit es in diesem Land weiter aufwärts gehen wird. ({4}) Ähnliches haben wir schon mit den Vorschlägen von Herrn Hartz erlebt. Vor fast genau einem Jahr - ich appelliere wieder an Ihr Gedächtnis - wurden uns 2 Millionen neue Arbeitsplätze versprochen. Was ist denn daraus geworden? - Es war nur ein Papiertiger: außer Kosten und Spesen nichts gewesen. ({5}) Dieses Jahr gibt es im Monat Mai die höchste Arbeitslosigkeit, nicht seit der Wiedervereinigung, sondern seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. ({6}) Das haben Sie - und niemand anderes - mit Ihrer Politik zu verantworten. ({7}) Je ernster die Probleme in unserem Land werden, desto unausgereifter sind Ihre Konzepte. Es fehlen eine klare, verlässliche Politik und jedes wirtschaftliche Gesamtkonzept. Der Stillstand auf dem Arbeitsmarkt und damit die Probleme, die wir auf dem Ausbildungssektor haben, resultieren doch aus Ihrer katastrophalen Wirtschaftspolitik, die dazu führt, dass kein Unternehmer mehr den Mut hat, Arbeitsplätze zu schaffen. Wann schafft denn ein Unternehmer Arbeitsplätze? - Doch immer nur dann, wenn er Geld verdient. Aber zurzeit verdient die deutsche Wirtschaft kein Geld mehr. Das sehen Sie auch am Aufkommen der Körperschaftsteuer. ({8}) Wir haben in diesem Jahr die größte Pleitewelle, die dieses Land jemals erlebt hat. 42 000 Unternehmen werden Pleite gehen. 400 000 Arbeitsplätze und 20 000 Ausbildungsplätze, Frau Bulmahn, werden uns dadurch verloren gehen. Ich habe eine ganz konkrete Bitte an das Bundeskabinett. Sie können mir helfen, dass in meinem Wahlkreis Arbeits- und auch Ausbildungsplätze erhalten bleiben. Ungefähr 20 Kilometer rheinabwärts von Koblenz gibt es das wunderschöne Städtchen Weißenthurm. Dort befindet sich die Firma Schmalbach-Lubeca, die vom Konzern Ball übernommen wurde. Dieses Unternehmen ist ein Dosenhersteller mit 500 Beschäftigten. Geplant war, dieses Jahr 20 Auszubildende einzustellen. Aber dieser Plan wurde aufgegeben. Seit Januar gibt es Kurzarbeit. Der Betrieb wird demnächst geschlossen. So vernichten Sie Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Sagen Sie Herrn Trittin, er soll diese dämliche Verordnung aussetzen, damit die Arbeitsplätze in dieser Branche erhalten bleiben. ({9}) Wir können es uns in dieser wirtschaftlichen Situation nicht leisten, das Dosenpfand durchzusetzen, weil dadurch Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze vernichtet werden. Ich bin der Meinung, dass es so nicht weitergehen kann. ({10}) Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung und wissen ziemlich genau, dass dieses Dosenpfand kompletter Blödsinn ist. ({11}) - Herr Tauss, Ihr Zuruf wird auch durch noch so viel Lautstärke nicht intelligenter. ({12}) Wo sind denn die Analytiker in dieser Regierungsmannschaft? Man verspürt nur noch Hektik. Es vergeht kein einziger Tag, an dem in diesem Land nicht neue panikartige Töne zu hören sind. In diesem rot-grünen Panikorchester fiedelt jeder auf seiner eigenen Geige. Der Kanzler nennt das völlig zu Recht eigene Kakophonie. Angesichts dieses kakophonen Orchesters - schauen Sie sich nur die Steuererhöhungsdiskussionen der letzten Tage an; Frau Nahles: Vermögensteuer, Frau Simonis: Mehrwertsteuer, Herr Schreiner: Erbschaftsteuer, Herr Eichel: Eigenheimzulage und möglicherweise Erhöhung der KFZ-Steuer, Frau Schmidt: Tabaksteuer, etc. ({13}) ist es klar, dass kein Mensch in dieser Republik mehr Vertrauen in Ihre Politik hat und dass kein Mensch den Mut hat zu investieren. Wenn man nicht mehr weiß, welche Steuern in welcher Höhe am nächsten Tag auf einen zukommen, dann kann man meiner Meinung nach nicht mehr investieren. Genau diese Situation haben Sie durch die ständige Verunsicherung der deutschen Wirtschaft erreicht. Das muss geändert werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Fuchs, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss? ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann ja nur lustig werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Tauss, bitte schön.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ganz ernsthaft: Können Sie mir nochmals vortragen, welche Position die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft im Moment einnimmt und wie die Äußerungen von Herrn Koch in diesen Tagen lauteten? Könnten Sie uns kurz etwas zu dem von ihm geforderten Subventionsabbau und zu den Vorschlägen des Herrn Stoiber sagen?

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zu Herrn Koch kann ich Ihnen nur Folgendes sagen: Er hat zusammen mit Herrn Steinbrück gefordert, die Subventionen abzubauen, und zwar rasenmäherartig. ({0}) Wir dürfen aber mit den Mitteln, die durch den Abbau von Subventionen zur Verfügung stehen, nicht generell die Taschen des Staates auffüllen. Auch das hat Herr Koch gesagt; nur, das hören Sie nicht gerne. Wir müssen diese Mittel vielmehr für die Senkung der Steuern, die die Bürger zahlen müssen, verwenden. Dann macht das Ganze Sinn. ({1}) Die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe wird in diesem Lande kein Problem lösen. Im Gegenteil: Sie wird mehr Bürokratie schaffen und dafür sorgen, dass sich noch mehr Betriebe verabschieden müssen; denn sie wirkt kostenerhöhend. Gerade der Bundeskanzler hat Ihnen mit der Agenda 2010 ins Stammbuch geschrieben, dass die Lohnnebenkosten dringend gesenkt werden müssen. ({2}) Was machen Sie denn jetzt anderes, als sie wieder zu erhöhen? Bei der Absenkung der Lohnnebenkosten müssen Sie ansetzen. Zusätzliche Belastungen der deutschen Wirtschaft sollten Sie aber bitte unterlassen. ({3}) Lassen Sie mich ein Letztes aus dem eigenen Erleben in meinem Wahlkreis sagen - Herr Tauss, hier können wir sofort gemeinsam etwas tun; ich bin gespannt, wie weit Sie bereit sind zu springen -: Es gibt in meinem Wahlkreis ein Unternehmen mit 190 Arbeitsplätzen. Die hatten bis jetzt circa 15 Azubis. Dieses Jahr bilden sie nur neun aus. Wissen Sie, warum? Weil sie ab 200 Beschäftigten einen Betriebsrat freistellen müssten. ({4}) Machen wir uns doch nichts vor: Das sind die Hemmnisse, die Sie geschaffen haben! ({5}) Schaffen wir das gemeinsam ab, und das so schnell wie möglich! Denn es muss nun wirklich nicht sein, dass deswegen die Einstellung von Auszubildenden verhindert wird. Sie sehen, es gibt viel zu tun. Aber ich befürchte, Sie werden wie immer nichts tun. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen die Aktivitäten im Rahmen der Ausbildungsoffensive des Jahres 2003 ausdrücklich. ({0}) Die aktuellen Zahlen belegen die Notwendigkeit dafür überdeutlich. Es ist richtig, dass wir gemeinsam durch kurzfristig greifende Maßnahmen, die jetzt angebracht sind, versuchen, einiges auf den Weg zu bringen. ({1}) Auf einen Punkt will ich hinweisen, der von meinem Vorredner in einer Art und Weise aufgegriffen wurde, dass ich das so nicht stehen lassen kann: Wir halten das Engagement der Betriebs- und Personalräte, die in den Unternehmen hier und heute auch unter Verzicht der Belegschaften zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, für ungeheuer wichtig. Es war gut, dass wir das Betriebsverfassungsgesetz reformiert haben. ({2}) Diese Vertreter und deren Gewerkschaften, die das teilweise bis hin zu tarifvertraglichen Vereinbarungen machen, haben es nicht verdient, als Blockierer beschimpft zu werden. Sie brauchen vielmehr unsere Ermutigung und Unterstützung. Das sollte sich die Opposition endlich einmal merken. ({3}) Kollege Lensing, der Berufsbildungsbericht 2003 gibt wie viele Berufsbildungsberichte zuvor einen umfassenden und ausreichenden Überblick über die Struktur, die Lage und die Entwicklungsperspektiven der beruflichen Bildung. Ich bin mir ganz sicher: Wir werden darüber sowohl in den Ausschüssen als auch hier im Plenum diskutieren. Deshalb finde ich die Bemerkung, er gebe nichts her, wirklich deplatziert. ({4}) Es macht aber Sinn, meine Kolleginnen und Kollegen, sich einmal die finanzielle Seite der beruflichen Bildung anzuschauen: Was kostet die Ausbildungskrise den Staat und was wenden die ausbildenden Unternehmen auf? Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat in zwei Studien, die sich auf das Jahr 2000 bezogen - damals hatten wir übrigens ein Wachstum von drei Prozent; in jenem Jahr war eine gute Konjunktur zu verzeichnen -, Folgendes aufgelistet: Bund und Länder gaben 7,8 Milliarden Euro für die Finanzierung der beruflichen Bildung aus. ({5}) Es wurden 1 433 Millionen Euro zur Schaffung zusätzlicher betrieblicher Ausbildungsplätze ausgegeben. 6,2 Milliarden Euro wurden für die berufsbildenden Schulen ausgegeben, also für den schulischen Teil der dualen Ausbildung sowie für die Vollzeitberufsschulen. 154 Millionen Euro machte das Schüler-BAföG aus. Ich weise nur darauf hin, dass im Schuljahr 2000/01 über 203 000 Schülerinnen und Schüler die Berufsfachschulen besuchten, um einen Berufsabschluss zu erhalten, davon mehr als 36 000 nach BBiG und Handwerksordnung und über 167 000 nach Landesrecht. Vergegenwärtigt man sich diese Zahlen, muss man durchaus Angst haben, dass das duale System immer weiter verstaatlicht wird, allein was die finanzielle Seite angeht. ({6}) Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Im selben Jahr finanzierte die Bundesanstalt für Arbeit mit 3,3 Milliarden Euro die berufliche Ausbildung. Insgesamt wurden also circa 11 Milliarden Euro vom Bund, von den Ländern und der BA für die Durchführung der beruflichen Ausbildung ausgegeben. Die zweite Studie bringt zum Ausdruck, dass die Unternehmen für alle Azubis Nettokosten von 14,6 Milliarden Euro hatten. Stellt man diese beiden Zahlen gegeneinander, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass nicht immer mehr Ausbildungskosten von den Unternehmen und Betrieben auf die öffentliche Hand und die Bundesanstalt abgewälzt werden dürfen. Das können wir nicht weiter hinnehmen. ({7}) Deshalb hält es die SPD-Fraktion für richtig und notwendig, die Finanzierungsfrage in der beruflichen Bildung zu diskutieren und Perspektiven zu entwickeln. Auch die schon mehrfach angesprochene IAB-Untersuchung, die zu dem Ergebnis kam, dass von 1,2 Millionen ausbildungsfähigen Betrieben nur noch 640 000 ausbilden, führt uns zu der Überlegung, wie wir künftig die Schaffung ausreichender und qualitativ hochwertiger Ausbildungsplätze konjunkturunabhängiger machen können. Es muss das Ziel sein, dass eine ausreichende Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze konjunkturunabhängig angeboten wird; nur dann können wir allen Jugendlichen eine dauerhafte Perspektive bieten. ({8}) Es wird Sie nicht verwundern, dass wir natürlich auch tarifvertragliche Lösungen unterstützen. ({9}) Sie haben sich bewährt. Wir verkennen nicht die schwierige konjunkturelle Lage in der Bauindustrie, wissen aber, dass dies auch etwas mit einem überhöhten Bauboom im Zuge der Wiedervereinigung zu tun hat. Auch das muss reguliert werden. Im Grundsatz hat sich aber die Berufsbildungsabgabe auf tarifvertraglicher Grundlage in der Bauindustrie bewährt. Wir fordern die Tarifvertragsparteien auf, darüber nachzudenken, ob sie sie nicht auch in anderen Branchen einführen. Ich hielte dies für richtig. ({10}) Ich bringe den Begriff „Bonus-Malus-System“ bewusst in die Diskussion hinein. Was spricht eigentlich dagegen, die Unternehmen zu belohnen, die nach wie vor Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, aber diejenigen, die es könnten und nicht tun, ein bisschen an den Kosten zu beteiligen? Ich halte diesen Gedanken nicht für verkehrt. Wir möchten eine unbürokratische Regelung, die sehr schnell umzusetzen ist. Daran werden wir arbeiten; denn unser Ziel muss es sein, eine ausreichende Zahl von qualitativ hochwertigen Ausbildungsplätzen anzubieten. Ganz kurz zum FDP-Antrag: Wer meint, das JUMPProgramm habe nichts gebracht, und damit die Schaffung von 60 000 neuen betrieblichen Ausbildungsplätzen ignoriert, hat eine falsche Sichtweise. Das akzeptieren wir nicht. ({11}) Meine Redezeit geht zu Ende. ({12}) Daher beschränke ich mich darauf, noch auf einen Punkt hinzuweisen. Es ist völlig klar, dass wir eine Reform der beruflichen Bildung umsetzen müssen. Mit mehr Qualität in der beruflichen Bildung und mit einer besseren Wertigkeit der abgeschlossenen Ausbildungen von Facharbeiterinnen und Facharbeitern sowie Gesellinnen und Gesellen und durch verbesserte Prüfungsstrukturen leisten wir in Fortsetzung unserer Neuordnung einen absolut richtigen Beitrag, um mittel- und langfristig die berufliche Bildung auf den Pfad zu bringen, auf den sie gehört. ({13}) Das Neuordnungsverfahren in der Elektroindustrie zwischen IG Metall und dem Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie, in nur zehn Monaten sieben neue Elektroberufe entwickelt zu haben, sollte uns zu genau dieser Qualität ermutigen. Wir werden diesen Weg weiter gehen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/925, 15/1000, 15/1090 und 15/1130 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/925 soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 h sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: 26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und des Sozialgerichtsgesetzes - Drucksache 15/1070 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - Drucksache 15/1071 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlakts - Drucksache 15/1059 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Juni 2000 über ein Europäisches Fahrzeug- und Führerscheininformationssystem ({2}) - Drucksache 15/1058

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS im 15. Bundestag - Drucksache 15/873 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau Änderung der Geschäftsordnung des Deut- schen Bundestages - Drucksache 15/874 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung g) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2001 - Einzelplan 20 - - Drucksache 15/1047 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2002 - Einzelplan 20 - - Drucksache 15/1048 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Kranz, Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({1}), Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg - Drucksache 15/1091 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Eckhardt Barthel ({3}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska EichstädtBohlig, Volker Beck ({4}), Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen - Drucksache 15/1092 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27; die Zusatzpunkte 5 a und 5 b sowie Tagesordnungspunkt 14 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 27 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 22. April 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen Volksrepublik Algerien andererseits - Drucksache 15/884 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({7}) - Drucksache 15/1119 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({8}) Bernd Schmidbauer Dr. Werner Hoyer Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1119, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 17. Juni 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Libanesischen Republik andererseits - Drucksache 15/885 4006 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({10}) - Drucksache 15/1120 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({11}) Bernd Schmidbauer Dr. Werner Hoyer Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1120, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung von Legehennen ({12}) - Drucksache 15/905 ({13}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({14}) - Drucksache 15/1037 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Gitta Connemann Friedrich Ostendorff Hans-Michael Goldmann Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1037, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft - Drucksache 15/882 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({16}) - Drucksache 15/1036 Berichterstattung: Abgeordnete Matthias Weisheit Helmut Heiderich Dr. Christel Happach-Kasan Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1036, den Gesetzentwurf anzunehmen. In diesem Zusammenhang weise ich auf eine offensichtliche Unrichtigkeit in der französischen Fassung des Vertragstextes hin: In Art. 12 Abs. 2 muss anstatt auf Art. 12 Abs. 4 richtigerweise auf Art. 11 Abs. 4 verwiesen werden. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der soeben vorgetragenen, korrigierten Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 e: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Barbara Wittig, Dr. Dieter Wiefelspütz, Wilhelm Schmidt ({17}), Franz Müntefering und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Hartmut Büttner ({18}), Volker Kauder, Dr. Angela Merkel, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({19}), Katrin Dagmar GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({20}) - Drucksache 15/806 ({21}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel Bahr ({22}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({23}) - Drucksache 15/313 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({24}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({25}) - Drucksache 15/1003 Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig Hartmut Büttner ({26}) Gisela Piltz Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1003, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1003 empfiehlt der Ausschuss, den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-UnterlagenGesetzes auf Drucksache 15/313 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({27}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 92/81/EWG und der Richtlinie 92/82/EWG zur Schaffung einer Sonderregelung für die Besteuerung von Dieselkraftstoff für gewerbliche Zwecke und zur Annäherung der Verbrauchsteuern auf Benzin und Dieselkraftstoff KOM ({28}) 410 endg.; Ratsdok. 11571/02 - Drucksachen 15/173 Nr. 2.26, 15/401 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz ({29}) Georg Fahrenschon Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 27 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 36 zu Petitionen ({31}) - Drucksache 15/1017 Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/1110? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt. Wer stimmt für die Sammelübersicht 36? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 36 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 27 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 41 zu Petitionen - Drucksache 15/1018 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 41 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 42 zu Petitionen - Drucksache 15/1019 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 42 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 43 zu Petitionen - Drucksache 15/1020 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 43 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({35}) Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse - Drucksache 15/1135 Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 15/898 ({36}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung - Drucksache 15/1137 Berichterstattung: Abgeordneter Jens Spahn Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt auf Drucksache 15/1137, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({37}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele HillerOhm, Gabriele Lösekrug-Möller, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Umfassender Schutz der Walbestände - Verbot kommerziellen Walfangs konsequent durchsetzen - Drucksachen 15/995 ({38}), 15/1128 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Peter Bleser Dr. Christel Happach-Kasan Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/995 ({39}) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Enthaltung von CDU/CSU. Tagesordnungspunkt 14: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung ({40}) - Drucksachen 15/908, 15/1051 ({41}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({42}) - Drucksache 15/1125 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Weigel Thomas Dörflinger Ina Lenke Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1125, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU für die vom Deutschen Bundestag gemäß §§ 31 und 36 des Gesetzes über die Rundfunkanstalt des Bundesrechts „Deutsche Welle“ ({43}) zu wählenden Mitglieder des Rundfunkrates und des Verwaltungsrates der Deutschen Welle - Drucksache 15/1122 Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ - Drucksache 15/1123 Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({44}) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2002 - Drucksache 15/920 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Kollegin Marita Sehn, FDP-Fraktion, als erster Rednerin das Wort.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Weniger Petitionen - das war die dominierende Schlagzeile nach der Übergabe des Tätigkeitsberichtes des Petitionsausschusses für das Jahr 2002 an den Präsidenten des Deutschen Bundestages vor zwei Wochen. In der Tat ist die Entwicklung auffallend: 13 Prozent weniger Eingaben als 2001, gegenüber dem Jahr 2000 sogar 33 Prozent weniger. Wird der Petitionsausschuss deshalb arbeitslos? Meine sehr geehrten Damen und Herren, es besteht kein Grund zur Panik. Der Petitionsausschuss hatte und hat noch viel zu tun. So haben die Ausschussmitglieder im Auftrag des Deutschen Bundestages im Jahr 2002 22 658 Petitionen abschließend behandelt. Das heißt, auch wenn weniger Petitionen eingereicht wurden, konnte die Anzahl der bearbeiteten Petitionen um mehr als 5 000 gesteigert werden. Auch im vergangenen Jahr haben Ihre Kolleginnen und Kollegen im Petitionsausschuss eine beachtliche Arbeit geleistet, eine Arbeit, die sowohl für den Deutschen Bundestag als auch für die Bürgerinnen und Bürger von großer Bedeutung ist. ({0}) Trotzdem bleibt die Frage im Raum, warum die Zahl der Eingaben so stark rückläufig ist. Während Rot-Grün das wahrscheinlich gerne als Beleg für eine gute und bürgernahe Regierungspolitik sieht ({1}) - da können Sie ruhig klatschen -, wird die Opposition die Zahlen bestimmt anders interpretieren. Hier würde es heißen: Die Bürger haben resigniert und aufgegeben. Sie haben jegliches Vertrauen in die Regierung, den Staat und seine Institutionen verloren. ({2}) Auch ohne Blick in die Kristallkugel oder angespannte Lektüre des Kaffeesatzes kann ich Ihnen sagen: Beides stimmt so nicht. Ich glaube, darin sind wir uns einig. Bevor ich die Ursache bei anderen suche, frage ich mich zuerst: Was können wir, was kann der Deutsche Bundestag, was kann der Petitionsausschuss dafür tun, dass sich die Bürgerinnen und Bürger wieder vermehrt an uns wenden? Was können wir tun, damit der Petitionsausschuss als das gesehen wird, was er ist: das offene Ohr des Parlamentes für die Hinweise, Sorgen und Bitten der Bürgerinnen und Bürger? Ich bin davon überzeugt, dass der Petitionsausschuss ein Aktivposten für das Image des Deutschen Bundestages ist. ({3}) Wir haben im letzten Jahr 5 030 Eingaben zu Gesetzen erhalten. Bestehende Regelungen wurden kritisiert, auf Ungerechtigkeiten wurde hingewiesen, Unstimmigkeiten wurden moniert. Es ist eigentlich schade, dass diese Anregungen nicht noch stärker genutzt werden, zum Beispiel in Gesetzgebungsverfahren. Keine Regierung, ob Rot-Grün, ob Schwarz-Gelb, ist so gut, als dass sie von ihren Bürgern nicht noch lernen könnte. Oder nehmen Sie die 8 802 eingereichten Beschwerden über Behörden, abstruse Verwaltungsvorschriften und die tagtäglichen Erfahrungen unserer Bürgerinnen und Bürger im Umgang mit der Bürokratie. Wie oft erleben wir im Petitionsausschuss, dass Gesetze nicht dem Sinn, sondern den Buchstaben nach angewendet werden. Ich möchte, dass die Bürgerinnen und Bürger - auch die, die hier auf der Tribüne sitzen - es erfahren: Bei nahezu jeder zweiten Petition ist der Petitionsausschuss erfolgreich. Das ist nicht nur ein Erfolg für die Ausschussmitglieder und den Ausschussdienst, sondern für den Parlamentarismus in Deutschland. ({4}) Diese hohe Erfolgsquote verdanken wir nicht zuletzt vielen Behördenmitarbeitern, die nicht an einem bürokratischen Unfehlbarkeitsdogma festhalten, sondern bereit sind, gemeinsam mit uns nach einer Lösung zugunsten des Petenten zu suchen. Entgegen weit verbreiteten Vorurteilen wiehert auf deutschen Ämtern nicht nur der Amtsschimmel. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei den vielen engagierten und mutigen Behördenmitarbeitern bedanken, die in vielen Fällen dazu beigetragen haben, dass den Petenten geholfen werden konnte. ({5}) - Richtig, ich denke, an dieser Stelle darf man klatschen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen in der Öffentlichkeit verstärkt auf die Möglichkeit von Eingaben hinweisen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürger vermitteln, was wir für sie tun können. Wir können zum Beispiel Gesetzesänderungen einfordern, können dazu beitragen, dass ein behördlicher Ermessensspielraum zugunsten des Petenten genutzt wird und dass eingereichte Vorschläge und Ideen nicht ungelesen verschwinden, sondern von der Politik zur Kenntnis genommen werden. Der Petitionsausschuss will sich um eine noch stärkere Bürgernähe bemühen. Eine vereinfachte Eingabe von Petitionen per E-Mail könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein. Bürgernähe heißt für mich aber auch, unsere Beschlussempfehlungen und Briefe nicht in Ministerial- bzw. Juristendeutsch abzufassen, sondern in einer Sprache, die auch ohne Jurastudium oder Fremdwörterlexikon verständlich ist. Außerdem werden wir die Öffentlichkeit verstärkt über unsere Arbeit sowie die an uns herangetragenen Anliegen informieren. Der Petitionsausschuss ist der politische Seismograph in Deutschland. Wenn 3 577 Eingaben, also nahezu 25 Prozent aller Petitionen, den Geschäftsbereichen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit sowie des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zuzuordnen sind, dann ist das ein klares Signal dafür, dass hier etwas im Argen liegt und dringender Handlungsbedarf besteht. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, Vorsitzende eines Ausschusses sein zu dürfen, der sich in konstruktiver und parteiübergreifender Weise den Bitten, Vorschlägen und Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger annimmt. Ich freue mich, mit einem Ausschussdienst zusammenzuarbeiten, der dafür Sorge trägt, dass jede einzelne Petition gewissenhaft behandelt wird. Ich denke, wir alle können auf den Petitionsausschuss und die im Namen des Deutschen Bundestages geleistete Arbeit stolz sein. Schönen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion das Wort.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle kennen Elton John und Eros Ramazotti; ich unterstelle das einfach mal. Ich glaube, das wird so sein. ({0}) Wir kennen sie als Stars der Musikszene. Sind sie aber Petenten? Ich habe gelernt, dass Reden sogar im Bundestag spannend sein sollten. Deshalb gebe ich die Antwort erst am Ende meines Beitrages. Sie haben also hinreichend Zeit - zumindest einige Minuten -, zu überlegen, ob sie auch zu diesem spannenden Personenkreis gehören, über den wir gerade sprechen. Wir sprechen über die Arbeit unseres Petitionsausschusses im vergangenen Jahr. Dazu gehört, dass wir dem Sekretariat, das uns bei der Arbeit wirklich gut unterstützt hat, und allen, die dort tätig sind, herzlich danken. ({1}) In meinen Dank möchte ich allerdings auch jene Mitglieder einschließen, die bis zum September 2002 mitgearbeitet haben. Einige sind nicht mehr dabei. Besonders mein Vorgänger als Sprecher der sozialdemokratischen Abgeordneten, Bernd Reuter, hat sehr große Schuhe hinterlassen. Ich danke also auch denjenigen, die an dem Ergebnis mitgewirkt haben, heute aber nicht in unserer Runde sind. ({2}) Ähnlich wie die Frau Vorsitzende möchte ich die Aufmerksamkeit auf jene Petitionen richten, die nie den Schreibtisch eines Abgeordneten erreichen, für die also keine parlamentarische Beratung nötig ist. In 2002 waren dies immerhin mehr als 5 000. Das ist knapp ein Viertel aller bearbeiteten Petitionen. Sie wurden durch Rat, Auskunft, Verweisung und Materialübersendung erledigt. Was sagt uns das? Über das Sekretariat sagt uns das sicherlich, dass es gut arbeitet. Über die Behörden, die offenbar nicht bürgerfreundlich und kundenorientiert arbeiten, sagt uns das aber auch eine ganze Menge. So geht das nicht weiter. ({3}) Deshalb sage ich: Nicht nur der Vorschriftendschungel muss gelichtet werden, sondern auch die Beratung und Information müssen besser werden. Ich denke, wir brauchen keine Experten, die ihre fachliche Kompetenz dadurch unter Beweis stellen, dass sie schwierige Sachverhalte kompliziert darlegen. Wir wollen Fachleute, die ihren Expertenstatus dadurch nachweisen, dass sie komplizierte Sachverhalte verständlich machen. Das trifft manchmal auch uns Abgeordnete, zum Beispiel, wenn wir Stellungnahmen der Ministerien erhalten. Auch sie sind durchaus mit Fachchinesisch gespickt. Im ganzen Haus sind wir der Meinung, dass wir das zukünftig nicht mehr durchgehen lassen wollen. Auch hier brauchen wir Klarheit. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen direkten Draht zum Parlament, den Petitionen nun einmal darstellen, wollen wir intensivieren. Gute Beispiele sind hierfür hilfreich. Ich erlaube mir, über ein Beispiel aus der aktuellen Arbeit zu berichten. Dazu müssen Sie alle sich - das wird mühelos gelingen - in die Lage einer Bäuerin versetzen, die, so schrieb sie, dies mit Leib und Seele ist. Seit Anfang der 70er-Jahre hat sie gemeinsam mit ihrem Mann in einem eigenen landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet. 1988 verstarb der Ehemann und die Witwe - drei kleine Kinder waren auch noch da - entschloss sich, den Bauernhof alleine weiter zu bewirtschaften. So weit, so gut. Was sie nicht bedachte: Bei Abgabe des Betriebes hätte ihr eine Hinterbliebenenrente zugestanden. Was sie nicht wusste: 1995 änderte sich mit der Einführung der Bäuerinnenrente das Hinterbliebenenrecht. Was sie dann erlebte: Ihr ursprünglicher Anspruch auf Hinterbliebenenrente wäre höher gewesen als jener, den sie nun - nach neuem Recht und nach weiterer Einzahlung in die Alterskasse - erhalten soll. Das verstand die Petentin nicht und sie fand es ungerecht. Wir auch. Also wurde den zuständigen Ministerien und den Fraktionen diese Petition als Material überwiesen, damit Abhilfe geschaffen werden kann. Vor zwei Tagen erreichte mich die Nachricht: Problem erkannt, Kritik berechtigt. Für Abhilfe sorgt eine Gesetzesänderung noch in diesem Jahr. Nun freut sich die Petentin hoffentlich; wir tun dies. Ohne sie wäre diese Gerechtigkeitslücke nicht geschlossen worden. Dafür, finde ich, müssen wir dankbar sein. ({5}) Ich bin Ihnen abschließend noch eine Antwort schuldig, wie das mit Eros Ramazotti und Sir Elton John war. Die Antwort lautet: Ja. Ich möchte das gerne noch ausführen - so viel Redezeit bleibt mir gerade noch -: Mit 12 000 anderen Musikern sind sie Petenten, allerdings bei der EU. Sie fordern eine geringere Mehrwertsteuer auf Musik-CDs. Begründung: CDs sollen als sozial notwendige Kulturgüter gelten. Ich bin auf das Ergebnis gespannt. Dem Ausschuss wünsche ich weiterhin kollegiale Zusammenarbeit. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Baumann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte zum Jahresbericht des Petitionsausschusses gibt mir die Gelegenheit, mich namens der CDU/CSU-Fraktion bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für die kompetente, und, wie ich denke, kollegiale Zusammenarbeit ganz herzlich zu bedanken. ({0}) Der gleiche Dank gilt den Mitgliedern meiner Arbeitsgruppe für ein sehr gutes Miteinander. Ich möchte auch unserem ehemaligen Kollegen Hubert Deittert, der vier Jahre lang das Amt des Obmannes in der Fraktion innehatte, ganz herzlich danken. Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht, das in Art. 17 des Grundgesetzes verankert ist, aber dennoch gelegentlich unterschätzt wird. Das von der Verfassung garantierte Recht, sich jederzeit mit Bitten und Beschwerden schriftlich an das Parlament, die Volksvertretung, wenden zu können, verdient meines Erachtens eine größere Bedeutung in unserer Gesellschaft. Die große Zahl von Eingaben jedes Jahr macht deutlich, welche Hoffnungen die Menschen in unseren Ausschuss setzen. Oft ist es ihr letzter Ausweg. Es ist erfreulich, festzustellen, dass der Petitionsausschuss in mehr als der Hälfte der Fälle - meine Vorredner sagten es bereits - erfolgreich sein konnte. Manche Petitionen können allerdings erst nach mehreren Wahlperioden positiv abgeschlossen werden. Dies hat uns das Beispiel des Truppenübungsplatzes Vogelsang in der Eifel gezeigt. Es gibt aber auch Petitionen, die vom Ausschuss an die Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen werden - also mit dem höchsten Votum - und sich trotzdem nicht zu einem guten Ende führen lassen. Hier wünsche ich mir manchmal, dass die Ministerien mehr Kraft für sinnvolle neue Lösungen aufwenden, als an Althergebrachtem festzuhalten. ({1}) Beeindruckender als die Anzahl der neu eingereichten Petitionen in 2002 mit etwa 14 000 finde ich die Zahl der über 22 000 erledigten Petitionen, von denen uns der Bericht des Ausschusses Kenntnis gibt. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch die gute Zusammenarbeit unter den Fraktionen im Ausschuss. Das ist in anderen Ausschüssen nicht ganz so. Ich glaube, diese Zusammenarbeit tut uns wirklich gut. ({2}) Wenn sich Bürger mit Beschwerden über verschiedene Verwaltungen an den Ausschuss wenden, sind Lösungen im Ausschuss in der Regel im Konsens der Fraktionen möglich. Anders sieht es bei Bitten um gesetzgeberische Maßnahmen aus. Dabei spielen die Mehrheitsfraktionen natürlich ihre Mehrheit aus, und zwar leider oft nicht im Sinne des Petenten. ({3}) - Das müssen Sie sich leider sagen lassen. ({4}) Die besonderen Befugnisse des Ausschusses haben sich für unsere Arbeit immer wieder als nützlich erwiesen, zum Beispiel einen Ortstermin wahrzunehmen, Akten einzusehen oder einen Vertreter der Bundesregierung anzuhören. Auch dabei kann man Erstaunliches erleben. Die Mehrheitsfraktionen lehnten zum Beispiel einen Ortstermin in Bayreuth kategorisch ab, bei dem es um eine Petition zum Erhalt eines Bundeswehrstandortes ging. Dabei wäre dadurch das Ansehen des Ausschusses vor Ort gestärkt worden. ({5}) - Das war kein Wahlkampftermin, Herr Kollege. Ein anderes Beispiel ist ein Minister, der in Fernsehtalkshows das Petitionsrecht preist und die Arbeit des Ausschusses würdigt, aber der Ladung des Ausschusses nicht folgt und fadenscheinige Gründe vorschiebt. ({6}) Es wirft kein gutes Licht auf die Bundesregierung insgesamt, wenn Worte und Taten auseinander klaffen. Auch hier sollte der Respekt vor dem Ausschuss und dem Parlament gewahrt werden. ({7}) Dass die Mitgliederzahl im Petitionsausschuss in dieser Wahlperiode reduziert worden ist, ist nicht gerade ein positives Signal. Dadurch haben wir Abgeordnete natürlich mehr Petitionen zu bearbeiten. Zudem sind wir in mindestens einem anderen Ausschuss tätig. Das ist schon ein ganzer Packen Arbeit. Ich möchte auch daran erinnern, dass in der vergangenen Wahlperiode mehrere Abgeordnete über 1 000 Petitionen als Berichterstatter bearbeitet haben. Das ist schon ein ganzes Stück Arbeit. Trotz alledem ist die Tätigkeit im Petitionsausschuss gerade für neu gewählte Abgeordnete eine sehr gute Schule, erhält man doch nirgendwo sonst einen so guten Überblick über Sorgen und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Nirgendwo spiegeln sich Sinn und Unsinn der Gesetzgebung, Licht und Schatten der Verwaltungstätigkeit in unserem Lande so anschaulich wider wie im Petitionsausschuss. ({8}) Daher würde ich mir wünschen - die Vorsitzende hat es bereits gesagt -, dass unsere Arbeit ein größeres Echo in der Öffentlichkeit findet. Das Presseecho auf die Übergabe des Jahresberichtes an den Bundestagspräsidenten in der vorletzten Woche war mehr als dürftig. Als Abgeordneter aus einem der neuen Länder finde ich es erfreulich, dass sich der Ausschuss in den vergangenen Jahren immer stärker als Anwalt auch dieser Bürgerinnen und Bürger bewährt hat. Bekanntlich nutzen die Ostdeutschen die Möglichkeit der demokratischen Teilhabe am intensivsten. Die Sachsen zählen zu den fleißigsten Petenten. So kamen im Jahr 2002 allein aus Sachsen 319 Eingaben pro eine Million Einwohner an den Deutschen Bundestag. Die meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern sind Hilferufe über bürokratisches Dickicht in unserer Gesetzgebung. So bitten zum Beispiel Petenten um Aufklärung über unverständliche Rentenbescheide oder eine allein erziehende Mutter fragt, warum vom Unterhaltsvorschuss für ihr erstes Kind die Hälfte des Kindergeldes wieder abgezogen wird. Eine traurige Aktualität im vergangenen Jahr hatte die Bitte einer Bürgerinitiative, die ein Ende des Elbeausbaus in Sachsen forderte. Der Petitionsausschuss informierte sich vor Ort. Die Warnung der Petenten, eine höhere Fließgeschwindigkeit des Flusses habe größere ökologische Folgen, hat sich wenige Wochen später durch die Jahrhundertflut als wahr herausgestellt. Viele Petitionen aus den neuen Ländern haben mit der Aufarbeitung des SED-Unrechts zu tun. Vor allem von der DDR-Diktatur politisch Verfolgte, deren Renten zum Teil unter Sozialhilfeniveau liegen, wenden sich an uns. Morgen hat dieses Parlament erneut die Möglichkeit, eine Regelung für SED-Opfer nach einem Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf den Weg zu bringen. Es erreichen den Ausschuss immer wieder Enteignungsfälle, für die im Einigungsvertrag keine Regelung getroffen worden ist. So steht bei den stecken gebliebenen Entschädigungen immer noch eine Lösung aus. Die Bürger haben vom untergegangenen Staat, der DDR, Geld versprochen bekommen und es nicht erhalten; im jetzigen Staat findet sich niemand, der zuständig ist. Aber selbst in Vermögensfällen, die im Einigungsvertrag geregelt sind, kommen viele nicht an ihr Ziel. Der Jahresbericht 2002 nennt einen menschlich ganz besonders bewegenden Fall, den ich ganz kurz schildern möchte: Ein mittelständischer Unternehmer aus Sachsen wird 1972 enteignet, flüchtet in den Westen und baut dort einen neuen Betrieb auf. Als die Mauer fällt, kehrt er in seine Heimat zurück, um den alten Betrieb wieder aufzubauen. Obwohl alle Voraussetzungen für eine Rückübertragung erfüllt sind und der Betroffene fristgemäß den Antrag gestellt hat, bekommt er seinen Betrieb nie zurück. Stattdessen wird er über Jahre von der Treuhandanstalt und vom Vermögensamt mit ungerechtfertigten Forderungen hingehalten. Sein ehemaliges Unternehmen war nicht ganz so schlecht und hat nach der Wende noch produziert. Es wird danach von der Treuhand liquidiert. Die Maschinen werden unter dubiosen Umständen ins Ausland verkauft. Jahrelange Gerichtsverfahren bringen außer Kosten keinen Erfolg. In diesem Fall hat der Ausschuss über alle Parteigrenzen hinweg alle seine Befugnisse in einem Maße ausgeschöpft, wie das nur selten der Fall ist: Wir führten Gespräche mit der Treuhand, den Vermögensämtern und dem Bundesfinanzministerium und nahmen bei allen zuständigen Behörden Akteneinsicht. Wir mussten auch den Petitionsausschuss des Sächsischen Landtages bemühen, weil nur dort eine Landesbehörde vorgeladen werden konnte. Nur dank der guten Kooperation der beiden Petitionsausschüsse war es schließlich möglich, alle Beteiligten an einen Tisch in Berlin zu bringen. Auf eine Entschädigung, auf die wir vorher monatelang vergeblich gehofft hatten, konnten wir uns jetzt einigen. Nach zwölf Jahren hat damit ein Petent natürlich nicht mehr sein Eigentum, aber wenigstens eine angemessene Entschädigung erhalten. Meine zusammenfassende Einschätzung unserer Arbeit im Jahre 2002 ist: Wir haben durch fleißige Arbeit und, wie ich denke, durch sachlichen Meinungsstreit in den meisten Fällen vielen Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land helfen und damit ein Stück Vertrauen in unsere demokratische Grundordnung für sie wiedergewinnen können. Dies sollte uns Ansporn sein, unsere Arbeit auch im neuen Jahr der Tätigkeit des Petitionsausschusses mit gleicher Intensität fortzusetzen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beschwerden und Meckereien sind die Muskeln der Schwachen, sagt ein afghanisches Sprichwort. Die Beschwerden und Meckereien, die wir heute debattieren, sind aber ein bedeutendes Stück deutscher Demokratie. Im Tätigkeitsbericht über die an den Deutschen Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden lassen die Bürgerinnen und Bürger die Muskeln spielen und sie finden im Petitionsausschuss einen starken Anwalt ihrer Interessen im Parlament. Der Petitionsausschuss hat auch im Jahr 2002 seine Erfolgsstory fortgeschrieben. Der Jahresbericht des Petitionsausschusses erweist sich einmal mehr als ein Bestseller der Demokratie. Mehr als 22 000 Eingaben wurden - das wurde bereits erwähnt 2002 vom Petitionsausschuss bearbeitet und zum Abschluss gebracht. Hinzu kommt, dass auch bei fast jeder zweiten Petition etwas für die Petenten erreicht werden konnte. Das ist wirklich eine beeindruckende Bilanz. ({0}) Ein neues Problem zu entdecken ist dabei genauso wichtig, wie die Lösung für ein altes zu finden. Der Petitionsausschuss leistet beides in hervorragender Weise. Das war gute Arbeit. Auch ich möchte mich dem Dank an die Abgeordneten der vorigen Wahlperiode anschließen, die dies mit geleistet haben. Mein Dank gilt auch dem hervorragend arbeitenden Ausschussdienst und Ausschusssekretariat des Petitionsausschusses. ({1}) Mein allererster Dank gilt aber den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Denn sie sind schließlich die Autoren dieses Bestsellers der Demokratie. Nur mit ihrer Hilfe, ihren Anregungen und Ideen, Hinweisen und Beschwerden kann die Arbeit gelingen. Der Petitionsausschuss beackert dabei ein sehr weites Feld. Mein Vorgänger als Obmann des Bündnisses 90/ Die Grünen im Petitionsausschuss, der verehrte Kollege Helmut Wilhelm, hat den schönen Satz geprägt, der Petitionsausschuss sei zuständig von Atombombe bis Zahnplombe. Auch im Berichtszeitraum finden wir wieder Petitionen von Atomkraft bis Zahnbehandlung. Auch ich hatte schon Petitionen zu geschundenen Asylbewerbern, traurigen Eisbären und zornigen Wandergesellen zu bearbeiten. Ob es um die verspätete oder zu geringe Rentenauszahlung, überhöhte Krankenkassenbeiträge oder die Einstufung in die Pflegeversicherung geht - tagtäglich bemüht sich der Ausschuss - wie wir sehen, oft mit Erfolg - um die Lösung konkreter Probleme der Bürgerinnen und Bürger. Petitionen sind aber auch der Stoff, aus dem Gesetze sind. In diesem Zusammenhang gehe ich auf Ihre Ausführungen ein, Herr Baumann. Denn wenn sich Menschen mit Vorschlägen zu Gesetzesänderungen und -verbesserungen an den Ausschuss wenden, wird dies aufgegriffen. Oft stand am Anfang eines neuen Gesetzes eine Petition. Ich nenne als aktuelles Beispiel nur den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum verstärkten Kundenschutz bei so genannten 0190-Servicenummern. ({2}) Als migrations- und flüchtlingspolitischer Sprecher meiner Fraktion richtet sich mein besonderes Augenmerk auf die zahlreichen Petitionen - im Berichtszeitraum waren es circa 500 - aus dem Bereich des Ausländer- und Asylrechts. Die Praxis hat hierbei gezeigt, dass die Anforderungen, die an den Petitionsausschuss gerichtet werden, oft weit über das hinausgehen, was wirklich geleistet werden kann. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen ist der Petitionsausschuss kein „Härtefallausschuss“ und kann keine Entscheidungen außerhalb der gesetzlichen Grundlagen treffen, auch wenn humanitäre Gründe oder eine durchaus gelungene Integration dafür sprechen. Zum anderen werden Petitionen oft sehr spät - zum Beispiel erst kurz vor der Abschiebung - eingereicht oder es liegen keine Rechtsverstöße durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vor. Dennoch gibt es im Einzelfall auch wichtige, manchmal sogar lebensrettende Erfolge. Zum Beispiel konnte eine lebensbedrohliche Abschiebung in letzter Sekunde verhindert werden. Im Sommer bekam der Petitionsausschuss einen dringenden Hilferuf von Hilfsorganisationen, die von einer bevorstehenden Abschiebung eines kurdischen Kriegsdienstverweigerers berichteten. Das ist insofern ein sehr dramatischer Fall, als der Betreffende schon einmal in die Türkei abgeschoben und dort gefoltert wurde. Als Folge davon war der Petent inzwischen psychisch schwer krank und extrem selbstmordgefährdet. Der Asylfolgeantrag wurde dennoch abgelehnt. Erst eine entsprechende Petition hat dazu geführt, dass ein Vertreter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg denjenigen persönlich aufgesucht hat. Er kam ganz selbstverständlich zu dem Schluss - man höre und staune! -, es bestehe „kein Zweifel, dass der Antragsteller den vorgetragenen Folterungen ausgesetzt war“. Der Asylfolgeantrag wurde da-raufhin genehmigt. Ich meine - ich hoffe, dass das auch für Sie gilt -, dass sich allein für diesen Fall die Arbeit des Petitionsausschusses im letzten Jahr schon gelohnt hätte. ({3}) Es gibt aber auch ganz andere außergewöhnliche Fälle. Wir befreien, wenn es sein muss, sogar Eisbären, zum Beispiel Kenneth und Boris. Das sind zwei Eisbären der weltweit gerühmten Eisbärendressur des ehemaligen DDR-Staatszirkus. Der Staatszirkus wurde 1990 abgewickelt und die beiden Bären wurden an einen dubiosen mexikanischen Zirkus verkauft. Schon bald gab es Besorgnis erregende Informationen über die Art und Weise der Haltung und Pflege der beiden Eisbären, die in Form einer Petition an uns herangetragen wurden. Die beiden Bären wurden geschlagen und ausgepeitscht sowie ohne Wasser bei rund 45 Grad Hitze in kleinen, verschmutzten Käfigen gehalten. In einer Petition wurde die Auflösung des Kaufvertrags zwischen dem Zirkus und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben gefordert. Die damalige Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, Frau Altmann, hat sich der Sache persönlich angenommen. Sie hat mithilfe des Auswärtigen Amtes die beiden Eisbären gerettet. Inzwischen sind sie in einem anständigen Zoo in Nordamerika untergebracht. ({4}) Ich möchte noch kurz auf Bayreuth eingehen, obwohl ich das um des Friedens willen eigentlich nicht tun wollte. Wenn aber Herr Baumann das darf, dann darf auch ich das. Die Forderung nach einem Ortsbesichtigungstermin, den die Opposition im Petitionsausschuss erhoben hatte, war, wie ich finde, ganz eindeutig vom Wahlkampf geprägt; ({5}) denn mit einer Ortsbesichtigung hätten wir den Menschen vor Ort signalisiert, dass dort eventuell noch etwas zu machen wäre. Sie wissen aber ganz genau, dass dort nichts mehr zu machen war. Das Ministerium hatte entschieden und die Sache war gelaufen. Deswegen - und aus keinem anderen Grund - haben wir das abgelehnt. ({6}) Damit möchte ich die Misstöne beenden. Ich finde, dass der Petitionsausschuss ein Leuchtturm im Paragraphenmeer ist. Er weist Wege aus aussichtslosen Situationen und sorgt auch dafür, dass so manchem von uns, mich eingeschlossen, ein Licht aufgeht. Damit das Licht dieses Ausschusses in Zukunft noch heller strahlen möge, möchte ich als Katholik - ganz im Sinne des gerade stattgefundenen Ökumenischen Kirchentags Martin Luther zitieren: Bittet, rufet, schreiet, suchet, klopfet, poltert - und das muss man für und für treiben ohne Aufhören! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guttmacher von der FDP-Fraktion.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Recht eines jeden Bürgers, sich mit seinen Sorgen und Nöten an das Parlament zu wenden, besteht, seit es die Bundesrepublik Deutschland gibt, und ist im Grundgesetz verankert. Eine wesentliche Funktion unserer parlamentarischen Demokratie ist, dass wir, der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, den Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verhelfen, Unrecht verhindern und dort, wo es entsteht, beseitigen. In diesem Prozess - das sage ich als jemand, der schon in der letzten Legislaturperiode im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages gearbeitet hat - hat unser Ausschuss gute kollektive Arbeit geleistet. Ich danke Ihnen als liberaler Abgeordneter dafür, dass es zu einer solch guten Zusammenarbeit kam. Das hat sich natürlich auch auf das Ergebnis des Ausschusses ausgewirkt. ({0}) Art. 17 des Grundgesetzes gewährt jedermann das Recht, Bitten und Beschwerden einzureichen. Damit gilt das Petitionsrecht für Erwachsene, für Minderjährige, für Ausländer, aber auch für Staatenlose. Man kann eine Petition für sich selbst, für andere oder in einem gesellschaftlichen Interesse bei uns einreichen. Der Petitionsausschuss hat Erfahrungen dabei sammeln können, die Sorgen und Nöte der Petenten zu erfassen, aber auch Lücken und Schwachstellen im Gesetzgebungsverfahren und beim Auf-den-Weg-Bringen von Verordnungen zu erkennen und Abhilfe zu schaffen. Im Jahr 2002 wurden mit 13 832 Petitionen zwar 12 Prozent weniger Petitionen eingereicht. Zum Bereich des früheren Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung gab es aber mit 25 Prozent nach wie vor die meisten Petitionen. So weist der Petitionsbericht 2002 bei den Sammel- und Massenpetitionen zur Kritik an der Rentenüberleitung für diejenigen, die in der DDR im Gesundheits- und Sozialwesen gearbeitet haben, rund 29 900 Unterschriften aus. Das Gleiche trifft für die Sammel- und Massenpetitionen zur Kritik an den verschiedenen rentenrechtlichen Begrenzungsregelungen für ehemalige Angehörige der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR zu, bei denen knapp 30 000 Unterschriften zu verzeichnen waren. Der Petitionsausschuss muss demnächst die im Jahr 2002 eingebrachte Petition zur Anerkennung der dem mittleren medizinischen Personal durch DDR-Recht zuerkannten Sonderversorgung bewerten und darüber entscheiden. Ich möchte gerade auf diese Petition etwas näher eingehen. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands waren Regelungen für die Überleitung der Anwartschaften der so genannten Bestandsrentner und für jene zu treffen, die in Zukunft das Rentenalter erreichen würden. Die Regelungen hatten zu berücksichtigen, dass es sich bei den in der DDR erworbenen Anwartschaften um solche handelt, die nach dem Abschluss des Einigungsvertrags - wie zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1999 festgestellt - dem Eigentumsschutz unterliegen. Das Einkommen des mittleren medizinischen Personals der früheren DDR war außerordentlich gering. Das führte dazu, dass diese Personen nicht in die 1971 eingerichtete Freiwillige Zusatzrentenversicherung aufDr. Karlheinz Guttmacher genommen werden konnten, weil sie eben nicht den Schwellenwert eines Gehalts von 600 Mark der DDR erreichten. Die Rentenverordnung der DDR sah vor, dass bei den betreffenden Angehörigen des mittleren medizinischen Personals die Dienstjahre mit dem Faktor 1,5 multipliziert wurden, damit sie dann eine angemessene Rente bekamen. Bis Ende 1996 wurden nach dem Rentenüberleitungsgesetz die Dienstjahre weiter mit dem Faktor 1,5 ermittelt und eine entsprechend hohe Rente gezahlt. Ohne jede Begründung wurde nach dem 1. Januar 1997 Vertrauensschutz nicht mehr gewährt. Die Verkürzung der Rente durch den Wegfall des Steigerungsbetrags liegt je nach Versicherungsbiografie des Betroffenen zwischen 150 und 200 Euro. Unter Berücksichtigung der Festlegung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Rentenanwartschaft durch gesetzgeberische Eingriffe durchschnittlich um nicht mehr als 10 Prozent gemindert werden darf, wird in dieser Petition gefordert, dass diejenigen, die nach dem 1. Januar 1997 in Rente gegangen sind oder noch gehen werden, denjenigen, die davor in Rente gegangen sind, gleichgestellt werden. Ich hoffe, dass der Petitionsausschuss ähnlich wie bei der Befürwortung der Sonderversorgung der 35 000 Beschäftigten des früheren Zeiss-Kombinats im Jahre 1994 die Kraft und Stärke zeigt, durch eine Korrektur der Gesetzeslage - in diesem Fall müssten wir eine kleine Korrektur am Sozialgesetzbuch VI anbringen - den Betroffenen des mittleren medizinischen Personals beim Eintritt in die Rente Bestandsschutz zu gewähren. Als wohl dienstältester Abgeordneter im Petitionsausschuss stelle ich fest, dass unser Ausschuss als „Kummerkiste der Nation“ sehr gut nachgefragt wird. In keinem anderen Ausschuss ist die Palette der Probleme, die gelöst werden sollen, so breit wie im Petitionsausschuss. Die damit verbundenen Aufgaben können die Mitglieder des Petitionsausschusses allein nicht bewältigen. Ich danke von Herzen allen Mitarbeitern des Ausschussdienstes, des Ausschusssekretariats, aber auch den beiden Vorsitzenden im Jahr 2002, Frau Lüth und Frau Sehn, meiner Fraktionskollegin, für die konstruktive Zusammenarbeit. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Göllner von der SPD-Fraktion.

Uwe Göllner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002943, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich dem Dank an das Sekretariat natürlich anschließen. Herr Guttmacher, ich will in diesen Dank aber auch unsere eigenen Mitarbeiter einbeziehen, ohne die wir dieses Pensum nicht leisten könnten. ({0}) Außerdem möchte ich mich bei den Damen und Herren Parlamentarischen Geschäftsführern ausdrücklich bedanken, die es, soweit ich mich erinnern kann, zum ersten Mal ermöglicht haben, dass eine Debatte über die Arbeit des Petitionsausschusses in der Kernzeit stattfindet. ({1}) Herr Baumann, ich war in der letzten Wahlperiode nicht nur im Petitionsausschuss, sondern auch im Verteidigungsausschuss Mitglied. In dieser Funktion habe ich an der Schließung des Standortes Bayreuth mitgewirkt. Wir hatten im Verteidigungsausschuss die Wahl zwischen zwei in der gleichen Region liegenden Standorten: Wir haben uns gegen Bayreuth ausgesprochen. Diese Entscheidung zu treffen war unvermeidbar; sie ist endgültig und unumkehrbar. Diese Entscheidung auf dem Petitionswege verändern zu wollen haben wir als einen untauglichen Versuch betrachtet, das Petitionsverfahren zu missbrauchen. Das war aus meiner Sicht, Herr Baumann, auch dem von Herrn Guttmacher gerade angesprochenen Klima nicht zuträglich. Man sollte mit solchen Dingen vorsichtiger umgehen. ({2}) Ich sehe die wichtigsten Aufgaben des Petitionsausschusses im Grundrecht eines jeden Bürgers, sich, erstens, an das höchste Parlament in seinem Nationalstaat wenden und, zweitens - daraus resultierend -, auf eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Anliegen wirklich vertrauen zu können. ({3}) Gerade in einer repräsentativen Demokratie wie der unseren wirkt das Petitionsrecht in ganz besonderer Weise nach außen. Es ist, wie ich meine, das wichtigste Institut parlamentarischer Öffentlichkeitsarbeit. Außerhalb von Wahlterminen steht der Deutsche Bundestag so jedem Mann und jeder Frau offen. Seine Bedeutung ist unter anderem daran erkennbar, dass wir im letzten Jahr, das diesen Bericht umfasst, allein 5 000 Petitionen bearbeitet haben, die sich mit laufenden Gesetzgebungsverfahren befassten. Einige der Eingaben, die ich persönlich im letzten Jahr zu bearbeiten hatte, zielten darauf ab, unser Zivilrecht zu durchforsten, das seit rund 100 Jahren in manchen Paragraphen unverändert ist. Beispielsweise führte ein Petent in seiner inzwischen 28. Petition die §§ 166 bis 168 des Strafgesetzbuches an, die er für historisch und kulturell überholt hielt. Wir haben uns mit dieser Petition befasst. Das Justizministerium hat uns die Entscheidungsgrundlagen verschafft. Der Petent wurde darauf hingewiesen, dass diese Paragraphen nach wie vor ihre Gültigkeit haben; denn sie befassen sich mit dem Schutz von Weltanschauung, mit dem Strafmaß bei Zuwiderhandlung und mit dem Schutz der Totenruhe. Außerdem wurde er darauf hingewiesen, dass zeitgemäße Auslegungen gegebenenfalls erfolgen werden. Ich erwähne dieses Beispiel, weil es zeigt, dass nicht jede Petition unbedingt zum Erfolg führt. ({4}) Eine andere Petition mit gesetzesinitiativem Charakter haben wir hingegen nicht abgeschlossen, sondern den Fraktionen zur Prüfung überwiesen. Sie wurde von einem Krankenhausarzt eingereicht, der für „Ärzte ohne Grenzen“ bereits mehrfach im Ausland unterwegs war. Dadurch hat er wie viele seiner Kollegen für das Ansehen der Bundesrepublik eine Unmenge getan, ohne eine gesetzliche Arbeitsplatzgarantie nach seiner Rückkehr zu haben. In anderen europäischen Ländern ist das anders; dort führt der Einsatz im Ausland gerade dazu, dass die Ärzte in ihrer persönlichen Karriere bevorteilt werden. Das Beispiel des im Ausland tätigen Arztes hat uns dazu veranlasst, das Petitionsverfahren nicht abzuschließen, sondern es als Grundlage für Veränderungen an die zuständigen Ministerien zu überweisen. Gerade vor dem Hintergrund, dass das letzte Jahr das „Jahr des Ehrenamtes“ war, war dies ein besonders wichtiger Anstoß. Zugegeben: Das Petitionswesen wirkt im Stillen, weil es überwiegend die persönlichen Beschwerden einzelner Bürger behandelt. Ich merke das jede Woche, wenn die schwarzen Kartons mit den neuen Petitionen kommen. Das bedeutet, dass man sich immer wieder neu hineinvertiefen und sich Zeit nehmen muss; unbemerkt von der Öffentlichkeit, doch bemerkt vom Petenten, dem wir vielleicht helfen können. Den berühmten Blumentopf gewinnen wir mit unserer Arbeit nicht; das machen wir eher in den Fachausschüssen. Aufgrund dessen dauerte es immer eine gewisse Zeit, bis der Petitionsausschuss nach einer Bundestagswahl besetzt war. Beim letzten Mal war das anders: Zum einen fanden sich unter den alten und neuen Abgeordneten zügig genügend Mitglieder, die in den Petitionsausschuss wollten, zum anderen war vielleicht die Tatsache hilfreich, dass aufgrund der Verkleinerung des Deutschen Bundestages auch der Petitionsausschuss kleiner geworden ist. Das führt allerdings dazu, dass wir nun mit 25 Mitgliedern die gleiche Arbeit leisten, die wir vorher mit 29 Mitgliedern geleistet haben. Die Statistik des letzten Jahres - Herr Guttmann hat schon darauf hingewiesen weist aus, dass die Eingabenzahl um exakt so viel Prozent geringer war, wie der Bundestag weniger Mitglieder hat. Ich führe das darauf zurück, dass die Petenten einsichtig sind und uns künftig mit genauso viel Arbeit belegen. ({5}) Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorweg möchte ich als jüngerer, neu im Bundestag vertretener Abgeordneter sagen, dass ich in der Arbeit im Petitionsausschuss die Chance sehe, einen Einblick in viele verschiedene Themenbereiche und in die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern aus allen Schichten und Regionen Deutschlands gewinnen zu können. Wir beschäftigen uns mit Themen wie - darüber haben wir gerade schon gesprochen - die artgerechte Haltung von Eisbären, die Euro-Umstellung, die Entschädigung für Wertpapiere der BRABAG von 1940 bis hin zu so komplexen Themen wie die Anschläge vom 11. September. Es gibt Petitionen im Umfang von mehreren Aktenordnern, mit Videokassetten, aber auch Petitionen, die auf eine Postkarte oder einen Bierdeckel gekritzelt wurden. Gerade die letzteren Beispiele machen deutlich, wie leicht und unkompliziert es für die Bürgerinnen und Bürger ist, ihr Grundrecht wahrzunehmen. Für mich als Wahlkreisabgeordneten ist es spannend, die Petitionen aus dem Wahlkreis zu begleiten, beispielsweise eine Petition aus Rheine, in der es um die Nachfolgenutzung für Bundeswehrliegenschaften und um den Erhalt einer Ausbildungsstätte der Bundeswehr geht. Gerade in Zeiten, in denen die Ausbildungsplatz Suchenden wenig Erfolg haben, ist eine solche Werkstätte für 56 Azubis eine wichtige Einrichtung. Ich hoffe, dass wir im Ausschuss zu einer vernünftigen Lösung kommen. Ein besonderes Augenmerk möchte ich darauf richten, dass der größte Teil der Petitionen aus dem Bereich der sozialen Sicherung, insbesondere der Kranken- und Rentenversicherung, kommt. Wie sollte es auch anders sein? Auf diesem Gebiet besteht das größte Finanzvolumen unserer Haushalte. Ein Großteil der Bevölkerung ist mehr oder minder stark in Kontakt mit diesen sozialen Sicherungssystemen. Nahezu 90 Prozent der Menschen in Deutschland sind gesetzlich krankenversichert. In Deutschland haben wir es fast zu einer perversen Perfektion getrieben: In der Absicht, eine allumfassende Einzelgerechtigkeit herzustellen, haben wir eine hoch komplexe, durchregulierte und intransparente Mammutbürokratie geschaffen. Es gibt in diesem Zusammenhang zahlreiche Eingaben, etwa zur Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherungen. Den Menschen ist es nicht verständlich, warum die Krankenkassen sich beispielsweise weigern, die Kosten für eine Krebsvorsorgetherapie oder für eine Stoßwellentherapie zu erstatten, wenn sie sich im Nachhinein als erfolgreich herausstellt und sogar kostengünstiger ist und eine Operation erspart hat. Um hier Petitionen vorzubeugen, braucht das Gesundheitswesen ganz einfach mehr Transparenz, mehr Wahlmöglichkeiten und vor allem Beteiligungsrechte, Mitwirkungsrechte bei der Festlegung des Leistungskataloges gerade derer, die bezahlen, nämlich der Versicherten und der Patienten. ({0}) Ähnlich zahlreiche Eingaben gab es zum Beispiel bei Problemen der Rentner. Natürlich ist es eine sinnvolle Regelung, dass jemand neun Zehntel der zweiten Hälfte seines Erwerbslebens gesetzlich versichert sein muss, um später in der Krankenversicherung der Rentner pflichtversichert sein zu können; denn wir können natürlich nicht zulassen, dass die, die sich vorher der Solidargemeinschaft entzogen haben, im Alter wieder hineinkommen. Aber diese arg technische Lösung führt zu viel Unverständnis, Verbitterung und Ärger. Gerade im Bereich der Sozialversicherung wird symptomatisch deutlich, dass Bürokratie und Verwaltung die Freiheit in diesem Land, einem der freiesten der Welt, nach und nach einzuengen und zu bedrängen drohen. Die Menschen fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Dies ist in vielen Petitionen zu erkennen. Sie fühlen sich der Bürokratie ausgeliefert. Sie können Verwaltungsentscheidungen, oft in missverständlichstem oder unklarstem Deutsch, nicht nachvollziehen. All dies ist keine gute Basis für die Akzeptanz unseres Systems bei den Menschen. Ergo: Der Petitionsausschuss und seine Arbeit sind wichtiger denn je, als Regulativ des Parlaments, aber auch, um zu überwachen, wie das, was wir als Gesetzgeber vielleicht positiv intendiert haben, von der Regierung und letzten Endes von den Gerichten gesehen und umgesetzt wird. Aber der Petitionsausschuss entlässt uns als Abgeordnete insgesamt - in Zukunft wahrscheinlich noch stärker nicht aus der Pflicht, diesem elenden, überbordenden Bürokratismus endlich Einhalt zu gebieten. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch ich möchte auf die Bedeutung des Petitionsausschusses hinweisen. Es ist eine gute Schule für neue Abgeordnete. Aber das funktioniert nur dann, wenn erfahrene Kolleginnen und Kollegen sozusagen das starke Gerippe des Ausschusses bilden. Das ist ein Zitat von Bernd Reuter vom 12. Dezember 2001. ({0}) Als neue Abgeordnete kann ich dieses Zitat nur bestätigen. Die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sind eine wahre Fundgrube an Daten, ähnlich gelagerten Fällen und Erfahrung. Dass sie dieses Wissen nicht für sich behalten, sondern an die Neulinge weitergeben, verkürzt die Einarbeitungszeit ungemein. Dafür, dass sie nicht verlangen, dass wir all das einfach von ihnen übernehmen, bedanke ich mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz herzlich. Als ich mich lange vor Einzug in den Deutschen Bundestag für den Petitionsausschuss entschieden habe, habe ich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse. Aber ich wollte diese Unmittelbarkeit, den direkten Kontakt zwischen den Menschen, die wir vertreten, und dem Parlament. Als es dann ernst wurde, wuchs - das gebe ich zu - die Spannung: Was bekomme ich eigentlich auf den Tisch? Bekomme ich die Petition als Schriftstück und muss dann entscheiden, in welches Verfahren wir gehen? Wie erkenne ich überhaupt, wer zuständig ist? Als die ersten Akten dann auf meinem Schreibtisch lagen, war die Erleichterung recht groß. Die Fülle an Informationen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses im Vorfeld zusammentragen, stellt sicherlich die Hauptarbeitslast im Zusammenhang mit den Petitionen dar. Für diese Arbeit möchte ich mich beim Ausschussdienst ganz herzlich bedanken. ({1}) Ich denke, alle, die im Bereich Petitionen arbeiten, stehen zu diesem kurzen Weg zum Parlament, dem Art. 17 des Grundgesetzes, nach dem jedermann das Recht hat, „sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.“ Schon 1794 war im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten unter anderem vorgesehen, „dass einem jeden freistehe, Zweifel, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze anzuzeigen“. - Das Petitionsrecht ist also keine neue Erfindung; das gab es auch vorher schon. Für uns bietet sich so die Möglichkeit, die direkte Wirkung unserer Gesetze zu reflektieren. Die Petitionen zeigen, dass es bei weitem nicht nur um aktuelle Gesetze geht, und sie zeigen auch, dass nichts so gut ist, dass es nicht verbessert werden kann. ({2}) Von Kreditwesen und Asylfragen über offene Vermögensfragen im Osten und alle Facetten von Sozialleistungen bis hin zu Wahlschablonen für Blinde und Petitionen für und gegen die Abschaffung der Splittingtabelle bietet der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses einen Rundgang durch so gut wie alle Gesetze, Behörden und Institutionen. Von allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern wird viel Fleiß, Zeit und Engagement verlangt. Dafür gibt es dann wenig Lob, kaum Anerkennung und so gut wie keine Öffentlichkeitswirksamkeit. ({3}) Umso mehr ist die exklusive Zeit im Plenum zu loben, die uns hier heute zugestanden wird. ({4}) Ob Einzel- oder Sammelpetitionen: Jeder Petent hat ein Anrecht darauf, dass seine Petition ernst genommen und verfolgt wird. Natürlich sind die Grenzen unserer Arbeit das geltende Recht, aber nur für Vergangenheit und Gegenwart. Für die Zukunft können, müssen und sollen wir aus Petitionen lernen. Wo Ermessensspielraum ist, da ist auch immer Platz für Einzelfallentscheidungen. Bernd Reuter hat einmal gesagt, dass wir eine Arbeit leisten, die zwischen Lust und Frust eingebettet ist; ich möchte sagen: manchmal auch zwischen Weinen und Lachen. Wenn eine Petition zum Kreditwesen damit beginnt, dass ein Petent versucht hat, einen Kredit mit dem anderen zu tilgen, dann kann ich den weiteren Verlauf in der Akte voraussagen. Sosehr ich mir dann wünsche, meine Vorahnung möge sich nicht erfüllen, so weiß ich doch, dass es genau so kommen wird. Wir erhalten ganz tiefe und ganz nahe Einblicke in menschliche Schicksale und können nicht immer und nicht allen helfen. Aber wenn es uns in diesen Fällen gelingt, einen geordneten Ausstieg aus der Schuldenfalle anzustoßen, dann ist das ein sehr großer Erfolg. Auf der anderen Seite habe ich wohl mit dem nötigen Ernst, aber auch mit einem Schmunzeln die Petition einer Unternehmerin bearbeitet, die die Steuerberaterrechnung vom Finanzamt bezahlt haben wollte. Sie stand auf dem Standpunkt, dass sie keine Bilanzen und auch keine Steuererklärungen brauche und wenn das Finanzamt unbedingt welche haben wolle, dann soll es dafür auch bezahlen. ({5}) Das ist ein für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sicherlich des Öfteren nachvollziehbarer Standpunkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich auch bei Ihnen für die Zusammenarbeit und für die gute Atmosphäre bedanken. Die meisten Voten sind einstimmig. Wo das nicht der Fall ist, gelingt es uns oft in der Sitzung, eine Einigung zu erzielen, manchmal nicht in der ersten oder in der zweiten und manchmal eben überhaupt nicht. Manches, mit dem man draußen zu punkten hofft, wird heute aus der Opposition anders beurteilt als zur eigenen Regierungszeit. ({6}) Trotzdem denke ich, dass wir in erster Linie das Wohl des Petenten zum Ziel haben. Der größte Kummerkasten Deutschlands steht in der Schadowstraße 12 bis 13. Ich wünsche mir, dass viele Bürgerinnen und Bürger von diesem Kummerkasten und von dieser Möglichkeit der demokratischen Teilhabe Gebrauch machen und wir auch in den nächsten Jahren unter Beweis stellen können, dass wir bestrebt sind, Lösungen zu finden. Hans-Jochen Vogel hat in seiner Rede zum 50-jährigen Jubiläum des Petitionsausschusses gesagt: Ich wünsche Ihnen und mir, dass der jährliche Bericht des Petitionsausschusses auch künftig in der so genannten Kernzeit behandelt wird, und ich wünsche Ihnen und mir außerdem, dass dann die Regierungsbank gut besetzt ({7}) und vielleicht hin und wieder sogar der Bundeskanzler zugegen ist. Ich schließe mich diesen Wünschen an. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Du musst bestimmt in den Petitionsausschuss; das müssen alle Neuen.“ So ungefähr ist es mir gesagt worden, als es sicher war, dass ich Mitglied dieses Hohen Hauses werden würde. Es wurde also gesagt - das betone ich -: Du musst! Wie despektierlich, habe ich gedacht, war mir aber, wenn ich ernst darüber nachdachte, nicht sicher - das gebe ich zu -, ob der Petitionsausschuss wirklich so prickelnd und aufregend ist, wie man mir versicherte. Ich wusste, dass damit viel Arbeit verbunden und diese Arbeit nicht sehr medienwirksam ist. Dass wir im Übrigen heute zu dieser Zeit über die Tätigkeit des Petitionsausschusses debattieren können, ist - Frau Frechen hat es bereits gesagt - eine tolle Sache. Dafür sollten wir uns bedanken; denn medienwirksam sind wir normalerweise nicht. Es kam dann so, wie es kommen musste: Als neue Abgeordnete des Bundestages bin ich tatsächlich Mitglied des Petitionsausschusses geworden. Mittlerweile bin ich dafür dankbar. Ich bin dafür dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, mich mit all dem auseinander zu setzen, was mir tagtäglich begegnet. Ich bin dafür dankbar; denn wir haben eine ungeheuer spannende Aufgabe. Wir sind sehr nahe an der gelebten Politik, an der Realität, an dem, was die Bürger dieses Landes beschäftigt, aufregt, ärgert, belastet; was auch immer, wir sind dabei. Ich spreche hier nicht von Aktenbergen und Gesetzen, sondern davon, dass jede Petition einen Namen, ein Geburtsdatum, einen Wohnort, eine Telefonnummer und in den meisten Fällen auch eine ganz lange Geschichte hat. Ich finde, wir haben eine bedeutende Aufgabe zu leisten. Es gilt, diese Bedeutung zu erkennen und verantwortlich damit umzugehen. Denn meist verbergen sich hinter einer Petition, in Aktendeckel gepresst, Schicksale. Wir erkennen auf diese Art und Weise mögliche Ungerechtigkeiten und mögliche Lücken im Gesetzeswerk. Diese hätten wir ohne den Petenten nicht erkannt. Denn kein Gesetzgeber ist in der Lage, jeden erdenklichen Einzelfall abzudecken. Deshalb ist das Petitionsrecht ein notwendiges und sogar sinnvolles Regulativ. Es weist uns auf Lücken hin, die wir ändern oder schließen können. ({0}) Ich kann logischerweise nicht - Sie haben es gehört über die Petitionen des Jahres 2002 sprechen. Aber ich habe schon in der kurzen Zeit, in der ich Mitglied des Petitionsausschusses bin, sehr viel erlebt. Ohne mich jetzt in juristische Einzelheiten zu verlieren, möchte ich einen konkreten Fall schildern. Er ist ein bisschen entfernt von dem großen Friede-Freude-Eierkuchen, das wir hier im Moment erleben. Es geht darum, dass ein Petent bemängelt, dass im Gesetz diejenigen, die ihre Arbeitsstelle zugunsten von Arbeitslosigkeit aufgeben, gegenüber denjenigen bevorzugt werden, die weiterhin in Teilarbeit bleiben. Mit anderen Worten: Diejenigen, die arbeiten, werden gegenüber denjenigen, die zu arbeiten aufhören, klar benachteiligt. Im Ergebnis motiviert die jetzige Regelung also die Menschen, ihre Arbeitsstelle aufzugeben. Darüber, dass so etwas logischerweise nicht gewollt ist, waren wir uns eigentlich einig. Ein ganz großes politisches Anliegen meiner Fraktion ist es, die Menschen zur Arbeit zu bewegen. ({1}) Die Kollegen von der SPD brauchten für diese Erkenntnis zwei Sitzungen. ({2}) Aber letztendlich sind wir dann doch zu einem einvernehmlichen Ergebnis gekommen. Ich denke, es ist ein gutes Ergebnis. Wir haben diesen Fall gemeinsam an das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit als Material überwiesen. Somit kann dieses Gesetz neu überdacht werden. Wir beschäftigen uns unter anderem auch - die Arbeit ist sehr facettenreich - mit Auslandsgeschäften, Entwicklungshilfe und Ähnlichem. Leider läuft mir jetzt meine Redezeit davon. Es tut es mir Leid, dass ich nicht mehr über einen spannenden Fall aus dem Entwicklungshilfebereich berichten kann, wobei wir in diesem Zusammenhang nach verschwundenen Akten, genau den Zeitraum betreffend, um den es in dieser Beschwerde geht, suchen. Eine Nachfrage bei der Staatsministerin im Auswärtigen Amt hat sich als nicht sehr fruchtbar und dienlich erwiesen. Was verschwundene Akten bedeuten, wissen wir alle ganz aktuell, es ist uns nicht neu. Ich nenne nur das Stichwort „Hirsch-Märchen“ und Ähnliches. Ich bin aber weiterhin an dieser Akte interressiert. Da ist noch einiges anhängig und damit ist noch viel Arbeit verbunden. Sie sehen, ich habe über den Petitionsausschuss fast nur Gutes zu berichten. Nur eines ärgert mich nach wie vor - ich gebe es zu -: Die politischen Mehrheiten sind für meine Begriffe immer noch falsch. Oft erkennt RotGrün Handlungsbedarf erst auf Nachfrage und nach Hilfestellung. Ich gebe in diesem Zusammenhang allerdings die Hoffnung nicht auf. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Liebe Kollegin Pfeiffer, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen weiterhin viel Engagement für die Arbeit im Petitionsausschuss sowie persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hagemann, SPD-Fraktion.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herzlichen Glückwunsch, liebe Kollegin Sibylle Pfeiffer! Wenn ich aber daran denke, dass wir in der letzten Petitionsausschusssitzung acht Petitionen auf Antrag der CDU/CSU abgesetzt haben, dann bin ich mit Ihrem letzten Satz nicht ganz einverstanden. ({0}) - Es waren nur fünf, okay. ({1}) Ich habe nur daran erinnert, weil Sie meinten, liebe Kollegin, Sie würden uns immer auf die Sprünge helfen. In diesem Falle dauert es also ein bisschen länger. Meine Damen und Herren, in diesem Jahr hatte der Petitionsausschuss fast in jedem Monat Besuch aus dem Ausland. Viele Delegationen haben uns aufgesucht, um mit uns über das deutsche Petitionswesen zu diskutieren. In dieser Woche war eine Delegation des tschechischen Parlaments bei uns, vor drei Wochen eine Delegation des luxemburgischen Parlaments, in der nächsten Woche werden Delegationen aus Vietnam und Dänemark kommen. Es besteht also ein großes Interesse an unserem Petitionswesen. Dies hat seinen Grund sicherlich darin, dass wir ein gutes Petitionssystem haben. Die bei uns bestehenden Regelungen nehmen viele andere Staaten zum Vorbild, insbesondere die jungen Demokratien. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben 1949 eine kluge Entscheidung getroffen, als sie das Petitionsrecht als ein Grundrecht einführten. Seitdem ist es nicht mehr nur ein Gnadenrecht des Fürsten oder des Königs; die Behandlung von Petitionen stellt nun einen politischen Akt dar. Wir Parlamentarier - das wurde schon mehrfach herausgestellt - können Fehlentwicklungen und Fehlleistungen der Verwaltungen in unserem Staat feststellen und erkennen, wo Korrekturbedarf angebracht ist. Dafür sind genügend Beispiele genannt worden, die ich nicht zu wiederholen brauche. Auch werden uns aus Sicht der Bürger Tendenzen nahe gebracht, die die Notwendigkeit der Änderung von politischen Normen und Gesetzen aufzeigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem ich unser Petitionswesen gelobt habe, muss ich auch die andere Seite der Medaille betrachten. Demokratie ist nichts Statisches, sie ist nie vollkommen. Veränderungen und Reformen sind notwendig. Das Petitionswesen kann nicht nur Kummerkasten sein - hier greife ich einen vom Kollegen Guttmacher gebrauchten Begriff auf -, auch nicht nur politische „Telefonseelsorge“. Der Petitionsausschuss muss zwar auch dies sein - hier leistet der Ausschussdienst hervorragende Arbeit und fängt sehr vieles auf -; ({2}) aber er soll darüber hinaus zur aktiven Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung beitragen. Über die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen hinaus kann der Bürger - hier appelliere ich an die Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere an unsere jugendlichen Besucherinnen und Besucher - sein Recht wahrnehmen, durch die Petitionen auf die Politik einzuwirken. Die Herausforderung besteht hier darin, bürgerschaftliches Engagement einzubringen: nicht nur zu meckern, sondern auch zu handeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwicklung des Petitionswesens - darauf werde ich den Rest meiner Redezeit verwenden - hat ihren Niederschlag auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Grünen gefunden. Ich zitiere: Wir wollen das Petitionsrecht über die Lösung individueller Anliegen hinaus zu einem politischen Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und Bürger gestalten. Dies ist zumindest für meine Arbeitsgruppe die Überschrift für das, was in den nächsten drei Jahren noch auf der Tagesordnung des Petitionsausschusses steht. Man kann es auch so formulieren: Es geht darum, unser Petitionsrecht für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Dabei können wir auf einem guten Fundament aufbauen. Lassen Sie mich einige Beispiele dafür nennen, wo wir meiner Ansicht nach ansetzen müssen, um unser Petitionswesen weiterzuentwickeln, denn es genügt nicht, nur zu jammern, dass wir zu wenig Aufmerksamkeit der Presse erreichen; ich bedauere das genauso. Aber wir müssen uns einmal selbst fragen: Woran liegt es, dass dieses Interesse etwas nachgelassen hat? Vielleicht liegen die Fehler auch bei uns und die Weiterentwicklung muss von uns ausgehen. Wir müssen mehr Präsenz in den Wahlkreisen, draußen in der Republik zeigen und vor Ort sein, nicht nur bei Vor-Ort-Terminen im Zusammenhang mit Petitionen; vielmehr müssen wir auch mit den Petenten und Petentinnen vor Ort reden. ({3}) Die SPD-Arbeitsgruppe hatte diese Woche einen interessanten Vor-Ort-Termin im Wahlkreis Fürth, bei dem wir über die Unterbringung Asylsuchender in Fürth und in Zirndorf, aber auch über die Problematik von Kuren und Rehabilitation gesprochen haben. Lieber Kollege Baumann, es ist sicherlich eine gute Arbeit, vor Ort mit den Leuten zu reden; Sie werden das genauso machen. Wir wollen dies fortführen. Wir benötigen eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit. Wir empfehlen, verstärkt darüber nachzudenken, öffentliche Ausschusssitzungen durchzuführen. Ebenso müssen wir - so haben wir es bei einer Dienstreise in Schottland beobachtet, liebe Kollegin Pfeiffer - mehr öffentliche Anhörungen auch der Petenten durchsetzen. Das sind Denkansätze, die wir weiterführen wollen. Dazu gehört auch, mehr Regierungsvertreter einzuladen. Ich kann nur unterstreichen, was die Kollegin Frechen gesagt hat: Es wäre nicht schädlich, wenn bei diesem Thema die Regierung besser vertreten wäre. Zwischenzeitlich hat sich die Regierungsbank doch etwas gefüllt. Aber es wäre gleichfalls nicht schädlich, wenn auch das Rund unserer Kolleginnen und Kollegen etwas mehr gefüllt wäre. ({4}) Man soll nicht nur auf die anderen zeigen; drei Finger zeigen immer wieder auf einen selbst zurück. Ebenso sollten wir mehr Gebrauch von der Möglichkeit zur Akteneinsicht machen. Aber dabei stehen wir einer großen Bürokratie gegenüber. Uns fehlen Hilfsmittel hierfür. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir dieses Instrument verbessern und verstärkt nutzen können. Außerdem ist es sicherlich nicht ausreichend, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur einmal im Jahr über das Petitionsrecht zu diskutieren. ({5}) Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; darüber haben wir uns auch in Schottland bei dessen jungem Parlament, das neue Ideen hat, informiert. Es geht darum, neben dem bereits vorhandenen Bürgerbüro auch das Internet wesentlich stärker in die Petitionsarbeit einzubeziehen. In dieser Hinsicht können wir das Petitionsrecht weiterempfehlen, damit sich insbesondere junge Menschen - ich gucke wieder nach oben zu unseren jungen Gästen - verstärkt in die Petitionsarbeit einbringen können. In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch über eine Grundgesetzänderung nachgedacht werden, denn der berühmte Art. 17, der hier schon mehrfach genannt worden ist, regelt, dass man die entsprechenden Unterlagen in schriftlicher Form und unterschrieben einreichen muss. Dafür müssen wir sicherlich neue Formen finden, über die wir zu diskutieren haben. Ein wichtiger Punkt ist die Zusammenarbeit mit Menschen, die Interesse an der Weiterentwicklung des Petitionsrechts haben, wie beispielsweise mit dem Verein zur Förderung des Petitionswesens in der Demokratie, der am 23. Mai in Bremen eine interessante Tagung durchgeführt hat. Auch hier gibt es Ansätze, die wir betrachten sollten. Die angesprochene Veranstaltung hatte das Thema „Mit Petitionen Politik verändern“. Das sollte Motto für uns sein; es ist Maxime für mich und meine Arbeit. Ich lade Sie ein, dies mit der SPD-Arbeitsgruppe zusammen zu tun. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Auf weiterhin gute Kooperation in diesem Petitionsausschuss! ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Hagemann, Sie haben Recht: Öffentlichkeitsarbeit muss verstärkt stattfinden. Wenn man allerdings anderthalb Jahre vor einer Landtagswahl beschließt, dass ein Termin in Bayreuth ein Wahlkampftermin ist, dann wird man das nicht so einfach hinbekommen, fürchte ich. ({0}) Alle Bereiche des täglichen Lebens, in denen Bürgerinnen und Bürger auf Verwaltungen und Institutionen treffen, können Gegenstand von Petitionen sein, mit denen wir uns dann zu beschäftigen haben. Deshalb ist es - das klang hier auch schon an - gerade für einen neuen Abgeordneten besonders lehr- und hilfreich, sich im Petitionsausschuss umzutun. Dafür gibt es zwei Gründe: Kein anderer Ausschuss bietet die Möglichkeit, sich mit der gesamten politischen Bandbreite der Themen zu beschäftigen. Kein anderer Ausschuss bietet die Möglichkeit, sich so direkt mit Bürgern auseinander zu setzen und ihnen zu helfen, wobei leider auch zur Wahrheit gehört, dass Hilfe eben nicht immer möglich ist. Um das, was der Kollege Hagemann gesagt hat, noch einmal aufzugreifen: Ich habe kürzlich eine Reise in den Iran und in die Türkei unternommen und konnte dort mit Vertretern der Petitionsausschüsse der Parlamente dieser Länder sprechen. Dabei ist mir wieder klar geworden, welch hohes Gut das Petitionsrecht ist und wie wichtig es für die Weiterentwicklung der Demokratie ist. ({1}) Die Deutschen und auch die in Deutschland lebenden Ausländer machen von ihrem Petitionsrecht sehr häufig Gebrauch. Dabei steht Originelles neben sehr Ernsthaftem. Zum Thema Originelles habe ich auch etwas beizutragen: Ich habe eine Petition einer Dame bearbeitet, die die Abschaffung elektrischer Wäschetrockner gefordert hat. Das Anliegen wurde genau geprüft, unter anderem vom Bundesumweltministerium. Nicht weiter überraschend ist das Ergebnis: Diesem Anliegen konnte natürlich nicht entsprochen werden. Nun wieder ernsthaft: Die Frau Vorsitzende hat bereits gesagt, dass der Petitionsausschuss sozusagen der Seismograph für politische Fehlentwicklungen ist. Dazu ist zu sagen, dass die Zahl der ausländerrechtlichen Petitionen im Gegensatz zu der der Petitionen insgesamt immer noch gleich hoch ist. Ich möchte dazu einige Beispielsfälle nennen, die mir im Laufe der Zeit begegnet sind. Zum Beispiel habe ich die Petition einer Iranerin bearbeitet, die sich gegen ihre Abschiebung gewehrt hat. Sie wurde im Iran des Ehebruchs bezichtigt. Wer sich ein wenig auskennt, weiß, was das unter Scharia-Gesetzgebung bedeutet. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat das als nicht ausreichenden Grund für ein Bleiberecht angesehen und leider konnte der Petitionsausschuss ihr nicht helfen. Positive Entwicklungen hat es - ich möchte auch dafür ein Beispiel aufgreifen - für die tschetschenischen Flüchtlinge gegeben. Hier konnte wenigstens zum Teil, wenn auch nicht in allen Bereichen, durch Gespräche mit dem Bundesinnenministerium geholfen werden. Unverändert hoch ist weiterhin die Zahl der Petitionen der Spätaussiedler. Auch hier konnte gemeinsam etwas erreicht werden. Zum Beispiel konnte eine Großfamilie aus Kasachstan in Deutschland bleiben, nachdem es entsprechende Gespräche gegeben hatte. Das große Problem dabei - das ist letztendlich auch in dem Bericht zur Sprache gekommen - sind die Sprachkenntnisse. Leider nehmen diese immer mehr ab, denn es handelt sich inzwischen um die dritte oder vierte Generation der Spätaussiedler. An einer Stelle möchte ich ein wenig Öl ins Feuer gießen, weil es eine Sache ist, die gerade meine Fraktion sehr stark beschäftigt hat. Wir haben vorhin über eine Einzelpetition abgestimmt, bei der CDU und CSU Einzelausweisung beantragt haben. Es ging um einen Antrag der Ackermann-Gemeinde, einer Vertriebenenvereinigung. Diese hat sich an den Petitionsausschuss gewandt, weil ihr die finanzielle Unterstützung zur Einrichtung einer deutsch-tschechischen Verständigungsinstitution verweigert worden ist. CDU und CSU sehen in der Arbeit von Vertriebenenverbänden einen wichtigen Beitrag zur Verständigung in Europa und auch einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des Erbes der Vertriebenen. ({2}) Wie wichtig das ist, möchte ich gern mit einem Zitat, das ich hier mit Genehmigung der Frau Präsidentin vorlesen möchte, unterstreichen. Es geht dabei speziell um § 96 des Bundesvertriebenengesetzes. In diesem Zitat heißt es: Mit diesem Paragraphen haben Bund und Länder ... die Verpflichtung übernommen, das kulturelle und historische Erbe der ehemaligen deutschen Ostprovinzen … sowie der historischen Siedlungsgebiete in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa zu sichern und zu bewahren. In diesen Gebieten befinden sich Zeugnisse deutscher Kultur von unschätzbarem Wert. Sie müssen für kommende Generationen im In- und Ausland erhalten werden. Weiter unten heißt es: In erster Linie ist die staatliche Förderung aber eine Aufgabe des Bundes. Diese Worte stammen aus einem Artikel mit dem Titel „Europas geschichtliches Erbe - Die Erinnerung an die Vertreibungsverbrechen gehört dazu“. Autor ist der Bundesinnenminister Otto Schily. ({3}) Es wäre schön gewesen, wenn Sie auch in diesem Fall auf Ihren Minister gehört hätten, wie Sie das normalerweise tun. Trotz dieser Auseinandersetzung in diesem und vielleicht auch in manch anderem Bereich glaube ich, dass die Zusammenarbeit im Allgemeinen gut funktioniert. Ich hoffe - das möchte ich zum Abschluss noch betonen -, dass die Zusammenarbeit im Sinne der Petentinnen und Petenten auch weiterhin zielorientiert und effektiv verläuft. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik transparent machen - Drucksache 15/655 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute treffen sich in Brüssel wieder einmal die Justiz- und die Innenminister der Europäischen Union. Innenminister Schily entscheidet in diesem Moment mit seiner Stimme über wichtige Fragen der Asyl- und Ausländerpolitik. ({0}) Dies geschieht hinter verschlossenen Türen. Diese Beschlüsse werden Deutschland bei der nationalen Rechtsgestaltung extrem einschränken. Aber, meine Damen und Herren, was wissen wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, über das, was dort besprochen wird? ({1}) Unser Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, uns, den Bundestag, umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über die Beratungen und anstehenden Entscheidungen in EU-Angelegenheiten zu informieren. Diese Unterrichtungspflicht umfasst alle Vorhaben, auch die der Zuwanderungspolitik innerhalb der EU. ({2}) Die Unterrichtung hat vollständig und detailliert zu erfolgen. Mit dem heutigen Antrag wollen wir dafür sorgen, dass die Bundesregierung endlich ihrer Verpflichtung nachkommt. ({3}) Gerade das sensible Thema der Zuwanderung bedarf des gesellschaftlichen Konsenses und muss von der Bevölkerung mitgetragen werden. ({4}) Das dient auch der Gewährleistung des inneren Friedens und der inneren Sicherheit in unserem Land. Doch während wir auf nationaler Ebene noch über das von der rot-grünen Regierung erneut eingebrachte Zuwanderungsgesetz diskutiert haben, wird auf EUEbene bereits darüber entschieden, die Zufluchtsmöglichkeiten auf Personen auszuweiten, die nicht staatlich verfolgt sind, und das mit der Möglichkeit des vollen Familiennachzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. ({5}) Darüber hinaus wird die Drittstaatenregelung, die wesentliche Säule unseres Asylrechtskompromisses aus dem Jahr 1993, der ja zu einem erheblichen Rückgang des Asylmissbrauchs führte, faktisch abgeschafft, ({6}) ohne dass in Deutschland ernsthaft Kenntnis davon genommen wird. ({7}) Ist es das, was die Bundesregierung unter ausreichender Mitwirkung des Bundestages versteht? Die Regierung verzögert immer wieder die Weiterleitung von wichtigen Ratsdokumenten. Meine Damen und Herren, die Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern wurde Ende Januar dieses Jahres in Brüssel verabschiedet. Durch diese Richtlinie werden Regelungen getroffen, die maßgebliche Auswirkungen für die Akzeptanz von Ausländern insgesamt haben. So werden zum Beispiel ihr Zugang zum Arbeitsmarkt und die Ausweitung der Gewährung von teuren Sozialleistungen geregelt. Aber ist diese Richtlinie jemals im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse beraten worden? Wir haben in der Tat darüber beraten - am 12. März, zwei Monate nach Verabschiedung der Richtlinie. Noch einmal zum Mitschreiben: Wir haben zwei Monate nach der Verabschiedung Gelegenheit bekommen, über diese Richtlinie zu diskutieren. ({8}) Nur so viel zum Begriff „frühestmöglicher Zeitpunkt“. Ein anderes Beispiel, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema der umfassenden Informationspflicht: Der Innenminister ist vor der letzten Ratssitzung noch nicht einmal bereit gewesen, dem Innenausschuss seinen Standpunkt zu den anstehenden Verhandlungen darzulegen. ({9}) Es ging immerhin um die Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs einschließlich der damit verbundenen Statusaufwertung für Flüchtlinge sowie um die weitgehende Gleichstellung von EU-Bürgern mit EU-Ausländern mit allen Rechten und Vergünstigungen. Informationen wurden von den Parlamentarischen Staatssekretären unter dem Vorwand verweigert, man wolle die Verhandlungsstrategie nicht preisgeben. Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um eine Strategie, hier geht es um einen Standpunkt. Hier geht es darum zu erfahren, welche Ausländerpolitik die Bundesregierung im Namen Deutschlands auf EU-Ebene vertritt. ({10}) Die Bundesregierung traut sich offensichtlich nicht, der Öffentlichkeit zu erklären, dass sie sich einem erweiterten Zuzug Asylsuchender in die EU nicht widersetzt. Dass die Regierung nicht bereit ist, ihren Standpunkt vor dem JI-Rat zu erläutern, lässt für mich drei mögliche Schlussfolgerungen zu: Entweder befasst sich niemand in der Regierung damit; ({11}) oder der Informationsfluss zwischen der Ständigen Vertretung in Brüssel und der Regierung funktioniert nicht - das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen -; ({12}) oder es wird, was nahe liegt, versucht zu blockieren ({13}) und den Bundestag und damit die deutsche Bevölkerung außen vor zu lassen. ({14}) Dass es die Bundesregierung mit der Verfassung und dem geltenden deutschen Recht nicht ganz so genau nimmt, führe ich Ihnen gerne an einem weiteren Beispiel vor Augen: Im Bereich der Zuwanderungs- und Asylpolitik verhandelt diese Bundesregierung in Brüssel nicht auf der Grundlage des geltenden und damit auch für diese Regierung bindenden Ausländerrechts, sondern auf der Basis des für verfassungwidrig erklärten Zuwanderungsgesetzes. ({15}) Hier wird ein gescheitertes Gesetz durch die Hintertür für Deutschland bindend gemacht. Dies geschieht unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit. ({16}) Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich zulassen? Müssen wir uns als Abgeordnete dieses Hauses nicht darauf besinnen, welche Verpflichtung wir haben?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich denke, im Laufe meines Vortrages werden alle Fragen beantwortet werden. ({0}) Wie können wir auf EU-Ebene zu mehr Transparenz in der Asyl- und Zuwanderungspolitik kommen? Wie können wir das praktisch umsetzen? Es müssen endlich übersichtliche und zeitnahe Aufstellungen über den Verhandlungsstand der EU-Vorlagen erstellt werden. Dies haben wir in unserem Antrag näher ausgeführt. Die Bundesregierung soll dabei klar benennen, welche Auswirkung ihr Abstimmungsverhalten auf europäischer Ebene auf das deutsche Asyl- und Ausländerrecht hat. Meine Damen und Herren, wenn wir es als Parlamentarier in eigener Verantwortung nicht schaffen, unser Beteiligungsinteresse gegen die Bundesregierung durchzusetzen, müssen wir auch darüber nachdenken, Art. 23 des Grundgesetzes entsprechend anzupassen. Wir werden im Rahmen der Zustimmung zum neuen europäischen Verfassungsvertrag Gelegenheit dazu haben; denn die Zustimmung bedarf der Zweidrittelmehrheit sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat. ({1}) Das Vorliegen einer Stellungnahme des Bundestages wird zwingende Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen auf EU-Ebene sein. Die für die Zukunft unseres Landes entscheidende Frage, ob wir mehr Zuwanderung in unser Land wollen, darf nicht am deutschen Parlament und der deutschen Bevölkerung vorbei geregelt werden. ({2}) Lassen Sie nicht zu, dass ein so wichtiges Thema wie die Zuwanderung ohne Beteiligung des Bundestages entschieden wird! Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ute Vogt.

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In ihrem Antrag fordert die CDU/CSU, dass der Deutsche Bundestag umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu informieren sei. Ich sage Ihnen: Dieser Antrag ist entbehrlich. ({0}) Das, was Sie unter Punkt 1 geschrieben haben - zumindest das, was ich genannt habe -, ist bereits in unserem Grundgesetz niedergelegt und wird von der Bundesregierung auch eingehalten. ({1}) Ich muss mich fragen, wo Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in den letzten Wochen, Monaten und Jahren gewesen sind. Allein im Innenausschuss haben wir seit dem Rat von Lissabon, also seit März 2000, in nahezu 40 Vor- und Nachberichten dem Parlament Rechenschaft abgelegt. ({2}) Wenn Sie das auf die Zahl der Sitzungen des Innenausschusses umrechnen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass wir uns in etwa 60 Prozent der Sitzungen mit diesem Themenbereich befasst haben. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koschyk?

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Gerne. ({0})

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, einzuräumen, dass die Obleute gemeinsam mit dem Innenausschuss erst am Beginn dieser Legislaturperiode auf Drängen der Union ein Verfahren verabredet und Fristen für die Vorund Nachberichte zu den EU-Innen- und -Justizministerräten festgelegt haben? ({0}) Sind Sie auch bereit, einzuräumen, dass die Bundesregierung - einmal durch Sie und einmal durch den Staatssekretär Körper - im Hinblick auf das Nachzugsalter völlig widersprüchliche Aussagen im Ausschuss und in der Fragestunde am gleichen Tag gemacht hat? Verstehen Sie das unter einer umfassenden Informationspflicht gegenüber dem Parlament? ({1})

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Sehr geehrter Kollege Koschyk, auf das Nachzugsalter werde ich im Laufe meiner Rede noch zu sprechen kommen. ({0}) Über die entsprechend geltenden Rechtssetzungen sind Sie unverzüglich informiert worden. ({1}) Bezüglich des neuen Verfahrens kann ich für die Bundesregierung unter unserer Verantwortung nur bestätigen, dass wir unsere Berichtspflicht immer sehr regelmäßig wahrgenommen haben. Ich muss allerdings einräumen, dass die Union in der Tat erst seit der neuen Legislaturperiode ein intensives Interesse an diesen Berichten zeigt. Diese sind vorher nicht so intensiv diskutiert worden. Das lag aber nicht an der mangelnden Vorlage. ({2}) Wenn Sie schon danach fragen, möchte ich Sie noch an ein Zweites erinnern. Es gab Zeiten, in denen ich unter einem anderen Bundesinnenminister in der Opposition saß. ({3}) Ich kann mich kaum daran erinnern, ({4}) dass es überhaupt relevante Berichte dieser Art gab, weil der damalige Herr Innenminister noch nicht einmal persönlich zu diesen Sitzungen gefahren ist. Deshalb hat Deutschland bei den entsprechenden Verhandlungen der Europäischen Union überhaupt keine Rolle gespielt. ({5}) Unsere Bundesregierung gewährleistet jedenfalls das, was durch die Verfassung vorgegeben wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines werden wir aber nicht tun: Wir werden nicht das aufkündigen, was in unserer Verfassung mit gutem Recht und Sinn festgelegt wurde, nämlich die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. ({6}) Das, was Sie am Ende Ihres Antrages vorschlagen, hätte ein Maßgabegesetz zur Folge, wodurch diese Trennung aufgehoben werden würde. ({7}) Nun habe ich, genauso wie sicherlich auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen, durchaus Verständnis dafür, dass Sie trauern, zum Teil verärgert und manchmal auch richtig wütend darüber sind, dass Sie nicht die Chance haben, selbst zu regieren. ({8}) Trotzdem muss man eine demokratische Entscheidung und die Tatsache akzeptieren, dass die Bundesregierung ihre eigenen vernünftigen Verhandlungspositionen nicht gegen die Ansichten der Opposition austauschen und dazu übergehen wird, diese in den Verhandlungen zu vertreten. ({9}) Ich glaube, so etwas muss auch von der Opposition akzeptiert werden, wenn sie die demokratischen Spielregeln kennt und auch anwendet. ({10}) Herr Koschyk, ich will gerne ein von Ihnen schon angesprochenes Thema inhaltlich aufgreifen. In der Tat: Wir haben im Februar eine wichtige Richtlinie zur Familienzusammenführung zwar noch nicht beschlossen - vermutlich wird sie heute, gerade in diesen Stunden, beschlossen -, haben uns über ihre konkrete Ausgestaltung aber schon geeinigt. Unser Ziel, auch durch diese Richtlinie, - wie durch andere auch - die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen sowie die Integration zu festigen, ({11}) wurde gerade an diesem Beispiel sehr eindrucksvoll deutlich gemacht. ({12}) Die Familienzusammenführung wird gemäß der Richtlinie auf die Kernfamilie begrenzt. Wir haben zum Beispiel erreicht, dass die Einreise derjenigen, die sich extremistisch betätigen, versagt werden kann. Daneben haben wir erreicht, dass Deutschland die Möglichkeit hat, für Kinder über zwölf Jahre davon Gebrauch zu machen, den Nachzug von entsprechenden Integrationsvoraussetzungen abhängig zu machen, also zum Beispiel davon, ob die Sprache schon beherrscht wird oder ob klar ist, dass sie in kurzer Zeit erlernt werden kann. ({13}) Für diejenigen, die die Richtlinie nicht so genau kennen, sage ich: In der Europäischen Richtlinie ist für alle anderen Mitgliedstaaten ein Nachzugsalter von 18 Jahren vorgesehen. Nun lese ich in Abschnitt 2 Ihres Antrages, dass Sie das geltende Ausländer- und Asylrecht gerne als Grundlage für die Verhandlungen nutzen würden. Gleichzeitig ziehen Sie durch die Lande und bejammern als die Partei, die das Fähnchen für die Familien gerne besonders hochhält, dass man das Nachzugsalter nicht auf sechs Jahre absenken kann. ({14}) Hätten wir Ihrem Antrag gemäß auf der Grundlage unseres geltenden Rechts verhandelt, hätten wir keine Ausnahmemöglichkeit, das Nachzugsalter auf zwölf Jahre festzusetzen, sondern hätten ein Nachzugsalter von 16 Jahren akzeptieren müssen. Dieses Alter liegt immer noch unter dem, was die EU vorgibt. Ich möchte Sie bitten, sich einmal zu überlegen, was Sie politisch wollen: entweder geltendes Recht oder Ihre eigenen Positionen, die Sie im Lande verkünden. ({15}) Beides jedenfalls passt nicht zusammen, jedenfalls nicht so, wie Sie es hier vorgetragen haben. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheimnis, dass es in der Europapolitik zwischen CDU und CSU große Unterschiede gibt. ({17}) Selbst die „Rheinische Post“ schrieb gestern: Europastreit der Union schaukelt sich hoch. Im Artikel wird nachvollziehbar und auch so, wie wir es erleben, der Dissens beschrieben, der sich zwischen CDU und CSU mehr und mehr breit macht, insbesondere in aktuellen Fragen der Europapolitik. ({18}) Gerade Sie, Herr Strobl, müssten wissen, dass nicht zuletzt Wolfgang Schäuble unter so eingrenzenden europäischen Debatten, wie sie vonseiten der CSU geführt werden, zu Recht leidet. ({19}) Der Europastreit in der Union schaukelt sich hoch und findet seinen Ausdruck in Anträgen, in denen Sie sich an Formalien klammern und meinen, der Bundesregierung etwas zuschieben zu müssen. Ich möchte Sie in unser aller Interesse bitten, dass Sie zu einer konstruktiven Europapolitik zurückkehren, wie es wenigstens vor einigen Jahren in Ihrer Fraktion der Fall gewesen ist. ({20}) Sie müssen das anerkennen, was wir alle wussten, als wir uns mit Freude auf den Weg zu einem vereinten Europa gemacht haben: Europa bedeutet nicht, dass ein Land den Segen für alle bringt, sondern es bedeutet, dass alle miteinander an einem Tisch verhandeln müssen. Man muss sich zusammensetzen und akzeptieren, dass man nicht alles 1 : 1 erreicht, was man selber gerne hätte. Man muss in der Lage sein, auf andere zuzugehen und zusammen mit den anderen ein gemeinsames Europa zu bauen. Zur Verhandlungsposition - Herr Schröder hat es noch einmal angesprochen -: Wir erläutern unseren Standpunkt in jeder Ausschusssitzung mit Freude aufs Neue. Was wir natürlich nicht tun können, ist, die Verhandlungsstrategie ganz genau darzulegen. Aber ich glaube, dass jeder, der etwas von Politik und der Möglichkeit, etwas durchzusetzen, versteht, weiß, dass man dies nicht machen kann. Ich kann Sie darum nur bitten: Vertrauen Sie dem Bundesinnenminister. Seine Verhandlungsergebnisse zeigen uns jedes Mal aufs Neue, dass er derjenige ist, der das Interesse unseres Landes in Europa mit maximalem Erfolg vertritt. Darauf kommt es am Ende an. Darüber informieren wir Sie gerne jederzeit erneut. ({21})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es fällt mir als FDP-Politiker schwer, einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen; denn über die Ticker läuft die Meldung vom Tode Jürgen Möllemanns. Trotz der politischen Differenzen, die wir in letzter Zeit mit ihm hatten, gilt unser Beileid natürlich seiner Familie. Ein solcher Vorfall bewegt umso mehr, als Jürgen Möllemann vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit mir für die FDP mit dem Bundesinnenminister über Einzelheiten des Zuwanderungsgesetzes der letzten Legislaturperiode verhandelt hat. Das führt zu der heutigen Debatte, die auf Wunsch der CDU/CSU mit diesem Antrag die Zuwanderungsfrage, die wir schon am 9. Mai erörtert haben, noch einmal aufwirft. Ich glaube nicht, dass sich die Positionen der Fraktionen in diesen wenigen Wochen so sehr verändert haben, dass es Sinn macht, diese Debatte erneut zu führen. Aber in dem Antrag der CDU/CSU wird ein Kernproblem sehr richtig angesprochen, nämlich die Frage: Wie und in welchem Umfang können wir uns als Deutscher Bundestag, als nationale Parlamentarier an der Entscheidungsfindung auf der EU-Ebene beteiligen? Es ist in der Tat ein unguter Zustand, wenn uns von der EU her über Richtlinien eine Rechtsetzung aufgezwungen wird, die wir als Parlamentarier nachträglich nicht mehr beeinflussen können. Deswegen ist dies ein Problem, das ernsthaft diskutiert werden muss. Ich finde, es ist sogar ein zentrales Problem des viel geplagten EUDemokratiedefizits. ({0}) Wir brauchen den öffentlichen Diskurs, die öffentliche Debatte über die entscheidenden politischen Fragen, egal ob sie auf Länderebene, auf Bundesebene oder auf der EU-Ebene diskutiert werden. Deswegen ist es richtig, dass sich der Deutsche Bundestag einschaltet. Wir als FDP ergreifen ganz klar Partei für die Rechte des deutschen Parlaments, wie sie in Art. 23 des Grundgesetzes festgelegt sind. ({1}) Dennoch werden wir den CDU/CSU-Antrag ablehnen. ({2}) Denn er bringt erstens nichts wesentlich Neues; soweit er Neues bringt, geht er, zweitens, zu weit - ich werde das noch begründen -, und drittens sind wir der Meinung, dass eine Einigung über eine Migrationspolitik auf der EU-Ebene dringend erforderlich ist, was Sie mit Ihrem Antrag ja verhindern wollen. ({3}) Es ist immer zu begrüßen, wenn neue Kollegen im Bundestag versuchen, die Routine zu durchbrechen. Herr Dr. Schröder, der den Antrag der Union gerade begründet hat, hat sich darum verdient gemacht, dass die EU-Themen jetzt verstärkt im Innenausschuss diskutiert werden. Ich muss Ihnen trotzdem berichten: Das ist keine Neuigkeit. Darüber haben wir uns auch früher schon Gedanken gemacht. Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, das wir mit holländischen Abgeordneten geführt haben, in dem wir uns informiert haben, wie sie dies halten: Die niederländische Regierung hat in der Tat ein imperatives Mandat für ihre Position im EU-Ministerrat. Seinerzeit haben alle Fraktionen einvernehmlich die Auffassung vertreten: Der richtige Weg besteht darin, dass wir uns rechtzeitig in die Debatten einklinken, dass wir eine öffentliche Debatte herbeiführen, dass wir der Bundesregierung unsere Meinung mit auf den Weg geben - aber bewusst nicht in Form eines imperativen Mandats. Warum? Dies wäre nicht flexibel genug und ist der Verhandlungsebene EU nicht angemessen. Dass sich eine Bundesregierung in Verhandlungen mit zahlreichen europäischen Partnerstaaten auf eine Einigung hinbewegt - bei der Migrationspolitik halten wir dies, wie gesagt, sogar für dringend erforderlich -, wird unmöglich, wenn, wie Sie dies in Ihrem Antrag wollen, die Verhandlungsposition etwa durch ein so genanntes Mandatsgesetz ein für alle Mal festgeschrieben ist. Wenn das alle EU-Staaten täten, wäre jegliche Einigung von vornherein völlig ausgeschlossen. Das zeigt, dass der Weg, den Sie vorschlagen, nicht der richtige Weg ist. ({4}) Im Übrigen fällt mir auf, dass Sie ohnehin die letzte Konsequenz scheuen. Sie wollen in Ihrem Antrag die Verhandlungspositionen festschreiben. Das nutzt aber in Ihrem Sinne gar nichts. Eine anfängliche Verhandlungsposition kann ich zwar festschreiben, entscheidend ist dann aber die Abstimmungsposition. Das haben Sie nicht einmal so formuliert. Es wäre auch wirklich unsinnig, eine solche Bindung vorzunehmen. Ich sage dies, obwohl ich selber das Interesse einer Oppositionspartei habe, in diesen Diskussionen mitzuwirken. Auch wenn jeder Vergleich ein wenig hinkt, aber nehmen wir doch einmal das Beispiel des Bundesrates: Ist es denn dort so, Herr Kollege Koschyk, dass die bayerische Landtagsopposition der bayerischen CSUStaatsregierung verbindliche Direktiven für ein Abstimmungsverhalten mitgibt? - Keineswegs, und das ist doch eine gewisse Parallele. ({5}) - Da meine Redezeit fast schon zu Ende ist, kann ich jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen. Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung loswerden: Sie von der Union haben uns in den 90er-Jahren in der Asyldebatte immer wieder entgegengehalten, das Grundrecht auf Asyl, das wir verteidigt haben, werde sich in Europa nicht halten lassen. Jetzt haben sich anscheinend die Vorzeichen geändert. Von der EU kommt eine liberale Migrationspolitik. Wir als FDP fürchten diese nicht, Ihnen aber entspricht sie verständlicherweise nicht. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002624

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Max Stadler ist nun einmal demokratiefest. Denn das, was er eben dargelegt hat, ist völlig plausibel: Es ist das Recht und sogar die Aufgabe des Parlaments, Transparenz zu verlangen. Das schließt übrigens die Medien mit ein. Wir haben große Schwierigkeiten gehabt, EU-Themen dieser Art in den Medien zu platzieren. In diesem Bereich besteht durchaus Handlungsbedarf. Gleichzeitig hat der Kollege Stadler aber auch dargelegt, dass nicht mit imperativen Mandaten gearbeitet werden kann, wenn Regierungen aus 16 Staaten aufeinander treffen, die den Auftrag haben, Kompromisse zu schließen. Sie scheinen nach fast fünf Jahren in der Opposition vergessen zu haben, dass man Kompromisse schließen muss, wenn man eine Regierung stellt und Teil der Europäischen Union ist, ({0}) und dass man auf europäischer Ebene nicht mit der Erwartung antreten kann, die politischen Vorstellungen Deutschlands könnten uneingeschränkt übernommen werden. Es geht mir um den mangelnden demokratischen Geist, den Sie mit Ihrem Antrag offenbaren. ({1}) Dieser Geist wird in der Begründung Ihres Antrags deutlich. Sie weisen darin zunächst auf das Einstimmigkeitserfordernis innerhalb der EU hin, um dann festzustellen, dass dieses Erfordernis die Bundesrepublik Deutschland in die Lage versetzt, die Verabschiedung einer Ihrer Ansicht nach unangemessen großzügigen Einwanderungspolitik zu verhindern. Hier wird also darauf abgestellt, dass Deutschland die Möglichkeit einer Blockadepolitik hat, die auch in Anspruch genommen werden sollte. - Das kann sich vielleicht eine Opposition leisten, aber eine Regierung kann nicht so verfahren, wenn sie ein produktiver und konstruktiver Teil Europas sein möchte. ({2}) Jenseits der Verfahrensfrage ist in der umfangreichen Begründung des Antrags noch einmal alles zusammengetragen worden, das Ihre Sicht der Welt, der Migration und der Flüchtlingspolitik offenbart. In der Tat wird wieder deutlich, wie tief der Graben ist. Sie stellen erneut darauf ab, dass der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes, der den Bundestag bereits passiert hat, vermeintlich zu einer massiven Zunahme der Einwanderung führen würde. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie noch einmal zu bitten: Hören Sie doch mit dieser Verunsicherung der Bevölkerung auf, die sachlich nicht haltbar ist! ({3}) Vielleicht muss ich es noch einmal Punkt für Punkt ausführen, wenn es Ihnen so schwer fällt, es zu verstehen. Welche Zuwanderungsmöglichkeiten die EU-Bürgerinnen und Bürger haben, ({4}) entzieht sich aufgrund des Rechts auf Freizügigkeit jeglicher nationalen Gesetzgebung - sowohl unter unserer Regierung als auch unter einer von Ihnen geführten Regierung. Was den Familiennachzug aus Drittländern angeht, behaupten Sie fälschlicherweise, das sei die inzwischen größte Zuwanderungsgruppe unter in Deutschland lebenden Ausländern. Das ist in der Sache falsch. Offensichtlich haben Sie noch nicht gemerkt, dass sich auch die Zusammensetzung unserer Bevölkerung ändert. Es gibt nämlich zunehmend mehr Deutsche, die Ausländer oder Ausländerinnen heiraten. Bei dem Ehegattennachzug von Ausländern nach Deutschland handelt es sich zu mehr als 50 Prozent um den Zuzug zu Deutschen, die außerhalb des Landes geheiratet haben. Wollen Sie diesen Menschen erklären, dass Sie das Recht auf Zusammenleben in einer Familie gesetzlich einschränken wollen? ({5}) - Wenn Sie sagen, darum gehe es nicht, stimmen wir in dieser Frage ja überein. - Insofern gibt es auch in diesem Bereich nur begrenzte Steuerungsmöglichkeiten. Es gibt des Weiteren die Gruppe der Spätaussiedler. Gestern haben wir im Innenausschuss darüber gesprochen, dass es scheinbar fraktionsübergreifend Überlegungen gibt, die Ansiedlungspolitik sehr behutsam und sensibel zurückzufahren. Daneben gibt es die Gruppe der jüdischen Kontingentzuwanderer. Ich gehe davon aus, dass niemand in diesem Haus diese Zuwanderung infrage stellt. Und schließlich gibt es die Gruppe der Asylbewerber, die Schutz suchen und die aufgrund von völkerrechtlichen Verbindlichkeiten - sei es die Genfer Flüchtlingskonvention, sei es die Europäische Menschenrechtskonvention - auch ein Recht auf Schutz in Deutschland haben. Das alles ist bisher in dem alten Ausländerrecht geregelt gewesen und wird auch in dem neuen Ausländerrecht geregelt sein. Es wird nur ein neues Türchen aufgestoßen: Es wird nämlich die Möglichkeit geben, Arbeitsmigranten aus Drittstaaten in denjenigen Bereichen anzuwerben, in denen der deutsche Arbeitsmarkt kein Arbeitskräfteangebot vorhalten kann. ({6}) Es ist absehbar, dass angesichts einer solch hohen Arbeitslosigkeit wie im Augenblick dieses kleine Türchen sehr schmal bleiben wird; denn es gilt das Vorrangprinzip. Es ist durch nichts, aber auch durch gar nichts gerechtfertigt, dass Sie ständig - offensichtlich bewusst; denn Sie müssten inzwischen in der Lage sein, den Gesetzentwurf zu lesen - Verunsicherung und Ängste in der Bevölkerung hervorrufen, indem Sie vor einem drohenden massenhaften Zuzug warnen. Es ist schlichtweg nicht in Ordnung, bei einem solch sensiblen Thema in dieser Art und Weise öffentlich zu agieren. ({7}) Ich möchte noch auf einen anderen inhaltlichen Kernpunkt zu sprechen kommen. Sie verbinden - das hat sich schon in der gestrigen Beratung des Innenausschusses gezeigt - die Ausländerinnen und Ausländer überwiegend mit Worten wie „Defizit“, „Problem“, „Herausforderung“ oder „Konflikt“. Offensichtlich wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen eine große Zahl von Migrantinnen und Migranten Teil unserer Bevölkerung geworden ist, dass sie zu uns gehören und integriert sind. Natürlich gibt es auch Probleme. Aber Ihre Argumentation, dass eigentlich alle Ausländer tendenziell ein Problem seien und dass wir deswegen alles versuchen müssten, um so viele Grenzen wie nur möglich hochzuziehen, wirkt negativ auf das Klima und die Stimmung in unserer Bevölkerung und auch darauf, wie Migranten, aber auch wie Menschen, die erkennbar anders aussehen, von unserer Bevölkerung angesehen und angesprochen werden. Das - das sage ich Ihnen aus tiefer Überzeugung; hier spreche ich als Anwältin der Migranten - spüren viele Migranten in winzig kleinen Alltagsgesten, Zurückweisungen und Ressentiments auf sprachlicher Ebene, aber auch durch Blicke, durch Wegrücken und durch vieles mehr. Ich möchte Sie noch einmal bitten, darüber nachzudenken, dass Sie Verantwortung für das übernehmen, was Sie tun. Ein Klima, das es Menschen, die von woanders herkommen, schwer macht, gleichberechtigt und anerkannt in unserem Land zu leben, dürfen Sie nicht mit erzeugen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Beck, was Sie eben gemacht haben, ist nicht in Ordnung; denn Sie haben um einen ganz entscheidenden Punkt herumgeredet. Zurzeit liegen auf dem Tisch des EU-Innenministerrates eine Vielzahl von Richtlinienentwürfen, die das Asylrecht betreffen. Sie müssen schon den Zuschauern und den Kollegen deutlich machen, dass man dann, wenn diese Entwürfe EU-Recht werden würden, den gesamten Asylkompromiss von CDU/CSU, SPD und FDP vergessen könnte. ({0}) Die Drittstaatenregelung, das Flughafenverfahren und die Liste über die sicheren Herkunftsländer wären weg. Dann hätten wir nicht ein Türchen, sondern ein riesiges Einfallstor für eine neue Zuwanderung aufgemacht. Dann bekommen Sie Integration, die von Deutschen und Ausländern gleichermaßen akzeptiert wird, nicht mehr hin. Deshalb ist es nicht in Ordnung, dass Sie diesen Aspekt des Asylrechts in Ihrer Rede völlig ausgeschlossen haben. ({1}) Herr Stadler, Sie haben den Sachverhalt auch nicht ganz richtig dargestellt, was die Europafestigkeit des Grundrechts auf Asyl angeht. Das ist gerade unser Problem. Weil wir als einziges Land in Europa einen Individualanspruch, ein so ausgestaltetes, nicht europataugliches Asylrecht haben, haben wir die Probleme. ({2}) Hätten wir wie alle übrigen Länder eine reine Institutsgarantie, könnten wir uns viel eher über Harmonisierung auf europäischer Ebene unterhalten. ({3}) Das Grundrecht auf Asyl ({4}) hat eben die Konsequenz, dass wir wie kein anderes Land in Europa von Zuwanderung durch Asylbewerber betroffen sind, die kein Recht haben, sich auf das Asylrecht zu berufen. Das ist das Thema. ({5}) Frau Staatssekretärin, damit es da keine Unklarheiten gibt: Die Frage, wie das Problem der Zuwanderung im neuen Verfassungsvertrag zu behandeln ist - das steht auch in dem Artikel der „Rheinischen Post“, und zwar ganz am Ende -, ist zwischen CDU und CSU, auch in unserer Fraktion, völlig unstreitig. Wir sind grundsätzlich dafür, dass das in die nationale Zuständigkeit zurückgeführt wird, weil mit diesem Verfassungsvertrag auch eine klare Kompetenzabgrenzung bezweckt war und nicht zuletzt auch deshalb, weil sich gerade in Deutschland das Problem der Zuwanderung mit einer Schärfe stellt, wie das in keinem anderen Land der Fall ist. ({6}) Deswegen geht es bei der Frage, wie man den Verfassungsvertrag sieht, auch ein bisschen darum, nationale Interessen wahrzunehmen. Auch den Blick dafür sollten wir nicht verlieren. Es ist zu befürchten, dass sich der deutsche Innenminister heute im Innenministerrat wieder an einem schlechten Schauspiel beteiligt, ({7}) bei dem in Wahrheit die Grünen Regie führen. Der Kollege Volker Beck hat in Interviews mehrfach ganz offen die Strategie vorgegeben. Ich zitiere, was er gesagt hat: Falls kein Kompromiss über das Zuwanderungsgesetz zustande kommt, können wir besser mit den Regelungen leben, die auf europäischer Ebene sowieso kommen. ({8}) Ich sage Ihnen: Es ist nicht entscheidend, womit die Grünen leben können, sondern es ist entscheidend, womit Deutsche und - ich betone: und! - Ausländer leben können. ({9}) Deutsche und Ausländer, Frau Beck, brauchen ein Klima, in dem Integration möglich ist, ({10}) in dem es auf beiden Seiten Integrationsbereitschaft gibt. Deswegen haben wir über ein Integrationsgesetz und über weiter gehende Maßnahmen im Bereich der Integration gesprochen. Ich sage Ihnen: Das von Ihnen gewünschte Klima bekommen wir nur, wenn wir uns um mehr Integration, aber nicht um mehr Zuwanderung kümmern. Das ist unser entscheidender Ansatz und darin unterscheiden wir uns. Das ist wahr. ({11}) Ich will die Auswirkungen der europäischen Richtlinien auf das deutsche Ausländerrecht nur an einem Beispiel erläutern. Nach dem, was wir aus Luxemburg gehört haben, ist heute offenbar der Richtlinienvorschlag zum Status langfristig aufhältiger Drittstaatsangehöriger - in der Sprache der EU-Bürokraten heißt das so - abschließend beraten worden. Die Kommission will - das ist offenbar angenommen worden -, dass Ausländer bereits nach fünfjährigem Aufenthalt eine Aufenthaltsverfestigung bekommen, ohne dass dafür ein eigener Integrationsbeitrag geleistet werden muss. Wenn das Wirklichkeit wird, dann können wir Integrationskurse im Ausländerrecht vergessen. ({12}) Wir sagen: Wer sich als Ausländer

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich will nur den Satz zu Ende führen; dann kann Herr Winkler gern fragen - beharrlich weigert, unsere Sprache zu lernen, wer jedes bisschen Integration verweigert, der darf doch nicht automatisch eine Aufenthaltsverfestigung bekommen. Wir brauchen doch einen Anreiz, damit es zur Integration kommt. Deswegen ist es sinnvoll, Aufenthaltsverfestigung an Integrationsleistungen zu knüpfen. Das haben Sie heute in Luxemburg aufgegeben. Hinter den verschlossenen Türen des Rates haben Sie wieder unsere Diskussion um das Zuwanderungsrecht vorbestimmt und einen ganz zentralen Punkt, wo es um mehr Integration geht, unmöglich gemacht. ({0}) Dieses Verfahren ist nicht in Ordnung. Das lehnen wir ab. ({1})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Grindel, wären Sie bereit, anzuerkennen, dass Ihre Formulierung, Zuwanderung sei ein Problem, dazu beitragen könnte, genau das gesellschaftliche Klima zu erzeugen, von dem Sie gerade sagten, dass auch Sie es nicht erzeugen wollen, nämlich ein gegenüber Zuwanderern feindliches Klima, und wären Sie bereit, in Zukunft Ihre Formulierung diesbezüglich zu überdenken? ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für mich, lieber Kollege Winkler, sind Ausländer kein Problem. Für mich sind nicht integrierte Ausländer ein Problem. ({0}) Für mich ist ein Problem, dass mir immer mehr Menschen sagen: Was redet ihr im Parlament eigentlich herum? Guckt doch mal auf die Straßen, um zu sehen, welche Probleme wir haben ({1}) mit - das ist nicht zu leugnen - Intensivtätern aus der Türkei, aus arabischen Ländern und, wie ich gern zugeben will, auch mit jugendlichen Aussiedlern. Herr Kollege Winkler, die Integration in diesem Land wird scheitern, wenn wir die Sorgen und Nöte der Menschen nicht ernst nehmen, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass wir uns damit nicht auseinander setzen, weil wir es für politisch nicht opportun halten. ({2}) Um es ganz klar zu sagen: Es ist zum Beispiel auch ein Mittel, um Rechtsextremisten zu bekämpfen. Den Rechtsextremisten dürfen wir keinen Fußbreit weichen; deswegen müssen wir diese Themen aufgreifen und uns mit ihnen auseinander setzen. Wir dürfen sie nicht aufgrund einer - wie auch immer gearteten - politischen Kultur verschweigen. Deswegen sprechen wir diese Probleme an. ({3}) Wenn wir schon über die Harmonisierung des Asylrechts in Europa reden: Warum hat die Europäische Kommission bis heute eigentlich keine Richtlinie für eine gerechtere Lastenverteilung in Europa vorgelegt? Der für das Asylrecht zuständige EU-Kommissar ist ein portugiesischer Sozialist. ({4}) Portugal hat im letzten Jahr 245 Asylbewerber aufgenommen und gehört zu den größten Nettoempfängern innerhalb der Europäischen Union. Es wäre doch nur fair, wenn uns Portugal einige Tausend Asylbewerber abnähme, so wie es bei der Verteilung der Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer der Fall ist. Ich frage mich, ob dieser portugiesische Kommissar noch die gleichen - relativ weltfremden - Richtlinienentwürfe wie derzeit vorlegen würde, wenn es innerhalb der EU eine Lastenverteilung gäbe. ({5}) Diese Frage richtet sich nicht nur an den Kommissar aus Portugal, sondern auch an den deutschen Bundesinnenminister. Warum hat Herr Schily nicht ein einziges Mal gesagt: Ich will eine Richtlinie zur Lastenverteilung; sonst behalten wir die vielen Fragen der Zuwanderung in der Zuständigkeit der nationalen Parlamente und Regierungen? ({6}) Wenn es um eine Harmonisierung geht, müssen wir auch über die Sozialleistungen sprechen. Die Bedingungen sind in keinem anderen Land so attraktiv wie in Deutschland. In vielen EU-Ländern - auch das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen - gibt es für Asylbewerber nur sehr geringe Sozialleistungen, die zudem zeitlich begrenzt sind. Dort gibt es eine medizinische Versorgung nur in absoluten Notfällen. NGOs und gemeinnützige Einrichtungen spielen bei der Versorgung der Asylbewerber in vielen EU-Ländern die entscheidende Rolle. Wenn wir den Rechtsrahmen für Asylbewerber in Europa schon vereinheitlichen, dann sollten Asylbewerber in Deutschland auch in Zukunft nur so versorgt werden, wie das in Österreich, in den Niederlanden, in Italien oder in Spanien üblich ist. ({7}) Wenn wir über die Kürzung sozialer Leistungen in vielen Bereichen sprechen, dann muss es auch erlaubt sein, über Kürzungen bei Sozialleistungen für Asylbewerber und geduldete Ausländer nachzudenken. ({8}) Einige Zyniker sagen: Was regt ihr euch auf? Wenn Rot-Grün so weitermacht, dann werden bald auch die Asylbewerber einen Bogen um Deutschland machen. So denken wir nicht. Wir wollen, dass es mit unserem Land wieder aufwärts geht. Wir wollen aber nicht, dass es mit den Asylbewerberzahlen wieder aufwärts geht. Das wäre aber die unweigerliche Konsequenz, wenn die Vorschläge für die Asylrichtlinien tatsächlich EU-Recht werden würden. Das müssen jeder politisch Verantwortliche und jeder Bürger in unserem Land wissen. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung und ihrem Innenminister, dass diese Richtlinienentwürfe, so wie sie jetzt auf dem Tisch liegen, sofort in den Schreibtischen der Kommission wieder verschwinden und niemals Gesetz werden. Dazu sollte Herr Schily in Brüssel, in Luxemburg, in Saloniki oder wo auch immer seinen Beitrag leisten. Schönen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Lale Akgün, SPDFraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte es für wichtig, dass dieses Thema heute auf der Tagesordnung steht. Nicht dass ich im Antrag der CDU/CSU irgendetwas Sinnvolles und Beschließenswertes entdeckt hätte, aber man kann anhand dieses Antrags erkennen und deutlich machen, wie konfus, konzeptlos und rückwärts gerichtet die Vorstellungen der Union von Zuwanderungspolitik und vom künftigen Europa sind. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, insbesondere liebe Kollegen Grindel und Schröder, es gibt kaum ein Thema, das in den letzten Wochen und Monaten von den Innenpolitikern so intensiv diskutiert wurde wie dieses: In jeder Sitzungswoche gab es Treffen der Berichterstatter, für Juli ist eine Anhörung angesetzt und der Innenausschuss hat mehrfach einzelne Richtlinien diskutiert. Das Ergebnis all dieser Beratungen ist, dass Sie heute einen Antrag vorgelegt haben, in dem Sie behaupten, Sie seien nicht ausreichend informiert. Ihre vorgebrachten Argumente zeigen: Es mangelt Ihnen nicht an Information, sondern an Verständnis für die Zusammenhänge und vor allem an europäischem Bewusstsein. ({1}) Ich will das anhand einiger grundsätzlicher Punkte - die Formulierung der einzelnen Richtlinien diskutieren wir ja wöchentlich, auch wieder im Anschluss an diese Debatte - aufzeigen. Widerspruch eins: Sie beklagen - ich zitiere - „den weit gehenden Verlust der nationalen Gestaltungsfähigkeit in Asyl-, Ausländer- bzw. Zuwanderungsfragen“ und erwarten, dass die Bundesregierung das deutsche Ausländerrecht in den Verhandlungen über die Richtlinien eins zu eins abbildet. Sie fordern sogar, die Bundesregierung müsse ein Veto einlegen, wenn dies nicht vollständig gelinge. Nur einige Absätze später formulieren Sie folgenden Satz: Ziel einer europäischen Ausländer-, Zuwanderungs- und Asylpolitik muss es sein, im gesamten Raum der EU gleiche Regelungen für Aufnahme, Aufenthalt und Aufenthaltsbeendigung von Flüchtlingen ... zu schaffen ...

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Akgün, ich stimme Ihnen zu, dass wir häufig - auch gestern im Ausschuss - über diese Themen gesprochen haben. Aber wie bewerten Sie es denn, dass die Bundesregierung im Vorfeld des heute tagenden Innenministerrats zunächst davon gesprochen hat, dass es bei der Entscheidung über die von mir angesprochene Richtlinie noch einige schwierige Punkte gebe, über die Einigung zu erzielen sei, weswegen mit einer Einigung nicht zu rechnen sei, und uns eine Presseagentur heute mitteilt, dass sich der Innenminister über diese Richtlinie gerade mit seinen 14 Kollegen verständigt hat? ({0}) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir zwar darüber geredet haben - das beklagen wir nicht -, wir über den wirklichen Verhandlungsstand und darüber, wie der Innenminister die Verhandlungen im Rat vorantreibt, aber überhaupt nicht informiert werden?

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grindel, Sie haben es doch selbst gesagt: Wenn man die Verhandlungsergebnisse vorher wüsste, bräuchte man nicht mehr zu verhandeln. Was wollen Sie eigentlich? Gleiche Regeln in ganz Europa, aber bitte für alle verbindlich mit heute gültigen deutschen Rechtsnormen? Oder wollen Sie, dass man wirklich versucht, der europäischen Dimension zur Geltung zu verhelfen? ({0}) Sie müssen doch verstehen: Die 15 Staaten haben völlig unterschiedliche - teils liberale, teils restriktive - Regelungen zur Zuwanderung. Wollen Sie, dass wir die Ergebnisse schon vorher in der Tasche haben? Das geht nicht, Herr Grindel. ({1}) So kann man nicht miteinander verhandeln. Deutschland besitzt viele Spezifika im Ausländerrecht, die anderen Staaten völlig unbekannt sind. Wir unterscheiden zum Beispiel beim Familiennachzug zwischen GFK-Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten. In solchen Fragen müssen Kompromisse gefunden werden, die der Situation aller Mitgliedstaaten gerecht werden. Ihre Forderung ist so, als würden die Briten ein einheitliches Verkehrsrecht in der EU fordern; aber nur dann, wenn alle anderen Staaten auf Linksverkehr umstellen. ({2}) Wissen Sie, was bemerkenswert ist? Der Bundesinnenminister hat es in zähen Verhandlungen geschafft, in den meisten Punkten das deutsche Recht abzubilden, sprich: den Linksverkehr in Europa durchzusetzen. Jetzt kommen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, und sagen: Linksverkehr reicht uns nicht; wenn die deutsche Norm für die Rückspiegelgröße nicht übernommen wird, legen wir ein Veto ein. ({3}) Oder um es auf unser Thema zu übertragen: Wegen einer eventuellen minimalen Änderung des Rechtsstatus einiger weniger wären Sie bereit, die europäische Einigung in einem solch wichtigen Punkt zu begraben. Darf ich Sie daran erinnern, dass die Vorgehensweise und die Zuständigkeit der EU für diese Frage im Amsterdamer Vertrag geregelt sind? Darf ich Sie daran erinnern, dass die Unionsparteien den Amsterdamer Vertrag mitgetragen, ja, in ihrer Regierungszeit entscheidend mitverhandelt haben? Wo ist denn der europäische Geist Ihrer Partei geblieben? Wo ist der europäische Geist - das sage ich als Kölnerin - eines Konrad Adenauer geblieben? Er würde sich angesichts Ihrer Europaskepsis heute im Grab umdrehen. ({4}) Widerspruch zwei: Sie fordern, dass die Bundesregierung strikt nach dem heute geltenden deutschen Ausländerrecht und nicht nach dem Zuwanderungsgesetz verhandelt. Gleichzeitig lese ich in Ihren Kommentaren zu den einzelnen Richtlinien, dass Sie sich selbst nicht nach dem deutschen Ausländerrecht richten, sondern andere, zum Teil dem Zuwanderungsgesetz ähnliche Regelungen fordern. Hier ist zum einen die Familienzusammenführung zu nennen. Die Bundesregierung hat es in einem Kraftakt geschafft, ein Kindernachzugsalter von zwölf Jahren durchzusetzen, wie es auch im Zuwanderungsgesetz steht, übrigens gegen alle anderen Mitgliedstaaten, die ein Nachzugsalter von 18 Jahren haben. Jetzt sagen Sie Folgendes: Das Nachzugsalter ist noch immer zu hoch, Sie wollen ein Nachzugsalter von maximal zehn Jahren, manchmal auch von sechs, wie es gerade passt; wir sollen uns nicht am Zuwanderungsgesetz, sondern am geltenden Recht orientieren. Das Problem ist: Im geltenden deutschen Ausländerrecht ist das Nachzugsalter 16 Jahre. Deswegen müssen Sie mir schon erklären, was Sie eigentlich wollen: den mit Ihnen im Zuwanderungsgesetz ausgehandelten Kompromiss oder das geltende Recht? Oder, andersherum gefragt: Was ist mehr, zehn oder 18? Dann gibt es in Ihrem Antrag die Forderung, fünf Jahre rechtmäßiger Aufenthalt seien nicht ausreichend für die Erlangung eines langfristigen EU-Aufenthaltsrechts. Ich frage mich, wie das mit deutschem Recht konform geht; denn das sieht schon heute die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach fünf Jahren vor. Sie fordern einen Integrationsbeitrag durch Erlernen der deutschen Sprache. An diesem Punkt sind wir uns völlig einig; aber das steht so nicht im Ausländerrecht, sondern im Zuwanderungsgesetz. ({5}) Es gibt einen dritten Punkt, bei dem wir uns in der Tat am Zuwanderungsgesetz orientieren, und zwar ganz bewusst: Das ist die Anerkennung der nicht staatlichen und geschlechtsspezifischen Verfolgung als Fluchtgrund. Wir tun das - ich sage es noch einmal - ganz bewusst, weil wir die Einzigen in Europa sind, die sich einer solchen Statusverbesserung für wenige Hundert Personen bisher verschließen. Es kann doch nicht das Ziel deutscher Politik sein, im humanitären Bereich auf ewig europäisches Schlusslicht zu bleiben. Da sollten Sie von Ihrer Position herunterkommen. Ihre konservativen und christdemokratischen Freunde in den anderen EU-Staaten teilen Ihre Position in diesem Punkt übrigens auch nicht. Widerspruch Nummer drei: Sie fordern von der EU ein Gesamtkonzept im Bereich Asyl- und Einwanderungspolitik. Andererseits sprechen Sie der EU an allen Ecken und Enden die Kompetenz für dieses Thema ab und torpedieren selbst einzelne Richtlinienvorschläge bei jedem denkbaren Nebensatz. ({6}) Auch da weiß ich nicht, was Sie eigentlich wollen. Was ich weiß, ist: Sie haben vor kurzem eine hervorragende Gelegenheit verpasst, ein gutes Gesamtkonzept im Bereich Asyl- und Einwanderungspolitik auf nationaler Ebene mit zu beschließen, nämlich das Zuwanderungsgesetz. Auch hier war Ihre Taktik leider genau so wie heute im europäischen Bereich: zuerst ein Gesamtkonzept fordern, dann Einzelforderungen für einen Kompromiss aufstellen, und wenn die Forderungen dann im Kompromisspapier stehen, wird das Ergebnis abgelehnt, weil es nicht der Maximalforderung entspricht. Sie sagen mal Ja, mal Nein, weil Sie im Bereich Zuwanderung gar kein Konzept haben und nicht wissen, was Sie wollen. Einen klugen Satz habe ich in Ihrem Antrag gelesen. Er heißt: Wer umfassende Problemstellungen ohne Berücksichtigung von Zusammenhängen erledigen will, verliert zwangsläufig den Überblick. Der Satz ist nicht deshalb klug, weil wir dadurch im Thema weiterkämen, sondern deshalb, weil er eine passende Zustandsbeschreibung Ihrer Politik ist. Zuwanderung ist ein komplexes Thema, das eine langfristige Perspektive braucht und bei dem alle Zusammenhänge berücksichtigt werden müssen: Arbeitsmarkt, Demographie, Integration, Fluchtursachenbekämpfung und vieles mehr. Sie verlieren den Überblick, weil Sie zurzeit nur einen Zusammenhang sehen, nämlich den zwischen konfuser Zuwanderungspolitik, populistischen Forderungen und den anstehenden Landtagswahlterminen. Das aber ist kein Konzept. Daher rate ich Ihnen: Lassen wir diesen Antrag schnell verschwinden; denn er ist unaktuell, inhaltlich falsch und uneuropäisch. Lassen wir ihn verschwinden und kehren wir zur konkreten Sacharbeit zurück, so wie wir es in den letzten Wochen und Monaten getan haben. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vorgehensweise, mit der die Bundesregierung beharrlich versucht, ihre Zielsetzungen in puncto Zuwanderung und Migration durchzusetzen, ist einem beim Verhalten von Kleinkindern bestens bekannt. Sie werden es schon öfter festgestellt haben: Wenn ein Kind seinen Willen bei der Mutter nicht durchsetzen kann, dann versucht es dies flugs darauf beim Vater. Rot-Grün ist am 18. Dezember vergangenen Jahres mit dem Zuwanderungsgesetz kläglich vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert, ({0}) hat aber nichts Besseres zu tun, als das Zuwanderungsgesetz wortgleich in den Bundestag einzubringen und nebenbei über die Hintertür der europäischen Zuwanderungs- und Asylpolitik die eigenen ideologischen Zielsetzungen zu verfolgen. ({1}) Der Parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/ Die Grünen, der Kollege Volker Beck, hat dieses Ansinnen in verräterischer und offenkundiger Art und Weise offenbart, indem er sich nach dem Scheitern des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht in der „Welt“ vom 21. Dezember 2002 wie folgt äußerte: Dann können wir besser mit dem geltenden Ausländerrecht leben und mit den Regelungen, die auf europäischer Ebene sowieso kommen … ({2}) Ein weiteres markantes Beispiel für die Ignoranz des Bundesinnenministers Schily gegenüber Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist, dass er Ende Mai, also erst vor kurzem, in Nürnberg ohne rechtliche Grundlage den im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration installierte. ({3}) Dies stellt eine eklatante Missachtung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundestages und des Bundesrates dar. ({4}) Nahezu unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit erfolgen auf europäischer Ebene derzeit entscheidende Weichenstellungen für das künftige deutsche Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrecht. Dabei muss allen eines klar sein: Der einzige Garant dafür, dass wir in Deutschland eine Zuwanderungspolitik betreiben können, die insbesondere den gesellschafts- und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen entspricht, kann nur die Bundesregierung sein; denn auf europäischer Ebene können wir für unsere Belange keine Schützenhilfe erwarten. Aber die Bundesregierung wird diesem Auftrag nicht gerecht; ({5}) Stephan Mayer ({6}) denn eine effektive Zuwanderungsbegrenzung ist nicht das Anliegen der rot-grünen Koalition. Es kann nicht angehen, dass der Bundesinnenminister Schily auf europäischer Ebene nicht auf Grundlage des derzeit in Deutschland gültigen Ausländer- und Asylrechts verhandelt, sondern auf Grundlage des ideologisch verbrämten Zuwanderungsgesetzes. ({7}) Das Ziel ist klar: Es sollen auf europäischer Ebene vollendete Tatsachen geschaffen werden, weil Ihnen bewusst ist, dass das von Ihnen eingebrachte Zuwanderungsgesetz in Deutschland in der vorliegenden Form nie Rechtswirklichkeit erlangen kann. Es ist ein Unding, dass hinterrücks über die Verabschiedung einiger weniger EU-Richtlinien wichtige und unabdingbare Grundpfeiler unseres Asyl- und Zuwanderungsgesetzes ausgehebelt und ausgehöhlt werden. Kein anderer Staat Europas hat so viele Ausländer aus NichtEU-Staaten wie Deutschland. Zwischen 1996 und 2000 lag die Zahl derjenigen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kamen, zwischen 55 886 und 75 888 Personen. ({8}) Die Zahlen weisen also eindeutig eine steigende Tendenz auf. Vor diesem Hintergrund sind die in dem Entwurf einer Familienrichtlinie beabsichtigten großzügigen Familiennachzugsmöglichkeiten für Deutschland besonders belastend. So kann es eben nicht angehen, dass ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bereits nach fünf Jahren besteht sowie ein Anspruch auf Ehegattennachzug geschaffen wird, auch wenn die Ehe erst nach der Einreise geschlossen wurde. Vor dem Hintergrund unserer ohnehin äußerst angespannten Lage unserer sozialen Sicherungssysteme ist es nicht akzeptabel, dass die Richtlinie den Familiennachzug zu Flüchtlingen vorsieht, auch wenn kein ausreichender Nachweis über Wohnraum, Krankenversicherung und Unterhalt erbracht wird. ({9}) Eine generelle Ausweitung der Zuwanderung ist ebenfalls nicht sachgerecht. Abgesehen davon, dass die Europäische Union über keinerlei Kompetenz zur Arbeitsmarktregelung verfügt und auch nicht verfügen soll, ist es nicht tragbar, dass angesichts der heute Vormittag veröffentlichten aktuellen Arbeitslosenzahlen von 4,42 Millionen für Deutschland und 15 Millionen für Europa die Voraussetzungen für Nicht-EU-Ausländer zur Arbeitsaufnahme in Deutschland drastisch reduziert werden. Als der Anwerbestopp für Nicht-EU-Ausländer von der damaligen sozial-liberalen Koalition 1973 verhängt wurde, betrug die Arbeitslosenquote in Deutschland 1,2 Prozent. Heute beträgt die bundesweite Arbeitslosenquote über 10 Prozent. Die rot-grüne Bundesregierung beabsichtigt dennoch, den Anwerbestopp für NichtEU-Ausländer aufzuheben. Der Richtlinienvorschlag über Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit sieht vor, dass ein einklagbarer Anspruch auf einen Aufenthaltstitel geschaffen wird, wenn eine freie Stelle nicht innerhalb von nur drei Wochen anderweitig besetzt werden kann. Ich fordere die rot-grüne Bundesregierung deshalb nachdrücklich auf, sich mit aller Kraft gegen diesen Richtlinienvorschlag zur Wehr zu setzen; denn schon heute ist der Anteil der Arbeitslosen unter den Ausländern in Deutschland doppelt so hoch wie unter den Deutschen und der Anteil der Sozialhilfeempfänger unter den Ausländern ist dreimal so hoch wie unter der deutschen Bevölkerung. Weitere Kernelemente des deutschen Asyl- und Zuwanderungsrechts, die Drittstaatenregelung, die Herkunftsstaatenregelung sowie die Flughafenregelung, sollen über die Hintertür Europa - die Zahlen sprechen für sich - ad absurdum geführt werden. ({10}) - Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, die Neuerung des deutschen Asylrechts aus dem Jahre 1993 hat sich bewährt. So sank zwischen 1993 und heute die Zahl der Asylbewerber von 438 000 auf circa 71 000 Personen pro Jahr. ({11}) Die Drittstaatenregelung soll nun laut dem Richtlinienentwurf über Mindestnormen für Asylverfahren sowie Zu- und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft dadurch aus den Angeln gehoben werden, dass es keine Einreiseverweigerung an der Grenze ohne Einleitung eines Asylverfahrens mehr geben darf und dass grundsätzlich eine individuelle Einzelfallprüfung zu erfolgen hat. Eine Abweisung an der Grenze durch die Grenzbehörden wäre dann nicht mehr möglich und die Drittstaatenregelung wäre eine jederzeit widerlegbare Vermutung. Auch einer Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs kann in der von der Europäischen Union beabsichtigten Form nicht unwidersprochen zugestimmt werden. ({12}) Rot-Grün muss sich endlich von dem Wunschgedanken verabschieden, das gesamte Unheil der Welt auf deutschem Boden lösen zu wollen und zu können. ({13}) Es besteht daher überhaupt kein Anlass, den Flüchtlingsbegriff auf nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung zu erweitern. Abgesehen davon gilt es, ganz Stephan Mayer ({14}) deutlich darauf hinzuweisen, dass das deutsche Ausländerrecht schon in der heute gültigen Form ausreichend Möglichkeiten bietet, ({15}) dass Personen, die geschlechtsspezifisch oder nicht staatlich verfolgt werden, nicht abgeschoben werden können. Ich erinnere an dieser Stelle an § 53 des Ausländergesetzes. ({16}) Deutschland ist ein ausländerfreundliches und offenes Land. ({17}) Die deutsche Bevölkerung ist gerne bereit, Ausländer in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Dies sieht man allein daran, dass in Deutschland mit 9,3 Prozent nahezu doppelt so viele Ausländer leben wie durchschnittlich in den anderen Ländern der Europäischen Union. Nur ist es als politische Verantwortungsträger unsere Pflicht und Schuldigkeit, die Integrationskraft und die Integrationsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland nicht zu überfordern und über Gebühr zu belasten, ({18}) indem die ohnehin schon eine Größenordnung von Städten wie Dortmund und Nürnberg umfassende jährliche Zuwanderung von 600 000 Personen ungezügelt und unkalkulierbar erhöht wird. ({19}) Die Bundesregierung kann an der entscheidenden Stellschraube drehen. Der Bereich des Einwanderungsund Zuwanderungsrechts unterliegt auf europäischer Ebene dem Einstimmigkeitserfordernis. Werden Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, daher endlich Ihrer nationalen Verantwortung gerecht! Verhindern Sie eine weitere Liberalisierung des Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrechts auf europäischer Ebene und sorgen Sie dafür, dass eine ausgewogenere und gerechtere Verteilung zwischen den Mitgliedsländern innerhalb der Europäischen Union erreicht wird! ({20}) Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({21})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Bürsch, SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Schluss der Debatte bietet immer die Möglichkeit, von den Aufgeregtheiten, Zuspitzungen, Übertreibungen und Horrorszenarien auf den Kern dessen zurückzukommen, worüber Sie heute sprechen wollen. Der Kern ist im Grunde die Fragestellung: Wollen wir eine Wagenburg Deutschland, in die möglichst kein Nichtdeutscher hineinkommt, ({0}) oder wollen Sie der Tatsache Rechnung tragen, dass Deutschland wie auch seine Nachbarn ein Land ist, ({1}) das Zuwanderung und Abwanderung erlebt? ({2}) Noch wichtiger ist die Frage: Wollen wir eine Lösung für Deutschland, also nach deutschem Muster, auf 14 andere Länder übertragen - ab nächstem Jahr auf zehn weitere Länder - oder wollen wir im 21. Jahrhundert eine fortschrittliche Lösung für - das betone ich - Europa, die der Tatsache der Globalisierung Rechnung trägt? Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, haben praktisch nur über Deutschland, Deutschland, Deutschland gesprochen. ({3}) Sie wollen den Ausländer an sich nicht. Er ist in Ihrer Weltanschauung ein Problem. ({4}) Das ist keine Grundlage für eine humane und fortschrittliche Lösung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bürsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Grindel, wenn Sie später auf Ihre Zwischenfrage zurückkommen, gerne. Eines will ich Ihnen aus didaktischen Gründen vor Augen führen - Stichwort: Europa; es ist immer wieder einmal gut, auf die Grundlagen einzugehen -: Der Europäische Rat von Tampere hat im Oktober 1999 grundlegende politische Vorgaben für eine europäische Migrationspolitik definiert. Die Eckpunkte lauten: Erstens. Die Europäische Union soll eine umfassende Asyl- und Einwanderungspolitik entwickeln und dabei der Notwendigkeit der Kontrolle der Außengrenzen Rechnung tragen. - Das ist ein Auftrag. Zweitens. Die Gemeinschaft bekennt sich für die Bereiche Flucht und Asyl umfassend zur Genfer Flüchtlingskonvention und zu den einschlägigen Menschenrechtsübereinkünften wie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Drittens. Es soll ein gemeinsames Konzept zur Integration von Drittstaatsangehörigen erarbeitet werden, die ihren rechtmäßigen Wohnsitz in der Europäischen Union haben. Viertens. Die gemeinsame Integrationspolitik wird darauf gerichtet, den rechtmäßig in der EU ansässigen Drittstaatsangehörigen „vergleichbare Rechte und Pflichten wie EU-Bürgern zuzuerkennen“. Fünftens. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ist insoweit auch von Bedeutung. Genau darüber sollten wir heute reden, was Sie aber nicht getan haben. Wir wollen eine europäische Regelung. Statt sich mit diesen Vorgaben von der europäischen Ebene zu befassen, haben Sie einen Antrag vorgelegt, der einen schlichten Rückzug in nationalstaatliche Denkschemata verfolgt. ({0}) Wie widersprüchlich und zum Teil auch kontraproduktiv für unsere nationalen Interessen Ihre Vorstellungen sind, demonstriere ich an einem Beispiel - ich nehme hier das von Herrn Grindel angeführte Stichwort der Lastenverteilung auf -: Es gibt eine Richtlinie zum vorübergehenden Schutz in Massenzustromsituationen, wie es im EU-Deutsch heißt. Diese MassenzufluchtRichtlinie reagiert auf die im Jugoslawienkonflikt verursachte Massenflucht in Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in den 90er-Jahren. Angestrebt wird eine gerechte Lastenverteilung durch die EU-Ebene in Situationen des Massenzustroms. Flüchtlinge sollen gleichmäßig verteilt werden. Dabei obliegt es zwar den Mitgliedstaaten, die Aufnahmekapazitäten mitzuteilen; damit ist aber nicht zu hinterfragen, inwieweit die Richtlinie effektiv ist. Die Richtlinie nimmt insbesondere ein deutsches Anliegen auf: den Grundsatz der Aufgabenteilung und Lastengerechtigkeit. Inwieweit dieser Grundsatz noch weiterentwickelt werden könnte, ist hier nicht die Frage. Aber mit Maximalpositionen, wie Sie sie fordern, hätte die Bundesregierung die Verabschiedung dieser Richtlinie unterminiert. Im Ergebnis wäre dann ein System der Lastenverteilung bei Massenfluchtsituationen überhaupt nicht zustande gekommen. Dann hätten wir befürchten müssen, in einem erneuten Fall wiederum ein „Hauptnachfrageland“ von Flüchtlingen zu werden. Das wollen sicherlich auch Sie nicht. Mit der nun verabschiedeten Richtlinie - hier hat die Bundesregierung in unserem Interesse gehandelt - kann sich die Bundesrepublik auf eine gerechte Verteilung unter den Mitgliedstaaten der EU berufen. Genau dies entspricht ureigenem deutschen Interesse.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bürsch, lassen Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel zu?

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich über jedes Interesse von Herrn Grindel.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bürsch, ich habe mich schon zu einer Zwischenfrage gemeldet, als Sie von der Wagenburg Deutschland sprachen. Können Sie bestätigen, dass es beim EU-Gipfel in Nizza Bundeskanzler Schröder und der hier zeitweise anwesende Außenminister Fischer waren, die sich dort massiv für das Prinzip der Einstimmigkeit beim Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrecht eingesetzt haben, und können Sie mir einmal erklären, worin das Problem besteht, wenn wir verlangen, dass sich die Bundesregierung an das hält, was sie sich in Nizza selbst eingehandelt hat - damals stand ich, wie Sie wissen, vor der Tür und habe das genau verfolgt -, und warum Sie uns jetzt vorhalten, dass wir die Bundesregierung an die Möglichkeit der Einstimmigkeit erinnern, die sie in Nizza selbst ausgehandelt hat?

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich beantworte Ihnen diese Frage gerne. Meine Antwort ergibt sich aus dem, was ich am Anfang meiner Rede gesagt habe. Wir suchen eine europäische Lösung, Herr Grindel. Eine solche Lösung kann nur ein Kompromiss aus den Interessen von 15 europäischen Ländern sein. Es kann in keinem Falle heißen, dass sich ein Land mit seinen Vorstellungen durchsetzt. ({0}) Diese Lösung müssen wir zusammen mit den anderen Ländern suchen, und zwar auf der Grundlage dessen, was alle beteiligten Länder wollen und was dann im europäischen Interesse ist. Dabei hilft das Einstimmigkeitsprinzip, auf das Sie sich jetzt berufen, nicht weiter. Wir müssen anerkennen, dass dies nur mit Blick auf das geht, was wir für die europäische Ebene brauchen, zu der demnächst nicht mehr 15, sondern 25 Länder zählen werden. Wir müssen über unseren nationalen Tellerrand hinausschauen und die Wagenburg verlassen, die ich in ihren Anträgen sehe. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, es geht um ein solidarisches europäisches Gemeinwesen. Dafür müssen wir neues Recht schaffen und dürfen nicht eine Fortsetzung deutschen Rechtes verlangen. An die Adresse des Kollegen Stadler richte ich einen Hinweis zur Verbesserung seines berechtigten Anliegens, was die Beteiligung des Parlaments angeht. NaDr. Michael Bürsch türlich brauchen wir eine Rückkopplung. Aber muss es denn die Rückkopplung auf die nationale Ebene sein? Ist dies tatsächlich die Ebene, die für eine europäische parlamentarische Kontrolle richtig ist? Bei dem Bau des europäischen Hauses ist doch vielmehr anzustreben, dass die Demokratisierung auf Gemeinschaftsebene erfolgt, was bedeutet, dass das Europäische Parlament beteiligt wird. Wir sollten also nicht so sehr an unsere eigenen Interessen denken, sondern sollten die europäischen Parlamentarier an dem Gesetzgebungsverfahren beteiligen. Würden alle Mitgliedstaaten ihre Ausnahmen und Beschränkungen im Rahmen der europäischen Harmonisierung verankern wollen, dann wäre das Niveau des Harmonisierungsprozesses zwangsläufig sehr niedrig. Europäische Integration lässt sich auf diese Weise sicherlich nicht erreichen. Insofern brauchen wir eine europäische Harmonisierung von Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik auf einem hohen Niveau, genau so, wie es der Gipfel von Tampere 1999 beschrieben hat und wie Sie es damals auch nicht bestritten haben. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen und Maßstäbe des Menschenrechts müssen dabei, wie es ebenfalls in Tampere gesagt worden ist, eine entscheidende Rolle spielen; denn nur so wird durch gesamteuropäische Zuwanderungs- und Integrationspolitik eine gleichmäßige Verteilung der Lasten und der Belastungen, die mit der Aufnahme von Drittstaatsangehörigen bzw. Asylsuchenden verbunden sein können, auf alle Mitgliedstaaten erreicht. Wir werden nur zu vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn alle Mitgliedstaaten tatsächlich bereit sind, Abweichungen von ihrem Recht in Kauf zu nehmen und anzunehmen. Dafür brauchen wir keine nationalen Scheuklappen, sondern den europäischen Blick. Für die CDU/CSU hilft vielleicht ein Hinweis auf Konrad Adenauer; meine Kollegin Akgün hat schon einen solchen gegeben. Ich sage Ihnen etwas, was Konrad Adenauer in seiner Weisheit und in seiner Europaorientiertheit schon vor 50 Jahren geäußert hat: In der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang. Gerade für die Europapolitik des 21. Jahrhunderts, für das Zeitalter von Globalisierung und des Wegfalls von Grenzen sollten Christdemokraten im Sinne Adenauers in der Tat einen neuen Anfang wagen. Nur Mut! ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Bevor wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Heute Mittag erreichte uns die Nachricht vom Tod unseres Kollegen Jürgen Möllemann. Noch wissen wir nichts über die näheren Begleitumstände seines plötzli- chen Todes. Jürgen Möllemann gehörte seit der siebten Wahlperi- ode dem Deutschen Bundestag an. Er hat in dieser Zeit auf Bundes- und Landesebene wichtige politische Positi- onen ausgefüllt. Die Kritik an seiner Person, die beson- ders in den letzten Monaten in den Medien zu lesen war, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Jürgen Möllemann in seiner jahrzehntelangen politischen Arbeit sehr viel Anerkennung erworben hat. Wir trauern um unseren verstorbenen Kollegen und drücken seiner Familie unser tief empfundenes Beileid aus. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({2}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz ({3}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksachen 15/1013, 15/1118 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({4}) Dr. Friedbert Pflüger Dr. Werner Hoyer b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1132 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Hermenau Lothar Mark Herbert Frankenhauser Dietrich Austermann Jürgen Koppelin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion.

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich angesichts meiner kurzen Redezeit darauf verzichte, noch einmal alle Argumente anzuführen, die dafür sprechen, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen. Keinem ist der Beschluss seinerzeit leicht gefallen. Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping selbst war es, der einräumte, dass alle in der Regierung Bedenken hatten. Um eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, blieb jedoch keine andere Wahl. Wenn man heute, Jahre später, die Berichte liest und vor Ort sieht, was sich dort bereits entwickelt hat, so zeigt das, was sich im Kosovo noch entwickeln kann. Ich denke, dass man aus diesem Grunde seine Meinung hinsichtlich der Auslandseinsätze der Bundeswehr ruhig korrigieren darf. ({0}) Ich selbst habe das jedenfalls getan und auch andere haben ihre Haltung in dieser Frage geändert. Auf welch wackligen Beinen der Frieden im Kosovo nach wie vor steht, belegen Beispiele: die serbische Lehrerin, die auf ihrem täglichen Arbeitsweg von KFORSoldaten begleitet werden muss, das Kloster, das von deutschen Soldaten bewacht werden muss, oder die Ortschaft Nowake, immer noch ein gefährdetes Vorzeigeprojekt für die Rücksiedlung von serbischen Flüchtlingen, in der mit EU-Geld Häuser wieder aufgebaut werden. Deutsche Soldaten wachen über die Sicherheit der Menschen. Sie tun Friedensdienst, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. ({1}) Ich stimme mit Verteidigungsminister Struck überein, der sagt, der Einsatz von KFOR und SFOR gleiche ein wenig der Hilfe eines Großvaters, der das Enkelkind auf dem Fahrrad hält. Wie er bin ich der Meinung, dass Enkelkinder irgendwann auch alleine fahren müssen, doch ist das Kind zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach noch nicht so weit. Ich füge hinzu und gebe zu bedenken: Stürzt ein Kind, weil es zu früh losgelassen wird, wird seine Angst umso größer und es dauert nur noch länger, bis es sich das nächste Mal allein aufs Fahrrad traut. Das KFOR-Mandat ist die Voraussetzung für den zivilen Wiederaufbau. Das Kosovo hat die entscheidende Schlüsselfunktion bei der Orientierung der gesamten Region hin zu einem Europa der Integration. Demnach ist das Mandat für Frieden und Stabilität unerlässlich. Versuche, die behauptete Unrechtmäßigkeit des Kosovo-Einsatzes und einer Beteiligung an ihm gerichtlich feststellen zu lassen, haben in keinem Fall zum Erfolg geführt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Begründung seines Beschlusses vom 25. März 1999 klargestellt, dass das Grundgesetz den Bund ermächtigt, sich einem System kollektiver Selbstverteidigung wie der NATO anzuschließen und sich mit eigenen Streitkräften an Einsätzen zu beteiligen, die im Rahmen solcher Systeme vorgesehen sind und nach ihren Regeln stattfinden. Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Einsatz stellte somit keinen Verstoß gegen das Grundgesetz dar. Die Regierungsparteien haben im Zusammenhang mit dem Einsatz im Kosovo vielfach unsachliche Schelte und Kritik seitens der Friedensforschung und aus den Reihen der Friedensbewegung erfahren müssen. Der Dialog war stellenweise schwierig oder gar unterbrochen. Auf beiden Seiten besteht aber das Interesse, gerade auch bei der Suche nach Antworten auf die genannten neuen Herausforderungen, diesen kritischen Dialog fortzusetzen. Der Philosoph Immanuel Kant hat schon vor mehr als 200 Jahren den Anspruch erhoben, dass der Frieden als eine Bedingung, als Mittel und Ziel allen politischen Handelns zu gelten hat. Vor diesem Hintergrund dienen die Soldaten im Kosovo dem wohl größten Ziel und der größten Sehnsucht der Menschheit. ({2}) Ich denke im Übrigen, die Bundeswehr wird heute weltweit als Armee des Friedens und der Freiheit wahrgenommen. Mit dem Einsatz im Kosovo wird sie diesem Urteil einmal mehr gerecht. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass im Bundestag hinsichtlich dieses Einsatzes der Bundeswehr ein so großes Einvernehmen herrscht. ({4}) Das sind wir den Menschen in der Region schuldig, das sind wir aber auch unseren Soldatinnen und Soldaten schuldig, die ein Recht darauf haben, bei ihrem schwierigen und gefährlichen Dienst die breite Unterstützung des Deutschen Bundestages hinter sich zu wissen. Ich möchte es daher nicht versäumen, allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ganz herzlich zu danken, die für Freiheit und Demokratie im Kosovo eintreten und eine unverzichtbare Aufbauarbeit leisten. ({5}) Ich füge abschließend hinzu: Ich möchte auch ihren Familien dafür danken, dass sie diese Entscheidung mittragen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Liebe Kollegin Heß, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Das Wort hat der Kollege Kurt Rossmanith, CDU/ CSU-Fraktion.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben jetzt zum wiederholten Male eine Entscheidung über die Verlängerung des Mandats für unsere Streitkräfte, derzeit 3 800 Soldaten, im Kosovo zu treffen. Ich betone ausdrücklich, dass die CDU/CSU einer erneuten Verlängerung des Mandats nur unter der Bedingung zustimmt, dass sie auf ein weiteres Jahr befristet wird, auch wenn diese Befristung im Antrag expressis verbis nicht enthalten ist. Vor Ablauf eines Jahres werden wir uns über mögliche weitere Verlängerungen zu unterhalten haben. Ich sage Ihnen aber auch, dass uns diese Entscheidung alles andere als leicht fällt. Natürlich hat sich die Sicherheitslage im Kosovo verbessert und auch die politische Konsolidierung macht deutliche Fortschritte. Allerdings können wir bei weitem noch nicht zufrieden sein. Erinnern wir uns daran, dass im Juni 1999, als das Mandat mit unserer ersten Zustimmung beschlossen wurde, nicht nur die Sicherheitslage, sondern die gesamte Lage im Kosovo äußerst fragil war. Ich glaube, es ist mit ein ganz wesentliches Verdienst unserer dort eingesetzten Soldaten, dass sich die Situation innerhalb dieser vier Jahre so deutlich, wenn auch - ich betone es noch einmal - bei weitem noch nicht zufriedenstellend, zum Positiven entwickelt hat. ({0}) Deshalb ist die internationale Öffentlichkeit voll des Lobes über die Arbeit und die Pflichterfüllung unserer Soldaten, die sich durch ein umsichtiges Handeln und eine große Professionalität auszeichnen. Auch ich möchte mich dem Dank anschließen. Ich betone ausdrücklich noch einmal den Dank an unsere Soldaten, die dort im Kosovo Dienst leisten, aber auch an alle Soldaten der Bundeswehr, die außerhalb unseres Vaterlandes in schwierigen Einsätzen Dienst leisten für die Wiederherstellung von Frieden und Freiheit und zum Wohle der dort lebenden Menschen. ({1}) Man kann nicht oft genug betonen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es uns die derzeitige Koalition von Rot und Grün nicht leicht macht, einen derartigen Antrag zu unterstützen oder einen Beschluss mitzutragen. Ich will dazu kurz einige Punkte festhalten: Erstens. Die Frage geht an die Bundesregierung, aber natürlich auch an die sie tragenden Fraktionen: Weshalb lassen die sich hier alles gefallen? Zum wiederholten Male erhalten wir den Antrag zur Verlängerung des Mandats im allerletzten Moment. Heute ist der 5. Juni. Jeder weiß, dass dieses Mandat am 11. Juni auslaufen würde, wenn wir nicht heute den Verlängerungsbeschluss fassen. In sechs Tagen ist überhaupt keine Diskussion möglich. Zweitens. Es fehlt - ich habe es eingangs schon erwähnt - eine klare Aussage darüber, dass die Verlängerung nur für ein Jahr gilt und dann ein neuer Beschluss gefasst werden muss, wenn die Voraussetzungen gegeben sein sollten. ({2}) Drittens. In diesem Antrag sind keinerlei Aussagen über die finanziellen Auswirkungen enthalten. Es steht nur ganz lapidar in einem Satz, dass im Haushalt Vorsorge getroffen worden sei. Das ist überhaupt nicht möglich; denn der Haushalt 2004 wurde in diesem Parlament und in den entsprechenden Ausschüssen noch nicht diskutiert, geschweige denn beschlossen. Der vierte Punkt, den ich hier ansprechen will, betrifft die Haushaltslage. Jeder weiß: Das Finanzkorsett für unsere Streitkräfte ist viel zu eng. Herr Bundesminister Struck, die 24,4 Milliarden Euro sollen bis 2006 verstetigt werden. Man muss es der Bundesregierung lassen: Um Wortschöpfungen ist sie nicht verlegen. Jeder, der draußen das Wort verstetigen hört, meint, das sei eine ganz tolle Sache. Im Endeffekt heißt verstetigen aber, dass die Mittel weiter abnehmen, weil die laufenden Kosten bis zum Jahr 2006 ansteigen werden. Dass aber die Zusage, die sowohl vom Bundeskanzler als auch vom Finanzminister zu hören war, die Streitkräfte würden von den Streichungen ausgenommen, längst konterkariert wird, zeigt der gestrige Hinweis des Finanzministers, dass von der vorgesehenen Haushaltssperre in Höhe von 100 Millionen Euro die Streitkräfte nicht ausgenommen werden. Sie sind zwar nur mit 8 Millionen Euro betroffen, aber sie wurden nicht ganz ausgenommen. Deshalb ist die Aussage, dass die Streitkräfte von eventuellen Kürzungen ausgenommen werden, als sehr vage zu beurteilen. ({3}) Die Realität und die Aussichten für unsere Streitkräfte sind sehr düster. Deshalb - das darf ich abschließend noch sagen - fällt es uns nicht leicht, zuzustimmen. Wenn wir das dennoch tun, dann schlicht und einfach in der Gewissheit, dass absehbar ist - das hoffe ich zumindest; das wurde uns in der Vergangenheit dargelegt -, dass die Anzahl der Bundeswehrsoldaten im Kosovo von der Kürzung der Mannschaftsstärke insgesamt betroffen sein wird, sodass wir in Zukunft nicht mehr 3 800 Soldaten dorthin entsenden müssen. Herr Bundesminister Struck, mein letzter Satz: Tragen Sie dafür Sorge - nicht erst seit der Diskussion um Afghanistan vor wenigen Tagen -, dass unsere Streitkräfte, die im Ausland im Einsatz sind, die notwendige Ausrüstung erhalten und dass dort, wo minensichere Fahrzeuge notwendig sind, sie in erforderlicher Anzahl vorhanden sind. Das ist eine Bitte und eine Aufforderung, die uns alle berührt. Eine derartige Zusage würde uns die Zustimmung wesentlich erleichtern. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Ludger Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass wir heute so unaufgeregt und relativ harmonisch über das Thema Verlängerung des KFOR-Einsatzes reden können, zeigt, dass die Befassung mit diesem Thema zu einer gewissen Routine geworden ist, allerdings zu einer Routine, die zwiespältig zu beurteilen ist. Positiv daran finde ich, dass es zur Normalität gehört und dass es akzeptiert wird, dass sich die Bundeswehr an internationalen Friedenseinsätzen - ich betone: Friedenseinsätzen - beteiligt. Der Einsatz im Kosovo hat deutlich gemacht, dass es nach wie vor notwendig ist, dass eine stabilisierende internationale Schutzmacht vor Ort ist, um den Wiederaufbau und den Konsolidierungsprozess in dieser Region zu begleiten. Der Grund, warum es als zwiespältig zu beurteilen ist, besteht darin, dass wir heute zum wiederholten Male das Mandat verlängern müssen. Das ist ein Indiz dafür, dass die selbsttragenden Friedens- und Entwicklungsprozesse, die wir uns für die Region erhofft hatten, noch nicht die Dynamik gewonnen haben, die wir wollten. Deshalb können wir heute feststellen: Wir brauchen nach wie vor den Einsatz von KFOR im Kosovo. Deshalb werden wir ihm auch zustimmen. Neben und begleitend zu diesem Einsatz brauchen wir aber neue politische Initiativen, um endlich zu einem nachhaltigen Frieden zu kommen. ({0}) In diesem Sinne begrüßen wir es auch, dass die Debatten in den letzten Monaten wieder an Dynamik gewonnen haben. Wir sehen viele positive Elemente in der Entwicklung des Kosovo, etwa die Integration ehemaliger UCK-Kämpfer in ordentliche Sicherheitsagenturen. Wir hoffen zumindest, dass diese Integration gelingt. Darüber hinaus sehen wir Fortschritte im Verwaltungsaufbau und im Bildungswesen. In diesem Zusammenhang sollten wir dem deutschen Diplomaten Michael Steiner, der dort nun als Sonderbeauftragter für die UNO fungiert, zum Ende seiner Amtszeit einen sehr herzlichen Dank für sein großes Engagement aussprechen. ({1}) Wenn man das Engagement von Steiner kennt, sich ansieht, wie viel er im positiven Sinne dort durcheinandergerüttelt und zusammengebracht hat und sich die dortigen Defizite anschaut, dann kann man ermessen, wie riesig die Aufgabe ist, die noch vor uns liegt, und wie wichtig es ist, dass die internationale Gemeinschaft dort weiterhin mit der militärischen Schutztruppe engagiert bleibt. ({2}) Die internationale Gemeinschaft hat die Formel geprägt, dass im Kosovo zunächst einmal die demokratischen Standards, die Standards des Zusammenlebens und die multiethnischen Standards festgelegt werden müssen, bevor man über den Endstatus des Kosovo diskutieren kann; das war auch immer die Auffassung von Steiner und der Bundesregierung. Diese Formel bleibt vielleicht richtig. Jeder bekommt aber mit, dass subtil über den Status geredet wird. Ohne harte Thesen in der Debatte aufzustellen, sollte man sich vielleicht den einen oder anderen experimentellen Gedanken erlauben, um nicht nur der Statusfrage näher zu kommen, sondern auch, um die Entwicklung der Standards zu beflügeln; denn man könnte ja auch die These aufstellen, dass die Entwicklung der Standards von dem vorgestellten Endstatus abhängig ist. Es ist ein Unterschied, ob diejenigen, die nationale oder nationalstaatliche Ambitionen haben, sich dabei einen altmodischen Nationalstaat vorstellen, der sich gegenüber den Nachbarn igelig und stachelig darstellt, möglichst krass abgrenzt und von einem möglichst großen Imponiergehabe geprägt sein muss, oder ob dies ein Nationalstaat ist, dessen Nationalstaatlichkeit in einem vorgestellten europäischen Prozess schon wieder verflüssigt wird. Nicht zuletzt deshalb sollten wir parallel zur Befürwortung von KFOR wieder die Diskussion aufnehmen und verstärken, die wir immer mal wieder geführt haben. Diese wird jetzt vielleicht notwendiger als zuvor, da wir hier den europäischen Erweiterungsprozess beschlossen haben. Wir sollten darauf hinarbeiten, dass alle Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, auch diejenigen, die heute noch nicht an dem Prozess beteiligt sind, eine europäische Perspektive erhalten ({3}) und diese europäische Perspektive sehen und nutzen, um ihre eigenen nationalstaatlichen Vorstellungen an dem europäischen Modell zu überprüfen und zu relativieren, um dadurch möglicherweise auch die Entwicklung der internationalen Standards, die wir uns wünschen und vorstellen, zu beschleunigen. Es geht also um eine europäische Perspektive. Alle Bürger der europäischen Staaten, auch die der Balkanstaaten, die ansonsten in naher Zukunft vom EU-Inland umgeben sein werden, müssen die Möglichkeit haben, sich selbst als Bürger dieses vereinigten Europas zu begreifen und zumindest perspektivisch dort ihre Entwicklungsrichtung zu sehen. Wir hoffen, dass dies positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Standards hat und die militärische Flankierung auf mittlere Sicht überflüssig macht. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Fraktion, das Wort.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr bleibt auch weiterhin ein verlässlicher Partner. Sie ist größter Truppensteller im Rahmen internationaler Friedenseinsätze. Viele tapfere und tüchtige Soldatinnen und Soldaten riskieren ihr Leben für Deutschlands außenpolitische Reputation und vor allem für die notwendige Sicherung des Friedens in der Welt. Dafür möchte auch ich den Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle im Namen der gesamten FDP-Fraktion danken. ({0}) Ich danke aber auch den Soldatinnen und Soldaten, die hier vor Ort in Deutschland eine hervorragende Arbeit leisten. Den Willen der Politik, lediglich mit einem Bundestagsbeschluss und der fortlaufenden Freigabe von etwas mehr als 1 Milliarde Euro für die Verlängerung des SFOR- und KFOR-Einsatzes zu bekunden, wäre zu einfach und zu wenig. Es muss vielmehr von politischer Seite gewährleistet werden, dass beste Voraussetzungen für eine professionelle Vor-Ausbildung und die Unterstützung deutscher Kräfte im Ausland durch Bereitstellung modernster Ausrüstung und modernsten Materials geschaffen werden. Dazu gehört auch die beste Betreuung der Familien und der Freunde in Deutschland. Nur so kann ein andauerndes Engagement in internationalen Einsätzen stattfinden und die Motivation der Soldatinnen und Soldaten erhalten bleiben. Auch über die Einsatzlänge und die Einsatzhäufigkeit werden wir uns im Verteidigungsausschuss und auch hier im Deutschen Bundestag noch einmal unterhalten müssen. Hier brauchen wir Veränderungen und Verbesserungen. ({1}) Der Einsatz im Kosovo muss verlängert werden. Dafür steht die FDP-Bundestagsfraktion. Wir werden dem Antrag zustimmen. Aber es darf nicht zu einem Verlängerungsautomatismus kommen. Herr Kollege Volmer, Sie haben es angesprochen und ich schließe mich Ihnen gerne an: Dies darf nicht zur Routine werden. Die Aufträge der Soldaten - ich hoffe, dass wir hier übereinstimmen - müssen ständig auf Aktualität und Notwendigkeit überprüft werden. Nicht nur ich, sondern auch die Soldatinnen und Soldaten stellen sich die Frage: Warum und wie lange bleibt die Bundeswehr im Kosovo? Die Bundesregierung muss die Frage beantworten: Wie sieht das politische Ziel einer fortwährenden Präsenz aus? Herr Struck und Herr Außenminister Fischer, hier sind Sie gefragt. Auch Sie müssen sich fragen lassen: Ist die Aufbauhilfe durch die CIMIC-Verbände überhaupt noch notwendig? Sind die Kriegsschäden nicht weitgehend beseitigt? Geht es nun nicht vorrangig um den politischen Wiederaufbau im Kosovo? Ich sage noch einmal: Hier steht die gesamte Bundesregierung in der Verantwortung. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ein persönliches Wort. Sie werden verstehen, dass es mir als Abgeordneten der FDP aus Nordrhein-Westfalen, der den Kollegen Möllemann - er war einer meiner Vorgänger im Amt des verteidigungspolitischen Sprechers mehr als 30 Jahre gekannt hat, nicht leicht fällt, heute hier zu stehen. Ich meine, dass beim Tod eines Kollegen die politischen Differenzen beiseite zu stehen haben. In diesen Stunden und Tagen haben wir an die Familie zu denken, an die Ehefrau und an die Kinder. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Detlef Dzembritzki für die SPD-Fraktion.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Vor einigen Tagen erklärte der Leiter des Stabilitätspaktes, Erhard Busek, in einem Interview, es gebe heute auf dem Balkan keine militärische Bedrohung mehr. Ganz so optimistisch, wie Herr Busek dies sieht, schätze ich die Lage noch nicht ein. Ich denke, trotz der grundsätzlichen Aussagen aller meiner Vorrednerinnen und Vorredner haben wir, als wir uns auf dieses Mandat einließen, gewusst, dass wir dafür einen langen Atem brauchen würden. Ein Teil der Wegstrecke hin zu einem stabilen und demokratischen Kosovo ist zurückgelegt, aber es bleibt noch viel zu tun. Solange Wohngebiete mit Waffengewalt vor Übergriffen zu schützen sind und Zivilisten eskortiert werden müssen, wird es ohne militärische Präsenz nicht gehen. ({0}) Der KFOR-Einsatz im Kosovo hat gewalttätige Auseinandersetzungen erfolgreich verhindert. Dennoch kommen wir nicht umhin, uns über kurz oder lang mit einigen elementaren Fragen auseinander zu setzen. Hierzu gehört - Herr Volmer hat das angesprochen auch die Diskussion über den völkerrechtlichen Status des Kosovo. Ich finde es aber auch notwendig, nochmals darauf hinzuweisen, dass ein erkennbarer oder ein noch erkennbarerer Prozess, als das vielleicht jetzt schon der Fall ist, notwendig wird, damit der innergesellschaftliche Dialog, der sich mit den Pflichten und den Standards einer gedeihlichen Koexistenz auseinander zu setzen hat, erkennbar wird und damit die Toleranz und das gedeihliche Zusammenleben akzeptiert werden. Ich denke, das ist eine unabdingbare Forderung, die wir hier immer wieder einzubringen haben. Bei diesen Pflichten und Standards beziehe ich ausdrücklich die Roma ein, die gewiss nicht am wenigsten gelitten haben, deren Leiden jedoch am wenigsten beachtet wurde und wird. Die UN-Verwaltung und ihre Repräsentanten haben im Kosovo sicher eine große Aufbauleistung vollbracht. Ich möchte hier den Einsatz von Herrn Steiner würdigen, ich möchte an dieser Stelle aber auch ausdrücklich die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in diesem Bereich tätig sind - was ja ebenfalls nicht immer ungefährlich ist -, einbeziehen. Das gilt für die öffentlich Bediensteten wie auch für die Nichtregierungsorganisationen, die sich im Kosovo einbringen. ({1}) Die Entwicklung von Strukturen der Staatlichkeit und der Selbstverwaltung des Kosovo schreiten voran. Doch mit dem Installieren von Institutionen wie dem frei gewählten Parlament oder den Gemeindevertretungen ist es nicht getan. Es bedarf vielfältiger Anstrengungen, um diese Institutionen auch wirklich mit Leben zu erfüllen. Nach meinen Erfahrungen, Kolleginnen und Kollegen, können auch wir Parlamentarier uns im persönlichen Austausch einbringen; sowohl auf bilateraler wie auf multilateraler Ebene können wir einiges bewirken. Wir alle sollten jede Gelegenheit nutzen, in Gesprächen mit Kollegen und Multiplikatoren der Region die Bereitschaft der dortigen Akteure zu befördern, miteinander den konstruktiven Dialog zu pflegen; ({2}) denn die jungen politischen Systeme des Balkans sind durchaus noch fragil. Sie sind durch extremistische, nationalistische Positionen gefährdet und haben daher jede Unterstützung von uns nötig. Die geringe Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger des Kosovo an den Wahlen ist nur ein Indiz für die noch mangelnde Akzeptanz der demokratischen Organe. Die verbreitete Ansicht, dass Politik mit Korruption und Vetternwirtschaft Hand in Hand geht, ist ein weiteres Indiz. Herr Volmer, Sie haben zu Recht auf die Notwendigkeit der Veränderungsprozesse hingewiesen. Deswegen stimme ich an dieser Stelle Herrn Busek ausdrücklich zu, wenn er für eine Taskforce für Polizei, Justiz und Verwaltung optiert. Gerade im Kosovo, aber auch in anderen Regionen des Stabilitätspaktes müssen konsequente Anstrengungen für eine durchsetzungsfähige Rechtsstaatlichkeit unternommen werden. Organisiertes Verbrechen und korrupte Strukturen müssen bekämpft werden. Erst dann werden in ausreichendem Maße Investitionen in der Region erfolgen und ein selbsttragendes Wirtschaftssystem entstehen können. Das ist insbesondere für diese Region notwendig, weil dort 70 Prozent der Menschen arbeitslos sind und die meisten ihren Unterhalt nur über Transfergelder decken können. Bei allen Leistungen, die die Vereinten Nationen im Kosovo erbracht haben, bin ich davon überzeugt, dass die Europäische Union in Zukunft eine noch stärkere Rolle wird übernehmen müssen. Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass der Balkan nicht Krisenherd, sondern prosperierender Teil unserer Europäischen Union wird. ({3}) Verschiedene Parlamentariererkonferenzen auf europäischer Ebene, zuletzt Ende Mai in Brüssel, haben verdeutlicht, dass die Länder Europas bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Ich gehe davon aus, dass der anstehende EU-Gipfel in Thessaloniki dem Balkan einen konkreten Fahrplan in die Europäische Union aufzeigen wird. Eben für diese Perspektive stehen auch die Soldatinnen und Soldaten - Herr Rossmanith, anders als Sie das hier formuliert haben - gut ausgerüstet und mit voller Fürsorge unseres Bundesverteidigungsministers im Kosovo. ({4}) Ihr Einsatz ist dennoch nicht ungefährlich; die Trennung von ihren Familien ist schmerzlich. Umso mehr will ich den Soldatinnen und Soldaten danken und ihnen Glück und Erfolg für die Fortsetzung ihrer Mission wünschen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Debatte hat gezeigt, dass wir uns in der Einschätzung der Lage im Kosovo nicht unterscheiden. Der Weg zur Bildung einer demokratischen Gesellschaft ist schwierig und die Stabilität des Kosovo ist weiterhin durch ethnische Gegensätze, organisierte Kriminalität und politischen Extremismus gefährdet. Wir erfahren von verstärkten Spannungen zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und von der schwindenden Akzeptanz der internationalen Sicherheitspräsenz. Sowohl die zivile Mission der Vereinten Nationen UNMIK als auch die militärische Mission KFOR werden zunehmend als Protektorat empfunden. Die KFOR hat in diesem schwierigen Umfeld weiterhin eine Schlüsselrolle für die öffentliche Sicherheit inne. Deswegen muss das Mandat - auch darüber sind wir uns einig - verlängert werden. Wir wissen aber auch, dass das Mandat nicht unbedingt einfacher wird. Wir müssen nüchtern feststellen, dass kaum nachhaltige Fortschritte in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu verzeichnen sind und dass deshalb nur ein geringer Rückzug von Vertriebenen erfolgt. Stattdessen nimmt der politische Streit über die offene Frage des künftigen Status des Kosovo wieder zu. Das Prinzip „Standards vor Status“ ist richtig. Wir müssen zuerst praktische Fragen regeln, die Sicherheitslage verDr. Andreas Schockenhoff bessern und schrittweise Kompetenzen an die lokalen Selbstverwaltungsorgane übertragen. Aber die Verbesserung der Standards erfolgt, wenn überhaupt, viel zu langsam. Deshalb wird die Lösung der Statusfrage wieder in weitere Ferne rücken. Damit ist ein erfolgreicher Abschluss der KFOR-Mission aus heutiger Sicht zeitlich nicht absehbar. Nach unserer Auffassung muss vor allem die UNMIK mehr Einfluss nehmen, um die Dynamik des politischen Prozesses, den Sie zu Recht angemahnt haben, Herr Volmer, zu verstärken und die Konfliktparteien vor Ort stärker zu Kompromissen zu drängen. Mit großer Sorge verfolgen wir auch den seit Wochen schwelenden Streit über die Präsenz der EU-Militärtruppe in Mazedonien. In den letzten Woche hat der mazedonische Verteidigungsminister angekündigt, seine Regierung werde die Anwesenheit der EU-Truppen über den September hinaus nicht dulden. Wenn aber der Militäreinsatz der Europäischen Union den Konflikt zwischen der albanischen Minderheit und der slawischen Mehrheit nicht schlichtet, sondern im Gegenteil neuen Streit auslöst, hat das auch erheblichen Einfluss auf den Kosovo und die Präsenz der KFOR. Wir bitten Sie deshalb, Herr Außenminister, gegenüber den Vertretern der slawisch-mazedonischen Regierung sehr deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass sie mit einer Ablehnung der Fortsetzung der EU-Mission und damit wahrscheinlich einer weiteren Zerstückelung des ohnehin kleinen Landes keine Fortschritte auf dem Weg der Annäherung an Europa erzielen können und dass sie auf diesem Weg einer EU-Mitgliedschaft sicherlich nicht näher rücken können. Herr Verteidigungsminister, Sie haben unlängst neue verteidigungspolitische Richtlinien vorgelegt, denen zufolge der Hauptauftrag der Bundeswehr nicht mehr in erster Linie in der Landesverteidigung im herkömmlichen Sinn bestehen soll, sondern in der Krisenintervention in Regionen, in denen unsere Sicherheitsinteressen auf dem Spiel stehen. Das ist richtig und wir unterstützen das nachdrücklich. Wir unterstützen auch, dass eine neue Ausrichtung der Bundeswehr diesem neuen Auftrag gerecht wird. Wir müssen dann aber - auch angesichts der vergangenen Monate - offen und vorurteilsfrei über die Formen der Bedrohungen reden. Wir müssen außerdem darüber reden, bei welchen Konstellationen Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets legitim sind. Frau Kollegin Heß hat vorhin auf eine schwierige Diskussion innerhalb der Koalitionsfraktionen zu Beginn des Kosovo-Konflikts hingewiesen und hat zumindest deutlich gemacht, dass es Situationen gibt, in denen auch ohne ein Mandat der Vereinten Nationen ein Kampfeinsatz nicht nur erforderlich, sondern auch legitim sein kann. Ich glaube, dass wir das als einen Acquis der deutschen Position für zukünftige Debatten festhalten sollten, die wir mit unseren Bündnispartnern führen werden. Herr Volmer, Sie haben die Routine angesprochen, mit der wir inzwischen Mandate für Bundeswehreinsätze verlängern. Ich glaube, es ist überfällig, dass wir ein Gesetz über die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Entsendung der Bundeswehr verabschieden. Die jetzige Regelung - das gilt auch für Debatten wie die heutige, die wir inzwischen fast jedes halbe Jahr führen - ist der Praxis nicht angemessen. Wir brauchen ein Entsendegesetz, das die Verantwortung des Bundestages klarstellt. Aber die Definition eines Einsatzes der Bundeswehr muss in Ihrem Hause, Herr Struck, und darf nicht im Geschäftsordnungsausschuss des Deutschen Bundestages erfolgen. Wir sollten uns zügig eine entsprechende gesetzliche Regelung geben. ({0}) Ich hoffe, dass wir das in der gleichen Übereinstimmung tun werden, mit der wir heute das Mandat für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo verlängern. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/1118 zu dem Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1013 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei drei Gegenstimmen mit Zustimmung aller übrigen anwesenden Mitglieder des Bundestages angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für eine neue Beteiligungskultur - Eigenkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitarbeiterbeteiligungen verbessern - Drucksache 15/815 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als Erstem dem Kollegen Professor Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Es ist nicht ganz einfach, in der Stunde zur Tagesordnung überzugehen, in der wir die Nachricht über den Tod von Jürgen Möllemann bekommen haben. Er war über viele Jahre ein Weggefährte im Streit und in der gemeinsamen Arbeit. Wir fühlen mit seiner Familie. ({0}) Wir haben heute einige neue Nachrichten erhalten, die bedrückend sind. Die Arbeitslosigkeit im Mai war wahrscheinlich die höchste, die es jemals in diesem Monat gegeben hat. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat neue Prognosen über die Wirtschaftsentwicklung vorgelegt und rechnet in diesem Jahr mit einem Nullwachstum. Der Exportindikator zeigt weiter nach unten. Das Institut für Weltwirtschaft erwartet, dass es im laufenden Jahr durchschnittlich 4,5 Millionen Arbeitslose geben wird. Die veröffentlichten Zahlen sind sehr dramatisch. Die Programme der Bundesregierung ziehen nicht. Das Job-AQTIV-Gesetz dümpelt bestenfalls vor sich hin. Der Jobfloater ist nach dem, was jetzt veröffentlicht worden ist, an der Grenze des Flops. Die Ich-AGs starten sehr langsam. Das alles belegt, dass die einzelnen Maßnahmen nicht wirksam sind. Die Menschen sind nicht wild auf neue Programme und warten auch nicht gespannt auf neue Maßnahmen der Regierung, die sie glücklich machen sollen. Das, was die Menschen wirklich wollen, ist, dass man sie bei der Arbeit in Ruhe lässt und dass die Politik sie nicht ständig beschäftigt. ({1}) Eine Debatte über Unternehmen im Bereich der neuen Technologien ist nicht vorrangig eine Debatte über neue Programme. Es geht auch nicht darum, wie wir neue staatliche Maßnahmen anlegen wollen. Es geht um eine andere Frage, nämlich: Wie schaffen wir den Freiraum dafür, dass diese Unternehmen erfolgreich sein können? Die staatliche Hilfe kann ihren Sinn haben. Auch nach Röpke, dem Altmeister der marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik, kann der Staat durchaus die Aufgabe und die Pflicht haben, Hürden abzubauen, die das Aufkommen des Neuen behindern. So war es zu Beginn der Entwicklung vor 20 Jahren, als wir in Deutschland eine Gründungskultur eigentlich noch nicht hatten. ({2}) Eine Gründungskultur auf Basis neuer Technik hat in Deutschland keine große Tradition. Wir haben da immer mit einem gewissen Neid nach den USA geschaut: Silicon Valley, Route 128, die Spin-offs aus den großen Universitäten, das Zusammenspiel mit einer dynamischen Venture-Capital-Szene. Dies alles war hier nicht immer vorhanden. Es ist aber auch nicht so, dass dies sozusagen eine Eigenschaft der Amerikaner ist. Es war durch Maßnahmen geschaffen worden, an denen auch der Staat Ende der 50er-Jahre beteiligt war, und zwar zu Recht. Was sich aus dem SBI- und dem SBIC-Programm entwickelt hat, wissen wir alle: Da ist eine Entwicklung dynamisch begleitet worden, als eine kritische Masse von jungen Unternehmen da war, und zwar dadurch, dass man die Steuern gesenkt hat, die capital gain tax halbiert bzw. weiter gesenkt hat. Das heißt: Der Staat hat schrittweise Raum geschaffen. So haben wir vor 20 Jahren angefangen. Wir haben versucht, aus den Fehlern anderer zu lernen. Nicht alles, was die Amerikaner gemacht haben, war von vornherein optimal. Was wir hier angefangen haben, hat sich in einer außerordentlichen Dynamik entwickelt. Zu nennen sind die Technologiezentren, der Versuch, Cluster und kritische Massen zu bilden, zusammenzuführen, was aus unterschiedlichen Bereichen kam, die Vernetzung von Sparkassen, Banken, Versicherungen, Kommunen und Infrastruktur, mit der Wissenschaft. Aus alldem ist etwas entstanden, das sich weiter entwickelt hat, gestützt durch das BTU-Programm mit staatlichen Zuschüssen zur Gründung. Aber zugleich hat sich der Staat immer weiter zurückgezogen. Der Staat hat Raum geschaffen. Statt Zuschüssen gab es Bürgschaften; zugleich kam eine private Venture-Capital-Szene auf, die eine große Dynamik entwickelt hat. Parallel dazu - das können wir heute nicht diskutieren; das will ich auch nicht beschreiben - gab es eine Entwicklung, die die neuen Techniken mit großem Schwung vorangebracht hat. Die Biotechnologie hat an Schwung gewonnen. Es erwuchs aus winzigen Anfängen. Zu Beginn der 80er-Jahre hatten wir ein paar Dutzend Lehrstühle, an denen auch mal Gentechnologie gelehrt wurde, keinen einzigen Lehrstuhl, an dem nur Gentechnologie gelehrt wurde. ({3}) Daraus ist eine Landschaft mit großem Reichtum entstanden: die Genzentren in Köln, in München, in Berlin und in Heidelberg; Zusammenarbeit von Industrie, MaxPlanck-Gesellschaft und Universitäten. Wir haben das bei der Informationstechnik gemacht. Ich erinnere daran, wie wir die Empfehlungen der Queisser-Kommission - wir brauchen neue Wissenschaftler, mehr Informatiker - umgesetzt haben: 100 Millionen für die Deutsche Forschungsgemeinschaft - mit der einzigen Auflage, neue Lehrstühle einzurichten. Aus den drei Strängen ist es zusammengewachsen. Die Leute haben gesehen: Gründung ist möglich und kann erfolgreich sein. Gleichzeitig ist die Entwicklung von neuer Technik zu nennen. Es gab ganze Jahrgänge von tüchtigen Wissenschaftlern, die das aufgreifen konnten. So hat sich bei vielen jungen Männern und Frauen, auch sehr gestandenen Männern und Frauen, die sich einfach mal rausgewagt haben und den Kopf rausgestreckt haben, schrittweise eine Kultur entwickelt, mit der wir in die 90erJahre gestartet sind. ({4}) Der Schwung war deshalb möglich, weil sich der Staat auf der Kapitalseite zurückgezogen hat. Das private Wagniskapital ist gewachsen. Die Fonds sind gewachDr. Heinz Riesenhuber sen. Neue Fonds sind aufgelegt worden. Leute waren bereit, etwas zu riskieren und zu investieren. Für diese Art von neuen Techniken ist eine wirklich grundsätzliche Frage: Woher kriegen wir das Eigenkapital? Die Unternehmen können nicht über Fremdkapital, über Kredite finanziert werden. Kredite beleihen geronnene Arbeit der Vergangenheit, nicht aber die Vision einer Zukunft. Es muss Kapital sein, das bereit ist, volles Risiko einzugehen. Deshalb muss es in seiner anderen Qualität gewürdigt werden. Es ist eine Gründerszene entstanden. Bis 1998 hat die Zahl der Gründungen jährlich zugenommen, auch was auf neuer Technik basierende Dienstleistungen angeht. Seit 1998 ist dieser Trend rückläufig. ({5}) - Herr Tauss, den Streit darüber können wir nachher austragen. Die entsprechenden Zahlen liegen vor. Die Quelle dafür ist das Institut für Mittelstandsforschung. Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass der Trend erst seit dem Jahr 2000 rückläufig sei, gilt: In diesem Jahr haben Sie regiert. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der Neugründungen im technischen Bereich offensichtlich anhaltend rückläufig. Wir haben den Aufstieg und den Niedergang des Neuen Markts erlebt. Der Neue Markt ist gestern „begraben“ worden. Er ruhe in Frieden; die Sache ist vorbei. Der Neue Markt war von drei Phasen gekennzeichnet: Aufschwung, Überhitzung, Zusammenbruch. Zum Schluss ist eine Situation entstanden, in der über den Gang an die Börse kein neues Eigenkapital mehr beschafft werden konnte. Es gibt keine neuen Börsengänge mehr, praktisch kein IPO mehr. Da die Wagniskapitalgesellschaften kein Exit und keine Möglichkeit haben, später wieder Kasse zu machen, investieren sie nicht. Die Eigenkapitaleinsätze auf allen Ebenen sind rückläufig. Frau Bulmahn sagt: Die Frühphasenfinanzierung ist um ungefähr 80 Prozent, von 380 Millionen Euro auf 77 Millionen Euro, zurückgegangen. Rezzo Schlauch - er ist nicht da - sprach in einer Rede, die er kürzlich gehalten hat, von einem Rückgang von 90 Prozent. Eine zweite und eine dritte Finanzierungsrunde finden praktisch nicht mehr statt, weil das nötige Geld nicht vorhanden ist. Auf dem Gebiet der Informationstechnik hat es einen Rückgang um fast 90 Prozent gegeben. Auf dem Gebiet der Biotechnik war der Rückgang zwar nicht so stark; aber auch da gab es einen Rückgang um immerhin 50 Prozent. Im letzten Jahr standen dort noch knapp 250 Millionen Euro zur Verfügung. Wir befinden uns also in einer ganz schwierigen Situation. Im letzten Quartal des vergangenen Jahres haben vier Dutzend Unternehmen im Bereich der Biotechnologie Konkurs angemeldet. So etwas gab es vorher nicht. Wir riskieren, eine Landschaft, die sich mit großem Schwung entwickelt hat, zu zerstören. Das wäre gefährlich. Die entscheidende Frage lautet: An welchen Stellen kann man ansetzen? Ich gehe davon aus, dass die Lage zwar in allen Ländern schwierig ist, aber in Deutschland schwieriger als anderswo. Der Risikokapitalmarkt in anderen europäischen Ländern ist im Schnitt um knapp 50 Prozent eingebrochen; in Deutschland ist er um 70 Prozent eingebrochen. Großbritannien und Deutschland hatten beide einen guten Anteil am europäischen Risikokapitalmarkt. Der Anteil Deutschlands ist von 18 Prozent auf 13 Prozent zurückgegangen; der Anteil Großbritanniens liegt bei 34 Prozent. Angesichts der gegenwärtigen Landschaft befinden wir uns also in Schwierigkeiten; damit verbunden ist aber auch ein Zeichen der Hoffnung.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Riesenhuber, das Präsidium wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich in der Regel in der Ruf- und Sichtweite des Präsidiums aufhielten, weil uns das die Einhaltung der Geschäftsordnung erleichterte. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme diese Intervention in Demut entgegen. Bitte, rechnen Sie mir sie nicht auf die Redezeit an, sonst komme ich in Schwierigkeiten. Ich bitte um Nachsicht. In der gegenwärtigen Situation steht Deutschland also schlechter als andere da. Die Gründe dafür müssen wir bei uns suchen. Wir sollten überlegen, was wir machen können. Wären nur die anderen schuld, könnten wir nichts tun; nur weil wir selbst schuld sind, können wir etwas tun. Es geht um drei Bereiche - eigentlich sind alle eigenkapitalrelevant -: die Fonds, die Business Angels und die Aktienoptionen. Die Anzahl der Neuauflagen von Fonds ist bis 1999 gestiegen. 1999 waren es noch 30 Fonds, 2000 waren es 20 Fonds, 2001 keine einziger mehr. Im Jahr 2002 waren es vielleicht zwei Fonds; aber es wird darüber gestritten, ob das wirklich so war. Dazu kommen zwei Unternehmensbeteiligungsgesellschaften; das ist etwas anderes. Außerdem verweise ich auf die Gründungen im Ausland. Das heißt, in einer kritischen Zeit, in der wir eigentlich Eigenkapital für die zweite Finanzierungsrunde bräuchten, sind nicht mehr hinreichend Fonds vorhanden. Die Antwort auf die Frage „Woran liegt das?“ lautet meistens: Seit zwei Jahren geben die Finanzämter keine verbindlichen Steuerbescheide mehr aus. Ein Investor kann mit falschen Rahmenbedingungen zwar nicht gut leben, aber er kann überleben. Wenn eine Entscheidung aber ausbleibt, kann er nicht überleben. Deshalb werden keine neuen Fonds gegründet, bzw. wenn sie gegründet werden, dann im Ausland. Ich habe gehört, dass im vergangenen Jahr von Deutschland aus 12 Fonds im Ausland gegründet wurden. Das erleichtert den Zugang für unsere eigenen Firmen nicht. Was haben wir in diesem Zusammenhang zu tun? Ein Verzicht auf die Besteuerung der Fonds würde die Sache zwar erleichtern. Die kompliziertere Frage ist die des so genannten Carried Interest, also das, was die Fondsinitiatoren selbst machen. Ich rate, das nachzulesen, was unsere tüchtigen Bundesländer eingebracht haben: Bayern, Hamburg und Sachsen-Anhalt haben zusammen einen sehr vernünftigen Vorschlag dazu unterbreitet, auf dem man aufbauen kann. Wir müssen schnell zu einer Entscheidung kommen. Das heißt, dass die Bundesregierung in ihrer Weisheit und Klugheit den Bundesrat frühzeitig einbeziehen wird. Je schneller wir uns einig sind, desto schneller passiert etwas. Der zweite Bereich sind die Business Angels. Wir hatten eine aufblühende Landschaft von Business Angels. Business Angels sind erfahrene Männer und Frauen, die ein bisschen Geld haben und bereit sind, mit haftendem Geld sowie ihrem Rat und ihrer Erfahrung in ein junges Unternehmen einzusteigen. Manch ein Gründer hat vielleicht geniale Ideen, was die Technik betrifft, weiß aber nicht, wie man Märkte und Kunden behandelt, wie man Märkte abschätzt oder mit Behörden umgeht. Ein Business Angel bringt weit mehr als Geld in ein Unternehmen ein. Herr Kuhn, ich fand es prima, dass Sie vor ein paar Wochen in einer Debatte gesagt haben, dass die Besteuerung der Business Angels nicht sehr vernünftig ist. Eine entsprechende konkrete Aussage findet sich auch in dem Innovationspapier, das Sie mit einigen Kollegen erarbeitet haben. Es bewegt sich leider überwiegend auf einer hohen Abstraktionsebene. Ich habe zwar nichts gegen eine hohe Abstraktionsebene, sie muss im Gesetz aber auch umgesetzt werden. Der heilige Thomas - sic! sagte: In den allgemeinen Grundsätzen ist man sich immer einig; schwierig wird es erst, wenn es konkret wird, das heißt, wenn es ins Gesetzblatt kommt. Da würde ich gerne etwas sehen. Wenn wir die Wesentlichkeitsgrenze der Beteiligung, die die Bundesregierung auf 1 Prozent heruntergeknüppelt hat, wieder auf 10 Prozent, die wir einmal hatten, oder vielleicht noch stärker anheben, dann schaffen wir eine völlig andere Situation, in der die Business Angels gestaltend wirken können. Aktienoptionen sind ein Instrument zur Stärkung des Eigenkapitals für junge Unternehmen, weil sie keine hohen Gehälter bezahlen können. Ansonsten wäre ihr begrenztes Eigenkapital schnell weg. Aktienoptionen müssen in Deutschland genauso wie in anderen Ländern besteuert werden. Wenn sie höher besteuert werden, bekommen wir entweder die guten Leute nicht oder unsere Firmen gehen ins Ausland. Auch in diesem Zusammenhang existieren prächtige Beschlüsse. Die Parlamentarischen Staatssekretäre der Bundesregierung haben uns während der ganzen letzten Legislaturperiode erklärt, dass auf diesem Gebiet etwas geschieht. Es geschah aber nichts. Die Wirtschaftsministerkonferenz hat einen einstimmigen Beschluss gefasst. Uns liegen Vorschläge von BDI und VCI vor. Ich rate dringend dazu, etwas zu tun und nicht nur darüber zu reden. ({0}) Es gibt so viele Grundsatzpapiere. Ich will den Inhalt unserer prächtigen Papiere nicht im Einzelnen darlegen. Frau Bulmahn plagt sich mit ihrem Hightech-Masterplan. So etwas legt man, wenn man weise handelt, unmittelbar nach der Regierungsbildung vor. Sie sind in die Legislaturperiode gestartet, ohne zu wissen, was Sie mit Ihrer Regierungsverantwortung anfangen wollen. Das ist Ihr Kernproblem. ({1}) - Liebe Frau Scheel, Sie haben es vielleicht gewusst, es dem Finanzminister aber nicht in der Form gesagt, dass er es Ihnen geglaubt hätte. Deshalb ist es nicht dazu gekommen und deshalb haben wir ein Steuersystem, dass Sie und ich für suboptimal halten. Deshalb müssten wir uns gemeinsam an die Arbeit machen. Ich drösele nicht im Einzelnen auf, was der Masterplan enthält. Vieles davon ist in Ordnung. Dass wir von Frankreich den Plan Innovation übernehmen, halte ich für eine vernünftige Idee. Früher haben wir allerdings die Ideen in Europa eingebracht und nicht die Pläne anderer übernommen. Dass die jungen Unternehmen bei 15 Prozent Forschungsaufwand in den ersten acht Jahren steuerfrei gestellt werden, halte ich für eine gute Sache. Das wird in dem Plan offensichtlich diskutiert. Dass wir hier einen neuen Markt schaffen, einen Hightechmarkt, halte ich eher für problematisch, aus Gründen, die wir hier nicht diskutieren können; aber wir können an anderer Stelle darüber reden. Was hier zu eher soften Themen wie Unternehmertraining und Markterschließung gesagt wird, mag alles richtig sein. Immerhin geht es im Grundsatz in die richtige Richtung. Auch dass Herr Clement im Jahreswirtschaftsbericht und in seiner Mittelstandsoffensive „Pro Mittelstand“ - da gibt es inzwischen wunderbare Papiere -, sagt, dass man Beteiligungskapitalfonds bilden soll, auch in Public Private Partnership, halte ich für prima. Ich sehe es nur noch nicht. Aber es muss geschehen. Hier liegt der wesentliche Punkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde ebenfalls prima, dass EU-Kommissar Busquin jetzt einen europäischen „Investing in research“-Plan aufstellt. Das ist alles wunderbar. Aber entscheidend ist, dass etwas ins Gesetzblatt kommt. Wir versuchen hier, der Bundesregierung in brüderlicher Hilfe Vorschläge zu machen. Es ist schließlich Christenpflicht, den Bedürftigen zu helfen; da tun wir unser bescheidenes Bestes. ({2}) Wir sind völlig offen für innovative Vorschläge. Wenn Ihre Ideen noch besser sind als die unseren, dann sind wir glücklich und dankbar und nehmen sie mit Freude auf. Aber dann wollen wir diese Sache durchziehen. Wir können nicht alle Probleme lösen, aber wir können dafür sorgen, dass die jungen Unternehmen wieder Luft zum Atmen haben. Sonst verlieren wir eine ganze Kultur, eine Kultur, die mehr als alle anderen neue Technik aus der Wissenschaft gewinnt und diese überträgt. Die ganzen Strategien zum Technologietransfer haben nie optimal funktioniert. Aber wenn junge Frauen und Männer dafür kämpfen, ihre Ideen in Produkte, Problemlösungen und Verfahren umzusetzen und sie in Märkte, die durch die Produkte erst geschaffen werden, zu bringen, dann entsteht eine neue Welt, die Zukunftsperspektiven eröffnet und schnell wächst. ({3}) Das schafft nicht eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze, aber das sind Bereiche, in denen es Zukunftsperspektiven gibt: die Welt der Quanten, die Welt der Gene, die Welt der Computer, die Fähigkeit, Krankheiten zu heilen, die wir heute noch nicht verstehen, die Fähigkeit, eine komplexe Welt zu begreifen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Riesenhuber, ich darf mit aller Vorsicht an die abgelaufene Redezeit erinnern. ({0}) Die Beweglichkeit des Präsidiums bei der von den Fraktionen festgelegten Redezeit bleibt leider etwas hinter Ihrer zurück.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte sehr um Nachsicht, Herr Präsident. Ich darf schließen mit dem herzlichen Wunsch an die Koalition: Machen wir uns an die Arbeit und versuchen wir, eine Lösung zu finden, die sich nicht in allgemeinen Grundsatzpapieren erschöpft, sondern neue Hilfen einschließt, mit denen wir den jungen Unternehmen die Möglichkeit verschaffen, die Zukunft für uns alle zu gewinnen. Auf gute Arbeit! ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Tauss hat das Wort zu einer Kurzintervention erbeten. Bitte schön.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich auf die hohe Aufmerksamkeit. - Ich will unmittelbar auf das, was Sie gesagt haben, antworten. Sie haben, lieber Herr Kollege Riesenhuber, das Ausland angesprochen. Ich glaube, wir brauchen gar nicht über den großen Teich zu schauen. Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was bei uns 2001, 2002 lief: Wir hatten 2001 500 Millionen Euro Risikokapital in diesem Land, 2002 waren es noch 77 Millionen Euro. Das ist keine Spielerei mit Jahreszahlen. Sie haben den Zusammenbruch des Neuen Marktes angesprochen. Ich halte es für eine Blamage für den Industriestandort und den Technologiestandort Deutschland, dass wir keine Technologiebörse mehr haben. Da sind wir uns ja einig. Nur, dieser Zusammenbruch ist doch nicht aufgrund von Beschlüssen erfolgt, sondern er ist erfolgt, weil der überhitzten und aufgeblasenen New Economy in vielen Bereichen das Gegenteil gefolgt ist. So wird heute überhaupt nicht mehr investiert, weil auch die Renditen gesunken sind. Aus diesem Grunde habe ich die Bitte, dass Sie nicht immer Forderungen an die Politik richten, sondern dorthin, wo sie hingehören. Die Banken versagen kläglich. Es gibt keine Banken mehr, außer den kleinen und den Sparkassen - darüber können wir heilfroh sein -, die ihr Kreditgeschäft noch einigermaßen anständig betreiben und Kreditabteilungen haben, die für junge Unternehmen zur Verfügung stehen und in der Lage sind, sie zu beurteilen. Es gibt konkrete Maßnahmen wie beispielsweise das BTU-Programm mit einem Volumen von 1 Milliarde Euro. In den letzten fünf Jahren hat Rot-Grün - ich sage das, auch wenn Ihnen diese Zahl nicht gefällt; es ist unser aller Geld - 60 Milliarden Euro in die jungen Technologieunternehmen gesteckt. Wo ständen wir, wenn wir es nicht gemacht hätten? Da ich Sie als einen der wenigen seriösen Kollegen aus Ihrer Fraktion im Bereich Technologie und Forschung schätze - viele gibt es nicht mehr; das habe ich Ihnen schon einmal gesagt -, ({0}) habe ich die Bitte an Sie, sich nicht an der Miesmacherei zu beteiligen und die Aufbruchstimmung, die wir gemeinsam fordern, nicht zu zerreden. Wir sollten vielmehr ganz konkret darüber reden - ein paar Punkte haben Sie angesprochen -, wo die Verantwortung liegt und an wen wir die Forderungen zu richten haben. Aber zu sagen, auf diesem Gebiet sei nicht genügend getan worden, insbesondere nicht vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, ist nicht richtig. Ich kann Ihnen sagen, dass das, was wir in den letzten Jahren erreicht haben, schlichtweg sensationell war; das sollten Sie auch als Oppositionspolitiker anerkennen. An die Entwicklung der letzten Jahre müssen wir anknüpfen. Ich würde mich freuen, wenn Sie an dieser Stelle, wie Sie es sonst sind, korrekt bleiben würden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Riesenhuber, Sie möchten sich jetzt sicher für die Komplimente des Kollegen Tauss bedanken.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau das tue ich mit Respekt und brüderlicher Verbundenheit. Lieber Herr Tauss, Sie haben mich so freundlich gelobt. Aber ich muss sagen: So sind wir alle. ({0}) Sie haben uns bis jetzt also nicht richtig eingeschätzt. Was Sie an mir loben, ist bei uns nicht ungewöhnlich. In anderen Parteien sieht es vielleicht anders aus. Ich möchte nun auf die von Ihnen angesprochenen Punkte eingehen. Ich kann im Moment nicht nachrechnen, ob die Zahl von 60 Milliarden Euro, die Sie in die jungen Unternehmen gesteckt haben, stimmt. Angesichts eines Bundeshaushalts von rund 240 Milliarden Euro scheint mir das ein sehr stattlicher Betrag zu sein. Aber diese Zahl wird sicherlich auf einer gesicherten Basis beruhen. John Diebold hat einmal gesagt: Es kommt nicht darauf an, dass wir viel Geld für die Müllabfuhr bezahlen. Es kommt vielmehr darauf an, dass die Straßen sauber sind. ({1}) Da so viel Geld investiert wurde, muss man sagen, dass es nicht am Geld gelegen hat, dass die Situation so schlecht ist. Woran hat es dann gelegen? ({2}) Ich will nicht unterstellen, dass es an der fehlenden Intelligenz gelegen hat. Das verbietet mir schon der parlamentarische Umgang und der freundliche Respekt vor Ihnen persönlich. Sie sagten, dass es nicht an Beschlüssen lag, dass der Neue Markt zusammengebrochen ist. ({3}) Sicher nicht! Aber vielleicht gab es den Zusammenbruch wegen nicht gefasster Beschlüsse. Das wird sicherlich nicht der einzige Grund sein; wie immer im Leben wird es mehrere Gründe für diese Entwicklung geben. Trotzdem würde ich sagen, dass es weniger die Beschlüsse als die nicht gefassten Beschlüsse hinsichtlich der Aktienoptionen bis hin zur Fondsbesteuerung waren. Ich habe versucht, Ihnen das in einfachen und schlichten Worten zu erläutern. Schließlich sagten Sie, lieber Herr Tauss, die Banken würden kläglich versagen. ({4}) Sie lesen sicherlich ebenso sorgsam Bilanzen wie jeder andere von uns. Angesichts der Bilanzen muss man sich fragen, wie viel die Banken noch riskieren können. Aus der vorgelegten Bilanz der Deutschen Bank erkennt man, dass sie mit dem Altkundengeschäft mehr verdient hat als mit dem Investmentbanking. ({5}) Das heißt also, die Banken wissen genau, wo das nachhaltige Geschäft liegt. Aber wenn Sie weder den Banken noch ihren Kunden die Chance geben, Geld zu verdienen und Gewinne zu machen, ({6}) und wenn Sie nicht eine wirkliche Steuersenkung durchführen, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass der eine keine Kredite geben kann und der andere nicht kreditfähig ist. ({7}) Die freundschaftliche Bitte an Sie ist: Lassen Sie die Leute Geld verdienen! Lassen Sie die Leute erfolgreich sein! Sie haben in der letzten Debatte gefragt, wie man die Steuerpräferenzen - so haben wir sie genannt - für die jungen Unternehmen finanzieren soll. Im Moment nehmen wir keine Steuern von diesen Unternehmen ein, weil sie nicht vorankommen. Wenn man ihnen aber durch geringe Besteuerung von Fonds und Aktienoptionen Luft lässt und die Beratung und Finanzierung durch Business Angels ermöglicht, dann kann der hochverehrte Finanzminister, den wir alle schätzen, in ein paar Jahren von einer großen Zahl erfolgreicher junger Unternehmen eine reiche Ernte einfahren. Das wünschen wir ihm. Vor allen Dingen wünschen wir den jungen Unternehmen, dass sie wirklich gut verdienen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Wend, SPD-Fraktion.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, dass ich den freundschaftlichen Ton von Herrn Riesenhuber aufgreife und Ihnen, Herr Kollege Riesenhuber, sage: Ihr Vortrag war der Form nach wie gewohnt exzellent und in der Sache - wenn ich Ihre Ausflüge in die rituelle Kritik der Bundesregierung außer Acht lasse - weitgehend zutreffend. Ich glaube übrigens, dass der Antrag, den die CDU/CSU zu dieser Thematik vorgelegt hat, ziemlich ausgezeichnet ist. Zu einem größeren Lob kann ich mich nicht hinreißen lassen. ({0}) Ich möchte Ihnen aber zunächst, bevor ich auf die Dinge zu sprechen komme, in denen wir uns einig sind, in zwei Punkten, die in Ihrem Vortrag anklangen und in dem vorliegenden Antrag noch deutlicher zum Ausdruck kommen, widersprechen. Zum einen sagten Sie - das war ein Ausflug in die Makroökonomie -: Mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland wird es nur besser, wenn wir endlich zu einer stärkeren Deregulierung kommen. Dazu stelle ich fest: Nicht Sie persönlich, sondern Ihre Fraktion ist, was das Thema Deregulierung angeht, nicht mehr ausreichend satisfaktionsfähig. ({1}) Denn Sie können natürlich nicht in Sonntagsreden - von mir aus auch donnerstagsnachmittags - die Deregulierung fordern, aber dann, wenn wir in der Praxis beim Handwerksrecht deregulieren, auf die Barrikaden gehen und sagen: Da machen wir nicht mit. Eines von beiden geht nur: Sonntagsreden halten oder sich so verhalten, wie Sie es ansonsten tun. ({2}) Wenn wir im Rahmen der Gesundheitsreform das Thema der Apothekerkammern ansprechen und fragen: „Muss das mit dem Vertrieb noch so sein oder können wir nicht einen Versandhandel einführen und Mehrfachbesitz zulassen?“, dann sagen Sie dazu: Deregulierung ja, aber nicht an dieser Stelle. Wenn man sich im Hinblick auf die Kassenärztlichen Vereinigungen fragt, wer in diesem Bereich Verträge abschließen kann und ob wir nicht auch hier deregulieren sollten, sagen Sie: Deregulierung ja, an dieser Stelle aber nicht. Damit möchte ich Ihnen Folgendes sagen - ich verbinde damit eine Bitte -: Gleichgültig ob es um das allgemeine Thema Steuersenkungen oder um das allgemeine Thema Deregulierung geht, beides sind wichtige Themen, die wir angehen müssen. Bei Ihnen aber verkommen sie in der aktuellen politischen Debatte dazu, dass sie für Sonntagsreden herhalten müssen. Denn wenn es um die praktische Umsetzung geht, stehen Sie im Weg. Daran sollten Sie arbeiten. ({3}) Der zweite Punkt, den ich Ihnen wirklich nicht vorwerfe - ich glaube, so muss vermutlich jede Opposition handeln -, ist: Es geht darum, dass Sie zu den Themen Fondsbesteuerung, Business Angels, Stock Options eine Reihe kluger Vorschläge machen. Das alles sind wichtige Themen. Die Regierung hat in diesem Zusammenhang das Problem, dass es ihr gelingen muss, die notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, um die für sich genommen mehr als sinnvollen Vorschläge umzusetzen. Das ist nicht immer ganz einfach. Wir befinden uns in einem Zielkonflikt; wir müssen das im Zusammenhang mit dem Haushalt regeln. Darauf müssen Regierungsfraktionen naturgemäß stärker achten, als Sie dies tun müssen. In diesen beiden Punkten habe ich also einen Einwand bezüglich Ihres Antrages. In der Analyse der Situation und in dem, was wir tun könnten, liegen wir aber nicht so weit auseinander. Ein paar Worte zur Lage des Beteiligungskapitalmarktes: Natürlich ist die Mobilisierung von Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen für die SPD-Fraktion ein ganz wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel. Ich sage das deshalb, weil wir es vermeiden sollten, über Dinge kontrovers zu diskutieren, die nicht kontrovers sind. Natürlich steckt der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieunternehmen - auch da haben Sie Recht - derzeit in einer schweren Krise. Übrigens - auch das wissen Sie -, das ist keine rein deutsche Besonderheit, sondern ein globales Phänomen. Ein großer Teil der Unternehmen, die mit Beteiligungskapital finanziert wurden, ist in Bedrängnis geraten oder gar insolvent. Die Beteiligungskapitalgeber haben hohe Schäden zu verkraften und sind oft nicht in der Lage, in ausreichendem Umfang Anschlussfinanzierungen zur Verfügung zu stellen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich die Kapitalgeber bei neuen Engagements sehr bedeckt halten. Die Zufuhr von Beteiligungskapital seitens privater Kapitalgeber für junge innovative Unternehmen, die ihre erste Finanzierungsrunde suchen, ist fast versiegt. Entsprechend rückläufig ist die Förderung der öffentlichen Hand, die auf die frühen Phasen der Unternehmensentwicklung konzentriert ist. Die aktuellen Zahlen der Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau sprechen dazu eine beredte Sprache. Die Gründe für die schwierige Situation sind vielfältig: zum Teil nicht tragfähige Geschäftsmodelle, enttäuschte Erwartungen, Verfall von Unternehmensbewertungen, Krise und Auflösung des Neuen Marktes und natürlich auch die eingetrübte Konjunktur. Was in welchem Umfang wofür kausal ist und wo die Zusammenhänge zu suchen sind, darüber kann man viel diskutieren. ({4}) Müssten heute nicht viele Beteiligungskapitalgeber ihre knappen Mittel einsetzen, um den Bestand noch nicht profitabler Beteiligungsunternehmen zu sichern, gäbe es sicherlich auch keine so ausgeprägte Verknappung bei Erstrundenfinanzierungen. Die Marktteilnehmer werden aus der Entwicklung der letzten Jahre gewiss auch ihre Lehren ziehen. Zu den Maßnahmen, die vonseiten der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung vorgeschlagen werden: Die Bundesregierung leistet ihren Beitrag, damit der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieunternehmen so schnell wie möglich wieder Tritt fasst. Dazu ist es erforderlich, Förderansätze, die die jetzige Bundesregierung noch aus Ihrer Zeit übernommen hat, weiterzuentwickeln, auszubauen, im Einzelfall aber auch im Hinblick auf die steuerlichen Auswirkungen kritisch zu überprüfen, die nicht so linear, eindeutig und monokausal sind, wie Sie es beschrieben haben, Herr Riesenhuber. Anders als in den Jahren mit einer ausgesprochen euphorischen Stimmung am Kapitalmarkt reicht es derzeit nicht aus, vor allem Kapital für die Frühphase zu mobilisieren und dann zu erwarten, dass der Markt die Anschlussfinanzierung schon bereitstellen werde. Wenn aussichtsreiche Unternehmen und Projekte wegen der gegenwärtigen Kapitalmarktlage an der Anschlussfinanzierung scheitern, ist das eine volkswirtschaftliche Verschwendung. Auf der anderen Seite soll man bekanntlich schlechtem Geld kein gutes hinterherwerfen. Für den Staat bedeutet das eine Gratwanderung und eine schwierige Abwägung; denn es wäre kaum zu rechtfertigen, wenn der Staat einspränge, obwohl private Beteiligungskapitalgeber zu keinem weiteren Engagement bereit sind. Es kann also immer nur um Anschubfunktionen des Staates gehen. Hier müssen wir uns fragen, was wir derzeit konkret tun. Wir planen vonseiten der Bundesregierung und der Koalition einen Dachfonds, der aus dem Europäischen Investitionsfonds und dem ERP-Sondervermögen des Bundes gespeist wird. Dieser Dachfonds, der für weitere Partner offen ist, wird zusammen mit privaten Kapitalgebern in Venture-Capital-Fonds in Deutschland investieren. Der Dachfonds wird über die nächsten Jahre mit rund 500 Millionen Euro eigenem Investment etwa 1,7 Milliarden Euro Beteiligungskapital für die Unternehmen in Deutschland mobilisieren können. ({5}) Wir hoffen, dass das für die privaten Kapitalgeber ein deutliches Signal darstellt. Auch auf der Ebene des Investments in einzelnen Unternehmen wollen wir den privaten Kapitalgebern zusätzliche Angebote machen, sich wieder verstärkt zu engagieren. Zusätzliche Liquidität soll dem Markt zur Verfügung gestellt werden. Ferner hoffen wir, dass durch die Fusion von KfW und DtA zusätzliche Anschubwirkungen organisiert werden. Ein letztes Wort zu den steuerlichen Rahmenbedingungen, die Sie zu Recht ansprachen: Uns ist sehr wohl bewusst, dass diesen steuerlichen Rahmenbedingungen eine große Bedeutung zukommt. Mein Eindruck ist, dass wir auch hier nicht auf ganz schlechtem Wege sind. Bei der Fondsbesteuerung bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam - die Bundesländer wurden bereits angesprochen - zu sehr akzeptablen Lösungen kommen werden. Für die Mitarbeiterbeteiligungsoption hat das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit wiederholt flexible Regelungen eingefordert und sich dafür eingesetzt, die Veräußerungsgewinnbesteuerung bei Business-AngelInvestments zu überdenken. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Meine Damen und Herren, in meinem Beitrag habe ich versucht, auf Ihre zum Teil guten, zum Teil rituell etwas schwierigen Argumente differenziert einzugehen. ({6}) Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, bei diesem Thema, das für unsere weitere wirtschaftliche Zukunft nicht völlig unbedeutend ist, das eine oder andere gemeinsam zustande zu bringen. Die Form unserer Debatte macht mich diesbezüglich optimistisch. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! In Bezug auf den Antrag der CDU/CSU-Fraktion, den die FDP rundum als recht positiv beurteilt, lassen Sie mich auch auf Ihre Worte eingehen, Herr Professor Riesenhuber: Es gibt nicht nur höchste Insolvenzraten bei der New und der Old Economy. Ich halte es ebenfalls für Besorgnis erregend, dass fast jedes vierte deutsche Unternehmen derzeit erwägt, die Produktion ins Ausland zu verlegen, und zwar wegen der hohen Kosten aufgrund der hier herrschenden Steuer- und Abgabenstrukturen. Das ist alarmierend. ({0}) Hinsichtlich des fehlendes Eigenkapitals für den deutschen Mittelstand nenne ich ebenfalls ein paar Zahlen, die wirklich sehr alarmierend sind. Nach einer Umfrage des Sparkassen- und Giroverbandes aus dem vergangenen Jahr weisen nur noch 40 Prozent aller Unternehmen eine Eigenkapitalquote auf; sie geht fast gegen null. Je kleiner das Unternehmen ist, Herr Dr. Wend, desto größer sind die Probleme; das wissen wir alle. ({1}) Mehr als die Hälfte der Betriebe mit weniger als 1 Million Euro Jahresumsatz haben inzwischen schon kein Eigenkapital mehr. Diese dramatische Situation muss uns alle umtreiben; sie gilt es zu überwinden. ({2}) Lösungen dafür findet man aber auf gar keinen Fall, indem man jede Woche oder fast jeden Tag über neue mögliche Steuererhöhungen spricht. ({3}) Die Diskussion über die Themen Tabaksteuer und Mehrwertsteuer sowie eine mögliche Erhöhung der Mineralölsteuer - heute aktuell in den Medien zu lesen - ist Gift für die Konjunktur, Gift für den Wirtschaftsstandort Deutschland. ({4}) Das führt zu einer totalen Verunsicherung bei den Firmen. ({5}) Es ist doch überhaupt keine Frage, dass die im deutschen Einkommensteuerrecht vorgenommene Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze bei Beteiligungen auf ein Prozent erheblich zur Schwächung der Beteiligungskultur beigetragen hat. ({6}) Jeder Business Angel wird sich zweimal überlegen, ob er wirklich sein Geld zur Verfügung stellen kann, weil es vorher vom Finanzminister zum größten Teil schlicht einkassiert wird. Natürlich haben die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion völlig Recht mit ihren Aussagen, dass Kontrollmitteilungen faktisch bereits eingeführt seien und dass eine Mindeststeuer am Finanzplatz Deutschland diesem sehr großen Schaden zufügen würde. All dies sind Diskussionen, die uns schaden. Mir geht es darum, Herr Kollege Tauss, dass wir nach Lösungen für diese wirklich dramatische Situation suchen, die alles andere als lustig ist. ({7}) Angesichts dieser verfehlten Wirtschafts- und Steuerpolitik unterstreiche ich noch einmal, was Herr Kollege Riesenhuber völlig zu Recht sagte: Wir können noch so viele Fonds auflegen, uns noch so sehr bemühen, Programme zu initiieren. Alle Anstrengungen, die wir unternehmen, werden null und nichtig sein, sofern wir nicht, um Luft zu bekommen, mit einer klaren, einfachen Besteuerung für jeden Arbeitnehmer und für Unternehmen hier am Standort Deutschland einen Impuls setzen. Wir haben vor längerer Zeit ein klares und einfaches Steuerkonzept mit Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent vorgelegt. ({8}) - Gerecht ist es natürlich auch. - Ehrlicherweise muss man die Frage stellen, wie dies finanziert werden kann. Die Anregungen, die Herr Professor Paqué, Finanzminister in Sachsen-Anhalt, am vergangenen Freitag gegeben hat - sie sind in der „FAZ“ nachzulesen -, halte ich für hervorragend. Natürlich müssen wir uns nicht nur über Subventionsabbau unterhalten, sondern in dieser Hinsicht auch handeln, und zwar nicht selektiv. Es war von Steuersenkungen und von Deregulierungen die Rede, aber es fehlte das Stichwort Subventionsabbau. Ein Befreiungsschlag ist nur durch eine pauschale Senkung der Subventionen möglich. ({9}) Nur dann schaffen wir es, Milliarden einzusparen. Ich bitte Sie, in dieser Hinsicht künftig sehr viel mutiger zu sein. Wenn Sie nicht glauben, dass dies derzeit möglich ist, dann führe ich an, welche Gesamtsumme an Subventionen das Institut für Weltwirtschaft in Kiel genannt hat. Sie betrug im Jahr 2001 - man höre und staune 155 Milliarden Euro. ({10}) Das entspricht einem Drittel unserer gesamten Steuereinnahmen; das muss man sich einmal vorstellen. Wenn man davon abzieht, was an staatlichen und halbstaatlichen Subventionen gezahlt wird, bleiben - quasi netto immer noch Subventionen in Höhe von 110 Milliarden Euro. Wenn Sie nur 20 Prozent davon pauschal streichen, dann haben Sie ein Einsparvolumen von 22 Milliarden Euro. ({11}) Das ist ein Batzen Geld. Ich kann Sie nur auffordern, wirklich mutige Schritte zu Liberalisierung, Deregulierung, Steuersenkung und Subventionsabbau zu vereinbaren. Dann haben Sie auch uns auf der Seite derjenigen, die mitarbeiten. Ich kann nur noch einmal sagen: Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist wirklich sehr gut. Ich freue mich auf die Debatte darüber in den entsprechenden Ausschüssen und hoffe, dass wir endlich vom Reden zum Handeln kommen. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab zwei Bemerkungen zu Ihnen, Frau Kopp. Der erste Punkt. Ich gebe Ihnen völlig Recht; auch ich erachte das Steuerrecht für zu kompliziert. Unser Problem ist aber, dass in der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte alle gesellschaftspolitischen Felder - von der Bildung über die Familie und die Bauförderung bis hin zur Kulturpflege - im Steuerrecht geregelt wurden und dass es unheimlich schwer ist, das wieder zurückzudrehen. Ich glaube, wir sind darüber einig, dass man die notwendigen Investitionen an der einen oder anderen Stelle besser über Direktinvestitionen als über das Steuerrecht regeln könnte. Das ist ein sehr schwieriger Weg. Aber man muss ihn gehen; da gebe ich Ihnen Recht. Der zweite Punkt. Selbstverständlich werden wir weiter Subventionen abbauen. Aber ich möchte Sie bitten, dass Sie, wenn Sie die vom Institut für Weltwirtschaft genannte Summe von 155 Milliarden Euro aufgreifen, den Bürgerinnen und Bürger auch sagen, dass in diesen Subventionen die Finanzierung unserer Bildungseinrichtungen enthalten ist. Es entspricht dem Grundgesetz und unserem Verfassungsauftrag, dass der Staat für die Finanzierung dieser Einrichtungen aufkommt. Dies ist nicht privatwirtschaftlich zu tragen. ({0}) - Das ist keine Subvention im engeren Sinne. Ich vermute, es wird sehr mühsam sein, sich zunächst einmal auf einen Subventionsbegriff zu verständigen. Dazu werden Vorlagen kommen. Ich bin gespannt, wie die FDP sich verhält, wenn es konkret wird. Denn dann sind Sie meistens nicht mehr dabei. ({1}) Es gibt zwei Gründe, warum mir der Antrag, den die Union vorgelegt hat, nicht so gut gefällt. Herr Riesenhuber, der erste Grund ist: Der Duktus des Antrages ist mir zu negativ. Er verbreitet eine schlechte Stimmung. ({2}) Wir alle sind der Auffassung, dass wir hier etwas tun müssen und sollen. Es ist klar, dass die Förderung von jungen Technologieunternehmen ein Schlüssel zur Innovationstätigkeit der Gesellschaft in Bezug auf neue Produkte und Technologien ist. Wir sollten das positiv formulieren und nicht immer alles als ganz furchtbar darstellen. Der zweite Grund ist: Die Lösungsansätze zu steuerlichen Fragen, die Sie hier formulieren, sind ein Schnellschuss. Wir können keine steuerlichen Regelungen mehr gebrauchen, die denjenigen große Schlupflöcher eröffnen, die sie nicht brauchen. Die Regelungen müssen zielgenau, effektiv, kontrollierbar, nachvollziehbar und im internationalen Wettbewerb sinnvoll sein. ({3}) Wir dürfen keine Maßnahme ergreifen, ohne uns die Konsequenzen zu überlegen. Ich denke, wir werden im Laufe des Verfahrens noch über die eine oder andere Maßnahme diskutieren können. Da Sie sich immer für die negative Seite zuständig fühlen, möchte ich ein paar positive Sachen sagen. ({4}) Deutschland ist der zweitwichtigste Technologieexporteur der Welt, das weist der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit des letzten Jahres aus. ({5}) Wir haben hier nach wie vor eine weltweit führende Position, übrigens auch bei Patentanmeldungen. Tatsache ist auch, dass nach dem Gründungsboom im Hightechbereich Ende der 90er-Jahre, speziell im Segment IT und im Bereich der Biotechnologie, im Zuge der anhaltenden Konjunkturschwäche ein Rückgang an Neugründungen stattgefunden hat. Dass wir eine Zunahme an Insolvenzen verzeichnen mussten, ist richtig. Aber man darf die Ursachen dieser Entwicklung nicht vorrangig auf mangelhafte steuerliche Rahmenbedingungen zurückführen. Man muss die eigentlichen Ursachen auch im Zusammenhang mit den gestaltbaren Rahmenbedingungen für innovatives Handeln von Unternehmen sehen. Die Aussagen in der aktuellen Analyse der Deutsche Bank Research vom Mai 2003, die wir bekommen haben, klingen viel seriöser als das, was Sie formulieren. Ich zitiere kurz aus dem Bericht. Dort heißt es: Ein Teil des Rückgangs der Gründungsaktivitäten kann durch die anhaltende Wachstumsschwäche in Deutschland erklärt werden. Ein bedeutender Teil des Nachlassens ist aber auf das Platzen der Bubble an den Wachstumsbörsen und am Venture-CapitalMarkt zurückzuführen. Die Übertreibungen an diesen Märkten - das ist die Interpretation - führten natürlich auch zum Zusammenbruch des Neuen Marktes. Spekulationsblasen an Börsen hat nicht - das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen die Politik zu verantworten. Vielmehr sind es die Akteure auf den Märkten selbst, die dies zu verantworten haben. ({6}) Wir haben für vieles, aber nicht für alles die Verantwortung. Leider haben auch hier unseriöse Investitionsentscheidungen stattgefunden; das war nach der Konsolidierung der Venture-Capital-Märkte bei Unternehmensneugründungen zu sehen. Hier müssen wir feststellen, dass Unternehmer ihre Fehlinvestitionen und Finanzanleger und -anlegerinnen ihr spekulatives Verhalten selbst zu verantworten haben. Die Politik kann und will hier bessere, kalkulierbare Rahmenbedingungen für Investorenverhalten bieten. Ich denke, das ist auch sinnvoll. Bei Bund, Ländern und Kommunen existieren insgesamt 129 Förderprogramme, die sehr sorgfältig geprüft und ausgebaut werden. Eine Vielzahl dieser Programme wird, was sehr schön ist, gerade in der letzten Zeit wieder stärker in Anspruch genommen. Hier gibt es also durchaus positive Gesichtspunkte. Aber nach wie vor stellen die Risikoaversion und der Gründungspessimismus unter den Deutschen große strukturelle Hemmnisse für innovative Neugründungen dar. Das ist eine psychologische Realität. Ich sage es einmal ganz neutral: Das hat nichts mit der steuerlichen Frage zu tun. Dem ist auch nicht unbedingt durch Förderprogramme zu begegnen, sondern nur mit einem Mentalitätswechsel der Akteure und der potenziellen neuen Unternehmer und Unternehmerinnen. Diesen Aspekt muss man berücksichtigen, wenn man Vergleiche mit den USA betrachtet; denn dort ist die Situation ganz anders - hierzu gibt es wunderbare Untersuchungen -: Die Risikobereitschaft ist höher und dementsprechend ist die Grundsituation eine ganz andere. Lassen Sie uns also, da wir die Zukunft positiv gestalten, hier investieren und diese Unternehmenskultur fördern wollen, die entsprechenden Regelungen gemeinsam weiterentwickeln! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir die unternehmerischen Talente in der Bundesrepublik Deutschland fördern! Lassen Sie uns aber in der öffentlichen Diskussion bitte nicht den Fehler machen, unseren Standort immer schlecht zu reden! Denn wenn wir das tun, was leider vorwiegend vonseiten der FDP geschieht, ({7}) führt dies dazu, dass die Motivation derjenigen, die hier ein Unternehmen gründen wollen, nicht gerade gefördert wird. Darum sollte es uns aber eigentlich gehen. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte gehört ja, was das Aufeinander-Zugehen anbetrifft, zweifelsfrei zu einer der erfreulicheren Debatten. Das fing mit Ihnen, Herr Professor Riesenhuber, an und hat sich so weitgehend fortgesetzt. Ich persönlich bin sehr davon überzeugt, dass man genau hinsehen muss, wenn man junge Gründungsunternehmen, egal aus welchen Bereichen, fördert, ob man sich nicht selber in die Tasche lügt, wenn man dies in erster Linie durch Veränderung der steuerlichen Kulisse macht, weil die Gründer selber und ihre Unternehmen in ihren Verlustphasen davon meistens leider relativ wenig haben; es sei denn, man überträgt die Vorlaufverluste sozusagen bis in alle Ewigkeit. Aber dann wird das, was aus ihnen wird, wiederum für den Fiskus außerordentlich schwer kalkulierbar. Deswegen haben wir in Deutschland in der Vergangenheit darauf gesetzt und setzen darauf auch heute - das gilt übrigens für alle Industrieländer, die einen hohen Anteil von Forschungs- und Entwicklungskosten im privaten wie im öffentlichen Bereich aufweisen, woraus Unternehmensgründungen hervorgehen -, diesen Unternehmen durch direkte Förderung zu helfen. Sie selber haben darauf abgehoben. Es gab eine Menge an Beteiligungskapital und Gründungshilfen über die KfW und die DtA. Das wird künftig über die KfW-Mittelstandsbank, wie sie, nachdem wir uns gestern geeinigt haben, heißen wird, fortgeführt. Das Problem ist natürlich, dass die Zahlung von Hilfen einen gewissen Eigenanteil bei der Finanzierung voraussetzt, der denjenigen, die Unternehmen neu gründen oder bestehende Unternehmen fortführen wollen, zunehmend fehlt. Noch viel schwieriger ist - darauf ist ebenfalls schon eingegangen worden -, Hausbanken zu finden, die sich bei der Finanzierung eines normalen mittelständischen Unternehmens über das normale Risiko hinaus engagieren. Sie sind noch nicht einmal bereit, „Querschreibungen“ vorzunehmen, also einen zinsgünstigen Kredit der Mittelstandsbank durchzureichen. Das ist ein riesengroßes Problem, das wir angehen müssen. Wir sind auf jeden Fall bereit, über die Instrumente der Banken, die wir haben und die wir sogar etwas schärfer gefasst haben, Mittel auszugeben und die Programme fortzusetzen, und zwar in vergleichbarer Größenordnung wie in der Vergangenheit. Wir müssen aber auch die Umgebung entsprechend anpassen. Es ist eben anschaulich dargestellt worden, dass vieles dazu beigetragen hat, dass im Hightechbereich im Augenblick keine Gründungsstimmung aufkommen will. Das eine Problem ist, dass in diesem ganz interessanten Segment, über das alle gestaunt haben, eine Blase geplatzt ist. Heute trauen sich viele diesen Schritt nicht und gehen ihn nicht, auch wenn sie könnten. Das ist ein großes psychologisches Problem, an dessen Lösung man arbeiten muss und bei dem man durch öffentliche Darstellung viel erreichen kann. Es fängt bei der Schule an, geht aber bis dahin, dass die Politik über solche Vorgänge redet und so darauf hinwirkt, dass sich die Menschen wieder trauen, sich selbstständig zu machen. Ein weiteres Problem ist, dass sich die Anleger, die auf dem Venture-Capital-Markt investiert haben, zunehmend des Risikos bewusst werden. Dies ist insbesondere deswegen der Fall, weil die normalen Ertragsquellen, aus deren Überschüssen sie diese Investitionen in der Vergangenheit finanziert haben, in der Regel nicht mehr in dem Maße sprudeln wie in der Vergangenheit und alles etwas näher am Rand genäht ist. Sie müssen etwas stärker auf ihren Cashflow achten. Wenn also die Quelle versiegt, wenn das Geld, das investiert werden soll, gerade einmal für das Kerngeschäft reicht, dann kann man betteln und beten, sogar noch etwas Geld hinterherwerfen und obendrein noch die Steuersätze senken - aber Venture-Capital-Beteiligungen werden die Anleger nicht eingehen. Das machen sie nun einmal nicht aus reiner Nächstenliebe. Insofern glaube ich, dass man zwei Dinge beachten muss. Man muss zum einen dafür sorgen, dass sich das Pendel, das nach dem IT-Boom, nach der Begeisterung und nach dem Platzen der Spekulationsblase in einem Bereich des absoluten Attentismus gestanden hat, wieder in einen normalen Bereich einpendelt. Man muss zum anderen dafür sorgen, dass der Venture-Capital-Markt verstetigt wird. Dazu gehört, dass wir uns die Möglichkeiten der öffentlichen Hilfen ansehen müssen. Neben den Programmen der KfW, die nach wie vor eine beachtliche Größenordnung aufweisen - KfW und DtA haben im letzten Jahr zusammen 600 Millionen Euro zur Verfügung gestellt; das ist auch im europäischen Vergleich, den wir nicht zu scheuen brauchen, sehr viel Geld -, müssen wir, wo es vernünftig ist, auf die steuerliche Kulisse sehen. Sie haben das Thema Business Angles angesprochen. Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert; das wissen Sie wahrscheinlich genauso gut wie ich. Es geht um die Frage der wesentlichen Beteiligung. Wenn man eine nicht wesentliche Beteiligung eingeht, dann ist man - auch bei einem Gesellschafterdarlehen -, was die Haftung angeht, weitgehend außerhalb des Risikos. Im Falle einer Insolvenz kommt man, zumindest theoretisch, auf einen recht hohen Platz auf der Gläubigerliste. Wenn man eine wesentliche Beteiligung eingeht, dann ist man zwar voll in der Haftung, hat aber den großen Vorteil, dass man die Verluste einer solchen Beteiligung im selben Jahr oder zeitlich gestreckt bei der Steuer voll mit seinen anderen Einkünften verrechnen kann. Beides gleichzeitig geht aber nicht. Als wir damals diese Änderungen im Steuerrecht vorgenommen haben, habe ich mit den betreffenden Agenturen und Einzelpersonen geredet. Am liebsten hätten sie natürlich beides, nämlich die Möglichkeit der vollständigen Absetzbarkeit möglicher Verluste und gleichzeitig den Platz eins auf der Gläubigerliste. Das geht bei einem solchen Geschäft nicht. Wir müssten überlegen, wie man Reinhard Schultz ({0}) zu einer Regelung kommen kann, die etwas besser auf diese besondere Situation zugeschnitten ist, sodass kein Sonderfall geschaffen wird, der natürlich Begehrlichkeiten bei anderen hervorruft. Das Gleiche gilt auch für die steuerliche Behandlung von Risikobeteiligungen. Im Gegensatz zu manchen anderen glaube ich, dass wir bei dem im Zusammenhang mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz verfolgten Ansatz, die Verlustzuweisungen zu begrenzen, richtig gehandelt haben. Es wird ja niemandem die Möglichkeit des Verlustvortrags genommen, sondern sie wird auf der Zeitachse lediglich verstetigt. Im Grunde genommen ist es eher eine Optimierung der persönlichen steuerlichen Situation des betroffenen Bürgers, der Einkommensteuer zahlen muss, und des Unternehmens, das Körperschaftsteuer zahlt. Niemandem wird die Möglichkeit des Verlustvortrags genommen, sondern sie wird - zugunsten der Verstetigung der Steuereinnahmen - lediglich vernünftig auf der Zeitachse verteilt. Bei der Körperschaftsteuer haben wir dies gemeinsam mit dem Bundesrat so geregelt. Für viel wichtiger halte ich neue Vorstöße bei der Mobilisierung privaten Beteiligungskapitals. Im Rahmen einer Anhörung des Finanzausschusses zum Finanzplatz Deutschland hatten wir gestern eine ganz spannende Diskussion. Alle Varianten von der Fondsfinanzierung bis zum Aufbau neuer Märkte - es geht darum, eigene Börsen für bestimmte Hightech-Segmente aufzubauen -, sind diskutiert worden. Wir haben noch einmal unterstrichen, dass wir in Bezug auf die Fonds das fortsetzen werden, was wir bereits im Steuervergünstigungsabbaugesetz vorgesehen haben. Wir werden die inländischen und die ausländischen Fonds zum 1. Januar 2004 steuerlich völlig gleichstellen. Das ist seit längerem bekannt und auch verbindlich. Das schafft Planungssicherheit und es werden Produkte angeboten und Programme aufgelegt, die dieser neuen und mit Recht erwarteten steuerlichen Kulisse entsprechen. Ich hoffe, dass auch für die Segmente, die wir hier diskutieren, etwas Maßgeschneidertes aufgelegt wird. In Bezug auf das Investmentgesetz, in dessen Rahmen dies vorgesehen ist, und das Investmentsteuergesetz, das parallel dazu verabschiedet wird, werden wir auch zu überlegen haben, ob wir der Finanzaufsicht nicht mehr Ermessensspielraum einräumen sollten, sodass sie kurzfristig auf Produktideen, die dieser Gründerkulisse eher entsprechen, reagieren kann und wir weg von der starken Verrechtlichung kommen. Diese erklärt sich aufgrund des Sicherheitsbedürfnisses, sie führt aber zu sehr langsamen Reaktionen der Aufsichtsbehörden bei neuen Ideen. Der Chef der Deutschen Börse hat uns gesagt, dass es neue Hightech-Börsen geben wird. Es ist die Pflicht der Deutschen Börse und der Regionalbörsen, dafür zu sorgen, dass sie eingerichtet werden, auch in internationaler Kooperation. Der Neue Markt ist ja geschlossen worden. Es sind ja nicht alle Unternehmen, die in diesem Index notiert waren verschwunden; ein großer Teil wird inzwischen an den - in Anführungszeichen - normalen Börsen international gelistet. Ein anderer Teil ist allerdings „weg vom Fenster“. Wir werden neue Anstrengungen erleben, die die Gründerszene massiv befruchten werden. Ich denke, wir sollten das konstruktiv unterstützen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 10 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen - Drucksache 15/1089 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Hinsken, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Handwerk mit Zukunft - Drucksache 15/1107 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Dr. Norbert Lammert ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Meisterbrief erhalten und Handwerksordnung zukunftsfest machen - Drucksache 15/1108 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Kollege Brandner für die SPD-Fraktion das Wort.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einbringung des Gesetzentwurfes zur Änderung der Handwerksordnung und zur Förderung von Kleinunternehmen schließen wir eine Lücke aus der Hartz-II-Gesetzgebung. Es geht um das Konzept der Ich-AG. Wie Sie wissen, gehören zur Ich-AG der Existenzgründungszuschuss aus dem Sozialgesetzbuch III, die Minimalbesteuerung, die Einführung einfacher Buchführungsrichtlinien für Kleinunternehmen und vor allem auch die Liberalisierung der Handwerksordnung. Das Kleinunternehmerförderungsgesetz werden wir morgen in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Es benötigt allerdings die Zustimmung des Bundesrates. Der jetzt vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung ist jedoch nicht zustimmungspflichtig. Wir können und werden ihn deshalb zügig beraten und noch vor der Sommerpause verabschieden. ({0}) Erst wenn alle drei Teile des Konzepts im Gesetzblatt stehen, wird sich - wir werden es sehen - bei der Ich-AG eine Gründungsdynamik entwickeln. ({1}) - Nun stöhnen Sie nicht schon jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU; denn entgegen allen Unkenrufen ist unser Weg, Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit heraus zu fördern, bereits jetzt ein voller Erfolg. ({2}) Allein in den ersten fünf Monaten haben mehr als 90 000 Arbeitslose den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt, ({3}) davon 26 000 allein in Form der Ich-AG. Dabei konnte dieses Konzept - ich wiederhole mich -, seine volle Wirksamkeit noch gar nicht entfalten. Wir versprechen uns deshalb von der raschen Umsetzung der Liberalisierung im Handwerksbereich und von der zügigen Beratung des Kleinunternehmerförderungsgesetzes im Bundesrat einen weiteren Durchbruch für mehr Existenzen und mehr Beschäftigung. ({4}) Uns hat in den vergangenen Monaten eine Flut von Anfragen Arbeitsloser erreicht, die sich selbstständig machen wollten, jedoch von den Handwerkskammern mit Blick auf die geltende Handwerksordnung daran gehindert wurden. Abmahnungen, Bußgelder und Betriebsschließungen wurden Existenzgründern angedroht oder teilweise vollzogen. Das wollen und müssen wir ändern. ({5}) Wir wollen in einem ersten Schritt die Handwerksordnung für den Bereich einfacher Tätigkeiten entzerren und liberalisieren. Wir nehmen mit dieser kleinen Novelle eine Klarstellung in das Gesetz auf, die der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht. Worum geht es konkret? In § 1 Abs. 2 der Handwerksordnung heißt es: Ein Gewerbebetrieb ist Handwerksbetrieb im Sinne dieses Gesetzes, wenn er handwerksmäßig betrieben wird und ein Gewerbe vollständig umfasst, das in der Anlage A aufgeführt ist, oder Tätigkeiten ausgeübt werden, die für dieses Gewerbe wesentlich sind ({6}). Es kommt also auf die wesentlichen Tätigkeiten an. Wir wollen nun mit diesem Gesetz klarstellen, welche Tätigkeiten nicht zum Kernbereich eines Handwerks gehören, also keine wesentlichen Tätigkeiten im Sinne § 1 Abs. 2 des Gesetzes sind. Keine wesentlichen Tätigkeiten eines Gewerbes der Anlage A der Handwerksordnung sind insbesondere so genannte einfache Tätigkeiten, die in kurzer Anlernzeit erlernbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat „einfache Tätigkeiten“ definiert: Es sind Tätigkeiten, die ein durchschnittlich begabter Berufsanfänger in zwei bis drei Monaten erlernen kann. Wir stellen in diesem Gesetz aber auch klar, dass wesentliche Tätigkeiten auch dann nicht vorliegen, wenn sie zwar eine längere Anlernzeit verlangen, aber für das Gesamtbild des betreffenden Gewerbes der Anlage A nebensächlich sind und deshalb nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, auf die die Ausbildung in diesem Gewerbe hauptsächlich ausgerichtet ist. Schließlich zählen zu den wesentlichen Tätigkeiten im Sinne von § 1 Abs. 2 der Handwerksordnung nicht solche Tätigkeiten, die sich nicht aus einem Gewerbe der Anlage A entwickelt haben. Mit dieser kleinen Novelle werden viele Unklarheiten der Auslegung der Handwerksordnung und noch mehr Ungereimtheiten bei ihrer Ausführung beseitigt. Wir werden dadurch mehr Existenzgründungen ermöglichen, die bisher verhindert oder behindert wurden. Gerade heute Morgen haben wir in einem Gespräch mit den führenden Vertretern der Handelsverbände in Deutschland erfahren, dass der Handel Impulse braucht, um aus der negativen Stimmung herauszukommen. Er sieht einen Impuls darin, durch geschlossene Serviceleistungen neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. Zum Beispiel könnten diejenigen, die Teppiche verkaufen, zugleich auch die Serviceleistung des Verlegens oder des Anbringens von Fußleisten anbieten. Es sind also viele Geschäftsfelder denkbar, von denen Beschäftigungsimpulse ausgehen können. Bereiche, die heute brach liegen, könnten wir mit dieser gesetzlichen Änderung leicht erschließen. Mit der kleinen Novelle der Handwerksordnung eröffnen wir zugleich die Diskussion über die große Novelle der Handwerksordnung, die mit der Vorlage des Regierungsentwurfs vom 28. Mai 2003 begonnen wurde. Lassen Sie mich deshalb mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen dazu schließen. Die Reform der Handwerksordnung kommt aus meiner Sicht mindestens 13 Jahre zu spät. Spätestens mit der Vereinigung Deutschlands wäre eine grundlegende Reform der Handwerksordnung überfällig gewesen. So haben wir noch zu Beginn der 90er-Jahre das alte Regelwerk in die neuen Bundesländer übertragen, mit fatalen Konsequenzen für die Gründungsdynamik in diesen Ländern. Wir hätten uns viel Ärger ersparen und für viele Gründungswillige auch ein hohes Maß an Ungerechtigkeiten vermeiden können, wenn wir schon damals mutig an eine Novellierung der Handwerksordnung herangegangen wären. Wie viele hoch qualifizierte Techniker, Ingenieure und Werkmeister aus der ehemaligen DDR sind davon abgehalten worden, sich im Handwerk selbstständig zu machen, mit der Begründung, sie hätten keinen Meisterbrief? Das werden wir jetzt ändern - für viele leider 13 Jahre zu spät. Zum Schluss noch eine Bitte an das Handwerk und an die Verbandsfunktionäre: Rüsten Sie verbal ab! ({7}) Was hier in den letzten Tagen und Wochen an Verbandsradikalismen in die Debatte eingeführt wurde, ist nur schwer erträglich. ({8}) Ich will hier auf Beispiele verzichten. Es war jedenfalls nicht meisterlich, was dort geboten wurde. Es ist eher beschämend, meine Damen und Herren. Den Handwerkern, die uns heute zuhören, sage ich: Wenn wir jetzt nicht handeln, dann können wir das Handwerksrecht in Deutschland nicht zukunftssicher und europafest machen. ({9}) Wir stehen zum Meisterbrief. Wir schaffen ihn nicht ab. Wir fördern ihn beispielsweise, indem wir das BAföG auf eine neue und erweiterte Grundlage gestellt haben. Damit schaffen wir Qualitätsstandards, von denen viele andere nur träumen. ({10}) Aber die Voraussetzung für die Berufsausübung ist doch nicht allein der große Befähigungsnachweis. Wem wollen Sie denn klar machen, dass sich ein Diplom-Ingenieur im Handwerk nicht selbstständig machen kann, sondern nur derjenige, der eine entsprechende Meisterprüfung abgelegt hat? ({11}) Wir werden in der Debatte, die uns von anderen europäischen Mitgliedstaaten und den europäischen Gerichten aufgezwungen wird, immer mehr in die Defensive gedrängt, wenn wir jetzt nicht handeln. Demnächst werden Anbieter aus zwölf europäischen Nachbarländern bei uns ihre Handwerksleistungen ungehindert anbieten können, ohne den gleichen strengen Zugangsvoraussetzungen zu unterliegen wie ihre deutschen Mitkonkurrenten. Hier muss etwas passieren. ({12}) Den zukünftigen Existenzgründern sage ich: Wir werden für mehr Berufsfreiheit in einem bisher regulierten Markt sorgen. Das wird Ihnen helfen. Es wird erheblich leichter sein, eine selbstständige Existenz im Handwerk zu gründen. Wir werden Ihnen dabei zur Seite stehen, angefangen mit Förderinstrumenten wie dem Überbrückungsgeld oder der Ich-AG, mit steuerlichen Hilfen und günstigen Kreditprogrammen der Mittelstandsbank, mit der Modernisierung der beruflichen Bildung, bis hin zum Meister-BAföG. Damit bieten wir ein komplettes Programm an. Ich denke, dieses Programm ist in die Zukunft gerichtet. Ich bitte Sie dazu um Ihre Unterstützung. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brandner, auch wenn Sie sich noch so oft einreden, dass die Ich-AG etwas Gutes sei: Es wird nicht stimmen. Die Realität draußen zeigt etwas ganz anderes. Die Sorge im Handwerk ist gerade wegen der Einführung der Ich-AG besonders groß. Wenn Sie als Spitzenredner und wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD hier ans Pult geErnst Hinsken hen, dann, so meine ich, sollten Sie sich so vorbereiten, dass Sie nichts Falsches sagen. ({0}) Sie haben darauf verwiesen, dass die Novellierung der Handwerksordnung um 13 Jahre zu spät kommt, dass damals nicht gehandelt wurde, als die neuen und die alten Bundesländer vereinigt wurden. Hinsichtlich der Anerkennung von Meisterprüfungen - zum Beispiel in der Industrie möchte ich Sie daran erinnern, dass die Verordnung über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen von Meistern 1991 im Bundestag beschlossen wurde. Ich sehe es Ihnen nach, dass Sie das nicht wissen, weil Sie damals noch nicht im Bundestag waren. Sie können es aber nachlesen. Wir waren damals sehr wohl auf der Höhe der Zeit und haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen. ({1}) Ich gehöre zu den Anhängern des großen Befähigungsnachweises. Ich gehöre zu denen, die die Handwerksordnung, die das Handwerk mit seinem Kammerwesen, mit seinem Innungswesen für unverzichtbar halten. Das sagte - passen Sie jetzt gut auf! - Bundesminister Clement auf dem Deutschen Handwerkstag am 29. November 2002, also vor einem halben Jahr, in Leipzig. ({2}) Ich zitiere Bundesminister Clement weiter: Es wird durch diese Bundesregierung, jedenfalls durch mich, keine Maßnahmen geben, die gewissermaßen von oben herab Veränderungen im Handwerk erzwingen wollen. ({3}) Das, was wir tun, was wir tun können im Verhältnis zum Handwerk, was die Rechtsordnung angeht, die Handwerksordnung angeht, das wird nur so gestaltet werden, dass Sie - gemeint war das Handwerk mitgehen. Wir werden das mit Ihnen tun, das was notwendig ist, aber nicht ohne Sie, nicht gegen Sie und erst recht nicht von oben herab. Das ist mein Verständnis der Arbeit. ({4}) Wo er Recht hat, hat er Recht. Aber den Worten müssten auch Taten folgen. Davon kann aber nicht die Rede sein. ({5}) Denn das Verfallsdatum von Clements Worten ist schneller abgelaufen, als die Worte aus seinem Munde sprudeln. Lassen Sie mich ein Sprichwort von La Fontaine zitieren: Am Werke erkennt man den Meister! Jetzt blasen Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, aus ideologischen Gründen zum Sturm auf den Meisterbrief. Wer sich so verhält, ist unglaubwürdig. Ich kann auch nicht ganz nachvollziehen, dass eine große Tageszeitung in der vergangenen Woche getitelt hat: Das Handwerk hat mit Clement seinen Meister gefunden. - Darauf kann ich nur erwidern: Es hat nicht seinen Meister, sondern seinen Vernichter gefunden. Das ist die Sorge, die uns vor allem bewegt. ({6}) Seit vergangenem Mittwoch ist im Handwerk die Hölle los: Briefe, Telefonate, Hilferufe ({7}) treffen zigfach bei mir und meinen Kolleginnen und Kollegen ein. ({8}) Bundesminister Clement und Sie, seine Genossen, schlagen wie bei einem Amoklauf wild um sich: Beleidigungen am laufenden Band. Entspricht das Ihrem Verständnis der Zusammenarbeit; wollen Sie so die Handwerks-ordnung gestalten und meinen Sie, dass das Handwerk sie dann mittragen kann? Ich möchte nur an die Worte von Minister Clement in Leipzig erinnern. Wenn Herr Clement ausführt, dass ihn zum Beispiel der Betrug am Sozialstaat wütend macht, dann halte ich ihm entgegen: Auch uns macht das wütend. Aber Mittelständler öffentlich zu bezichtigen, dass sie ihre Ehepartner als Scheinangestellte beschäftigen, die sich dann arbeitslos melden und auf Kosten der Allgemeinheit Geld kassieren - wie erst gestern wieder verschiedenen Pressemeldungen zu entnehmen war -, ist mehr als starker Tobak. ({9}) Für mich ist das Brunnenvergiftung, die wir für keine gesellschaftliche Gruppierung wollen und schon gar nicht für das Handwerk, eine wichtige wirtschaftliche Gruppierung, auf die wir in der Vergangenheit in großartiger Weise setzen konnten und weiter setzen wollen. Denn wegen ein paar schwarzer Schafe eine gesamte gesellschaftliche Gruppierung in Verruf zu bringen geht weit über meine Vorstellungswelt hinaus. Was machen Sie noch? Täter- und Opferrolle werden vertauscht: Sie von Rot-Grün treiben Deutschland in die wirtschaftliche Misere und schieben den schwarzen Peter dem Handwerk zu. So leicht machen Sie es sich! ({10}) Auch folgender Punkt ist nicht zu übersehen. Mir kommt es so vor, als ob Sie von Rot-Grün, insbesondere Herr Clement, über eine radikale Korrektur des Handwerksrechts das Handwerk dafür abstrafen wollen, dass es bei der letzten Wahl nicht die SPD gewählt hat. ({11}) Sie ignorieren völlig, wofür das deutsche Handwerk steht: für 5,3 Millionen Arbeitsplätze und 528 000 Ausbildungsplätze in 580 000 Betrieben, und das, obwohl im letzten Jahr über 10 000 Betriebe Pleite und dadurch 300 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu stellen, warum nur etwa die Hälfte derjenigen, die die Meisterprüfung ablegen, in die Selbstständigkeit gehen. Für mich gibt es nur eine kurze Antwort: weil die Bedingungen so schlecht sind. In Deutschland stehen 130 000 Handwerksmeister in Reserve. Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, sollten dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen verbessert werden. Ich prophezeie Ihnen, dass es, wenn Sie das tun, einen wahren Boom an Existenzgründungen geben wird. Es gibt das alte Sprichwort: Ein schlechtes Handwerk, das seinen Meister nicht ernährt! Abgewandelt auf die Bundesregierung, muss es heute heißen: Eine schlechte Regierung, die ihre Meister ausgrenzt! Wie sieht denn Ihre Antwort aus? Herr Clement hofft auf die Gründung von 200 000 Ich-AGs durch Erwerbslose noch in diesem Jahr. Anstatt tüchtige Existenzgründer zu fördern, kommt wieder nichts Gescheites heraus frei nach dem Motto: Denn sie wissen nicht, was sie tun! ({12}) Sie von Rot-Grün sind feige - das betone ich ausdrücklich noch einmal -, weil Sie nicht den Mut aufbringen, heute Ihre vom Kabinett verabschiedeten Vorschläge zur Novellierung der Handwerksordnung in den Deutschen Bundestag einzubringen. ({13}) Sie haben gerade einmal einen Zehn-Zeilen-Antrag vorgelegt. Da lobe ich mir meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion, die jeweils einen umfangreichen Antrag in den Bundestag eingebracht haben und die versuchen, den Bürgern und insbesondere den Handwerkern wieder Perspektiven zu geben und Mut einzuflößen, den sie dringend benötigen und der ihnen bislang abgeht, weil Sie das Handwerk so lange nach unten gedrückt haben, bis negative Zahlen zu verzeichnen gewesen sind. ({14}) Es ist traurig, dass Sie, wie zu lesen ist, auch bei dem vorliegenden Gesetzentwurf mit allen Raffinessen tricksen, um den Meisterbrief abzukoppeln. ({15}) Es ist nicht hinnehmbar, wenn Bundeswirtschaftsminister Clement eine Reform der HWO gegen das Handwerk über das Knie brechen will. Nicht gegeneinander, sondern miteinander - so müsste das Gebot der Stunde sein. Das war auch versprochen. ({16}) Aber Sie haben ja noch nicht einmal mitbekommen, dass es mehrere verschiedene Anträge gibt. Herr Kuhn, ich bitte Sie, künftig zuerst alles zu lesen und nicht mehr solche saudummen Zurufe wie eben zu machen. ({17}) Bei der Reform der Handwerksordnung darf meiner Meinung nach - das ist auch die Meinung unserer Freunde im Handwerk - das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Es ist unbestritten, dass Deutschland moderne, dynamische, flexible und europafeste Handwerksmeister braucht. Wir brauchen Unternehmer, die mit Fachkompetenz, betriebswirtschaftlichem Fachwissen, Mut und handwerklichem Können neue Geschäftsideen entwickeln und Kunden gewinnen. Treffend heißt es hierzu in den „Meistersingern“ von Richard Wagner: „Verachtet mir die Meister nicht!“ Der Meisterbrief muss als Qualitätssiegel des deutschen Handwerks erhalten bleiben. Anstatt diesen, wie von der Bundesregierung vorgesehen, unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr nur noch in 29 von 94 Handwerksberufen zu belassen, sollten unserer Meinung nach auch Kriterien wie Ausbildungsleistung und Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter berücksichtigt werden. Allein die Erfüllung eines dieser Kriterien sollte als Voraussetzung ausreichen, damit sich ein Gewerbe in der Anlage A der Handwerksordnung wiederfindet. ({18}) Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank - diese ist ja geradezu überfüllt -, haben kein Gesellenstück, geschweige denn eine Meisterleistung abgeliefert. Sie - das möchte ich hier ausdrücklich sagen - dürften nicht einmal in die Anlage B aufgenommen werden. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Hinsken, denken Sie bitte an die Redezeit.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben genau gestoppt, Herr Präsident. Danke für den Hinweis. Der Begriff „Meister“ steht überall für etwas Positives und Besonderes, im Sport genauso wie in der Politik. Was für einen Mediziner der Doktortitel ist, ist für einen Handwerker der Meistertitel. Wir haben in zwölf Punkten zusammengefasst, wie wir uns den Meister der Zukunft vorstellen. Das wird in den nächsten Wochen und Monaten von entscheidender Bedeutung sein. Wir lassen in diesem Bereich nicht locker. Wir werfen uns für das Handwerk in die Bresche. Wir wollen die VoraussetzunErnst Hinsken gen dafür schaffen, dass sich das Handwerk auch in Zukunft entfalten kann, ({0}) dass es nicht zu guter Letzt von Ihnen so unterdrückt wird, dass es nicht mehr zu existieren vermag. ({1}) Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und dem, den wir in einiger Zeit beraten werden, machen wir eine umfangreiche Reform der Handwerksordnung, die Teil der Agenda 2010 ist. Ich will Ihnen einfach einmal die Ziele nennen. Wir wollen mehr Chancen für Betriebsgründer. Wir wollen deregulieren und Zwangsbarrieren abbauen. Wir wollen den Wettbewerb optimieren. Wir wollen Kleinunternehmen fördern. Schließlich wollen wir einen Beitrag zum Abbau der Schwarzarbeit leisten. Ich will Ihnen ganz klar sagen, dass dies Ziele sind, an denen jemand, der an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland interessiert ist, nach meiner festen Überzeugung nicht vorbei kann. ({0}) Was Sie hier aufziehen nach dem Muster „Ist man nun für oder gegen das Handwerk, für oder gegen den Meister?“, ist eine völlig falsche und fatale Diskussion, mit der Sie von einem Problem ablenken wollen, das Sie haben. Wir wollen mit dem, was wir machen, das Handwerk stärken und wir wollen auch den Meister stärken. Aber eines wollen wir nicht, nämlich dass der Meisterbrief eine Zugangsbeschränkung für junge Existenzgründer wird. Das ist er in einigen Bereichen unserer Wirtschaft heute. ({1}) Deswegen machen wir die Reformen, die auf dem Tisch liegen. ({2}) Wenn man Berufe, die nicht mit Gefahren verbunden sind, von der Anlage A der Handwerksordnung in die Anlage B überführt, ist das eine Erleichterung für Existenzgründungen. Deswegen werden wir das tun. Für unsere Fraktion ist eher die Frage, ob nicht noch mehr der Berufe, die jetzt noch in der Anlage A stehen, in die Anlage B überführt werden können. ({3}) Ich will noch einmal klar sagen: Wir sind nicht gegen den Meisterbrief. ({4}) Das können Sie der Bevölkerung draußen nicht weismachen. Wir sind fest davon überzeugt, dass der Meisterbrief eine andere Bedeutung bekommen muss. Er muss ein Qualitätssiegel sein, das den Verbraucher darüber informiert, dass derjenige, der ein solches Siegel hat, für eine besondere Qualität bürgt und eine besondere Ausbildung hat. ({5}) Deswegen können Sie diese einfache Gleichung nicht aufstellen. Jetzt will ich einmal eine ordnungspolitische Frage an die Union stellen. ({6}) - Ja, das ist eine ordnungspolitische Grundfrage, um die Sie sich nicht herumdrücken können. - Ich will Ihnen einmal drei Zitate von Herrn Merz vorlesen; das werden Sie ja wohl aushalten. Erstens. Wir sind sofort bereit, mit Ihnen ein erhebliches Stück an Bürokratieabbau zu betreiben. Friedrich Merz am 30. Oktober hier im Bundestag. ({7}) - Sie können auch klatschen; das ist ja von Herrn Merz. Zweitens. Alte Besitzstände können nicht gegen ökonomische Erfordernisse aufrechterhalten werden. Herr Merz in einem „DHZ“-Gespräch. Drittens. Es sollte auch gelingen, mehr Menschen als bisher Anreize zum selbstständigen Unternehmertum zu geben. Friedrich Merz in „Mut zur Zukunft“. ({8}) Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich wirklich seltsam. Sie reißen in solchen Zitaten - Ihre Reden hier im Haus sind voll davon - die Klappe für Freiheit auf und sind andererseits für Zugangsbeschränkungen. Was Sie hier ordnungspolitisch darstellen, kann nicht funktionieren. ({9}) Sie machen eine Rolle rückwärts und verteidigen die Zugangsbeschränkungen, die es heute gibt. Mancher kann einen Handwerksbetrieb einfach deshalb nicht aufmachen, weil er den Meisterbrief nicht machen will oder nicht machen kann. ({10}) Was Sie machen, ist ganz einfach Folgendes: Sie trällern das Lied der Freiheit und schlagen die Trommeln des Zwangs. ({11}) Das ist die Ordnungspolitik, mit der Sie uns hier kommen. Der Angriff, Herr Merz, den Sie auf die SPD und die Gewerkschaften - in der Verbindung! - immer führen, ist nichts anderes als Projektion. Sie werfen den anderen ein Problem vor, dass sie in großer Abhängigkeit von einer bestimmten gesellschaftlich relevanten Gruppe seien, und tatsächlich haben Sie selbst das Problem, nämlich in Bezug auf das Handwerk. Ich kann diesbezüglich keinen Unterschied sehen. Sie gehen vor Lobbys in die Knie und werfen eben dies anderen vor. ({12}) So etwas ist politisch nicht in Ordnung und es wird sich meines Erachtens rächen. ({13}) Worum geht es? Ludwig Erhard hat gesagt: Marktwirtschaft ist, was den Verbrauchern dient. Wer marktwirtschaftlich denkt, beseitigt Zugangsbarrieren bei der Eröffnung von Geschäften. Wir von der Regierung machen das in diesem Bereich sehr konsequent. Jetzt möchte ich noch eine Bemerkung zu dem Gesetzentwurf machen, der heute in erster Lesung beraten wird; die anderen Vorlagen sind noch nicht eingebracht worden. ({14}) Wir wollen Kleinunternehmen fördern. Wer einfache Tätigkeiten, die man in zwei bis drei Monaten erlernen kann, auf dem Markt anbieten will, soll dies ohne Diskriminierung durch die Handwerkskammern und die Behörden tun können. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz offen - auch an Ihre Adresse, Herr Hinsken - sagen: Es geht hier um Bereiche, in denen einzelne Handwerker in der letzten Zeit wirklich versagt haben. ({15}) Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus meinem häuslichen Umfeld nennen: Aufgrund eines Sturmschadens musste ein Zaun neu gespannt werden. Jetzt versuchen Sie einmal, beim deutschen Handwerk in Berlin einen Schlosser oder jemand anderes aus diesem Gewerk zu finden, der in solch einem Fall hilft. ({16}) Ich habe vier oder fünf Anrufe getätigt und nur Absagen bekommen. Man sagte mir, das lohne sich nicht, das funktioniere nicht oder man habe keine Zeit, ich solle später noch einmal anrufen. Es war ein Hin und Her. ({17}) Diese einfache Aufgabe hat letztendlich eine Berliner Firma ausgeführt, die heute diskriminiert wird, aber in der Lage ist, in einem Allroundpaket diese und verschiedene andere Dienstleistungen anzubieten. Im Bereich der Existenzgründungen und der Ich-AGs wollen wir ermöglichen, dass solche Tätigkeiten einfach ausgeführt werden können. Sie blockieren das. Sie wollen den Markt und damit auch den Wettbewerb beschränken. Das alles begründen Sie mit fadenscheinigen Argumenten. Was Sie wollen, ist nichts anderes als krude und elementare Wettbewerbsbeschränkung. Das kann doch nicht angehen. Zu Ihrem Zwischenruf, man solle das doch selber machen, muss ich Ihnen sagen: Sie haben keine Ahnung davon, wie viele Arbeitsplätze wir durch das Angebot von Dienstleistungen, nach denen viele Leute suchen und die in Anspruch genommen würden, schaffen könnten. Deshalb muss die Möglichkeit gegeben werden, Allroundbetriebe zu gründen, die beispielsweise einen Wasserhahn reparieren oder eine Dachrinne säubern können, ohne dass sie von den Handwerkskammern und den Behörden verfolgt werden. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn Sie das nicht verstehen, haben Sie von der modernen Berufswelt und der Realität, in der die Bevölkerung lebt, meines Erachtens keine Ahnung. Deswegen behandeln wir heute diesen Gesetzentwurf in erster Lesung und werden ihn nach den Beratungen im Ausschuss auch verabschieden. Was Sie zu den Ich-AGs sagen, ist wirklich Mumpitz. Kollege Brandner hat dazu Ausführungen gemacht. Wir haben einen Anfang gemacht, aber wir haben bei der Verabschiedung der Vorschläge der Hartz-Kommission ganz deutlich gemacht: Es muss noch einiges dazukomFritz Kuhn men, zum Beispiel die Förderung von Kleinunternehmen und der Abbau von Diskriminierungen, die es heute noch gibt. Herr Schauerte - Sie gucken so merkwürdig -, erklären Sie mir einmal ordnungspolitisch: Mit welchem Argument wollen Sie jungen Leuten, die so etwas anbieten wollen, um sich aus der Arbeitslosigkeit zu befreien, Ihre Ablehnung begründen? Was soll dafür denn der Grund sein? Welches Argument spricht dafür, dass Handwerker ein Monopol auf solche Tätigkeiten, die sie nicht ausüben wollen, haben, während andere, die diese Arbeit machen wollen und arbeitslos sind, dazu nicht berechtigt sind? Das müssen Sie mir einmal vernünftig erklären. Sie können das ja im Ausschuss versuchen. ({18}) Damit will ich zum Schluss kommen. Wir werden mehr Wettbewerb im Bereich der handwerklichen Dienstleistungen schaffen. Wir werden uns in diesem Zusammenhang nicht in eine Auseinandersetzung mit Ihnen treiben lassen. Wir lassen uns nicht nachsagen, wir seien gegen den Meisterbrief; er ist als Gütesiegel wichtig für den Verbraucherschutz. Wir werden die Pläne sehr rasch umsetzen, damit unsere Marktwirtschaft flexibler wird. Ich dachte immer, dass die Union für Flexibilität und Wettbewerb stehe. ({19}) Wenn man die Seligsprechung des Handwerks durch Frau Merkel - sie beschrieb es als Herzstück der Gesellschaft - betrachtet, dann stellt man fest: Das war starker Tobak. Ich kann nur sagen: Der Papstbesuch hat ihr nicht gut getan. Sie hätte etwas nüchterner reden sollen. Vielen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Friedrich Merz hat jetzt das Wort zu einer Kurzintervention.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhn, Sie haben meine Aussagen in mehreren Interviews zitiert. Ich möchte zunächst ausdrücklich bestätigen, dass die Zitate richtig sind und überhaupt nicht dem widersprechen, was wir zur Handwerksordnung zu sagen haben. ({0}) Sie widersprechen auch nicht unseren berechtigten Einwendungen gegen Ihren heutigen und den noch kommenden Gesetzentwurf. ({1}) Ich will versuchen, das zu begründen: Sie schaffen ein Qualifikationsmerkmal, eine Berufszugangsvoraussetzung ab und erklären dies zu einem Beitrag zur Liberalisierung und zu einem Beitrag, mit dem eine höhere Selbstständigenquote erreicht werden kann. ({2}) Ich stelle Ihnen einmal eine Frage: Wenn ich es richtig weiß, haben Sie auf Lehramt studiert. Käme irgendeiner von Ihnen auf die Idee, die zweite Staatsprüfung für das Lehramt abzuschaffen, um auf diese Art und Weise eine höhere Beschäftigungsquote der Lehrer zu ermöglichen? Was meinen Berufsstand anbetrifft, stelle ich die Frage: Kommt irgendeiner von Ihnen auf den Gedanken, die zweite juristische Staatsprüfung abzuschaffen und das als einen Beitrag zur Deregulierung zu bezeichnen, um so eine größere Anzahl von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten in der Bundesrepublik Deutschland zu ermöglichen? Mit Verlaub, Herr Kollege Kuhn, das ist doch eine Ausrede. In Wahrheit geht es Ihnen um etwas ganz anderes: Es stört Sie, dass es in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes Maß an Qualifikation und privatwirtschaftlicher Fähigkeit zur Ausbildung gibt. Ihre Antwort lautet: Auf der einen Seite organisieren Sie den Bereich der Mikroökonomik, die Volkswirtschaft ganz unten, neu - Stichworte Ich-AG und Kleinstunternehmerförderung - und holen diesen Bereich damit sozusagen aus der Schwarzarbeit heraus und stellen ihn in Konkurrenz zur Realwirtschaft. Auf der anderen Seite schaffen Sie ganz oben mitbestimmte große Konzerngesellschaften, die der andere Teil Ihres gesellschaftspolitischen Leitbildes sind. Dazwischen gibt es aber noch etwas: die tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft mit qualifizierten Berufszugängen und hervorragender privatwirtschaftlicher Ausbildungsleistung. All das stört Sie. Das haben wir übrigens heute Morgen in der Berufsbildungsdebatte und in der Debatte über die Abgabe, die Sie für nicht ausbildende Unternehmen erheben wollen, gehört. Ich bitte Sie: Wenn Sie mich in Zukunft zitieren, dann zitieren Sie mich in diesem Zusammenhang bitte vollständig und fügen Sie hinzu, was ich über die Reformbedürftigkeit der Handwerksordnung gesagt habe. Ich gehöre nämlich zu denjenigen, die sehr nachdrücklich gesagt haben, dass hier manches reformiert werden muss. Wenn Sie unseren Antrag lesen, werden Sie feststellen, welche Reformen wir vorschlagen. Lieber Herr Kuhn, die Redlichkeit gebietet es, dass Sie dies in Zukunft auch sagen. Ich entnehme dem Handbuch des Deutschen Bundestages, dass Sie zwischen 1989 und 1992 eine Professur für sprachliche Kommunikation an der Stuttgarter MerzAkademie inne hatten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie bei dem bleiben würden, was politische Seriosität ausmacht. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung, Kollege Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Merz, ich bin überrascht. Ich dachte, Sie seien ein echter Marktwirtschaftler. Ihre Ausführungen haben das aber nicht bestätigt. ({0}) Ich will Ihnen sagen, an welchem Punkt wir nicht übereinstimmen: Bei nicht gefahrgeneigten Berufen - darüber reden wir; wir können darüber diskutieren, welche Berufe das sind - ist der Markt eine herausragend gut funktionierende Instanz, um zu beurteilen, ob die Leistung und die Qualifikation, die jemand erbringt, tatsächlich gut ist oder nicht. Genau das wollen wir. Sie wollen das nicht. Sie misstrauen der Fähigkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher, zu beurteilen, welche Firmen sie für welche Dienstleistungen in Anspruch nehmen. ({1}) - Selbstverständlich. Ansonsten würden Sie nicht sagen, dass man uns arme Individuen vor Missgriffen schützen und darum auf jeden Fall den Meisterzwang aufrechterhalten müsse. In dieser ordnungspolitischen Frage besteht zwischen uns eine Differenz. Sie sind ein halbierter Marktwirtschaftler. Sie misstrauen dem Marktgeschehen. Ich kann allein beurteilen, ob das Brot eines Bäckers schmeckt. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob der Bäcker einen Meisterbrief hat oder nicht. Der Markt entscheidet selbstverständlich auch, ob die Qualität stimmt oder nicht. Zu Ihrer Frage bezüglich der Schule. Ich habe nicht auf Lehramt studiert, aber egal. Die Schule ist durch die Erziehung der Kinder ein öffentliches Gut, das wir nach unserer Überzeugung - übrigens nicht unbedingt nach Ihrer - nicht allein dem Markt überlassen können; denn wenn bestimmte Ergebnisse nicht erzielt werden, ist der Schaden an unseren Kindern irreparabel. Das ist der Grund, warum jedenfalls wir auf einem öffentlichen Schulwesen bestehen und die Privatschulen nach strengen gesetzlichen Regelungen allerhöchstens als Ergänzung dazu verstehen. Deswegen geht es selbstverständlich in diesem Fall um die Qualifikationen, die unsere Gesetze vorschreiben, womit ich nicht sagen möchte, dass wir bei der Lehrerausbildung in Deutschland und vor allem bei der Lehrerfortbildung nicht einiges verbessern könnten. Im Klartext: Ihre Unterstellung uns gegenüber funktioniert nicht. Wir wollen so viel Marktwirtschaft, wie in diesem Bereich möglich ist. Ich muss nur feststellen, dass Sie den Marktkräften misstrauen und eigentlich, Herr Merz, doch ein ganz schöner Regulierer sind, obwohl Sie immer Deregulierung auf Ihre Fahnen schreiben. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDPFraktion. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist bei seiner ersten Wahl mit der Maßgabe angetreten, sich am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen zu wollen, und zwar jederzeit. Im Zusammenhang mit dem Hartz-Konzept wurde von 2 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen gesprochen und die Bundesregierung bietet uns seit fünf Jahren wirklich einiges. Ich habe mir einmal eine Stichwortsammlung zusammengestellt, die jedoch nicht vollständig ist: JUMP, Job AQTIV, Hartz, Jobfloater, Kapital für Arbeit, Agenda 2010, Ich-AG, IWAN. All das soll die Arbeitsmarktprobleme lösen. Aber wir hören heute aus Nürnberg, dass wir wieder 400 000 Arbeitslose mehr haben als im gleichen Monat letztes Jahr. - Hervorragend! ({0}) Diese Bundesregierung ist grandios bei der Schöpfung von Worthülsen und versagt kläglich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Schaffung von Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, durch die die Wirtschaft wieder wachsen kann und mehr Menschen in den Arbeitsmarkt können. ({1}) Sie haben mit der Ich-AG ein neues Instrument geschaffen, ein weiteres Pflänzchen im Dschungel der unendlichen Fördermöglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit. Herr Brandner, Ihr Staatssekretär Andres schreibt mir, Eingang 5. Juni, auf meine parlamentarische Anfrage, es habe 16 094 Ich-AGs gegeben; das sind fünfmal weniger als beim Überbrückungsgeld. Sie hätten das Geld in die Hand nehmen und in den Topf für Überbrückungsgeld geben sollen, dann hätten Sie ohne Verkomplizierung und weiteren bürokratischen Wust die Förderung der Existenzen ehemals Arbeitsloser weiterhin unterstützen können. Das wäre effektive Arbeitsmarktpolitik gewesen. Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, mit dem die Handwerksordnung verändert werden soll. Sie machen einen entscheidenden Fehler: Sie nehmen diejenigen, die in dem Bereich arbeiten und davon leben, die die Stütze der Ausbildung in diesem Land und das Rückgrat der deutschen Wirtschaft sind, bei den notwendigen Reformschritten nicht mit. Sie knallen ihnen einfach eine Änderung vors Hirn, die sie nicht nachvollziehen können, obwohl doch selbst die Handwerksorganisationen verstanden haben und wissen, dass die Handwerksordnungsreform notwendig ist, dass sie zukunftssicher und europafest gemacht werden muss. Nehmen Sie sie doch an die Hand, wie es Herr Clement vor dem HandwerksDirk Niebel tag gesagt hat, und nehmen Sie sie bei den notwendigen Veränderungsschritten mit! Das kann zum Beispiel eine Veränderung der Anerkennung anderer Qualifikationen, anderer Zugänge sein, ein Abgehen vom Inhaberprinzip, das es ermöglicht, dass man meinetwegen einen Meister einstellt und so seine selbstständige Existenz gründet. Es muss mit Sicherheit eine Veränderung bei der Meisterausbildung als solche erfolgen; sie ist zu teuer, zu lang, zu bürokratisch. Aber insgesamt könnten Sie das Handwerk mitnehmen auf einem fortschrittlichen Weg zu einer Modernisierung eines der wichtigsten Wirtschaftszweige, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben. Das tun Sie nicht und deswegen werden Sie auch hier versagen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Niebel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lange?

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Niebel. Ich habe den Eindruck, dass Sie am 5. Januar 2003 nicht auf dem Landesparteitag Ihrer Partei in Stuttgart waren. Deshalb frage ich Sie, ob Sie den Ausführungen des baden-württembergischen Wirtschaftsministers und stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden zustimmen, der sagte: Ich fordere die Vertreter des Handwerks dazu auf, sich nicht als Bremser auf dem Weg zur Selbstständigkeit zu betätigen, sondern die Reformvorschläge von Professor Hellwig, dem Vorsitzenden der Monopolkommission, und der Bundesregierung aktiv zu begleiten, um damit mehr Gründigungswilligen den Weg in die Selbstständigkeit zu erleichtern und damit auch mehr Arbeitsplätze zu schaffen. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege, selbstverständlich stimme ich den wegweisenden Ausführungen meines Landesvorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten zu. Das ist übrigens der Sachstand dessen, was Herr Clement vor dem Handwerkstag gesagt hat. Er hat gesagt, die Vertreter des Handwerks sollten sich nicht als Bremser betätigen. Genau das habe auch ich vor nicht ganz anderthalb Minuten gesagt. Sie müssen einmal zuhören. Da der Kollege Brandner die Vertreter des Handwerksverbandes hier auffordert, verbal abzurüsten, möchte ich ihn und Sie an die Äußerungen der Vertreter des Deutschen Gewerkschaftsbundes, von Verdi und der IG Metall im Rahmen der Diskussion über die Agenda 2010 erinnern. ({0}) Wenn es so weitergeht, wie wir es von Ihnen gewohnt sind, dann wird daraus eine Agenda zwei Zehntel. Genau auf diesem Weg befinden wir uns jetzt. Wenn das Handwerk mitgenommen werden soll, dann muss es sich auch bewegen. Deswegen hat Walter Döring Recht. Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion Recht. Deswegen könnten Sie unserem Antrag eigentlich zustimmen. ({1}) Wir haben heute 400 000 Arbeitslose mehr als vor genau einem Jahr und Sie legen uns einen Gesetzentwurf zur Ich-AG vor! Das ist ein Skandal; es ist schlichtweg eine Unverschämtheit. Wir müssen die Arbeitslosigkeit bekämpfen, indem wir das Steuersystem reformieren. Wir müssen einfache, niedrige und gerechte Steuersätze schaffen und die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig gestalten, damit die Lohnnebenkosten heruntergehen und es sich wieder lohnt, jemanden einzustellen. Wir müssen außerdem das Arbeitsrecht deregulieren, damit die bürokratischen Hemmnisse - angefangen beim Kündigungsschutz über das Tarifvertragsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz bis hin zum Rechtsanspruch auf einen Teilzeitarbeitsplatz - nicht dazu führen, dass gerade diejenigen geschädigt werden, die man doch eigentlich schützen wollte. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in diesem Land Chancen haben, mitzumachen. Ihre Politik bewirkt das Gegenteil. Wir brauchen nicht immer wieder neue Worthülsen, sondern am besten eine neue Regierung. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Ihnen ausdrücklich „dankbar“, dass Sie durch den Stil und Inhalt Ihrer Rede Ihr Interesse an einer sachlichen Diskussion über dieses Thema zum Ausdruck gebracht haben. Natürlich können Sie als Opposition herumknüppeln und herumbrüllen. ({0}) Die Frage ist nur, ob es nicht für Sie und für uns alle besser wäre, wenn wir das Thema inhaltlich bearbeiten würden. Mit solchen Reden verweigern Sie sich in jedem Fall. ({1}) Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie sprechen davon, dass es eine Unverschämtheit ist, Ihnen einen Gesetzentwurf zur Ich-AG vorzulegen. ({2}) Sie sollten sich ein bisschen sachkundiger machen. Die Ich-AG ist ein Teil aus einer Vielzahl von Gesetzesänderungen und neuen Gesetzen, die wir seit Beginn dieser Legislaturperiode vorangebracht haben. ({3}) Fragen Sie doch einmal in den Arbeitsämtern nach. Der Direktor des Arbeitsamtes meines Wahlkreises Berlin-Neukölln hat mir gesagt, dass 6 000 Arbeitslose ihr konkretes Interesse an einer Ich-AG bekundet haben. Warum reden Sie das sofort wieder schlecht? Doch nur, um Polemik zu machen! Das darf doch nicht wahr sein und wird der Situation, in der wir uns befinden, einfach nicht gerecht. ({4}) Zu diesem Bereich gehören auch die Minijobs. Früher haben Sie sich beklagt, die Koalition würde immer nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen gegen die Schwarzarbeit vorgehen. Jetzt wenden wir marktwirtschaftliche Mittel und Methoden an, indem wir Menschen die Chance geben, aus der Schwarzarbeit in die Legalität zu gehen. Sie können entweder einen Minijob annehmen oder sich selbstständig machen. Warum wollen Sie diese Maßnahmen kaputtreden? Es ist einfach nicht nachvollziehbar. ({5}) Erlauben Sie mir eine polemische Bemerkung in Bezug auf die Anmerkung, die Herr Merz im Zusammenhang mit seinen Beispielen über akademische Grade und die Handwerksordnung gemacht hat: Wir bewegen uns hier - das sollten Sie als Jurist wissen - auf dem Boden des Gewerberechtes. Gemessen am Gewerberecht ist die Handwerksordnung ein Exot. Es ist eigentlich eine Absurdität: Ihre Vorgänger haben im 19. Jahrhundert für die Gewerbefreiheit gekämpft. Heute scheinen Sie dies alles vergessen zu haben. Wir müssen Strukturen aufbrechen. Das war doch auch einmal Ihre Forderung. Führen Sie hier keine kurzfristigen politischen Scharmützel, indem Sie sich einer Reform verweigern, die wir dringend benötigen! Denn die Zahlen beim Handwerk weisen aus, dass es nicht nur ein konjunkturelles, sondern auch ein strukturelles Problem gibt, ({6}) das wir mit der Änderung der Handwerksordnung zum Besseren wenden wollen. ({7}) - Herr Hinsken, wenn wir dabei stehen bleiben, dass wir die wagnerschen Meistersinger zum Vorbild einer zukünftigen Wirtschaftsordnung in unserem Lande machen, dann sage ich: Gute Nacht, Herr Hinsken! Damit werden wir nämlich noch mehr Arbeitslosigkeit und den tatsächlichen Niedergang des Handwerks inszenieren. Das, was Sie hier erklärt haben, entspricht im Übrigen nicht den Tatsachen. Wir haben mit dem Handwerk einen sehr interessanten Dialog geführt. ({8}) - Sie waren nicht dabei; Sie wissen das doch gar nicht. Es ist ganz typisch: Sie sind an einem Dialog mit uns nicht interessiert. ({9}) - Das alles können Sie sagen; es kommt in das Protokoll. Es spricht nicht gerade für Sie. ({10}) Ich sage Ihnen noch einmal: Ich habe mit Herrn Schleyer und vielen anderen Vertretern des Handwerks gesprochen. Wir haben übrigens sehr viel Übereinstimmung vorgefunden; das sollte man nicht ganz vergessen. ({11}) - Sie können ruhig darüber lachen; es ist so. - Wir waren uns darin einig, dass die Leipziger Beschlüsse nicht ausreichen, um das Handwerksrecht europa- und zukunftssicher zu machen. Wir haben gesagt: Die Industriemeister, die Techniker und die Ingenieure müssen einen noch besseren Zugang zum Handwerk haben. Das Inhaberprinzip muss aufgegeben werden. Auch das Thema des unerheblichen Nebenbetriebs muss und wird geregelt werden. Wir waren uns im Übrigen auch darin einig, dass es für einen Gesellen, der sich entschließt, eine Meisterprüfung zu machen, keinerlei zeitliche Begrenzung mehr geben darf. Die dreijährige Wartezeit wird also gestrichen. Schließlich haben wir eine sehr intensive Debatte über die Frage geführt, ob es nicht zulässig sein muss, dass ein Geselle, der zehn Jahre tätig ist und davon fünf Jahre in verantwortungsvoller Position in einem Handwerksunternehmen gearbeitet hat, in die Lage versetzt werden muss, einen eigenen Betrieb gemäß Anlage A aufzumachen. Das alles sind Ergebnisse, über die wir gesprochen haben. Wir haben nicht immer eine hundertprozentige Übereinstimmung erzielt. Aber wir sind in diesen Gesprächen sehr weit gekommen. Am Ende geht es um die Frage, ob wir über die Gefahrgeneigtheit hinaus andere Eigenschaften zur Grundlage der Einordnung der Handwerke in die Anlagen A oder B machen. Auch im Fortgang der Diskussion werden wir darüber sprechen müssen. Herr Schauerte beispielsweise unterscheidet sich - in diesem Falle einmal wohltuend - von Herrn Hinsken. Ich habe nämlich gehört, dass er bereits festgestellt hat - das war jedenfalls in den Zeitungen zu lesen -, mindestens 30 Handwerke von den 94 könnten ohne weiteres in die Anlage B transferiert werden. Das ist schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Es muss Erkenntnisse geben, die dafür sprechen. Lassen Sie mich ein Weiteres sagen: Wir glauben daran - ich bitte darum, Ihr Verständnis im Hinblick auf den Markt zu mobilisieren -, dass es für das Handwerk gut ist, wenn es nicht nach althergebrachten Gewerken organisiert ist, sondern sich an der Nachfrage auf dem Markt orientiert. Daraus können sich zukunftsträchtige Gewerke entwickeln, die dem einzelnen Unternehmen sehr viel bessere Zukunftschancen in seiner betriebswirtschaftlichen Planung ermöglichen, als das heute in diesen traditionellen Kategorien der Fall ist. Die Grundidee ist doch folgende: Wir wollen damit auch Innovationen erzielen und dafür Sorge tragen, dass sich diese Unternehmen am Markt breiter orientieren können. Insoweit handelt es nicht nur um eine Maßnahme für Kleinstunternehmen, sondern um eine Reform für das gesamte Handwerk, für die sehr vieles spricht. Herr Kuhn hat völlig Recht: Warum misstrauen wir eigentlich den Konsumenten? Er hat den Bäcker als Beispiel angeführt; ich könnte viele andere Beispiele nennen. Jeder wird sich doch genauso wie bei einem Industrieprodukt und bei anderen Dienstleistungen sehr genau überlegen, wem er sich anvertraut und wem er einen Auftrag erteilt. Dabei spielt der Meisterbrief ohne Frage eine zentrale Rolle als Qualitätssiegel. Sehr viele werden sagen, es lohne sich für sie, dieses Qualitätssiegel in ihrem Betrieb vorweisen zu können, weil es ihnen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen bietet. Meine Damen und Herren, was wir heute machen, ist nur ein kleiner Schritt, um Existenzgründern zu helfen, um ein paar Schranken zu beseitigen und um dafür zu sorgen, dass auch jene Betriebe, die in einer Grauzone arbeiten, Rechtsicherheit haben und nicht mehr unnötigerweise verfolgt werden. Deshalb bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir glauben, auf dem richtigen Wege zu sein. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Lage unseres Landes bitte ich Sie, die Polemik wegzulassen und mit uns in einen sachlichen Dialog über diese Fragen einzutreten. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von der CDU/CSU-Fraktion.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Dr. Staffelt, ich weiß nicht, warum Sie sich so echauffiert haben. Ich glaube, Sie haben die falsche Rede gehalten. Wir sollten hier nicht im Streit agieren, sondern versuchen, einen Konsens zu finden. Darauf war Ihre Rede nicht ausgerichtet. ({0}) Aber ich nehme etwas ganz anderes übel. Normalerweise bin ich nicht so nachtragend; jeder, der mich kennt, weiß das. Aber ich nehme einen Wortbruch übel: Vor noch nicht einmal sechs Monaten haben wir im Vermittlungsverfahren zu den Hartz-Gesetzen zusammengesessen. Bereits dort waren die Handwerksordnung und die Ich-AG ein Thema gewesen. In dieser Sitzung hat uns Herr Clement sein Wort als Minister gegeben, dass die Novelle der Handwerksordnung und die Ich-AGs gemeinsam mit der Opposition und dem Handwerk auf den Weg gebracht werden. ({1}) Herr Stiegler, Herr Brandner, Herr Dr. Staffelt, Frau Dr. Dückert, Herr Kollege Laumann und Herr Kollege Niebel waren dabei; sie alle können das bestätigen. Wir haben uns auf das Wort eines Ministers verlassen. ({2}) Was ist herausgekommen? Fakt ist: Seit diesem heiligen Versprechen des Wirtschaftsministers gab es kein einziges Gesprächsangebot, geschweige denn ein Gespräch mit uns. Dasselbe gilt für das Handwerk. Ich weiß nicht, mit welchen Vertretern des Handwerks Sie gesprochen haben, Herr Staffelt. Vielleicht mit Ihrem Friseur? Ich habe keine Ahnung. Mit den wichtigen Vertretern des Handwerks, die die Probleme wirklich kennen, haben Sie keine Gespräche geführt. Das wissen wir, weil wir beim Handwerk nachgefragt haben. Sie haben nur in Sonntagsreden auf Handwerkstagen Versprechungen gemacht, aber keine persönlichen Gespräche geführt. ({3}) Vielmehr haben Sie nur getäuscht, enttäuscht und eine unanständige Politik gemacht. ({4}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, welche Philosophie steht hinter Ihrem Gesetzentwurf? Sie setzen auf Kleinstunternehmen ohne Qualifikation. Natürlich brauchen wir einfache Tätigkeiten und auch in diesem Bereich mehr Selbstständigkeit. Es muss attraktiv sein, im Niedriglohnbereich zu arbeiten. Arbeit ist wirklich genug vorhanden. Man braucht nur vom Tiergarten zum Reichstagsgebäude zu laufen, dann sieht man noch heute den Müll vom Kirchentag. Die Arbeit liegt also buchstäblich auf der Straße. Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass es wirklich notwendig ist, Verbesserungen im Niedriglohnbereich anzugehen. Ich glaube, die Union hat insbesondere bei den Minijobs gezeigt, dass wir bereit sind, auf diesem Gebiet vernünftige Reformen anzugehen. ({5}) Der Geburtsfehler Ihrer Gesetze ist jedoch, dass Sie ausschließlich auf Tätigkeiten setzen, die nur geringe Qualifikation erfordern, und diese fördern, dabei aber die Leistungsträger unserer Gesellschaft, zu denen auch das Handwerk gehört, völlig aus den Augen verlieren. ({6}) Wer ist es denn, der immer wieder mehr Arbeitsplätze als der Durchschnitt der übrigen Wirtschaft geschaffen hat? ({7}) Wer ist es denn, der dreimal mehr ausgebildet hat als der Durchschnitt der Gesamtwirtschaft? Wer ist es denn, der immer für hohe Qualifikation gesorgt hat? Das ist das Handwerk. Ich muss es Ihnen doch nicht erklären, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir leben heute in einer hoch modernen, komplexen Wissensgesellschaft. Das Wissen verdoppelt sich inzwischen innerhalb von fünf Jahren. Wir alle müssen heute mehr wissen als früher. Die jungen Menschen heute müssen mehr wissen als wir früher. Das gilt für alle Berufe und für alle Ebenen. Wir sind ein rohstoffarmes Land; deswegen ist der Faktor Humankapital eine unserer wichtigsten Ressourcen. Die Zukunft unseres Landes hängt auch nicht von „nur“ gut ausgebildeten Unternehmern und Beschäftigten ab, sondern von sehr gut ausgebildeten Unternehmern und Beschäftigten; denn nur so werden wir es schaffen, unseren Lebensstandard künftig auf derzeitigem Niveau zu erhalten. Das ist keine neue Erkenntnis. Es wäre gut, wenn auch Sie das endlich erkennen würden. Sie können auch Friedrich den Großen oder Ludwig Erhard nachahmen, die das bereits erkannt haben. Ludwig Erhard war einer derjenigen, der den Meisterbrief immer hoch hielt, der wusste, welche Qualifikation mit dem Meisterbrief zusammenhängt. Dieser Weg war richtig und er ist auch heute noch richtig. Wir alle reden doch vom lebenslangen Lernen, von hohen Qualifikationen und davon, dass dies ein wesentlicher Standortvorteil ist. Das Gesetz, das Sie auf den Weg bringen wollen, wird jedoch nicht zu mehr Existenzgründungen führen, die Bestand haben werden. In den ersten Monaten wird die Selbstständigenquote sicherlich steigen, die Statistik wird sich natürlich verändern - das beabsichtigen Sie auch -, aber diese Existenzgründungen werden nach ein paar Monaten wieder vom Markt verschwunden sein. Das ist keine Lösung für unsere arbeitsmarktpolitischen Probleme. Vielmehr brauchen wir stabile Existenzgründungen, Betriebe mit Zukunftsaussichten, die auch künftig Menschen ausbilden und Arbeitsplätze schaffen. Dies wird auf die Ich-AGs bestimmt nicht zutreffen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen. ({8}) 65 Handwerksberufe - darunter auch Friseure, Maler und Lackierer - die jetzt noch für eine Unternehmensgründung einen Meisterbrief benötigen, werden dafür künftig keinerlei Qualifikation mehr brauchen. ({9}) Angesichts dessen frage ich Sie: Wieso soll heute das Friseurhandwerk, das allein im letzten Jahr noch über 40 000 Lehrlinge ausgebildet hat, weiterhin über seinen eigenen Bedarf hinaus ausbilden, ({10}) wenn ein Meister damit rechnen muss, dass sich seine Auszubildenden sofort nach der Ausbildung im Laden nebenan selbstständig machen können? Er zöge doch seine eigene Konkurrenz heran. Zukünftig wird doch keiner mehr über den Bedarf hinaus ausbilden. ({11}) Daher ist es auch verständlich, dass Sie sich den Zorn der Handwerker zuziehen. Dies ist auch volkswirtschaftlich schädlich und einfach unvernünftig. Ich frage mich, wie denn Ihre Vorstellungen dazu, zu mehr Qualität, zu noch mehr hochwertigen Leistungen im Handwerk und zu mehr Lehrstellen zu kommen, aussehen. Diese Vorstellungen vermissen wir; dazu findet sich nichts. Als einzige Änderung werden Sie kurzfristig eine steigende Zahl von Ich-AGs verzeichnen können, die in einen ungleichen Wettbewerb mit den wirklichen Leistungsträgern treten werden. Diese werden aber in null Komma nichts wieder von der Bildfläche verschwunden sein, wenn die Subventionen abgeschöpft sein werden, die sie von der Bundesanstalt für Arbeit bekommen. Humankapital ist der Schlüssel für hohe Produktivität. Wir brauchen diese hohe Produktivität, damit wir im Wettbewerb mit unseren Mitwettbewerbern im Ausland bestehen können, damit weiterhin die hohen Standards erhalten werden können, die wir tatsächlich haben, vor allem im sozialen Bereich; das wissen Sie alle. Aber so geht es nicht. Sie können keine Gesetze mit negativen Auswirkungen auf die Menschen beschließen, von denen Sie erwarten, dass sie ihr Leben selbstständig in die Hand nehmen und zupacken. Am Dienstag waren über 850 Handwerker hier. Da haben Sie erlebt, dass selbst das Wort „Ausbildungsboykott“ mit heftigem Beifall bedacht worden ist. Daran sieht man, wie weit Sie die Menschen bringen. Sie haben einen falschen Ansatz. Neue marktfähige Produkte bekommen Sie nicht durch Frust und Leistungsverweigerung, sondern nur durch Innovation und Qualität sowie durch motivierte Menschen. ({12}) Nur so entstehen Arbeitsplätze und nur so bringen Sie die de facto 6 Millionen Arbeitslosen, die es momentan gibt, wieder in Arbeit. Die qualifizierte Suche nach neuen Wegen hat Schumpeter einmal den „Prozess der ’schöpferischen Zerstörung‘“ genannt. Bei Ihnen ist es anders: Sie zerDagmar Wöhrl stören nur; von schöpferischer Kraft ist hier wirklich überhaupt nichts zu spüren. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Ich möchte es in einem Bild darstellen: Gute Erträge eines Kirschbaumes erreiche ich nur durch gute Standortbedingungen, durch einen nahrhaften Boden und durch fachlich gekonnten Baumschnitt. Wenn Sie nun einen Baum mit der Axt an den Wurzeln abhacken, können Sie zwar zukünftig die Kirschen im Sitzen essen, aber es werden nie mehr Früchte an diesem Baum wachsen. Es werden auch keine neuen Triebe wachsen, die unter den richtigen Rahmenbedingungen zu neuen Bäumen werden können, die wieder Früchte tragen. Sorgen Sie dafür, dass es nicht zu diesem Kahlschlag kommt! Das können Sie nur tun, indem Sie wirklich Reformen angehen, und zwar mit den Betroffenen. Dann haben Sie eine Chance, dass es die richtigen Reformen sind. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von der SPD-Fraktion. ({0})

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Niebel, lassen Sie mich zunächst an die Kolleginnen und Kollegen der Partei der Freiheit ({0}) ein paar Zitate richten: Es wird von niemanden bestritten, dass die Meisterausbildung ein überaus erfolgreicher und geeigneter Weg in eine sichere Existenz ist. Aber es stellt sich doch die Frage, ob dieser Weg in allen Fällen zwanghaft vorgeschrieben werden muss. Wenn der Meisterbrief so gut und Erfolg versprechend ist, wenn er dem angehenden Unternehmer im Handwerk eine vergleichsweise sichere Perspektive für die eigene Existenz bietet, dann wird er doch auch ganz von selbst auf dem Aus- und Weiterbildungsmarkt nachgefragt werden. Wir müssen wieder den Mut haben, im Meisterbrief das zu sehen, was er sein soll: der Nachweis einer seriösen, qualitätsvollen Ausbildung, die für den Verbraucher erwarten lässt, dass er eine erstklassige Handwerksleistung einkauft. Qualität aber braucht keinen Zwang; sie setzt sich einfach durch. Genau so ist es. Genau das sagte Walter Döring auf besagtem Parteitag. Deshalb fordere ich die FDP-Fraktion hier auf: Ziehen Sie Ihren Antrag zurück und stimmen Sie dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu. Ein zweiter Punkt: Frau Kollegin Wöhrl, weil Sie bezüglich der Qualität fragen -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Entschuldigen Sie. Erlauben Sie, bevor Sie zu Frau Wöhrl kommen, eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel, den Sie zunächst angesprochen haben?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Immer doch, gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Lange. Nachdem Sie uns jetzt aufgefordert haben, unseren Antrag zurückzuziehen, frage ich Sie: Wäre es Ihnen möglich, auch den Rest der Rede von Herrn Döring vorzulesen? ({0})

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das wäre mir möglich, wenn Sie mir entsprechende Redezeit einräumen würden. ({0}) Es wäre mir ein Vergnügen. Er führt danach nämlich noch aus, wie es sich mit der Gewerbefreiheit in Deutschland verhält. Da gibt es eben keinen Zwang, keine Regulierung des Marktes. Er führt aus, dass wir auch in den freien Berufen und der Industrie die Gewerbefreiheit haben und dass wir sie auch im Bereich des Handwerks stärker als in der Vergangenheit brauchen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Lange, erlauben Sie eine weitere Frage des Kollegen Niebel?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Ich glaube, es ist müßig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Keine weiteren Fragen.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gebe Ihnen die Rede gerne zur weiteren Lektüre. Zum zweiten Punkt der Qualifikation. Frau Kollegin Wöhrl, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass diese Bundesregierung mit dem Meister-BAföG bereits einen Weg begeht, um die Qualifikation weiter zu fördern, und zwar in einem Ausmaß, in dem Sie, die Sie sich hier zur Blockade aufschwingen, es in der Vergangenheit nicht getan haben. Ein Zuwachs im Bereich des Meister-BAföGs Christian Lange ({0}) von über 100 Prozent - seitdem wir dieses Gesetz verbessert haben - bedeutet einen Ausbau der Qualität. Warum gehen wir diesen Weg? Warum haben wir in diesem Bereich eine Nachfrage von über 100 Prozent? Das ist so, weil die entsprechenden Anwärter zum Meister auf den Markt setzen und weil sie wissen, dass sie ohne das Qualitätssiegel Meister auf dem Markt keine Chance haben. Genau so soll es auch sein. Deshalb wird es, wenn wir diese Reform durchgeführt haben, letztendlich mehr Meister, mehr Auszubildende, mehr Gesellen und mehr selbstständige Existenzen geben. Das ist gut so und das ist das Ziel unserer Reform, meine Damen und Herren. ({1}) - Herr Kollege Hinsken, ich bin dankbar, dass Kollege Schauerte noch sprechen wird. Lassen Sie mich - damit komme ich zu meinem dritten Punkt - Folgendes feststellen: Ihr Kollege Schauerte sagt, so steht es in der „Financial Times“ geschrieben, dass er bereit ist, den Weg der Bundesregierung zu gehen. Er möchte andere Kriterien und nur 30 bis 34 Berufe aus der Anlage A, dem Meisterzwang, herausnehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr Hinsken: Für wen haben Sie eigentlich gesprochen: für die CDU/CSU-Fraktion oder für die Lobby, die Sie vertreten, nämlich das Handwerk? ({2}) Das ist doch die Frage, die Sie an dieser Stelle einmal beantworten müssen. Welches ist eigentlich die Position Ihrer Fraktion, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU? ({3}) Lassen Sie mich viertens auf den Gesetzentwurf zu sprechen kommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Lange, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Lange, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich mich als Volksvertreter natürlich auch für das Handwerk verantwortlich fühle? In diesem Fall habe ich mich gerne für vernünftige und verbesserte Bedingungen für das Handwerk ausgesprochen. Ich meine, dass es über Fraktionsgrenzen hinweg unser aller Ziel sein sollte, alles zu tun, um dem Handwerk auf die Zukunft bezogen, Perspektiven zu geben und es nicht weiterhin so niederzumachen, wie das aus Ihrer Sicht in den letzten Tagen und Wochen der Fall war. Im Übrigen möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir statt eines Kriteriums, das Sie anwenden wollen, um den Anspruch erheben zu können, der Anlage A anzugehören - ich meine die Gefahrgeneigtheit -, drei Kriterien einführen und hier vor allen Dingen der Ausbildungsleistung und auch anderen Bereichen eine gewisse Bedeutung einräumen wollen, um somit sicherzustellen, dass das Handwerk weiterhin ein Qualitätszeichen in unserer Wirtschaft bleibt und die Ausbildungsleistung so, wie Kollegin Wöhrl das eben gesagt hat, gewährleistet werden kann.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, lassen Sie mich zunächst Folgendes zu Ihrer ersten Frage sagen: Wir alle sind hier versammelt, um das Handwerk zu stärken. Über diesen Punkt besteht in der Tat Konsens. Ich bitte Sie, das auch entsprechend zu formulieren und nicht etwas anderes zu behaupten. Zweiter Punkt. Wenn wir das Handwerk stärken wollen, dann dürfen wir in der Tag diejenigen, die sich im Handwerksbereich - auch als ganz kleine Unternehmer selbstständig machen wollen, nicht diffamieren. Ich erinnere an Ihre Veranstaltung, die Sie in dieser Woche im Paul-Löbe-Haus durchgeführt haben. Dort habe ich zur Kenntnis nehmen müssen, dass kleine Selbstständige als „Selbstständigenproletariat“ diffamiert worden sind. ({0}) Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hinsken, ganz ehrlich: Ich finde, es ist einer CDU/CSU-Fraktion und der Partei Ludwig Erhards unwürdig, solche Bemerkungen auf einer Veranstaltung zu dulden. Sie hätten aufstehen und sagen müssen: Nein, wir sind froh, dass es jemand wagt, in die Selbstständigkeit zu gehen; denn es ist besser, in die Selbstständigkeit zu gehen, als dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen. ({1}) Nun komme ich zu meinem nächsten Punkt. Ich möchte Ihnen etwas zu den Kriterien sagen. Das betrifft den zweiten Teil Ihrer Frage, Kollege Hinsken. In der Tat hat das Handwerk drei Kriterien vorgeschlagen: die Gefahrgeneigtheit, die Ausbildungsleistung und die nachhaltige wirtschaftliche Leistung. Darüber kann man reden. Aber die Bundesregierung hat dem Bundesrat einen Gesetzentwurf zugeleitet - über diesen beraten wir hier ja gar nicht -, in dem sie die Gewerke in Punkt und Komma nach ihren Kriterien dargestellt hat. Weder das Handwerk noch die CDU/CSU-Fraktion haben dies bis heute getan. Ich bitte Sie - daher habe ich auf den Kollegen Schauerte, der gleich noch sprechen wird, hingewiesen -, die Karten auf den Tisch zu legen. ({2}) Christian Lange ({3}) Sagen Sie doch, was nach Ihren Kriterien an den Anlagen A und B der Handwerksordnung geändert werden soll. Dann kann man darüber reden. Aber Sie tun es nicht, weil Sie die Menschen aufhetzen wollen. Das ist der wahre Grund - sonst nichts. ({4}) Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden wir Erleichterungen für Existenzgründer schaffen, die außerhalb des Geltungsbereichs der Handwerksordnung tätig werden wollen, die also einfache Tätigkeiten ausüben wollen. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir eine gesetzliche Klarstellung vor und nicht mehr. Das ist notwendig, da das Handwerk derartige Tätigkeiten häufig immer noch als zum Handwerk dazugehörige Teiltätigkeiten ansieht. Die Folge ist - ich merke, die Aufmerksamkeit lässt nach; warten Sie bitte ab -, dass auch für einfache Tätigkeiten die Meisterprüfung verlangt wird, obwohl das nicht der langjährigen höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht. Mit dem Gesetzentwurf, der heute auf dem Tisch liegt, beschließen wir nur noch einmal geltendes Recht und nichts anderes. Handwerkskammern und Behörden gehen vielfach, wie wir gehört haben, mit Abmahnverfahren, Betriebsschließungen und Bußgeldern gegen Unternehmen vor, die einfache Tätigkeiten ausüben, aber nicht in der Handwerksrolle eingetragen sind. Dadurch werden Existenzen aufs Spiel gesetzt. Ich will zwei Beispiele nennen, damit das geneigte Publikum weiß, worüber wir hier eigentlich beraten. Das erste Beispiel: Ein Mann, der sich selbstständig machen will und einen fünftägigen Kurs besucht hat, will folgende Tätigkeiten ausüben: Er will Lackschäden an Kfz beheben, Alufelgen polieren, Interieurausbesserungen in Autos vornehmen - sprich: die Polster säubern -, Dellen entfernen und Steinschlagschäden an Frontscheiben ausbessern. Diese Arbeit ist ihm mit der Begründung, das gehöre zum Kernbereich der Tätigkeit eines Lackierers, verboten worden. ({5}) Ich will Ihnen ein zweites Beispiel nennen, damit alle wissen, worüber wir reden. Im Kreis Siegen-Wittgenstein gibt es einen Trockenbaubetrieb, der auch ab und zu kleine Maurerarbeiten durchführt. So mauert er beispielsweise eine Tür zu, bevor er seine Trockenbauarbeiten macht. Das macht ein Fünftel seiner Arbeit aus. Gegen diesen Betrieb liegt ein Bescheid vor - ich habe den Bescheid sogar vorliegen -, dass er diese Tätigkeiten sofort einzustellen habe, weil das Teil des Maurerhandwerks sei. Er wird, weil das nicht nur als Verletzung der Handwerksordnung, sondern auch als Schwarzarbeit gilt, mit einer Bußgeldandrohung von 300 000 Euro belegt. Durch solche Bescheide werden Firmen, Arbeits- und Ausbildungsplätze vernichtet. Das muss ein Ende haben. Das ist ein Ziel des Gesetzentwurfes der Bundesregierung. ({6}) Hinter dem, was so abstrakt klingt - ich nenne nur Rechtsprechung und Minderhandwerk -, stehen einzelne Schicksale. Dadurch sind lauter einzelne Betriebe draußen im Land betroffen, die dran glauben müssen. Das ist heute leider die Praxis, und zwar contra legem, gegen das Gesetz. Diesem Gesetzentwurf zur kleinen Novelle, den wir heute beraten - er war Teil des Ergebnisses der HartzKommission - hat sogar Herr Schleyer, der auch in der Kommission saß, zugestimmt. Auf einmal ist das alles nichtig, alle sind in die Opposition gegangen und machen reine Blockade. Nichts anderes machen Sie. Sie haben kein Interesse am Aufbau von Existenzen und haben - leider - kein Interesse an sachlicher Zusammenarbeit. Stattdessen machen Sie Klamauk und Krawall, so wie wir es Anfang dieser Woche erlebt haben, und nichts anderes. Wenn man über dieses Thema spricht, muss man einfache Tätigkeiten natürlich auch definieren. Ich will die letzten Minuten meiner Redezeit dazu nutzen, damit Ihnen klar wird, was einfache Tätigkeiten eigentlich sind. Einfache Tätigkeiten sind solche, die ein durchschnittlich begabter Berufsanfänger in zwei bis drei Monaten erlernen und erledigen kann. Keine wesentlichen Tätigkeiten sind solche, die zwar eine längere Anlernzeit verlangen, aber für das Gesamtbild des betreffenden Gewerbes der Anlage A nebensächlich sind und deswegen nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, auf die die Ausbildung in diesem Gewerbe hauptsächlich ausgerichtet ist. Die Kunden wollen heute alles aus einer Hand bekommen und nicht mehr von Pontius bis Pilatus laufen und fünf, sechs oder sieben Handwerker beauftragen. Das ist gefährdet, wenn wir an dieser Stelle keine Rechtssicherheit und -klarheit schaffen. Auch deshalb brauchen wir den Gesetzentwurf der kleinen Handwerksnovelle. Vergessen Sie nicht: Wenn Sie den vorliegenden Entwurf im Laufe des Gesetzgebungsprozesses ablehnen, dann gefährden Sie Ausbildungsplätze, Existenzen und die Betriebe, die es schon heute gibt. Sie verbrüdern sich, aus mir nicht erklärlichen Gründen, mit dem ZDH; denn er hat ihm einmal zugestimmt. ({7}) - Das ist keine Schande. Das ist in Ordnung. Aber Sie müssen wissen, dass alle anderen Wirtschaftsverbände - mit Ausnahme dieses einen Lobby-Verbandes - dies anders sehen. Es ist in Ordnung, wenn das Ihre Meinung ist. Aber ich habe meine Zweifel, dass es der Partei Ludwig Erhards, die sich einmal für die Gewerbefreiheit und für Qualität eingesetzt hat, dass es Ihrer Partei würdig ist. Deshalb bitte ich um Zustimmung. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine erste Bemerkung: Zwischen Ernst Hinsken und mir passt bei der Diskussion um die Handwerksordnung kein Blatt Papier. ({0}) Wir haben gemeinsam einen Antrag entwickelt und vorgelegt, in dem wir sehr deutlich und sehr präzise sagen, was wir geändert sehen wollen und was wir für vernünftig und notwendig halten. In diesem befinden sich mindestens zwölf sehr konkrete Vorschläge. Sie haben bis heute keinen Antrag und auch keinen Gesetzentwurf vorgelegt, weil Sie sich nicht wirklich einig sind. Nach der Reaktion, die Sie in der Öffentlichkeit erlebt haben, haben Sie gezögert. Nun müssen Sie neu nachdenken. Eigentlich war vorgesehen, dass Sie in der heutigen Debatte Ihren Entwurf vorlegen. Er ist aber nicht zustande gekommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schauerte, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Brandner, bitte.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schauerte, zwischen Sie und Herrn Hinsken passt kein Blatt Papier. Das haben Sie gerade hier öffentlich ausgeführt. Ich zitiere dazu die „Financial Times Deutschland“ vom 30. Mai 2003. Darin sagen Sie: Der Meisterzwang kann für gut 30 der 94 Meisterberufe abgeschafft werden. Ich habe Herrn Hinsken so verstanden, dass er die Meisterberufe stärken und ausbauen will. Können Sie uns diesen Widerspruch erklären oder wie breit ist bei Ihnen ein Blatt Papier?

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist kein Zitat, ich will Ihnen die Frage aber ganz sauber beantworten: Wir haben Kriterien vorgeschlagen. ({0}) Aufgrund dieser Kriterien - wenn Sie sich die Mühe machen würden, das zu überprüfen, kämen Sie zu ähnlichen Erkenntnissen - wird es in Zukunft Handwerksberufe geben, die den vollen Schutz des Meisterbriefes nicht mehr benötigen oder ihn nicht mehr erhalten. Der eine oder andere wird nach der ordnungsgemäßen Überprüfung anhand der Kriterien herausfallen. ({1}) Insofern ist auch Ihr Vorwurf, wir wollten hier eine absolute Sperre gegen jede Veränderung einrichten, immer falsch gewesen. Sie schauen einfach nicht richtig hin. Noch einmal: Wenn das Kriterium der Gefahrgeneigtheit europafest ist - das fordern Sie -, ein öffentliches Gut darstellt - das fordern wir alle - und geeignet ist, eine Entscheidung zu treffen, dann, das sagen wir, gibt es auch noch andere Kriterien, die in die gleiche Kategorie passen könnten. Ich nenne die Ausbildungsleistung; sie ist geeignet. Herr Kuhn hat es gerade gesagt, als er auf die Kurzintervention von Friedrich Merz geantwortet hat. Wir sind bei der Ausbildungsleistung sehr sorgfältig, deshalb sage ich: Wer überproportional ausbildet, muss auch eine besondere Qualifikation haben können, etwas besonders Privilegiertes haben dürfen und in besonderer Weise geschützt sein dürfen. Das ist ein hohes Gut und das wollen wir haben. Herr Brandner, wenn Sie mit Ihrem Husarenritt unabgestimmt weitermachen und die Ausbildungsleistung nicht als Kriterium aufnehmen, dann werden zu den Hunderttausend Ausbildungsplätzen, die in diesem Jahr im dualen Berufsausbildungssystem fehlen, noch einmal etwa Hunderttausend dazukommen. ({2}) Das können wir nicht verantworten. Deswegen nennen wir neue Kriterien, einschließlich der Ausbildungsleistung. Wir wollen die Handwerksgewerke, die ihre Ausbildungsanstrengungen erhöhen, sogar noch mehr sichern. Das ist ein intelligenter Ansatz und es ist doch ein gemeinsames Ziel von uns, die duale Ausbildung zu ermöglichen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass in Ihren Reihen zurzeit eine heftige Diskussion darüber geführt wird, ob Sie das Ausbildungskriterium vielleicht doch aufnehmen müssen, und dass Sie in Ihrem Eifer - ich sage Ihnen gleich noch etwas zu Ihrem Übereifer - an diese Sache vielleicht nicht gedacht haben. Öffnen Sie sich dieser These doch einfach! Seien Sie modern und ausbildungsfreundlich! Tun Sie etwas für die Jugend! Motivieren Sie die Handwerker, möglichst viel auszubilden! ({3}) Mir stellt sich folgende Frage, die hier ja auch immer wieder diskutiert wird: Warum hat Herr Clement - wenn er auch Journalist ist - das, was er vor einem halben Jahr gesagt hat, so gründlich vergessen? ({4}) Von seiner Natur her neigt er eigentlich nicht dazu und er tut das auch nicht gerne. Ich kann Ihnen aber sagen, warum er es getan hat: Er ist mit seiner Reformagenda in schwerstes Feuer geraten. Die Linken bei Ihnen - Herr Brandner, Sie waren dabei - standen auf Tischen und Bänken. Daraufhin hat er umsteuern müssen, um ihnen etwas zum Fraß vorzuwerfen. Er hat ihnen zur Beruhigung versprochen, beim Handwerk den Knoten durchzuschlagen. Genauso ist es gelaufen. Es ist eine Unverschämtheit, einen wichtigen Wirtschaftsbereich als politische Verfügungsmasse hin- und herzuschieben. ({5}) Ein Großteil dieser Aufregung hätte vermieden werden können, wenn Sie die Gespräche in aller Ruhe geführt hätten und wir so zu übereinstimmenden Ergebnissen hätten kommen können. Unsere zwölf Vorschläge sind mit dem Handwerk abgestimmt. Man muss dazu sagen, dass sie sehr viele Veränderungen bedeuten würden. Ich will sie in meiner kurzen Redezeit nicht alle auflisten, doch wir sind wirklich sehr modern. Aber mit diesem brutalen Ritt, den Herr Clement den Linken zugestanden hat, damit sie der Agenda von Herrn Schröder zustimmen, haben Sie das Porzellan zerschlagen. Damit haben Sie Vertrauen zerstört. Wirtschaft und Wachstum in unserem Lande haben Sie nicht weitergebracht, sondern die Enttäuschung in unserem Lande noch vergrößert. Das ist Ihr Problem. Deswegen müssen wir schnell zur Sachlichkeit zurückkommen. Öffnen Sie sich für unsere Kriterien, dann kommen wir ein ganzes Stück mit dem Programm voran, das wir umsetzen wollen. ({6}) Ich will noch etwas zu den übrigen Gründen sagen. Alles, was wir tun, muss nützlich sein. Wenn Ihre Operation zur Förderung von Wachstum, Arbeitsplätzen und Ausbildung hilft, müssen wir die Operation akzeptieren. Wenn sie nicht hilft, müssen wir sie sein lassen. Schauen wir uns die Sache einmal genauer an. Sie sagen: Das Handwerk hat eine schlechtere wirtschaftliche Entwicklung als die Gesamtwirtschaft genommen. Das ist in Teilen wahr, hängt aber wohl auch damit zusammen, dass das Handwerk im Gegensatz zur Gesamtwirtschaft ausschließlich an der Binnenkonjunktur hängt. Wer hingegen die Binnenkonjunktur schlecht macht, darf sich anschließend nicht darüber wundern, dass es dem Handwerk schlechter als der exportierenden Wirtschaft geht. ({7}) Sie sagen: Die enge Verfasstheit des Handwerks stört die Gründungsdynamik. Schauen Sie sich einmal die Gründungsdynamik und die Entwicklung von Existenzen im Einzelhandel an. In diesem Bereich herrscht absolute Freiheit. Dort sieht es noch schlechter als beim Handwerk aus. Schauen Sie sich einmal die Gründungsdynamik bei Rechtsanwälten an. Dieser Berufsstand ist verkammert und besitzt eine Gebührenordnung mit explodierenden Gebühren. Sie können anhand eines Kurvenverlaufs nicht einfach auf die Ursache schließen. Sie haben keine sorgfältige Ursachenanalyse betrieben. Man muss doch fragen: Hat das eine überhaupt etwas mit dem anderen zu tun? Oder sind dies unterschiedliche Kausalitäten, die wir hier zu berücksichtigen haben? Bevor so stark eingegriffen wird, wie Sie es vorhaben, muss erst einmal der Nachweis geführt werden, dass diese Maßnahmen dem Handwerk und der Binnennachfrage wirklich helfen. Lenken Sie mit dieser Operation nicht in Wirklichkeit von Ihrer zerstörerischen Wirtschaftspolitik zulasten der Binnenkonjunktur ab? Ist das nicht Ihr eigentliches Thema? ({8}) Sollen dafür die Handwerker mit einer nicht sachgerechten Reform bezahlen? Das kann doch nicht wahr sein! Das kann nur einer machen, der sein Land nicht liebt. ({9}) Wir wollen Dinge beschließen, die diesem Land weiterhelfen. Sie hingegen sind jeden Beweis schuldig geblieben, dass Ihr Übermaß weiterhilft. Wir sagen: Ihr Übermaß behindert, stört und zerstört. ({10}) Um die Ernsthaftigkeit der Ausbildungsfrage anzusprechen, möchte ich einige Zahlen nennen. In Deutschland gibt es 760 000 freie Berufe. Sie sind auch deswegen frei, weil sie durch fast nichts reglementiert sind. Diese 760 000 freien Berufe bilden 160 000 junge Menschen aus. Das Handwerk mit seinen 580 000 Unternehmungen bildet 564 000 junge Menschen aus. In der Berufssparte, die den höchsten Ausbildungsbeitrag leistet, zerstören Sie die Ausbildungsmotivation in unverantwortlicher Weise. Wie wollen Sie das Eltern erklären, die nicht wissen, wo sie ihre Kinder ausbilden lassen können? ({11}) Sie zerstören die Ausbildungsbereitschaft; das werden Ihnen die Handwerker bestätigen. Diese fühlen sich durch Ihre Vorgehensweise in einer solchen Weise missachtet, dass ihnen - ich möchte es einmal jovial sagen der Hals schwillt. Sie sind nicht mehr bereit, unter diesen Umständen auszubilden. Sprechen Sie doch einmal mit Vertretern der Lackiererinnung oder der Friseurinnung. Allein in diesem Bereich gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt über 80 000 Ausbildungsplätze. Diese Innungen werden blockieren, weil sie diese Maßnahmen nicht wollen. Dennoch werden Sie sie wohl durchsetzen. Aber wer im dualen Ausbildungssystem so sehr über dem Durchschnitt der deutschen Wirtschaft ausbildet, der hat es nicht verdient, unter solchen, im Übermaß ausgedachten und zum Teil ideologisch begründeten Gesetzgebungsvorhaben zu leiden. Das ist der Punkt, gegen den wir uns wehren. Kommen Sie zurück zu einer ordnungsgemäßen, kausalbezogenen, ursachengerechten Reformdiskussion und wir sind an Ihrer Seite. Alles andere ist falsch, schadet dem Handwerk und schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Nehmen Sie unsere Kriterien auf und Sie haben einen ersten großen und vernünftigen Schritt getan. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 15/1089, 15/1107 und 15/1108 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus Haupt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes - Drucksache 15/756 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Ernst Burgbacher für die antragstellende FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende April dieses Jahres waren mehr als 164 000 unbesetzte Ausbildungsplätze bei den Arbeitsämtern gemeldet. Dem standen mehr als 325 000 Bewerber ohne Ausbildungsplatz gegenüber. Die Situation ist dramatisch - wir haben das heute Vormittag schon diskutiert. Wir hier in diesem Hause müssen alles tun, diesen Problemen zu begegnen. ({0}) Es kann nicht sein, dass in unserem Land mehr und mehr junge Menschen vor der Situation stehen, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen. Heute Morgen haben wir über das Instrument der Ausbildungsplatzabgabe diskutiert nach unserer festen Überzeugung ein völlig falsches Instrument. ({1}) Meine Damen und Herren, wir haben in einem Bereich eine ganz besondere Situation, nämlich in der Tourismuswirtschaft, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe. Dort gibt es Arbeitsplätze, genauer gesagt Ausbildungsplätze, die kaum exportierbar sind. Laut einer aktuellen DIHK-Unternehmensbefragung beabsichtigt fast jedes vierte von 10 000 befragten Unternehmen in Deutschland eine Produktionsverlagerung ins Ausland. In der Tourismuswirtschaft ist das kaum möglich. Die Tourismuswirtschaft hat in Deutschland rund 2,8 Millionen Beschäftigte und zählt circa 107 000 Auszubildende. Am 31. Dezember 2001 gab es rund 93 000 Ausbildungsverhältnisse im Hotel- und Gaststättengewerbe; das war immerhin eine Steigerung von 2,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wir haben freie Stellen. Heute Morgen habe ich die Meldung gelesen, dass im Hotel- und Gaststättengewerbe in Baden-Württemberg mehr als 2 000 Ausbildungsplätze unbesetzt sind. Da müssen wir uns doch die Frage stellen: Warum werden diese Plätze nicht besetzt? Nun reden wir in diesen Zeiten immer wieder davon, was wir gemeinsam in diesem Hause tun können, um die Situation zu entschärfen. Die Leute draußen - die jungen Leute, aber genauso die Arbeitgeber - erwarten nicht die großen Konzepte; sie stehen mit dem Rücken zur Wand und wollen, dass etwas geschieht. ({2}) Das ist unsere Herausforderung. Wenn Sie nun um die Situation wissen, dass in diesem großen und wichtigen Bereich - ich habe die Zahlen schon genannt - in vielen Häusern nur noch Abiturienten ausgebildet werden, ({3}) weil die nämlich über 18 sind, und dass Auszubildende unter 18 in vielen Häusern überhaupt nicht mehr genommen werden, dann müssen Sie doch handeln. Darauf zielt unser Gesetzentwurf ab. ({4}) Meine Damen und Herren, es geht eben nicht, dass Sie die Auszubildenden im Hotel- und Gaststättengewerbe um 22 Uhr einfach nach Hause schicken müssen; die Betriebsabläufe lassen so etwas nicht zu. Übrigens wollen das auch die Jugendlichen heute überhaupt nicht. Sie haben sich auf diesen Beruf eingestellt und wissen, was das mit sich bringt. Jetzt müssten sie um 22 Uhr aufhören. Was machen sie? Sie ziehen sich um und gehen in die Disco. So kann man doch keine Politik gestalten! ({5}) Heute haben Sie die Möglichkeit, zu beweisen, ob Sie wirklich willens sind, etwas zu verändern und erkannte Mängel zu beseitigen, oder ob es nur Lippenbekenntnisse sind und Sie sich dann, wenn es konkret wird, auf Ihre alten ideologischen Vorstellungen zurückziehen. Ich bin gespannt auf die Debatte hier und in den Ausschüssen. Ich wiederhole: Nach den bestehenden Regelungen ist für Jugendliche unter 18 Jahren in diesen Bereichen um 22 Uhr Schluss. Bekanntlich hat sich das Ausgehverhalten aber völlig verändert. Wir wissen, dass Jugendliche länger ausgehen und dass sich ihre Bedürfnisse verändert haben. Zudem muss man die Situation im Hotel- und Gaststättengewerbe berücksichtigen: Eine ganze Menge Betriebe erwirtschaften keine Gewinne mehr, sondern arbeiten mit Verlust. Diese Betriebe leiden erheblich unter dem Konsumrückgang - durch Ihre Politik mit verschuldet. ({6}) Wenn Sie zum Beispiel die Tabaksteuer erhöhen, dann trifft das vor allem diese Betriebe. Denn irgendwo muss schließlich das Geld wieder eingespart werden. Machen Sie doch einmal mit bei konkreten Maßnahmen, die diese Situation erheblich entschärfen würden! Wir schlagen Ihnen vor, die Arbeitszeiten so zu verändern, dass junge Leute ab 16 Jahre bis 24 Uhr arbeiten dürfen; am Vorabend von Berufsschultagen soll eine andere Regelung gelten. Das ist eine geringfügige Änderung, die aber viel bringen würde. Sie können in dieser Frage zeigen, ob Sie für die Auszubildenden nur hehre Worte übrig haben oder ob Sie bereit sind, über Ihren ideologischen Schatten zu springen und zu handeln. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf mittragen, dann helfen wir damit vielen jungen Menschen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Wir werden Sie nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten messen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Burgbacher, wenn Sie davon sprechen, dass wir unsere Politik unseren ideologischen Vorstellungen unterordnen, dann darf ich Ihnen antworten: Anscheinend haben Sie in Ihren Antrag vor allem Ideologie hineingepackt, indem nämlich Arbeitnehmerrechte abgebaut und Schutzrechte für junge Menschen aufgegeben werden sollen. ({0}) Nichts anderes steht bei Ihnen im Vordergrund. Ich will das an einigen Zahlen deutlich machen. Sie sprachen davon, dass das starre Arbeitsrecht und die zahlreichen Restriktionen in diesem Bereich dazu führen, dass das Ausbildungspotenzial nicht ausgeschöpft werden kann. Sie haben einige Zahlen genannt. Ich will diese Zahlen verdeutlichen. In den vergangenen zehn Jahren gab es im Gastronomie-, Hotel- und Gaststättengewerbe eine Steigerung von fast 50 Prozent auf 91 986 Ausbildungsverhältnisse, ({1}) obwohl keine Änderungen am Jugendarbeitsschutzgesetz erfolgt sind, Herr Burgbacher. Insofern ist das, was Sie verdeutlichen wollen, nämlich dass sich das Jugendarbeitsschutzgesetz hinderlich auswirkt, in keiner Weise überzeugend. ({2}) Der andere Punkt, den Sie erwähnt haben, nämlich dass die geltende Regelung zu einer bevorzugten Bereitstellung von Ausbildungsplätzen für Abiturienten gewährleistet sei, ist ebenfalls falsch, wie Sie wissen müssten, wenn Sie sich sachkundig gemacht hätten. Ich möchte auch dazu einige Zahlen anführen: Rund 78 Prozent der Auszubildenden bei den Restaurantfachleuten sind Haupt- und Realschüler, unter den Fachkräften, die im Gastgewerbe ausgebildet werden, sind es rund 70 Prozent, unter den Hotelfachleuten rund 64 Prozent, unter den Hotelkaufleuten rund 32 Prozent und unter den Fachleuten für die Systemgastronomie 57 Prozent. Sie sollten sich etwas mehr damit beschäftigen und sich die Zahlen einmal zu Gemüte führen! ({3}) Ich sage noch einmal deutlich: Sie sprechen zwar von Flexibilität, aber Sie verstehen darunter die Aufgabe von Arbeitnehmerrechten und von Arbeitsschutzrechten für junge Menschen. ({4}) - Ihre Reaktion gefällt mir übrigens. Je mehr Zwischenrufe Sie machen, desto mehr zeigt mir das, dass Sie sich mit der Thematik nicht befasst, dass Sie sich mit den Zahlen nicht vertraut gemacht haben und dass Sie von den Fakten ablenken wollen, die hier genannt werden. ({5}) Sie gehen davon aus, dass sich das Freizeitverhalten junger Menschen verändert hat. Das ist wohl richtig. Aber ich glaube, dass es einen Unterschied zwischen dem Freizeitverhalten junger Menschen am Wochenende und der Vorgabe gibt, wann man als Arbeitnehmer zur Verfügung zu stehen hat. Als junger Mensch kann man sich aussuchen, an welchem Tag in der Woche man bis 24 Uhr in eine Diskothek geht. Als Arbeitnehmer kann man sich aber nicht aussuchen, ob man bis 22 Uhr oder bis 24 Uhr arbeitet. In diesem Fall ist man verpflichtet. Sie haben außerdem gänzlich unerwähnt gelassen, dass es auch Ausnahmeregelungen gibt. In Schichtbetrieben kann nämlich die Arbeitszeit bis 23 Uhr verlängert werden. Auch das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Ich habe diese Anmerkungen gemacht, weil es mir wichtig erschien, den besonderen Wert des Jugendarbeitsschutzes herauszustellen. Die SPD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf der FDP aus zwei Gründen ab: Zum einen wird mit den vorgeschlagenen Maßnahmen in keiner Weise das angestrebte Ziel erreicht. Die zugrunde gelegte Bewertung, das geltende Recht behindere die Schaffung von Ausbildungsplätzen, wird durch Zahlen widerlegt. Dies habe ich Ihnen gerade deutlich gemacht. Zum anderen ist die Begründung, die Jugendarbeitsschutzregelungen seien aufgrund veränderten Freizeitverhaltens zu vernachlässigen, mehr als dürftig. ({6}) Dies gilt in Gänze auch für Ihren Antrag. Daher lehnen wir ihn ab. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Göhner von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grotthaus, mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten hat der vorliegende Gesetzentwurf der FDP nun wirklich nichts zu tun. ({0}) Lassen Sie uns einmal ganz nüchtern und sachlich über das Problem und über das reden, was im Gesetz steht. Im Jugendarbeitsschutzgesetz ist geregelt, dass ein Jugendlicher nicht mehr als acht Stunden pro Tag arbeiten darf. Das soll auch nach dem Gesetzentwurf der FDP so bleiben. Es geht aber um die Frage, ob ein jugendlicher Lehrling auch noch um 22.30 Uhr oder 23 Uhr arbeiten darf. Das gesamte Jugendarbeitsschutzgesetz ist sicherlich gut gemeint. Aber in drei Detailfragen hat sich dieses Gesetz als das Gegenteil von Gut herausgestellt, weil es sich zulasten der Jugendlichen auswirkt. Dass ein Lehrling im Alter von 17 Jahren zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe nach 22 Uhr nicht mehr tätig sein darf, ist in der Tat eine anachronistische Vorschrift. ({1}) Ein 17-Jähriger darf zwar bis 24 Uhr in eine Gaststätte oder in eine Disco gehen, aber nur vor dem Tresen und nicht dahinter. Von jungen Leuten zu verlangen, dass sie als Koch in einem Abendrestaurant - solche gibt es tatsächlich - um 22 Uhr den Löffel fallen lassen oder dass sie in einer Gaststätte ab dieser Uhrzeit nicht mehr bedienen, mag zwar einmal gut gemeint gewesen sein. Im Endeffekt führt das heute aber dazu, dass in solchen Betrieben vorzugsweise Abiturienten als Lehrlinge eingestellt werden. Diese Regelung wirkt sich also als eine Benachteiligung der Haupt- und Realschüler aus. ({2}) In allen Berufen des Hotel- und Gaststättengewerbes liegt das Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger über 18 Jahre. Das ist doch kein Zufall. In der Systemgastronomie sind 85 Prozent der Lehrlinge - wohlgemerkt: zu Beginn ihrer Ausbildung - 18 Jahre und älter. Bei den Hotelkaufleuten sind es sogar 90 Prozent. Der Sachverhalt ist offensichtlich: Das Jugendarbeitsschutzgesetz wirkt in diesem Bereich als Bremse für Hauptund Realschüler. ({3}) Nicht die böse Opposition, sondern das Bundesinstitut für Berufsbildung hat das exakt festgestellt: 2001 waren 84,5 Prozent der Ausbildungsanfänger älter als 18 Jahre; beim Hotelkaufmann bzw. bei der Hotelkauffrau waren es 89,5 Prozent. Die Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger betrugen: beim Restaurantfachmann 18,7 Jahre, beim Hotelfachmann 19,1 Jahre; bei Fachkräften im Gastgewerbe 18,5 Jahre. So weit die Fakten. Die müssen wir ändern. Auch Haupt- und Realschüler müssen in diesem Bereich mehr Chancen bekommen. ({4}) Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist in diesem Punkt geradezu kurios. Lassen Sie uns doch bitte einmal ohne Scheuklappen, ganz nüchtern darüber reden! Beispiel eins: Nach geltendem Recht kann ein 17-jähriger Bäckerlehrling sinnvollerweise ab 4 Uhr in der Backstube tätig sein. Aber ein in Ausbildung befindlicher Kellner muss im Abendrestaurant um 22 Uhr den Löffel fallen lassen. Nennen Sie das schlüssig und logisch? ({5}) Beispiel zwei - Sie haben es selbst erwähnt -: In großen Hotelbetrieben oder in großen Gastronomiebetrieben, in denen die Leute in zwei Schichten arbeiten, darf der Lehrling bis 23 Uhr arbeiten. In einer kleinen Hotelpension, in einem Restaurant, das vielleicht mittags drei Stunden und abends von 18 bis 23 Uhr aufmacht, darf er nicht bis 23 Uhr arbeiten. Das ist nicht schlüssig. Da ist keine Logik im Gesetz. Diese Beispiele zeigen, dass das Jugendarbeitsschutzgesetz in diesem Punkt nicht dem Schutz der Jugendlichen dient. Es schadet den Interessen der jungen Leute und deshalb sollten wir es auch ändern. Das gilt übrigens auch für die Regelung mit den Berufsschultagen. Am Vortag muss der Lehrling schon um 20 Uhr den Löffel fallen lassen - als ob die Lehrlinge in der Berufsschule am anderen Tag nicht frisch und munter und lernbegierig sein können, wenn sie bis 21 Uhr gearbeitet haben! Das ist doch lachhaft. ({6}) Ich nenne einen weiteren Punkt - er ist in den FDPEntwurf nicht aufgenommen worden, muss aber auch geändert werden -: Nach dem geltenden Jugenarbeitsschutzgesetz darf die so genannte Schichtzeit elf Stunden nicht überschreiten. Das heißt nicht, dass der Jugendliche bis zu elf Stunden arbeiten darf. Nein, es soll bei acht Stunden bleiben. Aber die so genannte Schichtzeitenregelung hat die kuriose Folge, dass zum Beispiel eine 17-Jährige in einer Hotelpension, die Halbpension mit Abendessen bietet - kein theoretisches Beispiel -, mit Arbeitszeiten morgens von 7 Uhr bis 10 Uhr - Frühstück, Zimmer machen - und später von 16 bis 20 Uhr, nicht beschäftigt werden darf, weil die Öffnungszeiten einen Zeitraum von insgesamt mehr als elf Stunden umfassen, obwohl die Arbeitszeit nur sieben Stunden beträgt. Wenn ein Restaurant hier am Gendarmenmarkt von 11 bis 14 Uhr und abends von 17 bis meinetwegen 23 Uhr geöffnet hat, beträgt die Schichtzeit ebenfalls mehr als elf Stunden; der Lehrling muss um 22 Uhr den Löffel fallen lassen. Nach dem FDP-Entwurf könnte in einem klassischen Speiserestaurant mit Öffnungszeiten von 11 bis 14 Uhr sowie von 18 bis 23 Uhr der jugendliche Lehrling auch nicht nach 22 Uhr beschäftigt werden. Dazu werden wir im Laufe der Ausschussberatungen sicherlich etwas ergänzen können. ({7}) Es ist ja richtig: 90 000 Ausbildungsplätze im Bereich der Hotels und Gaststätten! Deshalb, liebe Kollegen von der SPD, lassen Sie uns einmal auf diese ausbildungsplatzintensive Branche hören! Die Branche beklagt gerade, dass sie vorwiegend Ältere, vorwiegend Abiturienten einstellen muss; sie würde mehr Haupt- und Realschüler einstellen. Lassen Sie uns deshalb den Aufschwung in diesem Servicebereich nutzen. Sie loben dieses Gewerbe zu Recht. Aber dann hören Sie doch auf die Vertreter! Sie haben sich an alle Fraktionen gewandt, auch an Ihre Fraktion, mit der Bitte, diese Grenze heraufzusetzen. Ich kann nur nochmals sagen: Das alles im Gesetz ist immer noch gut gemeint, aber für Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, vor allem solche mit Haupt- oder Realschulabschluss, nicht mehr gut. Deshalb rate ich dazu, dass wir im Ausschuss einmal ganz nüchtern gucken, ob wir das nicht schnell ändern können. ({8}) Das würde den Jugendlichen helfen. Wir müssen die Jugend vor diesem Gesetz schützen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger vom Bündnis 90/Die Grünen.

Jutta Dümpe-Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003519, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir versuchen einmal, das ganz nüchtern zu betrachten: Weil es in Deutschland eine hohe Arbeitslosigkeit gibt und weil vor allem jede Menge Ausbildungsplätze fehlen, muss das Jugendarbeitsschutzgesetz geändert werden; denn schuld an der ganzen Misere ist natürlich - wie könnte es anders sein? - unser starres Arbeitsrecht. Das jedenfalls meint die FDP. Deshalb beschäftigen wir uns heute mit einem ebenso schlichten wie abenteuerlichen Vorschlag - ich zitiere -: Mit einer punktuellen Flexibilisierung des Gesetzes zum Schutz der arbeitenden Jugend wird der Jugendarbeitslosigkeit entgegengewirkt. Im Klartext: Damit mehr Jugendliche in Ausbildung kommen, will die FDP Zumutbarkeitskriterien verschärfen und entlang ihrer Philosophie das Jugendarbeitsschutzgesetz in folgenden Punkten ändern: Erstens. Jugendliche in Gaststätten und im Schaustellergewerbe sollen künftig bis 24 Uhr statt wie bisher bis 22 Uhr auf Trab gehalten werden. Zweitens. An einem dem Berufsschultag unmittelbar vorangehenden Tag sollen die Beschäftigungszeiten von 20 Uhr auf 21 Uhr ausgeweitet werden. Das sind die liberalen Vorschläge. Damit setzen Sie die Brechstangen- und Rasenmäherpolitik, die wir schon heute Morgen in der Ausbildungsplatzdebatte erlebt haben, auf dem Rücken junger Leute nahtlos fort. ({0}) Kein Bauer spannt ein Fohlen vor den Pflug. Er weiß nämlich, dass das Tier noch nicht leistungsfähig ist und dass körperliche Beanspruchung im jugendlichen Alter die Leistungskraft für die Zukunft schädigen kann. ({1}) Für junge Menschen sollte der gleiche Grundsatz gelten. Diese Erkenntnis ist etwas älter als ich - Sie stammt aus dem Jahr 1931 - und ist unter der Überschrift „Der Jugendliche im Betrieb - Praxis des Arbeitsschutzes und der Gewerbehygiene“ nachzulesen. Auch wenn wir mittlerweile eine ganze Menge dazugelernt haben, ist eines wahr geblieben: Ausbildung kommt nicht von Ausbeutung und es wird kein frühkapitalistisches Zurück in die Zukunft geben, schon gar nicht nach Ihrem Motto: Hau weg den Arbeitsschutz für Jugendliche! ({2}) Die Realität ist eine völlig andere: Deutsche Unternehmen ziehen sich aus ihrer sozialstaatlichen Verantwortung für die Ausbildung mehr und mehr zurück. Nur noch ein knappes Drittel bildet überhaupt aus. Sie selbst weisen darauf hin, dass allein in der Tourismusbranche zum Ende des Jahres 20 000 Lehrstellen fehlen. Welchen Schluss ziehen Sie daraus? - Nicht den Unternehmen, nein, den Auszubildenden müssen die Daumenschrauben angelegt werden. Es bleibt allerdings Ihr Geheimnis, wie Sie mit der geforderten Verlängerung neue Arbeitsplätze schaffen wollen. Aber dass alle Vorschläge der Opposition einer hohen Geheimhaltungsstufe unterliegen, haben wir heute Morgen gemerkt: Jedes Mal, bevor ein solcher kommen konnte, war die Redezeit abgelaufen. Außerdem haben Sie das Gesetz nicht gelesen. Wenn Sie das getan hätten, dann wüssten Sie, dass es gerade für den Bereich der Gastronomie, des Schaustellergewerbes, für Krankenpflegeeinrichtungen, Altenheime, Bäckereien usw. eine Reihe von Ausnahmeregelungen gibt. 16-Jährige dürfen in Bäckereien bereits um 5 Uhr morgens Brötchen backen, 17-Jährige bereits ab 4 Uhr. §§ 16 bis 18 des Jugendarbeitschutzgesetzes sehen außerdem noch Ausnahmeregelungen an Samstagen sowie an Sonn- und Feiertagen vor. Interessant sind auch Ihre Aussagen zum Ausgehverhalten von Jugendlichen. Motto: Weil 16-Jährige heutzutage länger ausgehen und am öffentlichen Leben teilnehmen, müssen sie auch länger arbeiten. ({3}) Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrem jugendlichen Alter einmal nachts in irgendeiner Kneipe gekellnert haben. Ich vermute allerdings, eher nicht. ({4}) Hätten Sie es getan, wäre Ihnen der gravierende Unterschied zwischen Freizeit und Arbeit klar. ({5}) Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll Jugendliche vor Überforderung und Gefahren am Ausbildungs- und Arbeitsplatz schützen. Sie stehen unter besonderem Schutz, weil ihre psychische und physische Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Auch wenn es stimmt, dass sich junge Menschen heute schneller entwickeln, dann heißt das nicht, dass ihre Entwicklung mit 16 Jahren abgeschlossen ist. Im Gegenteil: Die Anforderungen an Jugendliche in einer sich rasant verändernden und immer komplizierter werdenden Welt hat dazu geführt, dass der körperliche und auch der soziale Reifungsprozess länger dauert. Deshalb müssen wir sie in vollem Umfang schützen ({6}) und deshalb lehnen wir Ihre Änderungen zum Jugendarbeitsschutzgesetz ab. Ich will Ihnen hier noch als Letztes sagen: Den Schutz von Jugendlichen als Ideologie zu bezeichnen, das ist schon ein starkes Stück. Ich hoffe, dass das viele Jugendliche so wahrgenommen haben. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Engelbert Wistuba von der SPDFraktion das Wort.

Engelbert Wistuba (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003266, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der uns heute vorliegende Entwurf löst bei mir geteilte Gefühle aus. Zum einen begrüße ich die Intention des Gesetzentwurfs ausdrücklich, setzt sich die FDP-Bundestagsfraktion doch für eine Bekämpfung der viel zu hohen Jugendarbeitslosigkeit und des nicht zu akzeptierenden Lehrstellenmangels in Deutschland ein. Darüber hinaus könnte man sogar einen leichten Anflug längst tot geglaubter sozial-liberaler Anwandlungen erkennen, wenn Sie sich für eine größere Chancengleichheit von Haupt- und Realschülern gegenüber Gymnasiasten einsetzen. Aber, um es mit Goethe gleich klarzustellen: Die Botschaft höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. ({0}) Bei der Wahl der Mittel - das hat Ihnen der Kollege Grotthaus schon klar diagnostiziert - trennen sich unsere Wege aber deutlich. Auf die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage zur Ausweitung des § 14 des Jugendarbeitsschutzgesetzes, in dem es um die Nachtruhe geht, wurde schon hingewiesen. Ich will es trotzdem noch einmal betonen: Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist nicht die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit bzw. des Ausbildungsplatzmangels. Vielmehr geht es um den Gesundheitsschutz der betroffenen arbeitenden Jugendlichen. Herr Burgbacher, das können Sie auch mit dem Argument eines veränderten Freizeitverhaltens nicht außer Kraft setzen. Ich kann kaum nachvollziehen, dass es nach Ihrer Meinung keinen großer Unterschied ausmacht, ob ein junger Mensch bis 24 Uhr arbeiten muss oder tanzen gehen darf. ({1}) Darüber hinaus sind in dem Gesetz bereits branchenspezifische Ausnahmen - das wurde hier schon gesagt -, insbesondere für das Gaststätten- und das Schaustellergewerbe, enthalten. Zweitens. Wir sprechen hier über das Thema Ausbildung. Bei Ihrem Vorschlag stellt sich mir die Frage, welche spezifischen Lerninhalte nach 22 Uhr eigentlich vermittelt werden sollen. Ich behaupte, dass es im Restaurant, in der Küche oder auf dem Rummel keine spezifischen Nachtinhalte gibt. Servicearbeiten wie Aufräumen, Säubern oder Frühstück-Eindecken können auch zu den geltenden Arbeitszeiten gemacht werden. Das führt mich zu Punkt drei. ({2}) - Gerne. ({3}) - Ich möchte fortfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte alle an dieser Diskussion Beteiligten noch einmal daran erinnern - der Kollege Grotthaus hat das schon in ähnlicher Weise ausgeführt -, dass die Zahl der Azubis im Gastgewerbe in den letzten zehn Jahren um über 50 Prozent gestiegen ist. Dies kann man einerseits als einen verdienstvollen Beitrag zur Bekämpfung des Ausbildungsplatzmangels interpretieren. Man könnte bei einem Blick auf die Realität in diesem Gewerbe andererseits aber auch zu dem Schluss kommen, dass diese Entwicklung darauf zurückzuführen ist, dass reguläre Arbeitskräfte im Gastgewerbe durch billige Auszubildende ersetzt wurden. ({4}) Ich will den Kollegen von der FDP nichts unterstellen. Ein Blick auf die Angaben des Statistischen Bundesamtes zeigt aber, dass die Beschäftigungsquote in der Branche seit 1995 - bis auf das Jahr 2001 - bei steigendem Ausbildungsplatzangebot stetig zurückgeht. Punkt vier. Nach einer Pressemitteilung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes vom 14. Februar, dessen Formulierung interessanterweise dem Gesetzentwurf der FDP sehr ähnlich ist, liegt die Ausbildungsquote im Gastgewerbe mit 12 Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Wirtschaft. Das heißt doch - ich begrüße das ausdrücklich -, dass die Branche schon jetzt in überproportionalem Maße ausbildet. So weit, so gut. Ich gebe aber zu bedenken, dass dies nicht auf Kosten der Ausbildungsqualität geschehen darf, ({5}) wie das bei einer weiteren Verschiebung des Verhältnisses von ausgebildeten Arbeitnehmern zu Auszubildenden der Fall sein würde. Ich formuliere es zum Schluss noch einmal klar und deutlich: Ihre Intention ist löblich, der vorgeschlagene Weg führt aber nicht zum gewünschten Ziel. Im Namen meiner Fraktion wehre ich mich gegen den Ansatz „mehr billige Azubis auf Kosten regulärer Arbeitsverhältnisse“. ({6}) Der brancheninterne Sparzwang darf unter keinen Umständen auf dem Rücken der jungen Menschen ausgetragen werden. Aus der alltäglichen Arbeit wissen wir doch, dass es schon heute in allen Betriebssystemen Verstöße gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz gibt, egal ob es sich um die Einhaltung von Arbeitszeiten oder um tarifvertragliche Vereinbarungen handelt. Eine weitere Senkung dieser Sanktionsschwelle ist deshalb absolut inakzeptabel. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, verweise ich Sie auf einen Bericht in der „Bild“-Zeitung vom 15. Mai 2003, wo - ich denke, es war die Münchner Ausgabe - über einen Hotelchef berichtet wurde, der in den letzten Monaten mir nichts, dir nichts zehn Azubis die Gehälter gekürzt und sie letztendlich - zum Teil in der Probezeit - ohne triftige Gründe rausgeworfen hat. ({7}) Diese jungen Menschen sind doch schon heute das unterste Glied in der Arbeitshierarchie. Für ein Aufweichen ihres Arbeitsschutzes werden Sie unsere Stimme nicht erhalten. ({8}) Abschließend möchte ich Ihnen ein chinesisches Sprichwort mit auf den Weg geben. Es lautet folgendermaßen: Es gibt Menschen, die Fische fangen, und solche, die nur das Wasser trüben. - In diesem Sinne empfehle ich allen Beteiligten klare Sicht in dieser Debatte und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Reinhard Göhner das Wort. ({0})

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe vorhin fünf Minuten kürzer geredet, als mir an Redezeit zustand. Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich möchte noch einen kurzen Versuch machen, die Diskussion wieder zu öffnen. Sie haben gesagt, Herr Kollege, es gehe beim Jugendarbeitsschutzgesetz um Gesundheitsschutz für die Jugendlichen - in Ordnung. Jetzt erklären Sie mir aber einmal, was es mit Gesundheitsschutz zu tun hat, wenn der Lehrling bei McDonald’s nach geltendem Recht - dort wird prinzipiell mehrschichtig gearbeitet und der Betrieb ist sehr ausbildungsintensiv - bis 23 Uhr arbeiten kann, dieser Lehrling im Nachbarrestaurant, einem Speiserestaurant, das als Abendspeiserestaurant von 18 bis 23.30 Uhr geöffnet hat, aber ab 22 Uhr nicht mehr arbeiten dürfte. Das hat doch nichts mit Gesundheitsschutz zu tun! Und was hat es mit Gesundheitsschutz zu tun, wenn der 17-jährige Lehrling beim Bäcker morgens um 4 Uhr - sinnvollerweise, das geht beim Bäcker nicht anders in der Backstube anfangen darf, aber abends um 22 Uhr den Löffel fallen lassen muss? ({0}) Deshalb lassen Sie uns wirklich überlegen, ob es noch zeitgemäß ist, zu behaupten, dass der Gesundheitsschutz eines Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren beeinträchtigt ist, wenn er nach 22 Uhr etwas tun muss. Wenn Sie das ernst meinen, dann müssten Sie die anderen Regelungen - für McDonald’s, für den Bäcker - auch ändern. Das wollen Sie doch selbst nicht. ({1}) Deshalb schlage ich vor, dass wir im Ausschuss ernsthaft darüber reden. Wenn Ihnen 24 Uhr zu spät ist, dann reden wir über die 23 Uhr, die das Hotel- und Gaststättengewerbe selbst vorschlägt und die, wie ich Ihnen gesagt habe, bei McDonald’s und in allen anderen Schichtbetrieben - in jeder Hotelkette gibt es Schichtbetrieb zulässig sind, nur nicht in der kleinen Hotelpension, die nicht mehrschichtig arbeitet; dort sagen Sie: 22 Uhr Ende der Fahnenstange. Ich finde, Sie sollten unter diesem Gesichtpunkt überlegen, ob Sie an Ihrer Position tatsächlich festhalten wollen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wistuba, wollen Sie noch einmal das Wort ergreifen? - Bitte schön.

Engelbert Wistuba (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003266, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Göhner, ich meine, Schichtarbeit ist ein notwendiger Sektor in unserem Land. Das sagt Ihnen jemand, der über 20 Jahre seines Lebens im Schichtdienst gearbeitet hat. Ich sage aber auch, dass wir das so bald wie möglich eingrenzen sollten. Gerade bei jungen Menschen ist eine Eingrenzung besonders notwendig. Sie sprachen davon, dass es Sonderregelungen gibt. Wir wissen das; ich habe das in meinem Redebeitrag angesprochen, ebenso die anderen Kolleginnen und Kollegen. Wir werden Ihre Ansicht hinsichtlich der Punkte, die die Schaffung von Ausbildungsplätzen betreffen, aufgrund der von Ihnen vorgelegten Änderung des Gesetzes nicht teilen. In diesem Sinne sage ich: Wir werden bei unserer Haltung bleiben und dem Gesetz nicht zustimmen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/756 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er/0900er-Mehrwertdiensterufnummern - Drucksachen 15/907, 15/1068 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1}) - Drucksache 15/1126 - Berichterstattung: Abgeordneter Hubertus Heil b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Den Missbrauch von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen - Drucksachen 15/919, 15/1126 Berichterstattung: Abgeordneter Hubertus Heil Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Redner der Kollege Hubertus Heil von der SPD-Fraktion.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten und über das wir abstimmen werden, macht den Weg frei für mehr Verbraucherschutz gegen den Missbrauch von 0900er- und 0190er-Nummern. Ich möchte nur ein Beispiel für den Missbrauch nennen. In einem Wohnhaus in Berlin, in dem zufälligerweise der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt wohnt, wurde ein Zettel in den Briefkasten einer älteren Nachbarin des Staatssekretärs geworfen, auf dem stand: Rufen Sie uns sofort an. Wir konnten Sie nicht antreffen. Es ist sehr dringend. - Darunter war eine 0190erNummer angegeben. Dies ist ein eklatanter Fall von Abzocke und Missbrauch dieser Mehrwertdienste, denen wir heute mit diesem Gesetz entgegenwirken werden. ({0}) Worum geht es? Es geht bei diesem Gesetz darum, einen fairen Interessenausgleich zwischen den Ansprüchen der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Schutz und dem Interesse der Mehrwertdienste - mehrheitlich handelt es sich bei diesen Diensten um seriöse Anbieter -, ihr Geschäftsmodell auch künftig zu betreiben, zu schaffen. Angesichts der Tatsache, dass es sich um einen Zweig der Telekommunikationsbranche handelt, der einen Umsatz von immerhin 1,5 Milliarden Euro erzielt und in dem weiteres Wachstum erwartet wird, ist das wirtschaftspolitisch geboten. Der Verbraucher und vor allem die Branche brauchen mehr Rechtssicherheit. Nach den Ausschussberatungen und Anhörungen liegt Ihnen ein Gesetz vor, mit dem wirksam gegen Einwählprogramme, so genannte Dialer, vorgegangen werden kann, die sich über Internetseiten automatisch auf den Rechner aufschalten. Wir werden nicht nur dafür sorgen, dass sich die Betreiber diese Dialer bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post zukünftig registrieren lassen müssen, sondern auch dafür - das sahen im Übrigen auch die Initiative des Bundesrates und der Antrag der Union vor -, dass diese Dialer auf eine Nummerngasse beschränkt werden. ({1}) Wir werden weiterhin dafür sorgen, dass die Abzocke im Internet durch das Aufschalten von Dialern - dies kann durch Anklicken eines Bildes geschehen, ohne dass es der Verbraucher bemerkt - zukünftig schwieriger wird und dass mehr Transparenz herrscht. Wir werden außerdem dafür sorgen, dass es bei 0900er- und 0190er-NumHubertus Heil mern zukünftig eine Preisobergrenze von 2 Euro pro Minute bzw. 30 Euro pro Einwahl geben wird. Wir werden die Anbieter darauf verpflichten, die Verbindung nach einer Stunde automatisch zu trennen. Wir wollen darüber hinaus klar machen - auch das gehört zur Transparenz -, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher ein Auskunftsrecht gegenüber der Regulierungsbehörde haben, um zu erfahren, wer sich hinter diesen Diensten befindet. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sollen Adressen von Unternehmen bekommen, die in Deutschland im Falle von Missbrauch haftbar gemacht werden können. Mit diesem Gesetz soll durch verschärfte Bußgeldvorschriften eine größere Abschreckung erzielt werden. Wir werden den Bußgeldkatalog dahin gehend verändern, dass die Regulierungsbehörde zukünftig eine Strafe bis zu 100 000 Euro und nicht wie bisher bis zu 20 000 Euro verhängen kann. Wir halten das für notwendig, um in diesem Bereich gegen den Mißbrauch vorzugehen. ({2}) - Von der FDP wurde gerade gerufen: zu wenig. Ich habe Ihren Entschließungsantrag gelesen, in dem Sie eine Obergrenze für das Bußgeld von 500 000 Euro vorschlagen. Es geht um die Verhältnismäßigkeit des Bußgeldes. Ich halte es für interessant, dass Liberale sehr harte Strafen vorschlagen, wenn es um das Eigentum geht. In anderen Bereichen des Rechts sollten Sie das auch einmal fordern. ({3}) Ich will noch darauf hinweisen, dass wir auch für eine Preisansage sorgen werden, die erfolgt, bevor ein Entgelt bezahlt werden muss, damit die Verbraucher wissen, auf was sie sich bei den Mehrwertdiensten einlassen. ({4}) Zum Schluss noch eine Bemerkung. In der Anhörung ist auch vonseiten der Opposition oft gefragt worden, warum wir diese Vorschriften nicht für alle Nummerngassen, sondern nur für 0900er- und 0190er-Nummern einführen. Den 0900er-Nummern gehört die Zukunft in diesem Bereich; die 0190er-Nummern werden in zwei Jahren auslaufen. Wir sehen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetzes die Gefahr, dass auf andere Nummerngassen ausgewichen und mit diesen Nummern dann Missbrauch getrieben werden kann. Wir müssen darauf - wir machen das in unserem Entschließungsantrag zur Berichterstattung deutlich - flexibel reagieren. Es geht allerdings nicht, dass wir die Regelung, die wir jetzt haben, pauschal allen Nummerngassen überstülpen und damit beispielsweise in Bezug auf 0137erNummern, die vor allen Dingen für Televoting bzw. TED-Umfragen - zum Beispiel im Rahmen der Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ - genutzt werden, Regelungen schaffen, die gar nicht greifen oder das Gewollte verhindern würden. Wenn es um Televoting geht, ist es nicht sinnvoll, Preisobergrenzen im Hinblick auf die Dauer des Anrufs festzulegen. Bei den 0137er-Nummern geht es nämlich nicht darum, dass die Leute besonders lange telefonieren, sondern darum, dass besonders viele Menschen anrufen. Insofern wäre es falsch, diese Regelung auf alle Anrufarten zu beziehen. Das betrifft übrigens auch andere Nummerngassen. Wir müssen allerdings einen Blick auf diese Dinge haben. Deshalb fordern wir in unserem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, im Rahmen eines Jahres, im Rahmen der großen TKG-Novelle, dann, wenn ein weiterer Missbrauch auftritt, dafür zu sorgen, dass dieser abgestellt werden kann. ({5}) Zum Schluss möchte ich feststellen: Wir schaffen heute mehr Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich möchte mich übrigens ganz herzlich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen bedanken. Ich finde, die Arbeit im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, Frau Dr. Krogmann, war insofern ein gutes Beispiel für das Parlament, als wir es geschafft haben, miteinander über die Sache zu diskutieren. Wenn wir den Unterausschuss Telekommunikation und Post hätten, hätten wir öfter das Vergnügen, so vorzugehen. ({6}) In einem großen Ausschuss ist es leider oft so, dass Fensterreden gehalten werden. Das ist leider so in einem Parlament. Wir sollten uns dieses beispielhafte Verfahren der Gesetzgebung vielleicht auch für die große TKGNovelle bewahren; ich würde mich darüber freuen. Dies ist kein Feld, bei dem es um linke oder rechte Ideologie geht, sondern um Vernünftiges oder Unvernünftiges. Wir beschließen heute ein vernünftiges Gesetz. Ich danke Ihnen, dass offensichtlich Sie alle in diesem Hause es heute mit unterstützen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Krogmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Heil, es ist schön, Sie so freudig darüber zu sehen, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute gemeinsam verabschieden. Auch wir als Opposition freuen uns. Wir freuen uns vor allem darüber, dass Sie fast alle Punkte unseres Antrages nachträglich in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben. ({0}) Wir freuen uns darüber, dass wir als konstruktive Opposition Ihnen so gute Ideen und Lösungen geliefert haben. ({1}) Eines dürfen wir nicht vergessen: Der Gesetzentwurf, den Sie, Herr Staatssekretär Staffelt, zuerst auf den Tisch gelegt haben, war absolut unzureichend, ({2}) um den Missbrauch in diesem Bereich zu bekämpfen. Alle Sachverständigen, Verbände, Diensteanbieter und Verbraucherschützer haben durch die Bank Ihren ursprünglichen Gesetzentwurf massiv kritisiert. Ich finde es positiv, Herr Kollege Heil, dass Sie sich nicht verschlossen haben, sondern unseren guten Argumenten gegenüber offen waren ({3}) und sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben. ({4}) Ich will einmal kurz deutlich machen, worum es heute geht: Mehrwertdiensterufnummern sind all diejenigen Nummern, mit denen man telefonisch oder über den PC schnell und einfach Dienstleistungen abfragen kann, zum Beispiel Beratungsdienste, den Wetterbericht, Rennergebnisse, Verbraucherschutzinformationen, Stauprognosen, also Dienste all dieser Art. Das Problem ist, dass es bei diesen Diensten seit längerem zu einem erheblichen Missbrauch im Rahmen dieser Nummern gekommen ist. Dadurch entsteht erstens ein erheblicher volkswirtschaftlicher Schaden. Die schwarzen Schafe unter den Mehrwertdiensteanbietern fügen gerade den seriösen Anbietern Schaden zu. Der Markt ist im Wachsen. Mit UMTS, mobilen Diensten und mobilem Internet wird dieser Markt in Zukunft noch größer werden. Zweitens entsteht ein erheblicher Schaden bei den Verbrauchern, die mit immer kreativeren Methoden immer übler und gnadenloser abgezockt werden, und zwar überall: im Festnetz, per Handy, per Fax und vor allem im Internet. Beispiel Handy: Ihr Handy klingelt nur einmal. Auf dem Display erscheint eine 0137er- oder 0190er-Nummer, oftmals getarnt durch eine Länderkennung, die davor steht. Wenn Sie nun arglos zurückrufen, kostet Sie dieser eine Anruf bis zu 3 Euro. Oder Sie bekommen eine SMS mit einem netten Text: Versuche seit Tagen, dich zu erreichen, ruf unbedingt sofort zurück! Wenn Sie auf die fünfstellige Kurzwahl antworten, kann Sie dieser eine Anruf rund 5 Euro kosten. Besonders dreist ist die Abzocke allerdings im Internet. ({5}) Mit einem falschen Klick zum Beispiel beim Schließen von Pop-ups auf der Bildschirmoberfläche oder beim Öffnen einer getarnten E-Mail installieren sich, ohne dass man es merkt, die Dialer oft von selbst. Das böse Erwachen kommt erst Wochen später mit der Telefonrechnung. Dann stellt man fest, dass man pro Einwahl sogar bis zu 1 000 Euro berappen muss. Diese Beispiele machen deutlich, dass wirklich dringender Handlungsbedarf besteht. Uns war es in den gesamten Beratungen wichtig, mit diesem Gesetz den schmalen Grat zu gehen, einerseits die Verbraucher vor Abzocke zu schützen, andererseits aber auch die seriösen Anbieter zu schützen, also nicht über das Ziel hinauszuschießen und die erfolgreichen Geschäftsmodelle kaputtzumachen. Deshalb waren uns vor allem vier Punkte wichtig, die Sie jetzt in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben: Erstens. Das Gesetz darf nicht auf die 0190er- oder 0900er-Rufnummerngassen beschränkt bleiben. ({6}) Dies wäre eine Einladung auf dem Silbertablett an alle Abzocker gewesen, einfach auf andere Rufnummern auszuweichen. Deshalb ist es gut, dass Sie unserem Vorschlag gefolgt sind und eine eigene Rufnummerngasse für Dialer geschaffen haben. Das reicht aber aus unserer Sicht für die nahe Zukunft noch nicht aus. Deshalb sollten wir - Kollege Heil, Sie haben es angesprochen - im Rahmen der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes unbedingt in diesem Bereich nachhaken, die Rufnummerngassen überprüfen und schauen, welcher Handlungsbedarf besteht, um die schwarzen Schafe herauszufiltern. ({7}) Der zweite Punkt, der uns am Herzen lag und jetzt in den Gesetzentwurf aufgenommen worden ist, betrifft die Auskunftspflicht für Zuteilungsnehmer. Für uns ist es enorm wichtig, dass jeder Bürger Auskunft über Name und Anschrift des Diensteanbieters einer 0190er-Nummer verlangen kann, damit zumindest die Transparenz gegeben ist, die der Verbraucher dringend braucht. ({8}) Hier haben Sie in unserem Sinne Ihren Gesetzentwurf nachgebessert. Es ist zu Präzisierungen gekommen, die gerade für die Netzbetreiber wichtig sind und den Unternehmen Klarheit bringen. Der dritte Punkt betrifft die Preisansage. Für uns ist wichtig, dass der Verbraucher bei jeder Internetverbindung, die durch einen Dialer hergestellt wird, online eine Information über den aktuellen Preis erhält und diese Information auch selbst durch Anklicken bestätigen muss. In der Vergangenheit ist es nämlich oft passiert, dass die Anbieter mit einem Lockangebot geworben haben, dieser Preis dann aber gar nicht mehr galt und die Preise exorbitant in die Höhe geschnellt sind. Auch dies wollten wir verhindern. Sie haben unserer Forderung im Nachhinein stattgegeben. Dafür vielen Dank, wunderbar! ({9}) Unser vierter Punkt, den Sie ebenfalls aufgenommen haben, betrifft die Zwangstrennung nach einer Stunde. ({10}) Vorher war in Ihrem Gesetzentwurf völlig unklar, wer diese Zwangstrennung überhaupt zu vollziehen hat. Jetzt haben Sie nachgebessert. Die Diensteanbieter sind - das war unser Vorschlag - im Gesetz. Auch das ist wunderbar. ({11}) Wichtig ist uns, dass das Gesetz jetzt schnell verabschiedet wird und dass wir im Rahmen der TKG-Novellierung über die einzelnen Punkte noch einmal sprechen, um hier dem dynamischen Markt gerecht zu werden. Damit Sie frohe Pfingsttage feiern können, sage ich zu Ihrer Beruhigung, liebe Kollegen: Wir werden diesen Gesetzgebungsprozess ebenfalls mit unseren guten Vorschlägen bereichern und Ihnen auch dann wieder mit besseren Lösungsvorschlägen zur Verfügung stehen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf ist tatsächlich ein großer Erfolg, meiner Meinung nach auch ein Erfolg der von dieser Bundesregierung wahrgenommenen Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz. Er ist ein Erfolg des Verbraucherschutzes insgesamt. ({0}) Wir freuen uns sehr, wenn der Bundesrat diesen Vorschlägen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes folgt. Auch der CDU/CSU bekommt die Oppositionsrolle sehr gut; denn sie orientiert sich immer stärker am Verbraucherschutz. Das ist ebenfalls ein Erfolg. ({1}) Heute ist übrigens das 25. Jubiläum des Blauen Engels. Weil wir gerade beim Thema Telekommunikation sind: Wir würden uns darüber freuen, wenn bald zum Beispiel das Label Blauer Engel für Handys etabliert würde, um den Verbraucher über die von ihnen ausgehende Strahlenbelastung zu informieren. Auf diesem Gebiet haben wir gemeinsam noch etwas zu tun. Der Missbrauch der so genannten Mehrwertdiensterufnummern führte zu eklatanten Missständen; sie sind bereits beschrieben worden. Man muss wirklich sagen, dass die daraus resultierenden Schädigungen der Wirtschaft und der Privathaushalte die Nutzung der seriösen Diensteanbieter geradezu blockierten. Das kann nicht sinnvoll sein. Eine solche Lizenz zum Gelddrucken, wie sie bestanden hat, ist nicht im Sinne des Erfinders und nicht im Sinne der Bundesregierung. Deswegen ist dies jetzt auch beendet worden. ({2}) Wir haben neue Instrumente geschaffen, so die Einführung der Preisangabepflicht, die Einführung einer Preisobergrenze - sie ist jetzt auf 2 Euro pro Minute bzw. 30 Euro bei Blocktarifen reduziert - und die Zwangstrennung. Zu ihnen zählt aber auch Folgendes: Wenn der Anbieter in Zukunft nicht vorher über den Preis informiert, bekommt er auch kein Geld. Die Beweislast liegt beim Anbieter. Mit einer Übergangsfrist von einem Jahr gilt diese Regelung auch für den Mobilfunk. Die FDP fordert, dass man diese Regelung unverzüglich auf den Mobilfunk zu übertragen habe, ({3}) aber ich meine, diese Übergangszeit für die Wirtschaft muss gewährt werden. ({4}) Auch ich konnte mich dieser Auffassung anschließen. ({5}) Ein neues Instrument besteht insbesondere darin, dass die Dialer registriert werden müssen und damit das Versteckspiel endlich vorüber ist. Die Registrierpflicht beinhaltet unter anderem die Versicherung, dass eine rechtswidrige Nutzung, zum Beispiel durch Täuschung über die Kosten, auszuschließen ist. Auch hier werden die Anbieter also ganz anders in die Pflicht genommen. Somit ist auch die Stärkung der Regulierungsbehörde in diesem Punkt zu begrüßen; denn sie schafft schlicht und ergreifend einen besseren Wettbewerb. Alles, was wir vorher hatten, bedeutete eine wettbewerbsverzerrende Wirkung, die für die Wirtschaft überhaupt nicht positiv war. Es wurde schon gesagt: Im parlamentarischen Verfahren haben wir sowohl im Änderungsantrag wie auch im Entschließungsantrag einige Erweiterungen vorgenommen, um der technischen Entwicklung sowie den Erfahrungen mit diesen Techniken und mit den Raffinessen der Anbieter Rechnung zu tragen. Auch hierzu stehen Entscheidungen noch bevor. Ich bin sehr froh, dass es zu einer Verständigung darüber gekommen ist, dass in Zukunft für möglichst alle Telefonmehrwertdienste, deren Preis zeitabhängig ist, eine Preisangabepflicht eingeführt wird. Es kann nicht sein, dass sie bei anderen Waren beispielsweise für jeden Lolli gilt, aber nicht für diese Art von Dienstleistungen. Ebenso halte ich es für sehr wichtig, dass bei Diensten, die über die Internetverbindungen abgerufen werden, ein aktiver Bestätigungsschritt vor deren Nutzung eingeführt wird. Auch ich habe Kinder im jugendlichen Alter und teile das Schicksal vieler Eltern, die horrende Telefonrechnungen bezahlen mussten, weil kein Erwachsener und erst recht nicht Jugendliche absehen können, in welche Angebote sie sich einwählen und welche Anbieter ihre Dienste über das Internet präsentieren. Insofern halte ich dies für einen bedeutenden Schritt im Sinne positiver Unterstützung, um die Privathaushalte vor ungewollten Gebühren zu bewahren und die Nutzung des Internets für Kinder und Jugendliche wieder möglich zu machen. Ebenso erachte ich es als gut, dass die Änderungen und die Zustimmung zum Gesetz im Ausschuss für Verbraucherschutz und in anderen Ausschüssen mit den Stimmen der CDU/CSU erfolgten. Daher gehe ich davon aus, dass es auch im Bundesrat möglich sein wird, dieses Gesetz möglichst zügig zu beschließen und die Schutzmaßnahmen anschließend so schnell wie möglich in Kraft treten zu lassen. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der FDP-Fraktion.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu hohe Telefonkosten, einseitige Beweislasten für Internetund Telefonnutzer, keine rechtliche Handhabe gegen betrügerische Firmen - das sind nur einige der Beschwerden zu den 0190er- oder 0900er-Nummern, wie sie in mehr als 150 Eingaben - ich sage hinzu: Es kommen täglich neue - an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vorgebracht werden. Wir sind sehr froh, dass endlich etwas passiert. ({0}) Auch wenn die FDP den Gesetzentwurf - das muss ich an dieser Stelle sagen - nicht für optimal hält, werden wir ihm zustimmen. Wir brauchen im Bereich der Mehrwertdiensterufnummern klare, verständliche und praktikable Regelungen. Mit den Wildwestmethoden auf dem Telekommunikationsmarkt muss Schluss sein. ({1}) Besonders irritiert mich, wie lange es gedauert hat, bis Rot-Grün bereit war, einer verbindlicheren Regelung mit einer Interventionspflicht der Regulierungsbehörde im Betrugsfall zuzustimmen. ({2}) Frau Höfken, die FDP hat von Anfang an darauf gedrängt, ({3}) den Verbraucherschutz nicht zu einer Ermessenssache der Regulierungsbehörde zu machen. Betrug kann nicht hingenommen werden, sondern muss geahndet werden. ({4}) Auch das vorgesehene Bußgeld in Höhe von 100 000 Euro - Herr Heil, im ursprünglichen Gesetzentwurf standen 50 000 Euro; Sie haben das jetzt aufgrund unseres Entschließungsantrages verdoppelt ({5}) ist immer noch ein Ausdruck rot-grüner Halbherzigkeit. Wir fordern nach wie vor eine Anhebung der Bußgelder im konkreten Betrugsfall auf bis zu 500 000 Euro. ({6}) Herr Heil, Betrug ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein Verbrechen. Wir wollen keinen Betrügerschutz, sondern Verbraucherschutz. ({7}) Einen ganz wesentlichen Aspekt, der ebenfalls in zahllosen Petitionen erwähnt wird, lässt der Gesetzentwurf völlig außer Acht: die massenhafte Belästigung der Internetnutzer mit Massenwerbesendungen, so genannten Spam-Mails. Die Petentinnen und Petenten beschweren sich, dass sie keine Möglichkeit haben, sich gegen diese Werbeflut zu wehren. Sie beschweren sich über Locksendungen, die per Fax, Mail oder SMS verschickt werden und die Empfänger auffordern, teure 0190erNummern anzuwählen. Die Verbraucher müssen das Recht und die Möglichkeit haben, sich vor dem elektronischen Informationsmüll zu schützen. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle haben ein Interesse daran, dass der massenhafte Betrug mit den so genannten Mehrwertdiensterufnummern eingedämmt wird. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, die Entwicklung in diesem Bereich genauestens zu verfolgen und dem Deutschen Bundestag Bericht zu erstatten. ({9}) Man kann nicht ein Gesetz machen und dann, Herr Tauss, ein Jahr wegschauen. Deshalb wollen wir, dass die Bundesregierung dem Bundestag nach sechs Monaten Bericht erstattet. Herr Heil, wir haben einen entsprechenden Entschließungsantrag in den Deutschen Bundestag eingebracht; Sie haben ihn erwähnt. Sie sollten ihm zustimmen, meine Damen und Herren von Rot-Grün ({10}) im Interesse der seriösen Unternehmen, im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse, im Interesse einer glaubwürdigen Verbraucherschutzpolitik. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer von der SPD-Fraktion. ({0})

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Sehn, auch mit Ihrem Entschließungsantrag können Sie die Defizite der FDP im Verbraucherschutz nicht wettmachen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wettbewerbssituation zwischen den Anbietern, die mit der Öffnung und Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes verbunden war, hat aus der Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher viele positive Ergebnisse mit sich gebracht, besonders bei den Preisen, die deutlich gesunken sind. ({1}) Doch Liberalisierung hat auch ihre Schattenseiten. Jetzt sollten Sie, Frau Sehn, genau zuhören: Wo ein freier Markt herrscht, gibt es auch Missbrauch. Telefonische Mehrwertdienste und Internetangebote werden zum Teil benutzt - wir haben dies hier in sehr eindrucksvollen Beispielen gehört -, um in betrügerischer Art und Weise bei vielen Telefon- und Internetnutzern abzukassieren. Dort ist großer materieller Schaden entstanden. Dem werden wir nun einen Riegel vorschieben. ({2}) Heute ist deshalb ein guter Tag für den Verbraucherschutz. ({3}) - Dazu sage ich gleich etwas. Ich wollte nämlich gerade sagen: Ich bin sehr erfreut darüber, dass es zu unseren Anträgen breite Zustimmung gibt, Frau Heinen. ({4}) Somit ist es möglich, gemeinsam und konstruktiv vernünftige Lösungen zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher zu finden. ({5}) An diesem Ergebnis haben in der Tat viele mitgewirkt: ({6}) die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf, die Sachverständigen mit ihrer Anhörung, auch die CDU, Frau Heinen, ({7}) der Bundesrat mit seinen Vorschlägen ({8}) und natürlich SPD und FDP, die Koalitionsfraktionen ({9}) Von der FDP habe ich in diesem Zusammenhang erst jetzt etwas Konstruktives vernommen. Das, was wir heute beschließen, stellt einen großen Schritt für den Verbraucherschutz auf dem Telekommunikationsmarkt dar. ({10}) Durch eine Reihe von Maßnahmen wird der Missbrauch der 0190er- und 0900er-Mehrwertdiensterufnummern effektiv bekämpft. Wir schützen die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie - auch das ist sehr wichtig - die seriösen Anbieter von Mehrwertdiensten auf diesem Markt. ({11}) Folgende Regelungen sind dabei wichtig: erstens der Aufbau einer für jeden auch über das Internet zugänglichen Datenbank von 0900er- und 0190er-Nummern und deren Anbietern. Wer sich hinter diesen Nummern verbirgt, wird endlich durchschaubar. Die Anbieter können sich dadurch in Zukunft nicht mehr verstecken. Zweitens. In der Werbung und vor der Nutzung dieser Nummern werden die Diensteanbieter zur präzisen Preisangabe verpflichtet. Drittens. Nunmehr wird es eine Preisobergrenze von 2 Euro pro Minute, bei Blocktarifen von 30 Euro geben. ({12}) - Das war Ihre Idee, Frau Heinen. ({13}) Deswegen habe ich ja auch gesagt: Sie haben konstruktiv mitgearbeitet. Das ist auch gut so. Viertens. Dialer werden in Zukunft bei der Regulierungsbehörde zu zertifizieren sein. Dann wird nur noch eine einzige Nummerngasse zur Verfügung stehen, die von den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Übrigen gesperrt werden kann. Das ist ein ganz wichtiger Schritt im Kampf gegen den Missbrauch in diesem Bereich. Der ist wirklich sehr groß. Fünftens. Der Regulierungsbehörde werden effektive Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen an die Hand gegeben. ({14}) Das Bußgeld wird auf 100 000 Euro festgesetzt. Das ist notwendig, aber auch ausreichend. Folgendes sage ich an die Adresse der FDP: ({15}) Ihr Antrag, auf grünem Papier geschrieben, ist - das muss ich leider sagen - flüssiger als flüssig. ({16}) Er ist in diesem Zusammenhang völlig überflüssig. ({17}) Die gesetzliche Regelung und die vorgelegten Anträge erfassen die aktuellen Missbrauchstatbestände. Nun kann man in der Tat fragen, warum wir nicht dem CDU-Vorschlag, diese Regelungen auch auf andere Nummerngassen - etwa auf 0137er- und 0192er Nummern - auszudehnen, gefolgt sind. Natürlich ist auf Dauer nicht völlig auszuschließen, dass es auch hier zu Missbrauchstatbeständen kommen kann. Deswegen haben wir ja unseren Entschließungsantrag vorgelegt. Aber hier liegt die Problematik anders. Denn jede Nummerngasse wird unterschiedlich genutzt. Daher muss auch jede Nummerngasse für sich gesondert betrachtet werden. ({18}) Wer beispielsweise an einem Televoting oder an einer Quizshow teilnimmt, wird nicht in der Leitung gehalten, sondern hinausgeworfen. Eine Entgelthöchstgrenze von 2 Euro oder das Abschalten nach einer Stunde wären hier ein völlig stumpfes Schwert. Dies würde nicht weiterhelfen. Mit unserem Entschließungsantrag gehen wir den richtigen Weg. Wir wissen, dass es auch in Zukunft Handlungsbedarf gibt. Deshalb sind die gesetzlichen Regelungen im Interesse des Verbraucherschutzes dynamisch weiterzuentwickeln. Unser Ziel ist und bleibt es, den Missbrauch zu bekämpfen, nicht die Mehrwertdienste. Ein fairer Interessenausgleich ist deshalb notwendig. Die CDU ist mit ihrem Antrag und ihren Forderungen an einigen Punkten deutlich über das Ziel hinaus geschossen. ({19}) Wer ein Inkassoverbot fordert, bekämpft nicht nur den Missbrauch, sondern auch die seriösen Anbieter von Mehrwertdienstleistungen. ({20}) Deshalb können und wollen wir diesen Vorschlägen nicht folgen. ({21}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem, was wir vorgelegt haben, dienen wir dem Verbraucherschutz in besonderer Weise, gleichzeitig aber auch der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem wichtigen Wirtschaftszweig. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen. ({0})

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist - da hatten meine Vorredner Recht - ein guter und wichtiger Tag für die Verbraucher, ({0}) weil wir heute endlich das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs bei Mehrwertdiensterufnummern verabschieden werden. Man könnte aber auch sagen: Was lange währt, wird endlich gut; denn es hat schon einige Zeit gedauert, bis die Regierung diesen Gesetzentwurf mit den entsprechenden und unbedingt notwendigen Änderungs- und Entschließungsanträgen vorgelegt hat. ({1}) Ich möchte hier festhalten: Es ist meiner Kollegin Martina Krogmann zu verdanken, die schon in der letzten Legislaturperiode dieses Thema immer wieder vorangetrieben hat, ({2}) dass wir heute ein vernünftiges Gesetz dazu verabschieden können. Von Ihnen gab es - das haben Sie, Herr Heil und Herr Zöllmer, indirekt zugegeben - nur Halbherziges. ({3}) Es hat einige Zeit gedauert, bis Sie wirklich zu den wesentlichen Änderungen gekommen sind. Wir werden heute diesem Gesetzentwurf mit all seinen Änderungsanträgen zustimmen. ({4}) Allerdings lässt der Entwurf zwei für uns ganz wesentliche Punkte offen; Martina Krogmann hat das vorhin angesprochen. Zum einen stellt sich die Frage, welche Nummerngassen von den vorgesehenen Regelungen überhaupt erfasst werden sollen. Wir wollen, dass sich das Gesetz nicht auf die 0190er- bzw. 0900er-Nummern konzentriert, sondern auch auf andere Nummerngassen erstreckt. ({5}) Ansonsten droht, dass der Missbrauch von den einen auf die anderen Nummerngassen verlagert wird. Für böswillige Diensteanbieter ist es geradezu eine Einladung und eine Aufforderung, ihr Spiel bei anderen Nummerngassen fortzusetzen. Das wollen wir unterbinden. ({6}) Aber immerhin: In Ihrem Entschließungsantrag geben Sie einen Prüfauftrag mit auf den Weg. Das ist der erste Schritt zur Erkenntnis. ({7}) Wir können nur hoffen, dass diesem ersten Schritt weitere Schritte bis zu einer vernünftigen und vollständigen Umsetzung folgen werden. ({8}) Der zweite Punkt, den wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf vermissen, ist das Inkassoverbot. Es ist mir als Verbraucherschützerin völlig unbegreiflich, warum Sie diese Regelung nicht aufgenommen haben, schließlich gehört sie für einen wirklich effektiven Schutz vor Missbrauch unbedingt dazu. Denn nach wie vor - auch nach dem vorliegenden Gesetzentwurf mit all seinen Änderungsanträgen - trägt der Verbraucher das generelle Prozessrisiko. Der Netzbetreiber bucht auch für die Diensteanbieter Forderungen beim Kunden ab, ganz gleich, ob sie berechtigt sind oder nicht. Wir wollen, dass schon dann das Prozessrisiko beim Diensteanbieter liegt und dieser, wenn die Forderungen unberechtigt sind, Einspruch erheben muss. Das wurde auch in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses so gesehen. Dort haben sowohl ein Einzelsachverständiger als auch die Verbraucherzentrale Bundesverband ein Inkassoverbot gefordert. ({9}) - Bitte. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eigentlich haben Sie Recht. Aber manchmal geht es auch ohne mich. ({0}) Bitte schön, Herr Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Heinen, es gibt auch in Ihrer Fraktion Wirtschaftspolitiker, die das mit dem Inkassoverbot etwas anders sehen. Aber nun zu meiner Frage: Geben Sie mir Recht, dass die Stellungnahmen eindeutig ergeben haben - auch ich war bei dieser Anhörung -, dass ein Inkassoverbot nichts anderes bewirken würde als eine Remonopolisierung in diesem Bereich? Zu Deutsch heißt das: Die Telekom hätte, weil man sich gegen eine solche Forderung nicht wehren kann, die Möglichkeit, auch weiterhin Inkasso durchzusetzen, andere Mehrwertdiensteanbieter aber nicht mehr. Ist die CDU für die Abschaffung des Wettbewerbs im Bereich der Mehrwertdienste?

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum ersten Teil Ihrer Frage. Die Verbraucherzentrale Bundesverband hat eindeutig ein Inkassoverbot gefordert. Ein Einzelsachverständiger, Herr Rechtsanwalt Härting, der nicht von uns, sondern von Ihnen benannt worden ist, hat gesagt: Solange der Missbrauch von Mehrwertdiensten nicht damit „bestraft“ wird, dass „schwarze Schafe“ ihre Gebühren nicht mehr beitreiben können, wird die Diskussion um unseriöse Praktiken nicht abreißen. Außerdem hat er gesagt, dass Regelungen, nach denen die Kunden Einwendungen gegen einzelne Rechnungsposten erheben können, nicht wirken, wenn es kein Inkassoverbot gibt. Um Ihre Frage nach dem Wettbewerb zu beantworten: Die Deutsche Telekom sagt aus Gründen der Kulanz beispielsweise zurzeit schon, dass sie die Forderungen der entsprechenden Diensteanbieter nicht eintreibt. Wir wollen, dass das bei den Netzbetreibern generell der Fall ist. Die Kunden werden seriöse Rechnungen ganz normal bezahlen und die unseriösen eben nicht. ({0}) Frau Sehn hat auf eine ganze Menge Fälle, bei denen genau dieses Problem auftrat, hingewiesen. Mit diesen musste sich der Petitionsausschuss befassen. Mit einem Inkassoverbot werden wir dieses Problem lösen. Auch wenn diese neu eingeführten Regelungen es den Verbrauchern etwas erleichtern sollen, möchten wir trotzdem noch einmal an Sie appellieren: Setzen Sie das Thema Inkassoverbot wieder auf die Tagesordnung, wenn Sie das alles in einem Jahr bzw. vielleicht schon in wenigen Wochen - das andere Problem mit den Nummerngassen ist ja noch nicht gelöst - noch einmal überprüfen müssen! Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Letztendlich haben Sie alle Punkte wunderbar beim Bundesrat abgeschrieben. ({1}) Dafür danken wir Ihnen ganz herzlich. Das geht ja bis in die kleinsten Formulierungen; das ist wirklich hervorragend. Ein Punkt taucht bei Ihnen aber leider nicht auf, nämlich der Short Message Service. Immer mehr Handynutzer erhalten diese Short Messages unaufgefordert. ({2}) Sie werden aufgefordert, teure Nummern anzurufen oder Short Messages zurückzuschicken. ({3}) Mein Patenkind musste 100 Euro Taschengeld an seine Eltern zahlen, weil es immer auf einen Short Message Service geantwortet hat. Man hat es eingeladen, an einem Chat teilzunehmen. Es ist gut erzogen und hat immer zurückgeschrieben, dass es nicht teilnehmen würde. Daraufhin musste es zahlen. Der Bundesrat empfiehlt, das Thema SMS aufzunehmen. Sie haben es bislang abgelehnt. Wir wünschen uns - so steht es auch in der Stellungnahme des Bundesrates -, dass auch Sie es noch einmal überprüfen und dass es auch von Ihrer Fraktion aufgegriffen wird. ({4}) Lassen Sie uns in den kommenden Wochen weiter über die angesprochenen Änderungen diskutieren. Eines ist aber sicher: Heute haben wir wirklich etwas für die Verbraucherinnen und Verbraucher erreicht. Es verdient unsere gemeinsame Anstrengung, dass wir auch in Zukunft weiter dafür arbeiten. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf den Drucksachen 15/907 und 15/1068. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1126, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen?- Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange- nommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Sie können sich erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt je- mand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig an- genommen worden. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1143. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ab- gelehnt worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Den Missbrauch von Mehrwertdienste- rufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 15/1126, den Antrag auf Drucksache 15/919 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1126 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? -- Gegenstimmen? - Gibt es Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit, soweit ich sehe, einstimmig angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Strukturpolitik zukunftsfähig gestalten - Drucksache 15/749 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2003 bis 2006 - Drucksache 15/861 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Finanzausschuss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Michael Stübgen.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Auslaufen der Agenda 2000 Ende 2006 steht die Europäische Union vor einer weit reichenden Reform ihrer Regionalstruktur- und Kohäsionspolitik. Schon Anfang Dezember dieses Jahres will die Europäische Kommission mit ihrem dritten Kohäsionsbericht ihre Leitlinien für die künftige Regionalförderung vorlegen. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns als deutsches Parlament mit der Frage der künftigen Strukturpolitik der Europäischen Union beschäftigen. Wir müssen zunächst einmal die aktuelle Strukturpolitik analysieren und Änderungsbedarf formulieren. Dabei werden wir es nach 2006 mit drei entscheidend veränderten Sachverhalten zu tun haben: Erstens. Wir werden dann wahrscheinlich zwölf Mitgliedsländer mehr in der Europäischen Union sein. Zweitens. Dies wird dazu führen, dass die finanziellen Ressourcen der Europäischen Union grundlegend geändert und angepasst werden müssen. Drittens. Wir haben es mit dem so genannten statistischen Effekt zu tun. Darauf komme ich später zurück. Die Beschäftigung des Deutschen Bundestages mit diesem Thema mit dem Ziel einer Beschlussfassung ist deshalb so entscheidend, weil die Bundesregierung in dieser wichtigen politischen Frage keine klare Position hat. Wirtschaftsminister Clement hat im Europaausschuss vor einigen Wochen erklärt, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass sämtliche deutsche Strukturfördergebiete in das so genannte Phasing out fallen. Er hat in diesem Zusammenhang aber eine nationale Kompensation zugesagt. Für Eichel ist das unmöglich, er lehnt dies ab. Der zuständige europäische Kommissar Barnier ist in Deutschland gewesen und hat die Bundesregierung um Unterstützung für sein Programm gebeten, für die betroffenen Strukturfördergebiete, die durch den so genannten statistischen Effekt ihre Förderung zu verlieren drohen, eine Anschlussregelung zu schaffen. Die Bundesregierung hat ihn abfahren lassen, ohne ihm Unterstützung zuzusagen. Die Bundesregierung hat in dieser wichtigen politischen Frage weder eine klare Position in den europäischen Räten noch gegenüber der Kommission. Wir verlieren Zeit. Dabei geht es um sehr viel Geld. Ich möchte kurz auf drei unserer Forderungen im Antrag eingehen. Erstens. Wir fordern mehr Spielraum für die Feinabgrenzung nationaler Fördergebiete. Es hat sich in der bisherigen Strukturpolitik gezeigt, dass die Abgrenzung von Fördergebieten nur nach den Bevölkerungsplafonds weder in Deutschland noch in vielen anderen europäischen Ländern die Möglichkeit offen lässt, gezielt und fein justiert zu fördern. Meine Heimat Lausitz zum Beispiel hat das Problem, dass es ein extrem strukturschwaches Gebiet ist. Da die Lausitz aber mit einem geringen Bevölkerungsplafond mit dem so genannten Speckgürtel Berlins zusammengerechnet werden muss, fällt die gesamte Region aus der Förderung heraus. Eine gezielte Förderung dieses strukturschwachen Gebietes ist nicht möglich. Es ist also wichtig, dass die Mitgliedsländer mehr Möglichkeiten haben, ihre Förderpolitik zu strukturieren. Das starre Festhalten am Bevölkerungsplafond muss aufgegeben werden. ({0}) Zweitens. Eine weitere notwendige Änderung bezieht sich auf den so genannten statistischen Effekt. Ab 2007 wird die Situation eintreten, dass nahezu alle Ziel-1-Fördergebiete in den neuen Ländern, wenn nicht sogar alle, aus der Strukturförderung herausfallen werden, und zwar nicht etwa, weil sie sich so gut entwickelt hätten und sie durch ihre Entwicklung aus der Fördernotwendigkeit herausfielen. Das wäre ja sehr positiv und jeder von uns würde das begrüßen. Nein, Sie fallen aus dieser Strukturförderung heraus, weil aufgrund des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Länder das Gesamtniveau des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland drastisch sinkt und damit diese Regionen statistisch über das so genannte 75-Prozent-Kriterium des Förderzuganges rutschen. Das heißt, es wird zwar nicht besser, sie bekommen aber nichts mehr. Es besteht hier die Gefahr, dass eine langjährige gezielte und gute Förderpolitik punktuell abbricht und dass die Entwicklung in diesen Regionen einen zusätzlichen Schlag bekommt. Deshalb fordern wir, dass es nicht einfach mit einem Phasing out getan ist. Diese Regionen sollen über einen Lauf von sieben Jahren langsam abgestuft werden, außerdem sollte aber angesichts der speziellen Situation, die nachvollziehbar ist, eine Anschlussregelung mit einem vielleicht etwas niedrigeren Niveau geschaffen werden, sodass Förderung auf hohen Niveau auf diesen Gebieten weiter möglich ist. Das betrifft im Wesentlichen Strukturfördergebiete in den neuen Ländern. Wie die wirtschaftliche Situation und die Arbeitsmarktsituation dort aussehen, brauche ich hier wohl nicht weiter auszuführen. Der dritte Punkt, der sehr wichtig ist, ist die Grenzlandförderung. Hier haben wir zum einem ein europäisches Programm zur Grenzgürtelförderung, das an sich sehr gut ist. Wir, die CDC/CSU-Fraktion, haben dieses Programm in diesem Haus auch schon mehrfach begrüßt. Alle Fördermaßnahmen, die in diesem Programm vorgesehen sind, sind vernünftig. Man könnte sich um Einzelpunkte streiten; insgesamt ist es ein sehr vernünftiges Programm. Es hat aber leider einen entscheidenden Haken: Die Fördermaßnahmen können nahezu nicht greifen, weil dieses Programm hoffnungslos unterfinanziert ist. Deshalb bleibt unsere Forderung an die Bundesregierung, die wir immer - auch in diesem Antrag - wiederholen müssen, weil bisher nichts verändert und nichts getan worden ist, dass dieses Grenzlandförderprogramm finanziell deutlich aufgestockt wird, sodass es seine Aufgaben erfüllen kann. ({1}) Des Weiteren ist es wichtig, dass gerade in den ehemaligen Außengrenzgebieten der Europäischen Union bei der Neuabgrenzung der GA-Fördergebiete ein zusätzlicher Regionalindikator hinsichtlich der Grenzlage zu den Beitrittsgebieten mit aufgenommen wird, sodass diese Gebiete in Zukunft eine bessere Chance haben, die für sie notwendige GA-Förderung zu bekommen und die zumindest vorübergehenden nachteiligen Auswirkungen der Erweiterung der Europäischen Union abzufedern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten diesen Antrag als Grundlage nehmen, in den Ausschüssen zielorientiert dieses wichtige Thema zu beraten, möglichst mit dem Ergebnis, ein klares, eindeutiges Votum des Bundestages zu erzielen; denn wir haben als Deutscher Bundestag nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, in Fragen der europäischen Rechtsetzung die Bundesregierung zu kontrollieren und Handlungsanweisungen zu geben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin fertig. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

So schnell hat man manchmal Erfolg. Danke schön. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Müller, SPD-Fraktion.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union wird in der Tat den regionalpolitischen Handlungsbedarf in Europa, besonders aber auch bei uns verstärken. In dieser Beurteilung der Situation liegen wir wohl ziemlich nahe beieinander. Wir gehen davon aus, dass Regionen betroffen sein werden, die schon heute wirtschaftlich schwach sind oder im Strukturwandel stehen. Hierzu gehören auch solche an den Außengrenzen der Beitrittsstaaten. Weitere Regionen, insbesondere im ländlichen Raum, könnten hinzukommen. Alle zusammen müssen sich schon jetzt auf den stärkeren Anpassungsdruck vorbereiten und sich für das erweiterte Europa fit machen. Zu dieser vorläufigen - zugegebenermaßen ziemlich ungenauen - Situationsbeschreibung gehört aber auch die Feststellung, dass ebendiese Regionen auf mittlere Sicht von den Vorteilen der Entwicklung profitieren können. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass dabei zunächst auch Risiken auftreten können. Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung in den Beitrittsverhandlungen eine siebenjährige Übergangsfrist hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern in bestimmten Dienstleistungen durchgesetzt. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung dabei, alle notwendigen Schritte gegenüber der EU zu unternehmen, um auch nach dem Auslaufen der gegenwärtigen Förderperiode Ende des Jahres 2006 strukturpolitisch handlungsfähig zu bleiben. ({0}) Die europäische Strukturpolitik als Ausdruck innergemeinschaftlicher Solidarität ist insgesamt von positiver Wirkung. Sie hat erheblich zur Verbesserung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts - besonders auch in den ostdeutschen Bundesländern - beigetragen. Dies muss auch nach der Erweiterung der EU gelten. ({1}) Der größte Teil der bedürftigsten Regionen wird in den neuen Mitgliedstaaten liegen. Die regionalen Entwicklungsunterschiede innerhalb der EU werden erheblich zunehmen. Auf dieses Problem wird sich die EU-Strukturpolitik konzentrieren müssen. Andererseits muss sich die europäische Strukturpolitik an finanziellen Zwängen ausrichten. Nettozahler wie wir dürfen nicht überfordert werden. Fördermaßnahmen für neue Mitglieder müssen deshalb weitestgehend durch Einsparungen in der alten Gemeinschaft finanziert werden. Dabei sind - das ist unabdingbar - vergleichbare Regionen gleich zu behandeln. Die Abgeordneten der Koalition teilen die Auffassung der Bundesregierung, dass sich die europäische Strukturpolitik künftig stärker am Prinzip der Subsidiarität und in Verbindung damit am Gedanken des europäischen Mehrwerts orientierten sollte. Regionalpolitischer Handlungsspielraum kann und muss dadurch wiedergewonnen werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, ich meine, wir begegnen uns in dieser Auffassung. Sie haben das in den Punkten 3 bis 5 Ihres Antrags ausformuliert; deshalb muss ich nicht näher darauf eingehen. Die Diskussion über die zukünftige Ausgestaltung der EU-Strukturpolitik hat längst begonnen und muss ohne Zweifel intensiviert werden. Die Kommission hat erste Vorschläge für den Herbst angekündigt. Wir begrüßen deshalb die Initiative des Bundeskanzlers, sich anhand des vorgelegten Eckpunktepapiers für die künftige EUStrukturpolitik mit den deutschen Bundesländern intensiv abzustimmen. ({2}) Christian Müller ({3}) Um allerdings eines deutlich hervorzuheben: Die notwendige Konzentration der EU-Strukturförderung auf die strukturschwächsten Regionen der EU hat eine zwingende Konsequenz. Die fortgeschrittenen Mitgliedstaaten - insbesondere diejenigen, die keine Ziel-1-Gebiete im Sinne der Strukturfondsförderung sind - müssen sich selbst um die Förderung ihrer strukturschwachen Regionen kümmern können. Wir brauchen eine eigenständige Regionalpolitik und benötigen dafür wieder mehr beihilferechtliche Handlungsspielräume als heute. Eine Reform der Beihilfenkontrolle der Kommission ist dringend geboten. Diese muss flexibler werden und in Richtung einer Missbrauchskontrolle entwickelt werden. ({4}) Die Kommission muss sich dabei auf Beihilfefälle konzentrieren, die EU-weit tatsächlich zu Wettbewerbsverzerrungen führen können. Wir können es nicht hinnehmen, dass die Kommission zeitgleich die EU-Strukturfondsförderung und die nationale Regionalförderung in den fortgeschritteneren Mitgliedstaaten wie Deutschland reduzieren will. Das haben wir hier schon mehrfach angesprochen und kritisiert. Es darf zu keiner massiven Einschränkung des regionalpolitischen Spielraums der Bundesländer ab 2007 kommen. Unser politisches Handeln ist erkennbar nicht auf eine Verschlechterung der Nettozahlerposition unseres Landes, sondern auf die Rückgewinnung nationaler Spielräume in der Strukturpolitik gerichtet. ({5}) Insofern unterscheiden wir uns von Ihrer Position, die Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben. Das gilt auch für das von Ihnen zum wiederholten Male geforderte Grenzgürtelprogramm. Die geforderte Mittelaufstockung des entsprechenden europäischen Programms kann unter dem Gesichtspunkt der Nettozahlerposition der Bundesrepublik Deutschland so nicht erfolgen. ({6}) Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ausführen. Ich habe an dieser Stelle schon mehrfach festgehalten, dass die GA von Bund und Ländern in den vergangenen Jahren zu einer wirksamen und zeitgemäßen Regionalförderung weiterentwickelt worden ist, die den Ländern weitgehende Eigenständigkeit und Flexibilität einräumt. Sie garantiert bei der Bekämpfung von regionalen Disparitäten in strukturschwachen Gebieten nachweislich eine Zielgenauigkeit, die von keinem anderen Förderinstrument erreicht wird. In der GA wird außerdem ein regionalpolitischer Konsens zwischen Bund und Ländern ermöglicht, der auch eine Voraussetzung für das hohe Förderniveau besonders in Ostdeutschland ist. Wir gehen davon aus, dass der Bund bei regionalen Fehlentwicklungen im gesamten Bundesgebiet handlungsfähig bleiben muss - wir würden es als Abgeordnete ganz besonders zu spüren bekommen, wenn dem nicht so wäre -, zumal er für regionale Strukturprobleme politisch immer mit in die Verantwortung genommen wird. Daher hat der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 27. Juni 2002 die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, wie die Gemeinschaftsaufgabe als unverzichtbares und regelgebundenes System und Koordinierungsrahmen einer gemeinsamen Regionalförderung von Bund und Ländern auch nach dem Jahr 2004 erhalten bleiben kann. Die Mittelausstattung der GA ist nicht nur eine Angelegenheit des Bundeshaushalts mit seinen bekannten Beschränkungen, sondern natürlich auch von einer Kofinanzierung durch die Länder, die in den letzten Jahren immer mehr an ihre Grenzen stieß, und von dem durch Brüssel genehmigten Fördergebiet abhängig. Dieser Gedanke weist deutlich über den von Ihnen beklagten Haushaltsrahmen der GA hinaus. Lassen Sie uns auch nach dem Meinungsaustausch in der heutigen Debatte einen konstruktiven Dialog über die künftige EU-Strukturpolitik führen. Die Beratungen über Ihren Antrag können dazu sicherlich beitragen. Ich sehe dieser Debatte mit großem Interesse entgegen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Gelder aus der EU-Regionalhilfe fast wirkungslos versickern. Deshalb ist auch auf diesem Gebiet ein Systemwandel notwendig. So müssen in der Finanzpolitik dringend neue Akzente gesetzt werden. Denkbar wäre zum Beispiel, künftig einen Teil der von der EU ausgereichten Mittel als Darlehen bzw. Kredite für öffentlichprivate Unternehmenspartnerschaften bereitzustellen. Das würde zu mehr Verantwortung und unternehmerischem Denken im Umgang mit den Geldern beitragen. Eine effizientere Finanzpolitik liegt im vitalen Interesse von Deutschland als dem mit Abstand größten Nettozahler. Sie ist aber auch deshalb notwendig, weil zu erwarten ist, dass künftig die für jedes einzelne Land zur Verfügung stehenden Mittel mit dem Beitritt von zehn relativ wirtschaftsschwachen Staaten deutlich knapper als derzeit sein werden. Aufgrund der extrem angespannten Haushaltslage in Deutschland ist es kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung der von EU-Regionalkommissar Barnier geforderten deutlichen Aufstockung des EU-Strukturfonds in der nächsten Finanzierungsperiode von 2007 bis 2013, die im Wesentlichen zulasten Deutschlands ginge, zustimmen kann und wird. Kommissar Barnier agiert in diesem Punkt nach dem Motto: Teile und herrsche. So jedenfalls empfinde ich das. Er weiß genau, dass die neuen Bundesländer nach der Erweiterung aus der Ziel-1-Förderung herausfallen und einen erheblichen Teil der ihnen jetzt zufließenden Fördermittel einbüßen würden. Er versucht daher, die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer auf die EUSeite zu ziehen. Sie sollen - ich glaube, sie haben das schon getan - Druck auf die Bundesregierung ausüben, damit Deutschland mehr in den Strukturfonds einzahlt. Dann, so Barnier, werde er dafür sorgen, dass die neuen Bundesländer weiterhin großzügig gefördert würden. Der Bund und die Länder dürfen sich aber in dieser Frage von der EU nicht auseinander dividieren lassen, sondern müssen gemeinsam nach einer Lösung suchen, die den besonderen Problemen Ostdeutschlands Rechnung trägt und Deutschland als Ganzes nicht über Gebühr zum Nachteil gerät. Davon, dass in der EU-Strukturpolitik einiges nicht rund läuft, zeugt unter anderem die Tatsache, dass viele Länder große Mühe haben, die bewilligten Hilfsmittel fristgerecht abzurufen, zu verbrauchen und eine ordnungsgemäße Schlussabrechnung dafür vorzulegen. So erhält Deutschland laut „FAZ“ vom 6. März 2003 2 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt 2002 zurück. 1 Milliarde Euro Agrarsubventionen sind verloren und 1 Milliarde Euro für Regionalpolitik - darüber sprechen wir ja jetzt - können auf andere Haushaltsjahre verlagert werden. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, das zu tun, zum Beispiel für die lebenswichtige LeiLa. Ich sage Ihnen, wer LeiLa ist. Das ist die Verbindung Leipzig-Lausitz. Herr Stübgen hat schon davon gesprochen, dass die Lausitz als Region abgehängt wird. Mit 1 Milliarde Euro kann man da sehr viel machen. Man kann zwei Wirtschaftsräume miteinander und mit der polnischen Grenze verbinden, wenn es nur um das Geld geht. Da kommen 1 Milliarde Euro zurück. Sie erfüllen so die Zielsetzung der GA - ich zitiere aus der Unterrichtung -, dass strukturschwache Regionen durch Ausgleich ihrer Standortnachteile Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung halten können. Außerdem bereiten Sie eine strukturschwache Grenzregion mit dreifacher Belastung - man muss das immer wieder einmal sagen: Anpassungsdruck, Strukturschwäche, EU-Erweiterung - so sinnvoll auf die EU-Erweiterung vor. Die EU-Gemeinschaftsaktion - das haben wir alle festgestellt - war ja nicht das Gelbe vom Ei. Eine Anpassung im Hinblick auf die Erweiterung spielte da kaum eine Rolle. Was die Gemeinschaftsaufgabe angeht, so hat die FDP ihre seit Jahren vertretene Meinung, dass die Mischfinanzierungen von Bund und Ländern zurückgeführt werden müssen, nicht geändert. Sie sind schlicht ineffizient, da keine klaren Verantwortlichkeiten für die Gelder bestehen. Aber wenn man schon Mischfinanzierungen macht, dann sollte man sich sorgfältiger als bisher überlegen, wo sie wirklich sinnvoll sind und wo nicht. So ist es beispielsweise nicht hinnehmbar, dass aufgrund der Finanzknappheit der Länder eine für die Osterweiterung wichtige Einrichtung wie die DeutschPolnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft eingeht. Wir brauchen sie noch. Sie hat in den vergangenen Jahren einen guten Beitrag geleistet und sie wird das auch nach der EU-Erweiterung noch tun müssen. Ich will damit nur sagen: Folgen Sie unserem Antrag, die DeutschPolnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft zu erhalten. Auch unser Antrag mit dem Titel „Bürokratieabbau flexible Anwendung von Bundesrecht in wirtschaftsschwachen Regionen“ - der Wirtschaftsminister hat Anfang des Jahres auch einmal davon gesprochen; das ist leider wieder vergessen worden - macht deutlich, wie sich die FDP-Fraktion eine ergebnisreichere Regionalpolitik vorstellen kann. Aber ein Fördertopf da und einer hier werden uns auf Dauer nicht wirklich weiterhelfen, sondern nur eine Rahmenpolitik, die wirtschaftliche Freiräume zulässt und damit Wirtschaftsentwicklung nachhaltig fördert. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder Steenblock.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner haben schon sehr deutlich auf den Reformbedarf in der EU-Strukturpolitik und die Herausforderungen, die sich insbesondere durch die EU-Osterweiterung für die Strukturpolitik stellen, hingewiesen. Dazu werde ich einiges sagen. Wir dürfen hier aber auch nicht den Eindruck erwecken, als wenn alles das, was wir in der Europäischen Union bisher an Strukturpolitik realisiert haben, nur negativ gewesen wäre, sondern sollten sehr deutlich auch auf die Erfolge der Strukturpolitik hinweisen. Man muss sich einmal angucken, was Strukturpolitik etwa in Irland oder in anderen peripheren Regionen wie Spanien, Portugal oder Griechenland geleistet hat. In Griechenland lag noch 1988 das Bruttoinlandsprodukt bei einem Niveau von nur 58 Prozent des EU-Durchschnitts. Das ist in den Jahren bis 2000 um fast 10 Prozentpunkte angehoben worden. Das macht sehr deutlich, dass das ein Politikansatz ist, der Solidarität in Europa und eine europäische Entwicklung in ökonomische Gleichgewichtszustände hinein sehr befördert hat. Ich glaube auch, dass diese Politik nicht nur auf quantitative, sondern auch auf qualitative Wachstumselemente ausgerichtet ist. Wir haben durch unsere aktive Arbeitsmarktpolitik die Teilhabegerechtigkeit gestärkt. Außerdem haben wir die Gleichstellung der Geschlechter sicherlich quantitativ und qualitativ nachhaltig gefördert, auch durch Strukturpolitik. Ich glaube, dass man insgesamt von einem erfolgreichen Projekt sprechen kann. Unsere Erfolge zeigen, wie wichtig es ist, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Aber natürlich gibt es einen Reformbedarf. Eines unserer drei zentralen Kriterien für diese Reform ist - der Kollege Türk hat gerade daRainder Steenblock rauf hingewiesen - die Erhöhung der Effektivität dieser Strukturfonds. Die Art und Weise, wie die Vergabeverfahren zum Teil ablaufen, und die Tatsache, dass sehr viele Geldmittel nicht ausgeschöpft werden können, haben auch etwas mit den bürokratischen Abläufen bei der Beantragung dieser Mittel zu tun. Es gilt, diese bürokratischen Abläufe zu verschlanken und die Effizienz der Verteilung der Mittel sicherzustellen. Das ist für uns ein ganz wichtiger Punkt. Der zweite für uns wichtige Punkt ist, dass Solidarität in Europa erhalten bleibt. Die Debatte über Nettozahlungen sollte sich unserer Meinung nach nicht allein darum drehen, wie viel Deutschland gibt und wie viel es erhält. Solidarität und wirtschaftliche Stärke beruhen auf anderen Prinzipien. In diesem Zusammenhang sollte man sich auch klar machen, dass die exportorientierte deutsche Wirtschaft vom europäischen Binnenmarkt sehr stark profitiert. Anders formuliert: Unsere Wirtschaft ist sehr stark auf den europäischen Binnenmarkt konzentriert; neun unserer größten Handelspartner gehören zum europäischen Raum. Das Geld, das in Strukturpolitik investiert wird und dazu dient, dass in den entsprechenden Regionen Nachfrage geschaffen wird, müssen wir im Grunde genommen als ökonomischen Gewinn für Deutschland werten. Deshalb ist eine Debatte über Nettozahlungen, die sich auf Soll und Haben beschränkt, natürlich ein bisschen verkürzt. Trotzdem spielt sie, was Vermittlung und Akzeptanz in der Bevölkerung angeht, politisch eine wichtige Rolle. Man muss sich einmal Folgendes vor Augen halten: Von 4 Euro für die Strukturpolitik fließen 3 Euro in die entsprechenden Regionen - das ist auch richtig so - und 1 Euro in Aufträge außerhalb der entsprechenden Region. Davon profitiert der deutsche Export natürlich ganz besonders. Daher sollte man die Kritik an der bisherigen Strukturpolitik relativieren. Solidarität hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass wir das Regionalprinzip - für mich ist es im Rahmen von Strukturpolitik zentral - beibehalten. Wir sollten die Bemessungsgrundlage - anders als es einige fordern nicht nach nationalstaatlichen Kriterien ausrichten. Vielmehr sollte es in diesem Bereich tatsächlich eine solidarische Politik geben. Unserer Ansicht nach sollte Förderungswürdigkeit an den Verhältnissen auf regionaler Ebene bemessen werden. Man muss - mein Kollege Stübgen hat das angesprochen - über die Kriterien für die Förderungswürdigkeit einer Region wirklich rational diskutieren, damit man keinen falschen Ansatz verfolgt, zum Beispiel indem man für verschiedene Regionen eine gemeinsame Bemessungsgrundlage anwendet, sodass sie im Weiteren ihre Förderungswürdigkeit verlieren, obwohl nach wie vor deutlicher Handlungsbedarf besteht. Ich wiederhole: Wir sollten über die Kriterien für Förderungswürdigkeit rational diskutieren. Aus meiner Sicht geht es aber nicht an, dass man in der Frage der Erweiterung Solidarität hintanstellt. Es kann nicht richtig sein, dass wir in Bezug auf die Vergabe von Mitteln aus den Strukturfonds andere Kriterien für die Förderung der europäischen Länder, die Mitglied der Europäischen Union werden, als für die bisherigen Zahlungsempfänger anwenden. Es gibt für uns keine Staaten und keine Regionen erster und zweiter Klasse. Es müssen auch in Zukunft dieselben Kriterien wie bisher gelten. ({0}) Auch das, was ich gerade beschrieben habe, gehört zur Solidarität. Gerade in den Ländern, mit deren Beitritt die Europäische Union erweitert wird, gibt es Befürchtungen, dass es in diesem Punkt keine Solidarität gibt. Das Gebot der Fairness erfordert - wir unterstützen das - eine Regelung - auch das ist schon angesprochen worden -, die den statistischen Effekt berücksichtigt. Diejenigen Regionen, die ohne die Erweiterung unter das 75-Prozent-Kriterium gefallen wären, die lediglich durch die erweiterungsbedingte Absenkung des Bruttoinlandsproduktes herausfallen, sind nur statistisch und nicht real reicher geworden. Deshalb brauchen wir in diesem Bereich gerechte Übergangsregelungen. Diese Regelungen können sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzen: degressive Förderung, geringe Pro-Kopf-Fördersätze, flexiblere Kofinanzierungen. Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass für diese Regionen nicht nur Phasing-out, sondern eine andere Förderungsstruktur bereitsteht. Ich denke dabei natürlich gerade an die neuen Bundesländer. Nach den neuen Zahlen, die mir vorliegen, sind es - ich muss fast sagen: leider - nicht wenige, sondern relativ viele Regionen, die auch weiterhin durch Strukturfonds gefördert werden müssen. Man kann diese ökonomische Entwicklung bedauern, aber ich glaube, dass so sehr viele ostdeutsche Regionen in dem Förderstrukturprogramm bleiben werden. Von den inhaltlichen Aspekten der Förderpolitik - lassen Sie mich das abschließend sagen - ist die weitere Förderung der Nachhaltigkeit für uns besonders wichtig. Die EU-Strategie zur nachhaltigen Entwicklung ist für uns im Rahmen der Strukturpolitik der zentrale Anker. In der Vergangenheit wurden unserer Meinung nach zu viele Projekte gefördert, die irreversible Umweltschäden verursacht haben. Deshalb fordern wir, dass die Qualität der Entwicklung von Regionen und nicht nur rein quantitativ ökonomisches Wachstum bei der Vergabe der Fördermittel in den Mittelpunkt gerückt wird. Regionale Entwicklungskonzepte müssen einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und soziale, ökonomische und ökologische Entwicklungsfaktoren in gleichberechtigter Weise berücksichtigen. Dieses Kriterium muss nach unserer Ansicht bei der Vergabe von Fördergeldern berücksichtigt werden. Abschließend will ich anmerken, dass die Beratung in den Ausschüssen konstruktiv sein wird, weil wir in vielen Punkten dicht beieinander sind. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Veronika Bellmann.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren Kollegen! Herr Steenblock, Sie haben Recht: Strukturpolitik hat viel Gutes getan. Wie unschwer zu hören ist, komme ich wie viele meiner Kollegen, die hier heute schon gesprochen haben, aus Sachsen, einem Bundesland, das die regionale Strukturpolitik der EU wegen seiner wirtschaftlichen Schwäche sehr dankbar angenommen hat. Die so genannte Ziel-1-Förderung hat in den ostdeutschen Ländern einen sehr hohen Stellenwert. Aus unserem Antrag will ich deshalb nur diesen Punkt herausgreifen. Am Ende der derzeitigen Förderperiode 2003 werden die Entwicklungsrückstände in Ostdeutschland nicht aufgeholt sein. Der Aufbau Ost ist durch eine verfehlte Politik leider zum Stillstand gekommen. Der Beweis dafür ist, dass das Bruttoinlandsprodukt von 1998 bis 2003 um durchschnittlich 2,3 Prozent gesunken ist. Das Anliegen der ostdeutschen Bundesländer ist, die Förderung für die Ziel-1-Gebiete auch nach der EU-Osterweiterung in der gleichen Höhe wie bisher zu erhalten. ({0}) In diese Förderkategorie kommen nur Regionen, deren Bruttoinlandsprodukt 75 Prozent des EU-Durchschnittswertes unterschreitet. Nach dem Beitritt der neuen EULänder übersteigen die meisten Ziel-1-Regionen Ostdeutschlands die 75-Prozent-Marke, ohne tatsächlich - das wurde hier schon des Öfteren angesprochen - an Wirtschaftskraft gewonnen zu haben. Es wird sozusagen reich gerechnet. Wer den Gradmesser der 75 Prozent überschreitet, bekommt im nächsten Förderzeitraum, also von 2007 bis 2013, nur noch die Hälfte der Förderung, das bedeutet, statt 20 Milliarden nur noch 10 Milliarden. Nach unseren Berechnungen würde das zu einem Verlust von 75 000 Arbeitsplätzen führen. Neuansiedlungen könnten nur noch mit 18 Prozent, statt bisher 35 Prozent der Investitionssumme gefördert werden. Dadurch würde die Schaffung neuer Arbeitsplätze enorm erschwert. Gleichzeitig entsteht vor der Haustür Ostdeutschlands eine Höchstförderzone, die noch dazu Lohnkostenvorteile von bis zu 70 Prozent bietet. Man kann an einer Hand abzählen, wo in Europa, was die Unternehmensansiedlungen betrifft, zukünftig die Post abgeht und wer ins Abseits gerät. Diese Perspektive steigert in Ostdeutschland nicht gerade die Euphorie für Europa im Allgemeinen und für die Osterweiterung im Besonderen. Deshalb muss mit regionaler Strukturpolitik gegengesteuert werden. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten, die CDU/CSUAbgeordneten des Europäischen Parlaments und des Deutschen Bundestages haben ihre Vorschläge zur künftigen Gestaltung der EU-Strukturpolitik vorgelegt. Selbst der Ausschuss der Regionen hat in seinen Leitlinien die besondere Situation der Gebiete nach dem Verlust des Ziel-1-Status berücksichtigt. Er schlug deshalb die Annahme der Obergrenze von 0,45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft als Grundlage für den Haushalt der Regionalpolitik nach 2006 vor. Der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier setzte noch eins drauf: Er sprach sich für eine neue Ziel-1-a-Förderung aus, die sehr nahe am jetzigen Volumen liegen müsse und für einen sehr langen Zeitraum gelten solle. Das schließt die bestehenden Spielräume für das für Investitionen so wichtige Beihilferecht über das Jahr 2006 hinaus mit ein. Nun könnte man damit glücklich und zufrieden sein, wenn dahinter auch noch eine befürwortende Stellungnahme der Bundesregierung stünde. Sie steht noch aus; wir können uns überraschen lassen, was wir dazu noch zu hören bekommen. Wir werden sicherlich auch im Ausschuss noch einiges miteinander zu diskutieren haben. Alle Reformbestrebungen von deutscher Seite werden daran zu messen sein, wie sie den Erfordernissen künftiger Regional- und Strukturpolitik in Ostdeutschland gerecht werden. Nach wie vor gilt der Merksatz - ich glaube, manche haben ihn sich noch nicht gehörig genug hinter die Ohren geschrieben -: Wenn Ostdeutschland nicht auf die Beine kommt, wird auch der Aufschwung in ganz Deutschland nicht gelingen. ({1}) Aber leider ist von Bundesminister Clement bisher nur unterschwellig eine Art Androhung - so habe ich es zumindest empfunden - zu hören, dass alle Deutschen wegen der EU-Hilfen und der damit verbundenen höheren Beitragszahlungen leiden werden. Die Ostdeutschen als Prellbock der Nation? Ich weiß nicht, ob das so gut ist. Der Bundesminister sagte wörtlich: Mit Leistungskürzungen, Steuererhöhungen für Verbraucher und Unternehmen, langsamerem Wirtschaftswachstum und - man höre und staune - mit einem schwachen Euro ist zu rechnen. Leistungskürzungen, Steuererhöhung und Nullwirtschaftswachstum gibt es seit dem Amtsantritt von RotGrün. Das der EU-Strukturpolitik ab 2007 in die Schuhe zu schieben ist absolut vermessen. ({2}) Wenn der Bundeswirtschaftsminister jetzt von einem schwachen Euro spricht, obwohl dieser sich seit spätestens März auf dem Höhenflug befindet, verschlägt einem das wirklich fast die Sprache. Man muss fragen: Wo lebt der Mann eigentlich? Vielleicht, Herr Staatssekretär Staffelt, fragen Sie ihn einmal, ob er noch im vergangenen Jahrhundert lebt. Unter diesen Umständen ist eine von Clement angesprochene nationale Kompensation für die Regionen, die den Ziel-1-Status verlieren, mehr als fraglich, man kann sogar sagen: verlogen. Aber die AnkündigungshäuVeronika Bellmann figkeit steht bei Herrn Clement bekanntlich immer im Quadrat zur eigentlichen Umsetzung. ({3}) Pascal hat gesagt: Man muss die Tugenden der Menschen nicht nach ihren außergewöhnlichen Ankündigungen beurteilen, sondern nach ihrem täglichen Benehmen. - Mit ihrem täglichen Benehmen ist die Bundesregierung noch immer nicht in der ostdeutschen Realität angekommen. Zeichen dafür: Die Solidarpaktmittel sind degressiv gestaltet, die Investitionszulagen werden gekürzt, die GA-Mittel werden gekürzt, die Infrastrukturmittel werden gekürzt, Mittel für den Verkehrswegebau in den Grenzregionen im Hinblick auf die EU-Osterweiterung sind praktisch nicht vorhanden. Stattdessen gibt es Programme, die im Osten nicht greifen: Jobfloater, den ich immer gern Jobflopper nenne, Hartz-Programm usw. Es ist traurig, aber wahr: Der Osten kann sich auf die Bundesregierung nicht verlassen, sonst ist er verlassen. Da gehen wir lieber zur EU. Das ist sicherlich nicht unbedingt der einfachere Weg, aber er verschafft uns Planungssicherheit und Kontinuität für einen Sechsjahresförderzeitraum mit einmaligem Verhandlungsaufwand. Bei der Bundesregierung hätten wir bei sechsmaligem Verhandlungsaufwand vielleicht nicht einmal ein Jahr Planungssicherheit. Heute so, morgen so, Politik nach Kassenlage und Belieben - das schafft kein Vertrauen. Es gibt ein schönes Bild: Ein Landwirt kann das Wachstum des Weizens nicht beschleunigen, wenn er einfach nur an den Halmen zieht. Ähnliches gilt für die EU-Strukturpolitik. Sie zu reformieren, die Osterweiterung zu finanzieren und nationale Regionen, die Hilfe brauchen, nicht aus dem Auge zu verlieren geht nicht ohne einen nennenswerten Beitrag, sowohl ideell als auch materiell. Darauf hinzuweisen ist der Sinn unseres Antrages. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gratuliere Ihnen, Frau Kollegin Bellmann, im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede. ({0}) Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch wenn Sie hier Ihre erste Rede gehalten haben, liebe Frau Kollegin, lege ich doch großen Wert darauf, dass Sie ein bisschen präziser mit dem umgehen, was Sie hier behaupten. Allein die Tatsache, dass wir in unseren nationalen Haushalt mehr als 2,3 Milliarden Euro für Verkehrsinvestitionen in den Grenzregionen eingestellt haben, und die Tatsache, dass dazu noch mehr als 2 Milliarden Euro aus der Europäischen Union kommen, sind Sachverhalte, die Sie hier völlig ausgeblendet haben. ({0}) Ähnliches gilt auch für die Anstrengungen, die sowohl von früheren Bundesregierungen als auch von dieser Bundesregierung unternommen worden sind, um gerade in Ostdeutschland dafür Sorge zu tragen, die wichtigen Zentren der Wirtschaft, so gut es eben geht, in ihrer Investitionstätigkeit zu unterstützen und das hohe Maß der Solidarität für Ostdeutschland, das es in Deutschland in den letzten zwölf Jahren gab, sehr kontinuierlich und ohne große Diskussionen fortzusetzen. ({1}) Sie sollten bei solchen Reden die Kirche im Dorf lassen. ({2}) Vor einem knappen Jahr hat der Deutsche Bundestag einen Antrag mit dem Titel „Die Gemeinschaftsaufgabe‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ als regelgebundenes Fördersystem erhalten“ angenommen. Es wurde gesagt, diese Gemeinschaftsaufgabe sei ein flexibler Handlungsrahmen für die regionale Wirtschaftsförderung der Länder, der die Gleichbehandlung von strukturschwachen Regionen im Standortwettbewerb sichere und einen unproduktiven Subventionswettlauf um überregionale Ansiedlungen verhindere. Die Bundesregierung wurde in dieser Entschließung des Bundestages vom 27. Juni 2002 insbesondere aufgefordert, zu prüfen, wie diese Gemeinschaftsaufgabe als unverzichtbares regelgebundenes System auch nach dem Jahr 2004 erhalten bleiben könne. Ferner sollte die Bundesregierung darauf hinwirken, dass Bund und Länder die Wirksamkeit ihrer strukturpolitischen Aktivitäten stärker und besser aufeinander abstimmen. Der 32. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ orientiert sich an dieser Entschließung des Deutschen Bundestages. Der 32. Rahmenplan wurde nach sorgfältiger Vorbereitung vom Bund-Länder-Planungsausschuss der Gemeinschaftsaufgabe unter Vorsitz von Bundesminister Clement am 24. April 2003 einstimmig verabschiedet. Der Planungsausschuss hat auch eine Orientierungsdiskussion über die zukünftige regionale Investitionsförderung in Deutschland geführt. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Föderalismusreform bestand im Planungsausschuss Einigkeit in der Frage, die Nutzung der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur über 2006 hinaus zu vertiefen, und zwar insbesondere mit Blick auf die Absicherung der Gemeinschaftsaufgabe Ost, auf die Sicherung eines nationalen regionalpolitischen Handlungsspielraums und auf eine noch größere Wirksamkeit und Flexibilität der Gemeinschaftsaufgabe. Ich erinnere daran - Sie waren zehn Jahre erfolgreich im Sächsischen Landtag tätig -, ({3}) dass auch die sächsische Staatsregierung hier mit am Tisch gesessen hat. Es sind also nicht irgendwelche rotgrünen Hirngespinste, wie Sie das zu nennen pflegen, sondern es sind tatsächlich wohlausgewogene Erörterungen der beteiligten Länder und der Bundesregierung. Damit ist bereits ein wesentlicher Teil des künftigen Arbeitsprogramms der Bund-Länder-Gremien der Gemeinschaftsaufgabe vorgezeichnet. Lassen Sie mich zur Erläuterung angesichts der knappen Zeit nur dies sagen: Der regionalpolitische Handlungsspielraum wird auch unserer Meinung nach bedauerlicherweise durch die Europäische Union immer stärker eingeschränkt. Verlautbarungen aus Brüssel lassen weitere Einschränkungen befürchten. Die EU-Kommission erwägt nach der Osterweiterung parallele Reduzierungen der EU-Regionalförderung und der nationalen Regionalförderung in Deutschland. Der Planungsausschuss hatte daher einen ausreichenden Spielraum der Mitgliedstaaten der EU zur eigenständigen Lösung ihrer Regionalprobleme gefordert. ({4}) Ich denke, das ist sehr wichtig. Es ist schade, dass Sie mir nicht mehr zuhören, Frau Kollegin. Sie scheinen an Informationen nicht interessiert zu sein, sonst hätten Sie wissen müssen, dass Herr Clement mit Sicherheit nicht davon gesprochen hat, dass der Euro im Moment in einer schwachen Phase ist. Das muss ein Missverständnis sein. ({5}) - Es mag ein Versprecher sein. Niemand glaubt, dass er das wirklich gesagt hat. Zeigen Sie es mir einmal. Eine solche Politik sollte man nicht machen. Das ist eher unseriös. ({6}) Im vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird deshalb ebenfalls - das begrüßen wir - auf eine Rückgewinnung regionalpolitischer Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten abgezielt, wobei Sie dieses Ziel durch eine Reform der europäischen Strukturpolitik erreichen wollen. Unklar bleibt in Ihrem Antrag die Rolle der Beihilfekontrolle der EU-Kommission, für die in erster Linie eine „effizientere Gestaltung“ gefordert wird. Ich möchte einen Schritt weitergehen und die Forderung erheben, dass die Beihilfekontrolle der EU-Kommission den Mitgliedstaaten einen ausreichenden regionalpolitischen Handlungsspielraum belässt. Zur EU-Strukturpolitik wird im Unionsantrag zu Recht eine Zurückdrängung des Zentralismus gefordert. Mich irritiert allerdings die Forderung, diejenigen Regionen, die wegen des beitrittsbedingt sinkenden EU-Bruttoinlandsproduktdurchschnitts nach 2006 aus der Ziel-1Kategorie herausfallen würden, in der kommenden Förderperiode gleichwohl weiterhin wie ein Ziel-1-Gebiet behandeln zu wollen. Die Bundesregierung lehnt eine solche Sonderbehandlung aus verschiedenen Gründen ab. Dazu gehört vor allem, dass wir mit unserer Forderung nach einer Konzentration der EU-Regionalförderung auf die Ziel-1-Regionen auch die Forderung nach einer strikten Anwendung des 75-Prozent-Kriteriums verbinden. Ich sage das ganz ausdrücklich auch im Hinblick auf die erweiterte Union und die Entwicklungen in den Beitrittsländern, die zum Teil nicht die allerschlechtesten sind. ({7}) Um erreichte Fördererfolge in den aus der Förderung herausfallenden Ziel-1-Regionen nicht zu gefährden, setzen wir uns sodann für Übergangsregelungen im Rahmen eines generellen, fairen Phasing-out, wie es neudeutsch so schön heißt, also im Rahmen eines so genannten Hinausgleitens, ein. Wie dies konkret aussieht, steht heute noch nicht fest. Dies wird abzustimmen sein. Hier befinden wir uns wiederum mit den Bundesländern in einem engen Dialog. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es für seriöse Aussagen, inwieweit die neuen Länder den Ziel-1-Status überhaupt verlieren, zu früh ist. Entscheidend dafür werden die wirtschaftlichen Daten der Jahre 2001 bis 2003 sein, sodass wir feststellen müssen, dass hier erst einmal evaluiert werden muss. Nach dieser Evaluierung wird sich am Ende darstellen lassen, wie die konkrete Situation in Bezug auf diese Länder aussehen wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Staffelt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Bitte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, schon heute kennt man die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern. Die können Sie beschreiben; das haben Sie bereits heute und gestern in der Fragestunde getan. Sie wissen demzufolge auch, welche Anstrengungen in den kommenden Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Situation nötig sind. Deswegen die Frage: Können Sie uns zum einen erklären, ob aus Ihrer Sicht das finanzielle Volumen von ungefähr 20 Milliarden Euro, das in den Jahren 2006 bis 2014 gezahlt würde, nötig ist? Wenn Sie nicht wollen, dass dieses Geld auf dem Weg über die Europäische Union zur Verfügung gestellt wird, wie wollen Sie dann zum anderen diese Mittel bereitstellen, die für den Aufbau Ost nötig sind, um die Erfolge, von denen Sie gesprochen haben, und die Solidarität, die dem zugrunde liegt, nicht zu gefährden?

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Abgeordneter, ich will Ihnen zum Ersten sagen, dass Sie nicht nur über ein Ziel-1-Gebiet in Deutschland sprechen dürfen. Sie müssen vielmehr sehen, was eine solche Förderung für die gesamte Europäische Union bedeutet. Das heißt, Sie würden eines tun: Sie würden die 25-Prozent-Linie in entsprechender Weise aufstocken. Zusätzlich zu den Gebieten, die jetzt im Rahmen der EU-Beitrittsstaaten zu fördern sind, würden weitere Gebiete in Europa in die Förderung einbezogen. Dies ist finanziell nicht durchzuhalten. ({0}) Zum Zweiten sage ich Ihnen, dass sich die neuen Bundesländer gemeinsam mit der Bundesregierung auf nationaler Ebene überlegen müssen, welche Fördermöglichkeiten und -notwendigkeiten es gibt. Wenn Sie sich daran erinnern, über wie viele Jahrzehnte hinweg es in den alten Ländern Fördertatbestände gegeben hat - ich nenne nur die Zonenrandförderung und die Berlin-Förderung -, dann müssten Sie sich in diesem Bereich auch die Frage der Evaluierung stellen. Deswegen sind wir im Dialog mit den Regierungen der neuen Bundesländer. Ich bin sicher, dass wir eine gute Lösung für die neuen Bundesländer finden werden. Meine Damen und Herren, ich hätte gern noch ein Wort zu den Grenzregionen gesagt, aber meine Zeit läuft ab. ({1}) - Das sind die Spitzfindigkeiten, nachdem sich das Gewitter verzogen hat. Ich verweise nur auf eines: Die Grenzregionen schlagen vor, dass es einen Gürtel von Förderregionen an den ehemaligen Außengrenzen geben soll. Hier gibt es überhaupt nur zwei Arbeitsamtsbezirke in Bayern, die nicht als Fördergebiete ausgewiesen sind. Von daher erscheint ein solcher Ansatz nicht sehr hilfreich zu sein. Erlauben Sie mir bitte noch eine letzte Bemerkung, da Sie hier das Thema EU-Osterweiterung mit der Formel angesprochen haben, Sie wüssten schon, wohin die Investitionen gingen. Von allen Volkswirten, wirtschaftswissenschaftlichen Instituten und Analysten wird bestätigt, dass die Bundesrepublik Deutschland von der EUOsterweiterung erheblich profitieren wird. Ich gebe Ihnen Recht, dass sich die Frage stellt, ob alle Regionen in Deutschland davon profitieren werden. Dass die grenznahen Regionen besondere Probleme haben, steht ganz außer Frage. Allerdings geht es hier nicht nur um Förderung, sondern auch darum, dass sich dort etwas bewegt und die Dienstleister aufwachen, sich orientieren und in Kooperationen mit den Unternehmen auf der anderen Seite der Grenze einwilligen. Darum werbe ich gemeinsam mit den Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern für noch mehr Bewegung und unternehmerische Initiativen. Nur das wird am Ende helfen, nicht aber der Aufbau neuer Subventionstatbestände und neuer Grenzen und Mauern. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, ich gebe Ihnen Recht: Die EUOsterweiterung wird für uns ebenfalls einen großen Vorteil bringen. Auch ich bin davon überzeugt, dass die Osterweiterung den Grenzregionen auf Dauer Vorteile bringen wird. Entscheidend ist aber, dass wir diesen Prozess aktiv gestalten und miteinander Akzente setzen. Hierzu sind die Politik, die Wirtschaft und die Kammern aufgerufen. Wir brauchen für die Grenzregionen eine konzertierte Aktion. ({0}) Aber wissen Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, was uns in der Strukturpolitik zurzeit am meisten Schwierigkeiten bereitet? - Die fatale Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Die strukturschwachen Gebiete leiden in ganz besonderem Maße unter der verkehrten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik von Rot-Grün. ({1}) Wir sind uns in diesem Hause sicherlich darüber einig, dass Strukturpolitik in den letzten Jahren erfolgreich und richtig war und auch in Zukunft notwendig sein wird. Dabei muss uns aber vor allen Dingen im Hinblick auf die Erweiterung und Einigung Europas bewusst sein, dass wir die Strukturpolitik auf allen Ebenen reformieren müssen: die europäische Strukturpolitik, die nationale Strukturpolitik und vor allen Dingen das Zusammenwirken beider Politiken. Ich teile die Auffassung meiner Vorredner, dass ein wesentliches Element der europäischen Strukturreform eine Rückgewinnung nationaler Handlungsspielräume sein muss. Wir spüren bei der Gemeinschaftsaufgabe, was uns Brüssel alles vorschreibt. In der letzten Förderperiode haben wir nicht einmal eine Abgrenzung der Fördergebiete von Brüssel genehmigt bekommen. Nicht einmal mit der Klage, Herr Kollege Müller, die wir gemeinsam vorgeschlagen und angestrebt haben, sind wir durchgekommen. Die europäische Strukturpolitik wird also nur dann Erfolg haben, wenn auch größere nationale Spielräume eine Chance haben. Das müssen wir in diesen Wochen und Monaten erkämpfen, insbesondere im Hinblick auf die Verabschiedung einer europäischen Verfassung. ({2}) Leider Gottes - ich sage dies sehr klar und deutlich - ist in dem jetzigen Entwurf, soweit er uns vorliegt, im Grunde genommen nur eine Festschreibung der bisherigen Verträge enthalten. Wir müssen uns also verstärkt Gedanken darüber machen, was wir in Bezug auf die Strukturpolitik in die europäische Verfassung einbringen werden. Ich bin der festen Überzeugung und unterstreiche dies: Wir brauchen auch in Zukunft eine europäische Strukturpolitik. Ich komme zu ein paar Anmerkungen zur GA und insbesondere zur Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der zweiunddreißigste Rahmenplan zeigt auf, dass diese GA auch in den letzten Jahren erfolgreiche Ansätze verzeichnete. Aber es gibt natürlich auch Probleme, Herr Staatssekretär, zu denen Sie nichts gesagt haben. Die finanzielle Ausstattung der GA ist selbstverständlich nicht befriedigend. In Bezug auf die Grenzregionen können Sie zwar sagen, dass alle bis auf zwei Landkreise über die GA „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ gefördert werden. Es steht jedoch fest, dass wir zum Beispiel die Höchstsätze nicht ausschöpfen können, weil die finanziellen Voraussetzungen dafür fehlen. Wir müssen uns also insbesondere hinsichtlich der nächsten Jahre hierüber Gedanken machen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir, noch ein paar Sätze zu den Grenzregionen zu sagen. Herr Kollege Müller, auch Sie haben die Idee von sich gewiesen, Grenzregionen zu fördern. Wir werden hier durch den Herrn Bundeskanzler beschützt. Er hat in Weiden etwas gesagt, das ich mit Genehmigung des Herrn Präsidenten wörtlich zitieren darf. Ich habe die Rede sogar dabei. Das ist die einzige Rede eines SPDMannes, die ich ständig bei mir trage. ({3}) - Ich habe einige dabei, aber von der SPD nur diese vom Herrn Bundeskanzler in Weiden. - Bundeskanzler Schröder hat dort „ein vernünftiges, auch materiell unterlegtes Programm der Förderung der Grenzregionen“ versprochen. Ich stelle hier ganz bescheiden fest, dass dies eines der vielen Versprechen von Herrn Schröder ist, die er nicht gehalten hat. ({4}) Dies müssten wir einfordern, aber nicht nur deshalb, Herr Staatssekretär, weil es der Herr Bundeskanzler versprochen hat. Ich bitte auch die besondere Situation in den Grenzregionen zu berücksichtigen. Das Lohngefälle, das Wirtschaftsgefälle und das Strukturgefälle sind weder anderswo in Europa noch weltweit so rapide wie zwischen den Grenzregionen und den angrenzenden Beitrittsländern. Hinzu kommt natürlich ein gewaltiges Fördergefälle. Darin besteht unser Problem. Deswegen bitte ich, diesen Gedanken nicht von sich zu weisen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir noch eine Schlussbemerkung. Wir sollten diesen Antrag, über dessen einen oder anderen Punkt sicherlich Diskussionsbedarf besteht, beraten. Hinsichtlich des Themenbereiches Strukturpolitik sind wir bereit, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln - im Hinblick auf Europa und im Hinblick auf die nationale Entwicklung und die Osterweiterung. Wir sollten jetzt Konzepte vorlegen, weil in Europa die Weichen gestellt werden und die Osterweiterung neue Aufgaben und Ziele hervorbringt. Gehen wir in diesem Sinne den Weg gemeinsam an! Die Strukturpolitik ist notwendig. Wir sollten es miteinander schaffen, weil Europa dadurch wirklich positiv gestaltet wird. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/749 und 15/861 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwin Marschewski ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter - Drucksache 15/924 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Martin Hohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Martin Hohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieses Land ist stark geworden und wird stark bleiben, wenn es im Innern gerecht zugeht. Das sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 6. August 2002. ({0}) Ob es gerecht zugeht, darüber kann man grübeln und Bücher schreiben. Wir als Politiker sollen nach Sehen und Beurteilen handeln. Zu den wichtigsten Leitbegriffen beim Handeln gehört in der Tat Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit“ war auch bei der Rede von Gerhard Schröder als SPD-Vorsitzendem zum 140-jährigen Jubiläum der SPD ein häufig gebrauchtes Wort. ({1}) - Es ist ausreichend berichtet worden. - Ich darf einige Zitate bringen: Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit - diese Grundwerte von damals sind unsere Werte von heute. Daran wird sich nichts ändern. Oder: Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit - das sind für uns keine statischen Begriffe. Alle drei sind Voraussetzung für einander und stehen in Beziehung zueinander. Oder: Wir sagen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit und ohne Freiheit keine Solidarität. Ich komme zu den Grünen. Fast zur gleichen Zeit, im Mai 2003, fasste der Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen einen Beschluss für die Bundesdelegiertenkonferenz in Cottbus. Auch darin war die Gerechtigkeit ein häufiger Gast. Sie trat als einfache Gerechtigkeit, als Geschlechtergerechtigkeit und als internationale Gerechtigkeit auf. ({2}) Weil Rot und Grün die Gerechtigkeit so herausstellen, schöpfen wir Hoffnung. Wir haben neue Zuversicht, mit unserem Antrag zur Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter gemeinsam voranzukommen. Denn Gerechtigkeit verlangt im Kern: gleiches Leid, gleiche Entschädigung. Menschenrechte sind unteilbar. ({3}) Was wollen wir mit unserem Antrag erreichen? Gerechtigkeit. Im Einzelnen möchten wir die Bundesregierung auffordern, „einen Gesetzentwurf zu erarbeiten und … vorzulegen, der eine humanitäre Geste für Personen vorsieht, die als Zivilpersonen aufgrund ihrer deutschen Staats- oder Volkszugehörigkeit durch fremde Staatsgewalt während des Zweiten Weltkrieges und danach“ Zwangsarbeit leisten mussten. Wir bitten für die deutschen Opfer von Zwangsarbeit um „eine Einmalzahlung, vergleichbar der für die NS-Zwangsarbeiter geschaffenen Regelung“. Wir ersuchen die Bundesregierung, „die Anzahl der nach einem solchen Gesetz Antragsberechtigten zu ermitteln“, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erstellen und die finanzielle Ausstattung des Fonds zu regeln. Bei alledem ist zu bedenken, dass die Opfer von Zwangsarbeit sich in einem sehr fortgeschrittenen Alter befinden. Die Zeit drängt. Eine schnelle Regelung ist nötig. Um eine Regelung auch für deutsche Zwangsarbeiter bemüht sich die Union im Bundestag seit Schaffung der NS-Zwangsarbeiter-Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Im Einzelnen sind hier Fragen und Initiativen von verschiedenen Unionsabgeordneten zu nennen. Bisher haben wir von Ihnen leider nur abschlägige Antworten erhalten. Dennoch resignieren wir nicht. Wir haben einen langen Atem. Wir kämpfen für eine gerechte Sache und wir wissen, dass wir heute in einer anderen Situation sind. Warum? Die Einschätzung und Bewertung der deutschen Heimatvertriebenen unterlag nach dem Krieg starken Schwankungen. Während zunächst alle Parteien den Vertriebenen und Flüchtlingen ein Rückkehrrecht quasi selbstverständlich einräumten, weil man sich eine endgültige Vertreibung von 15 Millionen Menschen nicht vorstellen konnte, gab es seit der Ostpolitik von Willy Brandt Dissonanzen. Die Anerkennung der machtpolitisch geschaffenen Fakten nahm den Heimatvertriebenen letzte vage Hoffnungen. ({4}) Damit standen die Heimatvertriebenen und die so genannten fortschrittlichen und linken Kräfte, mit ihnen die SPD, seit den 70er-Jahren eher unversöhnlich in verschiedenen politischen Lagern. Ausgrenzungen und Abgrenzungen verschärften den Streit ebenso wie die nationale Ich-Schwäche, die besonders von der neu aufgekommenen Partei der Grünen hingebungsvoll gepflegt wurde. ({5}) So waren noch im Mai 1990 Claudia Roth und Angelika Beer als Demonstrantinnen hinter einem Transparent ({6}) - hören Sie bitte zu - mit der Aufschrift „Nie wieder Deutschland!“ zu finden. Das hat sie nicht gehindert, zur gleichen Zeit als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ({7}) das nicht unbeträchtliche Bundestagssalär zu beziehen. ({8}) Gerade bei den Grünen - heute: Bündnis 90/Die Grünen - wurde lange ein lieb gewordenes Bild gepflegt: die Gleichsetzung der Vertriebenen mit dem äußerst rechten Spektrum der Politik, mit Revanchisten und Chauvinisten. Zwar hat es vereinzelte schrille Stimmen aus dem Bereich der Vertriebenen gegeben. Mit übergroßer Mehrheit gehörten die Vertriebenen jedoch von Anfang an zu dem wertvollen und tatkräftigen Aufbaupotenzial unseres demokratischen Staates. Nicht zu vergessen ist insbesondere die Charta der Vertriebenen. Mit ihr verzichteten die Vetrieben bereits im April 1950 auf Revanche und Gewalt und verpflichteten sich, am Aufbau eines friedlichen Europas mitzuwirken. Die Grünen sollten daher ihr fortwirkendes Negativbild und ihr altes Feindbild ablegen. Erst recht muss mit der Unterstellung Schluss sein, dass, wer an das Elend der Vertreibung erinnere, den Holocaust verharmlose. ({9}) Neue Hoffnung gibt hier - ich sage viel Gutes über ihn - Innenminister Otto Schily. Er hat sich, das sei dankbar angemerkt, mehrfach mit Offenheit und Sensibilität dem Schicksal unserer Vertriebenen zugewandt. Meine Damen und Herren, wenn ich zuvor gesagt habe, wir seien heute in einer neuen Situation, so bezieht sich das auf eine neue öffentliche Wahrnehmung des Vertreibungsschicksals. Lassen Sie mich stellvertretend drei Namen nennen: Professor Dr. Guido Knopp ist es gelungen, besonders mit seinen Fernsehbeiträgen zur deutschen Zeitgeschichte, neues Interesse für die Zeit des Zweiten Weltkrieges, seine Täter und seine Opfer zu wecken. Dr. Jörg Friedrich hat mit seinem Buch „Der Brand“ erstmals die Perspektive der mehr als 600 000 zivilen Opfer des Bombenkrieges in den Mittelpunkt gerückt. Schließlich hat die Novelle „Im Krebsgang“ des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass den Untergang des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ thematisiert. Damit lebten die deutschen Schicksale aus der Schreckenszeit des ausgehenden Krieges wieder auf. Vielen wurde klar, dass ein Verschleppungsschicksal jeden treffen konnte, der sich im sowjetischen Machtbereich aufhielt. Um die Sollzahlen an Arbeitssklaven für die Lager des Gulag zu erfüllen, wurde der 12-jährige Junge aus Breslau ebenso eingefangen wie die 17-jährige Oberschülerin aus der S-Bahn in Berlin-Mahlsdorf. Diese neue Betroffenheit ist messbar. Sie ist demoskopisch erfasst worden. Vor zwei Monaten hat das Emnid-Institut auf die Frage, ob auch deutsche Zivilisten, die Zwangsarbeit leisten mussten, eine Entschädigung oder eine Geste der Wiedergutmachung erhalten sollten, eine Zustimmung von 80 Prozent registriert. In den östlichen Bundesländern lag die Zustimmung für das Anliegen unseres Antrages sogar bei fast 90 Prozent. ({10}) Heute fragen insbesondere junge Menschen nach Flucht, Vertreibung und Verschleppung. Sie wollen die ganze Wahrheit wissen. Diese Wahrheit ist entsetzlich. Wahrheit ist: Es hat rund zwei Millionen deutsche Zwangsarbeiter gegeben. Wahrheit ist: Rund die Hälfte von ihnen hat nicht überlebt. Wahrheit ist: Besonders viele Frauen und nicht wenige Kinder wurden Opfer der Zwangsarbeit. Wahrheit ist: Die meisten von diesen Frauen waren sexuelles Freiwild für die enthemmte aufgehetzte Soldateska. Entwürdigung und Demütigung waren neben Hunger und Kälte Schicksal dieser Frauen. Ich zitiere aus dem Buch von Freya Klier „Verschleppt ans Ende der Welt“: … und wenn das nicht schnell genug ging mit dem Hacken, dann wurde zur Abschreckung mal eine erschossen … Und zwischenrein wurden immer wieder Frauen zum Vergewaltigen weggezerrt … Das Erschütterndste aber, so erzählte mir meine Mutter mal, als ich erwachsen war, das waren die Frauenleichen, die man so übel zugerichtet hatte … Eine Frau, die hatte gerade entbunden, da lag das Neugeborene daneben und der Frau - sie war schon steif gefroren - steckte ein Stock in der Scheide … Der Anblick hat meine Mutter ihr Leben lang verfolgt, trotz allem, was wir selbst durchmachen mussten. Das war kein Einzelfall. Vergewaltigung, Hunger, Entkräftung und Tod betrafen die Mehrheit dieser Frauen, die Kinder nicht zu vergessen. Ich bin sicher, auch Sie von den Regierungsfraktionen lassen diese Schicksale und dieses grausame Leid nicht gleichgültig. Sie haben für unsere deutschen Landsleute keinen Stein an der Stelle Ihres Herzens. Sie haben erkannt, dass es noch lange keine Vergötzung der Nation bedeutet, denjenigen einen Ausgleich zukommen zu lassen, die stellvertretend für diese Nation leiden mussten. Sie waren die Deutschen, derer man habhaft werden konnte. Sie waren die Deutschen, die alles abbüßen mussten. Sie waren die Deutschen, an denen die Rachegefühle abgearbeitet wurden. Gemeinsam haben wir die Pflicht, diesen nun alten Überlebenden etwas von ihrer Würde wiederzugeben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend auf die eingangs zitierten Kernbegriffe sozialdemokratischen und grünen Selbstverständnisses zurückkommen, auf Gerechtigkeit und Solidarität. Unter neuen Umständen stehen diese Begriffe neu auf dem Prüfstand. Es kann nicht sein, dass die IOM, die International Organization for Migration, in der ganzen weiten Welt nach NS-Zwangsarbeitern sucht, um sie zu entschädigen, und dass wir die deutschen Zwangsarbeiter vor unserer eigenen Haustür im Regen stehen lassen. ({11}) Es kann nicht sein, dass für diese kleine Minderheit alter Menschen die Leitbegriffe Solidarität und Gerechtigkeit politische Leerformeln bleiben. Das wäre ideologisch gepanzerte Kälte. Das wäre die Enttarnung der von Bundeskanzler Schröder initiierten NS-Zwangsarbeiterentschädigung als Polittheater. Es kann nur eine Gerechtigkeit und nur eine Menschenwürde geben. Wir von der Union haben die NSZwangsarbeiterentschädigung in der Hoffnung mitgetragen, dass die jetzige Regierung auch für deutsche Zwangsarbeiter etwas Konkretes tut. Mitleid reicht nicht. Als Unionspolitiker appellieren wir an die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Dieses Land wird nur stark bleiben, wenn es im Innern gerecht zugeht. Wir verlangen Gerechtigkeit und Mitempfinden, auch für deutsche Zwangsarbeiter. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir tun alle gut daran, egal welcher Fraktion wir angehören, uns zu bemühen, uns sachlich an das Thema anzunähern, das die Union heute mit ihrem Antrag auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das sage ich bewusst als Angehöriger einer Generation, die Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren ist; ich gehöre dem Geburtsjahrgang 1969 an. Gerade als Mitglieder des Bundestages haben wir eine besondere Verantwortung dafür, das Geschehene nicht vergessen zu lassen und uns immer wieder zu fragen, ob wir die richtigen Schlussfolgerungen aus dem gezogen haben, was von deutschem Boden in deutschem Namen ausgegangen ist und was die Folge dieser Geschehnisse war. ({0}) Ich glaube, deswegen ist es sinnvoll, zu Beginn einer solchen Debatte noch einmal in Erinnerung zu rufen, was in den Jahrzehnten seit Gründung der Bundesrepublik durch den Gesetzgeber auf den Weg gebracht und verwirklicht worden ist, um auch deutschen Opfern der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ein Stück Gerechtigkeit und Anerkennung zuteil werden zu lassen, insbesondere wenn es sich um Opfer handelt, die ein besonders schweres Schicksal zu tragen hatten. In diesem Zusammenhang ist an das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, aber auch an das Häftlingshilfegesetz zu erinnern, das ja immer noch gilt. Die entsprechende Stiftung bewilligt insbesondere bei sozialen Notlagen auch heute noch Zuwendungen für Menschen, die aus politischen Gründen interniert und als deutsche Staatsbürger seitens anderer Staaten zur Zwangsarbeit herangezogen worden sind. Herr Kollege Hohmann, andererseits war es 50 Jahre lang Konsens im Deutschen Bundestag, dass Verschleppung zu dem Zweck, die Betroffenen als Arbeitskräfte einzusetzen, als allgemeines Kriegsfolgenschicksal bewertet worden ist. Mit ihrem Antrag „Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter“ fordern CDU und CSU abweichend von dieser Bewertung der Heranziehung deutscher Bürger zur Zwangsarbeit als allgemeines Kriegsfolgenschicksal nun die pauschale Entschädigung früherer deutscher Zwangsarbeiter. Es lohnt sich, den Antrag der CDU/CSU einmal näher zu betrachten. Einleitend - Herr Hohmann hat den Bezug auch in seiner Rede gerade hergestellt - wird direkt Bezug auf die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ genommen, die der Deutsche Bundestag im Sommer 2000 zu errichten beschlossen hat. In Ihrem Antrag weisen Sie darauf hin, dass durch diese Stiftung insbesondere jene früheren Zwangsarbeiter berücksichtigt werden sollten, die als Bewohnerinnen und Bewohner Osteuropas aufgrund des späten Falls des Eisernen Vorhangs zuvor nicht die Möglichkeit hatten, von deutscher Seite eine Entschädigung zu erhalten. Auf dieser Grundlage, also mit dem Hinweis darauf, dass das eine späte Wiedergutmachung an die Opfer deutschen Handelns ist, heißt es dann in dem Antrag der Union ohne einen sachlichen Zusammenhang aber, dass dies nun auch für frühere deutsche Zwangsarbeiter gelten müsse. Daneben sagt die Union in ihrem Antrag, die Bundesregierung solle sich nun an jene ausländischen Staaten bzw. ihre Nachfolgestaaten wenden, die deutsche Bürgerinnen und Bürger zur Zwangsarbeit herangezogen haben. Diese Forderung hat eine Reihe von Unionsabgeordneten parallel zur Verabschiedung des Stiftungsgesetzes bereits im Jahre 2000 erhoben. Nur wenn dies nicht zum Ziel führe bzw. wenn sich die Bundesregierung nicht an die betreffenden ausländischen Staaten wenden wolle, dann möge die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen, auf dessen Grundlage analog zur Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter auch frühere deutsche Zwangsarbeiter zu entschädigen seien. Das ist der Inhalt des Antrages der Union. Lassen Sie mich für die SPD-Bundestagsfraktion hierzu folgende Stellungnahme abgeben: Dass auch viele deutsche Bürger während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach Opfer von Gewalt und Willkür wurden, ist zutreffend. Es gilt - nein, es ist selbstverständlich - das Leid dieser Menschen anzuerkennen. Darüber gab es im Deutschen Bundestag im Übrigen nie Streit. Im Gegenteil: Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, das Häftlingshilfegesetz und das Bundesversorgungsgesetz - auch dieses dritte Gesetz zählt dazu hatten zum Ziel, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, die ein besonders hartes Los getroffen hatte, das über das allgemeine schwere Schicksal der Bevölkerung eines Landes, das Gott sei Dank einen Krieg verloren hatte, hinausging. Bereits in den 50er-Jahren herrschte darüber Konsens, dass die Heranziehung von Deutschen zur Arbeitsleistung in der Folge des Zweiten Weltkrieges als allgemeines Kriegsfolgenschicksal zu bewerten sei. Hier wird deutlich: Wir haben eine Meinungsverschiedenheit. Es gilt: Das Leid, das Deutschland über andere gebracht hat, ist schlimm. Das Leid, das deutsche Bürger als Folge dessen erlitten haben, ist ebenfalls schlimm. Aber für beides gilt: All dieses Leid hatte seine Wurzeln im Unrecht der NS-Zeit und damit in Deutschland. Es ist nicht verständlich und sachlich begründbar, aus der Schaffung einer Stiftung für die Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter abzuleiten, man müsse nun auch für frühere deutsche Zwangsarbeiter eine Zusatzregelung schaffen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Folgendes sagen: Wenn, wie ich glaube, die Union aus der Existenz der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in unangebrachter Weise ableitet, es bestehe nun die Notwendigkeit für eine Entschädigung auch deutscher Zwangsarbeiter, dann ist es sehr befremdlich, wenn ausgerechnet der Kollege Hohmann das Wort ergreift, der bei dem Gesetzgebungsbeschluss über diese Stiftung nicht mit Ja gestimmt hat. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Edathy, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Edathy, meine erste Frage: Opfer sind doch Opfer. Ist es nicht gleich, wer sie zu Opfern gemacht hat? Meine zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass es viele Opfer gibt, die vom Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz und auch vom Häftlingshilfegesetz eben nicht erfasst worden sind? Meine dritte Frage: Halten Sie es für richtig, dass, wenn die betroffenen Menschen zum Kanzleramt gehen, sie dort von niemandem empfangen werden und ihre Resolution beim Pförtner abgeben müssen? ({0})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Strobl attestiert mir Überforderung. Diese Auffassung kann ich nicht teilen. Was ich wahrnehme, ist - das will ich in aller Gelassenheit sagen -, dass die Union nach 50 Jahren - ich nenne Bundeskanzler Kiesinger als ein Beispiel - den Konsens darüber aufkündigt, dass man Leid nicht gegeneinander aufrechnen darf und dass man sehen muss, wo die Ursachen für Leid liegen. ({0}) In diesem Zusammenhang - ich werde sofort auf das eingehen, was Sie gefragt haben, Herr Marschewski will ich doch sagen: Man muss sich einmal vor Augen halten, dass Sie in Ihrem Antrag unter anderem der Regierung nahe legen, an Russland heranzutreten, ein Land, in dem als Folge des Zweiten Weltkrieges 21 Millionen Menschen gestorben sind, darunter 7 Millionen Zivilisten, um es aufzufordern, frühere deutsche Zwangsarbeiter zu entschädigen. Ich will deutlich sagen: Das wäre eine erbärmliche, beschämende und geschichtslose Haltung, die Sie von der Regierung erwarten. ({1}) Ich komme zu Ihren Fragen, Herr Marschewski. Zu Ihrem letzten Punkt, der Übergabe von Unterschriften im Bundeskanzleramt, hat es meines Wissens aus der Unionsfraktion eine schriftliche Frage gegeben. Sie ist von der Regierung beantwortet worden. Es war wohl so, dass diese Übergabe nicht angekündigt worden war. Das heißt, diese Menschen kamen zum Bundeskanzleramt und haben erwartet, dass der Bundeskanzler sie persönlich empfängt. Die Menschen haben aber die Möglichkeit gehabt, einem Beamten des Bundesgrenzschutzes ihre Unterschriften zu übergeben. ({2}) Ich denke, dies hätte man auch anders vorbereiten können. So wie ich den Bundeskanzler kenne, hätte es keine Probleme gegeben, einen Termin zu vereinbaren, an dem er diese Menschen empfangen hätte. Diesen Punkt in die Debatte einzuführen finde ich ein bisschen kleinkariert, Herr Marschewski. Ich komme zu den anderen beiden Punkten, die Sie genannt haben. Ihre Frage war: Ist es dem Opfer nicht letztlich gleichgültig, wer der Täter ist? Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, die Situation des Opfers zu würdigen. Wenn Leid, Bedrückung und Not verursacht worden sind, dann muss man Abhilfe schaffen. - Ich glaube, man hätte diese Debatte in den 50er- und 60er-Jahren so führen können. Wenn man sich den Charakter der Gesetzgebung anschaut, die Sie als nicht hinlänglich bezeichnet haben, beispielsweise mit Blick auf frühere Kriegsgefangene, frühere politische Häftlinge oder auf solche Internierte, die dauerhaft gesundheitliche Schäden davongetragen haben, dann wird man einsehen: Grundgedanke war, dass die Leistung des Staates eine Eingliederungshilfe sein sollte. Die Leistung des Staates sollte dazu dienen, diesen Menschen den Start in ein geordnetes Leben zu ermöglichen. Wir führen diese Debatte 50 Jahre zu spät, Herr Marschewski. Ich habe den Eindruck, dass sie seitens der Union auch deshalb geführt wird, um hier ein vermeintliches Defizit kenntlich zu machen, von dem ich der festen Überzeugung bin: Es ist in dieser Form nicht vorhanden. Die Menschen, um die es geht, die Leid erfahren haben, haben in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik bzw. im östlichen Teil unseres Landes - dieser Teil gehörte bis 1990 nicht zur Bundesrepublik gelebt. Ich halte dies für nicht den richtigen Zeitpunkt, diese Debatte zu führen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Edathy, der Kollege Marschewski möchte noch einmal nachfragen. Wollen Sie das zulassen oder weiterreden?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin damit einverstanden, wenn Herr Marschewski noch eine Frage stellt - nicht wieder drei.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Edathy, verstehen Sie, dass ich Sie nicht verstehe?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Marschewski, ich gehöre dem Bundestag seit 1998 an. Wenn ich nicht falsch informiert bin, gehören Sie dem Bundestag schon einige Jahre länger an. Wenn ich ebenfalls nicht falsch informiert bin, hat es vor 1998 eine 16-jährige Regierungszeit unter konservativer Führung gegeben. Wenn Sie auf die Idee kommen, dass die Bundesregierung, die von Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen gestellt wird, hier ein Versäumnis habe, während Sie 16 Jahre lang selber nicht dazu in der Lage, nicht willens oder nicht einsichtig waren, das zur Sprache zu bringen und zu regeln, was Sie jetzt als angebliches Versäumnis kennzeichnen, dann kann ich das nur als unglaubwürdig und als Heuchelei betrachten. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, Leid kann man nicht gegeneinander aufrechnen; es summiert sich. Zwangsarbeit - auch das habe ich gesagt - ist für jeden Betroffenen ein einschneidendes und schlimmes Ereignis. Dies aber schließt nun einmal unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich der Frage staatlicher Reaktionen nicht aus. Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Union: Was eigentlich ändert die Tatsache der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ daran, dass wir hier immer eine grundsätzliche Übereinstimmung gehabt haben, dass das harte Schicksal der deutschen Bevölkerung als Folge der barbarischen Politik des Deutschen Reiches zu bewerten ist? Meine Antwort wäre: Das ändert nichts daran. Leider ist es so, dass sich bei der Lektüre des Unionsantrages unvermeidlich der Eindruck aufdrängt, dass dieses Bekenntnis zu geschichtlicher Verantwortung nunmehr relativiert werden und die Bewertung historischer Verantwortung massiv verändert werden soll. Ansonsten hätte Ihr Antrag zumindest anders begründet werden müssen. Unabhängig von der Frage der Kriegsschuld, wie Sie es in Ihrem Antrag versuchen, kann man dieses Thema nun einmal nicht behandeln. Ich erlaube mir, den Kollegen Hohmann zu zitieren. In einer Rede aus dem Jahre 2001 sagte er mit Blick auf die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - ich glaube, völlig zu Recht -, dass Deutschland und die deutsche Wirtschaft eben nicht aufgrund rechtlicher, sondern aufgrund politisch-moralischer Verpflichtung Entschädigung leisten. Gleichwohl - das will ich hier zusichern - werden wir im Innenausschuss Gelegenheit haben, Ihren Antrag im Detail sachlich zu beraten. Wir werden dabei allerdings seitens der SPD darauf achten, dass wir allen Versuchen zur Umdeutung unserer schwierigen Geschichte mit Nachdruck entgegentreten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Edathy, der Kollege Hohmann möchte Sie auch noch etwas fragen. Wollen Sie das zulassen oder nicht?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich halte das jetzt nicht für unbedingt erforderlich, weil ich zum Ende meiner Rede kommen möchte. Aber Herr Hohmann soll die Gelegenheit haben, als Berichterstatter der Union hier seine Frage zu stellen.

Martin Hohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Edathy, stimmen Sie mir darin zu, dass der Sachverhalt doch etwas anders ist? Denn wir müssen genau sein. In § 3 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes war geregelt, dass die Entschädigung, die damals bei 1 DM pro Tag Lagerhaft lag, die Freiheitsentziehung und die Arbeitsleistung abdecken sollte. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die nach 1998 diesen Konsens durchbrochen und beschlossen hat, dass die Arbeitsleistung in einer Zwangsarbeitshaft extra honoriert werden sollte. Sie haben neue Regeln geschaffen. Nachdem Sie diese Änderung vorgenommen und eine Gruppe von Opfern herausgegriffen haben, ({0}) erscheint es mir nur recht und billig, das auch für andere zu tun. Stimmen Sie mir darin zu? ({1})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stimme Ihnen darin nicht zu, Herr Kollege Hohmann. Auch trifft das, was Sie geschildert haben, sachlich nicht zu. Ich beschäftige mich zwar nicht täglich mit diesem Thema - das muss ich hinzufügen -, aber ich habe mich sehr sorgfältig auf diese Debatte vorbereitet. Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, das zum 1. Januar 1993 aufgehoben worden ist, ist gerade als Folge der Tatsache zustande gekommen, dass in der Regel jene ausländische Staaten, die Kriegsgefangene zu schwerer Arbeit eingesetzt haben, diesen keinen nennenswerten Geldbetrag mit auf ihren Weg zurück in die Bundesrepublik gegeben haben. ({0}) Das war der Grund für das Zustandekommen des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes. Darin ist geregelt worden, dass je nach Dauer der Haft bis zu 12 000 DM als Entschädigung und Hilfe für die Wiedereingliederung in ein - in Anführungsstrichen - „normales“ Leben in Deutschland gewährt werden sollen. Mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Sie waren damals Berichterstatter, haben sich aber am Ende gemeinsam mit 30 Abgeordneten der Union nicht dazu in der Lage gesehen, das Gesetz mit zu verabschieden - haben wir die Konsequenz aus dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/1990 gezogen, indem wir den vielen betroffenen Menschen in Osteuropa, denen wir keine direkte und unmittelbare Hilfe gewähren konnten, eine Anerkennung von Deutschen für in Deutschland erlittenes Leid als späte Wiedergutmachung zukommen lassen wollten. Damit hat Deutschland im Sinne der Wahrnehmung von historischer Verantwortung Stellung bezogen. Herr Hohmann, ich will an dieser Stelle auf einen Punkt zu sprechen kommen, in dem wir als Demokraten Gemeinsamkeit wahren sollten. Ich meine, wir wären gut beraten, uns darauf zu verständigen. Darauf möchte ich zum Schluss meiner Rede zu sprechen kommen. ({1}) Meine Mutter ist gebürtige Schwerinerin. Sie ist auf einem Bauernhof groß geworden und hatte drei Brüder, einen jüngeren und zwei ältere. Die beiden älteren Brüder sind im Krieg gefallen. Der Bauernhof meiner Großeltern ist ihnen weggenommen worden. Sie sind zwei, drei Jahre später aus Gram gestorben. Sie hatten den Inhalt ihres Lebens verloren. Ich habe mit meinem Onkel, dem jüngeren Bruder meiner Mutter - kein Akademiker, sondern ein einfacher Mann; ein Arbeiter, der in einer Fabrik Teile zusammengeschraubt hat -, sehr oft über dieses Leid meiner Familie mütterlicherseits gesprochen. Er hat immer wieder gesagt: Wir haben schweres Leid erlitten. Er hat aber auch immer wieder gesagt: Die Verantwortung für dieses Leid können wir nicht den Russen zuschieben. Die Verantwortung für dieses Leid liegt vielmehr bei uns selbst, beim deutschen Volk, weil wir es zugelassen haben, dass ein Verbrecher wie Adolf Hitler nicht nur unser Land, sondern fast die ganze Welt ins Unglück gestürzt hat. Ich glaube, wenn wir uns wieder auf diesen Punkt besinnen, Herr Hohmann, dann kommen wir zu einer sachlich angemessenen Debatte, die frei von Polemik ist. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gern die Mahnung des Kollegen Edathy aufgreifen und jede Polemik unterlassen. Herr Kollege Edathy, wenn Sie aber behaupten, der vorliegende Antrag der Union komme 50 Jahre zu spät, dann muss ich Ihnen sagen, dass das nicht ganz richtig ist; denn wir haben die gesamte Zwangsarbeiterdebatte 50 Jahre zu spät geführt. Wir sind außerdem nicht wegen des Falls des Eisernen Vorhangs zu einer Regelung der Entschädigung von Zwangsarbeitern gekommen. Das war nur ein Teilaspekt. Übrigens wollte Ihre Bundesregierung polnische Zwangsarbeiter davon ausnehmen. Diese wurden - Kollege Beck weiß das sicherlich noch genau - erst nach Verhandlungen einbezogen. Es hatte ganz andere Ursachen, dass der Deutsche Bundestag vor drei Jahren - viel zu spät! - das unsägliche Leid, das den Zwangsarbeitern unter den Nationalsozialisten angetan wurde, mit einer symbolischen Entschädigungsleistung anerkannt hat. Ich möchte das jetzt nicht im Detail darstellen. Aber das ist wichtig für den heutigen Zusammenhang; denn schon in der damaligen Debatte hatten der Kollege Hohmann und andere Abgeordnete in der Tat versucht, im selben Atemzug über die Frage der Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter - das ist das heutige Thema - zu diskutieren. Das habe ich namens der FDP heftig kritisiert, weil die Gefahr bestand, dass wir dadurch falsche historische Parallelen gezogen hätten. Das war nicht angemessen und nicht der richtige Zeitpunkt. Es bleibt aber festzuhalten, dass Zwangsarbeit für jeden Betroffenen ein schweres Schicksal ist. Deswegen ist es jetzt, nachdem wir die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vor drei Jahren ins Leben gerufen haben, durchaus angebracht, über die Frage, die heute von der Union aufgeworfen worden ist, sachlich zu diskutieren. Das, was Kollege Edathy über die Verantwortung des Nationalsozialismus und des Deutschen Reiches für die Leiden, die durch den Zweiten Weltkrieg entstanden sind, gesagt hat, ist zwar richtig, betrifft aber wiederum nur einen Teilaspekt des Problems. Gerade wegen der ursächlichen Verantwortung der Nazis wäre es tatsächlich inopportun, wenn nun die Bundesrepublik Deutschland an andere Staaten mit der Forderung nach Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter herantreten würde. Das schließt aber nicht aus, dass wir im Namen der Bundesrepublik Deutschland das Leid, das auch deutsche Zwangsarbeiter erdulden mussten, benennen, anerkennen und finanziell entschädigen. ({0}) Deswegen wird die FDP in den weiteren parlamentarischen Beratungen dem Antrag der Union im Grundsatz folgen. Freilich gibt es etliche Einzelfragen zu klären. So muss vom Bundesfinanzministerium genau dargelegt werden, ob die Zahlungen, die der betreffende Personenkreis schon erhalten hat, Eingliederungshilfen sind, die dem Charakter nach nicht dazu dienten, Zwangsarbeit - und sei es nur symbolisch - anzuerkennen. Es muss des Weiteren geklärt werden, ob sich aus einem entsprechenden Beschluss unerwünschte Präjudizwirkungen ergeben können. Die Kriegsfolgengesetzgebung ist ja an sich abgeschlossen. Schließlich müssen wir darüber nachdenken, ob Zwangsarbeit nur dann entschädigt werden soll, wenn sie mit zusätzlichen Erschwernissen verbunden war. So ist das in den Entschädigungsregelungen festgelegt, nach denen die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ verfährt. Wenn all diese Fragen befriedigend beantwortet sind, dann kann dem vorliegenden Antrag der Union ohne jede Polemik näher getreten werden. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hohmann, Sie haben versucht - ich habe das eigentlich auch erwartet -, die Debatte nach altem Muster zu polarisieren. Ich glaube, dass Sie Ihr Ziel nur so erreichen können. Sie sollten aber aufgrund der Reden, die ich zum Beispiel über das Heimkehrergesetz gehalten habe, die Erfahrung gemacht haben, dass die von Ihnen beabsichtigte Polarisierung gerade bei meiner Person nicht funktioniert. Sie haben den Grünen pauschal eine nationale IchSchwäche vorgeworfen. Die Grünen als Gruppe, also die vielen Menschen, die in dieser Partei sind, haben Ihrer Meinung nach eine nationale Ich-Schwäche. Ich möchte versuchen, etwas zu meinem Begriff von Heimat und zu meinem Begriff von Heimatverbundenheit sagen. Das war für mich ein wichtiger Grund, Mitglied der Grünen zu werden, weil nämlich gerade der Erhalt der Umwelt für mich ein Ausdruck tiefer Heimatverbundenheit ist. Heimat hat für mich nichts mit Ideologie zu tun, sondern hat für mich etwas mit meiner Heimatinsel Fehmarn, mit der Landschaft und den Menschen, die mir wichtig sind, zu tun. Es hat aber eben nichts mit einer bestimmten politischen Ausrichtung und der nationalen Identität - Sie versuchen, in diese Debatten immer wieder diesen Begriff einzubringen - zu tun. Für mich stellt den wesentlichen Konsens, den wir alle hier haben, und zwar Deutsche, Zugezogene, auch mein Kollege Josef Winkler, der sich heute in der Zuwanderungsdebatte geäußert hat und erkennbar indischer Herkunft ist, unser Grundgesetz dar - das steht für mich auch für die Stabilität unserer Nachkriegsdemokratie -, unsere Verfassung, die - das merkt man in den innenpolitischen Debatten - Ihnen nicht mehr viel wert ist. Die Grundwerte unserer Verfassung beschreiben für mich den Konsens, der bindend ist. ({0}) Ich denke, dass gerade auch meine Partei - ich möchte hier zum Beispiel an Antje Vollmer erinnern - mit der Aufarbeitung der Schuld des Nationalsozialismus überhaupt erst den Boden für diese Debatte bereitet hat. Ich gehöre zu dieser Generation. Die Karriere meines Großvaters vom Polizeibeamten zum Major des Reichssicherheitsdienstes hat mich sehr beeindruckt. Ich habe mich mit dieser Biografie aus meiner Familie viele Jahre befasst. Ich habe mich auch mit dem Trauma befasst, das meine Mutter erlitten hat, als sie die Dresdner Bombennächte erleben musste. Versuchen Sie nicht, hier so zu tun, als wäre die Definition unserer Geschichte in Ihrer Partei gut untergebracht. Meine Partei hat gerade mit der Aufarbeitung der Schuldfrage, die wir gegen unsere Eltern durchsetzen mussten, erst den Boden dafür bereitet, dass wir heute - ich begrüße das; ich habe das auch in der letzten Debatte gesagt - offen über deutsche Opfer reden können. Die Tabuisierung der deutschen Opfer konnte erst beendet werden, nachdem es in der Gesellschaft eine Anerkennung der deutschen Schuld gegeben hatte. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, genau dieses Verhältnis müssen wir sehen: Aus der Anerkennung der deutschen Schuld entwickelt sich bei uns im Lande eine freie Debatte auch zu den deutschen Opfern. ({1}) Auf dieser Ebene können wir eine Diskussion über Opfer und Schuld führen. In der Bewertung Ihres Antrags schließe ich mich meinem Kollegen Edathy an. Ich möchte Sie einfach nur um etwas bitten: Lesen Sie doch bitte einmal die Rede Ihres ehemaligen Bundeskanzlers Kiesinger nach, die er 1966 gehalten hat, als es um die Verlängerung der Frist bei Regelungen zur Kriegsfolgenentschädigung ging. Ich habe festgestellt: Es war kein Versehen. Es war kein handwerklicher Fehler. Er hat damals gesagt: Es gibt keine Einzelfallgerechtigkeit. - Er hat damals gesagt: Es war richtig, keine Sondertatbestände aufzunehmen. - Er hat damals als CDU-Bundeskanzler einen Satz gesagt, den ich für sehr falsch und für zynisch halte: Wir wollen investieren in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Nachdem Sie jahrelang nur „Schlussstrichgesetze“ - das gilt auch für das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1992 - gemacht haben, bin ich froh, dass Rot-Grün erkannt hat: Jawohl, es gibt noch Gerechtigkeitslücken; es gibt noch Opfer. Aus genau diesem Grunde haben wir damals diese Stiftung ins Leben gerufen. Vorwürfe können wir Ihnen und nicht Sie uns machen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 15/924 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gedenken an die Opfer des Bombenkriegs im Zweiten Weltkrieg - Drucksache 15/986 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte geht fast nahtlos von dem vorherigen historischen Gesichtspunkt zu einem anderen über. Ein Kapitel des Koalitionsvertrags dieser Regierung, dessen Kanzler der 15. Deutsche Bundestag gewählt hat, trägt die Überschrift „Moderne Gesellschaftspolitik“. In diesem Kapitel ist der Begriff „Erinnerungskultur“ zwar nicht erfunden, aber wieder aufgebracht worden. Damit verbunden stellen sich zwei Fragen. Zum einen: Wie transportiert unsere Kulturnation Erinnerungen? Zum anderen: Wie lassen sich diese Erinnerungen kulturell gestalten, pflegen und reflexiv verarbeiten? Wir haben von dem Herrn Kollegen Edathy vorhin zu Recht gehört, dass man Leid nicht aufrechnen soll. Das ist richtig: Man soll Leid weder aufrechnen noch gegenrechnen. In Deutschland gab es um die Weihnachtszeit eine sehr weit gehende Debatte über das Buch eines Mannes, der eher aus Ihrem Lager kommt. Ich meine den linksliberalen Historiker Jörg Friedrich; sein Buch heißt „Der Brand“. Es beschäftigt sich mit den Bombardierungen der deutschen Zivilbevölkerung zwischen 1943 und 1945. In einer Stellungnahme zu diesem Buch und der damit verbundenen Debatte schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ - auch sie ist einer übertriebenen Distanz zum sozialdemokratischen oder rot-grünen Lager unverdächtig - Folgendes - ich halte das für sehr wichtig -: ({0}) Ein aufgeklärtes Bewusstsein bedarf keiner halbierten Erinnerung. Die Wahrnehmungssperren der Nachkriegszeit sind längst aufgehoben. Die eigene Täterschaft ist weitgehend im historischen Gedächtnis der Deutschen verankert. - Das stimmt doch. Daher kann die Erinnerung an die eigenen Opfer getrost zurückkehren. Wer zuerst fragt, wem die Wahrheit nutzen könnte, anstatt festzustellen, welche Aussage wahr und welche falsch ist, hat sich selbst um jede Glaubwürdigkeit gebracht. Der Betreffende hat sich von der Tatsachenprüfung schon verabschiedet, bevor diese überhaupt begonnen hat. Darum geht es. (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele ({1}) Der Begriff Erinnerungskultur, Herr Ströbele, wird in diesem Hause heute nicht zum ersten Mal benutzt. Bei diesem Tagesordnungspunkt wird er im Zusammenhang mit der Bombardierung der Zivilbevölkerung in 1 000 Städten und Gemeinden, die im April/Mai 1943 begann, verwendet. Wir schreiben heute Anfang Juni 2003. Es war vor genau 60 Jahren, als es bei den Luftangriffen der Alliierten zur Zeit der Ruhrschlacht zu einem - ich zitiere Herrn Friedrich - „Zivilisationssprung“ kam. Ich zitiere weiter: In dieser Zeit geriet die Bombardierung zur Massenausrottung. In dieser Woche, der letzten und der vorletzten Woche vor genau 60 Jahren stieg die Anzahl der Opfer in der so genannten Ruhrschlacht sprunghaft an. Bis dato waren - das war schlimm genug - im Schnitt 500 zivile Opfer pro Tag zu beklagen. Bei der Bombardierung der Stadt Wuppertal-Barmen starben in der Nacht zum 30. Mai 3 500 Menschen. In den folgenden Wochen eskalierte die Situation weiter, bis zum Höhepunkt, der Operation Gomorrha: 12. Juni Düsseldorf: 1 300 Tote; 22. Juni Krefeld: 1 056 Tote; 29. Juni Köln: 4 380 Tote; 28. Juli 1943 Hamburg: 45 000 Tote. Warum hat Günter Grass sein Buch „Im Krebsgang“ einen Tabubruch genannt? Er sagte, dass diese Themen zwar in der Geschichte jeder Familie in Deutschland präsent seien, dass diese Thematik aber in der öffentlichen Wahrnehmung und der damit verbundene Schauder umgangen würde, als ob es eine verrufene Stelle wäre. Die Frage des Ansprechens hat er in seinem Buch in einem einzigen Satz auf den Punkt gebracht. Die Heldin seines Buches, Tulla, redet im Danziger Dialekt auf Paul, der alles über das Schicksal der „Wilhelm Gustloff“ aufschreiben soll, ein: Wie eisig die See gewesen ist und wie die Kinderchen Kopp unter. Das musst Du aufschreiben; das bist Du uns schuldig als glücklich Lebender. Das ist unsere Schuldigkeit. Unser schöner, glücklicher Streit, den wir in diesem Haus während der Sitzungswochen täglich führen können, ist das eine; aber die historische Verpflichtung - Herr Kollege, entschuldigen Sie, ich habe Sie bisher nicht gekannt; aber die Darstellung der Erlebnisse Ihrer eigenen Familie und Ihrer Mutter, hat mich berührt - und die Schuldigkeit des Aufschreibens und des Nicht-vergessen-Lassens trägt der ganze Deutsche Bundestag, die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Die Bundeskulturstiftung - das entspricht ihrem Auftrag -, zu der sich dieses Haus bekennt, wird in Bereichen tätig werden, in denen die Kulturkompetenzen beim Bund liegen. Das sind beispielsweise der internationale Kulturaustausch, die Hauptstadtkultur und die Erinnerungskultur. Jeder von Ihnen hat in seiner Abgeordnetenpost jede Woche irgendeine Einladung für einen Erinnerungsmarker der deutschen Geschichte. Ich habe die aus der letzten Woche gesammelt. So bereiten wir im Deutschen Historischen Museum - das finde ich großartig - eine Ausstellung zur Erinnerung an den Besuch des amerikanischen Präsidenten Kennedy vor. Für das Jahr 2004 sind große Ausstellungen in Vorbereitung, weil sich dann zum 90. Mal die Monate Juni, Juli und August 1914 jähren werden. In dieser Zeit begannen in diesem Hause die Debatten, die den Ersten Weltkrieg vorbereiten sollten. Aber wir dürfen in dieser Erinnerungskultur doch keinen dunklen Fleck lassen, vor allem nicht in dem Bereich, der in jeder Familie - ich zitiere Ihren Wahlhelfer Günter Grass - als „Schauder“ vermerkt ist. Dieser Bereich darf nicht mit einem Tabu belegt werden. Es ist schlimm genug, dass diese Debatte erst so spät und so spät am Abend und in so schwacher Besetzung als letzter Punkt im Deutschen Bundestag geführt werden kann. Wir können dieses Thema nicht beiseite tun, weil es der politischen Klasse - möglicherweise sogar querfeldein - unangenehm ist. Das können wir nicht tun. Dem müssten Sie sich gemeinsam widersetzen! ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika KrügerLeißner, SPD-Fraktion.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich eine Bemerkung machen, bevor ich auf den Antrag zu sprechen komme. Historische Debatten im Deutschen Bundestag unterliegen immer einer besonderen Problematik. Die Gefahr, dabei eine bestimmte Sichtweise auf die Geschichte politisch zu instrumentalisieren, ist nicht gering. Besonders groß ist die Gefahr dann, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und - daraus resultierend - die Frage nach dem Selbstverständnis der Deutschen geht. Ich denke aber, Sensibilität und Vorsicht sind vor allem dann nötig, wenn es um die Opfer geht. Hier ist eine sachliche Sicht geboten, die weder die Trauer verbietet noch eine Positionierung der Deutschen in der Opferrolle ermöglicht und dabei das Leid der anderen vergessen lässt. Die Deutschen als Opfer im Zweiten Weltkrieg sind in den letzten Jahren zunehmend ins Blickfeld geraten. Zunächst hat dieser Umstand die Vertriebenen betroffen. Ein wichtiger Auslöser - das hat Herr Gauweiler gerade erwähnt - war die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass. Ich habe diese Auseinandersetzung mit der Vertreibung und dem Elend, das sie bedeutete, für sehr wichtig gehalten. Auch sie ist ein Teil der deutschen Geschichte, ein Teil der Geschichte des Nationalsozialismus und des Leids, das diese Diktatur brachte. Aus diesem Gedächtnis heraus ist die Ablehnung des Krieges in Deutschland stärker als in vielen anderen Ländern. Das haben wir erst kürzlich beim Irakkrieg feststellen können. Die Politik der Bundesregierung hat diesem Umstand Rechnung getragen. Was für die Vertriebenen gilt, gilt natürlich auch für die Opfer der verheerenden Bombenangriffe auf Magdeburg, Dresden, Hamburg und viele andere Städte in Deutschland. Bis zu 600 000 Tote, unzählige Verletzte, zerstörte Städte und Kulturgüter, an all das muss man sich erinnern. All das muss auch Teil der Erinnerungskultur sein. Im Grunde ist es das auch immer gewesen. Allerdings fand die Erinnerung häufig im kleineren Kreis statt. Auch wenn es schon eine Aufarbeitung in der Literatur und in der Wissenschaft gab, so hatte diese in Deutschland selten die ganz große Öffentlichkeit. Auch das von Kollegen Herrn Gauweiler erwähnte Buch „Der Brand“ von Jörg Friedrich hat in letzter Zeit sicherlich einen neuen Anstoß gegeben, diese Diskussion wieder zu entfachen. Ich persönlich kann nicht sagen, dass mir das Buch von Friedrich in jeder Hinsicht zusagt. Ich habe immer ein Problem, wenn die Sprache einen Vergleich mit dem Holocaust suggeriert, Luftschutzbunker zu Krematorien werden und Bombardierung selbst zum Vernichtungskrieg wird. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diese unverhohlene sprachliche Gleichstellung mit dem Holocaust ist mir zuwider. ({0}) Dennoch stellt das Buch sicherlich keine Apologie und keinen Revanchismus dar. Dafür bürgt auch der Autor, der zuvor die Verbrechen der Wehrmacht untersucht hatte. Es ist vielmehr ein Anstoß für eine wissenschaftliche Diskussion, die zu Recht auch in der Öffentlichkeit geführt wird und damit ein wichtiger Teil des Umgangs mit der Geschichte ist. Sicherlich war es auch Anstoß für die Kollegen der CDU/CSU, diesen Antrag vorzulegen, in dem sie eine Konzeption der Bundesregierung fordern, wie auf Bundesebene in angemessener Form der 60. Jahrestag der Zerstörung begangen werden soll. In der Begründung heißt es dazu, es sei sittliche Pflicht der Bundesrepublik, der Opfer in angemessener Weise zu gedenken. Ich muss zugeben, dass ich mit dem Begriff „sittliche Pflicht“ einige Probleme habe. Wenn ich ihn richtig verstehe, so meinen Sie, es sei unmoralisch, nicht aller Opfer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Aber erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang folgende Erwähnung: Die Zerstörung von Dresden, Hamburg und vielen anderen deutschen Städten war vor allem Resultat des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland ({1}) und sie war Resultat der vorausgegangenen Angriffe auf Rotterdam und Coventry. Dies muss beim Gedenken bedacht werden. Dann - da gebe ich Ihnen Recht - ist es eine Pflicht, alle Opfergruppen in unsere Erinnerungskultur mit einzubeziehen. Auch wenn die Trauer um die Opfer der Bombennächte zumeist eine eher stille ist, so findet sie doch statt, und das schon seit vielen Jahrzehnten. Dass die wissenschaftliche Diskussion diesen Aspekt des Zweiten Weltkrieges mehr ins öffentliche Interesse gerückt hat, ist begrüßenswert. Unverständlich ist mir allerdings Ihre Forderung nach einer Konzeption ausgerechnet zum 60. Jahrestag. Ich fragte mich zunächst: Warum? Ich erinnere mich, dass zum 50. Jahrestag, einem allgemein doch als wichtiger anerkannten Jubiläum, keine Konzeption gefordert wurde. War das aus Ihrer Sicht damals nicht notwendig oder fanden Sie es nicht richtig, das Ihrer damaligen Bundesregierung anzutragen? Um einen anderen Vergleich anzubringen: Auch zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 gibt es keine Konzeption der Bundesregierung. Das ist sicherlich ein mindestens ebenso relevantes Datum der deutschen Geschichte. Schauen Sie, was sich in diesen Wochen und Monaten an Aufarbeitung zu diesem Teil der Geschichte getan hat und noch tun wird. Bei den Gedenkstätten haben wir eine Konzeption vorgelegt, und das zu Recht. Es geschah auch auf Wunsch der Bundesländer, die um diese Unterstützung und um die finanzielle Hilfe des Bundes gebeten haben und die die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung mit der Bundesregierung gemeinsam wahrnehmen wollen. Die Kulturhoheit der Länder wird dabei von uns selbstverständlich berücksichtigt. Die Konzeption, die Sie mit Ihrem Antrag fordern, ist aus meiner Sicht nicht nötig; denn Sie können selbst feststellen: Gedenken geschieht allerorts auf vielfältige Weise und tausendfach. Die Vielzahl an historischen Ausarbeitungen und die große Menge an Veranstaltungen beispielsweise zum 17. Juni zeigen, dass sich die Menschen ihr Erinnern selber schaffen. Sie haben Orte zum Gedenken und Tage zum Gedenken. Sie können in einer Vielzahl historischer Ausarbeitungen Fakten und Meinungen über ihre Geschichte nachlesen. Was hier für den 17. Juni gilt, gilt ebenso für die Bombenangriffe auf Deutschland. Gerade in der Nachkriegszeit fand eine starke Auseinandersetzung mit den Opfern statt. Diese Erinnerungskultur schließt Vertriebene und Bombenopfer ein. Wir haben ihr Leid in unser kollektives Gedächtnis mit aufgenommen. Ich erinnere daran: Es gibt einen Tag des Gedenkens, den Volkstrauertag, an dem in angemessener Weise aller Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht wird. Das hat auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus 1996 deutlich hervorgehoben. Es gibt viele Gedenkorte, die alle zum Gedenken an die Opfer der Bombenkriege geeignet sind. An den wichtigsten möchte ich hier besonders erinnern, nämlich an die Neue Wache in Berlin, in deren Widmungstext es heißt: Wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind. Es gibt viele Veranstaltungen, und das nicht nur zum 60. Jahrestag. In Dresden beispielsweise laden jährlich mehrere Initiatoren zum „GeDenken 13. Februar“ ein, dem Tag, an dem die Stadt zerstört wurde. Kirchen und Initiativen sind hier gleichermaßen tätig. Wir haben im Jahr 2005 vieler zu gedenken. Ich halte es für falsch, eine Opfergruppe aus der Vielzahl herauszunehmen und eine staatliche Lenkung des Gedenkens anzustreben. Es geschieht so viel in großen wie in kleinen Städten. Überall ist die Erinnerung an die Zerstörungen noch da und vielfach ist im Stadtbild das Leid noch spürbar. Diese Erinnerung müssen wir wach halten. Aber eine staatliche Konzeption ist dafür nicht nötig. Ich finde es wichtig, dass sich private Initiativen, Vereine, Verbände, Einzelpersonen, Kirchen und vor allen Dingen der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge damit befassen und geeignete Formen der Aufarbeitung und des Gedenkens finden. Eine Einmischung der Bundesregierung über die Unterstützung von Forschung und Initiativen zu diesem Thema hinaus halte ich sogar für kontraproduktiv. Vergessen wir nicht: Wir haben zwei funktionierende Museen, nämlich das Deutsche Historische Museum und das Haus der Geschichte, und auch das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig, die sich intensiv mit diesen Themen beschäftigen. Der Antrag suggeriert, es gebe ein Defizit in der Aufarbeitung. Wenn wir uns anschauen, was Länder, Kommunen und viele Einrichtungen im Rahmen der Erinnerungsarbeit tun, dann können wir erkennen, dass wir nicht skeptisch zu werden brauchen. Es ist vieles auf den Weg gebracht. Ich würde eher fürchten, dass die Länder, Kommunen und die Verantwortlichen vor Ort sehr skeptisch werden, würden wir jetzt als Akteure auftreten. Ich halte es für gefährlich, wenn es zu einer Form des Gedenkens führt, die Apologien und Aufrechnung der Opfer ermöglicht. Ich will dies dem Antrag nicht unterstellen. Das nationale Gedenken darf aber nie Basis für einen neuen Nationalismus werden. Trauer um die Opfer kann nie ohne Erkennen der Gründe geschehen. Dresden und Hamburg können nie ohne Coventry und Rotterdam gedacht werden. Darüber sollte zwischen uns Einigkeit bestehen. Auf keinen Fall dürfen wir die Opfer gegeneinander ausspielen oder gar aufrechnen. Wir müssen mit den Empfindungen der Generation der Leidtragenden verantwortungsvoll umgehen. Werte Kollegen der CDU/CSU, Ihre Forderung in diesem Antrag nach einer großen nationalen Aktion ist angesichts des in der Erinnerungskultur Erreichten nicht angemessen. Unser kollektives Gedächtnis, das geprägt ist vom Wissen um die Vergangenheit und der kritischen Analyse des Geschehens, darf nicht zur Umsetzung einer nationalen Erinnerungspolitik werden. Auch das sind wir den Opfern schuldig. Wir müssen die Erinnerung bewahren. Wir müssen auch in Zukunft darauf achten, dass die Mahnung weiter besteht. Denn das Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus - ob es Juden, ob es politisch Verfolgte, Vertriebene oder die Bombenopfer sind - garantiert unsere feste Haltung zur Demokratie. Das ist vor allem eine menschliche und keine nationale Aufgabe. Danke. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion, das Wort.

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, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Krüger-Leißner, ich muss gestehen, dass Ihre Rede, die viele kluge und sensible Worte enthielt, bei mir ein sehr ambivalentes Gefühl ausgelöst hat. Denn ich kann auch bei aufmerksamem Zuhören Ihrer Rede nicht verstehen, was dagegen einzuwenden ist, dass wir uns darum bemühen, für Hunderttausende von Opfern - ich betone: Opfern - eine angemessene Form des Gedenken zu finden. Wir sind uns völlig einig darin, dass ein solHans-Joachim Otto ({0}) ches Gedenken nicht in Nationalismus abgleiten darf. Es darf nicht aufgerechnet werden. Es muss auch klar sein, wer Täter und wer Opfer war. Aber wir sprechen hier - um das ganz klar zu sagen - über Hunderttausende Getötete, vorwiegend Frauen und Kinder. Wir haben in diesem Hause eine bestimmte Form der Erinnerungskultur entwickelt, sodass ich es für nicht ausreichend empfinde, wenn Sie jetzt sagen: Es gibt doch schon so viele Initiativen; wir brauchen uns daher darum nicht mehr zu kümmern; dem kann sich der Deutsche Bundestag entziehen. - Das sehe ich nicht so. Herr Dr. Gauweiler, der Antrag - wir begrüßen ihn absolut - hat einen Mangel, den ich ansprechen möchte - vielleicht können wir diese Dinge zusammenführen -: Auch ich bin wie Frau Kollegin Krüger-Leißner der Meinung, dass das Suchen nach einer angemessenen Form eines solchen Gedenkens nicht primär Aufgabe der Bundesregierung sein sollte. Der Bundestag, wir alle, das Parlament, ist aufgerufen, eine angemessene Form des Gedenkens zu finden, die objektiv und weder nationalistisch noch revanchistisch ist. Herr Dr. Gauweiler, ich darf Sie daran erinnern: Schon bevor Sie in dieses Haus kamen, haben wir, der Bundestag, an einer anderen Stelle, als es um Erinnerungskultur ging, einen Erfolg erzielt. Damals ging es darum, ein Holocaust-Mahnmal zu errichten. Wir haben die Suche nach einer angemessenen Form aus der Verantwortung der Bundesregierung gelöst und in die Verantwortung des Bundestages übertragen. Wir haben fraktionsübergreifend eine, wie ich finde, gute Lösung gefunden. So etwas schwebt mir auch in Bezug auf Ihren Antrag vor. Wir sollten die Suche nach einer angemessenen Form des Gedenkens nicht auf die Bundesregierung abschieben. Wir als Parlament selber haben die Aufgabe, eine Erinnerungskultur zu entwikkeln. Wir können uns dabei vielleicht der Zuarbeit externer Sachverständiger bedienen; ich denke an eine Anhörung und Ähnliches. Frau Krüger-Leißner, ich denke nicht daran, große Denkmäler zu errichten. Aber eine angemessene Form des Gedenkens sollten wir erreichen. Dies ist, wenn wir den Opfern gerecht werden wollen, allerdings nur dann zu erreichen, wenn wir das fraktionsübergreifend tun, nicht in parteipolitische Polemik abgleiten und uns nicht wechselseitig unlautere Motive vorwerfen. Wenn wir das schaffen, dann wäre das in der Tat eine große kulturpolitische Leistung, die dem Bundestag sehr gut zu Gesicht stünde. Ich denke, dass wir alle es - egal was in den letzten 60 Jahren passiert oder was hinterlassen worden ist - den Hunderttausenden Opfern, die in diesen Bombennächten ihr Leben haben hergeben müssen, schuldig sind, dass der Bundestag auch dieser Opfergruppe gedenkt. Deswegen werden wir Ihrem Antrag in den Ausschüssen prinzipiell zustimmen. Aber ich möchte an die beiden großen Fraktionen und vielleicht auch an die der Grünen appellieren, dass wir hier im Parlament eine Konzeption suchen und dies nicht von der Bundesregierung verlangen. Wir selber sind aufgerufen, eine angemessene Form des Gedenkens zu finden. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind hier nicht im „Literarischen Quartett“. Insoweit beteilige ich mich auch nicht an haarspalterischen Buchbesprechungen. Ich habe das Buch „Der Brand“ gelesen, weil es ein provozierendes und radikales Buch ist. Da ich davon ausgehe, dass diejenigen, die sich hier zu diesem Buch geäußert haben, es ebenfalls gelesen haben, war dieser Teil der Debatte für mich durchaus interessant. Ich habe es als ein radikales Antikriegsbuch empfunden; das ist meine Bewertung. Meine Damen und Herren, ich halte es für richtig, dass sich die angemessenen Formen einer Erinnerungskultur aus dem Bundestag heraus entwickeln sollen. Das gehört in die Fachausschüsse. Den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche - ich habe ihn über die Jahre verfolgt - empfinde ich als die eindrucksvollste Form der Erinnerung und Wiedergutmachung, weil dieses Symbol der Zerstörung mit großer Unterstützung aus Großbritannien, Frankreich und den USA, also aus Ländern, die an diesem Krieg beteiligt waren, wiedererrichtet wird. Wenn wir in den Ausschüssen darüber reden, können wir uns vielleicht auch einmal Gedanken machen, die über die deutsche Behandlung der Geschichte hinausgehen und in denen es darum geht, wie man der vielen zivilen Opfer dieser verheerenden Kriege, die es infolge des deutschen Angriffskriegs in Europa gegeben hat, gerade im erweiterten Europa gedenken kann. Ich vertrete stets eine Gedenkkultur von unten, die sich aus Erleben, aus Betroffenheit entwickelt und sich in der Begegnung mit anderen Menschen weiterentwickelt. Deswegen bin ich auch sehr stolz darauf, dass meine Heimatstadt Hannover seit vielen Jahren eine enge Partnerschaft mit Hiroshima hat. In dieser Partnerschaft war es von Anfang an Tradition, dass nicht nur wir Hannoveraner der Opfer von Hiroshima gedachten. Vielmehr war es ein gegenseitiges Gedenken. Auch Hannover ist im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört worden. Insbesondere in den großen industriell geprägten Stadtgebieten, in denen die Arbeiter wohnten, hat es sehr viele Opfer gegeben. Es war schon frühzeitig Teil unserer Stadtkultur, dieser Opfer bei gegenseitigen Besuchen gemeinsam mit den Opfern in Hiroshima zu gedenken. Den Gedanken des internationalen Gedenkens möchte ich in unsere Debatte einbringen. Meine Damen und Herren, auch ich will in dieser Debatte keine Polarisierung. Im Zusammenhang mit der Zerstörung Dresdens halte ich es für wichtig, die Debatte über Militärstrategien einzubeziehen, die derzeit in England geführt wird. Für mich lautet das Ergebnis dieser Debatte: Auch wenn ein Verteidigungs- und Befreiungskrieg geführt wird, der moralisch gerechtfertigt ist - in dieser Bewertung sind wir uns sicherlich einig; die Befreiung vom Faschismus war ohne Frage moralisch gerechtfertigt -, kann ein solcher Krieg völkerrechtswidrige Elemente enthalten. Gerade aufgrund der Erfahrungen, die in Deutschland, aber auch in London mit der Bombardierung ziviler Flächen gemacht wurden, ist es heute nicht mehr möglich, gegen die zivile Bevölkerung in dieser Form Krieg zu führen. Mein letzter Satz: Ich ziehe aus dieser Diskussion, die ich nie für beendet halte, weil der Opfer immer wieder neu gedacht werden muss, die Lehre, dass ein Einsatz für eine europäische Friedenspolitik das Beste ist, was wir für die Opfer tun können. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Günter Baumann, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einiger Zeit läuft in den Medien, in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik eine Debatte über die deutsche Erinnerungskultur. In deren Zentrum stehen die Zerstörungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg und die Opfer des Bombenterrors unter der deutschen Zivilbevölkerung. Verstärkt ist dabei der Ruf zu vernehmen, die Deutschen mögen sich endlich der Kriegsopfer aus den eigenen Reihen mehr annehmen, als es bislang geschehen ist. Ich frage mich, warum wir diese Problematik gerade in der heutigen Zeit diskutieren. Ich persönlich glaube nicht, dass wir unsere eigenen Opfer im Krieg in den Jahren zuvor mit einem Tabu belegt haben. Jeder von uns, der nach 1945 geboren ist, kennt Familienschicksale - wir haben heute von einigen gehört -, jeder hat über seine eigene Familiengeschichte etliches gehört, weiß von Opfern und ist mit dem Verlust an Heimat konfrontiert worden. Das sind Themen, die unsere gesamte deutsche Nation betreffen. Nein, wir leiden nicht an Gedächtnisverlust. Das zeigt auch die politische Debatte, wenn es um existenzielle Fragen von Krieg und Frieden geht. Politiker berufen sich oft auf die Grundwerte unserer Bundesrepublik, sei es bewusst oder unbewusst. Zwei davon möchte ich nennen. Der erste lautet: „Nie wieder Krieg“. Damit drücken wir aus, dass wir Deutschen - gerade weil wir auf unserem eigenen Territorium unmittelbar Kriegsopfer waren - die Schrecken des Krieges so gut kennen, dass wir die Verhinderung zukünftiger Kriege als Leitprinzip unserer Identität annehmen wollen, egal welcher politischen Richtung wir angehören. Der zweite Grundwert lautet: „Nie wieder Diktatur“. Das demokratisch-freiheitliche Leitprinzip unserer Identität kann freilich zum ersten Leitprinzip insofern in Widerspruch geraten, als es gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust den Befreiungskrieg als letztes Mittel - meine Vorredner sprachen davon nicht ausschließt. Obwohl die eigenen Opfer somit in unserem kollektiven Gedächtnis durchaus gegenwärtig waren und sind, gibt es dennoch einen guten Grund, dass wir heute darüber diskutieren. Unser kollektives Gedächtnis wandelt sich mit dem Generationswandel. Wenn wir uns in der Runde umschauen, stellt sich die Frage: Wie viele von uns haben den Krieg noch selbst erlebt? Wir haben auch auf diesem Gebiet der Erinnerungskultur einen Generationswechsel in der gesamten Gesellschaft. Wenn wir aber nationale Tragödien nicht mehr kraft persönlicher Erfahrungen, kraft kollektiver Erinnerungen wahrnehmen können, wird die Erinnerung institutionalisiert, wie es auch bei anderen Ereignissen, zum Beispiel bei der Ermordung europäischer Juden, vielfältig geschieht. Anderenfalls, wenn wir das nicht machen, droht in den nächsten Jahren tatsächlich ein Gedächtnisverlust. Es ist gut, wenn wir um die Toten in anderen Ländern trauern, die dem Krieg zum Opfer fielen, der von Deutschland ausging. Aber wir dürfen unsere eigenen Toten nicht vergessen. Wenn wir auch in Zukunft aus der Geschichte lernen wollen, müssen wir uns immer auch dessen vergewissern, was unserem eigenen Volk durch die Hitlertyrannei widerfahren ist. Die Erinnerung an die Opfer von Dresden, Hamburg oder Köln - man könnte viele Städte nennen - zählt zu unserem nationalen Erbe. Die Stadt Dresden - Frau Stokar, Sie sprachen davon -, deren historisches Zentrum in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 fast völlig zerstört worden ist, hat mit dem Wiederaufbau der Frauenkirche unserer Erinnerungskultur ein eindruckvolles Denkmal gesetzt. Ich vertrete aber die Meinung, dass diese Erinnerung nicht nur den Städten und Gemeinden überlassen werden darf, deswegen unser Antrag. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept vorzulegen. Herr Kollege Otto, ich gebe Ihnen Recht: Das kann auch der Bundestag sein. Die Erinnerung soll eine gesamtnationale Aufgabe sein. Wenn wir uns hier einigen könnten, wäre das eine gute Sache. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Präsident Wolfgang Thierse Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wassertourismus in Deutschland entwickeln und stärken - Drucksache 15/933 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({0}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Die Kollegen Annette Faße, Wilhelm Josef Sebastian, Undine Kurth und Ernst Burgbacher haben ihre Rede- beiträge zu Protokoll gegeben.1) Damit kann ich die Aus- sprache schließen. 1) Anlage 2 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/933 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2003, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen einen kühlen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.