Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer feierte am
31. Mai ihren 60. Geburtstag und der Kollege Haupt am
29. Mai ebenfalls seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere
der Kollegin und dem Kollegen im Namen des Hauses
nachträglich sehr herzlich.
({0})
Sodann müssen zwei Nachwahlen vorgenommen
werden. Im Wahlprüfungsausschuss ist die bei der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen noch offene Position
des stellvertretenden Mitglieds zu besetzen. Hierfür wird
der Kollege Josef Philip Winkler vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Josef Philip Winkler als
stellvertretendes Mitglied in den Wahlprüfungsausschuss gewählt.
Für den Beirat bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
DDR schlägt die Fraktion der CDU/CSU das bisherige
Mitglied Professor Dr. Manfred Wilke für eine weitere
Amtszeit vor. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist Professor Wilke gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes in den
Beirat gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Forderungen aus
Union und FDP zum Verzicht auf Schuldenerlasse und zur
Eintreibung von Schulden im Ausland ({1})
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi Brase, Jörg
Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea
Dückert, Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen für Ausbildung gewinnen - Drucksache 15/1090 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Christoph Hartmann ({4}), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausbildung belohnen
statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen
statt Warteschleifen finanzieren - Drucksache 15/1130 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Kranz,
Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska
Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({6}), Ursula Sowa, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN: Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg
- Drucksache 15/1091 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Eckhardt
Barthel ({8}), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska
Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ({9}), Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN: Die Qualitätsoffensive für gutes Planen
und Bauen voranbringen - Drucksache 15/1092 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
5 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 15/898
- ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Gesundheit und Soziale Sicherung
- Drucksache 15/1137 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Gabriele Lösekrug-Möller, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der
Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Friedrich
Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Wolfgang Gerhardt und der
Fraktion der FDP: Umfassender Schutz der Walbestände Verbot kommerziellen Walfangs konsequent durchsetzen
- Drucksachen 15/995 ({13}), 15/1128 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Peter Bleser
Dr. Christel Happach-Kasan
6 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU
für die vom Deutschen Bundestag gemäß §§ 31 und 36 des
Gesetzes über die Rundfunkanstalt des Bundesrechts
„Deutsche Welle“ ({14}) zu
wählenden Mitglieder des Rundfunkrates und des Verwaltungsrates der Deutschen Welle - Drucksache 15/1122 7 Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Wahl von
Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ - Drucksache 15/1123 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Hinsken,
Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Handwerk mit Zukunft
- Drucksache 15/1107 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Meisterbrief erhalten und
Handwerksordnung zukunftsfest machen
- Drucksache 15/1108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({16})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
10 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN und FDP: Sofortige und
bedingungslose Freilassung von Aung San Suu Kyi
- Drucksache 15/1105 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 14 - Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsgesetz - mit den Beratungen ohne Aussprache aufzurufen
und den Tagesordnungspunkt 23 - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - abzusetzen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Protokollen vom
26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über
den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik Estland, der Republik Lettland, der
Republik Litauen, Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Republik Slowenien
- Drucksachen 15/906, 15/1063 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({18})
- Drucksache 15/1117 Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Meckel
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Werner Hoyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Monika Heubaum, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Beitritt Bulgariens, Estlands, Lettlands,
Litauens, Rumäniens, der Slowakei und Sloweniens zur
NATO ist ein wichtiger Meilenstein zur Festigung der
Stabilität und Sicherheit des euroatlantischen Raums.
({0})
Mit ihm wird ein weiteres Kapitel in der Geschichte des
erfolgreichsten Sicherheitsprojektes nach dem Ende des
Kalten Krieges geschrieben. Zugleich rückt mit der Aufnahme dieser sieben Staaten die große transatlantische
Vision eines „Europe whole and free“ wieder ein Stück
näher. Die NATO der Zukunft nimmt weiter Gestalt an.
Das sollte für uns alle ein Grund zur Freude sein.
({1})
Blicken wir zurück: Vor vier Jahren hat das Bündnis
mit der Aufnahme Ungarns, der Tschechischen Republik
sowie Polens bereits einen entscheidenden Schritt hin
zur Überwindung der Teilung Europas gemacht. Damals
war und heute ist Deutschland einer der entscheidendsten Verfechter der Öffnung des Bündnisses für weitere
Mitgliedstaaten. Niemand in diesem Hause dürfte ernstMonika Heubaum
haft Zweifel daran haben, dass sich der Beitritt dieser
drei Länder als großer Gewinn für das Bündnis erwiesen
hat. Die Stabilitäts- und Sicherheitszone, die die NATO
für ihre Mitglieder schafft, wurde ausgeweitet und der
Demokratisierungsprozess in den Beitrittsstaaten gestärkt.
Im Jahre 1999 hätte es wohl keiner von uns für möglich gehalten, dass die Allianz in einer der Hauptstädte
der Beitrittsstaaten nur wenige Jahre später eine Entscheidung von historischer Dimension fällen würde. Mit
dem Prager Gipfel vom vergangenen November hat die
NATO entscheidende Weichen für das 21. Jahrhundert gestellt: nicht nur durch den Beschluss zur Aufnahme von sieben neuen Mitgliedstaaten, sondern auch
durch die Festlegung ganz konkreter Maßnahmen vor
dem Hintergrund der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Zudem hat die Allianz hier konkrete
Handlungsziele für das im Jahr 1999 verabschiedete
neue strategische Konzept beschlossen. An dieser Stelle
möchte ich nur beispielhaft die Schaffung einer NATOResponse-Force, die Umsetzung des Aktionsplanes zur
zivilen Notfallplanung sowie die Initiativen für die Verteidigung gegen nukleare, biologische und chemische
Waffen nennen.
Mit dem Gipfel von Prag hat die NATO ihre Handlungs- und Zukunftsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Ich möchte anfügen: Die Frühjahrstagung
der Parlamentarischen Versammlung der NATO - vor
gut einer Woche ebenfalls in Prag - hat ein weiteres Beispiel dafür geliefert, wie gut sich neben Ungarn und Polen auch die Tschechische Republik in das Bündnis integriert hat. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch mit
der weiteren Beitrittsrunde eine Erfolgsgeschichte für
das Bündnis verbunden sein wird.
({2})
Die transatlantische Gemeinschaft wird gestärkt, sie
wird aber auch den weiteren neu definierten Aufgaben
gerecht werden und sich den komplexen Herausforderungen sowohl als Bündnis gemeinsamer Verteidigung und
des gegenseitigen Beistandes, insbesondere gegen den
internationalen Terrorismus, als auch als Forum umfassender Krisen- und Konfliktprävention stellen können.
Fest steht, die Eintrittskarten in die NATO haben die
Beitrittsländer nicht zum Nulltarif erhalten. Es darf nicht
verkannt werden, dass jedes der sieben Länder erhebliche Anstrengungen unternehmen musste, um die Voraussetzungen für die Mitgliedschaft zu erfüllen. Aber die
Aufnahme in das Bündnis bedeutet für die Beitrittsländer Stabilität und bildet damit auch die Grundlage für
gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Prosperität. Nur
solche sicheren Rahmenbedingungen eröffnen den Weg
für Investitionen und fördern die Einbringung von ausländischem Kapital. Die Perspektive der Aufnahme in
das Bündnis hat die Reformanstrengungen und den
Demokratisierungsprozess in diesen Ländern erheblich
beschleunigt. Besondere Bedeutung bekommt hier neben dem Membership Action Plan die Parlamentarische
Versammlung der NATO. Sie führt die Parlamentarier
der Beitrittskandidaten an die Denkstrukturen im Bündnis heran und ermöglicht die Festigung persönlicher
Kontakte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frage einer europäischen Friedensordnung ist nicht allein Sache der
NATO. Die Osterweiterung der Europäischen Union
leistet einen großen Beitrag zur euroatlantischen Sicherheit. Sie ist eine historische Investition in eine präventive Friedens- und Sicherheitspolitik. EU und NATO
müssen eine strategische Partnerschaft eingehen. Dafür
setzen wir uns mit Nachdruck ein. Sie bildet die Basis
für ein konstruktives Zusammenwirken zwischen einem
starken Amerika und einem gestärkten Europa.
Bei allem, was NATO und EU für die Verbesserung
der europäischen Sicherheit unternehmen, ist die Partnerschaft mit einem sich demokratisierenden Russland von
herausragender Bedeutung. Dies ist eine der transatlantischen Gestaltungsaufgaben im 21. Jahrhundert. Einem
modernen, demokratischen und marktwirtschaftlichen
Russland kommt bei der Gestaltung der europäischen Sicherheit eine große Rolle zu. Die Kooperation des Bündnisses mit Russland, aber auch mit der Ukraine ist unverzichtbar. Der NATO-Russland-Rat und der von der
NATO-Ukraine-Kommission beschlossene Aktionsplan
sind hier wesentliche Meilensteine und stehen als Symbol für eine funktionierende und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diese muss auch in Zukunft weiter ausgebaut
werden.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Arbeit
der Joint Monitoring Groups bezüglich Russlands und
der Ukraine des NATO-Parlaments hervorheben, die
ebenfalls ein gutes Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit darstellen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand wird an
dieser Stelle daran zweifeln, dass Deutschland als ein
Land in der Mitte Europas von der zweiten Beitrittsrunde besonders profitieren wird. Aber nicht nur vor diesem Hintergrund heißen wir die neuen Mitgliedstaaten
der NATO herzlich willkommen.
({4})
Nach erfolgreichem Ratifizierungsverfahren könnten
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die
Slowakei und Slowenien bereits im Mai 2004 formell
Mitglieder der Allianz sein. Das wäre für Europa ein
wichtiges politisches Signal. Gleichzeitig - das möchte
ich zum Schluss meiner Ausführungen ausdrücklich sagen - bleibt die Tür des Bündnisses offen für weitere
Mitglieder.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Rühe, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Freude, die die Kollegin Heubaum zum Ausdruck gebracht hat, teilt der ganze Bundestag. Dass sich die
NATO um sieben Staaten erweitert, ist ein ganz entscheidender Beitrag zur Einheit und Sicherheit Europas.
Fast wirkt das selbstverständlich; aber man muss sich
noch einmal vor Augen führen, wie hart die Debatten vor
zehn Jahren waren und von wem die Initiative ausging.
Sie ist nicht von den Mitgliedstaaten der NATO ausgegangen, sie ist von außen gekommen. Es waren Staatsmänner wie Arpád Göncz in Ungarn, Lech Walesa in Polen und Vaclav Havel in Tschechien, die an die Tür der
NATO geklopft und gesagt haben: Wir wollen rein, wir
wollen zu euch, wir wollen dieselbe Sicherheit und Freiheit haben wie ihr. Kaum jemand hat zunächst auf sie gehört. Man hat alle möglichen Einwände dagegen vorgebracht.
Übrigens war auch die Terminologie immer falsch. Es
war falsch, von der Erweiterung der NATO zu sprechen;
einige haben sogar „expansion of NATO“, Expansion
der NATO, gesagt. Es war eine Öffnung nach dem Klopfen derjenigen, die sich aus dem Gefängnis des Warschauer Paktes befreit haben.
({0})
Es ist gut, dass wir letztlich darauf gehört haben und sich
der Prozess heute in eindrucksvoller Weise fortsetzt.
Ich will nicht zu viele Anekdoten erzählen; aber ich
will, weil immer das Zerrbild von den Militärs dargestellt wird, als hätten sie sich nichts Schöneres vorstellen
können als eine Ausweitung der NATO, darauf hinweisen, dass das Ganze nicht von den Militärs ausging. Ich
erinnere mich an ein Gespräch 1996 mit einem deutschen Mehrsternegeneral, um es dezent auszudrücken,
der mir gesagt hat, Polen könne noch nicht Mitglied der
NATO werden, die Panzer seien nicht gut genug. Ich
sage das nur, um die Geisteshaltung einiger zu verdeutlichen.
Wir sollten den Prozess nie vergessen. Wir haben
heute eine Situation, die uns allen nützt. Aber ausgegangen ist sie von denjenigen, die ihre Völker befreit und
gesagt haben: Entweder haben wir in Europa alle gemeinsam Sicherheit und Freiheit im Bündnis oder niemand wird sie auf Dauer haben. Das ist die historische
Leistung.
({1})
Natürlich war in vielen Hauptstädten, auch in Bonn,
die Rücksichtnahme auf Russland ein ganz wesentlicher
Faktor. Man muss auch die Veränderung der russischen
Position von Jelzin bis Putin würdigen. Ich glaube, dass
es eine der großen Leistungen auch von Helmut Kohl
war, Jelzin zu bewegen, 1997 den Widerstand letztlich
aufzugeben. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, den
ersten Schritt damals in den 90er-Jahren zu vollziehen.
Jetzt tun sich manche schwer mit der Nähe dieser
neuen Mitgliedstaaten zu den Vereinigten Staaten von
Amerika. Ich weiß, das ist bei Ihnen nicht der Fall, Herr
Außenminister. Wir müssen aber berücksichtigen, dass
jeder mit seiner ganz eigenen Geschichte in die NATO
kommt.
({2})
Das gilt am allermeisten für Deutschland. Man muss
sich nur einmal daran erinnern, mit welcher Geschichte
wir 1955 in die NATO gekommen sind. Bis heute sind
unsere militärischen Entscheidungen davon geprägt.
Deswegen sage ich: Den neuen Mitgliedstaaten - das
sind überwiegend Staaten aus dem ehemaligen Warschauer Pakt -, die vier oder fünf Jahrzehnte länger sozusagen eingesperrt waren und die nicht frei entscheiden
konnten, darf man keinen Vorwurf daraus machen, dass
sie sicherheits- und freiheitsdominiert sind und dass sie
ganz besonderen Wert auf die Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika legen.
({3})
Das ist historisch verständlich; denn jeder kommt mit
seiner eigenen Geschichte in dieses Bündnis. Jeder neue
Mitgliedstaat muss natürlich beachten, dass es immer
einmal Situationen geben kann, in denen er europäische
Interessen in einem Konflikt mit den Vereinigten Staaten
von Amerika vertreten muss.
Die Messlatte für eine Mitgliedschaft - die Öffnung
bleibt bestehen; das hat die Kollegin eben zu Recht im
Hinblick auf weitere Staaten angesprochen - bleibt
hoch: einstimmige Zustimmung der Mitgliedstaaten,
hohe Ansprüche an die demokratischen Strukturen und
ökonomische Fortschritte der Beitrittsstaaten.
Die Zusammenarbeit auf dem Balkan, die die Armeen
näher zusammengebracht hat, ist wichtig. Ich möchte
aber in diesen Tagen an das zehnjährige Jubiläum des
Marshall-Centers in Garmisch-Partenkirchen erinnern,
wo sich der Verteidigungsminister mit Rumsfeld treffen
wird. Dieses deutsch-amerikanische Gemeinschaftsprojekt ist den Deutschen weitgehend unbekannt. Hier sind
in den letzten zehn Jahren Tausende von Militärs und Zivilisten ausgebildet worden. Nicht die Hardware wie
zum Beispiel die Modernisierung der Panzer oder der
Flugzeuge, sondern die Software wie die Veränderung in
den Köpfen ist das Entscheidende. Wenn das nicht so
wäre, dann wäre die Mitgliedschaft der drei neuen Staaten kein Erfolg geworden. Gleiches gilt auch für die anstehende Mitgliedschaft von sieben weiteren Staaten.
Deswegen geht mein Dank an das Marshall-Center in
Garmisch-Partenkirchen für seine Arbeit im Rahmen
dieses deutsch-amerikanischen Gemeinschaftprojekts.
({4})
Ich habe dieses Center vor zehn Jahren mit dem verstorbenen Kollegen Les Aspin eingeweiht; Bill Perry hat
sich besonders darum gekümmert. Ich muss selbstkritisch zugeben: Meine amerikanischen Kollegen waren
manchmal mehr daran interessiert, was in Garmisch passierte, als andere deutsche Kollegen und auch ich selbst.
Was bis zum heutigen Tage dort geleistet wird, ist von
großer strategischer Bedeutung.
Als die Öffnung der NATO für neue Mitgliedstaaten
kaum noch abzuwenden war, wurde eine Diskussion
über die Kosten der Erweiterung initiiert und es wurden
gigantische Summen in Milliardenhöhe genannt - als ob
man Mitglied durch Modernisierung der Panzer wird -,
um abzuschrecken. Das war eine fehlgeleitete Debatte.
Wir haben inzwischen gesehen: Die eigentlichen Veränderungen - darauf können diese Staaten stolz sein - sind
die Veränderungen in den Köpfen. Diese haben die Mitgliedschaft ermöglicht und nicht die Modernisierung der
Flugzeuge und der Panzer.
({5})
Ich darf sagen, dass es ein Verdienst der Regierung
Helmut Kohls war - natürlich verbunden mit internen
Diskussionen und Auseinandersetzungen; das ist gar
keine Frage -, 1993 in der NATO Studien über die
Machbarkeit einer Öffnung zu beginnen. Nachdem die
Regierung Clinton zunächst den Schwerpunkt auf das
Verhältnis zu Russland gelegt hatte, ist es ihr großes Verdienst gewesen, dass sie diesen Weg eingeschlagen hat.
Ohne die USA wäre es letztlich nicht möglich gewesen,
diesen Prozess zu beginnen und ihn jetzt erfolgreich fortzusetzen.
Die Kollegin Heubaum hat schon die Beschlüsse des
Prager Gipfels und die Tatsache angesprochen - das ist
richtig -, dass die NATO eine neue NATO werden wird,
die sich neuen Herausforderungen stellen muss. Ich
glaube, die neuen Mitglieder werden sich dieser Sache
annehmen. Die in Prag getroffenen Entscheidungen sind
Ausdruck der gemeinsamen Überzeugung, dass europäische und amerikanische Sicherheit unteilbar ist. Angesichts der aktuellen Irritationen, die wir erleben, tun
wir gut daran, zu überlegen, wo es Schwierigkeiten und
wo es Gemeinsamkeiten gibt.
Die Anschläge der Terroristen bedrohen uns alle. Das
gilt auch für die Massenvernichtungswaffen. Sie bedrohen Amerikaner und Europäer gleichermaßen. Obgleich
Europäer und Amerikaner manchmal wirtschaftliche
Konkurrenten und Konkurrenten hinsichtlich moderner
Technologie sind, kann man eines nicht bezweifeln: Wo
immer auf der Welt Europa politisch oder ökonomisch
Erfolg hat, nützt es den USA. Umgekehrt gilt: Wenn die
Vereinigten Staaten Erfolg haben, dann nützt dies auch
Europa.
Ich kann keine existenziellen Interessen Europas und
Amerikas erkennen, von denen man sagen kann: Wenn
sich der eine durchsetzt, dann werden die existenziellen
Interessen des anderen berührt. Wir müssen in dieser Situation erkennen: Es verbinden die USA mit Europa und
Europa mit den USA mehr politische und weltanschauliche Gemeinsamkeiten als mit allen anderen Regionen
der Welt. Deswegen hat die NATO auch weiterhin ein
ganz solides politisches und geistiges Fundament.
({6})
Wichtig ist aber, dass wir Europäer unsere Verpflichtung
ernst nehmen und unsere militärischen Fähigkeiten verbessern, um ein gleichwertiger Partner der USA zu werden und auch in Zukunft gemeinsame Operationen mit
den USA durchführen zu können.
Wir werden die Verteidigungshaushalte nicht drastisch erhöhen können. Ein Regierungswechsel in
Deutschland würde sicherlich zu einer Erhöhung des
Verteidigungshaushaltes führen, aber nicht zu einer drastischen Erhöhung. Es kommt darauf an, die Gelder klüger auszugeben, als wir das bisher in Europa tun. Eigentlich ist die Analyse ganz klar: In Amerika gibt es eine
Luftwaffe; in Europa gibt es 25 Luftwaffen. Wir vergeuden jede Menge Geld, weil wir im Wesentlichen noch
nationalstaatlich vorgehen. Wir geben immerhin fast
60 Prozent der Mittel aus, die die Amerikaner für Verteidigung ausgeben. Wir haben mehr Soldaten als die Amerikaner, aber wir erreichen nur 10 Prozent des Ergebnisses, das die Amerikaner erzielen. Fast jeder Staat, selbst
wenn er im Binnenland liegt, hat ein eigenes Heer, eine
eigene Luftwaffe und eine eigene Marine.
Wir sollten uns stärker darauf besinnen, nicht mehr
nur national - natürlich gibt es nationale Interessen, nationale Profile - vorzugehen. Es gibt bereits Ansätze in
dieser Richtung. Ich kann die Bundesregierung nur sehr
darin unterstützen, diesen Teil der Vereinbarung in Brüssel umzusetzen, auf diesem Weg fortzufahren und zu
neuen Strukturen zu kommen: zu komplementären militärischen Strukturen, zu konsequenter Arbeitsteilung, zu
einem Pooling von Ressourcen. Nur durch eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit im Hinblick auf unsere
Fähigkeiten können wir erfolgreich sein.
Hier ist die Zusammenarbeit von Großbritannien und
Frankreich die Nagelprobe. Dahinter fällt auch Deutschland - von anderen einmal ganz zu schweigen - in seinen Möglichkeiten, zur Verteidigungsunion in Europa
beizutragen, weit zurück. Großbritannien und Frankreich, das ist der Schlüssel.
An diesem Projekt wird man erkennen können, ob wir
weiterhin nur reden oder ob es einen wirklichen Quantensprung nach vorne gibt. Die Franzosen haben einen
Flugzeugträger. Wenn er repariert wird, steht keiner zur
Verfügung. Bei den Engländern ist es ähnlich. Sie brauchen weitere Flugzeugträger. Jetzt gibt es Überlegungen,
baugleiche englische und französische Flugzeugträger
herzustellen, sodass auf einem britischen Flugzeugträger
auch französische Flugzeuge - dies geht bisher überhaupt nicht - und umgekehrt auf einem französischen
Flugzeugträger englische Flugzeuge landen können.
Wenn dies möglich ist, dann ist das ein ganz entscheidender Schritt. Wenn aber jedes Land wieder einen eigenen Flugzeugträger baut, der in verschiedene Himmelsrichtungen fährt, und englische Flugzeuge nicht bei den
Franzosen landen können und umgekehrt, dann - das
muss ich sagen - ist das eine schlimme Niederlage für
die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität.
({7})
Das wird eine ganz entscheidende Nagelprobe sein. Wir
sollten die Kolleginnen und Kollegen ermuntern, diesen
Schritt zu gehen.
Dass jetzt Transportflugzeuge in einem Pool zusammengefasst werden, ist ein richtiger Schritt. Schon vor
zehn Jahren habe ich gesagt - ich weiß, das ist nicht
ganz leicht -: Warum kann man nicht auch U-Boot-Flotten zusammenlegen? Warum haben die Deutschen, die Niederländer und die Norweger - ich brauche Ihnen nicht zu
sagen, was das angesichts der Geschichte des letzten Jahrhunderts bedeutet - keine gemeinsame U-Boot-Flotte?
Dann muss man vielleicht auch sagen: Das Hauptquartier sollte nicht in Deutschland sein - als großer Staat
treten wir zurück -, sondern in den Niederlanden. Genau
das wäre ein Beitrag, um Overheads zu sparen, komplementär vorzugehen und die europäische Verteidigung
besser zu organisieren.
So gibt es viele weitere Möglichkeiten, Synergien zu
erreichen und auch Staaten wie Norwegen, die Türkei
und Dänemark einzubeziehen. Ich glaube, dass der
NATO die verbesserten Fähigkeiten der europäischen
Länder zugute kommen werden. Insofern ist dies eine
Politik, die die NATO und gleichzeitig das europäische
Gewicht in der NATO stärkt.
Denken wir an die letzte Krise: Was wäre denn gewesen, wenn wir den Konvent vor fünf Jahren und in dieser
Krise einen europäischen Außenminister mit zwei Hüten
gehabt hätten? Was hätte dieser arme Außenminister sagen sollen? Er hätte sich ähnlich ausgedrückt, wie man
es in den Kommuniqués getan hat, in denen alle Positionen zusammengefügt worden sind. Das allein ist nicht
die Lösung.
Was wäre, wenn niemand Flugzeugträger hat, mit denen man einmal in die eine und einmal in die andere
Richtung fährt, sondern wenn man in einer militärischen
Krise von den Instrumenten her gezwungen ist, sich politisch zu einigen, ohne nationale Interessen zu vernachlässigen? Deswegen glaube ich, dass es nicht ausreicht,
nur politische Institutionen zu schaffen. Die militärische
Reorganisation in Europa, also weg von einer rein nationalstaatlichen Organisation, hat vielmehr eine eminent
politische Bedeutung. Würde sie umgesetzt, wären wir
in einer Krise gezwungen, gemeinsame politische Positionen zu ergreifen. Dies ist, wie ich glaube, ein heilsamer
Zwang, wenn wir wollen, dass Europa eine größere
Rolle spielt.
Mir ist klar, dass das, was ich sage, für die neuen
Staaten eine große emotionale Zumutung darstellt; denn
sie sind ja gerade wieder freie Nationalstaaten geworden. Als Erstes schafften sich selbst relativ kleine Staaten wie Ungarn und Tschechien Jagdflugzeuge an - auch
ich habe damals dagegen polemisiert - und hatten kaum
noch Geld für irgendetwas anderes. Das scheint aber
Ausdruck ihrer nationalen Identität und Unabhängigkeit
zu sein. Besser wären allerdings vier, fünf große Verbände in Europa zum Schutz des Luftraumes, auf die
man sich dann auch verlassen kann. Zwar wäre es für die
neuen Staaten emotional besonders schwer, wenn man
von ihnen verlangte, diesen Schutz übernational zu organisieren. Aber es gibt keinen anderen Weg und deshalb
müssen wir, die älteren Nationen in der NATO, die die
rein nationalstaatliche Phase schon ein bisschen länger
hinter sich haben und die bereit sind, nationale Ressourcen in gemeinsame europäische Fähigkeiten einzubringen, mit gutem Beispiel vorangehen.
Während die Initiative zur Öffnung der NATO ein
entscheidender Beitrag zur Sicherheit und Einheit Europas in den 90er-Jahren war - man muss sich nur einmal
vorstellen, wir hätten die NATO nicht erweitert -,
kommt es jetzt darauf an, Europa in der NATO so zu organisieren, dass sie den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird. Wir freuen uns, dass wir durch sehr
motivierte Mitgliedstaaten Unterstützung bekommen.
Wir heißen sie alle willkommen und freuen uns auf die
Zusammenarbeit.
({8})
Ich erteile das Wort Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
jetzt anstehenden NATO-Erweiterung - ich freue mich,
dass hier seitens der Fraktionen weit gehende Übereinstimmung über die historische Notwendigkeit dieses
Schrittes erzielt wurde - wird meines Erachtens ein ganz
wichtiger Schritt getan, um Frieden und Stabilität auf
unserem Kontinent dauerhaft zu garantieren.
Da der frühere Bundesverteidigungsminister Rühe gerade gesprochen hat und vieles von dem, was er gesagt
hat, auch die Zustimmung der Bundesregierung findet - er
hat zu Recht auf die historischen Leistungen der Vorgängerregierung hingewiesen -, möchte ich es der Fairness
wegen nicht versäumen - wir hatten in der Vergangenheit manchen heftigen Streit -, seine ganz besondere
Rolle als Bundesverteidigungsminister beim Anstoßen
der NATO-Osterweiterung zu würdigen. Herr Kollege
Rühe, ich bringe Ihnen im Namen des ganzen Hauses,
zumindest aber der Bundesregierung unseren Dank zum
Ausdruck.
({0})
Die NATO-Erweiterung ist ein zentraler Schritt. Ich
beginne da, wo mein Vorredner aufgehört hat. Die jetzige Erweiterung bis hin zu den baltischen Staaten und
nach Südosteuropa - Polen, Ungarn und Tschechien waren schon vorher Mitglieder - erfolgt in einem parallelen
Prozess zur EU-Osterweiterung. Das dürfen wir nicht
vergessen. Wenn in jüngster Zeit Diskussionen aufkamen, in denen versucht wurde, einen Gegensatz von
NATO-Erweiterung und Erweiterung der Europäischen
Union zu konstatieren, dann kann ich nur sagen, dass es
sich aus unserer Sicht als ein paralleler Prozess darstellt.
Zu Beginn meiner Amtszeit war es noch ein Anathema,
ein Tabu, dass EU und NATO zusammen tagen und die
beiden Spitzen, Javier Solana, der Hohe Repräsentant
der Europäischen Union, und NATO-Generalsekretär
Robertson, zusammenarbeiten. Heute ist diese Kooperation eine Selbstverständlichkeit - bei allen Problemen
im Detail, die es immer wieder gibt. Daran wird deutlich, welchen Fortschritt wir hier erzielt haben. An dieser
Stelle würdige ich die Leistungen der Zusammenarbeit
von Europäischer Union und NATO in Mazedonien. Die
Zusammenarbeit von Diplomatie und militärischem
Druck sowie die Sicherheitsgarantie von NATO und Europäischer Union, von Lord Robertson und Javier Solana,
haben eine weitere humanitäre Katastrophe, einen barbarischen Bürgerkrieg auf dem Balkan verhindert.
({1})
Das macht klar: Wir reden hier über die Zukunft unserer gemeinsamen Sicherheit. Deutschland liegt inmitten
eines zusammenwachsenden Europas, inmitten eines
neuen Stabilitäts- und Sicherheitsraums. Das wird unsere Lage dramatisch verändern, das wird die Anforderungen an die deutsche Außenpolitik, eingebettet in die
europäische und in die Bündnispolitik, grundsätzlich
verändern, ebenso die Fähigkeiten und die Notwendigkeiten, denen die Bundeswehr gegenüber steht.
Seien wir einmal ehrlich: Wer von uns hätte vor zwei
Jahren gedacht, dass die Bundeswehr am Hindukusch
und am Horn von Afrika in solchen Größenordnungen
eingesetzt wird, wie es heute der Fall ist? Das hätte keiner hier im Hause, egal von welcher Seite des Hauses,
als eine realistische Perspektive betrachtet.
All das macht deutlich, dass es um eine dramatische
Veränderung geht. Die neue, die erweiterte NATO muss
hierfür auch neue Strukturen entwickeln. Lassen Sie
mich an diesem Punkt wiederholen, was ich beim
NATO-Frühjahrstreffen der Außenminister gesagt habe:
Das transatlantische Bündnis gründet auf zwei Pfeilern:
auf dem nordamerikanischen, bestehend aus den USA
und Kanada, und auf dem europäischen Pfeiler. Dieses
Bündnis kann nur geschwächt oder gar gefährdet werden, wenn einer der Pfeiler so geschwächt wird, dass er
nicht mehr belastbar ist. Deswegen liegt ein starkes Europa im Interesse des Bündnisses; ein schwaches Europa
würde dieses Bündnis gefährden.
({2})
Deswegen kommt es meines Erachtens ganz entscheidend auf die erweiterte NATO an. Kollege Rühe hat über
deren Fähigkeiten gesprochen; ich möchte das nicht wiederholen, sondern unterstreiche das. Wenn ich richtig informiert bin, haben Frankreich und Großbritannien bereits die notwendigen Schritte eingeleitet, um einen
gemeinsamen Flugzeugträger zu bauen. Ja, das erleben
wir in der Europäischen Union wie in der NATO: Wir
müssen Verständnis dafür haben - es ging uns doch über
die Jahrzehnte des Kalten Krieges hinweg nicht sehr viel
anders und wir erleben es auch im Inneren -, wie viel
Zeit, wie viel Verständnis und Aufeinanderzugehen notwendig sind, um die Folgen der Teilung im Inneren zu
überwinden. Selbstverständlich sagen viele Menschen in
den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und
der NATO: Wir haben gerade eine Union überlebt, wir
haben für unsere Unabhängigkeit gekämpft. Ja, Jagdflugzeuge sind Symbol der nationalen Unabhängigkeit,
genauso wie Sprache, eigenes Geld und anderes mehr.
Das erfordert aus deren Sicht Geduld, das erfordert Zeit.
Machen Sie nicht den Boten für die Botschaft verantwortlich. Ich teile diese Position nicht; ich plädiere nur
für das zur Überwindung dieser Positionen notwendige
Verständnis. Das, was Kollege Rühe über die gemeinsamen Fähigkeiten gesagt hat, ist selbstverständlich richtig, zutiefst rational und muss die Zukunft im Bündnis
wie auch in der Europäischen Union bestimmen. Wir
müssen begreifen, dass dies seine Zeit braucht, aber wir
müssen dieses transatlantische Bündnis, das so grundsätzlichen Veränderungen unterworfen ist, auch stärken.
Die NATO betreibt heute nicht mehr klassische Landesverteidigung. Wir sind heute nicht mehr in der Situation
eines geteilten Landes, einer geteilten Stadt, wo die erstarrte Frontlinie im Grunde genommen die permanente
Bedrohung, die Konfrontationslinie war. Die NATO betreibt heute gemeinsam mit der Europäischen Union im
Wesentlichen „nation building“, um Nationen zu helfen,
sich zu stabilisieren, um in langfristigen Einsätzen regionale Stabilisierung zu betreiben. Das ist ein völlig anderes Einsatzprofil.
In diesem Zusammenhang müssen wir natürlich die
Frage stellen: Was heißt Stärkung des europäischen
Pfeilers? Europa hat drei Defizite. Das erste Defizit ist
die politische Willensbildung. Darüber wird gar nicht
vorrangig in der NATO entschieden, sondern sie wird im
Wesentlichen innerhalb der Europäischen Union vorankommen müssen. Das leistet jetzt der Konvent. Zweitens
bestehen große Probleme in den Institutionen bei der
Umsetzung des politischen Willens und drittens in Bezug auf die Fähigkeiten, den so genannten Capabilities.
Das sind die drei großen Defizite. Aber ansonsten hat
Europa überall dort, wo es um Softpower-Faktoren geht,
etwa hinsichtlich des Mittelmeerraumes oder des Nahen
Ostens, einen Instrumentenkasten, der teilweise über das
hinausgeht, was die Vereinigten Staaten von Amerika in
Bezug auf regionale Konflikte zu bieten haben.
Ich hoffe, dass der Prozess zur Beilegung des Nahostkonfliktes jetzt, angeschoben vom Präsidenten der
Vereinigten Staaten, wirklich vorangehen wird; ich halte
ihn für die regionale Stabilisierung für unverzichtbar.
Aber die Roadmap ist ein europäisches Kind und wurde
in der Europäischen Union entwickelt. An diesem Punkt
sei auch erwähnt, dass die Reform in den palästinensischen
Institutionen bis hin zum Premierminister vorangegangen
ist und dass dies vor allen Dingen Miguel Moratinos und
Javier Solana zu verdanken ist.
({3})
Oder nehmen wir das letzte EUROMED-Treffen der
arabischen Nachbarn, Israels und der Türkei mit der EU
auf Kreta, in dessen Folge sich jetzt der Blockadefaktor
Nahostkonflikt auflöst. Hier sehe ich, welche Möglichkeiten strategischer Natur sich für Frieden und Stabilität
in dieser Zone eröffnen. Der Golfkooperationsrat wird
ein ähnliches Instrument sein. Bezüglich der Türkei bitte
ich die Union, nochmals zu überdenken, was es hieße,
der Türkei die europäische Tür zuzumachen. Ich nenne
auch die Stabilitäts- und Partnerschaftsabkommen. Dieser ganze Instrumentenkasten zeigt: Wenn wir mit der
institutionellen Willensbildung und den Fähigkeiten vorankommen, wird Europa bei der Sicherung der strategischen Nachbarschaft eine ganz andere Rolle spielen.
({4})
Dazu gehört aber auch der große Kontinent Afrika,
der unsere Sicherheit ganz entscheidend mitbestimmen
wird, und zwar nicht nur der Mahgreb, sondern - in Verbindung mit dem Terrorismus und der Gefahr durch zusammenbrechende Staatsstrukturen - der gesamte Kontinent. Das werden wir an anderer Stelle zu debattieren
haben, aber auch hier ist Europa gefragt.
Was heißt also Stärkung der europäischen Säule? Auf
der NATO-Frühjahrstagung habe ich die amerikanische
Seite gefragt, ob sie bereit sei, ernsthaft über so etwas
wie eine Eurogroup in der NATO zu diskutieren und
sie dann auch zuzulassen. Ich bin der Meinung, dass die
europäische Sicherheit im Wesentlichen in Verbindung
mit EU und NATO bzw. - was die Fähigkeiten betrifft innerhalb der NATO geschaffen werden sollte. Das ist
die Position nicht nur dieser Bundesregierung, sondern
auch die der vorherigen.
Ich meine, dass man dann ehrlicherweise das Tabu
der Bildung einer europäischen Gruppe brechen und darüber ernsthaft diskutieren muss.
({5})
Es mag sein, dass man am Ende zu einer Negativposition
kommt. Ich möchte das nicht ausschließen. Aber die
Diskussion mit der nordamerikanischen Seite muss beginnen. Ich meine damit die USA und Kanada.
({6})
Das halte ich für einen wichtigen Punkt; denn sonst werden die Prozesse außerhalb stattfinden. Das hielte ich
nur für die zweit- oder drittbeste Lösung.
Im Klartext heißt das: Den neuen Gefahren, die uns
heute, im Moment der Erweiterung, angesichts der dramatischen strategischen Veränderungen alle gemeinsam
bedrohen und die eine andere Sicherheitsstrategie erfordern - diese Gefahren sind in der Wirkung mit den alten
Gefahren zu vergleichen -, ihnen zu begegnen, das wird
aber eine neue Sicherheitsstrategie mit anderem Einsatzprofil und hinsichtlich der regionalen Stabilisierung ähnliche Zeithorizonte wie bei der Überwindung des Kalten
Krieges erforderlich machen.
Wenn man das zusammennimmt, werden wir die erweiterte NATO neu erfinden müssen. Wir müssen kein
neues Bündnis schaffen, werden aber dieses Bündnis
neu erfinden müssen, wenn es seine Wirkung entfalten
soll.
({7})
Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich denke, das ist eine der Botschaften, die mit der Erweiterung verbunden sind.
Wenn es darüber hinaus gelingt, die strategische Partnerschaft mit Russland auf eine dauerhafte, stabile
Grundlage zu stellen, werden wir eine völlig veränderte
und sehr positive Sicherheitslandschaft in unserem direkten Umfeld haben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Werner Hoyer, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben zu Beginn des Ratifizierungsverfahrens vor vier
Wochen hier im Deutschen Bundestag einhellig die Aufnahme der sieben neuen Mitglieder in die NATO begrüßt. Ja, wir haben dieses Ergebnis als geradezu tektonische Veränderung in Europa, die eine Verschiebung
der Geografie bedeutet, begrüßt. Ich freue mich, dass
diese in schwierigen außenpolitischen Zeiten leider seltener gewordene Einigkeit in diesem Hause auch heute
bestehen bleibt.
Der Deutsche Bundestag freut sich über diesen
Schritt; denn er ist - Kollege Rühe hat völlig zu Recht
darauf hingewiesen - insbesondere mit Blick auf die letzten 15 Jahre alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Die große Leistung, die erreicht worden ist, wird nicht
dadurch erbracht, dass wir heute dem Ratifikationsgesetz
zustimmen. Sie ist vielmehr durch eine gigantische Freiheitsrevolution erbracht worden, die die Bürgerinnen
und Bürger in Mittel-, Ost- und Südosteuropa getragen
haben.
({0})
Diese Länder sind einen langen Weg gegangen. Wir
nehmen sie heute in eine NATO auf, die jetzt eine andere
ist als zu dem Zeitpunkt, als sie den Aufnahmeantrag
zum ersten Mal erwogen haben. Nachdem sie sich seinerzeit vom Joch der sowjetischen Unterdrückung befreit haben, haben sie in allererster Linie die Sicherheit
und die Garantien des NATO-Bündnisses gesehen und
haben deshalb oft genug gesagt: Das ist uns zunächst
einmal wichtiger als die Integration in wirtschaftliche
und gesellschaftliche Strukturen, die wir im Rahmen der
Europäischen Union vorantreiben. Das ist verständlich.
Der Interessenschwerpunkt hat sich mittlerweile verschoben, denn die NATO ist eine andere geworden. Das
ist eine Erkenntnis, die auch für die Bürgerinnen und
Bürger in den Beitrittsstaaten nicht ganz leicht ist. Es erfordert nämlich eine erneute Anpassung, eine gigantische Veränderung nach den ungeheuren Veränderungen,
die den Menschen in Mittel- und Osteuropa in den letzten gut zehn Jahren abverlangt worden sind.
Meine Damen und Herren, die Selbstverständlichkeit,
mit der NATO und EU miteinander umgehen - Herr
Fischer hat das eben zu Recht angesprochen -, war ja
vor zehn oder auch vor acht Jahren noch keineswegs gegeben. Ich erinnere mich noch sehr gut: Wenige Tage
nachdem unser damaliger EU-Ratspräsident, der damalige spanische Außenminister Javier Solana, in das Amt
des NATO-Generalsekretärs gewechselt ist, haben wir
einmal ganz vorsichtig versucht, ihn anlässlich eines informellen Mittagessens in den Kreis des Rates einzuladen, um über Fragen von militärischen und sicherheitspolitischen Dimensionen zu diskutieren. Das ist sofort
strikt abgelehnt worden; das wäre weder in Paris noch in
Washington vermittelbar gewesen. Das ist gerade einmal
acht Jahre her. Das zeigt, dass inzwischen gigantische
Fortschritte erzielt worden sind.
Dennoch steckt die NATO in einer tiefen Krise. Wir
haben das bei der sehr eindrucksvollen Debatte anlässlich der NATO-Parlamentarierversammlung in der letzten Woche erlebt. Es ist ein spannender Diskussionsprozess, der alles andere als abgeschlossen ist. Ich denke,
wir sollten an dem festhalten, was wir in der NATO haben. Sie ist das einzige operative Militärbündnis, sie ist
nicht nur das erfolgreichste in der Geschichte, sondern
bietet auch für die Zukunftsgestaltung die beste Perspektive.
Die NATO leistet zurzeit in Afghanistan schon Großartiges und wird ihre Rolle in der zweiten Jahreshälfte
noch verstärken. Aber die NATO kann mehr und wir
werden sie mehr machen lassen müssen. Die Welt ist
nicht sicherer, die Bedrohung nicht geringer geworden;
das wissen wir alle.
Nordamerikaner und Europäer sitzen an einem Tisch
- in institutionalisierter Form, mit jahrzehntelanger positiver Erfahrung und sogar mit einem funktionsfähigen,
operativ verwendbaren Militärapparat ausgestattet. Wer,
wenn nicht die NATO, sollte für eine gemeinsame westliche Sicherheitspolitik den Rahmen bilden, aber eben
zugleich auch den Arm?
Die Realität sieht heute anders aus. Die NATO spielt
bei brandheißen aktuellen Entscheidungen und Herausforderungen der Sicherheitspolitik praktisch keine Rolle.
Das war nach dem 11. September so, trotz der erstmaligen Ausrufung des Bündnisfalles, das war im Irak so
und das ist jetzt im Kongo wieder der Fall. Was diesen
letzten Fall angeht, bedauere ich das übrigens sehr. Ich
finde es sehr gut und begrüße auch die Unterstützung der
Bundesregierung bei dem Ansinnen, dass die Vereinten
Nationen sich dem Thema Kongo jetzt in großer Intensität und mit großer Kraftanstrengung zuwenden. Aber die
sicherheitspolitische Aufgabe, die dort jetzt wahrscheinlich zu erledigen ist - und das ist nur ein ganz kleiner
Teil der Aufgaben, die in Afrika zu erledigen sind -, ist
nach meiner Auffassung möglicherweise doch besser bei
der NATO anzusiedeln als bei der Europäischen Union.
({1})
Als glühender Verfechter des europäischen Integrationsprozesses, der die Meinung vertritt, dass wir auch unsere
sicherheitspolitisch-militärischen Strukturen in der EU
verbessern müssen, bin ich dezidiert der Auffassung,
dass wir uns nicht überheben dürfen, wenn wir noch
nicht so weit sind. Ich erinnere mich an die Debatte vor
wenigen Monaten, als wir gefragt haben, ob nicht vielleicht der Einsatz in Bosnien-Herzegowina neben dem in
Mazedonien besser von der EU wahrgenommen werden
sollte. Da hieß es: Nein, das können wir in der EU noch
nicht; so weit sind wir noch nicht. Aber jetzt plötzlich
können wir es im Kongo. Beim Einsatz im Kongo sprach
Kofi Annan in seiner gestrigen Vorlage für den Weltsicherheitsrat schon von 11 000 Mann, auch mit einer großen Aufwuchsperspektive, zusätzlich zu dem, was bei
MONUC jetzt schon der Fall ist. Es geht dort um eine gigantische, eine riesige militärische Operation, die nichts
mit Blauhelmeinsätzen oder dem Auseinanderhalten von
bereits getrennten Konfliktparteien zu tun hat. Es geht
um einen sehr gefährlichen, einen schmutzigen Einsatz.
Ich bin übrigens der Auffassung, dass die Bundeswehr aufgrund ihrer Ausbildungsphilosophie in den
letzten 50 Jahren aus gutem Grunde nicht befähigt ist,
dort einen Kampfeinsatz zu leisten. Wir sollten die Bundeswehr dafür gar nicht kritisieren, denn wir haben sie
aus gutem Grund anders ausgebildet. Die verteidigungspolitischen Richtlinien, über die wir gegenwärtig diskutieren, zeigen, dass auch für die Bundeswehr hier ein erheblicher Anpassungs- und Modernisierungsbedarf
besteht. Aber wir müssen diese Schritte vorsichtig vollziehen und uns auch genau überlegen, mit welchen Fähigkeiten wir die Bundeswehr ausstatten wollen.
Meine Damen und Herren, die Befürworter der NATO,
zu denen ich mich selbstverständlich auch seit vielen
Jahren zähle, haben immer gesagt, wenn die NATO nicht
bereit sei, „out of area“ zu gehen, sei sie bald „out of
business“. Jetzt hat die NATO ihr theoretisches und zum
Teil auch schon ihr praktisches Operationsgebiet längst
ausgedehnt. Sie ist längst „out of area“ und droht trotzdem mehr denn je „out of business“ zu gehen. Woran das
liegt, ist klar.
Wir müssen die Pfeiler und den Bogen der transatlantischen Freundschaftsbrücke wieder auf beiden Seiten
stärken.
({2})
Das heißt, nicht nur auf politische Deklamation bedacht
zu sein, sondern auch die Bereitschaft zu haben, den
amerikanischen Freunden auf militärischem Gebiet mehr
anzubieten und mehr zu leisten. Herr Kollege Rühe hat
völlig Recht: Das ist nicht an 24,4 Milliarden Euro festzumachen. Es muss darauf ankommen, was wir aus dem
vorhandenen Geld machen.
Ich erinnere, da Sie eben das Thema Jagdflugzeuge
angesprochen haben, an die Debatte, die wir Ende der
80er- und Anfang der 90er-Jahre über den Jäger 90, später Eurofighter, geführt haben. Durch unsere Entscheidungen haben wir dafür gesorgt, dass in Westeuropa drei
Jagdflugzeuge gleichzeitig entwickelt wurden, Gripen,
Rafale und Eurofighter, die jetzt peu à peu in die Luftwaffen der europäischen Länder eingeführt werden.
Wäre schon damals die Bereitschaft vorhanden gewesen,
über echte Arbeitsteilung im Bündnis zu sprechen,
dann - ({3})
- Das hat nichts mit Regierung dieser oder jener Couleur
zu tun. Farblich war es in Europa immer sehr bunt. Herr
Kollege Tauss, Sie liegen völlig falsch.
({4})
Das ist eine Frage von Mentalität auf unserem gesamten
Kontinent, seinerzeit wie heute.
({5})
Die Bereitschaft, darüber nachzudenken, ob man
nicht eine wirkliche Arbeitsteilung in dem Sinne vornehmen sollte, dass man unsere relativ großen und zumindest damals recht neuen Luftangriffskapazitäten in Tornadoverbänden konsolidiert und stärkt und gleichzeitig
die Luftverteidigungsaufgaben Partnern im Bündnis
überlässt, die ihre Stärke im Bereich der Luftabwehr haben, war seinerzeit nicht vorhanden. Wir müssen auch
heute sehr viel mehr daran arbeiten, eine solche Bereitschaft herzustellen.
Das setzt allerdings den Willen voraus, die Diskussion über Souveränitätsverzicht zu führen.
({6})
In diesem Rahmen müssten wir uns nämlich auch darüber unterhalten, ob es möglich ist, dass in einem solchen
Fall, den wir leider vor einiger Zeit in Frankfurt erleben
mussten - der Verteidigungsminister war in einer überaus schwierigen Entscheidungssituation -, der dann
eventuell notwendig werdende Einsatz auch von einem
britischen, französischen oder niederländischen Flugzeug durchgeführt werden kann. Diese Diskussion müssen wir führen. Ich denke, wir sollten jetzt, ermutigt
durch den Beitritt der neuen Mitglieder der NATO, die
Kraft aufbringen, solche Diskussionen zu führen. Wir
sagen diesen neuen Mitgliedern: Welcome to the Club.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf dem NATO-Gipfel in Prag am 21. November letzten Jahres haben die Staats- und Regierungschefs
entschieden, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprächen einzuladen. Mit den schon 1999 erfolgten Beitritten
Polens, Tschechiens und Ungarns findet damit ein Prozess seinen vorläufigen Höhepunkt, den man vor dem
Hintergrund der Geschichte des letzten Jahrhunderts nur
als atemberaubend bezeichnen kann.
Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom Sommer 1939
wurde im Prinzip eine Trennlinie durch Europa von
Finnland bis an das Schwarze Meer gezogen. Hier wurden Interessensphären abgegrenzt, über die Köpfe der
betroffenen Länder und der Menschen hinweg. Nach
dem deutschen Überfall auf Polen wurden die baltischen
Staaten der Sowjetunion einverleibt, ebenso ein großer
Teil Polens und Teile Rumäniens. Im Prinzip hielt diese
Aufteilung, allerdings mit einer erheblichen Westverschiebung verbunden, bis zum Ende des Kalten Krieges,
also länger als 50 Jahre. Das faschistische Deutschland
hatte als Akteur maßgeblichen Anteil an dieser verfehlten und verbrecherischen Politik. Deutschland wurde,
auch das darf nicht verschwiegen werden, selber Opfer
der Folgen dieser Politik.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lehre,
die die Eliten in den meisten der am Ersten Weltkrieg beteiligten Länder aus diesem Krieg gezogen hatten, nämlich eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den
Ländern in West- und Zentraleuropa zu vermeiden, zogen die Eliten in Deutschland, zumindest mehrheitlich,
endgültig erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war die
Politik der sozialliberalen Koalition ab 1969, die
durch die Anerkennung der Folgen des Zweiten Weltkrieges dazu führte, dass sich die Blöcke anfangs zwar
kaum wahrnehmbar, aber dennoch mit zunehmender Beschleunigung annäherten. Der Beginn dieser Politik war
in der damaligen Bundesrepublik Deutschland mit einer
großen politischen Auseinandersetzung, ja einer innenpolitischen Zerreißprobe verbunden.
Heute steht fest: Die Verträge mit der Sowjetunion,
mit Polen, mit der damaligen Tschechoslowakei und der
Grundlagenvertrag mit der DDR waren die grundlegenden Vorbedingungen für den Helsinki-Prozess und für
die nachfolgenden KSZE- und OSZE-Vereinbarungen.
({0})
Es war der so genannte Korb 3 der Helsinki-Vereinbarungen, der in den Ländern des damaligen Ostblocks
mit dafür sorgte, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse anfangs langsam, dann aber mit Urgewalt wandelten. Das Konzept von Willy Brandt und Egon Bahr, das
Konzept des Wandels durch Annäherung, war, das
kann man heute mit Genugtuung und vor allen Dingen
mit Dankbarkeit sagen, erfolgreich.
({1})
Als Teile dieses Hauses noch in den Schützengräben
des Kalten Krieges verharrten, sorgte diese kluge und
vertrauensbildende Politik dafür, dass die notwendigen
Vorbedingungen geschaffen wurden, um das gemeinsame Haus Europa wieder in Frieden und Freiheit bewohnbar zu machen. Die große Mehrheit der Menschen
in Deutschland und in Europa hat das damals intuitiv
schnell verstanden. Konnte die Sowjetunion den Prager
Frühling 1968, den Versuch also, einen Sozialismus mit
einem menschlichen Angesicht zu schaffen, mit dem
Warschauer Pakt noch mit Gewalt stoppen, war dies
nach der Einleitung des Helsinki-Prozesses in Europa
nicht mehr möglich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen
nicht vergessen, dass der Wandel im damaligen Ostblock
von Polen ausging - ich erinnere an die Solidarnosc-Bewegung - und sich in der Sowjetunion unter Gorbatschow
mit Perestroika und Glasnost fortsetzte. Die von der SPD
und von Willy Brandt zu Beginn der 70er-Jahre eingeleitete Politik hat mit zu diesem Wandel beigetragen. Das
bleibt das große Verdienst.
({2})
Durchgeführt und umgesetzt haben diesen Prozess aber
die vielen Menschen in den Ländern des ehemaligen
Warschauer Paktes. Das bleibt ihr Verdienst.
({3})
Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem die
Länder, die durch den Hitler-Stalin-Pakt der Willkür der
Diktaturen ausgeliefert wurden, Mitglieder der NATO
werden. Das dient dem Frieden und der Entwicklung in
diesen Ländern und damit auch bei uns.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
hat sich auch die NATO seit ihrer Gründung verändert.
Die NATO wirkt nicht mehr in erster Linie aufgrund der
atomaren Abschreckung. Das ist aus meiner Sicht der eigentliche Bedeutungswandel. Wie schon in den vergangenen Jahren wird die NATO auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Überzeugungen ihrer Mitglieder in
Zukunft noch stärker der internationalen Krisen- und
Konfliktbewältigung verpflichtet sein. Die notwendige
verstärkte Partnerschaft zwischen der Europäischen
Union und der NATO ist dabei der Weg, um ein starkes
Amerika und ein sich entwickelndes gemeinsames Europa konstruktiv zusammenwirken zu lassen. Der Beitritt der sieben Länder ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.
Ein wesentlicher Teil der NATO-Entwicklung seit
1990 zielte darauf, den mittel- und osteuropäischen
Raum unter anderem durch die Einbindung in ein Netz
von Sicherheitsbeziehungen politisch und wirtschaftlich
zu stabilisieren. Elemente dieser Politik waren und sind
der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat, das Programm
Partnerschaft für den Frieden sowie die besonderen Beziehungen der Allianz zu Russland und zur Ukraine.
Alle neuen Mitglieder haben im Rahmen des PfP-Programms und mit der anschließenden Teilnahme am so
genannten Membership Action Plan in den Bereichen
Standardisierung und Interoperabilität ihrer militärischen Möglichkeiten große Anstrengungen unternommen. Das war auch eine der Grundvoraussetzungen für
die Einladung zur Mitgliedschaft.
Deutschland hat die zukünftigen Mitglieder in den
vergangenen Jahren bei der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft bilateral ganz konkret unterstützt, zum Beispiel durch Ausbildungshilfe, Materialhilfe, Austausch
von Soldaten und militärpolitische Konsultationen. Damit unsere neuen NATO-Partner die geltenden Standards
in allen Bereichen erfüllen können, wird auch in den
kommenden Jahren eine weitere Unterstützung notwendig sein. Dieser Aufgabe wird sich Deutschland nicht
verschließen. Wir sollten schon aus unserem Eigeninteresse heraus daran interessiert sein; denn Deutschland
profitiert allein aufgrund seiner geographischen Lage in
Zentraleuropa vom Beitritt der neuen Mitglieder.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die NATO
ist seit 1990 in verstärktem Maße keine bloße Militärorganisation mehr. Dies würde nicht nur dem Art. 2 des
Nordatlantikvertrages von 1949, sondern auch der aktuellen Aufgabenzuweisung durch die NATO selbst bzw.
ihrer Erweiterungsperspektive widersprechen. Dieser
Grundsachverhalt wird schon durch die Vorbedingungen
deutlich, die die NATO den sieben neuen Mitgliedern für
eine Aufnahme gestellt hat. Sie waren nicht nur militärischer, sondern ausdrücklich auch politischer Natur: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Regelung von internationalen Streitfragen einschließlich ethnischer Konflikte
mit friedlichen Mitteln, Respektierung der Menschenrechte, Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und
zivile Kontrolle der Streitkräfte. Alle diese Punkte sind
bei den sieben Beitrittsstaaten auf einem guten Weg.
Wir freuen uns darauf, die neuen demokratischen
Staaten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei als Mitglieder der
NATO im alten Europa zu begrüßen.
({4})
Der Weg zur Überwindung der Spaltung Europas als
Ergebnis des Zweiten Weltkrieges ist damit abermals ein
großes Stück vorangekommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile nun dem Kollegen Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
NATO ist die größte Friedensbewegung in Europa. Sie
ist unser Garant für Frieden, Freiheit, Stabilität und
Demokratie. Der frühere Bundesverteidigungsminister
Volker Rühe hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht:
Es waren die Beitrittsstaaten, die an die Tür zur NATO
geklopft haben. Ganz bescheiden hat er sein Licht unter
den Scheffel gestellt: Es waren natürlich auch Helmut
Kohl und Volker Rühe, die die Tür aufgemacht haben.
Ich erinnere an den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat,
an die Partnerschaft für den Frieden, die den ersten Erweiterungsschritt um Polen, Ungarn und Tschechien
nach sich zog, und an unser Bemühen, die baltischen
Staaten in die NATO aufzunehmen. Dafür gebühren
Volker Rühe und Helmut Kohl unser Dank und unsere
Anerkennung.
({0})
Die NATO reicht heute, wenn man die fast assoziierten Mitglieder mitrechnet, von Vancouver bis Wladiwostok. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage,
ob uns bewusst ist, wie wir diese enormen Herausforderungen an die Politik, aber auch an unsere Soldatinnen
und Soldaten schultern können. Es stellt sich auch die
Frage: Wo liegt die Zukunft der NATO? Die NATO ist
heute in der Tat weit über den eigenen Raum hinaus auf
den Krisenschauplätzen der Welt präsent. Sie ist seit vielen Jahren auf dem Balkan, ab August in Afghanistan,
im kommenden Jahr wohl auch im Irak und möglicherweise zusammen mit der EU im Kongo tätig.
Diese Einsätze sind in der Bevölkerung nicht unumstritten. Die Frage muss gestellt werden: Können die
NATO und unsere Bundeswehr diesen Auftrag erfüllen?
Minister Struck und unser Außenminister denken über
einen Kongoeinsatz der Bundeswehr nach. Der Bundesverteidigungsminister überlegt die Erweiterung des Afghanistaneinsatzes. Die Bundeswehr leistet schon jetzt
hervorragende Dienste in Bosnien, im Kosovo und in
Mazedonien. Die Bundeswehr erbringt ihren Einsatz in
Nahost. Über 10 000 Soldaten sind derzeit im Friedensdienst der NATO und der EU tätig.
Angesichts dieser Belastungen, die wir unseren Soldatinnen und Soldaten auferlegen, stellt sich die Frage:
Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur Bundeswehr im Innern? Ich stelle fest: Es hat noch nie einen
Bundeskanzler, einen Bundesverteidigungsminister und
einen Außenminister gegeben, die so schnell und so
viele Zusagen für Auslandseinsätze gegeben haben und
die gleichzeitig die Bundeswehr zu Hause so schlecht
behandeln, wie sie derzeit behandelt wird.
({1})
All das passt nicht zusammen. Wenn Sie mit den Soldatinnen und Soldaten sprechen, dann werden Ihnen
diese Klagen vorgetragen. Die Bundeswehr leidet heute
nicht nur unter drastischer Unterfinanzierung und
schlechter Ausstattung. Was noch viel schlimmer ist: Es
fehlt ihr die Anerkennung dieser Bundesregierung für ihren Dienst!
({2})
Einen Bundeswehreinsatz im Kongo über humanitäre
Hilfe hinaus lehnen wir ab.
({3})
Auch eine qualitative Ausweitung des deutschen Afghanistaneinsatzes findet nicht unsere Zustimmung.
Zum Kongo: Zunächst wurde ein Angebot für ein
Ambulanzflugzeug gemacht. Dann wurden Transallflugzeuge und Stabsoffiziere genannt. Seit heute sind Fallschirmjäger und Pioniere im Gespräch. Herr Struck, Sie
werden heute in der „Welt“ zitiert mit den Worten:
Ich glaube nicht, dass Deutschlands Soldaten als
Kampftruppen ins Gebiet gehen werden.
Ich frage Sie: Schließen Sie das aus? Sagen Sie uns, was
Sie wollen!
Auf der einen Seite werden minensichere Fahrzeuge
für die Bundeswehr heute abbestellt; der Dingo wird auf
2009 verschoben. Auf der anderen Seite schicken Sie die
Bundeswehr in höchst gefährliche Auslandseinsätze.
Dies passt nicht zusammen.
({4})
Sie sagen, die Situation im Kongo gehöre nicht zum
Thema. Das gehört sehr wohl zum Thema und heute
muss darüber gesprochen werden. Im Kongo zeigt sich,
Herr Außenminister, natürlich auch noch etwas anderes,
nämlich das Scheitern der Afrikapolitik dieser Bundesregierung. Jahrelang wurde der schwarze Kontinent vergessen und vernachlässigt. Jetzt brennt es - nicht nur im
Kongo. Was wir benötigen, ist nicht die Eingreiftruppe
der Bundeswehr. Wir benötigen ein politisches Gesamtkonzept für die afrikanischen Staaten zur wirtschaftlichen Kooperation und Stabilisierung. Wo sind die Vorschläge des Bundesaußenministers hierzu?
({5})
Die Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen auch
politisch flankiert sein. Der Bundesaußenminister aber
stellt nur Forderungen auf. Herr Bundesaußenminister,
wer in Einsätze hineingeht, muss auch wieder herausgehen. Wo ist Ihre politische Strategie? Wo sind Ihre Initiativen für Bosnien, für Kosovo, für Mazedonien, für Afghanistan? Die Soldatinnen und Soldaten, unsere
Bevölkerung und wir wollen wissen, ob es sich dort um
unbeschränkte, immer währende Einsätze handelt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich einige Anmerkungen zur Zukunft der NATO machen, und zwar zunächst einige aktuelle Anmerkungen
zur laufenden Konventsdebatte und zur Rolle der ESVP.
Meine Einschätzung ist klar: Die ESVP ist wichtig, aber
sie kann und soll die NATO nicht ersetzen. Die atlantische Allianz und unsere Freundschaft im Bündnis mit
den Vereinigten Staaten von Amerika bleiben weiterhin
zuständig für die kollektive Verteidigung der Mitglieder,
aber auch für internationales Krisenmanagement. Amerika ist auch in Zukunft unser unverzichtbarer Partner für
Sicherheit und Stabilität.
Ebenso wenig sehe ich das Ziel bei der ESVP in der
Schaffung einer europäischen Armee. Darüber müssen
wir miteinander diskutieren. Die Streitkräfte bleiben
auch in Zukunft ihrem jeweiligen nationalen Kommando
unterstellt. Wir brauchen keine eigenständigen militärischen EU-Strukturen, parallel und in Duplizierung von
NATO-Strukturen. Das verschwendet Ressourcen, untergräbt die transatlantischen Beziehungen und erschwert
eine enge Abstimmung zwischen EU und NATO. Die
EU kann die NATO nur ergänzen, nicht ersetzen.
Offen ist auch, für welche Einsatzszenarien die neuen
Krisenreaktionskräfte vorgesehen sind: Auf welcher
Grundlage und unter welchen Voraussetzungen können
unsere Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden?
Wie weit reicht dafür im Einzelfall der Konsens unter
den europäischen Mitgliedstaaten? Es muss insbesondere auch die Frage geklärt werden, wie weit das Recht
auf humanitäre Intervention gehen kann und gehen darf.
Wir müssen uns dabei hier in diesem Haus und darüber
hinaus über die notwendigen Rechtsgrundlagen verständigen und Initiativen zur Anpassung des humanitären
Völkerrechts an die neuen Bedrohungen entwickeln.
Betrachten wir die Massengräber und Massaker im
Irak: Der Einsatz der Amerikaner wurde von Ihnen mit
allen Mitteln heftigst bekämpft. Betrachten wir den Massenmord im Kongo: Er wurde von uns allen über Jahre
hinweg ignoriert, rechtfertigt jetzt aber offensichtlich
den Einsatz der Bundeswehr. - Das ist eine verlogene
Moral. Das ist eine gespaltene Moral. Das ist die grüne
Moral des Außenministers Ihrer Partei.
({6})
Europa muss handlungsfähig sein. Das ist unbestritten. Deshalb werden wir im Rahmen der Konventsdebatte für mehr Mut in der Frage der Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Prinzip der
doppelten Mehrheit eintreten, Herr Außenminister.
Einzelnen Staaten darf in Zukunft weder ein nationaler Sonderweg möglich sein, noch dürfen sie das gemeinschaftliche Handeln durch ihr Veto verhindern. In
dieser Hinsicht ist sozusagen ein Quantensprung in der
europäischen Ordnung erforderlich. Wir befürworten
deshalb die Zusammenlegung der Positionen Solanas
und des Außenkommissars der EU. Wir sind aber nicht
für die Schaffung eines Königreichs für Joschka Fischer.
Dies wird es nicht geben.
({7})
Es wird weder einen diplomatischen Dienst für Joschka
noch eine Hofgarde für seine Eminenz, den deutschen
Außenminister, geben.
({8})
Wir hätten etwas mehr Initiative vonseiten dieses Außenministers erwartet, um die neuen Entscheidungsstrukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik voranzubringen. Auch die NATO und der UNSicherheitsrat sind reformbedürftig.
Lassen Sie mich zum Schluss eine grundsätzliche Anmerkung machen.
({9})
Wir alle - über die Parteigrenzen und Generationen hinaus - brauchen mehr Mut für den Frieden in der Welt.
Das fängt nicht bei den Truppen an, Herr Außenminister,
sondern das fängt im Kopf an. Notwendig sind eine humanitäre Strategie, eine stärkere Entwicklungskooperation zwischen Reich und Arm und ein Dialog der Weltkulturen und Weltregionen. Dazu gehört aber auch und
in erster Linie der Wille, diese Welt nicht mit Waffen zu
überschwemmen.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Müller, leider haben Sie das vorzügliche Niveau
der Rede Ihres Kollegen Rühe in keiner Weise halten
können.
({0})
Sie gestatten, dass ich jetzt zum Thema zurückkehre.
Wenn der Deutsche Bundestag heute der Aufnahme
von sieben ost- und südosteuropäischen Staaten in die
NATO zustimmt, dann geschieht das in größter Einmütigkeit, aber auch ohne sonderlich starken Widerhall in
der Öffentlichkeit. Nichtsdestoweniger ist der bevorstehende Beitritt der sieben Staaten ein Vorgang von historischer Bedeutung, besonders aus der Sicht der betroffenen neuen Mitgliedstaaten. Ich bin erleichtert und froh,
dass sich der Erweiterungsprozess ohne die Brüche und
neue Spaltungen vollzogen hat, die ich und viele andere
in der damaligen Opposition Mitte der 90er-Jahre befürchtet hatten.
Bei der gängigen Feststellung, mit der NATO-Erweiterung und ihrer Öffnung dehne sich der transatlantische
Stabilitätsraum aus, handelt es sich ausdrücklich nicht
um das übliche Selbstlob einer großen Institution oder
um bloße NATO-Lyrik. Die Erweiterung wurde und
wird als Prozess gestaltet, der aus Dialog, Kooperation,
inneren Reformen und Konfliktbeilegung besteht. Die
Membership Action Plans stellen Anforderungen an
die künftigen Mitglieder: hinsichtlich der friedlichen
Regulierung von inneren - auch von ethnischen und territorialen - Konflikten, der Achtung der Menschenrechte
und der demokratischen Kontrolle der Streitkräfte.
Schließlich fordern sie Beiträge zur nationalen Verteidigung, zur Bündnisverteidigung und zu PeacekeepingEinsätzen der NATO und der Vereinten Nationen.
Die sieben Anwärterstaaten haben hierbei höchst unterschiedliche Anforderungen zu bewältigen. Bulgarien,
Rumänien und die Slowakei müssen ihre Armeen aus
der Zeit des Warschauer Paktes in den kommenden Jahren erheblich reduzieren, und zwar um ungefähr ein
Drittel ihrer Kopfstärke. Sie haben sie umzubauen und
auf ihre Interoperabilität im Bündnis umzustellen.
Die baltischen Staaten und Slowenien müssen neue
Streitkräfte aufbauen, die als Teil des Bündnisses aber
viel kleiner sein können, als wenn sie national auf sich
allein angewiesen wären. Der Anspruch kollektiver und
kooperativer Sicherheit findet seinen praktischen Niederschlag in ersten multinationalen Verbänden, zum Beispiel - man höre! - in einer tschechisch-polnisch-slowakischen Brigade, und in einer breiten Beteiligung an
friedensbewahrenden Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Kabul und sogar bei Enduring Freedom.
Zusammengefasst: Die NATO-Beitritte sind bedeutsame Beiträge zur Stabilisierung eines Raums, der sich
nach der Implosion des Ostblocks wahrhaftig auch sehr
explosiv hätte entwickeln können.
({1})
Die militärische Integration in Europa, in der Europäischen Union und in der NATO schreitet voran. Die politische Gemeinsamkeit fiel demgegenüber allerdings in
den letzten Monaten massiv zurück. Die Frühjahrstagung der NATO-Parlamentarierversammlung vor einigen Tagen in Prag war von der Erfahrung einer regelrechten Spaltung und Marginalisierung der NATO im
Umfeld der Irakkrise geprägt. Aber die Meinungsrisse
auf dieser Tagung verliefen nicht einfach zwischen dem
so genannten alten und dem neuen Europa, sondern oft
mitten durch die nationalen Delegationen hindurch. Das
notorische Bemühen der Union hierzulande, vor allem
die Bundesregierung zum Sündenbock für die Turbulenzen in der NATO zu machen, zielt - das zeigte die Parlamentarierversammlung sehr deutlich - an der Realität
völlig vorbei.
({2})
Offenkundig wurde bei der NATO-Parlamentarierversammlung die Notwendigkeit, sich über die viel beschworenen gemeinsamen Werte und Interessen sowie
über eine gemeinsame Bedrohungsanalyse neu zu verständigen. Einmütig war aber der Wille der Abgeordneten der NATO-Staaten, zu gemeinsamer Handlungsfähigkeit der NATO zurückzufinden. Unüberhörbar war
dabei die Forderung, dass dies nur in transatlantischer
Partnerschaft und nicht in Gefolgschaft geschehen kann.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über die Zukunft der NATO, über die Zukunft eines Militärpaktes. Mit dem Ende des Kalten Krieges war
ihm der Sinn abhanden gekommen. Heute wollen Sie ihn
aber mit höheren Weihen versehen. Sie nennen das „alternativlos“, „unverzichtbar“ und sogar „historisch“, wie
meine Vorredner mehrfach betont haben. Die PDS im
Bundestag hingegen hält das schlicht für falsch.
({0})
Deshalb, Herr Kollege Rühe und Herr Kollege Fischer,
teile ich ausdrücklich nicht Ihre Freude, die Sie über die
Erweiterung der NATO zum Ausdruck gebracht haben.
({1})
Der Krieg gegen den Irak hat eines verdeutlicht: Die
weitere Militarisierung des Politischen führt in eine historische Sackgasse. Das löst keine Probleme, sondern
mehrt sie eher ins Unerträgliche. Nun hat Ludger Volmer
vor Wochen an dieser Stelle erinnert, dass es 1990 zwei
Perspektiven bzw. Möglichkeiten gegeben hat: Entweder
wird die NATO als Hegemon weiter ausgebaut oder es
wird ein wirkliches System kollektiver Sicherheit geschaffen. Können Sie sich daran erinnern, wann der
Bundestag zuletzt ernsthaft über ein wirkliches System
kollektiver Sicherheit debattiert hat? Ich vermute, dass
selbst die Dienstälteren unter Ihnen diesbezüglich Erinnerungslücken haben.
({2})
Ludger Volmer meinte des Weiteren, man habe einen
Mittelweg gefunden und man tue jetzt beides, also verkürzt gesagt: Hegemon und Sicherheit. Mich erinnert
das fatal an das Römische Reich. Sie wissen, wie das endete. Allerdings wurde damals mit Schild und Schwert
gekämpft. Heute bedrohen uns weltvernichtende Waffen.
Das heißt, dass die Losung „Frieden schaffen ohne Waffen“ nichts, aber auch gar nichts von ihrer Brisanz eingebüßt hat, ganz im Gegenteil.
Wir reden hier übrigens fast nebenbei über einen Verfassungsbruch. Das Grundgesetz enthält ein Friedensgebot. Es beschränkt die Bundeswehr auf die Landesverteidigung und daran ändert auch eine erweiterte NATO
nichts.
({3})
Innenminister Schily hat vor wenigen Wochen den
Jahresbericht 2002 des Verfassungsschutzes vorgestellt.
Darin wird die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg
als staatsgefährdend aufgeführt. Der Bundesinnenminister, finde ich, sollte den Millionen, die gegen diesen
Krieg demonstriert haben, endlich sagen, warum. Jüngst
hat Bundesverteidigungsminister Struck seine neuen
verteidigungspolitischen Richtlinien vorgestellt. Danach
findet die Verteidigung der Bundesrepublik künftig weltweit, je nach Gutdünken und Interessenlage, statt. Damit, finde ich, ist der Herr Minister Struck zumindest ein
Prüffall für die Verfassungsschützer des Ministerkollegen Schily geworden. Ich hoffe, dass Herr Schily ihn
von dieser Prüfung schon unterrichtet hat.
({4})
Parallel zu all diesen Debatten wirbt die CDU/CSU
für ein militärisches Erstschlagsrecht, also genau das,
was die US-Führung im Irak und anderswo wider alles
Völkerrecht für sich in Anspruch nimmt. Deshalb wiederhole ich hier: Eine falsche NATO wird nicht besser,
nur weil sie größer wird, und eine falsche Politik wird
nicht richtig, nur weil SPD und Grüne sowie CDU und
CSU den militärischen Gleichschritt üben.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion, das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Pau, es ist schon interessant,
sich die Situation anzusehen. Heute, nun wirklich lange
nach den Umbrüchen, den Freiheitsrevolutionen von
1989/90, feiern wir ein wesentliches Ergebnis dieser
Umbrüche, nämlich dass Europa zusammenwächst und
eben auch sicherheitspolitisch zusammenwächst. Volker
Rühe hat sehr klar gesagt: Das geschieht nicht etwa deshalb, weil die NATO schon am Anfang begriffen hat,
was da passiert; nein - das muss man so klar sagen -, sie
hat es lange nicht begriffen. Vielmehr haben die Völker,
die Freiheit und Demokratie errungen haben, gesagt: Wir
wollen, dass es keine geteilte Sicherheit in Europa und
im transatlantischen Verhältnis gibt. - Erst dann, so nach
und nach, übrigens sehr viel später als die Europäische
Union, hat sich die NATO - ausgehend vom Treffen der
Verteidigungsminister in Travemünde 1994 - auf den
Weg gemacht und versucht, sich zu öffnen. Nach langen
und schwierigen Debatten hat das jetzt zu diesem Ergebnis geführt.
Wie wesentlich das war, haben viele von uns in vielen
Prozessen - wir könnten die Konflikte, mit denen wir
uns in den letzten zehn Jahren beschäftigen mussten,
einzeln durchgehen - schmerzlich lernen müssen. Der
Bundesaußenminister hat oft betont, dass eine militärische Sicherung der zivilen, administrativen und NationBuilding-Prozesse notwendig ist, damit diese Prozesse
überhaupt ablaufen können.
({0})
Es ist also sehr wohl wichtig, auf der Höhe der Zeit zu
leben. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir eine Institution wie die NATO brauchen. Ich kann mich deshalb der
Freude, die zum Ausdruck gebracht worden ist, nur anschließen.
Die NATO hat nicht nur am Anfang die Frage der Erweiterung erst allmählich begriffen, sondern es war und
ist zum Teil bis heute eine schwierige Frage, wie sie
angesichts der neuen Herausforderungen in Zukunft
aussehen soll. Es ist klar, dass der Wunsch der Kandidaten, hineinzukommen, von militärischen Drohungen
bestimmt war, von denen manche von uns sagten, sie bestünden so nicht. Aber sie waren da und die Kandidaten
haben gesagt: Wir wollen in diesen Sicherheitsraum hinein. - Das war, denke ich, völlig legitim.
Gleichzeitig verändert sich die Situation. Wir haben
neue Herausforderungen. Wie in vorangegangenen Reden schon angesprochen worden ist, besteht die Notwendigkeit einer verstärkten Integration. Der zentrale
Punkt, der schon 1989/90 für die NATO sprach, war,
dass auch die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ihre Sicherheit nicht mehr national organisieren.
Dies hätte nämlich zu einer weiteren Destabilisierung
Europas geführt. Was wir heute brauchen, ist eine verstärkte Integration.
({1})
Es gibt eine solche Integration schon innerhalb der
NATO. Aber wenn wir genau hinsehen, dann erkennen
wir, dass sie zunächst formal und noch relativ wenig entwickelt ist. Jeder Staat in Europa - darauf ist hingewiesen worden - macht das Gleiche. Was das transatlantische Verhältnis angeht, ist es ähnlich. Zwar gibt es die
militärische Integration in den Stäben, in der Planung
durch SHAPE und in dem, was in Brüssel aufgebaut
worden ist - das ist ganz gewiss wichtig -; aber ansonsten sind die militärischen Fähigkeiten und Strukturen,
vielleicht abgesehen von den AWACS, noch nicht besonders stark integriert. Die zentrale Aufgabe von uns Europäern ist, diesbezüglich Abhilfe zu schaffen. Das, was
hier zur Effektivität beim Einsatz von Mitteln von Herrn
Rühe und anderen dazu gesagt worden ist, kann ich nur
ausnahmslos unterstützen.
Eine andere wesentliche Aufgabe besteht darin - auch
das müssen wir sehen -, die Fähigkeit zur Integration zu
bewahren. Glücklicherweise ist die Zahl der zivilen
Opfer des Irakkriegs geringer, als viele befürchtet haben. Dass dies so ist, haben wir den Fähigkeiten von Präzisionswaffen zu verdanken. Im Hinblick auf künftige
Konflikte ist das von zentraler Bedeutung. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, wie sich europäische und amerikanische militärische Einsätze in
Zukunft entwickeln und inwieweit wir auch in diesem
Bereich in Zukunft partnerschaftsfähig sein können.
Partnerschaftsfähigkeit wird nur durch Zusammenarbeit möglich sein. Wer glaubt, man könne Rüstung und
andere militärische Fähigkeiten noch national entwickeln, der geht fehl.
Es ist zu beobachten, dass innerhalb der NATO - es
war gerade von der Tagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Prag die Rede - immer wieder
über die Bedeutung der NATO gesprochen wird. Das ist
richtig und, wenn es um Europa geht, existenziell. Wir
werden Sicherheit ohne die transatlantischen Beziehungen und ohne die Institutionen der NATO nämlich nicht
gewährleisten können.
Angesichts dieser Reden müssen wir natürlich auch
feststellen: Die Praxis war in den vergangenen Jahren
oft anders. Im Angesicht der großen Herausforderung
bei der Bekämpfung des Terrorismus hat die NATO
erstmals Art. 5 des NATO-Vertrages ausgerufen. Sie hat
damit ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht
diese Herausforderung anzunehmen; aber umgesetzt
wurde er von zentralen und wichtigen NATO-Partnern
eben nicht.
In der NATO selbst wurde noch nicht einmal eine
zentrale sicherheitspolitische Debatte zu den wesentlichen Fragen geführt. Das zeigt: Wir selbst - trotz unserer
unterschiedlichen Perspektiven, zum Beispiel im transatlantischen Verhältnis, was ja in der Irakfrage deutlich geworden ist - müssen noch sehr viel dafür tun, die NATO
auf die Höhe der Zeit zu bringen. Die Amerikaner haben
im letzten Jahr ihre nationale Sicherheitsstrategie beschlossen. Diese Strategie beinhaltet die Möglichkeit
präemptiver Schläge. Darüber gibt es im Bündnis mit Sicherheit keinen Konsens. Dennoch haben wir darüber
bis heute noch nicht einmal eine Debatte geführt. Ich bin
deshalb sehr froh, dass wir, die Europäer, Herrn Solana
gebeten haben, für Europa eine Bedrohungsanalyse zu
entwickeln. Eine solche Analyse käme zwar sehr spät;
aber es wird nun wirklich Zeit, dass wir selbst unsere
Herausforderungen benennen können und klären, mit
welchen Mitteln und auf welcher Ebene wir sie bewältigen wollen.
({2})
Auf der Ebene der Parlamentarier sind in den letzten
Jahren immer wieder sehr intensive Diskussionen geführt
worden. Wir können nur hoffen - wir fordern die Regierung auf, einen entsprechenden Beitrag zu leisten -, dass
auch in den Institutionen der NATO und im NATO-Rat
die notwendige Diskussion geführt wird. Wir wissen,
dass Versuche unternommen wurden, eine solche Diskussion anzustoßen.
Ich möchte auch von hier aus in Richtung unseres
Partners Frankreich deutlich sagen: Gerade weil wir im
transatlantischen Verhältnis den europäischen Pfeiler
stärken wollen - viele Redner haben das hier zu Recht
gesagt - und ihn zu einer integrierten Kraft, das heißt zu
einer Kraft gemeinsamen Handelns, machen müssen,
darf es nicht sein, dass die Franzosen als eine zentrale
und wichtige Kraft in Europa auf Dauer eine Sonderstellung beanspruchen und sich jeweils vorbehalten, ob sie
mitmachen. Wir sollten die Franzosen auch von dieser
Stelle aus bitten, in die militärische Struktur der NATO
zurückzukehren und damit unsere gemeinsamen Fähigkeiten zu stärken.
({3})
Das Gleiche gilt natürlich auch für andere Partner innerhalb der Europäischen Union. Wir sollten uns deutlich
machen - der Außenminister hat darauf hingewiesen -,
dass es bei den Erweiterungsprozessen, mit denen wir uns
im Rahmen der Ratifikationsprozesse jetzt glücklicherweise beschäftigen können, durchaus manche Inkongruenzen bei den Mitgliedschaften gibt. Wir müssten eigentlich ein Interesse daran haben, dass so viele Länder
wie möglich Mitglied sowohl in der EU als auch in der
NATO sind; denn so kann der europäische Pfeiler gestärkt
werden.
Deshalb begrüße ich es, dass die NATO-Parlamentarierversammlung beschlossen hat, Schweden jetzt den
assoziierten Status zu geben. Wir müssen den Schweden
aber sagen: Überlegt euch doch einmal - wir wissen,
dass das eine Reihe schwedischer Kollegen dort zur
Sprache bringen -, ob die Neutralitätsfrage nach dem
Ende des Kalten Krieges wirklich noch so relevant ist.
Die Schweden sollten lieber sagen: Lasst uns mitmachen. Sowohl die Schweden als auch die Finnen haben
in internationalen Friedensmissionen große Erfahrungen
gesammelt, die Europa im Zusammenhang mit der Integration gebrauchen kann.
({4})
Ein letzter Punkt, auf den ich noch zu sprechen kommen möchte: Wir müssen auch innerhalb der NATO darüber nachdenken, wie die Strukturen künftig aussehen
sollen. Der US-Senat hat im Zusammenhang mit der Ratifizierung der Abkommen über die Erweiterung zwei
Aufgaben gestellt, über die der Präsident berichten soll.
Zum einen ist das die Frage, ob das Konsensprinzip erhalten bleiben soll. Im Grunde hat er dazu aufgefordert,
das Konsensprinzip in der NATO zu verlassen. Das betrachte ich sehr skeptisch. Darüber brauchen wir sowohl
in unseren Ländern als auch in der NATO eine intensive
Debatte.
Der zweite Punkt ist die Frage der Suspendierung eines Mitglieds. Was passiert, wenn sich jemand an die gemeinsamen Regeln und Gesetze nicht mehr hält und gegen die demokratischen Strukturen verstößt? Ich halte
eine solche Diskussion für alle demokratischen Institutionen für durchaus akzeptabel; auch innerhalb der NATO
sollten wir im Rahmen des Rates darüber sprechen.
Lasst uns in Zukunft diese Debatte miteinander führen! Wir stehen im transatlantischen Verhältnis vor großen Aufgaben, weil die Risiken in dieser Welt leider nun
einmal nicht weniger geworden sind, sondern anders.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Freiherr von und
zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am heutigen Tag ist vieles begrüßenswert: zum
einen die klaren Bestandsaufnahmen, zum anderen die
- insbesondere vom Kollegen Volker Rühe - aufgezeigKarl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg
ten Perspektiven, die nicht nur den europäischen Pfeiler
beleuchten, sondern auch über den Atlantik hinweg reichen.
Eine der entscheidenden Linien, die von diesem Tag
mitgenommen werden müssen, ist, dass wir über die
Kommunikationsebenen im europäischen Rahmen die
transatlantische Struktur weiterhin pflegen und ihr den
Stellenwert geben müssen, den sie tatsächlich verdient.
Begrüßenswert ist auch die parlamentarische Einigkeit
in diesem Hause; allerdings will ich die in meinen Augen erschreckende Realitätsferne der PDS erwähnen.
Begrüßenswert ist ebenso die Zusammensetzung und
Struktur der neuen Mitgliedsländer, deren Beitritt Ausdruck der Hoffnung auf eine wirkliche Stabilität und
eine Überwindung der einstigen Spaltung Europas
ist. - So viel zum Istzustand.
Gestatten Sie mir auch einige Punkte zum Sollzustand: Es wäre begrüßenswert, wenn mit derselben Anstrengung und mit demselben Eifer, mit dem noch vor
kurzem eine transatlantische Gegenposition geschmiedet
wurde, eine transatlantische gemeinsame Sicherheitsanalyse angegangen würde. Auch diese Arbeit ist zu
leisten. Sie erfordert die Fähigkeit und den Willen, sich
überhaupt einmal gemeinsamen Sicherheitsinteressen
zuzuwenden. Sie bedarf des Willens, einen gemeinsamen Sicherheitsbegriff zu formulieren, der über Europa
und gegebenenfalls auch über den atlantischen Raum
hinweg zu reichen vermag. Außerdem bedarf sie der daraus resultierenden Bereitschaft, eine über den eigenen
Tellerrand hinweg blickende Sicherheitsstrategie zu entwickeln.
Ausgangspunkt hierfür ist ein kooperatives, komplementäres und letztlich partnerschaftliches Verhältnis zu
den Vereinigten Staaten von Amerika;
({0})
nicht spaltend gegengewichtig, sondern ergänzend nebengewichtig. Wir könnten nicht törichter handeln, als
uns den Marktschreiern einer europäischen Gegengewichtsstrategie zu unterwerfen. Das wäre der größte
Fehler, den wir in dieser Zeit machen könnten. Wer nämlich nicht willens oder in der Lage ist, bildlich gesprochen das Gerüst der transatlantischen Waagschalen mit
zu definieren, der muss zwangsläufig an der Gegengewichtsstrategie scheitern.
({1})
- Gleichgewicht wäre insoweit begrüßenswert, Herr
Kollege, als es ergänzend und nicht konkurrierend stattfindet.
({2})
Es geht dabei auch weniger um die Frage, wie wir
eine amerikanische Supermacht verhindern, sondern
eher darum, wie wir mit dem Faktum umgehen, dass
Amerika tatsächlich eine ist. Auch hier müssen wir den
Tatsachen ins Auge blicken, ohne uns als Europäer dabei
klein zu reden. Das kann nicht die Konsequenz sein.
Ein gutes, erneuertes Verhältnis zu den Vereinigten
Staaten, gerade im Kontext internationaler Organisationen, schließt Kritik nicht aus, aber die Kultivierung von
Sprachlosigkeit auf oberster Ebene.
({3})
Das gilt auch für unser Verhältnis zum amerikanischen
Präsidenten. Da darf man schon fragen, wie abgeschieden, wie unbeobachtet, wie finster eigentlich der Ort sein
muss, an dem auch unser Bundeskanzler einmal offen
auf den amerikanischen Präsidenten zugeht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Neu-,
partiell vielleicht eine Redefinition des transatlantischen Verhältnisses, auch und gerade der NATO, erfordert neben der notwendigen, heute oft genannten Ergänzung der militärischen Fähigkeiten auch eine ehrliche
Auseinandersetzung mit den Hausaufgaben, die die anderen bereits gemacht haben. Hier ist unter anderem die
nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten zu
nennen, die in einigen Punkten sicherlich kritikwürdig
ist; aber wir können sie nicht auf Begriffe wie Unipolarität, Unilateralität, einseitiges Hegemonialstreben verkürzen. Wir müssen uns mit den Hausaufgaben, die andere
gemacht haben, auseinander setzen. Sie sind ein Teil der
amerikanischen Realität und damit ein Teil der transatlantischen Realität. Von daher müssen wir über den Status, mit den Fragestellungen zu ringen, hinausgehen
können und uns mit den Antworten, die andere mittlerweile gegeben haben, auseinander setzen.
({4})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Präsident, ich schließe.
Grundsätzlich bin ich dankbar für die große Übereinstimmung. In der Frage der Zukunft der NATO, im Zusammenspiel mit den Amerikanern ist allerdings weniger eine erschöpfende Retrospektive denn eine klare
Perspektive notwendig.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu den Proto-
kollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über
den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik
Estland, der Republik Lettland, der Republik Litauen,
Präsident Wolfgang Thierse
Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Repu-
blik Slowenien, Drucksachen 15/906 und 15/1063.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/1117, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei
den Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Abgeord-
neten angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation
- Drucksache 15/925 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2003
- Drucksache 15/1000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Thea Dückert,
Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Lasten gerecht verteilen - Mehr Unternehmen
für Ausbildung gewinnen
- Drucksache 15/1090 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Christoph Hartmann ({4}), Ulrike
Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ausbildung belohnen statt bestrafen - Ausbildungsplätze in Betrieben schaffen statt Warteschleifen finanzieren
- Drucksache 15/1130 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({6})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer an der Debatte
nicht teilnehmen möchte, den bitte ich, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen.
Bitte schön.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland fehlen derzeit weit über 171 200
Lehrstellen; allein in den neuen Ländern sind es 85 000.
Die Bundesregierung geht intern davon aus, dass im
September noch zwischen 50 000 und 70 000 Lehrstellen fehlen werden.
Rot-Grün bietet den jungen Menschen derzeit keine
Perspektive; sie fühlen sich im Stich gelassen. Aber das
alles ist keineswegs über Nacht über Deutschland hereingebrochen. Der Bundesregierung ist diese Entwicklung seit über einem Jahr bekannt; jetzt tut sie überrascht. Erst seit wenigen Wochen sieht sich die Bundesregierung zu Aktionen veranlasst.
Der Berufsbildungsbericht 2003 ist ein Beleg dafür,
dass die Bundesregierung die Lehrstellenkatastrophe sehenden Auges auf sich zutreiben ließ. Der Mantel des
Schweigens wurde darüber ausgebreitet. Für das Ausmaß der Misere muss die Bundesregierung deshalb die
Mitverantwortung übernehmen. Die Zahlen im Berufsbildungsbericht zeigen ganz deutlich, dass bereits Mitte
Mai 2002 die Entwicklung absehbar war. Damals gab es
eine Lehrstellenlücke von 5 400 Stellen. Die Zahl neu
abgeschlossener Ausbildungsverträge in Wirtschaft und
Verwaltung ging gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent
zurück.
Aus politischen Gründen wurde die Lage vertuscht.
Auch wegen der Bundestagswahl wurde das Thema zu
einem Nichtthema erklärt.
({0})
Erst jetzt, also ein Jahr später, wird das Thema wiederentdeckt, und das auch nur, weil der Bundesregierung
demoskopisch und innenpolitisch das Wasser bis zum
Hals steht. Die SPD-Linke lehnt sich gegen jede noch so
kleine Reform auf. Deshalb wurde der SPD-Linken jetzt
die Beruhigungspille Ausbildungsplatzabgabe verabreicht. Das ist der zweite schwerwiegende politische
Sündenfall.
({1})
Es kann nicht angehen, dass ein tief greifendes gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Problem zum Schaden junger Menschen ideologisiert und parteipolitisch
missbraucht wird.
({2})
Die Pläne der Bundesregierung streuen der Öffentlichkeit Sand in die Augen. Vom vorgeschlagenen freiwilligen Fonds bis zum angedrohten Zwangsfonds ist es
nur ein kleiner Schritt. Die entsprechenden Vorbereitungen im BMBF laufen auf Hochtouren. Die Bundesregierung droht ganz offen damit. Richtig ist aber, dass jede
weitere Belastung für die Unternehmen das falsche Mittel ist; denn jede weitere Belastung wirkt lehrstellenvernichtend.
Welche Antworten hat nun die Bundesregierung? Zum Beispiel die Aussetzung der Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre. Das unterstützen wir ganz
ausdrücklich. Weitere Aktionen erweisen sich aber als
falsch und untauglich. Ich nenne als Beispiel JUMP plus,
über das vor kurzem im Kabinett gesprochen wurde. Es
sollen 300 Millionen Euro zusätzlich ausgegeben werden, um bereits laufende Maßnahmen zu verstetigen und
sozusagen am Leben zu erhalten. Aber damit wird keine
einzige neue Lehrstelle geschaffen.
Ich nenne weiterhin das Kreditprogramm für Ausbildungsbetriebe. Für die Unternehmen sind nicht Kredite,
sondern die Senkung der Lohnnebenkosten entscheidend. Ich nenne ferner das Verbot der Prüfgebühren für
die Kammern. Auch dadurch ist keine einzige zusätzliche Lehrstelle zu erwarten.
({3})
Zweifelsohne - das möchte ich für unsere Fraktion
deutlich sagen - tragen die Unternehmen eine gesellschaftspolitische Verantwortung, gerade für die junge
Generation. Zahlreiche Unternehmen stehen jedoch mit
dem Rücken zur Wand. Die Wahrheit ist, dass es einen
traurigen Rekord bei den Insolvenzen gibt. Im letzten
Jahr waren es 38 000 und in diesem Jahr sind es bereits
10 000. Nun bekommen die noch existierenden Unternehmen weitere finanzielle Belastungen und Bürokratie
aufgebürdet. Das verschärft das Insolvenzrisiko; weitere
Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze sind gefährdet.
Die derzeitige Ausbildung im dualen System ist bedarfsorientiert. Ein Modell, das sich an der Nachfrage
der Schulabgänger orientiert, läuft am Bedarf vorbei.
Wer entscheidet denn eigentlich aufgrund welcher Kompetenz, ab wann eine Zwangsabgabe eingeführt werden
soll? Mit welchem Recht will Frau Bulmahn oder Herr
Clement ein Unternehmen vor Ort, das um seine Existenz kämpft, und einen Unternehmer, der mit seinem
Vermögen haftet, bestrafen? Soll die Zwangsabgabe bei
einer Lücke von 10 000, von 20 000 oder von 50 000
Lehrstellenplätzen eingeführt werden? Welche Quotierungen will man denn dann anlegen? Für sämtliche der
2,45 Millionen Betriebe mit mindestens einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten müsste also die Sollstärke an Auszubildenden errechnet, die Differenz zur
Istgröße gebildet und daraus eine Zwangsverpflichtung
errechnet werden. Das ist schlichtweg verrückt.
({4})
Wie viel Geld wird für den bürokratischen Aufwand
verloren gehen und was soll mit dem restlichen Geld geschehen? Es würden letztlich mehr außerbetriebliche
Ausbildungsplätze entstehen, die wiederum kaum Beschäftigungsperspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt
eröffnen. Außerdem ist eine solche Umlage schon in der
Praxis gescheitert. Sie existiert bereits in der Bauwirtschaft.
({5})
- Herr Tauss, die Zahl neuer Ausbildungsverträge ist
nicht höher geworden: Sie sank von 1994 bis zum Jahr
2002 von 20 000 auf 9 000 und damit proportional zum
Rückgang der Beschäftigten in der Bauwirtschaft.
Die Veranstaltung der Unionsfraktion mit 700 Handwerkern am vergangenen Dienstag war - Herr Tauss, Sie
hätten kommen sollen - beeindruckend und lehrreich zugleich: Seit mehr als drei Jahrzehnten bewältigen Handwerksbetriebe Umsatz- und Ertragsrückgänge. Sie leben
vielfach von der Substanz und versuchen dennoch, auszubilden und so weit wie möglich ihre Mitarbeiter zu
halten und sie weiterzubilden. Parallel dazu stehen
130 000 Handwerksmeister in der Reserve, die sich sofort selbstständig machen würden, wenn sie entsprechende Rahmenbedingungen vorfinden würden. Das
hätte eine Katapultwirkung auch für Lehrstellen. Dieses
Potenzial sollten wir erschließen. Die jetzige Situation
sollte nicht durch ausgeklügelte Stufenmodelle und Ausbildungsplatzabgaben verschärft werden. Eine Ausbildungsplatzabgabe führt dazu, dass die Verantwortung im
Hinblick auf die berufliche Ausbildung von der Wirtschaft auf den Staat überginge. Weniger betriebliche und
mehr außerbetriebliche Ausbildungsplätze wären die
Folge.
Sie als Bundesregierung sind aufgefordert, einen Weg
zur Sicherung eines ausreichenden Lehrstellenangebotes
und zur Stärkung des ersten Ausbildungsmarktes über
eine Modernisierung der Ausbildungsordnungen,
({6})
über eine wachstumsorientierte Steuer- und Finanzpolitik sowie über die Senkung der Lohnnebenkosten zu suchen. Ein erster Schritt wäre es, die Mittel des erfolglosen JUMP-Programms, die immerhin 1 Milliarde Euro
betragen, direkt zur Senkung der Lohnnebenkosten einzusetzen, um ausbildende Betriebe zu entlasten.
({7})
Wir haben in unserem Antrag notwendige Wege aufgezeigt: zum Beispiel eine Novelle zum Berufsbildungsgesetz. Schaffen Sie eine international ausgerichtete berufliche Bildung, die aus Modulen besteht!
Schaffen Sie theoriegeminderte Berufe für Jugendliche
ohne Schulabschluss bzw. für benachteiligte Jugendliche! Fördern Sie die Verbundausbildung im Handwerk
und bei kleinen Unternehmen und heben Sie die
Schwelle für den besonderen Kündigungsschutz auf
20 Beschäftigte bei Neueinstellungen an!
Das Vertrauen sowie die Verlässlichkeit von Politik
müssen wiederhergestellt werden. Die Drohung mit einer weiteren Abgabe, mit einer weiteren bürokratischen
Hürde ist ein zusätzlicher Beitrag zur Verunsicherung
der Unternehmen. Der richtige Weg wäre, Mut und Risiko zu belohnen. Nur so können Sie die fehlenden Lehrstellen auffüllen und ersetzen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Bundesministerin Edelgard
Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Die aktuelle Ausbildungssituation
gibt Anlass zu wirklich sehr großer Sorge. Was ich allerdings bei Ihnen, Frau Reiche, und in den Anträgen der
Opposition vermisse, ist ein konkreter Vorschlag, wie
wir vorgehen sollen und was wir verändern sollen.
({0})
In Ihren Anträgen steht nicht ein einziger neuer Vorschlag. Sie beinhalten vielmehr die Aufzählung dessen,
was wir seit mehreren Jahren tun. Es freut mich, dass Sie
das, was wir tun, so ausdrücklich unterstützen und für
richtig halten. Nur, ich vermisse einen einzigen neuen
konkreten Vorschlag.
({1})
- Auch Ihr Vorschlag, Frau Pieper, bezüglich einer Ausbildungsbeihilfe von 3 500 Euro ist nichts Neues. Wir
gehen so seit Jahren in den neuen Bundesländern vor nur, ohne wirksame Effekte. Das ist doch das Problem.
({2})
Deswegen bitte ich die Opposition, nicht zu schlafen,
sondern zur Kenntnis zu nehmen, was bereits durchaus
mit Erfolg geschieht, was aber nicht verhindert hat, dass
wir in diesem Jahr wieder eine sehr ernsthafte, bedrohliche Situation haben.
({3})
Ein nächster Punkt. Ich sage ausdrücklich: In diesem
Jahr haben wir eine sehr ernsthafte Situation.
({4})
Nur, ich erwarte von einem Abgeordneten - auch von Ihnen, Herr Kollege -, dass er ein Gedächtnis hat, das zumindest vier Jahre zurückreicht.
({5})
Im Jahre 1998 hatten wir eine gleich große Ausbildungslücke. Die jetzige Bundesregierung und die Koalition
unterscheiden sich von Ihnen dadurch, dass wir nicht
einfach zusehen, so wie Sie es in den 90er-Jahren getan
haben.
({6})
Wir handeln vielmehr. Das werden wir in diesem Jahr so
wie auch in den vergangenen Jahren wieder tun.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Lücke um 50 000 größer als im letzten Jahr. Wir verharmlosen dies nicht, sondern haben nach vielen Vorgesprächen und Verhandlungen, die sich über mehrere Monate hinzogen, eine
Ausbildungsoffensive gestartet - eine solche Offensive
entsteht ja nicht aus dem Nichts -, mit der wir erreichen
wollen, dass am Ende dieses Jahres alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz erhalten.
({7})
- Das ist unser Ziel, darum geht es.
Keine Bundesregierung - darauf weise ich ausdrücklich hin - und im Übrigen auch keine Opposition, kein
Wirtschaftsverband und keine Gewerkschaft darf es zulassen, dass Zehntausende von Jugendlichen - es sind
60 000, 70 000, 80 000 - ohne Ausbildungsplatz bleiben.
({8})
Das können wir nicht hinnehmen. Deshalb muss es uns
gemeinsam gelingen, eine Änderung herbeizuführen.
Das Nachfrageverhalten der Jugendlichen hat sich
durchaus verändert. Sie haben sich in den Vorjahren
deutlich flexibler verhalten und sich auch für alternative
Qualifizierungswege entschieden. Nach wie vor gibt es
große regionale Unterschiede. Besonders kritisch ist die
Situation in Ostdeutschland - trotz der Prämie, die Sie
jetzt wieder fordern. Deshalb haben wir vor zwei Wochen wieder mit den Ländern einen Vertrag geschlossen,
in dessen Rahmen die Bundesregierung 14 000 betriebsnahe Ausbildungsplätze mit rund 95 Millionen Euro finanziert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der aktuellen Situation kann die Gewinnung neuer Ausbildungsplätze
nur durch entschlossenes und gemeinsames Handeln gelingen. Um gemeinsam mit den Sozialpartnern dieses
Ziel zu erreichen, haben wir die Ausbildungsoffensive
gestartet. Wir wollen mit dieser Offensive mehr Betriebe
für Ausbildung gewinnen, aber auch für zusätzliche
Ausbildungsplätze in den Betrieben sorgen, die bereits
ausbilden.
Zusätzlich zu dem unterzeichneten Ausbildungsplatzprogramm Ost öffnen wir im Rahmen der Ausbildungsplatzoffensive das Programm „Kapital für Arbeit“ auch
für neue Ausbildungsplätze. Mit JUMP plus schaffen wir
neue Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote für
100 000 Sozialhilfeempfänger zwischen 15 und 25 Jahren.
({9})
Wir haben außerdem die Berufsausbildungsvorbereitung
in das Berufsbildungsgesetz integriert, um die Ausbildungschancen von schwer vermittelbaren Jugendlichen
zu erleichtern. Diesem Ziel dient auch ein neues System
von Qualifizierungsbausteinen, die wir zurzeit gemeinsam mit den Sozialpartnern entwickeln. Schließlich wird
die Ausbilder-Eignungsverordnung für fünf Jahre ausgesetzt. Damit machen wir den Weg frei, dass deutlich
mehr Betriebe ausbilden können.
Die Ausbildungsoffensive 2003 gibt uns die Chance,
meine sehr geehrten Herren und Damen, nicht nur kurzfristig eine Kehrtwende bei der verschlechterten Ausbildungslage zu erreichen, sondern auch langfristig gemeinsame Wege zur strukturellen Verbesserung des
dualen Ausbildungssystems einzuschlagen. Jetzt kommt
es allerdings ganz entscheidend darauf an, dass auch die
Unternehmen ihrer Verantwortung gerecht werden und
sicherstellen, dass kein Jugendlicher ohne ein Ausbildungsplatzangebot bleibt.
({10})
Wenn alle Unternehmen für ihren Bedarf ausbildeten,
dann gäbe es in Deutschland kein Ausbildungsplatzproblem. Tatsächlich bilden in Deutschland weniger als
30 Prozent aller Unternehmen überhaupt aus. Das heißt
im Umkehrschluss: Mehr als 70 Prozent aller Unternehmen entziehen sich ihrer sozialen und übrigens auch
ökonomischen Verantwortung; denn diese Betriebe verweigern sich der Aufgabe, selbst für qualifizierte Fachkräfte zu sorgen. Qualifizierte Fachkräfte aber fallen nun
einmal nicht vom Himmel.
({11})
Unternehmen müssen sie ausbilden; darauf sind letztlich
alle Unternehmen angewiesen.
Daher sage ich erneut klipp und klar: Wir werden uns
nicht damit abfinden, dass sich mehr als 70 Prozent dieser Aufgabe verweigern. Das ist nicht hinzunehmen,
wenn wir wirklich wollen, dass das duale System auch in
Zukunft eine bedeutende Funktion hat und gewährleistet, dass zwei Drittel aller Jugendlichen ausgebildet werden.
Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung gibt es auch jetzt noch fast
1,2 Millionen Betriebe, die ausbilden könnten, aber in
der Realität bilden nur rund 640 000 Betriebe aus. Das
heißt, mehr als 500 000 Betriebe könnten ausbilden, tun
es aber nicht. Genau das darf auf Dauer nicht so bleiben.
({12})
Denn lassen Sie es mich klar sagen: Ausbildung ist eine
lohnende Investition in die Zukunft für alle Betriebe und
für unsere Gesellschaft insgesamt. Das sagt im Übrigen
auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag
klipp und klar: In der Regel ist es teurer, Fachkräfte über
den Arbeitsmarkt zu rekrutieren, als den Fachkräftebedarf durch eigene Ausbildung zu decken.
Ich hoffe also, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
es uns durch die verabredeten und eingeleiteten Initiativen gelingen wird, bis zum Jahr 2003 eine bundesweit
ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz zu erreichen. Das
wird nur gelingen, wenn sich die Unternehmen selbst
deutlich stärker engagieren. Bleibt dieses Engagement
aus, sind die Verbände der Wirtschaft aufgefordert, einen realistischen Vorschlag vorzulegen, wie dieses Ziel
bis zum Ende dieses Jahres erreicht werden kann.
Ich stelle lobend heraus, dass es einen Verband gibt,
der diese Aufgabe wirklich ernst nimmt und ernst genommen hat. In Niedersachsen hat der Arbeitgeberverband Metall mit der IG Metall in der letzten Woche einen Tarifvertrag abgeschlossen, in dem sie auf der einen
Seite die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal deutlich erhöhen und auf der anderen Seite erklären, zusätzlich 1 Million Euro bereitzustellen, um das Ziel von
10 Prozent mehr Ausbildungsplätzen tatsächlich zu erreichen.
({13})
Ich wünsche mir, dass jeder Verband, jede Branche,
jede Region in unserem Lande diese Aufgabe genauso
ernst nimmt und deutliche Signale gibt, dass ihnen Ausbildung wichtig ist. Wäre dies der Fall, dann müssten
wir hier im Bundestag nicht überlegen, wie wir dieses
Ziel erreichen können. Wir tun das Unsere dafür, aber
ich sage ausdrücklich: Die Wirtschaft und die Gewerkschaften müssen ebenfalls das Ihrige dazu tun; sonst
können wir das Ziel nicht erreichen.
({14})
Wichtig ist dabei im Übrigen immer, so wie das in
dem angesprochenen Tarifvertrag auch gemacht worden
ist, dass der Vorschlag verbindlich und umsetzbar sowie
seine Realisierung nachprüfbar ist. Sollte das nicht der
Fall sein, wird die Bundesregierung geeignete, auch gesetzgeberische Maßnahmen ergreifen müssen. Das hat
der Bundeskanzler bereits im März angekündigt.
({15})
An dieser Stelle unterstreiche ich allerdings auch ausdrücklich: Solche freiwilligen Vereinbarungen, wie sie
in Niedersachsen geschlossen worden sind, müssen und
sollten unserer Meinung nach Vorrang haben. Das Engagement, die Mühe und die Initiative jedes Einzelnen
hierzu lohnen sich also.
({16})
Eine gesetzliche Regelung ist sicherlich das letzte
Mittel,
({17})
ein letztes Mittel, das sich erübrigt, wenn die Wirtschaft
ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommt und ihre
eigene Zukunftssicherung energisch vorantreibt. Deshalb ist es auch verfrüht, hier und heute über die Ausgestaltung einer möglichen gesetzlichen Regelung zu spekulieren.
({18})
Jedem sollte aber klar sein, dass in keinem Fall diejenigen Unternehmen von einer solchen Regelung profitierten, die bis heute und in der Vergangenheit ihrer Aufgabe und ihrer Verantwortung in Bezug auf die
Ausbildung nicht nachgekommen sind. Das ist ein klares
Kriterium, das in einer solchen gesetzlichen Regelung
auch berücksichtigt werden wird.
({19})
Mit anderen Worten: Wer heute nicht oder mit Blick auf
den eigenen Fachkräftebedarf nur unzureichend ausbildet, kann morgen nicht darauf hoffen, Zuschüsse für
dann eingestellte Auszubildende zu kassieren.
({20})
Wer so kalkuliert, handelt kurzsichtig und wird seiner
Verantwortung nicht gerecht.
Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Wenn die
Wirtschaft in diesem Jahr ihrer Ausbildungsverantwortung nachkommt - das hoffe ich -, dann wird es auch
keine gesetzliche Regelung geben. Wenn sie ihr nicht
nachkommt, müssen wir eine solche Regelung treffen.
Ich gebe auch denjenigen Kolleginnen und Kollegen
Recht, die sich hier sehr kritisch geäußert haben: Es ist
eigentlich eine Schande, dass wir dann zu solchen Mitteln greifen müssen. Aber es ist auch eine Schande,
wenn diejenigen Unternehmen, die nicht ausbilden - es
sind viel zu viele -, ihrer Verantwortung nicht nachkommen.
({21})
Frau Ministerin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, erwarte
ich, dass alle jetzt ihren Part erfüllen und alle Kräfte für
die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen einsetzen und
mobilisieren - in ihrem eigenen Interesse, aber vor allen
Dingen im Interesse der Jugendlichen in unserem Lande
und damit im Interesse unserer Zukunft.
Vielen Dank.
({0})
Nun hat Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Tauss! Am 1. August beginnt das neue Ausbildungsjahr. Es sind gerade noch zwei Monate bis dahin. Die Lage auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt
in Deutschland ist dramatisch und gibt Anlass zu größter
Sorge. Die rechnerische Lücke zwischen Ausbildungsangebot und -nachfrage beträgt im April mehr als
160 000 Plätze. Selbst der DGB rechnet im Berufsbildungsbericht bis zum Sommer noch mit einem echten
Fehlbestand von 80 000 Plätzen.
Frau Ministerin, ich will Sie einmal darauf hinweisen,
dass es selbst 1998, unter der alten Bundesregierung - das
ist der Vergleich, mit dem Sie immer agieren -, in
Deutschland 44 189 Ausbildungsplätze mehr gab - ohne
JUMP-Programm.
({0})
Bitte lassen Sie doch diese Fehlinformationen! Wir kommen mit diesen Zahlenspielereien hier nicht weiter. Das
kann man den Menschen draußen, den Jugendlichen, die
einen Ausbildungsplatz suchen, nicht erklären.
Ich sage Ihnen ganz klar: Die Schelte gegenüber der
Wirtschaft, gegenüber den kleinen und mittelständischen
Unternehmen hilft nicht. Sie haben die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland mit mehr
Steuern und Abgaben belastet.
({1})
- Das ist unser Grundproblem!
Meine Damen und Herren, ich frage mich manchmal,
ob Sie verinnerlicht haben, wie ein Arbeits- oder Ausbildungsplatz überhaupt entsteht. Er fällt doch nicht vom
Himmel. Da entstehen Kosten. Da braucht man wirtschaftliche Dynamik. Die kleinen Firmen brauchen Aufträge, damit Arbeits- und Ausbildungsplätze entstehen
können.
({2})
Sie können den Ausbildungsplatzmangel, die dramatische Situation, in der wir uns jetzt befinden, nicht allein mit einer anderen Bildungspolitik beheben. Das
Grundübel in Deutschland ist die falsche Wirtschaftsund Finanzpolitik der Bundesregierung.
({3})
Das Einzige, was Ihnen noch einfällt, ist das Patentrezept der Ausbildungsplatzabgabe.
({4})
Da kann ich nur sagen: Gute Nacht, Deutschland! Dann
wird alles noch schlimmer. Noch eine Abgabe mehr wird
der Wirtschaft aufgehalst. Das wird garantiert nicht mehr
Ausbildungs- und Arbeitsplätze bringen.
Der Meisterbrief, der die Garantie dafür ist, dass Ausbildung im Handwerk stattfindet, soll aufgeweicht werden. Auch das ist keine Maßnahme, um Ausbildung zu
sichern.
({5})
Auch hier wollen wir dem Handwerk die Treue halten
und für den Meisterbrief kämpfen. Keine Frage!
Längst hätte die Koalition konkrete Schritte zur Differenzierung und vor allem zur Verkürzung der Ausbildungszeiten tun können. Längst hätten Sie, Frau Ministerin, die Möglichkeit gehabt, das Berufsbildungsgesetz
zu novellieren. Wir fordern das schon seit langem.
({6})
- Herr Tauss, da Sie nur ein Kurzzeitgedächtnis haben,
darf ich Sie daran erinnern, dass wir schon lange eine
Modularisierung, eine größere Differenzierung und Flexibilisierung der Berufsausbildung fordern.
({7})
Wir wollen Grundberufe mit geminderten Theorieanforderungen. Wir wollen, dass man mit Qualifizierungsbausteinen darauf aufbauen kann. Das wäre eine wichtige
Reform, um in Deutschland Ausbildungsplätze zu schaffen.
({8})
Sie werden eine verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht durch neue bürokratische, staatlich orientierte
Programme wettmachen können. Das sage ich Ihnen
ganz deutlich für die FDP-Fraktion. Ich habe noch heute
früh mit einem Unternehmer gesprochen, der mir gesagt
hat: Wir müssen von dieser Bürokratielast befreit werden, gerade auch bei den Ausbildungsplätzen. Er hat mir
erzählt, dass er noch jetzt wegen eines Ausbildungsplatzes von 1998 bis 2000 eine versicherungsrechtliche
Überprüfung durch die LVA am Hals hat. Das muss man
sich einmal vorstellen. Wo leben wir denn? Endlich weg
mit dieser überflüssigen Bürokratie, die letztendlich
auch Arbeits- und Ausbildungsplätze vernichtet!
({9})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihr JUMP-Programm mit 1,1 Milliarden Euro Umfang hat nichts gebracht.
({10})
Es hat nicht dazu geführt, dass junge Menschen auf den
Arbeitsmarkt zurückkehren können. Im Gegenteil: Sie
engagieren sich wieder auf dem zweiten Arbeitsmarkt,
im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Dies
stellt doch eine Spirale abwärts und keinen Weg aufwärts zum Sprung in den Arbeitsmarkt dar. Deswegen
kritisieren wir auch diese Maßnahme, nicht in allen Teilen, aber in vielen. Wir sind der Auffassung, dass man
gerade auch in die Betriebe investieren und sie unterstützen muss, damit Ausbildungsplätze entstehen.
({11})
Seit Ihrer Regierungsübernahme machen Sie eine
mittelstandsfeindliche Politik. Sie haben das Steuerrecht immer noch nicht vereinfacht, Sie haben es nicht
reformiert. Immer noch werden Personengesellschaften
gegenüber Aktiengesellschaften ungerecht behandelt.
Die Rentenversicherungsbeiträge steigen trotz der
Einführung der Ökosteuer. Ich erinnere an Folgendes:
Die Grünen wollten durch die Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge senken; das war die Begründung für
diese unsinnige Steuer in Deutschland. Wir erleben das
Gegenteil.
({12})
Ich möchte in diesem Zusammenhang an die verschlafene Gesundheitsstrukturreform und vieles andere
mehr erinnern.
({13})
Ich höre zum Thema Ausbildungsabgabe von der
grünen Fraktionschefin Krista Sager folgende Worte:
Wenn man merkt, dass sich die Wirtschaft nicht rührt,
dann sollte man auch die Folterinstrumente vorzeigen.
({14})
Wo leben wir denn? Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft und nicht in einer Diktatur, in der man Selbstständigen, die Eigeninitiative zeigen, mit Folterinstrumenten droht.
({15})
Die Grünen schlagen vor - O-Ton Thea Dückert und
Minister Trittin -, eine Stiftung für betriebliche Bildungschancen einzurichten. Die Stiftung solle verbindliche Zusagen für einen Kapitalaufbau bekommen. Der
Gesetzgeber solle Mindestanforderungen definieren,
durch die alle Unternehmen an den Kosten der betrieblichen Ausbildung beteiligt würden. Nach Berechnung der
Grünen seien 0,3 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme
von Unternehmen notwendig, um die Nettokosten für
rund 700 000 Lehrstellen pro Jahr aufzubringen. Wissen
Sie, was das ist? Diese Ausbildungsumlage ist ein Taschenspielertrick. Damit werden die Lohnnebenkosten
noch einmal erhöht und die kleinen Betriebe noch mehr
kaputtgemacht.
({16})
Das ist nicht die Politik, die wir als liberale Mittelstandsund Bildungspartei vertreten. Das sage ich hier ganz
deutlich.
({17})
Das Recht auf Bildung ist nach unserer Auffassung
ein grundlegender Bestandteil der Menschenrechte. Es
ist für uns ein Freiheitsthema. Jeder junge Mensch muss
die Chance bekommen, durch eine gute Ausbildung in
den Arbeitsmarkt einzusteigen.
({18})
- Das haben Sie nur nicht verinnerlicht. - Weil das so ist,
weil wir in einer Notsituation sind und weil Sie die Reform verschlafen haben, haben wir einen Alternativvorschlag eingebracht: die Gelder des JUMP-Programms in
eine Ausbildungsprämie von 3 500 Euro einfließen zu
lassen. Das sind die Kosten für einen Ausbildungsplatz
in den ersten fünf Monaten in kleinen mittelständischen
Unternehmen.
({19})
Diesen Vorschlag haben wir mit dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag, DIHK, erarbeitet.
Die Notsituation in diesem Bereich haben Sie herbeigeführt. Wir wären heute gar nicht gezwungen, solch ein
Programm zu initiieren, wenn Sie diese Notsituation
nicht herbeigeführt hätten.
({20})
Die Ausbildungsprämie ist für dieses Jahr ein geeigneter
Weg. Sie ist keine Lösung für die Zukunft. Wir brauchen
eine andere Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik,
({21})
aber vor allen Dingen brauchen wir in Zukunft wohl eine
andere Bundesregierung, weil diese Bundesregierung
nicht in der Lage ist, die Herausforderungen anzunehmen und die Probleme dieses Landes zu lösen.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Pieper, so viele Widersprüche wie
in Ihrer Rede habe ich selten in sieben Minuten gehört.
({0})
Was fordern Sie eigentlich: Regulierung oder Deregulierung?
({1})
Sie hatten viele Jahre Zeit zu Reformen, zum Beispiel
zur Reform des Berufsbildungsgesetzes. Wir packen das
nun endlich an.
({2})
Ich denke, Sie sollten uns dabei unterstützen.
({3})
Alle meine Vorrednerinnen und Vorredner haben es
angesprochen: Die aktuelle Situation am Ausbildungsmarkt ist beängstigend. Tausende junger Menschen, die
demnächst aus der Schule kommen, stehen beim Zugang
in das Ausbildungs- und Berufsleben vor einer riesengroßen Hürde, die sie allein nicht nehmen können. Neben der Politik steht in besonderer Weise die Wirtschaft
in der Verantwortung, alle Energie aufzuwenden, um jeder Schulabgänger und jeder Schulabgängerin ein Ausbildungsplatzangebot unterbreiten zu können.
({4})
Knappe Kassen oder die konjunkturelle Krise dürfen
nicht als pauschale Erklärung und Entschuldigung herhalten. Oberstes gemeinsames Ziel muss es sein, kontinuierlich ein Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen unterbreiten zu können. Gemeinsam müssen wir der
jungen Generation eine Perspektive aufzeigen.
({5})
Dort, wo Ausbildungsplätze trotz aller Bemühungen
noch immer fehlen, müssen wir Brücken bauen. Wir
brauchen nicht irgendwelche Beschäftigungsmaßnahmen, sondern müssen Angebote von Qualifikationsbausteinen bereitstellen, mit denen insbesondere benachteiligte junge Menschen nach und nach eine
vollwertige Ausbildung erwerben können.
Auf Dauer reicht es aber nicht, den jungen Menschen
Ersatzmaßnahmen anzubieten, mit denen sie am Ende
die Hürde ins Berufsleben doch nicht nehmen können.
Es kann grundsätzlich nicht sinnvoll sein, dass die Kosten der beruflichen Bildung zunehmend vom Staat übernommen werden.
({6})
Staatliche Mittel sind stark begrenzt. Sie müssen - PISA
hat das gezeigt - vor allem für vorschulische und schulische Bildung verwendet werden. Davon profitiert der
Einzelne, ebenso profitieren davon aber auch die Unternehmer und Unternehmerinnen. Das weltweit hoch gelobte duale System lebt davon, dass die Ausbildung im
Betrieb stattfindet, also praxisbezogen und anwendungsorientiert ausgelegt ist.
Vor dem Hintergrund der Lage am Ausbildungsmarkt
ist die Schaffung einer von der Konjunktur unabhängigen Ausbildungsstruktur unser zentrales Ziel. In einem
Hörfunkinterview hat BDI-Präsident Michael
Rogowski die Notwendigkeit anerkannt, dass „wir einen
Weg finden müssen, um diejenigen, die nicht ausbilden,
zur Ausbildung zu bewegen.“
Welchen Weg schlagen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU, dazu vor? In Ihrem Antrag gehen Sie über diese Frage wortlos hinweg. Die FDP
schlägt eine Prämie für neue Ausbildungsplätze vor.
({7})
Hier ist die Wirtschaft schon viel weiter. Der Präsident
des DIHK spricht davon, dass eine Ablösesumme fällig
werden könnte, die von nicht ausbildenden Betrieben an
ausbildende Betriebe gezahlt werden müsse. Klar ist:
Wenn die Wirtschaft nicht eigenständig ihren Ausbildungspflichten nachkommt, muss auf andere Weise ein
gerechter Mechanismus geschaffen werden. Aus diesem
Grund haben wir Grüne das Stiftungsmodell entwickelt,
das schon angesprochen wurde. Dieses Modell könnte
ein Weg sein, um Ungerechtigkeit zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben zu beseitigen.
({8})
Die Zustimmung des BDI-Präsidenten zu einem solchen verpflichtenden Ausbildungsfonds ist ermutigend. Nach den einsichtigen Worten erwarten wir Taten.
Bis zum Herbst müssen die Arbeitgeber ein umsetzungsfähiges Konzept vorlegen; denn nicht nur die Politik,
auch sie tragen ein hohes Maß an gesellschaftlicher und
sozialer Verantwortung. Vor allem aber sind hohe Ausbildungszahlen und Standards Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit und betrieblichen Erfolg. Es geht also
auch um die ureigenen Interessen der Unternehmerschaft
selbst.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erwarten, dass
die Wirtschaft aus eigener Kraft bereit ist, den Ausbildungsplatzmangel zu beheben. Weder der Zeitpunkt
noch die Lage am Ausbildungsmarkt lassen es zu, dass
wir uns hinhalten lassen. Sichtbare und nachvollziehbare
Schritte müssen seitens der Wirtschaft in Gang gesetzt
werden. In dieser Frage dürfen sich alle Unternehmensverbände der Unterstützung durch die Politik sicher sein.
Wir wollen aber auch Ergebnisse sehen. Deshalb werden
wir bei Nichterreichen dieses Ziels zu Mitteln der
gesetzlichen Verpflichtung greifen müssen. Das sind
wir den jungen Menschen und der Zukunftsfähigkeit unseres Landes schuldig.
Abschließend möchte ich an die Bundesregierung appellieren, dass sie die Wirtschaft mit Nachdruck zum
Handeln auffordern und gleichzeitig deutlich machen
muss, dass sie, im Interesse der jungen Menschen in unserem Land, für den Notfall alle Vorbereitungen getroffen hat.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Lensing von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
von der Bundesregierung vorgelegte Berufsbildungsbericht 2003 geht an der aktuellen Realität völlig vorbei.
({0})
Selbst die Realität wirkt irreal.
({1})
Wem nützt dieser Bericht eigentlich?
({2})
Nach gründlichem Studium bin ich der Meinung, dass er
allenfalls der Druckerei nützt, in der dieser Bericht gedruckt wurde. Ich hoffe, zumindest dadurch wurden in
diesem Betrieb Ausbildungsplätze geschaffen. Ich will
Ihnen diese kesse Bemerkung erläutern und begründen.
({3})
Gegenüber dem Vorjahr ist ein Rückgang der Zahl der
neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge um insgesamt 42 000 zu verzeichnen. Dies entspricht einem
Rückgang von etwa 6,8 Prozent.
({4})
Jetzt kommt es aber: Ende September 2002 hieß es: Nur
noch 4 Prozent fehlen, um allen Lehrstellensuchenden
helfen zu können.
({5})
Hört sich das nicht eigentlich gut an? - Ist es aber gar
nicht; denn die Zahlen vom September 2002 sind inzwischen haltlos veraltet. Sie sind Schnee von gestern, dabei
wartet draußen ein heißer Sommer auf uns alle. Hierbei
geht es nicht um den heißen Sommer des DGB; der wartet nur auf den Kanzler.
Im Ausbildungsjahr 2003/2004 fehlen inzwischen
über 171 000 Lehrstellen; Frau Reiche hat bereits darauf
verwiesen. Ich muss es noch einmal sagen und ich sage
es nicht mit Schadenfreude, sondern mit Traurigkeit:
Das ist der höchste Wert seit 1998.
({6})
Die Lehrstellenlücke hat sich damit um weitere 10 000
vergrößert. Der Rückgang der Zahl der betrieblichen
Lehrstellen beträgt im Vergleich zum Vorjahresmonat
11,5 Prozent. Dazu sind 1,3 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren berufslos. Ende März waren
561 800 Arbeitslose jünger als 25. Das sind 56 700 mehr
als vor einem Jahr.
({7})
In dieser verhängnisvollen Situation dürfte die Zahl
wirklich unnützer rot-grüner Reformvorschläge inzwischen an die Hunderte reichen, während neue Haushaltslöcher von der Presse und der Öffentlichkeit nur
noch wahrgenommen werden - und das natürlich auch
nur nebulös -, wenn sie mindestens eine mehrstellige
Milliardenhöhe erreichen. Insofern stimmt es, wenn man
sagt: Die desaströse Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Regierung hat den Lehrstellenmarkt inzwischen
mit voller Macht und Wucht erreicht.
({8})
Genau das ist die Wurzel allen Übels.
({9})
Frau Ministerin, solange Sie dies nicht begreifen, wird
sich die Lage am Lehrstellenmarkt bedauerlicherweise
auch weiterhin dramatisch verschlechtern.
({10})
Frau Ingrid Sehrbrock, - sie ist immerhin Mitglied
im DGB-Vorstand -, hat am 3. April in Berlin erklärt:
Die Lücke hat sich seit Februar also um rund
30 000 fehlende Ausbildungsplätze vergrößert.
Diese Entwicklung ist dramatisch und es muss
schnell gegengesteuert werden.
({11})
Recht hat sie: Es muss sich etwas ändern, und zwar sofort.
({12})
Das Handwerk und der Mittelstand haben in den
vergangenen Jahren die größte Last übernommen. Dafür
gebührt ihnen unser aller Dank.
({13})
Doch, das sage ich hier auch sehr deutlich: So manche
Großunternehmer haben sich dieser Ausbildungsverantwortung leider entzogen.
({14})
Diese haben in besseren Zeiten just an dem Ast gesägt,
auf dem sie heute selbst sitzen.
({15})
Sie haben die Kosten für die Ausbildung gespart und anschließend den Rahm, nämlich die qualifizierten Fachkräfte, abgeschöpft.
({16})
Das ist zu kritisieren
({17})
- ich bin erstaunt, dass dies selbst Herr Tauss wahrnimmt -, und zwar ist das laut zu kritisieren. Das machen wir auch.
Doch in dieser Krisensituation führt der Ruf nach einer Ausbildungsplatzabgabe völlig in die Irre. Da feiert
der Wahnsinn geradezu Triumphe.
({18})
Der Knüppel aus dem Sack trifft doch die Falschen,
nämlich insbesondere die meisten kleinen Betriebe, die
zwar willig sind, auszubilden, denen aber aus konjunkturellen Gründen der Atem auszugehen droht.
({19})
Sie trifft auch völlig zu Unrecht diejenigen, die trotz aller persönlichen Bemühungen keinen geeigneten Bewerber finden. Große Unternehmen hingegen, die sich um
ihre Verantwortung drücken, lässt eine solche Abgabe
eher kalt. Mehr Lehrlinge werden sie deswegen garantiert nicht einstellen.
({20})
Das Geld, das sie zu zahlen haben, fließt bestenfalls
in die überbetriebliche Ausbildung,
({21})
die nicht die beste ist. Die Handwerker schauen dann
wieder in die Röhre. Die Ausbildung zu einer staatlichen
Veranstaltung zu machen ist das Gegenteil von dem, was
das duale Ausbildungssystem zu seinem tollen Erfolg
gebracht hat.
({22})
Wir wollen das noch einmal im Klartext sagen: Durch
die geplante Ausbildungsabgabe werden die Anstrengungen der deutschen Wirtschaft, speziell des Mittelstandes und damit auch des Handwerks, in diesem Jahr
noch eine möglichst hohe Zahl an Ausbildungsplätzen
zur Verfügung zu stellen, geradezu konterkariert und erheblich behindert.
({23})
Allein schon die zynische - ich kann sie wirklich
nicht anders nennen - Ankündigung der Regierungsfraktionen, diese umstrittene Zwangsabgabe, die von
Schröder, als er noch Ministerpräsident in Niedersachsen war, zu Recht durchgehend vehement abgelehnt
worden war, nun ausschließlich „zum Wohle der Wirtschaft“ erheben zu wollen,
({24})
belastet die kritische Ausbildungssituation in diesem
Jahr und in Ihrer Verantwortung zusätzlich.
({25})
Im Ergebnis ist diese Zwangsabgabe nichts anderes
als ein Schritt hin zur Verstaatlichung der Ausbildung.
({26})
Es ist immer wieder das Gleiche: umverteilen und
gleichzeitig das Niveau senken, mehr Zwang und weniger Kreativität. Genau in diese armselige Denkstruktur
passt Ihre Forderung nach Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe
({27})
und nach einer flächendeckenden Reduzierung der Meistertitel. Dabei garantiert gerade beispielsweise der
Meister die Qualität beruflicher Ausbildung.
Frau Minister Bulmahn hat gemeint, sagen zu können
und zu müssen, dass wir keine eigenen Vorschläge unterbreiten.
({28})
Wir haben so viele eigene Vorschläge,
({29})
dass Sie, Frau Bulmahn - das ist mein Eindruck -, hierbei die Übersicht verloren haben. Mir liegt ein Katalog
von mindestens acht konkreten Vorschlägen vor,
({30})
die ich unglaublich gerne im Einzelnen hier erläutern
möchte, woran mich aber die Tagesordnung und die Redezeitbegrenzung hindern.
({31})
Aber drei möchte ich Ihnen nennen.
({32})
Herr Kollege Lensing, Ihre Zeit ist aber abgelaufen.
({0})
Das ist aber sehr traurig, Herr Präsident. Dann sage
ich noch einen Satz als Höhepunkt der Darstellung:
({0})
Das wichtigste und effektivste Ausbildungsprogramm
für ganz Deutschland sind möglichst baldige Neuwahlen.
In diesem Sinne!
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Lensing, es wäre schön gewesen, wir hätten
wenigstens einen Vorschlag und nicht nur nebulöse Ankündigungen von Ihnen gehört.
({0})
Wenn die Ausbildungssituation so kritisch ist, wie sie
sich zurzeit tatsächlich darstellt, dann müssen alle, die in
diesem Bereich Verantwortung tragen, diese auch
wahrnehmen.
({1})
Das ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass junge
Menschen tatsächlich Startchancen für ihr Berufsleben
bekommen.
({2})
Diese Verantwortung muss auch deshalb wahrgenommen werden, weil unser wirtschaftliches Wachstum und
der damit verknüpfte Wohlstand in den nächsten Jahren
davon abhängen wird, ob es auch in 10 oder in 20 Jahren
genügend qualifizierte Menschen gibt, die Ideen entwickeln, Innovationen auf den Weg bringen und hochwertige Güter und Dienstleistungen produzieren. Dafür
müssen wir jetzt die Basis legen.
({3})
Diese Verantwortung liegt auch bei denen, die politisch verantwortlich sind. Sie liegt natürlich besonders
stark bei der Wirtschaft. Es kann nicht angehen, dass
vonseiten der Wirtschaft immer wieder - wie ich finde:
zu Recht - angemahnt wird, dass die Politik mittelfristige und langfristige Perspektiven entwickelt, dass die
Wirtschaft selbst aber bei der Ausbildung der eigenen
Fachkräfte völlig darauf verzichtet, mittelfristig zu denken. Das kann doch wirklich nicht wahr sein.
({4})
Deshalb halten wir es für so problematisch, dass gegenüber
dem Vorjahresmonat 57 000 betriebliche Ausbildungsstellen weniger gemeldet worden sind und dass der Anteil der ausbildenden Betriebe auf weniger als ein Drittel
zurückgegangen ist.
Es gibt inzwischen - sicherlich auch wegen der Ausbildungsoffensive der Bundesregierung - Hoffnungsschimmer. Dazu gehört zum Beispiel der neue Tarifvertrag für die chemische Industrie wie auch die Initiative
des Metall-Arbeitgeberverbandes Niedersachsen.
({5})
Wir unterstützen solche freiwilligen Aktionen, um es
ganz deutlich zu sagen. Wir werden aber nicht nur zusehen dürfen und können, falls sich immer größere Teile
der Wirtschaft dieser Aufgabe und dieser Verantwortung
nicht stellen. Es geht nicht, dass wir einfach nur zusehen.
Sie haben heute den ganzen Morgen gejammert,
schlechtgeredet und zugeschaut,
({6})
weil Sie von dem profitieren wollen, was sich entwickelt.
({7})
Das ist nicht die Übernahme politischer Verantwortung,
um es ganz deutlich zu sagen. Hier sind andere Wege gefragt.
({8})
Es ist deshalb so wichtig, dass wir nicht nur zusehen,
weil wir hier über einen Bereich reden, in dem es um die
Lebenschancen von jungen Menschen geht, um ihr
Selbstwertgefühl, um ihren zukünftigen Platz in der Gesellschaft. Wie sollen denn junge Menschen zu diesem
Staat, zu dieser Gesellschaft, zu dieser Demokratie stehen können, wenn sie erleben, dass wir nicht alle - ich
sage bewusst: alle - Maßnahmen ergreifen, um ihnen
tatsächlich Startchancen geben zu können.
({9})
Deshalb haben wir uns entschieden, dass wir, wenn es
nicht gelingt, durch freiwillige Vereinbarungen zu einem
ausreichenden Ausbildungsplatzangebot zu kommen,
gesetzliche Regelungen vorlegen werden, um ausbildende Betriebe von ihren Kosten zu entlasten. Dies wird
dann selbstverständlich von Unternehmen finanziert, die
sich an dieser Aufgabe nicht beteiligen.
Um auch dies noch einmal deutlich zu sagen: Dieser
Entscheidung geht eine Vielzahl von Maßnahmen voraus, um die Ausbildungsplatzsituation zu verbessern.
Dazu gehört die Ausbildungsplatzoffensive. Dazu gehören die Erleichterungen bei der Möglichkeit, auszubilden. Dazu gehören aber natürlich auch Maßnahmen wie
die Modernisierung von Ausbildungsordnungen.
({10})
Bei diesem Thema wird es in Ihrem Antrag richtig absurd. Da fordern Sie die Modernisierung von Ausbildungsordnungen. In Wirklichkeit hat erst diese Koalition und hat erst diese Regierung sich bewegt, während
sich vor unserer Zeit im Bereich der Modernisierung von
Ausbildungsordnungen so gut wie nichts getan hat.
({11})
Ein Beispiel: Am 1. August 2002 sind 24 neue Ausbildungsordnungen, davon acht zu neuen Berufen, in Kraft
getreten - und dieser Prozess ist keineswegs am Ende.
Dann schauen wir noch einmal in den Antrag der
CDU/CSU: Welcher Zynismus und welche Doppelzüngigkeit spricht denn aus diesem Antrag, wenn Sie fordern, die - erfolgreichen - Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit einzustellen? Gleichzeitig erlebe ich,
wie sich sämtliche Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer
Fraktion bei Veranstaltungen - manchmal sind es ja in
Person die gleichen - darüber beschweren, dass wir bei
der Bundesanstalt für Arbeit dafür kämpfen mussten,
dass die Programme für Berufsvorbereitungsmaßnahmen weitergeführt werden - das haben wir erreicht.
({12})
Da schimpfen und jammern Sie und gleichzeitig fordern
Sie, das JUMP-Programm abzuschaffen. Das ist wirklich
purer Zynismus und pure Doppelzüngigkeit!
({13})
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Sie werden sich
schon entscheiden müssen, welchen Weg Sie gehen wollen. Die sozialdemokratische Fraktion hat sich, wie gesagt, erfolgreich für den Erhalt dieser Maßnahmen eingesetzt.
Gerade bei diesem Thema erwarten die Menschen
von der Politik zu Recht, dass gemeinsame Lösungswege gesucht werden, statt zu versuchen, aus der kritischen Situation politisches Kapital zu schlagen.
({14})
Ich finde, Sie sollten diese gemeinsamen Lösungswege
nicht ideologisch versperren.
({15})
Das muss auch nicht sein. Ich darf kurz aus der
„Frankfurter Rundschau“ aus dem Jahr 1999 zitieren.
Darin wurde über einen Beschluss berichtet, den die Sozialausschüsse der CDU damals gefasst haben:
Es muss einen Lastenausgleich geben zwischen
ausbildenden und nicht-ausbildenden Betrieben.
({16})
Zwar favorisiere die CDA tarifliche Lösungen falls aber dieser Weg nicht zum Ausgleich führe,
müsse auch über gesetzliche Regelungen nachgedacht werden.
({17})
Jetzt hingegen unterstellen Sie uns dirigistische Maßnahmen, und zwar aus reiner Ideologie.
({18})
- Herr Niebel, dass Sie das feststellen, während Sie sich
weiterhin massiv für den Schutzwall für die Handwerkerordnung einsetzen, finde ich Klasse.
({19})
Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja, sehr gerne.
Herr Tauss, bitte.
Frau Kollegin Kressl, nur weil es so schön war:
Könnten Sie noch einmal sagen, wen Sie zitiert haben?
({0})
Das war die CDA im Jahr 1999. Um es Ihnen noch etwas näher zu erläutern, Herr Tauss: Dabei handelt es
sich um die Sozialausschüsse der CDU.
({0})
- Nein, das war kein Ortsverband, sondern bundesweit -,
um es Ihnen noch einmal zu erläutern.
Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Unterstützen Sie
das Engagement aller, die sich für die Ausbildungsoffensive stark machen! Benutzen Sie die schwierige Situation nicht für billige Polemik, sondern ziehen Sie mit uns
an einem Strang! Wir finden, die jungen Menschen, die
einen Ausbildungsplatz suchen und darauf warten müssen, haben ein Recht darauf.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Schummer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Damen! Werte Herren! Im Januar fehlten nach den Angaben der Bundesanstalt für
Arbeit 90 000 Ausbildungsplätze für das neue Ausbildungsjahr. Im Februar waren es 118 000, im März
140 000 und im Mai 171 000. Die Dramatik der Ausbildungssituation nimmt von Monat zu Monat weiter zu.
Jeder zweite Schulabgänger in diesem Jahr wird voraussichtlich keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, sondern eine Ersatzmaßnahme wahrnehmen müssen. Das heißt, es gibt eine Erosion der betrieblichen
dualen Ausbildung.
Was ist Ihre Reaktion darauf? - Ein Ausbildungsgipfel. Die Minister Clement und Bulmahn luden zu diesem
Gipfel ein. Erstmals seit 1983 war es nicht der Bundeskanzler, sondern die nachgeordneten Ministerien, die
dazu einluden. Der Bundeskanzler fehlte. Gerhard
Schröder ist wie Richard Kimble auf der Flucht vor den
Ergebnissen seiner Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Die Zukunftschancen junger Menschen sind für diesen Bundeskanzler eine nachgeordnete Angelegenheit
nachgeordneter Instanzen. Das ist der Gipfel seiner Verantwortungslosigkeit.
({1})
- Und es kam von Herzen, lieber Kollege.
Es gibt einen sozialdemokratischen Reflex: Hier ist
ein Problem und dort ist eine Steuer. So tanken wir für
die Rente und rauchen für die innere Sicherheit. Demnächst heißt es „Trinken für die Gesundheit“ und als Rezept gegen die Ausbildungskrise gibt es eine Ausbildungsplatzabgabe.
({2})
Tatsache ist, dass mit 40 000 betrieblichen Insolvenzen eine Rekordzahl erreicht wurde. Mit diesen 40 000
Insolvenzen wurden mehr als 400 000 Arbeits- und
Ausbildungsplätze vernichtet.
({3})
- Wenn Sie nicht nur Ihren Kehlkopf, sondern auch den
Kopf nutzen würden, dann könnten Sie auch besser zuhören.
({4})
Die Ausbildungsschwäche der Betriebe ist ein Spiegelbild der miserablen wirtschaftlichen Lage, die auch
von Ihrer Steuer- und Abgabenpolitik verursacht
wurde.
Da wir nur noch wenige Monate bis zum September
2003 Zeit haben, möchte ich drei ganz konkrete Vorschläge - den Rest werden wir nachliefern - machen,
über die wir reden sollten.
({5})
Erster konkreter Vorschlag: Entlasten wir anteilig
Betriebe von Sozialversicherungsbeiträgen für Auszubildende. Die Mittel dafür nehmen wir aus dem JUMPProgramm, da es für 70 Prozent der betroffenen Jugendlichen eine reine Warteschleife ist. Dieses Geld sollte
besser in die Unterstützung der betrieblichen Ausbildung
fließen.
({6})
Bei den kleinen Einkommen von 401 bis 800 Euro haben wir bereits einen solchen Anreiz zur Arbeitsaufnahme parteiübergreifend beschlossen.
({7})
Der Sozialversicherungsbeitrag steigt für die Beschäftigten nur langsam an. Nach diesem Vorbild könnten wir
auch einen Anreiz für betriebliche Ausbildungsplätze
schaffen. Etwas Ähnliches bei den Arbeitgeberbeiträgen
für Auszubildende zu machen wäre kreativer und intelligenter, als immer neue Abgaben zu erheben.
Zweiter konkreter Vorschlag: Auf einem Ausbildungsgipfel sollte mit den Tarifpartnern vereinbart werden, dass die Ausbildungsgehälter in den nächsten drei
Jahren eingefroren werden. Mit dem gesparten Geld
könnten die Unternehmen zusätzliche Ausbildungsplätze
finanzieren. Im Schnitt liegen die Ausbildungsvergütungen in Deutschland zwischen 430 und 800 Euro. Hier ist
eine Atempause vertretbar, wenn dafür zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen werden.
({8})
Dritter konkreter Vorschlag: Ausbildungsmeister ist
das Handwerk. Dort befinden sich über 80 Prozent der
Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Die freie Berufswahl ist
ein Verfassungsrecht. Das Handwerk leistet hierfür einen
elementaren Beitrag. Die Handwerksberufe - das ist ein
Punkt, über den wir noch heute Nachmittag beraten
werden -, die bis zum Dezember 2004 die Ausbildungsquote der übrigen Wirtschaft massiv übersteigen, erhalten sich so ihren Meisterbrief. Wettbewerb als Instrument für unser Gemeinwohl - das wäre klassisch für
soziale Marktwirtschaft.
({9})
Der Staat entlastet Ausbildungsbetriebe von Lohnnebenkosten. Die Gewerkschaften garantieren Ruhe bei
den Lohnkosten. Die Arbeitgeber sorgen für zusätzliche
Ausbildungsplätze und im Handwerk startet ein Wettbewerb für mehr Lehrstellen. Das wäre ein Gesamtkonzept, das wir bis zur Sommerpause auf den Weg bringen
könnten und mit dem wir schon in diesem Jahr den
Schulabgängerinnen und Schulabgängern eine Perspektive eröffnen würden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, folgen Sie uns zeitnah, damit die Jugend in
Deutschland eine Chance hat!
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Schummer, mit der Beschreibung der Situation haben Sie ja Recht: 140 000 Ausbildungsplätze
werden möglicherweise im Herbst fehlen. Damit dürfen
wir uns wirklich nicht abfinden. Nur 30 Prozent der Betriebe bilden aus. In diesem Jahr werden bis jetzt ungefähr 11 Prozent weniger Ausbildungsplätze angeboten
als im letzten Jahr. Das geht nicht. Nur: Das, was Sie anbieten, lieber Herr Kollege Schummer, stellt Ihnen ein
Armutszeugnis hoch zehn aus.
({0})
Sie schlagen vor, die Mittel für das JUMP-Programm zu
streichen und dafür andere Angebote zu machen.
({1})
Das geht aber auf Kosten der Jugendlichen, die im
JUMP-Programm einen Ausbildungsplatz oder ein Angebot gefunden haben - schließlich bilden nur
30 Prozent der Betriebe aus. Auch diese Jugendlichen
haben ein Anrecht auf Hilfe und Ausbildung.
({2})
Das gilt übrigens genauso für alle anderen Jugendlichen
in diesem Land, die die Schule verlassen und in den Arbeitsmarkt hinein wollen, die sich also ihrer Erwerbsbiographie gerade nähern. Vor diesem Hintergrund finde
ich, dass Ihre Vorschläge nicht nur untauglich, sondern
auch zynisch sind; denn Sie wollen ausgerechnet die
Maßnahmen zur Disposition stellen und sich zur Finanzierung Ihrer Vorschläge der Programme bedienen - das
wollten Sie auch schon in den letzten Jahren; übrigens,
Frau Pieper, die betreffenden Programme sind vor allen
Dingen in den neuen Bundesländern sehr stark nachgefragt -, die insbesondere an diejenigen Jugendlichen gerichtet sind, die Schwierigkeiten haben, sich dem ArDr. Thea Dückert
beitsmarkt zu nähern, weil sie zum Beispiel in der
Ausbildung Probleme hatten oder sich aus anderen
Gründen arbeitsmarktfern aufgehalten haben.
({3})
Im dualen System - das ist natürlich ein Pfund für die
Wirtschaft in Deutschland - haben die Unternehmen
eine Ausbildungspflicht. Der Staat kann, zum Beispiel
durch JUMP, durch außerbetriebliche Maßnahmen, immer nur Second-best-Lösungen anbieten.
({4})
Wir müssen sehen, dass die Jugendlichen in die Betriebe
hineinkommen.
({5})
Deswegen sage ich hier ganz deutlich: Wenn die Unternehmen in diesem Sommer dieser Verpflichtung nicht
nachkommen, weil sie nicht können oder nicht wollen,
({6})
dann werden wir gesetzlich eingreifen müssen und die
Unternehmen in die Pflicht nehmen müssen. Das gebietet uns das Recht der Jugendlichen auf Ausbildung.
({7})
Die Ministerin hat gesagt, dass 500 000 Betriebe noch
ausbilden könnten. Wenn wir nur die Hälfte dieser Betriebe erreichen könnten, hätten wir in diesem Jahr das
Problem schon gelöst.
Ich will noch einmal auf das zurückkommen, was Sie
in Wahrheit vorschlagen. In Ihrem Antrag steht, dass Sie
JUMP streichen und die 1 Milliarde Euro zur Senkung
der Lohnnebenkosten benutzen wollen. Haben Sie eigentlich einmal ausgerechnet, Frau Reiche, wie hoch der
Effekt wäre? Dadurch würde eine Senkung der Lohnnebenkosten um maximal 0,1 Prozentpunkte erreicht.
({8})
Sagen Sie einmal ganz im Ernst - denken Sie dabei an
Ihren eigenen Betrieb -: Sind Sie wirklich der Auffassung, dass wir die Probleme auf dem Ausbildungsplatzmarkt in diesem Jahr lösen können, wenn wir JUMP
streichen, also die jungen Leute in die Wüste schicken,
um dafür die Lohnnebenkosten um 0,1 Prozentpunkte zu
senken? Erklären Sie mir in diesem Zusammenhang -
Frau Kollegin Dückert, ich muss einmal dazwischengehen. Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kretschmer?
Ja, wenn ich meinen Satz zu Ende geführt habe.
Erklären Sie mir in diesem Zusammenhang, wie Sie
auf der anderen Seite der Streichung der Ökosteuer das
Wort reden können, wodurch die Lohnnebenkosten,
nämlich der Rentenversicherungsteil, um mehrere
0,1 Prozentpunkte steigen würden!
({0})
Frau Reiche, so wird doch kein Schuh daraus.
({1})
Man erkennt, was Sie wirklich verfolgen. Sie haben
überhaupt kein Interesse daran, Jugendlichen, die ausbildungsfern sind, ein Angebot zu machen. Das ist die Realität.
({2})
Herr Kretschmer, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, Sie haben gerade gesagt, die Unternehmen könnten oder wollten nicht ausbilden. Wir möchten von Ihnen doch gern
wissen, was denn nun Ihrer Meinung nach zutrifft. Es ist
nämlich ein großer Unterschied zwischen Können und
Wollen.
Wir stehen auf dem Standpunkt, dass die Unternehmen nicht können - wegen Ihrer verfehlten Wirtschaftspolitik,
({0})
wegen der 5 Millionen Arbeitslosen, wegen der Situation im Handwerk, wegen rückgängiger Umsätze, wegen
40 000 Unternehmenspleiten im Jahr. 40 000 Unternehmen bilden nicht mehr aus, aus welchen Gründen auch
immer. Es gibt eine Ausbildungslücke. Sie ist jetzt auch
in großem Maß in den alten Ländern entstanden. Die
jungen Leute aus meiner Heimat, aus den neuen Bundesländern, sind ja bisher immer in die alten Bundesländer
gegangen.
Ist es also nicht Ihre Wirtschaftspolitik, die dafür gesorgt hat, dass die Situation jetzt so schlimm ist? Sollten
Sie nicht doch etwas daran ändern, bevor Sie anfangen,
mit einer Ausbildungsplatzabgabe die Probleme noch zu
verschlimmern?
({1})
Schönen Dank für Ihre Frage, Herr Kollege. - Es gibt
Unternehmen, die wollen nicht, und es gibt Unternehmen, die können nicht.
({0})
Dies, lieber Herr Kollege, hat die Wirtschaft schon besser erkannt als Sie, als die CDU/CSU-Fraktion und vor
allem die FDP-Fraktion.
Herr Rogowski hat am Anfang dieser Woche vorgeschlagen, einen Fonds einzurichten, um den Unternehmen, die Schwierigkeiten haben auszubilden, weil sie finanzielle Probleme haben, über ein Umlageverfahren
quasi einen Bonus zu geben.
({1})
So etwas gibt es in der chemischen Industrie und so etwas gibt es in der Metallindustrie. Es ist ein kluger Ansatz, Fonds zu bilden. Alle zahlen ein und die, die ausbilden - ich antworte noch auf Ihre Frage, Herr
Kretschmer; bleiben Sie bitte stehen -, bekommen etwas
aus diesen Fonds. Vom Ansatz her halten auch wir
Grüne das für einen sinnvollen Weg: Alle zahlen ein,
niemand kann sich aus der Verantwortung stehlen, wie
zum Beispiel im Rahmen der Behindertenabgabe. Bei
diesem System muss jeder seinen Obolus leisten und wer
ausbildet, wird unterstützt.
({2})
- Das war Rogowski.
Einen solchen Weg geht man in der chemischen Industrie und in der Metallindustrie. Diesen Ansatz können wir aufgreifen und weiterentwickeln. Wir Grüne
möchten zu diesem Zweck gern ein Stiftungsmodell entwickeln, ähnlich wie es die Hartz-Kommission vorgeschlagen hat. Lassen Sie uns über diese Dinge reden und
streiten! Aber hören Sie auf, den Jugendlichen, die mit
der Streichung von JUMP besondere Schwierigkeiten
haben, auf den Pelz zu rücken!
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Wir von der „PDS im Bundestag“ meinen:
Der Bundeskanzler muss jetzt sein Wort halten. Er hat in
seiner Regierungserklärung „Mut zum Frieden und Mut
zur Veränderung“ am 14. März eine gesetzlich verordnete Ausbildungsplatzabgabe angekündigt,
({0})
wenn die Wirtschaft nicht aus eigener Kraft in der Lage
ist, ausreichend Ausbildungsplätze zu schaffen. Die
Wirtschaft hat den Beweis geliefert: Sie ist dazu nicht in
der Lage. In regelmäßigen Abständen beklagen die Arbeitgeberverbände zwar den Mangel an Fachkräften; sie
sind aber offensichtlich nicht bereit, etwas zur Beseitigung dieses Mangels zu tun.
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat am
17. April eine Umfrage zu den Lehrstellenangeboten
der DAX-Unternehmen veröffentlicht. Das Ergebnis ist
mehr als niederschmetternd: Die Schlusspositionen nehmen Lufthansa, Deutsche Börse und SAP ein. Besonders
bedauerlich ist, dass die Deutsche Post, deren Hauptaktionär der Bund ist, die Zahl der Lehrstellen in diesem
Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 350 reduziert hat. Da
frage ich mich natürlich: Wie wird der Bund als Aktionär
gegenüber der Deutschen Post und anderen Unternehmen, an denen er beteiligt ist, seiner Pflicht gerecht?
Schaut man sich das Verhältnis zwischen Gesamtbelegschaft und der Zahl der Auszubildenden an, dann kommt
man zu dem Ergebnis, dass die Deutsche Post weit abgeschlagen hinter vielen privaten Unternehmen liegt. Wo ist
da die Vorbildwirkung des Bundes, Frau Bulmahn?
({1})
Bemerkenswert ist auch, dass ein DAX-Unternehmen
wie Adidas-Salomon - da ist der Bund nicht Aktionär im Jahre 2003 insgesamt 15 Lehrstellen - ich wiederhole: 15 Lehrstellen - bereitstellt. Das ist deshalb bemerkenswert, weil gerade dieses Unternehmen seine Produkte an junge Menschen verkauft und mit dem Image
eines besonders jugendlichen Lebensgefühls um jugendliche Kunden wirbt, aber offensichtlich kaum bereit ist,
etwas für junge Menschen zu tun. Das zeigt sich, wenn
man sich die Zahl der Ausbildungsplätze anschaut.
Die CDU/CSU lehnt in ihrem Antrag eine Ausbildungsplatzabgabe ab. Dieser Antrag ist überschrieben:
„Ausbildungsplatzabgabe zerstört Ausbildungsmotivation“. Wessen Motivation meinen Sie eigentlich: die der
Jugendlichen oder die der Unternehmer?
({2})
Ich denke, Sie machen sich Sorgen um die Motivation
der Unternehmer. Sie machen sich in Ihrem Antrag nämlich keine Sorgen um die Motivation der Jugendlichen,
die dringend einen Ausbildungsplatz brauchen und immer wieder vertröstet werden. Ich möchte auf das Beispiel Adidas-Salomon zurückkommen. Wie viel Motivation brauchte dieses Unternehmen eigentlich, um
15 Jugendliche auszubilden?
Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt ist dramatisch.
Sie schreiben in Ihrem Antrag:
Im Ausbildungsjahr 2003/2004 fehlen derzeit
148 000 Lehrstellen. Davon allein 105 000 in den
neuen Ländern.
So weit, so schlecht. Was ist nun Ihr Rezept? Warten auf
die Konjunktur und Abbau von Bürokratie. Die Jugendlichen können aber nicht warten. Sie haben auch noch
nie erlebt, dass in dieser Republik Bürokratie abgebaut
wird, weder unter Kohl noch unter Schröder.
({3})
Sie sagen den Jugendlichen nicht, wie Sie neue Ausbildungsplätze schaffen wollen. Deshalb ist Ihr Antrag,
meine Damen und Herren von der CDU, untauglich und
wird von uns entschieden abgelehnt.
({4})
Der Bundeskanzler hat die Ausbildungsplatzabgabe
mittlerweile in Aussicht gestellt, wenn die Unternehmen
nicht bereit sind, ausreichend Ausbildungsplätze zu
schaffen. Für diese Ankündigung - ich hoffe, sie wird
umgesetzt - möchte ich ihn ausdrücklich loben; denn
diese Drohung hat schon - zumindest partiell - Wirkung
gezeigt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag
hat in einem Flugblatt erklärt: Nicht ausbilden könnte
teuer werden. Plötzlich finden Arbeitgeber Argumente,
warum Ausbildung gar kein Verlustgeschäft ist; im Gegenteil: Es rechnet sich. Das Klagen über zu hohe Ausbildungsvergütungen ist unehrlich. Das Argument steht
in dem genannten Flugblatt. Man kommt zu dem
Schluss, dass viele Auszubildende ihren Unternehmen
mehr einbringen als sie kosten.
Die Arbeitgeberverbände haben den Wert von Azubis
richtig erkannt. Das Problem ist nur, dass die Unternehmen offensichtlich nicht bereit sind, sich durch eine
Selbstverpflichtung für die Schaffung der fehlenden
Ausbildungsplätze zu sorgen. Ich darf daran erinnern,
dass das Bundesverfassungsgericht bereits 1980 darauf
verwiesen hat, dass die Verantwortung der Arbeitgeber
besteht, für ein ausreichendes Angebot an betrieblichen
Ausbildungsplätzen zu sorgen und eine gesetzliche Regelung anmahnte. Diese Mahnung ist inzwischen
23 Jahre alt, Frau Ministerin.
Aus den genannten Gründen fordert die PDS die
schnelle Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe für
die Unternehmen, die nicht ausbilden. Das sollte keine
Drohung sein, die sich im Nirwana verliert, sondern
muss jetzt, wo es Not tut, angewandt werden: Nur Mut,
meine Damen und Herren von der Koalition!
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Anton Schaaf von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Pieper, die größten Deregulierer
dieses Landes sind hier heute eingeknickt, als es um ihre
ureigene Klientel ging.
({0})
Diejenigen, die in diesem Land - an vielen Stellen zu
Recht - am lautesten nach Subventionsabbau schreien,
haben heute neue Subventionen gefordert.
({1})
Der Berufsbildungsbericht macht die ökonomische,
aber auch die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der beruflichen Bildung eindrücklich klar. Unser wertvollstes
Kapital sind die jungen Menschen. Wir sind ihnen verpflichtet. Kommen wir unseren Verpflichtungen nicht
nach, verspielen wir ihre Zukunft und gefährden die
ökonomische Zukunft unseres Landes.
Noch immer bildet die betriebliche Ausbildung für
die Mehrzahl der jungen Menschen den Einstieg in das
Berufsleben. Die Grundlage unserer Industriegesellschaft ist die Erwerbsarbeit.
Herr Kollege Schaaf, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ich möchte gerne im Zusammenhang reden. Danke.
Ich glaube nicht, dass wir im Laufe der Debatte noch
substanzielle Beiträge - ich habe heute zumindest keine
gehört - erwarten dürfen.
({0})
Erwerbsarbeit bedeutet nicht nur Gelderwerb, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe, Anerkennung und
materielle Sicherheit. Umfragen zeigen, dass Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren insbesondere vor Arbeitslosigkeit Angst haben. Wir wollen verhindern, dass
das Leben junger Menschen von Unsicherheiten geprägt
wird. Wie sollen sie aber Vertrauen aufbauen, wenn Jahr
um Jahr ein Lehrstellendebakel droht?
Die Unternehmer in diesem Land müssen jedes Jahr
von ihren eigenen Verbänden und den jeweiligen Regierungen - ich sage ausdrücklich: den jeweiligen Regierungen - mit Kampagnen und aufwendiger Öffentlichkeitsarbeit dazu aufgerufen werden, mehr Ausbildungsplätze
zu schaffen. Das muss jungen Menschen den Eindruck
vermitteln, nicht gebraucht zu werden, ja überflüssig zu
sein. Das trägt nicht unbedingt zum Zusammenhalt einer
Gesellschaft bei.
({1})
In Schule, betrieblicher Ausbildung und Studium sollen junge Menschen auf das Berufsleben vorbereitet
werden. Darauf haben sie einen Anspruch. Nur ein Drittel der Unternehmen in Deutschland bildet aus, aber
100 Prozent der Unternehmen sind auf gut ausgebildete
Mitarbeiter angewiesen. Im April dieses Jahres klafft
zwischen Angebot und Nachfrage bei den Ausbildungsplätzen eine Lücke von 160 000. Es ist keineswegs so,
als stünden ausreichend ausgebildete Arbeitskräfte zur
Verfügung. In den nächsten Jahren droht ein erheblicher
Mangel an Fachkräften, wenn heute nicht genügend
junge Menschen ausgebildet werden. Auf der einen Seite
haben wir dann schlecht Qualifizierte ohne Arbeit und
auf der anderen Seite einen steigenden Bedarf an Fachkräften, den wir nicht decken können.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, die deutsche Wirtschaft nachdrücklich an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Falls die Wirtschaft keine Lösung anbietet - unseren Antrag haben Sie in diesem
Punkt offensichtlich nicht richtig gelesen -, ist die Bundesregierung gefordert, Maßnahmen zu treffen.
({2})
Das heißt, sie muss eine gesetzliche Regelung verabschieden. Die Ziele der Regelung sind eine gerechte Verteilung der Kosten für die Berufsausbildung und die
Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze. Wenn bis
zum Ende des laufenden Vermittlungsjahres zu wenig
Lehrstellen zur Verfügung stehen, muss die Bundesregierung aktiv werden. Die Sicherung eines ausreichenden Ausbildungsplatzangebots ist zusammen mit der
Modernisierung der beruflichen Bildung im dualen System Voraussetzung für die Erhaltung der Berufs- und Lebenschancen eines überwiegenden Teils der jungen Generation.
Über Jahrzehnte entstandene Fehlentwicklungen
müssen jetzt korrigiert werden. Der Staat trägt mittlerweile einen sehr großen Anteil an den Ausbildungskosten, nämlich 11 Milliarden Euro. Die Verantwortung
wurde Stück für Stück auf den Staat abgewälzt.
({3})
Ob es sich um einen Mangel an Ausbildungsplätzen
oder einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften handelt, die Öffentlichkeit nimmt die Politik, zumeist die
Regierenden, als Verantwortliche wahr. Das war übrigens schon zu Ihren Zeiten so. Auch die Unternehmer
sind schnell dabei, der Politik den schwarzen Peter zuzuschieben. Unsere Kinder und Jugendlichen werden demnach unzureichend auf die Berufstätigkeit vorbereitet. In
Teilen stimmt das, aber wir handeln. Für die Qualität der
betrieblichen Ausbildung ist die Wirtschaft zum größten
Teil selbst verantwortlich. Die Unternehmen müssen
ihre eigene Verantwortung erkennen, ihre Strukturen und
Erwartungen überprüfen und vor allen Dingen endlich
handeln.
({4})
Nur wenn sie dazu nicht bereit sind, muss die Politik,
auch im Interesse der Wirtschaft, eingreifen. Ohne ausreichende Ausbildung werden wir in den folgenden Jahren auf der einen Seite einen massiven Fachkräftemangel
und auf der anderen Seite einen noch größeren Anstieg
der Arbeitslosenquote erleben.
Die Wirtschaft höhlt ihre eigenen Grundlagen aus,
wenn sie nicht ausbildet. Ausbildung ist die Basis unserer Ökonomie und auch unseres Sozialstaats. Ohne sie
werden wir in Deutschland kein nennenswertes Wirtschaftswachstum erreichen; Deutschland wird international nicht mehr mithalten können.
Meine Damen und Herren, überrascht hat mich die
Lektüre eines gemeinsamen Positionspapiers von Herrn
Kollegen Schummer und Dietmar Schäfers von der
IG BAU. Herr Schummer, unsere Positionen scheinen
gar nicht so weit auseinander zu sein. Zumindest habe ich
das beim Lesen so verstanden; denn in dem Papier steht:
Betriebe, die nicht ausbilden, wollen wir anreizen,
ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung für die berufliche Bildung nachzukommen.
({5})
Da stimme ich absolut mit Ihnen überein, Herr
Schummer. Jetzt geht es darum, diese gesellschaftliche
Verpflichtung von den Unternehmern in diesem Land
auch einzufordern. Dabei können Sie gerne behilflich
sein.
({6})
- Sie brauchen sich nicht zu melden, ich rede im Zusammenhang weiter.
Weiter heißt es in dem Papier - auch das zitiere ich
sehr gern -:
Gäbe es die tarifliche vereinbarte Umlagefinanzierung in der Bauwirtschaft nicht, sähen die Ausbildungsplatzzahlen in der krisengeschüttelten Baubranche noch schlechter aus.
({7})
Da gebe ich Ihnen Recht: Ausbildung muss tatsächlich
konjunkturunabhängiger gestaltet werden. Dafür treten
wir gerade ein. Helfen Sie mit dabei!
({8})
Sie haben weiter gesagt:
Die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen hat oberste Priorität.
Dazu haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon
Deutliches gesagt.
Auch Bundesregierung, Unternehmerverbände und
Gewerkschaften haben in ihrer gemeinsamen Kampagne
für tarifliche Vereinbarungen nach diesem Vorbild geworben.
Handeln wir jetzt nicht, nehmen wir in Kauf, dass einem zunehmenden Teil unserer Jugendlichen die materielle wie auch die soziale Lebensperspektive fehlt. Die
Folgekosten für die Gesellschaft würden dramatische
Ausmaße annehmen. Deshalb müssen wir jetzt vernünftige Instrumente zur Förderung der betrieblichen Ausbildung entwickeln. Eine Alternative dazu gibt es nicht.
Sonst überlassen wir den Umgang mit ausgegrenzten Jugendlichen, die dann zu ausgegrenzten Erwachsenen
werden, den sozialen Sicherungssystemen. Das wäre
verantwortungslos.
({9})
70 Prozent der Unternehmen bilden nicht mehr aus.
Das ist nicht nur konjunkturell oder steuerpolitisch bedingt, wie Sie behaupten, sondern mittlerweile strukturell begründet. Es ist eben bequemer und auch günstiger,
nicht auszubilden.
In der betrieblichen Ausbildung erleben wir seit Jahren, eigentlich schon seit Jahrzehnten, zumindest seit einem Jahrzehnt, eine Wackelpartie. Im ureigensten Interesse der Wirtschaft und vor allen Dingen im gesamtgesellschaftlichen Interesse, jungen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, muss mit dieser Wackelpartie Schluss sein. Die jungen Menschen in diesem
Land brauchen eine Politik, die sich für ihre Zukunft
verantwortlich zeigt. Diese Politik machen wir. Politik
allein wird unsere Zukunft aber nicht sichern können.
Wir brauchen die Bereitschaft aller Akteure dieser Gesellschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dazu rufen
wir gerade die Unternehmerinnen und Unternehmer dieses Landes auf. Wir leisten unseren Beitrag.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Fuchs von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin,
ich will mit Ihnen einmal ein bisschen das Lang- und das
Kurzzeitgedächtnis überprüfen. Wissen Sie, wie die
Zahl der Jugendarbeitslosen gegenüber dem Vorjahresmonat angestiegen ist? - Um 33 000 allein im Monat
Mai. Richten wir das Kurzzeitgedächtnis aber auch auf
etwas noch näher Liegendes. Sie haben Ende April auf
dem berühmten Ausbildungsgipfel Folgendes zusammen
mit Bundesminister Clement gesagt:
Die gemeinsamen Anstrengungen, um so viele Arbeitsplätze wie möglich zu mobilisieren, haben absolute Priorität.
- Einverstanden! Jegliche Diskussion über eine Ausbildungsabgabe
lehnen wir ab, da dies den gemeinsamen Anstrengungen schadet.
({0})
Was wollen Sie eigentlich?
Gleichzeitig, Frau Ministerin, sitzen Sie, wie wir gehört haben, der SPD-Arbeitsgruppe vor, die an den Plänen eines zweistufigen Modells zur Ausbildungsplatzabgabe arbeitet. Ich kann das nur als Täuscherei
bezeichnen.
({1})
- Das genau ist Ihre Politik: Zuerst erzählen Sie den Unternehmen, dass Sie einen Vorschlag ablehnen und da
nicht mitmachen werden, weil er der wirtschaftlichen
Entwicklung schadet. Aber nur einige Tage später - ich
sage nur: Kurzzeitgedächtnis - wird dann großartig verkündet, dass doch eine Ausbildungsplatzabgabe kommt.
Genau das ist Ihre Politik.
({2})
- Hören Sie besser zu! Dann lernen Sie etwas.
({3})
Sie sorgen nicht für die Verlässlichkeit, die wichtig ist,
damit es in diesem Land weiter aufwärts gehen wird.
({4})
Ähnliches haben wir schon mit den Vorschlägen von
Herrn Hartz erlebt. Vor fast genau einem Jahr - ich appelliere wieder an Ihr Gedächtnis - wurden uns
2 Millionen neue Arbeitsplätze versprochen. Was ist
denn daraus geworden? - Es war nur ein Papiertiger: außer Kosten und Spesen nichts gewesen.
({5})
Dieses Jahr gibt es im Monat Mai die höchste Arbeitslosigkeit, nicht seit der Wiedervereinigung, sondern
seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.
({6})
Das haben Sie - und niemand anderes - mit Ihrer Politik
zu verantworten.
({7})
Je ernster die Probleme in unserem Land werden,
desto unausgereifter sind Ihre Konzepte. Es fehlen eine
klare, verlässliche Politik und jedes wirtschaftliche Gesamtkonzept. Der Stillstand auf dem Arbeitsmarkt und
damit die Probleme, die wir auf dem Ausbildungssektor
haben, resultieren doch aus Ihrer katastrophalen Wirtschaftspolitik, die dazu führt, dass kein Unternehmer
mehr den Mut hat, Arbeitsplätze zu schaffen. Wann
schafft denn ein Unternehmer Arbeitsplätze? - Doch immer nur dann, wenn er Geld verdient. Aber zurzeit verdient die deutsche Wirtschaft kein Geld mehr. Das sehen
Sie auch am Aufkommen der Körperschaftsteuer.
({8})
Wir haben in diesem Jahr die größte Pleitewelle, die
dieses Land jemals erlebt hat. 42 000 Unternehmen
werden Pleite gehen. 400 000 Arbeitsplätze und
20 000 Ausbildungsplätze, Frau Bulmahn, werden uns
dadurch verloren gehen.
Ich habe eine ganz konkrete Bitte an das Bundeskabinett. Sie können mir helfen, dass in meinem Wahlkreis
Arbeits- und auch Ausbildungsplätze erhalten bleiben.
Ungefähr 20 Kilometer rheinabwärts von Koblenz gibt
es das wunderschöne Städtchen Weißenthurm. Dort befindet sich die Firma Schmalbach-Lubeca, die vom Konzern Ball übernommen wurde. Dieses Unternehmen ist
ein Dosenhersteller mit 500 Beschäftigten. Geplant war,
dieses Jahr 20 Auszubildende einzustellen. Aber dieser
Plan wurde aufgegeben. Seit Januar gibt es Kurzarbeit.
Der Betrieb wird demnächst geschlossen. So vernichten
Sie Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Sagen Sie Herrn
Trittin, er soll diese dämliche Verordnung aussetzen, damit die Arbeitsplätze in dieser Branche erhalten bleiben.
({9})
Wir können es uns in dieser wirtschaftlichen Situation
nicht leisten, das Dosenpfand durchzusetzen, weil dadurch Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze vernichtet
werden. Ich bin der Meinung, dass es so nicht weitergehen kann.
({10})
Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung und wissen
ziemlich genau, dass dieses Dosenpfand kompletter
Blödsinn ist.
({11})
- Herr Tauss, Ihr Zuruf wird auch durch noch so viel
Lautstärke nicht intelligenter.
({12})
Wo sind denn die Analytiker in dieser Regierungsmannschaft? Man verspürt nur noch Hektik. Es vergeht
kein einziger Tag, an dem in diesem Land nicht neue panikartige Töne zu hören sind. In diesem rot-grünen Panikorchester fiedelt jeder auf seiner eigenen Geige. Der
Kanzler nennt das völlig zu Recht eigene Kakophonie.
Angesichts dieses kakophonen Orchesters - schauen
Sie sich nur die Steuererhöhungsdiskussionen der
letzten Tage an; Frau Nahles: Vermögensteuer, Frau
Simonis: Mehrwertsteuer, Herr Schreiner: Erbschaftsteuer, Herr Eichel: Eigenheimzulage und möglicherweise Erhöhung der KFZ-Steuer, Frau Schmidt:
Tabaksteuer, etc. ({13})
ist es klar, dass kein Mensch in dieser Republik mehr
Vertrauen in Ihre Politik hat und dass kein Mensch den
Mut hat zu investieren. Wenn man nicht mehr weiß, welche Steuern in welcher Höhe am nächsten Tag auf einen
zukommen, dann kann man meiner Meinung nach nicht
mehr investieren. Genau diese Situation haben Sie durch
die ständige Verunsicherung der deutschen Wirtschaft
erreicht. Das muss geändert werden.
Herr Kollege Fuchs, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
({0})
Das kann ja nur lustig werden.
Herr Tauss, bitte schön.
Ganz ernsthaft: Können Sie mir nochmals vortragen,
welche Position die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft im Moment einnimmt und wie die Äußerungen von Herrn Koch in diesen Tagen lauteten? Könnten Sie uns kurz etwas zu dem von ihm geforderten
Subventionsabbau und zu den Vorschlägen des Herrn
Stoiber sagen?
Zu Herrn Koch kann ich Ihnen nur Folgendes sagen:
Er hat zusammen mit Herrn Steinbrück gefordert, die
Subventionen abzubauen, und zwar rasenmäherartig.
({0})
Wir dürfen aber mit den Mitteln, die durch den Abbau
von Subventionen zur Verfügung stehen, nicht generell
die Taschen des Staates auffüllen. Auch das hat Herr
Koch gesagt; nur, das hören Sie nicht gerne. Wir müssen
diese Mittel vielmehr für die Senkung der Steuern, die
die Bürger zahlen müssen, verwenden. Dann macht das
Ganze Sinn.
({1})
Die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe wird
in diesem Lande kein Problem lösen. Im Gegenteil: Sie
wird mehr Bürokratie schaffen und dafür sorgen, dass
sich noch mehr Betriebe verabschieden müssen; denn sie
wirkt kostenerhöhend. Gerade der Bundeskanzler hat Ihnen mit der Agenda 2010 ins Stammbuch geschrieben,
dass die Lohnnebenkosten dringend gesenkt werden
müssen.
({2})
Was machen Sie denn jetzt anderes, als sie wieder zu erhöhen? Bei der Absenkung der Lohnnebenkosten müssen Sie ansetzen. Zusätzliche Belastungen der deutschen
Wirtschaft sollten Sie aber bitte unterlassen.
({3})
Lassen Sie mich ein Letztes aus dem eigenen Erleben
in meinem Wahlkreis sagen - Herr Tauss, hier können
wir sofort gemeinsam etwas tun; ich bin gespannt, wie
weit Sie bereit sind zu springen -: Es gibt in meinem
Wahlkreis ein Unternehmen mit 190 Arbeitsplätzen. Die
hatten bis jetzt circa 15 Azubis. Dieses Jahr bilden sie
nur neun aus. Wissen Sie, warum? Weil sie ab
200 Beschäftigten einen Betriebsrat freistellen müssten.
({4})
Machen wir uns doch nichts vor: Das sind die Hemmnisse, die Sie geschaffen haben!
({5})
Schaffen wir das gemeinsam ab, und das so schnell wie
möglich! Denn es muss nun wirklich nicht sein, dass
deswegen die Einstellung von Auszubildenden verhindert wird. Sie sehen, es gibt viel zu tun. Aber ich befürchte, Sie werden wie immer nichts tun.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen die Aktivitäten im Rahmen der Ausbildungsoffensive des Jahres 2003 ausdrücklich.
({0})
Die aktuellen Zahlen belegen die Notwendigkeit dafür
überdeutlich. Es ist richtig, dass wir gemeinsam durch
kurzfristig greifende Maßnahmen, die jetzt angebracht
sind, versuchen, einiges auf den Weg zu bringen.
({1})
Auf einen Punkt will ich hinweisen, der von meinem
Vorredner in einer Art und Weise aufgegriffen wurde,
dass ich das so nicht stehen lassen kann: Wir halten das
Engagement der Betriebs- und Personalräte, die in den
Unternehmen hier und heute auch unter Verzicht der Belegschaften zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen, für
ungeheuer wichtig. Es war gut, dass wir das Betriebsverfassungsgesetz reformiert haben.
({2})
Diese Vertreter und deren Gewerkschaften, die das
teilweise bis hin zu tarifvertraglichen Vereinbarungen
machen, haben es nicht verdient, als Blockierer beschimpft zu werden. Sie brauchen vielmehr unsere Ermutigung und Unterstützung. Das sollte sich die Opposition endlich einmal merken.
({3})
Kollege Lensing, der Berufsbildungsbericht 2003 gibt
wie viele Berufsbildungsberichte zuvor einen umfassenden und ausreichenden Überblick über die Struktur, die
Lage und die Entwicklungsperspektiven der beruflichen
Bildung. Ich bin mir ganz sicher: Wir werden darüber
sowohl in den Ausschüssen als auch hier im Plenum diskutieren. Deshalb finde ich die Bemerkung, er gebe
nichts her, wirklich deplatziert.
({4})
Es macht aber Sinn, meine Kolleginnen und Kollegen, sich einmal die finanzielle Seite der beruflichen
Bildung anzuschauen: Was kostet die Ausbildungskrise
den Staat und was wenden die ausbildenden Unternehmen auf? Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat in
zwei Studien, die sich auf das Jahr 2000 bezogen - damals hatten wir übrigens ein Wachstum von drei Prozent; in jenem Jahr war eine gute Konjunktur zu verzeichnen -, Folgendes aufgelistet:
Bund und Länder gaben 7,8 Milliarden Euro für die
Finanzierung der beruflichen Bildung aus.
({5})
Es wurden 1 433 Millionen Euro zur Schaffung zusätzlicher betrieblicher Ausbildungsplätze ausgegeben.
6,2 Milliarden Euro wurden für die berufsbildenden
Schulen ausgegeben, also für den schulischen Teil der
dualen Ausbildung sowie für die Vollzeitberufsschulen.
154 Millionen Euro machte das Schüler-BAföG aus. Ich
weise nur darauf hin, dass im Schuljahr 2000/01 über
203 000 Schülerinnen und Schüler die Berufsfachschulen besuchten, um einen Berufsabschluss zu erhalten, davon mehr als 36 000 nach BBiG und Handwerksordnung
und über 167 000 nach Landesrecht. Vergegenwärtigt
man sich diese Zahlen, muss man durchaus Angst haben,
dass das duale System immer weiter verstaatlicht wird,
allein was die finanzielle Seite angeht.
({6})
Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Im selben
Jahr finanzierte die Bundesanstalt für Arbeit mit
3,3 Milliarden Euro die berufliche Ausbildung. Insgesamt wurden also circa 11 Milliarden Euro vom Bund,
von den Ländern und der BA für die Durchführung der
beruflichen Ausbildung ausgegeben. Die zweite Studie
bringt zum Ausdruck, dass die Unternehmen für alle
Azubis Nettokosten von 14,6 Milliarden Euro hatten.
Stellt man diese beiden Zahlen gegeneinander, muss
man zu dem Ergebnis kommen, dass nicht immer mehr
Ausbildungskosten von den Unternehmen und Betrieben
auf die öffentliche Hand und die Bundesanstalt abgewälzt werden dürfen. Das können wir nicht weiter hinnehmen.
({7})
Deshalb hält es die SPD-Fraktion für richtig und notwendig, die Finanzierungsfrage in der beruflichen Bildung zu diskutieren und Perspektiven zu entwickeln.
Auch die schon mehrfach angesprochene IAB-Untersuchung, die zu dem Ergebnis kam, dass von
1,2 Millionen ausbildungsfähigen Betrieben nur noch
640 000 ausbilden, führt uns zu der Überlegung, wie wir
künftig die Schaffung ausreichender und qualitativ hochwertiger Ausbildungsplätze konjunkturunabhängiger
machen können. Es muss das Ziel sein, dass eine ausreichende Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze konjunkturunabhängig angeboten wird; nur dann können wir allen
Jugendlichen eine dauerhafte Perspektive bieten.
({8})
Es wird Sie nicht verwundern, dass wir natürlich auch
tarifvertragliche Lösungen unterstützen.
({9})
Sie haben sich bewährt. Wir verkennen nicht die schwierige konjunkturelle Lage in der Bauindustrie, wissen
aber, dass dies auch etwas mit einem überhöhten Bauboom im Zuge der Wiedervereinigung zu tun hat. Auch
das muss reguliert werden. Im Grundsatz hat sich aber
die Berufsbildungsabgabe auf tarifvertraglicher Grundlage in der Bauindustrie bewährt. Wir fordern die Tarifvertragsparteien auf, darüber nachzudenken, ob sie sie
nicht auch in anderen Branchen einführen. Ich hielte dies
für richtig.
({10})
Ich bringe den Begriff „Bonus-Malus-System“ bewusst in die Diskussion hinein. Was spricht eigentlich
dagegen, die Unternehmen zu belohnen, die nach wie
vor Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, aber diejenigen, die es könnten und nicht tun, ein bisschen an den
Kosten zu beteiligen? Ich halte diesen Gedanken nicht
für verkehrt. Wir möchten eine unbürokratische Regelung, die sehr schnell umzusetzen ist. Daran werden wir
arbeiten; denn unser Ziel muss es sein, eine ausreichende
Zahl von qualitativ hochwertigen Ausbildungsplätzen
anzubieten.
Ganz kurz zum FDP-Antrag: Wer meint, das JUMPProgramm habe nichts gebracht, und damit die Schaffung von 60 000 neuen betrieblichen Ausbildungsplätzen ignoriert, hat eine falsche Sichtweise. Das akzeptieren wir nicht.
({11})
Meine Redezeit geht zu Ende.
({12})
Daher beschränke ich mich darauf, noch auf einen Punkt
hinzuweisen. Es ist völlig klar, dass wir eine Reform
der beruflichen Bildung umsetzen müssen. Mit mehr
Qualität in der beruflichen Bildung und mit einer besseren Wertigkeit der abgeschlossenen Ausbildungen von
Facharbeiterinnen und Facharbeitern sowie Gesellinnen
und Gesellen und durch verbesserte Prüfungsstrukturen
leisten wir in Fortsetzung unserer Neuordnung einen absolut richtigen Beitrag, um mittel- und langfristig die berufliche Bildung auf den Pfad zu bringen, auf den sie gehört.
({13})
Das Neuordnungsverfahren in der Elektroindustrie zwischen IG Metall und dem Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie, in nur zehn Monaten sieben neue Elektroberufe entwickelt zu haben, sollte uns
zu genau dieser Qualität ermutigen. Wir werden diesen
Weg weiter gehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/925, 15/1000, 15/1090 und 15/1130
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/925 soll
zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 h sowie
die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch und
des Sozialgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1070 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in
der vertragsärztlichen Versorgung
- Drucksache 15/1071 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über die Zustimmung zur Änderung des Direktwahlakts
- Drucksache 15/1059 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 29. Juni 2000 über ein Europäisches
Fahrzeug- und Führerscheininformationssystem ({2})
- Drucksache 15/1058
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau
Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS im
15. Bundestag
- Drucksache 15/873 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau
Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages
- Drucksache 15/874 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
g) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2001
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 15/1047 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2002
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 15/1048 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Kranz, Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Volker Beck ({1}), Ursula Sowa, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN
Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg
- Drucksache 15/1091 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Weis, Eckhardt Barthel ({3}), Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Franziska EichstädtBohlig, Volker Beck ({4}), Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und
Bauen voranbringen
- Drucksache 15/1092 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27; die Zusatzpunkte 5 a und 5 b sowie Tagesordnungspunkt 14
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 27 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 22. April 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen Volksrepublik Algerien andererseits
- Drucksache 15/884 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({7})
- Drucksache 15/1119 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({8})
Bernd Schmidbauer
Dr. Werner Hoyer
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/1119, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Abkommen vom 17. Juni 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Libanesischen Republik andererseits
- Drucksache 15/885 4006
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({10})
- Drucksache 15/1120 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({11})
Bernd Schmidbauer
Dr. Werner Hoyer
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/1120, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Registrierung von Betrieben zur Haltung
von Legehennen ({12})
- Drucksache 15/905 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({14})
- Drucksache 15/1037 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Gitta Connemann
Friedrich Ostendorff
Hans-Michael Goldmann
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1037, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksache 15/882 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({16})
- Drucksache 15/1036 Berichterstattung:
Abgeordnete Matthias Weisheit
Helmut Heiderich
Dr. Christel Happach-Kasan
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1036, den
Gesetzentwurf anzunehmen.
In diesem Zusammenhang weise ich auf eine offensichtliche Unrichtigkeit in der französischen Fassung des
Vertragstextes hin: In Art. 12 Abs. 2 muss anstatt auf
Art. 12 Abs. 4 richtigerweise auf Art. 11 Abs. 4 verwiesen werden.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der soeben vorgetragenen, korrigierten Fassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 e:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Barbara Wittig, Dr. Dieter
Wiefelspütz, Wilhelm Schmidt ({17}),
Franz Müntefering und der Fraktion der SPD,
den Abgeordneten Hartmut Büttner ({18}), Volker Kauder, Dr. Angela Merkel,
Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU,
den Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn,
Volker Beck ({19}), Katrin Dagmar GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den
Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der
FDP eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({20})
- Drucksache 15/806 ({21})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Daniel Bahr ({22}),
Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der
Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({23})
- Drucksache 15/313 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({25})
- Drucksache 15/1003 Berichterstattung:
Abgeordnete Barbara Wittig
Hartmut Büttner ({26})
Gisela Piltz
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1003, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/1003 empfiehlt der Ausschuss, den von
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines
Sechsten Gesetzes zur Änderung des Stasi-UnterlagenGesetzes auf Drucksache 15/313 für erledigt zu erklären.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({27}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur
Änderung der Richtlinie 92/81/EWG und der
Richtlinie 92/82/EWG zur Schaffung einer
Sonderregelung für die Besteuerung von Dieselkraftstoff für gewerbliche Zwecke und zur
Annäherung der Verbrauchsteuern auf Benzin
und Dieselkraftstoff
KOM ({28}) 410 endg.; Ratsdok. 11571/02
- Drucksachen 15/173 Nr. 2.26, 15/401 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({29})
Georg Fahrenschon
Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 36 zu Petitionen
({31})
- Drucksache 15/1017 Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 15/1110? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für die Sammelübersicht 36? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 36 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 41 zu Petitionen
- Drucksache 15/1018 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 41 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 42 zu Petitionen
- Drucksache 15/1019 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 42 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 43 zu Petitionen
- Drucksache 15/1020 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 43 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und
Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich
dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({35})
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse
- Drucksache 15/1135 Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/898 ({36})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
- Drucksache 15/1137 Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Spahn
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt auf Drucksache 15/1137, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({37})
zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele HillerOhm, Gabriele Lösekrug-Möller, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD,
der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Wolfgang
Gerhardt und der Fraktion der FDP
Umfassender Schutz der Walbestände - Verbot
kommerziellen Walfangs konsequent durchsetzen
- Drucksachen 15/995 ({38}), 15/1128 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Peter Bleser
Dr. Christel Happach-Kasan
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
15/995 ({39}) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP bei Enthaltung von CDU/CSU.
Tagesordnungspunkt 14:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung ({40})
- Drucksachen 15/908, 15/1051 ({41})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({42})
- Drucksache 15/1125 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Weigel
Thomas Dörflinger
Ina Lenke
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/1125, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und der
CDU/CSU
für die vom Deutschen Bundestag gemäß §§ 31
und 36 des Gesetzes über die Rundfunkanstalt
des Bundesrechts „Deutsche Welle“ ({43}) zu wählenden Mitglieder des Rundfunkrates und des Verwaltungsrates der Deutschen Welle
- Drucksache 15/1122 Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Wahlvorschlag ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP
Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der
„Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“
- Drucksache 15/1123 Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({44})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2002
- Drucksache 15/920 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Kollegin Marita Sehn,
FDP-Fraktion, als erster Rednerin das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Weniger Petitionen - das war die dominierende Schlagzeile nach der Übergabe des Tätigkeitsberichtes des Petitionsausschusses für das Jahr 2002 an den Präsidenten
des Deutschen Bundestages vor zwei Wochen. In der Tat
ist die Entwicklung auffallend: 13 Prozent weniger Eingaben als 2001, gegenüber dem Jahr 2000 sogar
33 Prozent weniger. Wird der Petitionsausschuss deshalb
arbeitslos?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es besteht
kein Grund zur Panik. Der Petitionsausschuss hatte und
hat noch viel zu tun. So haben die Ausschussmitglieder
im Auftrag des Deutschen Bundestages im Jahr 2002
22 658 Petitionen abschließend behandelt. Das heißt,
auch wenn weniger Petitionen eingereicht wurden,
konnte die Anzahl der bearbeiteten Petitionen um mehr
als 5 000 gesteigert werden. Auch im vergangenen Jahr
haben Ihre Kolleginnen und Kollegen im Petitionsausschuss eine beachtliche Arbeit geleistet, eine Arbeit, die
sowohl für den Deutschen Bundestag als auch für die
Bürgerinnen und Bürger von großer Bedeutung ist.
({0})
Trotzdem bleibt die Frage im Raum, warum die Zahl
der Eingaben so stark rückläufig ist. Während Rot-Grün
das wahrscheinlich gerne als Beleg für eine gute und
bürgernahe Regierungspolitik sieht
({1})
- da können Sie ruhig klatschen -, wird die Opposition
die Zahlen bestimmt anders interpretieren. Hier würde es
heißen: Die Bürger haben resigniert und aufgegeben. Sie
haben jegliches Vertrauen in die Regierung, den Staat
und seine Institutionen verloren.
({2})
Auch ohne Blick in die Kristallkugel oder angespannte
Lektüre des Kaffeesatzes kann ich Ihnen sagen: Beides
stimmt so nicht. Ich glaube, darin sind wir uns einig.
Bevor ich die Ursache bei anderen suche, frage ich
mich zuerst: Was können wir, was kann der Deutsche
Bundestag, was kann der Petitionsausschuss dafür tun,
dass sich die Bürgerinnen und Bürger wieder vermehrt
an uns wenden? Was können wir tun, damit der Petitionsausschuss als das gesehen wird, was er ist: das offene Ohr des Parlamentes für die Hinweise, Sorgen und
Bitten der Bürgerinnen und Bürger? Ich bin davon überzeugt, dass der Petitionsausschuss ein Aktivposten für
das Image des Deutschen Bundestages ist.
({3})
Wir haben im letzten Jahr 5 030 Eingaben zu Gesetzen erhalten. Bestehende Regelungen wurden kritisiert,
auf Ungerechtigkeiten wurde hingewiesen, Unstimmigkeiten wurden moniert. Es ist eigentlich schade, dass
diese Anregungen nicht noch stärker genutzt werden,
zum Beispiel in Gesetzgebungsverfahren. Keine Regierung, ob Rot-Grün, ob Schwarz-Gelb, ist so gut, als dass
sie von ihren Bürgern nicht noch lernen könnte.
Oder nehmen Sie die 8 802 eingereichten Beschwerden über Behörden, abstruse Verwaltungsvorschriften
und die tagtäglichen Erfahrungen unserer Bürgerinnen
und Bürger im Umgang mit der Bürokratie. Wie oft erleben wir im Petitionsausschuss, dass Gesetze nicht dem
Sinn, sondern den Buchstaben nach angewendet werden.
Ich möchte, dass die Bürgerinnen und Bürger - auch die,
die hier auf der Tribüne sitzen - es erfahren: Bei nahezu
jeder zweiten Petition ist der Petitionsausschuss erfolgreich. Das ist nicht nur ein Erfolg für die Ausschussmitglieder und den Ausschussdienst, sondern für den Parlamentarismus in Deutschland.
({4})
Diese hohe Erfolgsquote verdanken wir nicht zuletzt
vielen Behördenmitarbeitern, die nicht an einem bürokratischen Unfehlbarkeitsdogma festhalten, sondern bereit sind, gemeinsam mit uns nach einer Lösung zugunsten des Petenten zu suchen. Entgegen weit verbreiteten
Vorurteilen wiehert auf deutschen Ämtern nicht nur der
Amtsschimmel. Deshalb möchte ich mich an dieser
Stelle bei den vielen engagierten und mutigen Behördenmitarbeitern bedanken, die in vielen Fällen dazu beigetragen haben, dass den Petenten geholfen werden konnte.
({5})
- Richtig, ich denke, an dieser Stelle darf man klatschen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen
in der Öffentlichkeit verstärkt auf die Möglichkeit von
Eingaben hinweisen. Wir müssen den Bürgerinnen und
Bürger vermitteln, was wir für sie tun können. Wir können zum Beispiel Gesetzesänderungen einfordern, können dazu beitragen, dass ein behördlicher Ermessensspielraum zugunsten des Petenten genutzt wird und dass
eingereichte Vorschläge und Ideen nicht ungelesen verschwinden, sondern von der Politik zur Kenntnis genommen werden.
Der Petitionsausschuss will sich um eine noch stärkere Bürgernähe bemühen. Eine vereinfachte Eingabe
von Petitionen per E-Mail könnte ein erster Schritt in
diese Richtung sein. Bürgernähe heißt für mich aber
auch, unsere Beschlussempfehlungen und Briefe nicht in
Ministerial- bzw. Juristendeutsch abzufassen, sondern in
einer Sprache, die auch ohne Jurastudium oder Fremdwörterlexikon verständlich ist. Außerdem werden wir
die Öffentlichkeit verstärkt über unsere Arbeit sowie die
an uns herangetragenen Anliegen informieren.
Der Petitionsausschuss ist der politische Seismograph in Deutschland. Wenn 3 577 Eingaben, also nahezu 25 Prozent aller Petitionen, den Geschäftsbereichen
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit sowie
des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zuzuordnen sind, dann ist das ein klares Signal
dafür, dass hier etwas im Argen liegt und dringender
Handlungsbedarf besteht.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue
mich, Vorsitzende eines Ausschusses sein zu dürfen, der
sich in konstruktiver und parteiübergreifender Weise den
Bitten, Vorschlägen und Beschwerden der Bürgerinnen
und Bürger annimmt.
Ich freue mich, mit einem Ausschussdienst zusammenzuarbeiten, der dafür Sorge trägt, dass jede einzelne
Petition gewissenhaft behandelt wird. Ich denke, wir alle
können auf den Petitionsausschuss und die im Namen
des Deutschen Bundestages geleistete Arbeit stolz sein.
Schönen Dank.
({7})
Ich erteile der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle kennen Elton John und Eros Ramazotti; ich unterstelle das einfach mal. Ich glaube, das wird so sein.
({0})
Wir kennen sie als Stars der Musikszene. Sind sie aber
Petenten? Ich habe gelernt, dass Reden sogar im Bundestag spannend sein sollten. Deshalb gebe ich die Antwort erst am Ende meines Beitrages. Sie haben also hinreichend Zeit - zumindest einige Minuten -, zu
überlegen, ob sie auch zu diesem spannenden Personenkreis gehören, über den wir gerade sprechen.
Wir sprechen über die Arbeit unseres Petitionsausschusses im vergangenen Jahr. Dazu gehört, dass wir
dem Sekretariat, das uns bei der Arbeit wirklich gut unterstützt hat, und allen, die dort tätig sind, herzlich danken.
({1})
In meinen Dank möchte ich allerdings auch jene Mitglieder einschließen, die bis zum September 2002 mitgearbeitet haben. Einige sind nicht mehr dabei. Besonders
mein Vorgänger als Sprecher der sozialdemokratischen
Abgeordneten, Bernd Reuter, hat sehr große Schuhe hinterlassen. Ich danke also auch denjenigen, die an dem
Ergebnis mitgewirkt haben, heute aber nicht in unserer
Runde sind.
({2})
Ähnlich wie die Frau Vorsitzende möchte ich die Aufmerksamkeit auf jene Petitionen richten, die nie den
Schreibtisch eines Abgeordneten erreichen, für die also
keine parlamentarische Beratung nötig ist. In 2002 waren dies immerhin mehr als 5 000. Das ist knapp ein
Viertel aller bearbeiteten Petitionen. Sie wurden durch
Rat, Auskunft, Verweisung und Materialübersendung erledigt. Was sagt uns das? Über das Sekretariat sagt uns
das sicherlich, dass es gut arbeitet. Über die Behörden,
die offenbar nicht bürgerfreundlich und kundenorientiert
arbeiten, sagt uns das aber auch eine ganze Menge. So
geht das nicht weiter.
({3})
Deshalb sage ich: Nicht nur der Vorschriftendschungel muss gelichtet werden, sondern auch die Beratung
und Information müssen besser werden. Ich denke, wir
brauchen keine Experten, die ihre fachliche Kompetenz
dadurch unter Beweis stellen, dass sie schwierige Sachverhalte kompliziert darlegen. Wir wollen Fachleute, die
ihren Expertenstatus dadurch nachweisen, dass sie komplizierte Sachverhalte verständlich machen. Das trifft
manchmal auch uns Abgeordnete, zum Beispiel, wenn
wir Stellungnahmen der Ministerien erhalten. Auch sie
sind durchaus mit Fachchinesisch gespickt. Im ganzen
Haus sind wir der Meinung, dass wir das zukünftig nicht
mehr durchgehen lassen wollen. Auch hier brauchen wir
Klarheit.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen direkten
Draht zum Parlament, den Petitionen nun einmal darstellen, wollen wir intensivieren. Gute Beispiele sind hierfür
hilfreich. Ich erlaube mir, über ein Beispiel aus der aktuellen Arbeit zu berichten. Dazu müssen Sie alle sich - das
wird mühelos gelingen - in die Lage einer Bäuerin versetzen, die, so schrieb sie, dies mit Leib und Seele ist. Seit
Anfang der 70er-Jahre hat sie gemeinsam mit ihrem Mann
in einem eigenen landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet.
1988 verstarb der Ehemann und die Witwe - drei kleine
Kinder waren auch noch da - entschloss sich, den Bauernhof alleine weiter zu bewirtschaften. So weit, so gut.
Was sie nicht bedachte: Bei Abgabe des Betriebes
hätte ihr eine Hinterbliebenenrente zugestanden. Was sie
nicht wusste: 1995 änderte sich mit der Einführung der
Bäuerinnenrente das Hinterbliebenenrecht. Was sie
dann erlebte: Ihr ursprünglicher Anspruch auf Hinterbliebenenrente wäre höher gewesen als jener, den sie
nun - nach neuem Recht und nach weiterer Einzahlung
in die Alterskasse - erhalten soll.
Das verstand die Petentin nicht und sie fand es ungerecht. Wir auch. Also wurde den zuständigen Ministerien und den Fraktionen diese Petition als Material überwiesen, damit Abhilfe geschaffen werden kann. Vor
zwei Tagen erreichte mich die Nachricht: Problem erkannt, Kritik berechtigt. Für Abhilfe sorgt eine Gesetzesänderung noch in diesem Jahr. Nun freut sich die Petentin hoffentlich; wir tun dies. Ohne sie wäre diese
Gerechtigkeitslücke nicht geschlossen worden. Dafür,
finde ich, müssen wir dankbar sein.
({5})
Ich bin Ihnen abschließend noch eine Antwort schuldig, wie das mit Eros Ramazotti und Sir Elton John war.
Die Antwort lautet: Ja. Ich möchte das gerne noch ausführen - so viel Redezeit bleibt mir gerade noch -: Mit
12 000 anderen Musikern sind sie Petenten, allerdings
bei der EU. Sie fordern eine geringere Mehrwertsteuer
auf Musik-CDs. Begründung: CDs sollen als sozial notwendige Kulturgüter gelten. Ich bin auf das Ergebnis gespannt. Dem Ausschuss wünsche ich weiterhin kollegiale Zusammenarbeit.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Baumann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte zum Jahresbericht des Petitionsausschusses gibt mir die Gelegenheit, mich namens der
CDU/CSU-Fraktion bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für die kompetente,
und, wie ich denke, kollegiale Zusammenarbeit ganz
herzlich zu bedanken.
({0})
Der gleiche Dank gilt den Mitgliedern meiner Arbeitsgruppe für ein sehr gutes Miteinander. Ich möchte auch
unserem ehemaligen Kollegen Hubert Deittert, der vier
Jahre lang das Amt des Obmannes in der Fraktion innehatte, ganz herzlich danken.
Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht, das in Art. 17
des Grundgesetzes verankert ist, aber dennoch gelegentlich unterschätzt wird. Das von der Verfassung garantierte Recht, sich jederzeit mit Bitten und Beschwerden
schriftlich an das Parlament, die Volksvertretung, wenden zu können, verdient meines Erachtens eine größere
Bedeutung in unserer Gesellschaft. Die große Zahl von
Eingaben jedes Jahr macht deutlich, welche Hoffnungen
die Menschen in unseren Ausschuss setzen. Oft ist es ihr
letzter Ausweg. Es ist erfreulich, festzustellen, dass der Petitionsausschuss in mehr als der Hälfte der Fälle - meine
Vorredner sagten es bereits - erfolgreich sein konnte.
Manche Petitionen können allerdings erst nach mehreren Wahlperioden positiv abgeschlossen werden. Dies
hat uns das Beispiel des Truppenübungsplatzes Vogelsang in der Eifel gezeigt. Es gibt aber auch Petitionen,
die vom Ausschuss an die Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen werden - also mit dem höchsten
Votum - und sich trotzdem nicht zu einem guten Ende
führen lassen. Hier wünsche ich mir manchmal, dass die
Ministerien mehr Kraft für sinnvolle neue Lösungen aufwenden, als an Althergebrachtem festzuhalten.
({1})
Beeindruckender als die Anzahl der neu eingereichten
Petitionen in 2002 mit etwa 14 000 finde ich die Zahl der
über 22 000 erledigten Petitionen, von denen uns der Bericht des Ausschusses Kenntnis gibt. Erwähnen möchte
ich an dieser Stelle auch die gute Zusammenarbeit unter
den Fraktionen im Ausschuss. Das ist in anderen Ausschüssen nicht ganz so. Ich glaube, diese Zusammenarbeit tut uns wirklich gut.
({2})
Wenn sich Bürger mit Beschwerden über verschiedene Verwaltungen an den Ausschuss wenden, sind Lösungen im Ausschuss in der Regel im Konsens der Fraktionen möglich. Anders sieht es bei Bitten um
gesetzgeberische Maßnahmen aus. Dabei spielen die
Mehrheitsfraktionen natürlich ihre Mehrheit aus, und
zwar leider oft nicht im Sinne des Petenten.
({3})
- Das müssen Sie sich leider sagen lassen.
({4})
Die besonderen Befugnisse des Ausschusses haben
sich für unsere Arbeit immer wieder als nützlich erwiesen, zum Beispiel einen Ortstermin wahrzunehmen, Akten einzusehen oder einen Vertreter der Bundesregierung
anzuhören. Auch dabei kann man Erstaunliches erleben.
Die Mehrheitsfraktionen lehnten zum Beispiel einen
Ortstermin in Bayreuth kategorisch ab, bei dem es um
eine Petition zum Erhalt eines Bundeswehrstandortes
ging. Dabei wäre dadurch das Ansehen des Ausschusses
vor Ort gestärkt worden.
({5})
- Das war kein Wahlkampftermin, Herr Kollege.
Ein anderes Beispiel ist ein Minister, der in Fernsehtalkshows das Petitionsrecht preist und die Arbeit des
Ausschusses würdigt, aber der Ladung des Ausschusses
nicht folgt und fadenscheinige Gründe vorschiebt.
({6})
Es wirft kein gutes Licht auf die Bundesregierung insgesamt, wenn Worte und Taten auseinander klaffen. Auch
hier sollte der Respekt vor dem Ausschuss und dem Parlament gewahrt werden.
({7})
Dass die Mitgliederzahl im Petitionsausschuss in dieser Wahlperiode reduziert worden ist, ist nicht gerade ein
positives Signal. Dadurch haben wir Abgeordnete natürlich mehr Petitionen zu bearbeiten. Zudem sind wir in
mindestens einem anderen Ausschuss tätig. Das ist
schon ein ganzer Packen Arbeit. Ich möchte auch daran
erinnern, dass in der vergangenen Wahlperiode mehrere
Abgeordnete über 1 000 Petitionen als Berichterstatter
bearbeitet haben. Das ist schon ein ganzes Stück Arbeit.
Trotz alledem ist die Tätigkeit im Petitionsausschuss
gerade für neu gewählte Abgeordnete eine sehr gute
Schule, erhält man doch nirgendwo sonst einen so guten
Überblick über Sorgen und Wünsche der Bürgerinnen
und Bürger in unserem Land. Nirgendwo spiegeln sich
Sinn und Unsinn der Gesetzgebung, Licht und Schatten
der Verwaltungstätigkeit in unserem Lande so anschaulich wider wie im Petitionsausschuss.
({8})
Daher würde ich mir wünschen - die Vorsitzende hat es
bereits gesagt -, dass unsere Arbeit ein größeres Echo in
der Öffentlichkeit findet. Das Presseecho auf die Übergabe des Jahresberichtes an den Bundestagspräsidenten
in der vorletzten Woche war mehr als dürftig.
Als Abgeordneter aus einem der neuen Länder finde
ich es erfreulich, dass sich der Ausschuss in den vergangenen Jahren immer stärker als Anwalt auch dieser Bürgerinnen und Bürger bewährt hat. Bekanntlich nutzen
die Ostdeutschen die Möglichkeit der demokratischen
Teilhabe am intensivsten. Die Sachsen zählen zu den
fleißigsten Petenten. So kamen im Jahr 2002 allein aus
Sachsen 319 Eingaben pro eine Million Einwohner an
den Deutschen Bundestag.
Die meisten Petitionen aus den neuen Bundesländern
sind Hilferufe über bürokratisches Dickicht in unserer
Gesetzgebung. So bitten zum Beispiel Petenten um Aufklärung über unverständliche Rentenbescheide oder eine
allein erziehende Mutter fragt, warum vom Unterhaltsvorschuss für ihr erstes Kind die Hälfte des Kindergeldes
wieder abgezogen wird. Eine traurige Aktualität im vergangenen Jahr hatte die Bitte einer Bürgerinitiative, die
ein Ende des Elbeausbaus in Sachsen forderte. Der Petitionsausschuss informierte sich vor Ort. Die Warnung
der Petenten, eine höhere Fließgeschwindigkeit des
Flusses habe größere ökologische Folgen, hat sich wenige Wochen später durch die Jahrhundertflut als wahr
herausgestellt.
Viele Petitionen aus den neuen Ländern haben mit der
Aufarbeitung des SED-Unrechts zu tun. Vor allem von
der DDR-Diktatur politisch Verfolgte, deren Renten zum
Teil unter Sozialhilfeniveau liegen, wenden sich an uns.
Morgen hat dieses Parlament erneut die Möglichkeit,
eine Regelung für SED-Opfer nach einem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion auf den Weg zu bringen.
Es erreichen den Ausschuss immer wieder Enteignungsfälle, für die im Einigungsvertrag keine Regelung
getroffen worden ist. So steht bei den stecken gebliebenen Entschädigungen immer noch eine Lösung aus. Die
Bürger haben vom untergegangenen Staat, der DDR,
Geld versprochen bekommen und es nicht erhalten; im
jetzigen Staat findet sich niemand, der zuständig ist.
Aber selbst in Vermögensfällen, die im Einigungsvertrag geregelt sind, kommen viele nicht an ihr Ziel. Der
Jahresbericht 2002 nennt einen menschlich ganz besonders bewegenden Fall, den ich ganz kurz schildern
möchte: Ein mittelständischer Unternehmer aus Sachsen
wird 1972 enteignet, flüchtet in den Westen und baut
dort einen neuen Betrieb auf. Als die Mauer fällt, kehrt
er in seine Heimat zurück, um den alten Betrieb wieder
aufzubauen. Obwohl alle Voraussetzungen für eine
Rückübertragung erfüllt sind und der Betroffene fristgemäß den Antrag gestellt hat, bekommt er seinen Betrieb
nie zurück. Stattdessen wird er über Jahre von der Treuhandanstalt und vom Vermögensamt mit ungerechtfertigten Forderungen hingehalten. Sein ehemaliges Unternehmen war nicht ganz so schlecht und hat nach der
Wende noch produziert. Es wird danach von der Treuhand liquidiert. Die Maschinen werden unter dubiosen
Umständen ins Ausland verkauft. Jahrelange Gerichtsverfahren bringen außer Kosten keinen Erfolg. In diesem
Fall hat der Ausschuss über alle Parteigrenzen hinweg
alle seine Befugnisse in einem Maße ausgeschöpft, wie
das nur selten der Fall ist: Wir führten Gespräche mit der
Treuhand, den Vermögensämtern und dem Bundesfinanzministerium und nahmen bei allen zuständigen Behörden Akteneinsicht. Wir mussten auch den Petitionsausschuss des Sächsischen Landtages bemühen, weil nur
dort eine Landesbehörde vorgeladen werden konnte. Nur
dank der guten Kooperation der beiden Petitionsausschüsse war es schließlich möglich, alle Beteiligten an einen Tisch in Berlin zu bringen. Auf eine Entschädigung,
auf die wir vorher monatelang vergeblich gehofft hatten,
konnten wir uns jetzt einigen. Nach zwölf Jahren hat damit ein Petent natürlich nicht mehr sein Eigentum, aber
wenigstens eine angemessene Entschädigung erhalten.
Meine zusammenfassende Einschätzung unserer Arbeit im Jahre 2002 ist: Wir haben durch fleißige Arbeit
und, wie ich denke, durch sachlichen Meinungsstreit in
den meisten Fällen vielen Bürgerinnen und Bürgern in
unserem Land helfen und damit ein Stück Vertrauen in
unsere demokratische Grundordnung für sie wiedergewinnen können. Dies sollte uns Ansporn sein, unsere Arbeit auch im neuen Jahr der Tätigkeit des Petitionsausschusses mit gleicher Intensität fortzusetzen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Philip Winkler,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Beschwerden und Meckereien sind
die Muskeln der Schwachen, sagt ein afghanisches
Sprichwort. Die Beschwerden und Meckereien, die wir
heute debattieren, sind aber ein bedeutendes Stück deutscher Demokratie.
Im Tätigkeitsbericht über die an den Deutschen Bundestag gerichteten Bitten und Beschwerden lassen die
Bürgerinnen und Bürger die Muskeln spielen und sie finden im Petitionsausschuss einen starken Anwalt ihrer Interessen im Parlament. Der Petitionsausschuss hat auch
im Jahr 2002 seine Erfolgsstory fortgeschrieben.
Der Jahresbericht des Petitionsausschusses erweist sich
einmal mehr als ein Bestseller der Demokratie. Mehr als
22 000 Eingaben wurden - das wurde bereits erwähnt 2002 vom Petitionsausschuss bearbeitet und zum Abschluss gebracht. Hinzu kommt, dass auch bei fast jeder
zweiten Petition etwas für die Petenten erreicht werden
konnte. Das ist wirklich eine beeindruckende Bilanz.
({0})
Ein neues Problem zu entdecken ist dabei genauso
wichtig, wie die Lösung für ein altes zu finden. Der Petitionsausschuss leistet beides in hervorragender Weise.
Das war gute Arbeit. Auch ich möchte mich dem
Dank an die Abgeordneten der vorigen Wahlperiode anschließen, die dies mit geleistet haben. Mein Dank gilt
auch dem hervorragend arbeitenden Ausschussdienst
und Ausschusssekretariat des Petitionsausschusses.
({1})
Mein allererster Dank gilt aber den Bürgerinnen und
Bürgern dieses Landes. Denn sie sind schließlich die
Autoren dieses Bestsellers der Demokratie. Nur mit ihrer
Hilfe, ihren Anregungen und Ideen, Hinweisen und Beschwerden kann die Arbeit gelingen.
Der Petitionsausschuss beackert dabei ein sehr weites
Feld. Mein Vorgänger als Obmann des Bündnisses 90/
Die Grünen im Petitionsausschuss, der verehrte Kollege
Helmut Wilhelm, hat den schönen Satz geprägt, der Petitionsausschuss sei zuständig von Atombombe bis Zahnplombe. Auch im Berichtszeitraum finden wir wieder
Petitionen von Atomkraft bis Zahnbehandlung.
Auch ich hatte schon Petitionen zu geschundenen
Asylbewerbern, traurigen Eisbären und zornigen Wandergesellen zu bearbeiten. Ob es um die verspätete oder
zu geringe Rentenauszahlung, überhöhte Krankenkassenbeiträge oder die Einstufung in die Pflegeversicherung geht - tagtäglich bemüht sich der Ausschuss - wie
wir sehen, oft mit Erfolg - um die Lösung konkreter Probleme der Bürgerinnen und Bürger.
Petitionen sind aber auch der Stoff, aus dem Gesetze
sind. In diesem Zusammenhang gehe ich auf Ihre Ausführungen ein, Herr Baumann. Denn wenn sich Menschen
mit Vorschlägen zu Gesetzesänderungen und -verbesserungen an den Ausschuss wenden, wird dies aufgegriffen. Oft stand am Anfang eines neuen Gesetzes eine Petition. Ich nenne als aktuelles Beispiel nur den
Gesetzentwurf der Bundesregierung zum verstärkten
Kundenschutz bei so genannten 0190-Servicenummern.
({2})
Als migrations- und flüchtlingspolitischer Sprecher
meiner Fraktion richtet sich mein besonderes Augenmerk auf die zahlreichen Petitionen - im Berichtszeitraum waren es circa 500 - aus dem Bereich des Ausländer- und Asylrechts. Die Praxis hat hierbei gezeigt, dass
die Anforderungen, die an den Petitionsausschuss gerichtet werden, oft weit über das hinausgehen, was wirklich
geleistet werden kann. Das hat verschiedene Gründe.
Zum einen ist der Petitionsausschuss kein „Härtefallausschuss“ und kann keine Entscheidungen außerhalb
der gesetzlichen Grundlagen treffen, auch wenn humanitäre Gründe oder eine durchaus gelungene Integration
dafür sprechen. Zum anderen werden Petitionen oft sehr
spät - zum Beispiel erst kurz vor der Abschiebung - eingereicht oder es liegen keine Rechtsverstöße durch das
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vor.
Dennoch gibt es im Einzelfall auch wichtige, manchmal sogar lebensrettende Erfolge. Zum Beispiel konnte
eine lebensbedrohliche Abschiebung in letzter Sekunde
verhindert werden. Im Sommer bekam der Petitionsausschuss einen dringenden Hilferuf von Hilfsorganisationen, die von einer bevorstehenden Abschiebung eines
kurdischen Kriegsdienstverweigerers berichteten. Das ist
insofern ein sehr dramatischer Fall, als der Betreffende
schon einmal in die Türkei abgeschoben und dort gefoltert wurde. Als Folge davon war der Petent inzwischen
psychisch schwer krank und extrem selbstmordgefährdet. Der Asylfolgeantrag wurde dennoch abgelehnt. Erst
eine entsprechende Petition hat dazu geführt, dass ein
Vertreter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg denjenigen persönlich
aufgesucht hat. Er kam ganz selbstverständlich zu dem
Schluss - man höre und staune! -, es bestehe „kein Zweifel, dass der Antragsteller den vorgetragenen Folterungen ausgesetzt war“. Der Asylfolgeantrag wurde da-raufhin genehmigt. Ich meine - ich hoffe, dass das auch für
Sie gilt -, dass sich allein für diesen Fall die Arbeit des
Petitionsausschusses im letzten Jahr schon gelohnt hätte.
({3})
Es gibt aber auch ganz andere außergewöhnliche
Fälle. Wir befreien, wenn es sein muss, sogar Eisbären,
zum Beispiel Kenneth und Boris. Das sind zwei Eisbären der weltweit gerühmten Eisbärendressur des ehemaligen DDR-Staatszirkus. Der Staatszirkus wurde 1990
abgewickelt und die beiden Bären wurden an einen
dubiosen mexikanischen Zirkus verkauft. Schon bald
gab es Besorgnis erregende Informationen über die Art
und Weise der Haltung und Pflege der beiden Eisbären,
die in Form einer Petition an uns herangetragen wurden.
Die beiden Bären wurden geschlagen und ausgepeitscht
sowie ohne Wasser bei rund 45 Grad Hitze in kleinen,
verschmutzten Käfigen gehalten. In einer Petition wurde
die Auflösung des Kaufvertrags zwischen dem Zirkus
und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben gefordert. Die damalige Staatssekretärin im
Bundesumweltministerium, Frau Altmann, hat sich der
Sache persönlich angenommen. Sie hat mithilfe des
Auswärtigen Amtes die beiden Eisbären gerettet. Inzwischen sind sie in einem anständigen Zoo in Nordamerika
untergebracht.
({4})
Ich möchte noch kurz auf Bayreuth eingehen, obwohl
ich das um des Friedens willen eigentlich nicht tun
wollte. Wenn aber Herr Baumann das darf, dann darf
auch ich das. Die Forderung nach einem Ortsbesichtigungstermin, den die Opposition im Petitionsausschuss
erhoben hatte, war, wie ich finde, ganz eindeutig vom
Wahlkampf geprägt;
({5})
denn mit einer Ortsbesichtigung hätten wir den Menschen vor Ort signalisiert, dass dort eventuell noch etwas
zu machen wäre. Sie wissen aber ganz genau, dass dort
nichts mehr zu machen war. Das Ministerium hatte entschieden und die Sache war gelaufen. Deswegen - und
aus keinem anderen Grund - haben wir das abgelehnt.
({6})
Damit möchte ich die Misstöne beenden. Ich finde,
dass der Petitionsausschuss ein Leuchtturm im Paragraphenmeer ist. Er weist Wege aus aussichtslosen Situationen und sorgt auch dafür, dass so manchem von uns,
mich eingeschlossen, ein Licht aufgeht. Damit das Licht
dieses Ausschusses in Zukunft noch heller strahlen
möge, möchte ich als Katholik - ganz im Sinne des gerade stattgefundenen Ökumenischen Kirchentags Martin Luther zitieren:
Bittet, rufet, schreiet, suchet, klopfet, poltert - und
das muss man für und für treiben ohne Aufhören!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guttmacher von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Recht eines jeden Bürgers, sich mit seinen Sorgen und Nöten an das Parlament zu wenden, besteht, seit
es die Bundesrepublik Deutschland gibt, und ist im
Grundgesetz verankert. Eine wesentliche Funktion unserer parlamentarischen Demokratie ist, dass wir, der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, den Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verhelfen, Unrecht
verhindern und dort, wo es entsteht, beseitigen. In diesem Prozess - das sage ich als jemand, der schon in der
letzten Legislaturperiode im Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages gearbeitet hat - hat unser Ausschuss gute kollektive Arbeit geleistet. Ich danke Ihnen
als liberaler Abgeordneter dafür, dass es zu einer solch
guten Zusammenarbeit kam. Das hat sich natürlich auch
auf das Ergebnis des Ausschusses ausgewirkt.
({0})
Art. 17 des Grundgesetzes gewährt jedermann das
Recht, Bitten und Beschwerden einzureichen. Damit gilt
das Petitionsrecht für Erwachsene, für Minderjährige,
für Ausländer, aber auch für Staatenlose. Man kann eine
Petition für sich selbst, für andere oder in einem gesellschaftlichen Interesse bei uns einreichen.
Der Petitionsausschuss hat Erfahrungen dabei sammeln können, die Sorgen und Nöte der Petenten zu erfassen, aber auch Lücken und Schwachstellen im Gesetzgebungsverfahren und beim Auf-den-Weg-Bringen von
Verordnungen zu erkennen und Abhilfe zu schaffen.
Im Jahr 2002 wurden mit 13 832 Petitionen zwar
12 Prozent weniger Petitionen eingereicht. Zum Bereich
des früheren Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung gab es aber mit 25 Prozent nach wie vor die meisten Petitionen. So weist der Petitionsbericht 2002 bei
den Sammel- und Massenpetitionen zur Kritik an der
Rentenüberleitung für diejenigen, die in der DDR im
Gesundheits- und Sozialwesen gearbeitet haben, rund
29 900 Unterschriften aus. Das Gleiche trifft für die
Sammel- und Massenpetitionen zur Kritik an den verschiedenen rentenrechtlichen Begrenzungsregelungen
für ehemalige Angehörige der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR zu, bei denen knapp
30 000 Unterschriften zu verzeichnen waren.
Der Petitionsausschuss muss demnächst die im Jahr
2002 eingebrachte Petition zur Anerkennung der dem
mittleren medizinischen Personal durch DDR-Recht zuerkannten Sonderversorgung bewerten und darüber entscheiden. Ich möchte gerade auf diese Petition etwas näher eingehen.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands waren Regelungen für die Überleitung der Anwartschaften der so
genannten Bestandsrentner und für jene zu treffen, die in
Zukunft das Rentenalter erreichen würden. Die Regelungen hatten zu berücksichtigen, dass es sich bei den in der
DDR erworbenen Anwartschaften um solche handelt,
die nach dem Abschluss des Einigungsvertrags - wie zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1999
festgestellt - dem Eigentumsschutz unterliegen.
Das Einkommen des mittleren medizinischen Personals der früheren DDR war außerordentlich gering.
Das führte dazu, dass diese Personen nicht in die 1971
eingerichtete Freiwillige Zusatzrentenversicherung aufDr. Karlheinz Guttmacher
genommen werden konnten, weil sie eben nicht den
Schwellenwert eines Gehalts von 600 Mark der DDR erreichten. Die Rentenverordnung der DDR sah vor, dass
bei den betreffenden Angehörigen des mittleren medizinischen Personals die Dienstjahre mit dem Faktor 1,5
multipliziert wurden, damit sie dann eine angemessene
Rente bekamen. Bis Ende 1996 wurden nach dem Rentenüberleitungsgesetz die Dienstjahre weiter mit dem
Faktor 1,5 ermittelt und eine entsprechend hohe Rente
gezahlt.
Ohne jede Begründung wurde nach dem 1. Januar
1997 Vertrauensschutz nicht mehr gewährt. Die Verkürzung der Rente durch den Wegfall des Steigerungsbetrags liegt je nach Versicherungsbiografie des Betroffenen
zwischen 150 und 200 Euro. Unter Berücksichtigung der
Festlegung des Bundesverfassungsgerichts, dass die
Rentenanwartschaft durch gesetzgeberische Eingriffe
durchschnittlich um nicht mehr als 10 Prozent gemindert
werden darf, wird in dieser Petition gefordert, dass diejenigen, die nach dem 1. Januar 1997 in Rente gegangen
sind oder noch gehen werden, denjenigen, die davor in
Rente gegangen sind, gleichgestellt werden.
Ich hoffe, dass der Petitionsausschuss ähnlich wie bei
der Befürwortung der Sonderversorgung der 35 000 Beschäftigten des früheren Zeiss-Kombinats im Jahre 1994
die Kraft und Stärke zeigt, durch eine Korrektur der Gesetzeslage - in diesem Fall müssten wir eine kleine Korrektur am Sozialgesetzbuch VI anbringen - den Betroffenen des mittleren medizinischen Personals beim
Eintritt in die Rente Bestandsschutz zu gewähren.
Als wohl dienstältester Abgeordneter im Petitionsausschuss stelle ich fest, dass unser Ausschuss als „Kummerkiste der Nation“ sehr gut nachgefragt wird. In keinem anderen Ausschuss ist die Palette der Probleme, die
gelöst werden sollen, so breit wie im Petitionsausschuss.
Die damit verbundenen Aufgaben können die Mitglieder
des Petitionsausschusses allein nicht bewältigen. Ich
danke von Herzen allen Mitarbeitern des Ausschussdienstes, des Ausschusssekretariats, aber auch den beiden Vorsitzenden im Jahr 2002, Frau Lüth und Frau
Sehn, meiner Fraktionskollegin, für die konstruktive Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Göllner von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will mich dem Dank an das Sekretariat natürlich anschließen. Herr Guttmacher, ich will in diesen
Dank aber auch unsere eigenen Mitarbeiter einbeziehen,
ohne die wir dieses Pensum nicht leisten könnten.
({0})
Außerdem möchte ich mich bei den Damen und Herren Parlamentarischen Geschäftsführern ausdrücklich
bedanken, die es, soweit ich mich erinnern kann, zum
ersten Mal ermöglicht haben, dass eine Debatte über die
Arbeit des Petitionsausschusses in der Kernzeit stattfindet.
({1})
Herr Baumann, ich war in der letzten Wahlperiode
nicht nur im Petitionsausschuss, sondern auch im Verteidigungsausschuss Mitglied. In dieser Funktion habe ich
an der Schließung des Standortes Bayreuth mitgewirkt.
Wir hatten im Verteidigungsausschuss die Wahl zwischen zwei in der gleichen Region liegenden Standorten:
Wir haben uns gegen Bayreuth ausgesprochen. Diese
Entscheidung zu treffen war unvermeidbar; sie ist endgültig und unumkehrbar. Diese Entscheidung auf dem
Petitionswege verändern zu wollen haben wir als einen
untauglichen Versuch betrachtet, das Petitionsverfahren
zu missbrauchen. Das war aus meiner Sicht, Herr
Baumann, auch dem von Herrn Guttmacher gerade angesprochenen Klima nicht zuträglich. Man sollte mit solchen Dingen vorsichtiger umgehen.
({2})
Ich sehe die wichtigsten Aufgaben des Petitionsausschusses im Grundrecht eines jeden Bürgers, sich, erstens, an das höchste Parlament in seinem Nationalstaat
wenden und, zweitens - daraus resultierend -, auf eine
intensive Auseinandersetzung mit seinem Anliegen
wirklich vertrauen zu können.
({3})
Gerade in einer repräsentativen Demokratie wie der
unseren wirkt das Petitionsrecht in ganz besonderer
Weise nach außen. Es ist, wie ich meine, das wichtigste
Institut parlamentarischer Öffentlichkeitsarbeit. Außerhalb von Wahlterminen steht der Deutsche Bundestag
so jedem Mann und jeder Frau offen. Seine Bedeutung
ist unter anderem daran erkennbar, dass wir im letzten
Jahr, das diesen Bericht umfasst, allein 5 000 Petitionen
bearbeitet haben, die sich mit laufenden Gesetzgebungsverfahren befassten.
Einige der Eingaben, die ich persönlich im letzten
Jahr zu bearbeiten hatte, zielten darauf ab, unser Zivilrecht zu durchforsten, das seit rund 100 Jahren in manchen Paragraphen unverändert ist. Beispielsweise führte
ein Petent in seiner inzwischen 28. Petition die §§ 166
bis 168 des Strafgesetzbuches an, die er für historisch
und kulturell überholt hielt.
Wir haben uns mit dieser Petition befasst. Das Justizministerium hat uns die Entscheidungsgrundlagen verschafft. Der Petent wurde darauf hingewiesen, dass diese
Paragraphen nach wie vor ihre Gültigkeit haben; denn sie
befassen sich mit dem Schutz von Weltanschauung, mit
dem Strafmaß bei Zuwiderhandlung und mit dem Schutz
der Totenruhe. Außerdem wurde er darauf hingewiesen,
dass zeitgemäße Auslegungen gegebenenfalls erfolgen
werden. Ich erwähne dieses Beispiel, weil es zeigt, dass
nicht jede Petition unbedingt zum Erfolg führt.
({4})
Eine andere Petition mit gesetzesinitiativem Charakter haben wir hingegen nicht abgeschlossen, sondern
den Fraktionen zur Prüfung überwiesen. Sie wurde von
einem Krankenhausarzt eingereicht, der für „Ärzte ohne
Grenzen“ bereits mehrfach im Ausland unterwegs war.
Dadurch hat er wie viele seiner Kollegen für das Ansehen der Bundesrepublik eine Unmenge getan, ohne eine
gesetzliche Arbeitsplatzgarantie nach seiner Rückkehr
zu haben.
In anderen europäischen Ländern ist das anders; dort
führt der Einsatz im Ausland gerade dazu, dass die Ärzte
in ihrer persönlichen Karriere bevorteilt werden. Das
Beispiel des im Ausland tätigen Arztes hat uns dazu veranlasst, das Petitionsverfahren nicht abzuschließen, sondern es als Grundlage für Veränderungen an die zuständigen Ministerien zu überweisen. Gerade vor dem
Hintergrund, dass das letzte Jahr das „Jahr des Ehrenamtes“ war, war dies ein besonders wichtiger Anstoß.
Zugegeben: Das Petitionswesen wirkt im Stillen, weil
es überwiegend die persönlichen Beschwerden einzelner
Bürger behandelt. Ich merke das jede Woche, wenn die
schwarzen Kartons mit den neuen Petitionen kommen.
Das bedeutet, dass man sich immer wieder neu hineinvertiefen und sich Zeit nehmen muss; unbemerkt von der
Öffentlichkeit, doch bemerkt vom Petenten, dem wir
vielleicht helfen können.
Den berühmten Blumentopf gewinnen wir mit unserer Arbeit nicht; das machen wir eher in den Fachausschüssen. Aufgrund dessen dauerte es immer eine gewisse Zeit, bis der Petitionsausschuss nach einer
Bundestagswahl besetzt war. Beim letzten Mal war das
anders: Zum einen fanden sich unter den alten und neuen
Abgeordneten zügig genügend Mitglieder, die in den Petitionsausschuss wollten, zum anderen war vielleicht die
Tatsache hilfreich, dass aufgrund der Verkleinerung des
Deutschen Bundestages auch der Petitionsausschuss
kleiner geworden ist.
Das führt allerdings dazu, dass wir nun mit 25 Mitgliedern die gleiche Arbeit leisten, die wir vorher mit
29 Mitgliedern geleistet haben. Die Statistik des letzten
Jahres - Herr Guttmann hat schon darauf hingewiesen weist aus, dass die Eingabenzahl um exakt so viel Prozent geringer war, wie der Bundestag weniger Mitglieder
hat. Ich führe das darauf zurück, dass die Petenten einsichtig sind und uns künftig mit genauso viel Arbeit belegen.
({5})
Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich danke Ihnen ganz
herzlich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Spahn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorweg möchte ich als jüngerer, neu im Bundestag vertretener Abgeordneter sagen, dass ich in der Arbeit im Petitionsausschuss die Chance sehe, einen
Einblick in viele verschiedene Themenbereiche und in
die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern aus allen
Schichten und Regionen Deutschlands gewinnen zu können.
Wir beschäftigen uns mit Themen wie - darüber haben wir gerade schon gesprochen - die artgerechte Haltung von Eisbären, die Euro-Umstellung, die Entschädigung für Wertpapiere der BRABAG von 1940 bis hin zu
so komplexen Themen wie die Anschläge vom
11. September. Es gibt Petitionen im Umfang von mehreren Aktenordnern, mit Videokassetten, aber auch Petitionen, die auf eine Postkarte oder einen Bierdeckel gekritzelt wurden. Gerade die letzteren Beispiele machen
deutlich, wie leicht und unkompliziert es für die Bürgerinnen und Bürger ist, ihr Grundrecht wahrzunehmen.
Für mich als Wahlkreisabgeordneten ist es spannend,
die Petitionen aus dem Wahlkreis zu begleiten, beispielsweise eine Petition aus Rheine, in der es um die Nachfolgenutzung für Bundeswehrliegenschaften und um den
Erhalt einer Ausbildungsstätte der Bundeswehr geht.
Gerade in Zeiten, in denen die Ausbildungsplatz Suchenden wenig Erfolg haben, ist eine solche Werkstätte
für 56 Azubis eine wichtige Einrichtung. Ich hoffe, dass
wir im Ausschuss zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Ein besonderes Augenmerk möchte ich darauf richten, dass der größte Teil der Petitionen aus dem Bereich
der sozialen Sicherung, insbesondere der Kranken- und
Rentenversicherung, kommt. Wie sollte es auch anders
sein? Auf diesem Gebiet besteht das größte Finanzvolumen unserer Haushalte. Ein Großteil der Bevölkerung ist
mehr oder minder stark in Kontakt mit diesen sozialen
Sicherungssystemen. Nahezu 90 Prozent der Menschen
in Deutschland sind gesetzlich krankenversichert. In
Deutschland haben wir es fast zu einer perversen Perfektion getrieben: In der Absicht, eine allumfassende Einzelgerechtigkeit herzustellen, haben wir eine hoch komplexe, durchregulierte und intransparente Mammutbürokratie geschaffen.
Es gibt in diesem Zusammenhang zahlreiche Eingaben, etwa zur Kostenübernahme der gesetzlichen Krankenversicherungen. Den Menschen ist es nicht verständlich, warum die Krankenkassen sich beispielsweise
weigern, die Kosten für eine Krebsvorsorgetherapie oder
für eine Stoßwellentherapie zu erstatten, wenn sie sich
im Nachhinein als erfolgreich herausstellt und sogar kostengünstiger ist und eine Operation erspart hat.
Um hier Petitionen vorzubeugen, braucht das Gesundheitswesen ganz einfach mehr Transparenz, mehr
Wahlmöglichkeiten und vor allem Beteiligungsrechte,
Mitwirkungsrechte bei der Festlegung des Leistungskataloges gerade derer, die bezahlen, nämlich der Versicherten und der Patienten.
({0})
Ähnlich zahlreiche Eingaben gab es zum Beispiel bei
Problemen der Rentner. Natürlich ist es eine sinnvolle
Regelung, dass jemand neun Zehntel der zweiten Hälfte
seines Erwerbslebens gesetzlich versichert sein muss,
um später in der Krankenversicherung der Rentner
pflichtversichert sein zu können; denn wir können natürlich nicht zulassen, dass die, die sich vorher der Solidargemeinschaft entzogen haben, im Alter wieder hineinkommen. Aber diese arg technische Lösung führt zu viel
Unverständnis, Verbitterung und Ärger.
Gerade im Bereich der Sozialversicherung wird symptomatisch deutlich, dass Bürokratie und Verwaltung die
Freiheit in diesem Land, einem der freiesten der Welt,
nach und nach einzuengen und zu bedrängen drohen.
Die Menschen fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Dies
ist in vielen Petitionen zu erkennen. Sie fühlen sich der
Bürokratie ausgeliefert. Sie können Verwaltungsentscheidungen, oft in missverständlichstem oder unklarstem Deutsch, nicht nachvollziehen. All dies ist keine
gute Basis für die Akzeptanz unseres Systems bei den
Menschen.
Ergo: Der Petitionsausschuss und seine Arbeit sind
wichtiger denn je, als Regulativ des Parlaments, aber
auch, um zu überwachen, wie das, was wir als Gesetzgeber vielleicht positiv intendiert haben, von der Regierung und letzten Endes von den Gerichten gesehen und
umgesetzt wird.
Aber der Petitionsausschuss entlässt uns als Abgeordnete insgesamt - in Zukunft wahrscheinlich noch stärker nicht aus der Pflicht, diesem elenden, überbordenden
Bürokratismus endlich Einhalt zu gebieten.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Auch ich möchte auf die Bedeutung des Petitionsausschusses hinweisen. Es ist eine gute Schule für
neue Abgeordnete. Aber das funktioniert nur dann,
wenn erfahrene Kolleginnen und Kollegen sozusagen das starke Gerippe des Ausschusses bilden.
Das ist ein Zitat von Bernd Reuter vom 12. Dezember
2001.
({0})
Als neue Abgeordnete kann ich dieses Zitat nur bestätigen. Die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sind
eine wahre Fundgrube an Daten, ähnlich gelagerten Fällen und Erfahrung. Dass sie dieses Wissen nicht für sich
behalten, sondern an die Neulinge weitergeben, verkürzt
die Einarbeitungszeit ungemein. Dafür, dass sie nicht
verlangen, dass wir all das einfach von ihnen übernehmen, bedanke ich mich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ganz herzlich.
Als ich mich lange vor Einzug in den Deutschen Bundestag für den Petitionsausschuss entschieden habe,
habe ich nicht gewusst, worauf ich mich einlasse. Aber
ich wollte diese Unmittelbarkeit, den direkten Kontakt
zwischen den Menschen, die wir vertreten, und dem Parlament. Als es dann ernst wurde, wuchs - das gebe ich
zu - die Spannung: Was bekomme ich eigentlich auf den
Tisch? Bekomme ich die Petition als Schriftstück und
muss dann entscheiden, in welches Verfahren wir gehen?
Wie erkenne ich überhaupt, wer zuständig ist? Als die
ersten Akten dann auf meinem Schreibtisch lagen, war
die Erleichterung recht groß. Die Fülle an Informationen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses im Vorfeld zusammentragen, stellt sicherlich
die Hauptarbeitslast im Zusammenhang mit den Petitionen dar. Für diese Arbeit möchte ich mich beim Ausschussdienst ganz herzlich bedanken.
({1})
Ich denke, alle, die im Bereich Petitionen arbeiten,
stehen zu diesem kurzen Weg zum Parlament, dem
Art. 17 des Grundgesetzes, nach dem jedermann das
Recht hat, „sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.“ Schon 1794 war im Allgemeinen Landrecht für die
preußischen Staaten unter anderem vorgesehen, „dass einem jeden freistehe, Zweifel, Einwendungen und Bedenklichkeiten gegen Gesetze anzuzeigen“. - Das Petitionsrecht ist also keine neue Erfindung; das gab es auch
vorher schon. Für uns bietet sich so die Möglichkeit, die
direkte Wirkung unserer Gesetze zu reflektieren. Die Petitionen zeigen, dass es bei weitem nicht nur um aktuelle
Gesetze geht, und sie zeigen auch, dass nichts so gut ist,
dass es nicht verbessert werden kann.
({2})
Von Kreditwesen und Asylfragen über offene Vermögensfragen im Osten und alle Facetten von Sozialleistungen bis hin zu Wahlschablonen für Blinde und Petitionen
für und gegen die Abschaffung der Splittingtabelle bietet
der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses einen
Rundgang durch so gut wie alle Gesetze, Behörden und
Institutionen. Von allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern wird viel Fleiß, Zeit und Engagement verlangt. Dafür gibt es dann wenig Lob, kaum Anerkennung
und so gut wie keine Öffentlichkeitswirksamkeit.
({3})
Umso mehr ist die exklusive Zeit im Plenum zu loben,
die uns hier heute zugestanden wird.
({4})
Ob Einzel- oder Sammelpetitionen: Jeder Petent hat
ein Anrecht darauf, dass seine Petition ernst genommen
und verfolgt wird. Natürlich sind die Grenzen unserer
Arbeit das geltende Recht, aber nur für Vergangenheit
und Gegenwart. Für die Zukunft können, müssen und sollen wir aus Petitionen lernen. Wo Ermessensspielraum
ist, da ist auch immer Platz für Einzelfallentscheidungen.
Bernd Reuter hat einmal gesagt, dass wir eine Arbeit
leisten, die zwischen Lust und Frust eingebettet ist; ich
möchte sagen: manchmal auch zwischen Weinen und
Lachen. Wenn eine Petition zum Kreditwesen damit beginnt, dass ein Petent versucht hat, einen Kredit mit dem
anderen zu tilgen, dann kann ich den weiteren Verlauf in
der Akte voraussagen. Sosehr ich mir dann wünsche,
meine Vorahnung möge sich nicht erfüllen, so weiß ich
doch, dass es genau so kommen wird. Wir erhalten ganz
tiefe und ganz nahe Einblicke in menschliche Schicksale
und können nicht immer und nicht allen helfen. Aber
wenn es uns in diesen Fällen gelingt, einen geordneten
Ausstieg aus der Schuldenfalle anzustoßen, dann ist das
ein sehr großer Erfolg.
Auf der anderen Seite habe ich wohl mit dem nötigen
Ernst, aber auch mit einem Schmunzeln die Petition einer Unternehmerin bearbeitet, die die Steuerberaterrechnung vom Finanzamt bezahlt haben wollte. Sie stand auf
dem Standpunkt, dass sie keine Bilanzen und auch keine
Steuererklärungen brauche und wenn das Finanzamt unbedingt welche haben wolle, dann soll es dafür auch bezahlen.
({5})
Das ist ein für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sicherlich des Öfteren nachvollziehbarer Standpunkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
auch bei Ihnen für die Zusammenarbeit und für die gute
Atmosphäre bedanken. Die meisten Voten sind einstimmig. Wo das nicht der Fall ist, gelingt es uns oft in der
Sitzung, eine Einigung zu erzielen, manchmal nicht in
der ersten oder in der zweiten und manchmal eben überhaupt nicht. Manches, mit dem man draußen zu punkten
hofft, wird heute aus der Opposition anders beurteilt als
zur eigenen Regierungszeit.
({6})
Trotzdem denke ich, dass wir in erster Linie das Wohl
des Petenten zum Ziel haben.
Der größte Kummerkasten Deutschlands steht in
der Schadowstraße 12 bis 13. Ich wünsche mir, dass
viele Bürgerinnen und Bürger von diesem Kummerkasten und von dieser Möglichkeit der demokratischen Teilhabe Gebrauch machen und wir auch in den nächsten
Jahren unter Beweis stellen können, dass wir bestrebt
sind, Lösungen zu finden.
Hans-Jochen Vogel hat in seiner Rede zum 50-jährigen Jubiläum des Petitionsausschusses gesagt:
Ich wünsche Ihnen und mir, dass der jährliche Bericht des Petitionsausschusses auch künftig in der
so genannten Kernzeit behandelt wird, und ich
wünsche Ihnen und mir außerdem, dass dann die
Regierungsbank gut besetzt
({7})
und vielleicht hin und wieder sogar der Bundeskanzler zugegen ist.
Ich schließe mich diesen Wünschen an.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Du musst bestimmt in den Petitionsausschuss; das
müssen alle Neuen.“ So ungefähr ist es mir gesagt worden, als es sicher war, dass ich Mitglied dieses Hohen
Hauses werden würde. Es wurde also gesagt - das betone ich -: Du musst!
Wie despektierlich, habe ich gedacht, war mir aber,
wenn ich ernst darüber nachdachte, nicht sicher - das
gebe ich zu -, ob der Petitionsausschuss wirklich so prickelnd und aufregend ist, wie man mir versicherte. Ich
wusste, dass damit viel Arbeit verbunden und diese Arbeit nicht sehr medienwirksam ist. Dass wir im Übrigen
heute zu dieser Zeit über die Tätigkeit des Petitionsausschusses debattieren können, ist - Frau Frechen hat es
bereits gesagt - eine tolle Sache. Dafür sollten wir uns
bedanken; denn medienwirksam sind wir normalerweise
nicht.
Es kam dann so, wie es kommen musste: Als neue
Abgeordnete des Bundestages bin ich tatsächlich Mitglied des Petitionsausschusses geworden. Mittlerweile
bin ich dafür dankbar. Ich bin dafür dankbar, dass ich die
Möglichkeit habe, mich mit all dem auseinander zu setzen, was mir tagtäglich begegnet. Ich bin dafür dankbar;
denn wir haben eine ungeheuer spannende Aufgabe. Wir
sind sehr nahe an der gelebten Politik, an der Realität, an
dem, was die Bürger dieses Landes beschäftigt, aufregt,
ärgert, belastet; was auch immer, wir sind dabei.
Ich spreche hier nicht von Aktenbergen und Gesetzen,
sondern davon, dass jede Petition einen Namen, ein Geburtsdatum, einen Wohnort, eine Telefonnummer und in
den meisten Fällen auch eine ganz lange Geschichte hat.
Ich finde, wir haben eine bedeutende Aufgabe zu leisten. Es gilt, diese Bedeutung zu erkennen und verantwortlich damit umzugehen. Denn meist verbergen sich
hinter einer Petition, in Aktendeckel gepresst, Schicksale.
Wir erkennen auf diese Art und Weise mögliche Ungerechtigkeiten und mögliche Lücken im Gesetzeswerk.
Diese hätten wir ohne den Petenten nicht erkannt. Denn
kein Gesetzgeber ist in der Lage, jeden erdenklichen
Einzelfall abzudecken. Deshalb ist das Petitionsrecht ein
notwendiges und sogar sinnvolles Regulativ. Es weist
uns auf Lücken hin, die wir ändern oder schließen können.
({0})
Ich kann logischerweise nicht - Sie haben es gehört über die Petitionen des Jahres 2002 sprechen. Aber ich
habe schon in der kurzen Zeit, in der ich Mitglied des
Petitionsausschusses bin, sehr viel erlebt. Ohne mich
jetzt in juristische Einzelheiten zu verlieren, möchte ich
einen konkreten Fall schildern. Er ist ein bisschen entfernt von dem großen Friede-Freude-Eierkuchen, das
wir hier im Moment erleben.
Es geht darum, dass ein Petent bemängelt, dass im
Gesetz diejenigen, die ihre Arbeitsstelle zugunsten von
Arbeitslosigkeit aufgeben, gegenüber denjenigen bevorzugt werden, die weiterhin in Teilarbeit bleiben. Mit anderen Worten: Diejenigen, die arbeiten, werden gegenüber
denjenigen, die zu arbeiten aufhören, klar benachteiligt.
Im Ergebnis motiviert die jetzige Regelung also die
Menschen, ihre Arbeitsstelle aufzugeben.
Darüber, dass so etwas logischerweise nicht gewollt
ist, waren wir uns eigentlich einig. Ein ganz großes politisches Anliegen meiner Fraktion ist es, die Menschen
zur Arbeit zu bewegen.
({1})
Die Kollegen von der SPD brauchten für diese Erkenntnis zwei Sitzungen.
({2})
Aber letztendlich sind wir dann doch zu einem einvernehmlichen Ergebnis gekommen. Ich denke, es ist ein
gutes Ergebnis. Wir haben diesen Fall gemeinsam an das
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit als Material überwiesen. Somit kann dieses Gesetz neu überdacht
werden.
Wir beschäftigen uns unter anderem auch - die Arbeit
ist sehr facettenreich - mit Auslandsgeschäften, Entwicklungshilfe und Ähnlichem. Leider läuft mir jetzt
meine Redezeit davon. Es tut es mir Leid, dass ich nicht
mehr über einen spannenden Fall aus dem Entwicklungshilfebereich berichten kann, wobei wir in diesem
Zusammenhang nach verschwundenen Akten, genau den
Zeitraum betreffend, um den es in dieser Beschwerde
geht, suchen. Eine Nachfrage bei der Staatsministerin im
Auswärtigen Amt hat sich als nicht sehr fruchtbar und
dienlich erwiesen. Was verschwundene Akten bedeuten,
wissen wir alle ganz aktuell, es ist uns nicht neu. Ich
nenne nur das Stichwort „Hirsch-Märchen“ und Ähnliches. Ich bin aber weiterhin an dieser Akte interressiert.
Da ist noch einiges anhängig und damit ist noch viel Arbeit verbunden.
Sie sehen, ich habe über den Petitionsausschuss fast
nur Gutes zu berichten. Nur eines ärgert mich nach wie
vor - ich gebe es zu -: Die politischen Mehrheiten sind
für meine Begriffe immer noch falsch. Oft erkennt RotGrün Handlungsbedarf erst auf Nachfrage und nach Hilfestellung. Ich gebe in diesem Zusammenhang allerdings
die Hoffnung nicht auf.
({3})
Liebe Kollegin Pfeiffer, ich gratuliere Ihnen recht
herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause
und wünsche Ihnen weiterhin viel Engagement für die
Arbeit im Petitionsausschuss sowie persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hagemann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herzlichen Glückwunsch,
liebe Kollegin Sibylle Pfeiffer! Wenn ich aber daran
denke, dass wir in der letzten Petitionsausschusssitzung
acht Petitionen auf Antrag der CDU/CSU abgesetzt haben, dann bin ich mit Ihrem letzten Satz nicht ganz einverstanden.
({0})
- Es waren nur fünf, okay.
({1})
Ich habe nur daran erinnert, weil Sie meinten, liebe Kollegin, Sie würden uns immer auf die Sprünge helfen. In
diesem Falle dauert es also ein bisschen länger.
Meine Damen und Herren, in diesem Jahr hatte der
Petitionsausschuss fast in jedem Monat Besuch aus dem
Ausland. Viele Delegationen haben uns aufgesucht, um
mit uns über das deutsche Petitionswesen zu diskutieren.
In dieser Woche war eine Delegation des tschechischen
Parlaments bei uns, vor drei Wochen eine Delegation des
luxemburgischen Parlaments, in der nächsten Woche
werden Delegationen aus Vietnam und Dänemark kommen. Es besteht also ein großes Interesse an unserem Petitionswesen.
Dies hat seinen Grund sicherlich darin, dass wir ein
gutes Petitionssystem haben. Die bei uns bestehenden
Regelungen nehmen viele andere Staaten zum Vorbild,
insbesondere die jungen Demokratien. Die Väter und
Mütter des Grundgesetzes haben 1949 eine kluge Entscheidung getroffen, als sie das Petitionsrecht als ein
Grundrecht einführten. Seitdem ist es nicht mehr nur ein
Gnadenrecht des Fürsten oder des Königs; die Behandlung von Petitionen stellt nun einen politischen Akt dar.
Wir Parlamentarier - das wurde schon mehrfach herausgestellt - können Fehlentwicklungen und Fehlleistungen
der Verwaltungen in unserem Staat feststellen und erkennen, wo Korrekturbedarf angebracht ist. Dafür sind genügend Beispiele genannt worden, die ich nicht zu wiederholen brauche. Auch werden uns aus Sicht der Bürger
Tendenzen nahe gebracht, die die Notwendigkeit der
Änderung von politischen Normen und Gesetzen aufzeigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem ich unser
Petitionswesen gelobt habe, muss ich auch die andere
Seite der Medaille betrachten. Demokratie ist nichts
Statisches, sie ist nie vollkommen. Veränderungen und
Reformen sind notwendig. Das Petitionswesen kann
nicht nur Kummerkasten sein - hier greife ich einen vom
Kollegen Guttmacher gebrauchten Begriff auf -, auch
nicht nur politische „Telefonseelsorge“. Der Petitionsausschuss muss zwar auch dies sein - hier leistet der
Ausschussdienst hervorragende Arbeit und fängt sehr
vieles auf -;
({2})
aber er soll darüber hinaus zur aktiven Teilhabe des Volkes an der politischen Willensbildung beitragen. Über
die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen hinaus kann der
Bürger - hier appelliere ich an die Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere an unsere jugendlichen Besucherinnen und Besucher - sein Recht wahrnehmen, durch die
Petitionen auf die Politik einzuwirken. Die Herausforderung besteht hier darin, bürgerschaftliches Engagement
einzubringen: nicht nur zu meckern, sondern auch zu
handeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwicklung des Petitionswesens - darauf werde ich den Rest
meiner Redezeit verwenden - hat ihren Niederschlag
auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und
Grünen gefunden. Ich zitiere:
Wir wollen das Petitionsrecht über die Lösung individueller Anliegen hinaus zu einem politischen
Mitwirkungsrecht der Bürgerinnen und Bürger gestalten.
Dies ist zumindest für meine Arbeitsgruppe die Überschrift für das, was in den nächsten drei Jahren noch auf
der Tagesordnung des Petitionsausschusses steht. Man
kann es auch so formulieren: Es geht darum, unser Petitionsrecht für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Dabei
können wir auf einem guten Fundament aufbauen.
Lassen Sie mich einige Beispiele dafür nennen, wo
wir meiner Ansicht nach ansetzen müssen, um unser Petitionswesen weiterzuentwickeln, denn es genügt nicht,
nur zu jammern, dass wir zu wenig Aufmerksamkeit der
Presse erreichen; ich bedauere das genauso. Aber wir
müssen uns einmal selbst fragen: Woran liegt es, dass
dieses Interesse etwas nachgelassen hat? Vielleicht liegen die Fehler auch bei uns und die Weiterentwicklung
muss von uns ausgehen. Wir müssen mehr Präsenz in
den Wahlkreisen, draußen in der Republik zeigen und
vor Ort sein, nicht nur bei Vor-Ort-Terminen im Zusammenhang mit Petitionen; vielmehr müssen wir auch mit
den Petenten und Petentinnen vor Ort reden.
({3})
Die SPD-Arbeitsgruppe hatte diese Woche einen interessanten Vor-Ort-Termin im Wahlkreis Fürth, bei dem wir
über die Unterbringung Asylsuchender in Fürth und in
Zirndorf, aber auch über die Problematik von Kuren und
Rehabilitation gesprochen haben.
Lieber Kollege Baumann, es ist sicherlich eine gute
Arbeit, vor Ort mit den Leuten zu reden; Sie werden das
genauso machen. Wir wollen dies fortführen.
Wir benötigen eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit.
Wir empfehlen, verstärkt darüber nachzudenken, öffentliche Ausschusssitzungen durchzuführen. Ebenso müssen wir - so haben wir es bei einer Dienstreise in Schottland beobachtet, liebe Kollegin Pfeiffer - mehr
öffentliche Anhörungen auch der Petenten durchsetzen.
Das sind Denkansätze, die wir weiterführen wollen.
Dazu gehört auch, mehr Regierungsvertreter einzuladen. Ich kann nur unterstreichen, was die Kollegin
Frechen gesagt hat: Es wäre nicht schädlich, wenn bei
diesem Thema die Regierung besser vertreten wäre. Zwischenzeitlich hat sich die Regierungsbank doch etwas gefüllt. Aber es wäre gleichfalls nicht schädlich,
wenn auch das Rund unserer Kolleginnen und Kollegen
etwas mehr gefüllt wäre.
({4})
Man soll nicht nur auf die anderen zeigen; drei Finger
zeigen immer wieder auf einen selbst zurück.
Ebenso sollten wir mehr Gebrauch von der Möglichkeit zur Akteneinsicht machen. Aber dabei stehen wir
einer großen Bürokratie gegenüber. Uns fehlen Hilfsmittel hierfür. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir dieses Instrument verbessern und verstärkt nutzen können.
Außerdem ist es sicherlich nicht ausreichend, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur einmal im Jahr über das Petitionsrecht zu diskutieren.
({5})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen; darüber haben wir uns auch in Schottland bei dessen jungem Parlament, das neue Ideen hat, informiert. Es geht
darum, neben dem bereits vorhandenen Bürgerbüro auch
das Internet wesentlich stärker in die Petitionsarbeit einzubeziehen. In dieser Hinsicht können wir das Petitionsrecht weiterempfehlen, damit sich insbesondere junge
Menschen - ich gucke wieder nach oben zu unseren jungen Gästen - verstärkt in die Petitionsarbeit einbringen
können. In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch
über eine Grundgesetzänderung nachgedacht werden,
denn der berühmte Art. 17, der hier schon mehrfach genannt worden ist, regelt, dass man die entsprechenden
Unterlagen in schriftlicher Form und unterschrieben einreichen muss. Dafür müssen wir sicherlich neue Formen
finden, über die wir zu diskutieren haben.
Ein wichtiger Punkt ist die Zusammenarbeit mit
Menschen, die Interesse an der Weiterentwicklung des
Petitionsrechts haben, wie beispielsweise mit dem Verein zur Förderung des Petitionswesens in der Demokratie, der am 23. Mai in Bremen eine interessante Tagung
durchgeführt hat. Auch hier gibt es Ansätze, die wir betrachten sollten. Die angesprochene Veranstaltung hatte
das Thema „Mit Petitionen Politik verändern“. Das
sollte Motto für uns sein; es ist Maxime für mich und
meine Arbeit. Ich lade Sie ein, dies mit der SPD-Arbeitsgruppe zusammen zu tun.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Auf weiterhin gute Kooperation in diesem Petitionsausschuss!
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Hagemann, Sie haben Recht: Öffentlichkeitsarbeit muss verstärkt stattfinden. Wenn man allerdings anderthalb Jahre vor einer Landtagswahl
beschließt, dass ein Termin in Bayreuth ein Wahlkampftermin ist, dann wird man das nicht so einfach hinbekommen, fürchte ich.
({0})
Alle Bereiche des täglichen Lebens, in denen Bürgerinnen und Bürger auf Verwaltungen und Institutionen
treffen, können Gegenstand von Petitionen sein, mit denen wir uns dann zu beschäftigen haben. Deshalb ist es
- das klang hier auch schon an - gerade für einen neuen
Abgeordneten besonders lehr- und hilfreich, sich im Petitionsausschuss umzutun. Dafür gibt es zwei Gründe:
Kein anderer Ausschuss bietet die Möglichkeit, sich mit
der gesamten politischen Bandbreite der Themen zu beschäftigen. Kein anderer Ausschuss bietet die Möglichkeit, sich so direkt mit Bürgern auseinander zu setzen
und ihnen zu helfen, wobei leider auch zur Wahrheit gehört, dass Hilfe eben nicht immer möglich ist.
Um das, was der Kollege Hagemann gesagt hat, noch
einmal aufzugreifen: Ich habe kürzlich eine Reise in den
Iran und in die Türkei unternommen und konnte dort mit
Vertretern der Petitionsausschüsse der Parlamente dieser
Länder sprechen. Dabei ist mir wieder klar geworden,
welch hohes Gut das Petitionsrecht ist und wie wichtig
es für die Weiterentwicklung der Demokratie ist.
({1})
Die Deutschen und auch die in Deutschland lebenden
Ausländer machen von ihrem Petitionsrecht sehr häufig
Gebrauch. Dabei steht Originelles neben sehr Ernsthaftem. Zum Thema Originelles habe ich auch etwas beizutragen: Ich habe eine Petition einer Dame bearbeitet, die
die Abschaffung elektrischer Wäschetrockner gefordert
hat. Das Anliegen wurde genau geprüft, unter anderem
vom Bundesumweltministerium. Nicht weiter überraschend ist das Ergebnis: Diesem Anliegen konnte natürlich nicht entsprochen werden.
Nun wieder ernsthaft: Die Frau Vorsitzende hat bereits gesagt, dass der Petitionsausschuss sozusagen der
Seismograph für politische Fehlentwicklungen ist. Dazu
ist zu sagen, dass die Zahl der ausländerrechtlichen Petitionen im Gegensatz zu der der Petitionen insgesamt
immer noch gleich hoch ist. Ich möchte dazu einige Beispielsfälle nennen, die mir im Laufe der Zeit begegnet
sind. Zum Beispiel habe ich die Petition einer Iranerin
bearbeitet, die sich gegen ihre Abschiebung gewehrt hat.
Sie wurde im Iran des Ehebruchs bezichtigt. Wer sich
ein wenig auskennt, weiß, was das unter Scharia-Gesetzgebung bedeutet. Das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge hat das als nicht ausreichenden Grund für ein Bleiberecht angesehen und leider
konnte der Petitionsausschuss ihr nicht helfen.
Positive Entwicklungen hat es - ich möchte auch dafür ein Beispiel aufgreifen - für die tschetschenischen
Flüchtlinge gegeben. Hier konnte wenigstens zum Teil,
wenn auch nicht in allen Bereichen, durch Gespräche
mit dem Bundesinnenministerium geholfen werden.
Unverändert hoch ist weiterhin die Zahl der Petitionen der Spätaussiedler. Auch hier konnte gemeinsam
etwas erreicht werden. Zum Beispiel konnte eine Großfamilie aus Kasachstan in Deutschland bleiben, nachdem
es entsprechende Gespräche gegeben hatte. Das große
Problem dabei - das ist letztendlich auch in dem Bericht
zur Sprache gekommen - sind die Sprachkenntnisse.
Leider nehmen diese immer mehr ab, denn es handelt
sich inzwischen um die dritte oder vierte Generation der
Spätaussiedler.
An einer Stelle möchte ich ein wenig Öl ins Feuer
gießen, weil es eine Sache ist, die gerade meine Fraktion
sehr stark beschäftigt hat. Wir haben vorhin über eine
Einzelpetition abgestimmt, bei der CDU und CSU Einzelausweisung beantragt haben. Es ging um einen Antrag der Ackermann-Gemeinde, einer Vertriebenenvereinigung. Diese hat sich an den Petitionsausschuss
gewandt, weil ihr die finanzielle Unterstützung zur Einrichtung einer deutsch-tschechischen Verständigungsinstitution verweigert worden ist. CDU und CSU sehen in
der Arbeit von Vertriebenenverbänden einen wichtigen
Beitrag zur Verständigung in Europa und auch einen
wichtigen Beitrag zum Erhalt des Erbes der Vertriebenen.
({2})
Wie wichtig das ist, möchte ich gern mit einem Zitat,
das ich hier mit Genehmigung der Frau Präsidentin vorlesen möchte, unterstreichen. Es geht dabei speziell um
§ 96 des Bundesvertriebenengesetzes. In diesem Zitat
heißt es:
Mit diesem Paragraphen haben Bund und Länder ...
die Verpflichtung übernommen, das kulturelle und
historische Erbe der ehemaligen deutschen Ostprovinzen … sowie der historischen Siedlungsgebiete
in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa zu sichern und
zu bewahren. In diesen Gebieten befinden sich
Zeugnisse deutscher Kultur von unschätzbarem
Wert. Sie müssen für kommende Generationen im
In- und Ausland erhalten werden.
Weiter unten heißt es:
In erster Linie ist die staatliche Förderung aber eine
Aufgabe des Bundes.
Diese Worte stammen aus einem Artikel mit dem Titel „Europas geschichtliches Erbe - Die Erinnerung an
die Vertreibungsverbrechen gehört dazu“. Autor ist der
Bundesinnenminister Otto Schily.
({3})
Es wäre schön gewesen, wenn Sie auch in diesem Fall
auf Ihren Minister gehört hätten, wie Sie das normalerweise tun.
Trotz dieser Auseinandersetzung in diesem und vielleicht auch in manch anderem Bereich glaube ich, dass die
Zusammenarbeit im Allgemeinen gut funktioniert. Ich
hoffe - das möchte ich zum Abschluss noch betonen -,
dass die Zusammenarbeit im Sinne der Petentinnen und
Petenten auch weiterhin zielorientiert und effektiv verläuft.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik transparent machen
- Drucksache 15/655 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
treffen sich in Brüssel wieder einmal die Justiz- und die
Innenminister der Europäischen Union. Innenminister
Schily entscheidet in diesem Moment mit seiner Stimme
über wichtige Fragen der Asyl- und Ausländerpolitik.
({0})
Dies geschieht hinter verschlossenen Türen. Diese Beschlüsse werden Deutschland bei der nationalen Rechtsgestaltung extrem einschränken. Aber, meine Damen
und Herren, was wissen wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, über das, was dort besprochen wird?
({1})
Unser Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung,
uns, den Bundestag, umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über die Beratungen und anstehenden
Entscheidungen in EU-Angelegenheiten zu informieren. Diese Unterrichtungspflicht umfasst alle Vorhaben, auch die der Zuwanderungspolitik innerhalb der
EU.
({2})
Die Unterrichtung hat vollständig und detailliert zu erfolgen.
Mit dem heutigen Antrag wollen wir dafür sorgen,
dass die Bundesregierung endlich ihrer Verpflichtung
nachkommt.
({3})
Gerade das sensible Thema der Zuwanderung bedarf des
gesellschaftlichen Konsenses und muss von der Bevölkerung mitgetragen werden.
({4})
Das dient auch der Gewährleistung des inneren Friedens
und der inneren Sicherheit in unserem Land.
Doch während wir auf nationaler Ebene noch über
das von der rot-grünen Regierung erneut eingebrachte
Zuwanderungsgesetz diskutiert haben, wird auf EUEbene bereits darüber entschieden, die Zufluchtsmöglichkeiten auf Personen auszuweiten, die nicht staatlich
verfolgt sind, und das mit der Möglichkeit des vollen Familiennachzugs, auch bei gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften.
({5})
Darüber hinaus wird die Drittstaatenregelung, die wesentliche Säule unseres Asylrechtskompromisses aus
dem Jahr 1993, der ja zu einem erheblichen Rückgang
des Asylmissbrauchs führte, faktisch abgeschafft,
({6})
ohne dass in Deutschland ernsthaft Kenntnis davon genommen wird.
({7})
Ist es das, was die Bundesregierung unter ausreichender
Mitwirkung des Bundestages versteht?
Die Regierung verzögert immer wieder die Weiterleitung von wichtigen Ratsdokumenten.
Meine Damen und Herren, die Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von
Asylbewerbern wurde Ende Januar dieses Jahres in
Brüssel verabschiedet. Durch diese Richtlinie werden
Regelungen getroffen, die maßgebliche Auswirkungen
für die Akzeptanz von Ausländern insgesamt haben. So
werden zum Beispiel ihr Zugang zum Arbeitsmarkt und
die Ausweitung der Gewährung von teuren Sozialleistungen geregelt. Aber ist diese Richtlinie jemals im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse beraten worden?
Wir haben in der Tat darüber beraten - am 12. März,
zwei Monate nach Verabschiedung der Richtlinie. Noch
einmal zum Mitschreiben: Wir haben zwei Monate nach
der Verabschiedung Gelegenheit bekommen, über diese
Richtlinie zu diskutieren.
({8})
Nur so viel zum Begriff „frühestmöglicher Zeitpunkt“.
Ein anderes Beispiel, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema der umfassenden Informationspflicht:
Der Innenminister ist vor der letzten Ratssitzung noch
nicht einmal bereit gewesen, dem Innenausschuss seinen
Standpunkt zu den anstehenden Verhandlungen darzulegen.
({9})
Es ging immerhin um die Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs einschließlich der damit verbundenen Statusaufwertung für Flüchtlinge sowie um die weitgehende
Gleichstellung von EU-Bürgern mit EU-Ausländern mit
allen Rechten und Vergünstigungen. Informationen wurden von den Parlamentarischen Staatssekretären unter
dem Vorwand verweigert, man wolle die Verhandlungsstrategie nicht preisgeben.
Meine Damen und Herren, hier geht es nicht um eine
Strategie, hier geht es um einen Standpunkt. Hier geht es
darum zu erfahren, welche Ausländerpolitik die Bundesregierung im Namen Deutschlands auf EU-Ebene
vertritt.
({10})
Die Bundesregierung traut sich offensichtlich nicht, der
Öffentlichkeit zu erklären, dass sie sich einem erweiterten Zuzug Asylsuchender in die EU nicht widersetzt.
Dass die Regierung nicht bereit ist, ihren Standpunkt vor
dem JI-Rat zu erläutern, lässt für mich drei mögliche
Schlussfolgerungen zu: Entweder befasst sich niemand
in der Regierung damit;
({11})
oder der Informationsfluss zwischen der Ständigen Vertretung in Brüssel und der Regierung funktioniert nicht - das
kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen -;
({12})
oder es wird, was nahe liegt, versucht zu blockieren
({13})
und den Bundestag und damit die deutsche Bevölkerung
außen vor zu lassen.
({14})
Dass es die Bundesregierung mit der Verfassung und
dem geltenden deutschen Recht nicht ganz so genau
nimmt, führe ich Ihnen gerne an einem weiteren Beispiel
vor Augen: Im Bereich der Zuwanderungs- und Asylpolitik verhandelt diese Bundesregierung in Brüssel nicht
auf der Grundlage des geltenden und damit auch für
diese Regierung bindenden Ausländerrechts, sondern
auf der Basis des für verfassungwidrig erklärten Zuwanderungsgesetzes.
({15})
Hier wird ein gescheitertes Gesetz durch die Hintertür
für Deutschland bindend gemacht. Dies geschieht unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit.
({16})
Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich zulassen? Müssen
wir uns als Abgeordnete dieses Hauses nicht darauf besinnen, welche Verpflichtung wir haben?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Sonntag-Wolgast?
Ich denke, im Laufe meines Vortrages werden alle
Fragen beantwortet werden.
({0})
Wie können wir auf EU-Ebene zu mehr Transparenz
in der Asyl- und Zuwanderungspolitik kommen? Wie
können wir das praktisch umsetzen? Es müssen endlich
übersichtliche und zeitnahe Aufstellungen über den Verhandlungsstand der EU-Vorlagen erstellt werden. Dies
haben wir in unserem Antrag näher ausgeführt. Die Bundesregierung soll dabei klar benennen, welche Auswirkung ihr Abstimmungsverhalten auf europäischer Ebene
auf das deutsche Asyl- und Ausländerrecht hat.
Meine Damen und Herren, wenn wir es als Parlamentarier in eigener Verantwortung nicht schaffen, unser Beteiligungsinteresse gegen die Bundesregierung durchzusetzen, müssen wir auch darüber nachdenken, Art. 23
des Grundgesetzes entsprechend anzupassen. Wir werden im Rahmen der Zustimmung zum neuen europäischen Verfassungsvertrag Gelegenheit dazu haben; denn
die Zustimmung bedarf der Zweidrittelmehrheit sowohl
im Bundestag wie auch im Bundesrat.
({1})
Das Vorliegen einer Stellungnahme des Bundestages
wird zwingende Voraussetzung für die Aufnahme von
Verhandlungen auf EU-Ebene sein.
Die für die Zukunft unseres Landes entscheidende
Frage, ob wir mehr Zuwanderung in unser Land wollen, darf nicht am deutschen Parlament und der deutschen Bevölkerung vorbei geregelt werden.
({2})
Lassen Sie nicht zu, dass ein so wichtiges Thema wie die
Zuwanderung ohne Beteiligung des Bundestages entschieden wird!
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ute Vogt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In ihrem Antrag fordert die CDU/CSU, dass der
Deutsche Bundestag umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu informieren sei. Ich sage Ihnen: Dieser Antrag ist entbehrlich.
({0})
Das, was Sie unter Punkt 1 geschrieben haben - zumindest das, was ich genannt habe -, ist bereits in unserem
Grundgesetz niedergelegt und wird von der Bundesregierung auch eingehalten.
({1})
Ich muss mich fragen, wo Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, in den letzten Wochen, Monaten und Jahren gewesen sind. Allein im Innenausschuss haben wir seit dem Rat von Lissabon, also seit
März 2000, in nahezu 40 Vor- und Nachberichten dem
Parlament Rechenschaft abgelegt.
({2})
Wenn Sie das auf die Zahl der Sitzungen des Innenausschusses umrechnen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass wir uns in etwa 60 Prozent der Sitzungen mit
diesem Themenbereich befasst haben.
({3})
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koschyk?
Gerne.
({0})
Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, einzuräumen,
dass die Obleute gemeinsam mit dem Innenausschuss
erst am Beginn dieser Legislaturperiode auf Drängen der
Union ein Verfahren verabredet und Fristen für die Vorund Nachberichte zu den EU-Innen- und -Justizministerräten festgelegt haben?
({0})
Sind Sie auch bereit, einzuräumen, dass die Bundesregierung - einmal durch Sie und einmal durch den
Staatssekretär Körper - im Hinblick auf das Nachzugsalter völlig widersprüchliche Aussagen im Ausschuss und
in der Fragestunde am gleichen Tag gemacht hat? Verstehen Sie das unter einer umfassenden Informationspflicht gegenüber dem Parlament?
({1})
Sehr geehrter Kollege Koschyk, auf das Nachzugsalter werde ich im Laufe meiner Rede noch zu sprechen
kommen.
({0})
Über die entsprechend geltenden Rechtssetzungen sind
Sie unverzüglich informiert worden.
({1})
Bezüglich des neuen Verfahrens kann ich für die Bundesregierung unter unserer Verantwortung nur bestätigen, dass wir unsere Berichtspflicht immer sehr regelmäßig wahrgenommen haben. Ich muss allerdings
einräumen, dass die Union in der Tat erst seit der neuen
Legislaturperiode ein intensives Interesse an diesen Berichten zeigt. Diese sind vorher nicht so intensiv diskutiert worden. Das lag aber nicht an der mangelnden Vorlage.
({2})
Wenn Sie schon danach fragen, möchte ich Sie noch
an ein Zweites erinnern. Es gab Zeiten, in denen ich unter einem anderen Bundesinnenminister in der Opposition saß.
({3})
Ich kann mich kaum daran erinnern,
({4})
dass es überhaupt relevante Berichte dieser Art gab, weil
der damalige Herr Innenminister noch nicht einmal persönlich zu diesen Sitzungen gefahren ist. Deshalb hat
Deutschland bei den entsprechenden Verhandlungen der
Europäischen Union überhaupt keine Rolle gespielt.
({5})
Unsere Bundesregierung gewährleistet jedenfalls das,
was durch die Verfassung vorgegeben wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines werden wir aber nicht tun:
Wir werden nicht das aufkündigen, was in unserer Verfassung mit gutem Recht und Sinn festgelegt wurde,
nämlich die Gewaltenteilung zwischen Legislative und
Exekutive.
({6})
Das, was Sie am Ende Ihres Antrages vorschlagen, hätte
ein Maßgabegesetz zur Folge, wodurch diese Trennung
aufgehoben werden würde.
({7})
Nun habe ich, genauso wie sicherlich auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen, durchaus Verständnis dafür, dass Sie trauern, zum Teil verärgert und manchmal
auch richtig wütend darüber sind, dass Sie nicht die
Chance haben, selbst zu regieren.
({8})
Trotzdem muss man eine demokratische Entscheidung
und die Tatsache akzeptieren, dass die Bundesregierung
ihre eigenen vernünftigen Verhandlungspositionen nicht
gegen die Ansichten der Opposition austauschen und
dazu übergehen wird, diese in den Verhandlungen zu
vertreten.
({9})
Ich glaube, so etwas muss auch von der Opposition akzeptiert werden, wenn sie die demokratischen Spielregeln kennt und auch anwendet.
({10})
Herr Koschyk, ich will gerne ein von Ihnen schon angesprochenes Thema inhaltlich aufgreifen. In der Tat:
Wir haben im Februar eine wichtige Richtlinie zur
Familienzusammenführung zwar noch nicht beschlossen - vermutlich wird sie heute, gerade in diesen Stunden, beschlossen -, haben uns über ihre konkrete Ausgestaltung aber schon geeinigt. Unser Ziel, auch durch
diese Richtlinie, - wie durch andere auch - die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen sowie die Integration zu festigen,
({11})
wurde gerade an diesem Beispiel sehr eindrucksvoll
deutlich gemacht.
({12})
Die Familienzusammenführung wird gemäß der
Richtlinie auf die Kernfamilie begrenzt. Wir haben zum
Beispiel erreicht, dass die Einreise derjenigen, die sich
extremistisch betätigen, versagt werden kann. Daneben
haben wir erreicht, dass Deutschland die Möglichkeit
hat, für Kinder über zwölf Jahre davon Gebrauch zu machen, den Nachzug von entsprechenden Integrationsvoraussetzungen abhängig zu machen, also zum Beispiel
davon, ob die Sprache schon beherrscht wird oder ob
klar ist, dass sie in kurzer Zeit erlernt werden kann.
({13})
Für diejenigen, die die Richtlinie nicht so genau kennen, sage ich: In der Europäischen Richtlinie ist für alle
anderen Mitgliedstaaten ein Nachzugsalter von 18 Jahren vorgesehen.
Nun lese ich in Abschnitt 2 Ihres Antrages, dass Sie
das geltende Ausländer- und Asylrecht gerne als Grundlage für die Verhandlungen nutzen würden. Gleichzeitig
ziehen Sie durch die Lande und bejammern als die Partei, die das Fähnchen für die Familien gerne besonders
hochhält, dass man das Nachzugsalter nicht auf sechs
Jahre absenken kann.
({14})
Hätten wir Ihrem Antrag gemäß auf der Grundlage unseres geltenden Rechts verhandelt, hätten wir keine Ausnahmemöglichkeit, das Nachzugsalter auf zwölf Jahre
festzusetzen, sondern hätten ein Nachzugsalter von
16 Jahren akzeptieren müssen. Dieses Alter liegt immer
noch unter dem, was die EU vorgibt. Ich möchte Sie bitten, sich einmal zu überlegen, was Sie politisch wollen:
entweder geltendes Recht oder Ihre eigenen Positionen,
die Sie im Lande verkünden.
({15})
Beides jedenfalls passt nicht zusammen, jedenfalls nicht
so, wie Sie es hier vorgetragen haben.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kein Geheimnis, dass es in der Europapolitik zwischen CDU und
CSU große Unterschiede gibt.
({17})
Selbst die „Rheinische Post“ schrieb gestern: Europastreit der Union schaukelt sich hoch. Im Artikel wird
nachvollziehbar und auch so, wie wir es erleben, der
Dissens beschrieben, der sich zwischen CDU und CSU
mehr und mehr breit macht, insbesondere in aktuellen
Fragen der Europapolitik.
({18})
Gerade Sie, Herr Strobl, müssten wissen, dass nicht zuletzt Wolfgang Schäuble unter so eingrenzenden europäischen Debatten, wie sie vonseiten der CSU geführt
werden, zu Recht leidet.
({19})
Der Europastreit in der Union schaukelt sich hoch
und findet seinen Ausdruck in Anträgen, in denen Sie
sich an Formalien klammern und meinen, der Bundesregierung etwas zuschieben zu müssen. Ich möchte Sie in
unser aller Interesse bitten, dass Sie zu einer konstruktiven Europapolitik zurückkehren, wie es wenigstens vor
einigen Jahren in Ihrer Fraktion der Fall gewesen ist.
({20})
Sie müssen das anerkennen, was wir alle wussten, als
wir uns mit Freude auf den Weg zu einem vereinten Europa gemacht haben: Europa bedeutet nicht, dass ein
Land den Segen für alle bringt, sondern es bedeutet, dass
alle miteinander an einem Tisch verhandeln müssen.
Man muss sich zusammensetzen und akzeptieren, dass
man nicht alles 1 : 1 erreicht, was man selber gerne
hätte. Man muss in der Lage sein, auf andere zuzugehen
und zusammen mit den anderen ein gemeinsames Europa zu bauen.
Zur Verhandlungsposition - Herr Schröder hat es noch
einmal angesprochen -: Wir erläutern unseren Standpunkt
in jeder Ausschusssitzung mit Freude aufs Neue. Was
wir natürlich nicht tun können, ist, die Verhandlungsstrategie ganz genau darzulegen. Aber ich glaube, dass jeder, der etwas von Politik und der Möglichkeit, etwas
durchzusetzen, versteht, weiß, dass man dies nicht machen kann.
Ich kann Sie darum nur bitten: Vertrauen Sie dem
Bundesinnenminister. Seine Verhandlungsergebnisse
zeigen uns jedes Mal aufs Neue, dass er derjenige ist, der
das Interesse unseres Landes in Europa mit maximalem
Erfolg vertritt. Darauf kommt es am Ende an. Darüber
informieren wir Sie gerne jederzeit erneut.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es fällt mir als FDP-Politiker schwer, einfach
wieder zur Tagesordnung überzugehen; denn über die
Ticker läuft die Meldung vom Tode Jürgen Möllemanns. Trotz der politischen Differenzen, die wir in
letzter Zeit mit ihm hatten, gilt unser Beileid natürlich
seiner Familie. Ein solcher Vorfall bewegt umso mehr,
als Jürgen Möllemann vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam mit mir für die FDP mit dem Bundesinnenminister über Einzelheiten des Zuwanderungsgesetzes der
letzten Legislaturperiode verhandelt hat.
Das führt zu der heutigen Debatte, die auf Wunsch
der CDU/CSU mit diesem Antrag die Zuwanderungsfrage, die wir schon am 9. Mai erörtert haben, noch einmal aufwirft. Ich glaube nicht, dass sich die Positionen
der Fraktionen in diesen wenigen Wochen so sehr verändert haben, dass es Sinn macht, diese Debatte erneut zu
führen. Aber in dem Antrag der CDU/CSU wird ein
Kernproblem sehr richtig angesprochen, nämlich die
Frage: Wie und in welchem Umfang können wir uns als
Deutscher Bundestag, als nationale Parlamentarier an
der Entscheidungsfindung auf der EU-Ebene beteiligen?
Es ist in der Tat ein unguter Zustand, wenn uns von der
EU her über Richtlinien eine Rechtsetzung aufgezwungen wird, die wir als Parlamentarier nachträglich nicht
mehr beeinflussen können. Deswegen ist dies ein Problem, das ernsthaft diskutiert werden muss. Ich finde, es
ist sogar ein zentrales Problem des viel geplagten EUDemokratiedefizits.
({0})
Wir brauchen den öffentlichen Diskurs, die öffentliche Debatte über die entscheidenden politischen Fragen,
egal ob sie auf Länderebene, auf Bundesebene oder auf
der EU-Ebene diskutiert werden. Deswegen ist es richtig, dass sich der Deutsche Bundestag einschaltet. Wir
als FDP ergreifen ganz klar Partei für die Rechte des
deutschen Parlaments, wie sie in Art. 23 des Grundgesetzes festgelegt sind.
({1})
Dennoch werden wir den CDU/CSU-Antrag ablehnen.
({2})
Denn er bringt erstens nichts wesentlich Neues; soweit
er Neues bringt, geht er, zweitens, zu weit - ich werde
das noch begründen -, und drittens sind wir der Meinung, dass eine Einigung über eine Migrationspolitik auf
der EU-Ebene dringend erforderlich ist, was Sie mit Ihrem Antrag ja verhindern wollen.
({3})
Es ist immer zu begrüßen, wenn neue Kollegen im
Bundestag versuchen, die Routine zu durchbrechen.
Herr Dr. Schröder, der den Antrag der Union gerade begründet hat, hat sich darum verdient gemacht, dass die
EU-Themen jetzt verstärkt im Innenausschuss diskutiert
werden. Ich muss Ihnen trotzdem berichten: Das ist
keine Neuigkeit. Darüber haben wir uns auch früher
schon Gedanken gemacht.
Ich erinnere mich gut an ein Gespräch, das wir mit
holländischen Abgeordneten geführt haben, in dem wir
uns informiert haben, wie sie dies halten: Die niederländische Regierung hat in der Tat ein imperatives Mandat
für ihre Position im EU-Ministerrat. Seinerzeit haben
alle Fraktionen einvernehmlich die Auffassung vertreten: Der richtige Weg besteht darin, dass wir uns rechtzeitig in die Debatten einklinken, dass wir eine öffentliche Debatte herbeiführen, dass wir der Bundesregierung
unsere Meinung mit auf den Weg geben - aber bewusst
nicht in Form eines imperativen Mandats. Warum? Dies wäre nicht flexibel genug und ist der Verhandlungsebene EU nicht angemessen. Dass sich eine Bundesregierung in Verhandlungen mit zahlreichen europäischen
Partnerstaaten auf eine Einigung hinbewegt - bei der
Migrationspolitik halten wir dies, wie gesagt, sogar für
dringend erforderlich -, wird unmöglich, wenn, wie Sie
dies in Ihrem Antrag wollen, die Verhandlungsposition
etwa durch ein so genanntes Mandatsgesetz ein für alle
Mal festgeschrieben ist. Wenn das alle EU-Staaten täten,
wäre jegliche Einigung von vornherein völlig ausgeschlossen. Das zeigt, dass der Weg, den Sie vorschlagen,
nicht der richtige Weg ist.
({4})
Im Übrigen fällt mir auf, dass Sie ohnehin die letzte
Konsequenz scheuen. Sie wollen in Ihrem Antrag die
Verhandlungspositionen festschreiben. Das nutzt aber in
Ihrem Sinne gar nichts. Eine anfängliche Verhandlungsposition kann ich zwar festschreiben, entscheidend ist
dann aber die Abstimmungsposition. Das haben Sie
nicht einmal so formuliert. Es wäre auch wirklich unsinnig, eine solche Bindung vorzunehmen.
Ich sage dies, obwohl ich selber das Interesse einer
Oppositionspartei habe, in diesen Diskussionen mitzuwirken. Auch wenn jeder Vergleich ein wenig hinkt, aber
nehmen wir doch einmal das Beispiel des Bundesrates:
Ist es denn dort so, Herr Kollege Koschyk, dass die
bayerische Landtagsopposition der bayerischen CSUStaatsregierung verbindliche Direktiven für ein Abstimmungsverhalten mitgibt? - Keineswegs, und das ist doch
eine gewisse Parallele.
({5})
- Da meine Redezeit fast schon zu Ende ist, kann ich
jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen.
Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung loswerden: Sie von der Union haben uns in den 90er-Jahren
in der Asyldebatte immer wieder entgegengehalten, das
Grundrecht auf Asyl, das wir verteidigt haben, werde
sich in Europa nicht halten lassen. Jetzt haben sich anscheinend die Vorzeichen geändert. Von der EU kommt
eine liberale Migrationspolitik. Wir als FDP fürchten
diese nicht, Ihnen aber entspricht sie verständlicherweise
nicht.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Max Stadler ist nun einmal demokratiefest. Denn das, was er eben dargelegt hat, ist völlig
plausibel: Es ist das Recht und sogar die Aufgabe des
Parlaments, Transparenz zu verlangen. Das schließt übrigens die Medien mit ein. Wir haben große Schwierigkeiten gehabt, EU-Themen dieser Art in den Medien zu
platzieren. In diesem Bereich besteht durchaus Handlungsbedarf. Gleichzeitig hat der Kollege Stadler aber
auch dargelegt, dass nicht mit imperativen Mandaten gearbeitet werden kann, wenn Regierungen aus 16 Staaten
aufeinander treffen, die den Auftrag haben, Kompromisse zu schließen.
Sie scheinen nach fast fünf Jahren in der Opposition
vergessen zu haben, dass man Kompromisse schließen
muss, wenn man eine Regierung stellt und Teil der Europäischen Union ist,
({0})
und dass man auf europäischer Ebene nicht mit der Erwartung antreten kann, die politischen Vorstellungen
Deutschlands könnten uneingeschränkt übernommen
werden.
Es geht mir um den mangelnden demokratischen
Geist, den Sie mit Ihrem Antrag offenbaren.
({1})
Dieser Geist wird in der Begründung Ihres Antrags deutlich. Sie weisen darin zunächst auf das Einstimmigkeitserfordernis innerhalb der EU hin, um dann festzustellen, dass dieses Erfordernis die Bundesrepublik
Deutschland in die Lage versetzt, die Verabschiedung einer Ihrer Ansicht nach unangemessen großzügigen Einwanderungspolitik zu verhindern. Hier wird also darauf
abgestellt, dass Deutschland die Möglichkeit einer Blockadepolitik hat, die auch in Anspruch genommen werden sollte. - Das kann sich vielleicht eine Opposition
leisten, aber eine Regierung kann nicht so verfahren,
wenn sie ein produktiver und konstruktiver Teil Europas
sein möchte.
({2})
Jenseits der Verfahrensfrage ist in der umfangreichen
Begründung des Antrags noch einmal alles zusammengetragen worden, das Ihre Sicht der Welt, der Migration
und der Flüchtlingspolitik offenbart. In der Tat wird wieder deutlich, wie tief der Graben ist. Sie stellen erneut
darauf ab, dass der Entwurf des Zuwanderungsgesetzes,
der den Bundestag bereits passiert hat, vermeintlich zu
einer massiven Zunahme der Einwanderung führen
würde.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Sie noch einmal
zu bitten: Hören Sie doch mit dieser Verunsicherung
der Bevölkerung auf, die sachlich nicht haltbar ist!
({3})
Vielleicht muss ich es noch einmal Punkt für Punkt ausführen, wenn es Ihnen so schwer fällt, es zu verstehen.
Welche Zuwanderungsmöglichkeiten die EU-Bürgerinnen und Bürger haben,
({4})
entzieht sich aufgrund des Rechts auf Freizügigkeit jeglicher nationalen Gesetzgebung - sowohl unter unserer
Regierung als auch unter einer von Ihnen geführten Regierung.
Was den Familiennachzug aus Drittländern angeht,
behaupten Sie fälschlicherweise, das sei die inzwischen
größte Zuwanderungsgruppe unter in Deutschland lebenden Ausländern. Das ist in der Sache falsch. Offensichtlich haben Sie noch nicht gemerkt, dass sich auch
die Zusammensetzung unserer Bevölkerung ändert. Es
gibt nämlich zunehmend mehr Deutsche, die Ausländer
oder Ausländerinnen heiraten. Bei dem Ehegattennachzug von Ausländern nach Deutschland handelt es sich zu
mehr als 50 Prozent um den Zuzug zu Deutschen, die außerhalb des Landes geheiratet haben. Wollen Sie diesen
Menschen erklären, dass Sie das Recht auf Zusammenleben in einer Familie gesetzlich einschränken wollen?
({5})
- Wenn Sie sagen, darum gehe es nicht, stimmen wir in
dieser Frage ja überein. - Insofern gibt es auch in diesem
Bereich nur begrenzte Steuerungsmöglichkeiten.
Es gibt des Weiteren die Gruppe der Spätaussiedler.
Gestern haben wir im Innenausschuss darüber gesprochen, dass es scheinbar fraktionsübergreifend Überlegungen gibt, die Ansiedlungspolitik sehr behutsam und
sensibel zurückzufahren.
Daneben gibt es die Gruppe der jüdischen Kontingentzuwanderer. Ich gehe davon aus, dass niemand in diesem
Haus diese Zuwanderung infrage stellt. Und schließlich
gibt es die Gruppe der Asylbewerber, die Schutz suchen
und die aufgrund von völkerrechtlichen Verbindlichkeiten - sei es die Genfer Flüchtlingskonvention, sei es die
Europäische Menschenrechtskonvention - auch ein
Recht auf Schutz in Deutschland haben.
Das alles ist bisher in dem alten Ausländerrecht geregelt gewesen und wird auch in dem neuen Ausländerrecht geregelt sein. Es wird nur ein neues Türchen aufgestoßen: Es wird nämlich die Möglichkeit geben,
Arbeitsmigranten aus Drittstaaten in denjenigen Bereichen anzuwerben, in denen der deutsche Arbeitsmarkt
kein Arbeitskräfteangebot vorhalten kann.
({6})
Es ist absehbar, dass angesichts einer solch hohen Arbeitslosigkeit wie im Augenblick dieses kleine Türchen
sehr schmal bleiben wird; denn es gilt das Vorrangprinzip. Es ist durch nichts, aber auch durch gar nichts gerechtfertigt, dass Sie ständig - offensichtlich bewusst;
denn Sie müssten inzwischen in der Lage sein, den Gesetzentwurf zu lesen - Verunsicherung und Ängste in der
Bevölkerung hervorrufen, indem Sie vor einem drohenden massenhaften Zuzug warnen. Es ist schlichtweg
nicht in Ordnung, bei einem solch sensiblen Thema in
dieser Art und Weise öffentlich zu agieren.
({7})
Ich möchte noch auf einen anderen inhaltlichen Kernpunkt zu sprechen kommen. Sie verbinden - das hat sich
schon in der gestrigen Beratung des Innenausschusses
gezeigt - die Ausländerinnen und Ausländer überwiegend mit Worten wie „Defizit“, „Problem“, „Herausforderung“ oder „Konflikt“. Offensichtlich wollen Sie nicht
zur Kenntnis nehmen, dass inzwischen eine große Zahl
von Migrantinnen und Migranten Teil unserer Bevölkerung geworden ist, dass sie zu uns gehören und integriert
sind. Natürlich gibt es auch Probleme. Aber Ihre Argumentation, dass eigentlich alle Ausländer tendenziell ein
Problem seien und dass wir deswegen alles versuchen
müssten, um so viele Grenzen wie nur möglich hochzuziehen, wirkt negativ auf das Klima und die Stimmung
in unserer Bevölkerung und auch darauf, wie Migranten,
aber auch wie Menschen, die erkennbar anders aussehen,
von unserer Bevölkerung angesehen und angesprochen
werden. Das - das sage ich Ihnen aus tiefer Überzeugung; hier spreche ich als Anwältin der Migranten - spüren viele Migranten in winzig kleinen Alltagsgesten, Zurückweisungen und Ressentiments auf sprachlicher
Ebene, aber auch durch Blicke, durch Wegrücken und
durch vieles mehr.
Ich möchte Sie noch einmal bitten, darüber nachzudenken, dass Sie Verantwortung für das übernehmen,
was Sie tun. Ein Klima, das es Menschen, die von woanders herkommen, schwer macht, gleichberechtigt und
anerkannt in unserem Land zu leben, dürfen Sie nicht
mit erzeugen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Beck, was Sie eben gemacht haben, ist nicht in
Ordnung; denn Sie haben um einen ganz entscheidenden
Punkt herumgeredet. Zurzeit liegen auf dem Tisch des
EU-Innenministerrates eine Vielzahl von Richtlinienentwürfen, die das Asylrecht betreffen. Sie müssen schon
den Zuschauern und den Kollegen deutlich machen, dass
man dann, wenn diese Entwürfe EU-Recht werden würden, den gesamten Asylkompromiss von CDU/CSU,
SPD und FDP vergessen könnte.
({0})
Die Drittstaatenregelung, das Flughafenverfahren und
die Liste über die sicheren Herkunftsländer wären weg.
Dann hätten wir nicht ein Türchen, sondern ein riesiges
Einfallstor für eine neue Zuwanderung aufgemacht.
Dann bekommen Sie Integration, die von Deutschen und
Ausländern gleichermaßen akzeptiert wird, nicht mehr
hin. Deshalb ist es nicht in Ordnung, dass Sie diesen Aspekt des Asylrechts in Ihrer Rede völlig ausgeschlossen
haben.
({1})
Herr Stadler, Sie haben den Sachverhalt auch nicht
ganz richtig dargestellt, was die Europafestigkeit des
Grundrechts auf Asyl angeht. Das ist gerade unser Problem. Weil wir als einziges Land in Europa einen Individualanspruch, ein so ausgestaltetes, nicht europataugliches Asylrecht haben, haben wir die Probleme.
({2})
Hätten wir wie alle übrigen Länder eine reine Institutsgarantie, könnten wir uns viel eher über Harmonisierung
auf europäischer Ebene unterhalten.
({3})
Das Grundrecht auf Asyl
({4})
hat eben die Konsequenz, dass wir wie kein anderes
Land in Europa von Zuwanderung durch Asylbewerber
betroffen sind, die kein Recht haben, sich auf das Asylrecht zu berufen. Das ist das Thema.
({5})
Frau Staatssekretärin, damit es da keine Unklarheiten
gibt: Die Frage, wie das Problem der Zuwanderung im
neuen Verfassungsvertrag zu behandeln ist - das steht
auch in dem Artikel der „Rheinischen Post“, und zwar
ganz am Ende -, ist zwischen CDU und CSU, auch in
unserer Fraktion, völlig unstreitig. Wir sind grundsätzlich dafür, dass das in die nationale Zuständigkeit zurückgeführt wird, weil mit diesem Verfassungsvertrag
auch eine klare Kompetenzabgrenzung bezweckt war
und nicht zuletzt auch deshalb, weil sich gerade in
Deutschland das Problem der Zuwanderung mit einer
Schärfe stellt, wie das in keinem anderen Land der Fall
ist.
({6})
Deswegen geht es bei der Frage, wie man den Verfassungsvertrag sieht, auch ein bisschen darum, nationale
Interessen wahrzunehmen. Auch den Blick dafür sollten
wir nicht verlieren.
Es ist zu befürchten, dass sich der deutsche Innenminister heute im Innenministerrat wieder an einem
schlechten Schauspiel beteiligt,
({7})
bei dem in Wahrheit die Grünen Regie führen. Der Kollege Volker Beck hat in Interviews mehrfach ganz offen
die Strategie vorgegeben. Ich zitiere, was er gesagt hat:
Falls kein Kompromiss über das Zuwanderungsgesetz zustande kommt, können wir besser mit den
Regelungen leben, die auf europäischer Ebene sowieso kommen.
({8})
Ich sage Ihnen: Es ist nicht entscheidend, womit die
Grünen leben können, sondern es ist entscheidend, womit Deutsche und - ich betone: und! - Ausländer leben
können.
({9})
Deutsche und Ausländer, Frau Beck, brauchen ein
Klima, in dem Integration möglich ist,
({10})
in dem es auf beiden Seiten Integrationsbereitschaft gibt.
Deswegen haben wir über ein Integrationsgesetz und
über weiter gehende Maßnahmen im Bereich der Integration gesprochen. Ich sage Ihnen: Das von Ihnen gewünschte Klima bekommen wir nur, wenn wir uns um
mehr Integration, aber nicht um mehr Zuwanderung
kümmern. Das ist unser entscheidender Ansatz und darin
unterscheiden wir uns. Das ist wahr.
({11})
Ich will die Auswirkungen der europäischen Richtlinien auf das deutsche Ausländerrecht nur an einem
Beispiel erläutern. Nach dem, was wir aus Luxemburg
gehört haben, ist heute offenbar der Richtlinienvorschlag
zum Status langfristig aufhältiger Drittstaatsangehöriger
- in der Sprache der EU-Bürokraten heißt das so - abschließend beraten worden. Die Kommission will - das
ist offenbar angenommen worden -, dass Ausländer bereits nach fünfjährigem Aufenthalt eine Aufenthaltsverfestigung bekommen, ohne dass dafür ein eigener Integrationsbeitrag geleistet werden muss. Wenn das
Wirklichkeit wird, dann können wir Integrationskurse im
Ausländerrecht vergessen.
({12})
Wir sagen: Wer sich als Ausländer
- ich will nur den Satz zu Ende führen; dann kann
Herr Winkler gern fragen - beharrlich weigert, unsere
Sprache zu lernen, wer jedes bisschen Integration verweigert, der darf doch nicht automatisch eine Aufenthaltsverfestigung bekommen. Wir brauchen doch einen
Anreiz, damit es zur Integration kommt. Deswegen ist es
sinnvoll, Aufenthaltsverfestigung an Integrationsleistungen zu knüpfen. Das haben Sie heute in Luxemburg
aufgegeben. Hinter den verschlossenen Türen des Rates
haben Sie wieder unsere Diskussion um das Zuwanderungsrecht vorbestimmt und einen ganz zentralen Punkt,
wo es um mehr Integration geht, unmöglich gemacht.
({0})
Dieses Verfahren ist nicht in Ordnung. Das lehnen wir
ab.
({1})
Herr Kollege Grindel, wären Sie bereit, anzuerkennen, dass Ihre Formulierung, Zuwanderung sei ein Problem, dazu beitragen könnte, genau das gesellschaftliche
Klima zu erzeugen, von dem Sie gerade sagten, dass
auch Sie es nicht erzeugen wollen, nämlich ein gegenüber Zuwanderern feindliches Klima, und wären Sie bereit, in Zukunft Ihre Formulierung diesbezüglich zu
überdenken?
({0})
Für mich, lieber Kollege Winkler, sind Ausländer
kein Problem. Für mich sind nicht integrierte Ausländer
ein Problem.
({0})
Für mich ist ein Problem, dass mir immer mehr Menschen sagen: Was redet ihr im Parlament eigentlich herum? Guckt doch mal auf die Straßen, um zu sehen, welche Probleme wir haben
({1})
mit - das ist nicht zu leugnen - Intensivtätern aus der
Türkei, aus arabischen Ländern und, wie ich gern zugeben will, auch mit jugendlichen Aussiedlern.
Herr Kollege Winkler, die Integration in diesem Land
wird scheitern, wenn wir die Sorgen und Nöte der Menschen nicht ernst nehmen, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass wir uns damit nicht auseinander setzen,
weil wir es für politisch nicht opportun halten.
({2})
Um es ganz klar zu sagen: Es ist zum Beispiel auch
ein Mittel, um Rechtsextremisten zu bekämpfen. Den
Rechtsextremisten dürfen wir keinen Fußbreit weichen;
deswegen müssen wir diese Themen aufgreifen und uns
mit ihnen auseinander setzen. Wir dürfen sie nicht aufgrund einer - wie auch immer gearteten - politischen
Kultur verschweigen. Deswegen sprechen wir diese Probleme an.
({3})
Wenn wir schon über die Harmonisierung des Asylrechts in Europa reden: Warum hat die Europäische
Kommission bis heute eigentlich keine Richtlinie für
eine gerechtere Lastenverteilung in Europa vorgelegt? Der für das Asylrecht zuständige EU-Kommissar
ist ein portugiesischer Sozialist.
({4})
Portugal hat im letzten Jahr 245 Asylbewerber aufgenommen und gehört zu den größten Nettoempfängern innerhalb der Europäischen Union. Es wäre doch nur fair,
wenn uns Portugal einige Tausend Asylbewerber abnähme, so wie es bei der Verteilung der Asylbewerber
auf die einzelnen Bundesländer der Fall ist. Ich frage
mich, ob dieser portugiesische Kommissar noch die gleichen - relativ weltfremden - Richtlinienentwürfe wie
derzeit vorlegen würde, wenn es innerhalb der EU eine
Lastenverteilung gäbe.
({5})
Diese Frage richtet sich nicht nur an den Kommissar
aus Portugal, sondern auch an den deutschen Bundesinnenminister. Warum hat Herr Schily nicht ein einziges
Mal gesagt: Ich will eine Richtlinie zur Lastenverteilung; sonst behalten wir die vielen Fragen der Zuwanderung in der Zuständigkeit der nationalen Parlamente und
Regierungen?
({6})
Wenn es um eine Harmonisierung geht, müssen wir
auch über die Sozialleistungen sprechen. Die Bedingungen sind in keinem anderen Land so attraktiv wie in
Deutschland. In vielen EU-Ländern - auch das müssen
Sie einmal zur Kenntnis nehmen - gibt es für Asylbewerber nur sehr geringe Sozialleistungen, die zudem
zeitlich begrenzt sind. Dort gibt es eine medizinische
Versorgung nur in absoluten Notfällen. NGOs und gemeinnützige Einrichtungen spielen bei der Versorgung
der Asylbewerber in vielen EU-Ländern die entscheidende Rolle.
Wenn wir den Rechtsrahmen für Asylbewerber in Europa schon vereinheitlichen, dann sollten Asylbewerber
in Deutschland auch in Zukunft nur so versorgt werden,
wie das in Österreich, in den Niederlanden, in Italien
oder in Spanien üblich ist.
({7})
Wenn wir über die Kürzung sozialer Leistungen in vielen Bereichen sprechen, dann muss es auch erlaubt sein,
über Kürzungen bei Sozialleistungen für Asylbewerber
und geduldete Ausländer nachzudenken.
({8})
Einige Zyniker sagen: Was regt ihr euch auf? Wenn
Rot-Grün so weitermacht, dann werden bald auch die
Asylbewerber einen Bogen um Deutschland machen. So denken wir nicht. Wir wollen, dass es mit unserem
Land wieder aufwärts geht. Wir wollen aber nicht, dass
es mit den Asylbewerberzahlen wieder aufwärts geht.
Das wäre aber die unweigerliche Konsequenz, wenn die
Vorschläge für die Asylrichtlinien tatsächlich EU-Recht
werden würden. Das müssen jeder politisch Verantwortliche und jeder Bürger in unserem Land wissen. Deshalb
erwarten wir von der Bundesregierung und ihrem Innenminister, dass diese Richtlinienentwürfe, so wie sie jetzt
auf dem Tisch liegen, sofort in den Schreibtischen der
Kommission wieder verschwinden und niemals Gesetz
werden. Dazu sollte Herr Schily in Brüssel, in Luxemburg, in Saloniki oder wo auch immer seinen Beitrag
leisten.
Schönen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Lale Akgün, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte
es für wichtig, dass dieses Thema heute auf der Tagesordnung steht. Nicht dass ich im Antrag der CDU/CSU
irgendetwas Sinnvolles und Beschließenswertes entdeckt hätte, aber man kann anhand dieses Antrags erkennen und deutlich machen, wie konfus, konzeptlos und
rückwärts gerichtet die Vorstellungen der Union von Zuwanderungspolitik und vom künftigen Europa sind.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion,
insbesondere liebe Kollegen Grindel und Schröder, es
gibt kaum ein Thema, das in den letzten Wochen und
Monaten von den Innenpolitikern so intensiv diskutiert
wurde wie dieses: In jeder Sitzungswoche gab es Treffen
der Berichterstatter, für Juli ist eine Anhörung angesetzt
und der Innenausschuss hat mehrfach einzelne Richtlinien diskutiert. Das Ergebnis all dieser Beratungen ist,
dass Sie heute einen Antrag vorgelegt haben, in dem Sie
behaupten, Sie seien nicht ausreichend informiert.
Ihre vorgebrachten Argumente zeigen: Es mangelt Ihnen nicht an Information, sondern an Verständnis für die
Zusammenhänge und vor allem an europäischem Bewusstsein.
({1})
Ich will das anhand einiger grundsätzlicher Punkte
- die Formulierung der einzelnen Richtlinien diskutieren
wir ja wöchentlich, auch wieder im Anschluss an diese
Debatte - aufzeigen.
Widerspruch eins: Sie beklagen - ich zitiere - „den
weit gehenden Verlust der nationalen Gestaltungsfähigkeit in Asyl-, Ausländer- bzw. Zuwanderungsfragen“
und erwarten, dass die Bundesregierung das deutsche
Ausländerrecht in den Verhandlungen über die Richtlinien eins zu eins abbildet. Sie fordern sogar, die Bundesregierung müsse ein Veto einlegen, wenn dies nicht vollständig gelinge.
Nur einige Absätze später formulieren Sie folgenden
Satz:
Ziel einer europäischen Ausländer-, Zuwanderungs- und Asylpolitik muss es sein, im gesamten
Raum der EU gleiche Regelungen für Aufnahme,
Aufenthalt und Aufenthaltsbeendigung von Flüchtlingen ... zu schaffen ...
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grindel?
Bitte.
Frau Kollegin Akgün, ich stimme Ihnen zu, dass wir
häufig - auch gestern im Ausschuss - über diese Themen gesprochen haben. Aber wie bewerten Sie es denn,
dass die Bundesregierung im Vorfeld des heute tagenden
Innenministerrats zunächst davon gesprochen hat, dass
es bei der Entscheidung über die von mir angesprochene
Richtlinie noch einige schwierige Punkte gebe, über die
Einigung zu erzielen sei, weswegen mit einer Einigung
nicht zu rechnen sei, und uns eine Presseagentur heute
mitteilt, dass sich der Innenminister über diese Richtlinie
gerade mit seinen 14 Kollegen verständigt hat?
({0})
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
zwar darüber geredet haben - das beklagen wir nicht -,
wir über den wirklichen Verhandlungsstand und darüber,
wie der Innenminister die Verhandlungen im Rat vorantreibt, aber überhaupt nicht informiert werden?
Herr Kollege Grindel, Sie haben es doch selbst gesagt: Wenn man die Verhandlungsergebnisse vorher
wüsste, bräuchte man nicht mehr zu verhandeln. Was
wollen Sie eigentlich? Gleiche Regeln in ganz Europa,
aber bitte für alle verbindlich mit heute gültigen deutschen Rechtsnormen? Oder wollen Sie, dass man wirklich versucht, der europäischen Dimension zur Geltung
zu verhelfen?
({0})
Sie müssen doch verstehen: Die 15 Staaten haben völlig unterschiedliche - teils liberale, teils restriktive - Regelungen zur Zuwanderung. Wollen Sie, dass wir die Ergebnisse schon vorher in der Tasche haben? Das geht
nicht, Herr Grindel.
({1})
So kann man nicht miteinander verhandeln.
Deutschland besitzt viele Spezifika im Ausländerrecht, die anderen Staaten völlig unbekannt sind. Wir
unterscheiden zum Beispiel beim Familiennachzug zwischen GFK-Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten. In solchen Fragen müssen Kompromisse gefunden
werden, die der Situation aller Mitgliedstaaten gerecht
werden.
Ihre Forderung ist so, als würden die Briten ein einheitliches Verkehrsrecht in der EU fordern; aber nur
dann, wenn alle anderen Staaten auf Linksverkehr umstellen.
({2})
Wissen Sie, was bemerkenswert ist? Der Bundesinnenminister hat es in zähen Verhandlungen geschafft, in den
meisten Punkten das deutsche Recht abzubilden, sprich:
den Linksverkehr in Europa durchzusetzen. Jetzt kommen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
und sagen: Linksverkehr reicht uns nicht; wenn die deutsche Norm für die Rückspiegelgröße nicht übernommen
wird, legen wir ein Veto ein.
({3})
Oder um es auf unser Thema zu übertragen: Wegen
einer eventuellen minimalen Änderung des Rechtsstatus
einiger weniger wären Sie bereit, die europäische Einigung in einem solch wichtigen Punkt zu begraben. Darf
ich Sie daran erinnern, dass die Vorgehensweise und die
Zuständigkeit der EU für diese Frage im Amsterdamer
Vertrag geregelt sind? Darf ich Sie daran erinnern, dass
die Unionsparteien den Amsterdamer Vertrag mitgetragen, ja, in ihrer Regierungszeit entscheidend mitverhandelt haben? Wo ist denn der europäische Geist Ihrer Partei geblieben? Wo ist der europäische Geist - das sage
ich als Kölnerin - eines Konrad Adenauer geblieben? Er
würde sich angesichts Ihrer Europaskepsis heute im
Grab umdrehen.
({4})
Widerspruch zwei: Sie fordern, dass die Bundesregierung strikt nach dem heute geltenden deutschen Ausländerrecht und nicht nach dem Zuwanderungsgesetz verhandelt. Gleichzeitig lese ich in Ihren Kommentaren zu
den einzelnen Richtlinien, dass Sie sich selbst nicht nach
dem deutschen Ausländerrecht richten, sondern andere,
zum Teil dem Zuwanderungsgesetz ähnliche Regelungen fordern.
Hier ist zum einen die Familienzusammenführung
zu nennen. Die Bundesregierung hat es in einem Kraftakt geschafft, ein Kindernachzugsalter von zwölf Jahren
durchzusetzen, wie es auch im Zuwanderungsgesetz
steht, übrigens gegen alle anderen Mitgliedstaaten, die
ein Nachzugsalter von 18 Jahren haben.
Jetzt sagen Sie Folgendes: Das Nachzugsalter ist noch
immer zu hoch, Sie wollen ein Nachzugsalter von maximal zehn Jahren, manchmal auch von sechs, wie es gerade passt; wir sollen uns nicht am Zuwanderungsgesetz,
sondern am geltenden Recht orientieren. Das Problem
ist: Im geltenden deutschen Ausländerrecht ist das Nachzugsalter 16 Jahre. Deswegen müssen Sie mir schon erklären, was Sie eigentlich wollen: den mit Ihnen im Zuwanderungsgesetz ausgehandelten Kompromiss oder das
geltende Recht? Oder, andersherum gefragt: Was ist
mehr, zehn oder 18?
Dann gibt es in Ihrem Antrag die Forderung, fünf Jahre
rechtmäßiger Aufenthalt seien nicht ausreichend für die
Erlangung eines langfristigen EU-Aufenthaltsrechts.
Ich frage mich, wie das mit deutschem Recht konform
geht; denn das sieht schon heute die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach fünf Jahren vor.
Sie fordern einen Integrationsbeitrag durch Erlernen
der deutschen Sprache. An diesem Punkt sind wir uns
völlig einig; aber das steht so nicht im Ausländerrecht,
sondern im Zuwanderungsgesetz.
({5})
Es gibt einen dritten Punkt, bei dem wir uns in der Tat
am Zuwanderungsgesetz orientieren, und zwar ganz bewusst: Das ist die Anerkennung der nicht staatlichen
und geschlechtsspezifischen Verfolgung als Fluchtgrund. Wir tun das - ich sage es noch einmal - ganz bewusst, weil wir die Einzigen in Europa sind, die sich einer solchen Statusverbesserung für wenige Hundert
Personen bisher verschließen. Es kann doch nicht das
Ziel deutscher Politik sein, im humanitären Bereich auf
ewig europäisches Schlusslicht zu bleiben. Da sollten
Sie von Ihrer Position herunterkommen. Ihre konservativen und christdemokratischen Freunde in den anderen
EU-Staaten teilen Ihre Position in diesem Punkt übrigens
auch nicht.
Widerspruch Nummer drei: Sie fordern von der EU ein
Gesamtkonzept im Bereich Asyl- und Einwanderungspolitik. Andererseits sprechen Sie der EU an allen Ecken
und Enden die Kompetenz für dieses Thema ab und torpedieren selbst einzelne Richtlinienvorschläge bei jedem
denkbaren Nebensatz.
({6})
Auch da weiß ich nicht, was Sie eigentlich wollen.
Was ich weiß, ist: Sie haben vor kurzem eine hervorragende Gelegenheit verpasst, ein gutes Gesamtkonzept
im Bereich Asyl- und Einwanderungspolitik auf nationaler Ebene mit zu beschließen, nämlich das Zuwanderungsgesetz. Auch hier war Ihre Taktik leider genau so
wie heute im europäischen Bereich: zuerst ein Gesamtkonzept fordern, dann Einzelforderungen für einen Kompromiss aufstellen, und wenn die Forderungen dann im
Kompromisspapier stehen, wird das Ergebnis abgelehnt,
weil es nicht der Maximalforderung entspricht. Sie sagen
mal Ja, mal Nein, weil Sie im Bereich Zuwanderung gar
kein Konzept haben und nicht wissen, was Sie wollen.
Einen klugen Satz habe ich in Ihrem Antrag gelesen.
Er heißt:
Wer umfassende Problemstellungen ohne Berücksichtigung von Zusammenhängen erledigen will,
verliert zwangsläufig den Überblick.
Der Satz ist nicht deshalb klug, weil wir dadurch im
Thema weiterkämen, sondern deshalb, weil er eine passende Zustandsbeschreibung Ihrer Politik ist. Zuwanderung ist ein komplexes Thema, das eine langfristige Perspektive braucht und bei dem alle Zusammenhänge
berücksichtigt werden müssen: Arbeitsmarkt, Demographie, Integration, Fluchtursachenbekämpfung und vieles
mehr.
Sie verlieren den Überblick, weil Sie zurzeit nur einen
Zusammenhang sehen, nämlich den zwischen konfuser
Zuwanderungspolitik, populistischen Forderungen und
den anstehenden Landtagswahlterminen. Das aber ist
kein Konzept.
Daher rate ich Ihnen: Lassen wir diesen Antrag
schnell verschwinden; denn er ist unaktuell, inhaltlich
falsch und uneuropäisch. Lassen wir ihn verschwinden
und kehren wir zur konkreten Sacharbeit zurück, so wie
wir es in den letzten Wochen und Monaten getan haben.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Die Vorgehensweise, mit der die Bundesregierung beharrlich versucht, ihre Zielsetzungen in puncto
Zuwanderung und Migration durchzusetzen, ist einem beim
Verhalten von Kleinkindern bestens bekannt. Sie werden es
schon öfter festgestellt haben: Wenn ein Kind seinen Willen
bei der Mutter nicht durchsetzen kann, dann versucht es
dies flugs darauf beim Vater. Rot-Grün ist am
18. Dezember vergangenen Jahres mit dem Zuwanderungsgesetz kläglich vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert,
({0})
hat aber nichts Besseres zu tun, als das Zuwanderungsgesetz wortgleich in den Bundestag einzubringen und
nebenbei über die Hintertür der europäischen Zuwanderungs- und Asylpolitik die eigenen ideologischen Zielsetzungen zu verfolgen.
({1})
Der Parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/
Die Grünen, der Kollege Volker Beck, hat dieses Ansinnen in verräterischer und offenkundiger Art und Weise
offenbart, indem er sich nach dem Scheitern des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht in der „Welt“ vom 21. Dezember 2002 wie
folgt äußerte:
Dann können wir besser mit dem geltenden Ausländerrecht leben und mit den Regelungen, die auf europäischer Ebene sowieso kommen …
({2})
Ein weiteres markantes Beispiel für die Ignoranz des
Bundesinnenministers Schily gegenüber Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts ist, dass er Ende Mai,
also erst vor kurzem, in Nürnberg ohne rechtliche
Grundlage den im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen
Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration
installierte.
({3})
Dies stellt eine eklatante Missachtung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundestages und des Bundesrates dar.
({4})
Nahezu unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit
erfolgen auf europäischer Ebene derzeit entscheidende
Weichenstellungen für das künftige deutsche Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrecht. Dabei muss allen eines
klar sein: Der einzige Garant dafür, dass wir in Deutschland eine Zuwanderungspolitik betreiben können, die
insbesondere den gesellschafts- und arbeitsmarktpolitischen Anforderungen entspricht, kann nur die Bundesregierung sein; denn auf europäischer Ebene können wir
für unsere Belange keine Schützenhilfe erwarten.
Aber die Bundesregierung wird diesem Auftrag nicht
gerecht;
({5})
Stephan Mayer ({6})
denn eine effektive Zuwanderungsbegrenzung ist nicht
das Anliegen der rot-grünen Koalition. Es kann nicht angehen, dass der Bundesinnenminister Schily auf europäischer Ebene nicht auf Grundlage des derzeit in Deutschland gültigen Ausländer- und Asylrechts verhandelt,
sondern auf Grundlage des ideologisch verbrämten Zuwanderungsgesetzes.
({7})
Das Ziel ist klar: Es sollen auf europäischer Ebene
vollendete Tatsachen geschaffen werden, weil Ihnen bewusst ist, dass das von Ihnen eingebrachte Zuwanderungsgesetz in Deutschland in der vorliegenden Form
nie Rechtswirklichkeit erlangen kann.
Es ist ein Unding, dass hinterrücks über die Verabschiedung einiger weniger EU-Richtlinien wichtige und
unabdingbare Grundpfeiler unseres Asyl- und Zuwanderungsgesetzes ausgehebelt und ausgehöhlt werden. Kein
anderer Staat Europas hat so viele Ausländer aus NichtEU-Staaten wie Deutschland. Zwischen 1996 und 2000
lag die Zahl derjenigen, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kamen, zwischen 55 886
und 75 888 Personen.
({8})
Die Zahlen weisen also eindeutig eine steigende Tendenz auf.
Vor diesem Hintergrund sind die in dem Entwurf einer Familienrichtlinie beabsichtigten großzügigen Familiennachzugsmöglichkeiten für Deutschland besonders
belastend. So kann es eben nicht angehen, dass ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bereits nach fünf Jahren
besteht sowie ein Anspruch auf Ehegattennachzug geschaffen wird, auch wenn die Ehe erst nach der Einreise
geschlossen wurde.
Vor dem Hintergrund unserer ohnehin äußerst angespannten Lage unserer sozialen Sicherungssysteme ist es
nicht akzeptabel, dass die Richtlinie den Familiennachzug zu Flüchtlingen vorsieht, auch wenn kein ausreichender Nachweis über Wohnraum, Krankenversicherung und Unterhalt erbracht wird.
({9})
Eine generelle Ausweitung der Zuwanderung ist
ebenfalls nicht sachgerecht. Abgesehen davon, dass die
Europäische Union über keinerlei Kompetenz zur Arbeitsmarktregelung verfügt und auch nicht verfügen soll,
ist es nicht tragbar, dass angesichts der heute Vormittag veröffentlichten aktuellen Arbeitslosenzahlen von 4,42 Millionen für Deutschland und 15 Millionen für Europa die
Voraussetzungen für Nicht-EU-Ausländer zur Arbeitsaufnahme in Deutschland drastisch reduziert werden.
Als der Anwerbestopp für Nicht-EU-Ausländer von der
damaligen sozial-liberalen Koalition 1973 verhängt
wurde, betrug die Arbeitslosenquote in Deutschland
1,2 Prozent. Heute beträgt die bundesweite Arbeitslosenquote über 10 Prozent. Die rot-grüne Bundesregierung beabsichtigt dennoch, den Anwerbestopp für NichtEU-Ausländer aufzuheben.
Der Richtlinienvorschlag über Bedingungen für die
Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen
zur Ausübung einer selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit sieht vor, dass ein einklagbarer Anspruch auf einen Aufenthaltstitel geschaffen wird, wenn
eine freie Stelle nicht innerhalb von nur drei Wochen anderweitig besetzt werden kann. Ich fordere die rot-grüne
Bundesregierung deshalb nachdrücklich auf, sich mit aller Kraft gegen diesen Richtlinienvorschlag zur Wehr zu
setzen; denn schon heute ist der Anteil der Arbeitslosen
unter den Ausländern in Deutschland doppelt so hoch
wie unter den Deutschen und der Anteil der Sozialhilfeempfänger unter den Ausländern ist dreimal so hoch wie
unter der deutschen Bevölkerung.
Weitere Kernelemente des deutschen Asyl- und Zuwanderungsrechts, die Drittstaatenregelung, die Herkunftsstaatenregelung sowie die Flughafenregelung, sollen über die Hintertür Europa - die Zahlen sprechen für
sich - ad absurdum geführt werden.
({10})
- Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, die Neuerung des deutschen Asylrechts aus dem Jahre 1993 hat sich bewährt. So
sank zwischen 1993 und heute die Zahl der Asylbewerber
von 438 000 auf circa 71 000 Personen pro Jahr.
({11})
Die Drittstaatenregelung soll nun laut dem Richtlinienentwurf über Mindestnormen für Asylverfahren sowie Zu- und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft
dadurch aus den Angeln gehoben werden, dass es keine
Einreiseverweigerung an der Grenze ohne Einleitung eines Asylverfahrens mehr geben darf und dass grundsätzlich eine individuelle Einzelfallprüfung zu erfolgen hat.
Eine Abweisung an der Grenze durch die Grenzbehörden wäre dann nicht mehr möglich und die Drittstaatenregelung wäre eine jederzeit widerlegbare Vermutung.
Auch einer Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs
kann in der von der Europäischen Union beabsichtigten
Form nicht unwidersprochen zugestimmt werden.
({12})
Rot-Grün muss sich endlich von dem Wunschgedanken
verabschieden, das gesamte Unheil der Welt auf deutschem Boden lösen zu wollen und zu können.
({13})
Es besteht daher überhaupt kein Anlass, den Flüchtlingsbegriff auf nicht staatliche und geschlechtsspezifische
Verfolgung zu erweitern. Abgesehen davon gilt es, ganz
Stephan Mayer ({14})
deutlich darauf hinzuweisen, dass das deutsche Ausländerrecht schon in der heute gültigen Form ausreichend
Möglichkeiten bietet,
({15})
dass Personen, die geschlechtsspezifisch oder nicht
staatlich verfolgt werden, nicht abgeschoben werden
können. Ich erinnere an dieser Stelle an § 53 des Ausländergesetzes.
({16})
Deutschland ist ein ausländerfreundliches und offenes
Land.
({17})
Die deutsche Bevölkerung ist gerne bereit, Ausländer in
die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Dies sieht man
allein daran, dass in Deutschland mit 9,3 Prozent nahezu doppelt so viele Ausländer leben wie durchschnittlich in den anderen Ländern der Europäischen Union.
Nur ist es als politische Verantwortungsträger unsere
Pflicht und Schuldigkeit, die Integrationskraft und die
Integrationsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland nicht zu überfordern und über Gebühr zu
belasten,
({18})
indem die ohnehin schon eine Größenordnung von Städten wie Dortmund und Nürnberg umfassende jährliche
Zuwanderung von 600 000 Personen ungezügelt und
unkalkulierbar erhöht wird.
({19})
Die Bundesregierung kann an der entscheidenden
Stellschraube drehen. Der Bereich des Einwanderungsund Zuwanderungsrechts unterliegt auf europäischer
Ebene dem Einstimmigkeitserfordernis. Werden Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, daher endlich Ihrer nationalen Verantwortung gerecht! Verhindern Sie eine weitere Liberalisierung des Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrechts
auf europäischer Ebene und sorgen Sie dafür, dass eine
ausgewogenere und gerechtere Verteilung zwischen den
Mitgliedsländern innerhalb der Europäischen Union erreicht wird!
({20})
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Schluss der Debatte bietet immer die Möglichkeit,
von den Aufgeregtheiten, Zuspitzungen, Übertreibungen
und Horrorszenarien auf den Kern dessen zurückzukommen, worüber Sie heute sprechen wollen. Der Kern ist
im Grunde die Fragestellung: Wollen wir eine Wagenburg Deutschland, in die möglichst kein Nichtdeutscher
hineinkommt,
({0})
oder wollen Sie der Tatsache Rechnung tragen, dass
Deutschland wie auch seine Nachbarn ein Land ist,
({1})
das Zuwanderung und Abwanderung erlebt?
({2})
Noch wichtiger ist die Frage: Wollen wir eine Lösung
für Deutschland, also nach deutschem Muster, auf 14 andere Länder übertragen - ab nächstem Jahr auf zehn weitere Länder - oder wollen wir im 21. Jahrhundert eine
fortschrittliche Lösung für - das betone ich - Europa, die
der Tatsache der Globalisierung Rechnung trägt? Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, haben praktisch nur über Deutschland, Deutschland,
Deutschland gesprochen.
({3})
Sie wollen den Ausländer an sich nicht. Er ist in Ihrer
Weltanschauung ein Problem.
({4})
Das ist keine Grundlage für eine humane und fortschrittliche Lösung.
Herr Kollege Bürsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?
Herr Grindel, wenn Sie später auf Ihre Zwischenfrage
zurückkommen, gerne.
Eines will ich Ihnen aus didaktischen Gründen vor
Augen führen - Stichwort: Europa; es ist immer wieder
einmal gut, auf die Grundlagen einzugehen -: Der Europäische Rat von Tampere hat im Oktober 1999 grundlegende politische Vorgaben für eine europäische Migrationspolitik definiert. Die Eckpunkte lauten:
Erstens. Die Europäische Union soll eine umfassende
Asyl- und Einwanderungspolitik entwickeln und dabei
der Notwendigkeit der Kontrolle der Außengrenzen
Rechnung tragen. - Das ist ein Auftrag.
Zweitens. Die Gemeinschaft bekennt sich für die Bereiche Flucht und Asyl umfassend zur Genfer Flüchtlingskonvention und zu den einschlägigen Menschenrechtsübereinkünften wie der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Drittens. Es soll ein gemeinsames Konzept zur Integration von Drittstaatsangehörigen erarbeitet werden,
die ihren rechtmäßigen Wohnsitz in der Europäischen
Union haben.
Viertens. Die gemeinsame Integrationspolitik wird darauf gerichtet, den rechtmäßig in der EU ansässigen Drittstaatsangehörigen „vergleichbare Rechte und Pflichten
wie EU-Bürgern zuzuerkennen“.
Fünftens. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung im
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ist insoweit auch von Bedeutung.
Genau darüber sollten wir heute reden, was Sie aber
nicht getan haben. Wir wollen eine europäische Regelung. Statt sich mit diesen Vorgaben von der europäischen Ebene zu befassen, haben Sie einen Antrag vorgelegt, der einen schlichten Rückzug in nationalstaatliche
Denkschemata verfolgt.
({0})
Wie widersprüchlich und zum Teil auch kontraproduktiv für unsere nationalen Interessen Ihre Vorstellungen sind, demonstriere ich an einem Beispiel - ich
nehme hier das von Herrn Grindel angeführte Stichwort
der Lastenverteilung auf -: Es gibt eine Richtlinie zum
vorübergehenden Schutz in Massenzustromsituationen,
wie es im EU-Deutsch heißt. Diese MassenzufluchtRichtlinie reagiert auf die im Jugoslawienkonflikt verursachte Massenflucht in Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in den 90er-Jahren. Angestrebt wird eine gerechte
Lastenverteilung durch die EU-Ebene in Situationen des
Massenzustroms. Flüchtlinge sollen gleichmäßig verteilt
werden. Dabei obliegt es zwar den Mitgliedstaaten, die
Aufnahmekapazitäten mitzuteilen; damit ist aber nicht
zu hinterfragen, inwieweit die Richtlinie effektiv ist.
Die Richtlinie nimmt insbesondere ein deutsches Anliegen auf: den Grundsatz der Aufgabenteilung und Lastengerechtigkeit. Inwieweit dieser Grundsatz noch weiterentwickelt werden könnte, ist hier nicht die Frage.
Aber mit Maximalpositionen, wie Sie sie fordern, hätte
die Bundesregierung die Verabschiedung dieser Richtlinie unterminiert. Im Ergebnis wäre dann ein System der
Lastenverteilung bei Massenfluchtsituationen überhaupt
nicht zustande gekommen. Dann hätten wir befürchten
müssen, in einem erneuten Fall wiederum ein „Hauptnachfrageland“ von Flüchtlingen zu werden. Das wollen
sicherlich auch Sie nicht. Mit der nun verabschiedeten
Richtlinie - hier hat die Bundesregierung in unserem Interesse gehandelt - kann sich die Bundesrepublik auf
eine gerechte Verteilung unter den Mitgliedstaaten der
EU berufen. Genau dies entspricht ureigenem deutschen
Interesse.
Herr Kollege Bürsch, lassen Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel zu?
Ich freue mich über jedes Interesse von Herrn
Grindel.
Herr Kollege Bürsch, ich habe mich schon zu einer
Zwischenfrage gemeldet, als Sie von der Wagenburg
Deutschland sprachen. Können Sie bestätigen, dass es
beim EU-Gipfel in Nizza Bundeskanzler Schröder und
der hier zeitweise anwesende Außenminister Fischer waren, die sich dort massiv für das Prinzip der Einstimmigkeit beim Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungsrecht
eingesetzt haben, und können Sie mir einmal erklären,
worin das Problem besteht, wenn wir verlangen, dass
sich die Bundesregierung an das hält, was sie sich in
Nizza selbst eingehandelt hat - damals stand ich, wie Sie
wissen, vor der Tür und habe das genau verfolgt -, und
warum Sie uns jetzt vorhalten, dass wir die Bundesregierung an die Möglichkeit der Einstimmigkeit erinnern,
die sie in Nizza selbst ausgehandelt hat?
Ich beantworte Ihnen diese Frage gerne. Meine Antwort ergibt sich aus dem, was ich am Anfang meiner
Rede gesagt habe. Wir suchen eine europäische Lösung,
Herr Grindel. Eine solche Lösung kann nur ein Kompromiss aus den Interessen von 15 europäischen Ländern
sein. Es kann in keinem Falle heißen, dass sich ein Land
mit seinen Vorstellungen durchsetzt.
({0})
Diese Lösung müssen wir zusammen mit den anderen
Ländern suchen, und zwar auf der Grundlage dessen,
was alle beteiligten Länder wollen und was dann im europäischen Interesse ist. Dabei hilft das Einstimmigkeitsprinzip, auf das Sie sich jetzt berufen, nicht weiter.
Wir müssen anerkennen, dass dies nur mit Blick auf das
geht, was wir für die europäische Ebene brauchen, zu der
demnächst nicht mehr 15, sondern 25 Länder zählen
werden. Wir müssen über unseren nationalen Tellerrand
hinausschauen und die Wagenburg verlassen, die ich in
ihren Anträgen sehe.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, es geht um ein solidarisches europäisches Gemeinwesen. Dafür müssen wir
neues Recht schaffen und dürfen nicht eine Fortsetzung
deutschen Rechtes verlangen.
An die Adresse des Kollegen Stadler richte ich einen
Hinweis zur Verbesserung seines berechtigten Anliegens, was die Beteiligung des Parlaments angeht. NaDr. Michael Bürsch
türlich brauchen wir eine Rückkopplung. Aber muss es
denn die Rückkopplung auf die nationale Ebene sein? Ist
dies tatsächlich die Ebene, die für eine europäische parlamentarische Kontrolle richtig ist? Bei dem Bau des europäischen Hauses ist doch vielmehr anzustreben, dass
die Demokratisierung auf Gemeinschaftsebene erfolgt,
was bedeutet, dass das Europäische Parlament beteiligt
wird. Wir sollten also nicht so sehr an unsere eigenen Interessen denken, sondern sollten die europäischen Parlamentarier an dem Gesetzgebungsverfahren beteiligen.
Würden alle Mitgliedstaaten ihre Ausnahmen und Beschränkungen im Rahmen der europäischen Harmonisierung verankern wollen, dann wäre das Niveau des Harmonisierungsprozesses zwangsläufig sehr niedrig.
Europäische Integration lässt sich auf diese Weise sicherlich nicht erreichen.
Insofern brauchen wir eine europäische Harmonisierung von Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik
auf einem hohen Niveau, genau so, wie es der Gipfel von
Tampere 1999 beschrieben hat und wie Sie es damals
auch nicht bestritten haben. Die völkerrechtlichen Verpflichtungen und Maßstäbe des Menschenrechts müssen
dabei, wie es ebenfalls in Tampere gesagt worden ist,
eine entscheidende Rolle spielen; denn nur so wird durch
gesamteuropäische Zuwanderungs- und Integrationspolitik eine gleichmäßige Verteilung der Lasten und der
Belastungen, die mit der Aufnahme von Drittstaatsangehörigen bzw. Asylsuchenden verbunden sein können, auf
alle Mitgliedstaaten erreicht.
Wir werden nur zu vernünftigen Ergebnissen kommen, wenn alle Mitgliedstaaten tatsächlich bereit sind,
Abweichungen von ihrem Recht in Kauf zu nehmen und
anzunehmen. Dafür brauchen wir keine nationalen
Scheuklappen, sondern den europäischen Blick.
Für die CDU/CSU hilft vielleicht ein Hinweis auf
Konrad Adenauer; meine Kollegin Akgün hat schon einen solchen gegeben. Ich sage Ihnen etwas, was Konrad
Adenauer in seiner Weisheit und in seiner Europaorientiertheit schon vor 50 Jahren geäußert hat:
In der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer
Zeit für einen neuen Anfang.
Gerade für die Europapolitik des 21. Jahrhunderts, für
das Zeitalter von Globalisierung und des Wegfalls von
Grenzen sollten Christdemokraten im Sinne Adenauers
in der Tat einen neuen Anfang wagen. Nur Mut!
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/655 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Bevor wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum
nächsten Tagesordnungspunkt kommen, darf ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Heute Mittag erreichte uns die Nachricht vom Tod
unseres Kollegen Jürgen Möllemann. Noch wissen wir
nichts über die näheren Begleitumstände seines plötzli-
chen Todes.
Jürgen Möllemann gehörte seit der siebten Wahlperi-
ode dem Deutschen Bundestag an. Er hat in dieser Zeit
auf Bundes- und Landesebene wichtige politische Positi-
onen ausgefüllt. Die Kritik an seiner Person, die beson-
ders in den letzten Monaten in den Medien zu lesen war,
darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Jürgen
Möllemann in seiner jahrzehntelangen politischen Arbeit
sehr viel Anerkennung erworben hat.
Wir trauern um unseren verstorbenen Kollegen und
drücken seiner Familie unser tief empfundenes Beileid
aus.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung
für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 ({2}) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der
Internationalen Sicherheitspräsenz ({3})
und den Regierungen der Bundesrepublik
Jugoslawien und der Republik Serbien vom
9. Juni 1999
- Drucksachen 15/1013, 15/1118 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({4})
Dr. Friedbert Pflüger
Dr. Werner Hoyer
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1132 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Hermenau
Lothar Mark
Herbert Frankenhauser
Dietrich Austermann
Jürgen Koppelin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Petra Heß, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich
angesichts meiner kurzen Redezeit darauf verzichte,
noch einmal alle Argumente anzuführen, die dafür sprechen, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen.
Keinem ist der Beschluss seinerzeit leicht gefallen.
Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping
selbst war es, der einräumte, dass alle in der Regierung
Bedenken hatten. Um eine humanitäre Katastrophe im
Kosovo zu verhindern, blieb jedoch keine andere Wahl.
Wenn man heute, Jahre später, die Berichte liest und
vor Ort sieht, was sich dort bereits entwickelt hat, so
zeigt das, was sich im Kosovo noch entwickeln kann. Ich
denke, dass man aus diesem Grunde seine Meinung hinsichtlich der Auslandseinsätze der Bundeswehr ruhig
korrigieren darf.
({0})
Ich selbst habe das jedenfalls getan und auch andere haben ihre Haltung in dieser Frage geändert.
Auf welch wackligen Beinen der Frieden im Kosovo
nach wie vor steht, belegen Beispiele: die serbische Lehrerin, die auf ihrem täglichen Arbeitsweg von KFORSoldaten begleitet werden muss, das Kloster, das von
deutschen Soldaten bewacht werden muss, oder die Ortschaft Nowake, immer noch ein gefährdetes Vorzeigeprojekt für die Rücksiedlung von serbischen Flüchtlingen, in der mit EU-Geld Häuser wieder aufgebaut
werden. Deutsche Soldaten wachen über die Sicherheit
der Menschen. Sie tun Friedensdienst, und zwar im
wahrsten Sinne des Wortes.
({1})
Ich stimme mit Verteidigungsminister Struck überein,
der sagt, der Einsatz von KFOR und SFOR gleiche ein
wenig der Hilfe eines Großvaters, der das Enkelkind auf
dem Fahrrad hält. Wie er bin ich der Meinung, dass Enkelkinder irgendwann auch alleine fahren müssen, doch
ist das Kind zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach noch
nicht so weit. Ich füge hinzu und gebe zu bedenken:
Stürzt ein Kind, weil es zu früh losgelassen wird, wird
seine Angst umso größer und es dauert nur noch länger,
bis es sich das nächste Mal allein aufs Fahrrad traut.
Das KFOR-Mandat ist die Voraussetzung für den zivilen Wiederaufbau. Das Kosovo hat die entscheidende
Schlüsselfunktion bei der Orientierung der gesamten Region hin zu einem Europa der Integration. Demnach ist
das Mandat für Frieden und Stabilität unerlässlich.
Versuche, die behauptete Unrechtmäßigkeit des Kosovo-Einsatzes und einer Beteiligung an ihm gerichtlich
feststellen zu lassen, haben in keinem Fall zum Erfolg
geführt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Begründung seines Beschlusses vom 25. März 1999 klargestellt, dass das Grundgesetz den Bund ermächtigt, sich
einem System kollektiver Selbstverteidigung wie der
NATO anzuschließen und sich mit eigenen Streitkräften
an Einsätzen zu beteiligen, die im Rahmen solcher Systeme vorgesehen sind und nach ihren Regeln stattfinden.
Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Einsatz stellte somit keinen Verstoß gegen das Grundgesetz dar.
Die Regierungsparteien haben im Zusammenhang mit
dem Einsatz im Kosovo vielfach unsachliche Schelte
und Kritik seitens der Friedensforschung und aus den
Reihen der Friedensbewegung erfahren müssen. Der Dialog war stellenweise schwierig oder gar unterbrochen.
Auf beiden Seiten besteht aber das Interesse, gerade
auch bei der Suche nach Antworten auf die genannten
neuen Herausforderungen, diesen kritischen Dialog fortzusetzen.
Der Philosoph Immanuel Kant hat schon vor mehr
als 200 Jahren den Anspruch erhoben, dass der Frieden
als eine Bedingung, als Mittel und Ziel allen politischen
Handelns zu gelten hat. Vor diesem Hintergrund dienen
die Soldaten im Kosovo dem wohl größten Ziel und der
größten Sehnsucht der Menschheit.
({2})
Ich denke im Übrigen, die Bundeswehr wird heute
weltweit als Armee des Friedens und der Freiheit wahrgenommen. Mit dem Einsatz im Kosovo wird sie diesem
Urteil einmal mehr gerecht.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass
im Bundestag hinsichtlich dieses Einsatzes der Bundeswehr ein so großes Einvernehmen herrscht.
({4})
Das sind wir den Menschen in der Region schuldig, das
sind wir aber auch unseren Soldatinnen und Soldaten
schuldig, die ein Recht darauf haben, bei ihrem schwierigen und gefährlichen Dienst die breite Unterstützung des
Deutschen Bundestages hinter sich zu wissen.
Ich möchte es daher nicht versäumen, allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ganz herzlich zu
danken, die für Freiheit und Demokratie im Kosovo eintreten und eine unverzichtbare Aufbauarbeit leisten.
({5})
Ich füge abschließend hinzu: Ich möchte auch ihren Familien dafür danken, dass sie diese Entscheidung mittragen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Liebe Kollegin Heß, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen
persönlich und politisch alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Kurt Rossmanith, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben jetzt zum wiederholten Male eine
Entscheidung über die Verlängerung des Mandats für unsere Streitkräfte, derzeit 3 800 Soldaten, im Kosovo zu
treffen. Ich betone ausdrücklich, dass die CDU/CSU einer erneuten Verlängerung des Mandats nur unter der
Bedingung zustimmt, dass sie auf ein weiteres Jahr befristet wird, auch wenn diese Befristung im Antrag expressis verbis nicht enthalten ist. Vor Ablauf eines Jahres
werden wir uns über mögliche weitere Verlängerungen
zu unterhalten haben.
Ich sage Ihnen aber auch, dass uns diese Entscheidung alles andere als leicht fällt. Natürlich hat sich die
Sicherheitslage im Kosovo verbessert und auch die politische Konsolidierung macht deutliche Fortschritte. Allerdings können wir bei weitem noch nicht zufrieden
sein. Erinnern wir uns daran, dass im Juni 1999, als das
Mandat mit unserer ersten Zustimmung beschlossen
wurde, nicht nur die Sicherheitslage, sondern die gesamte Lage im Kosovo äußerst fragil war. Ich glaube, es
ist mit ein ganz wesentliches Verdienst unserer dort eingesetzten Soldaten, dass sich die Situation innerhalb dieser vier Jahre so deutlich, wenn auch - ich betone es
noch einmal - bei weitem noch nicht zufriedenstellend,
zum Positiven entwickelt hat.
({0})
Deshalb ist die internationale Öffentlichkeit voll des Lobes über die Arbeit und die Pflichterfüllung unserer Soldaten, die sich durch ein umsichtiges Handeln und eine
große Professionalität auszeichnen. Auch ich möchte
mich dem Dank anschließen. Ich betone ausdrücklich
noch einmal den Dank an unsere Soldaten, die dort im
Kosovo Dienst leisten, aber auch an alle Soldaten der
Bundeswehr, die außerhalb unseres Vaterlandes in
schwierigen Einsätzen Dienst leisten für die Wiederherstellung von Frieden und Freiheit und zum Wohle der
dort lebenden Menschen.
({1})
Man kann nicht oft genug betonen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass es uns die derzeitige Koalition von Rot und Grün nicht leicht macht, einen derartigen Antrag zu unterstützen oder einen Beschluss
mitzutragen. Ich will dazu kurz einige Punkte festhalten:
Erstens. Die Frage geht an die Bundesregierung, aber
natürlich auch an die sie tragenden Fraktionen: Weshalb
lassen die sich hier alles gefallen? Zum wiederholten
Male erhalten wir den Antrag zur Verlängerung des
Mandats im allerletzten Moment. Heute ist der 5. Juni.
Jeder weiß, dass dieses Mandat am 11. Juni auslaufen
würde, wenn wir nicht heute den Verlängerungsbeschluss fassen. In sechs Tagen ist überhaupt keine Diskussion möglich.
Zweitens. Es fehlt - ich habe es eingangs schon erwähnt - eine klare Aussage darüber, dass die Verlängerung nur für ein Jahr gilt und dann ein neuer Beschluss
gefasst werden muss, wenn die Voraussetzungen gegeben sein sollten.
({2})
Drittens. In diesem Antrag sind keinerlei Aussagen
über die finanziellen Auswirkungen enthalten. Es steht
nur ganz lapidar in einem Satz, dass im Haushalt Vorsorge getroffen worden sei. Das ist überhaupt nicht möglich; denn der Haushalt 2004 wurde in diesem Parlament
und in den entsprechenden Ausschüssen noch nicht diskutiert, geschweige denn beschlossen.
Der vierte Punkt, den ich hier ansprechen will, betrifft
die Haushaltslage. Jeder weiß: Das Finanzkorsett für
unsere Streitkräfte ist viel zu eng. Herr Bundesminister
Struck, die 24,4 Milliarden Euro sollen bis 2006 verstetigt werden. Man muss es der Bundesregierung lassen:
Um Wortschöpfungen ist sie nicht verlegen. Jeder, der
draußen das Wort verstetigen hört, meint, das sei eine
ganz tolle Sache. Im Endeffekt heißt verstetigen aber,
dass die Mittel weiter abnehmen, weil die laufenden
Kosten bis zum Jahr 2006 ansteigen werden.
Dass aber die Zusage, die sowohl vom Bundeskanzler
als auch vom Finanzminister zu hören war, die Streitkräfte würden von den Streichungen ausgenommen,
längst konterkariert wird, zeigt der gestrige Hinweis des
Finanzministers, dass von der vorgesehenen Haushaltssperre in Höhe von 100 Millionen Euro die Streitkräfte
nicht ausgenommen werden. Sie sind zwar nur mit
8 Millionen Euro betroffen, aber sie wurden nicht ganz
ausgenommen. Deshalb ist die Aussage, dass die Streitkräfte von eventuellen Kürzungen ausgenommen werden, als sehr vage zu beurteilen.
({3})
Die Realität und die Aussichten für unsere Streitkräfte
sind sehr düster. Deshalb - das darf ich abschließend
noch sagen - fällt es uns nicht leicht, zuzustimmen.
Wenn wir das dennoch tun, dann schlicht und einfach in
der Gewissheit, dass absehbar ist - das hoffe ich zumindest; das wurde uns in der Vergangenheit dargelegt -,
dass die Anzahl der Bundeswehrsoldaten im Kosovo
von der Kürzung der Mannschaftsstärke insgesamt betroffen sein wird, sodass wir in Zukunft nicht mehr
3 800 Soldaten dorthin entsenden müssen.
Herr Bundesminister Struck, mein letzter Satz: Tragen
Sie dafür Sorge - nicht erst seit der Diskussion um Afghanistan vor wenigen Tagen -, dass unsere Streitkräfte,
die im Ausland im Einsatz sind, die notwendige Ausrüstung erhalten und dass dort, wo minensichere Fahrzeuge notwendig sind, sie in erforderlicher Anzahl vorhanden sind. Das ist eine Bitte und eine Aufforderung,
die uns alle berührt. Eine derartige Zusage würde uns die
Zustimmung wesentlich erleichtern.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ludger Volmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass wir heute so unaufgeregt und relativ harmonisch über das Thema Verlängerung des KFOR-Einsatzes reden können, zeigt, dass die Befassung mit diesem
Thema zu einer gewissen Routine geworden ist, allerdings zu einer Routine, die zwiespältig zu beurteilen ist.
Positiv daran finde ich, dass es zur Normalität gehört
und dass es akzeptiert wird, dass sich die Bundeswehr an
internationalen Friedenseinsätzen - ich betone: Friedenseinsätzen - beteiligt. Der Einsatz im Kosovo hat
deutlich gemacht, dass es nach wie vor notwendig ist,
dass eine stabilisierende internationale Schutzmacht vor
Ort ist, um den Wiederaufbau und den Konsolidierungsprozess in dieser Region zu begleiten.
Der Grund, warum es als zwiespältig zu beurteilen ist,
besteht darin, dass wir heute zum wiederholten Male das
Mandat verlängern müssen. Das ist ein Indiz dafür, dass
die selbsttragenden Friedens- und Entwicklungsprozesse, die wir uns für die Region erhofft hatten, noch
nicht die Dynamik gewonnen haben, die wir wollten.
Deshalb können wir heute feststellen: Wir brauchen
nach wie vor den Einsatz von KFOR im Kosovo. Deshalb werden wir ihm auch zustimmen. Neben und begleitend zu diesem Einsatz brauchen wir aber neue politische Initiativen, um endlich zu einem nachhaltigen
Frieden zu kommen.
({0})
In diesem Sinne begrüßen wir es auch, dass die Debatten in den letzten Monaten wieder an Dynamik gewonnen haben. Wir sehen viele positive Elemente in der
Entwicklung des Kosovo, etwa die Integration ehemaliger UCK-Kämpfer in ordentliche Sicherheitsagenturen.
Wir hoffen zumindest, dass diese Integration gelingt.
Darüber hinaus sehen wir Fortschritte im Verwaltungsaufbau und im Bildungswesen.
In diesem Zusammenhang sollten wir dem deutschen
Diplomaten Michael Steiner, der dort nun als Sonderbeauftragter für die UNO fungiert, zum Ende seiner Amtszeit einen sehr herzlichen Dank für sein großes Engagement aussprechen.
({1})
Wenn man das Engagement von Steiner kennt, sich ansieht, wie viel er im positiven Sinne dort durcheinandergerüttelt und zusammengebracht hat und sich die dortigen Defizite anschaut, dann kann man ermessen, wie
riesig die Aufgabe ist, die noch vor uns liegt, und wie
wichtig es ist, dass die internationale Gemeinschaft dort
weiterhin mit der militärischen Schutztruppe engagiert
bleibt.
({2})
Die internationale Gemeinschaft hat die Formel geprägt, dass im Kosovo zunächst einmal die demokratischen Standards, die Standards des Zusammenlebens
und die multiethnischen Standards festgelegt werden
müssen, bevor man über den Endstatus des Kosovo diskutieren kann; das war auch immer die Auffassung von
Steiner und der Bundesregierung. Diese Formel bleibt
vielleicht richtig. Jeder bekommt aber mit, dass subtil
über den Status geredet wird. Ohne harte Thesen in der
Debatte aufzustellen, sollte man sich vielleicht den einen
oder anderen experimentellen Gedanken erlauben, um
nicht nur der Statusfrage näher zu kommen, sondern
auch, um die Entwicklung der Standards zu beflügeln;
denn man könnte ja auch die These aufstellen, dass die
Entwicklung der Standards von dem vorgestellten Endstatus abhängig ist.
Es ist ein Unterschied, ob diejenigen, die nationale
oder nationalstaatliche Ambitionen haben, sich dabei einen altmodischen Nationalstaat vorstellen, der sich gegenüber den Nachbarn igelig und stachelig darstellt,
möglichst krass abgrenzt und von einem möglichst großen Imponiergehabe geprägt sein muss, oder ob dies ein
Nationalstaat ist, dessen Nationalstaatlichkeit in einem
vorgestellten europäischen Prozess schon wieder verflüssigt wird. Nicht zuletzt deshalb sollten wir parallel
zur Befürwortung von KFOR wieder die Diskussion aufnehmen und verstärken, die wir immer mal wieder geführt haben. Diese wird jetzt vielleicht notwendiger als
zuvor, da wir hier den europäischen Erweiterungsprozess beschlossen haben. Wir sollten darauf hinarbeiten,
dass alle Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, auch diejenigen, die heute noch nicht an dem Prozess beteiligt sind, eine europäische Perspektive erhalten
({3})
und diese europäische Perspektive sehen und nutzen, um
ihre eigenen nationalstaatlichen Vorstellungen an dem
europäischen Modell zu überprüfen und zu relativieren,
um dadurch möglicherweise auch die Entwicklung der
internationalen Standards, die wir uns wünschen und
vorstellen, zu beschleunigen.
Es geht also um eine europäische Perspektive. Alle
Bürger der europäischen Staaten, auch die der Balkanstaaten, die ansonsten in naher Zukunft vom EU-Inland
umgeben sein werden, müssen die Möglichkeit haben,
sich selbst als Bürger dieses vereinigten Europas zu begreifen und zumindest perspektivisch dort ihre Entwicklungsrichtung zu sehen.
Wir hoffen, dass dies positive Auswirkungen auf die
Entwicklung der Standards hat und die militärische Flankierung auf mittlere Sicht überflüssig macht.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr bleibt auch weiterhin ein verlässlicher Partner.
Sie ist größter Truppensteller im Rahmen internationaler
Friedenseinsätze. Viele tapfere und tüchtige Soldatinnen
und Soldaten riskieren ihr Leben für Deutschlands außenpolitische Reputation und vor allem für die notwendige Sicherung des Friedens in der Welt. Dafür möchte
auch ich den Soldatinnen und Soldaten an dieser Stelle
im Namen der gesamten FDP-Fraktion danken.
({0})
Ich danke aber auch den Soldatinnen und Soldaten,
die hier vor Ort in Deutschland eine hervorragende Arbeit leisten. Den Willen der Politik, lediglich mit einem
Bundestagsbeschluss und der fortlaufenden Freigabe
von etwas mehr als 1 Milliarde Euro für die Verlängerung des SFOR- und KFOR-Einsatzes zu bekunden,
wäre zu einfach und zu wenig. Es muss vielmehr von politischer Seite gewährleistet werden, dass beste Voraussetzungen für eine professionelle Vor-Ausbildung und
die Unterstützung deutscher Kräfte im Ausland durch
Bereitstellung modernster Ausrüstung und modernsten
Materials geschaffen werden. Dazu gehört auch die beste
Betreuung der Familien und der Freunde in Deutschland. Nur so kann ein andauerndes Engagement in internationalen Einsätzen stattfinden und die Motivation der
Soldatinnen und Soldaten erhalten bleiben. Auch über
die Einsatzlänge und die Einsatzhäufigkeit werden wir
uns im Verteidigungsausschuss und auch hier im Deutschen Bundestag noch einmal unterhalten müssen. Hier
brauchen wir Veränderungen und Verbesserungen.
({1})
Der Einsatz im Kosovo muss verlängert werden. Dafür steht die FDP-Bundestagsfraktion. Wir werden dem
Antrag zustimmen. Aber es darf nicht zu einem Verlängerungsautomatismus kommen. Herr Kollege Volmer,
Sie haben es angesprochen und ich schließe mich Ihnen
gerne an: Dies darf nicht zur Routine werden. Die Aufträge der Soldaten - ich hoffe, dass wir hier übereinstimmen - müssen ständig auf Aktualität und Notwendigkeit
überprüft werden. Nicht nur ich, sondern auch die Soldatinnen und Soldaten stellen sich die Frage: Warum und
wie lange bleibt die Bundeswehr im Kosovo? Die Bundesregierung muss die Frage beantworten: Wie sieht das
politische Ziel einer fortwährenden Präsenz aus?
Herr Struck und Herr Außenminister Fischer, hier
sind Sie gefragt. Auch Sie müssen sich fragen lassen: Ist
die Aufbauhilfe durch die CIMIC-Verbände überhaupt
noch notwendig? Sind die Kriegsschäden nicht weitgehend beseitigt? Geht es nun nicht vorrangig um den
politischen Wiederaufbau im Kosovo? Ich sage noch
einmal: Hier steht die gesamte Bundesregierung in der
Verantwortung.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ein persönliches Wort. Sie werden verstehen, dass es mir als
Abgeordneten der FDP aus Nordrhein-Westfalen, der
den Kollegen Möllemann - er war einer meiner Vorgänger im Amt des verteidigungspolitischen Sprechers mehr als 30 Jahre gekannt hat, nicht leicht fällt, heute
hier zu stehen. Ich meine, dass beim Tod eines Kollegen
die politischen Differenzen beiseite zu stehen haben. In
diesen Stunden und Tagen haben wir an die Familie zu
denken, an die Ehefrau und an die Kinder.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Detlef
Dzembritzki für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Vor einigen Tagen erklärte der Leiter des
Stabilitätspaktes, Erhard Busek, in einem Interview, es
gebe heute auf dem Balkan keine militärische Bedrohung mehr. Ganz so optimistisch, wie Herr Busek dies
sieht, schätze ich die Lage noch nicht ein. Ich denke,
trotz der grundsätzlichen Aussagen aller meiner Vorrednerinnen und Vorredner haben wir, als wir uns auf dieses
Mandat einließen, gewusst, dass wir dafür einen langen
Atem brauchen würden.
Ein Teil der Wegstrecke hin zu einem stabilen und demokratischen Kosovo ist zurückgelegt, aber es bleibt
noch viel zu tun. Solange Wohngebiete mit Waffengewalt vor Übergriffen zu schützen sind und Zivilisten eskortiert werden müssen, wird es ohne militärische Präsenz nicht gehen.
({0})
Der KFOR-Einsatz im Kosovo hat gewalttätige Auseinandersetzungen erfolgreich verhindert. Dennoch
kommen wir nicht umhin, uns über kurz oder lang mit
einigen elementaren Fragen auseinander zu setzen.
Hierzu gehört - Herr Volmer hat das angesprochen auch die Diskussion über den völkerrechtlichen Status
des Kosovo. Ich finde es aber auch notwendig, nochmals
darauf hinzuweisen, dass ein erkennbarer oder ein noch
erkennbarerer Prozess, als das vielleicht jetzt schon der
Fall ist, notwendig wird, damit der innergesellschaftliche
Dialog, der sich mit den Pflichten und den Standards einer gedeihlichen Koexistenz auseinander zu setzen hat,
erkennbar wird und damit die Toleranz und das gedeihliche Zusammenleben akzeptiert werden. Ich denke, das
ist eine unabdingbare Forderung, die wir hier immer
wieder einzubringen haben. Bei diesen Pflichten und
Standards beziehe ich ausdrücklich die Roma ein, die
gewiss nicht am wenigsten gelitten haben, deren Leiden
jedoch am wenigsten beachtet wurde und wird.
Die UN-Verwaltung und ihre Repräsentanten haben
im Kosovo sicher eine große Aufbauleistung vollbracht. Ich möchte hier den Einsatz von Herrn Steiner
würdigen, ich möchte an dieser Stelle aber auch ausdrücklich die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
die in diesem Bereich tätig sind - was ja ebenfalls nicht
immer ungefährlich ist -, einbeziehen. Das gilt für die
öffentlich Bediensteten wie auch für die Nichtregierungsorganisationen, die sich im Kosovo einbringen.
({1})
Die Entwicklung von Strukturen der Staatlichkeit und
der Selbstverwaltung des Kosovo schreiten voran.
Doch mit dem Installieren von Institutionen wie dem frei
gewählten Parlament oder den Gemeindevertretungen ist
es nicht getan. Es bedarf vielfältiger Anstrengungen, um
diese Institutionen auch wirklich mit Leben zu erfüllen.
Nach meinen Erfahrungen, Kolleginnen und Kollegen,
können auch wir Parlamentarier uns im persönlichen
Austausch einbringen; sowohl auf bilateraler wie auf
multilateraler Ebene können wir einiges bewirken. Wir
alle sollten jede Gelegenheit nutzen, in Gesprächen mit
Kollegen und Multiplikatoren der Region die Bereitschaft der dortigen Akteure zu befördern, miteinander
den konstruktiven Dialog zu pflegen;
({2})
denn die jungen politischen Systeme des Balkans sind
durchaus noch fragil. Sie sind durch extremistische, nationalistische Positionen gefährdet und haben daher jede
Unterstützung von uns nötig. Die geringe Beteiligung
der Bürgerinnen und Bürger des Kosovo an den Wahlen
ist nur ein Indiz für die noch mangelnde Akzeptanz der
demokratischen Organe. Die verbreitete Ansicht, dass
Politik mit Korruption und Vetternwirtschaft Hand in
Hand geht, ist ein weiteres Indiz.
Herr Volmer, Sie haben zu Recht auf die Notwendigkeit der Veränderungsprozesse hingewiesen. Deswegen
stimme ich an dieser Stelle Herrn Busek ausdrücklich
zu, wenn er für eine Taskforce für Polizei, Justiz und
Verwaltung optiert. Gerade im Kosovo, aber auch in anderen Regionen des Stabilitätspaktes müssen konsequente Anstrengungen für eine durchsetzungsfähige
Rechtsstaatlichkeit unternommen werden. Organisiertes Verbrechen und korrupte Strukturen müssen bekämpft werden. Erst dann werden in ausreichendem
Maße Investitionen in der Region erfolgen und ein
selbsttragendes Wirtschaftssystem entstehen können.
Das ist insbesondere für diese Region notwendig, weil
dort 70 Prozent der Menschen arbeitslos sind und die
meisten ihren Unterhalt nur über Transfergelder decken
können.
Bei allen Leistungen, die die Vereinten Nationen im
Kosovo erbracht haben, bin ich davon überzeugt, dass
die Europäische Union in Zukunft eine noch stärkere
Rolle wird übernehmen müssen. Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass der Balkan nicht Krisenherd,
sondern prosperierender Teil unserer Europäischen
Union wird.
({3})
Verschiedene Parlamentariererkonferenzen auf europäischer Ebene, zuletzt Ende Mai in Brüssel, haben verdeutlicht, dass die Länder Europas bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Ich gehe davon aus, dass der
anstehende EU-Gipfel in Thessaloniki dem Balkan einen konkreten Fahrplan in die Europäische Union aufzeigen wird. Eben für diese Perspektive stehen auch die
Soldatinnen und Soldaten - Herr Rossmanith, anders als
Sie das hier formuliert haben - gut ausgerüstet und mit
voller Fürsorge unseres Bundesverteidigungsministers
im Kosovo.
({4})
Ihr Einsatz ist dennoch nicht ungefährlich; die Trennung
von ihren Familien ist schmerzlich. Umso mehr will ich
den Soldatinnen und Soldaten danken und ihnen Glück
und Erfolg für die Fortsetzung ihrer Mission wünschen.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Debatte hat gezeigt, dass wir uns in der Einschätzung der Lage im Kosovo nicht unterscheiden. Der Weg
zur Bildung einer demokratischen Gesellschaft ist
schwierig und die Stabilität des Kosovo ist weiterhin
durch ethnische Gegensätze, organisierte Kriminalität
und politischen Extremismus gefährdet.
Wir erfahren von verstärkten Spannungen zwischen
den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und von
der schwindenden Akzeptanz der internationalen Sicherheitspräsenz. Sowohl die zivile Mission der Vereinten
Nationen UNMIK als auch die militärische Mission
KFOR werden zunehmend als Protektorat empfunden.
Die KFOR hat in diesem schwierigen Umfeld weiterhin eine Schlüsselrolle für die öffentliche Sicherheit
inne. Deswegen muss das Mandat - auch darüber sind
wir uns einig - verlängert werden. Wir wissen aber auch,
dass das Mandat nicht unbedingt einfacher wird.
Wir müssen nüchtern feststellen, dass kaum nachhaltige Fortschritte in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu verzeichnen sind und dass deshalb nur ein
geringer Rückzug von Vertriebenen erfolgt.
Stattdessen nimmt der politische Streit über die offene
Frage des künftigen Status des Kosovo wieder zu. Das
Prinzip „Standards vor Status“ ist richtig. Wir müssen
zuerst praktische Fragen regeln, die Sicherheitslage verDr. Andreas Schockenhoff
bessern und schrittweise Kompetenzen an die lokalen
Selbstverwaltungsorgane übertragen. Aber die Verbesserung der Standards erfolgt, wenn überhaupt, viel zu langsam. Deshalb wird die Lösung der Statusfrage wieder in
weitere Ferne rücken. Damit ist ein erfolgreicher Abschluss der KFOR-Mission aus heutiger Sicht zeitlich
nicht absehbar.
Nach unserer Auffassung muss vor allem die UNMIK
mehr Einfluss nehmen, um die Dynamik des politischen
Prozesses, den Sie zu Recht angemahnt haben, Herr
Volmer, zu verstärken und die Konfliktparteien vor Ort
stärker zu Kompromissen zu drängen.
Mit großer Sorge verfolgen wir auch den seit Wochen
schwelenden Streit über die Präsenz der EU-Militärtruppe in Mazedonien. In den letzten Woche hat der mazedonische Verteidigungsminister angekündigt, seine
Regierung werde die Anwesenheit der EU-Truppen über
den September hinaus nicht dulden. Wenn aber der Militäreinsatz der Europäischen Union den Konflikt zwischen der albanischen Minderheit und der slawischen
Mehrheit nicht schlichtet, sondern im Gegenteil neuen
Streit auslöst, hat das auch erheblichen Einfluss auf den
Kosovo und die Präsenz der KFOR.
Wir bitten Sie deshalb, Herr Außenminister, gegenüber den Vertretern der slawisch-mazedonischen Regierung sehr deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass sie
mit einer Ablehnung der Fortsetzung der EU-Mission
und damit wahrscheinlich einer weiteren Zerstückelung
des ohnehin kleinen Landes keine Fortschritte auf dem
Weg der Annäherung an Europa erzielen können und
dass sie auf diesem Weg einer EU-Mitgliedschaft sicherlich nicht näher rücken können.
Herr Verteidigungsminister, Sie haben unlängst neue
verteidigungspolitische Richtlinien vorgelegt, denen zufolge der Hauptauftrag der Bundeswehr nicht mehr in
erster Linie in der Landesverteidigung im herkömmlichen Sinn bestehen soll, sondern in der Krisenintervention in Regionen, in denen unsere Sicherheitsinteressen
auf dem Spiel stehen. Das ist richtig und wir unterstützen das nachdrücklich.
Wir unterstützen auch, dass eine neue Ausrichtung
der Bundeswehr diesem neuen Auftrag gerecht wird.
Wir müssen dann aber - auch angesichts der vergangenen Monate - offen und vorurteilsfrei über die Formen
der Bedrohungen reden. Wir müssen außerdem darüber
reden, bei welchen Konstellationen Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets legitim sind. Frau
Kollegin Heß hat vorhin auf eine schwierige Diskussion
innerhalb der Koalitionsfraktionen zu Beginn des Kosovo-Konflikts hingewiesen und hat zumindest deutlich
gemacht, dass es Situationen gibt, in denen auch ohne
ein Mandat der Vereinten Nationen ein Kampfeinsatz
nicht nur erforderlich, sondern auch legitim sein kann.
Ich glaube, dass wir das als einen Acquis der deutschen
Position für zukünftige Debatten festhalten sollten, die
wir mit unseren Bündnispartnern führen werden.
Herr Volmer, Sie haben die Routine angesprochen, mit
der wir inzwischen Mandate für Bundeswehreinsätze verlängern. Ich glaube, es ist überfällig, dass wir ein Gesetz
über die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der
Entsendung der Bundeswehr verabschieden. Die jetzige
Regelung - das gilt auch für Debatten wie die heutige, die
wir inzwischen fast jedes halbe Jahr führen - ist der Praxis
nicht angemessen. Wir brauchen ein Entsendegesetz, das
die Verantwortung des Bundestages klarstellt. Aber die
Definition eines Einsatzes der Bundeswehr muss in Ihrem Hause, Herr Struck, und darf nicht im Geschäftsordnungsausschuss des Deutschen Bundestages erfolgen.
Wir sollten uns zügig eine entsprechende gesetzliche Regelung geben.
({0})
Ich hoffe, dass wir das in der gleichen Übereinstimmung
tun werden, mit der wir heute das Mandat für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo verlängern.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/1118 zu dem Antrag der Bundesregierung auf
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1013 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei drei Gegenstimmen mit Zustimmung
aller übrigen anwesenden Mitglieder des Bundestages
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine neue Beteiligungskultur - Eigenkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitarbeiterbeteiligungen verbessern
- Drucksache 15/815 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
Erstem dem Kollegen Professor Riesenhuber für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Es ist nicht ganz einfach, in der
Stunde zur Tagesordnung überzugehen, in der wir die
Nachricht über den Tod von Jürgen Möllemann bekommen haben. Er war über viele Jahre ein Weggefährte im
Streit und in der gemeinsamen Arbeit. Wir fühlen mit
seiner Familie.
({0})
Wir haben heute einige neue Nachrichten erhalten,
die bedrückend sind. Die Arbeitslosigkeit im Mai war
wahrscheinlich die höchste, die es jemals in diesem Monat gegeben hat. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel
hat neue Prognosen über die Wirtschaftsentwicklung
vorgelegt und rechnet in diesem Jahr mit einem Nullwachstum. Der Exportindikator zeigt weiter nach unten.
Das Institut für Weltwirtschaft erwartet, dass es im laufenden Jahr durchschnittlich 4,5 Millionen Arbeitslose
geben wird. Die veröffentlichten Zahlen sind sehr dramatisch.
Die Programme der Bundesregierung ziehen nicht.
Das Job-AQTIV-Gesetz dümpelt bestenfalls vor sich
hin. Der Jobfloater ist nach dem, was jetzt veröffentlicht
worden ist, an der Grenze des Flops. Die Ich-AGs starten
sehr langsam. Das alles belegt, dass die einzelnen Maßnahmen nicht wirksam sind. Die Menschen sind nicht
wild auf neue Programme und warten auch nicht gespannt auf neue Maßnahmen der Regierung, die sie
glücklich machen sollen. Das, was die Menschen wirklich wollen, ist, dass man sie bei der Arbeit in Ruhe lässt
und dass die Politik sie nicht ständig beschäftigt.
({1})
Eine Debatte über Unternehmen im Bereich der
neuen Technologien ist nicht vorrangig eine Debatte
über neue Programme. Es geht auch nicht darum, wie
wir neue staatliche Maßnahmen anlegen wollen. Es geht
um eine andere Frage, nämlich: Wie schaffen wir den
Freiraum dafür, dass diese Unternehmen erfolgreich sein
können?
Die staatliche Hilfe kann ihren Sinn haben. Auch
nach Röpke, dem Altmeister der marktwirtschaftlichen
Ordnungspolitik, kann der Staat durchaus die Aufgabe
und die Pflicht haben, Hürden abzubauen, die das Aufkommen des Neuen behindern. So war es zu Beginn der
Entwicklung vor 20 Jahren, als wir in Deutschland eine
Gründungskultur eigentlich noch nicht hatten.
({2})
Eine Gründungskultur auf Basis neuer Technik hat in
Deutschland keine große Tradition. Wir haben da immer
mit einem gewissen Neid nach den USA geschaut: Silicon Valley, Route 128, die Spin-offs aus den großen Universitäten, das Zusammenspiel mit einer dynamischen
Venture-Capital-Szene. Dies alles war hier nicht immer
vorhanden. Es ist aber auch nicht so, dass dies sozusagen
eine Eigenschaft der Amerikaner ist. Es war durch Maßnahmen geschaffen worden, an denen auch der Staat
Ende der 50er-Jahre beteiligt war, und zwar zu Recht.
Was sich aus dem SBI- und dem SBIC-Programm entwickelt hat, wissen wir alle: Da ist eine Entwicklung dynamisch begleitet worden, als eine kritische Masse von
jungen Unternehmen da war, und zwar dadurch, dass
man die Steuern gesenkt hat, die capital gain tax halbiert
bzw. weiter gesenkt hat. Das heißt: Der Staat hat schrittweise Raum geschaffen.
So haben wir vor 20 Jahren angefangen. Wir haben
versucht, aus den Fehlern anderer zu lernen. Nicht alles,
was die Amerikaner gemacht haben, war von vornherein
optimal. Was wir hier angefangen haben, hat sich in einer außerordentlichen Dynamik entwickelt. Zu nennen
sind die Technologiezentren, der Versuch, Cluster und
kritische Massen zu bilden, zusammenzuführen, was aus
unterschiedlichen Bereichen kam, die Vernetzung von
Sparkassen, Banken, Versicherungen, Kommunen und
Infrastruktur, mit der Wissenschaft. Aus alldem ist etwas
entstanden, das sich weiter entwickelt hat, gestützt durch
das BTU-Programm mit staatlichen Zuschüssen zur
Gründung. Aber zugleich hat sich der Staat immer weiter zurückgezogen. Der Staat hat Raum geschaffen. Statt
Zuschüssen gab es Bürgschaften; zugleich kam eine private Venture-Capital-Szene auf, die eine große Dynamik
entwickelt hat.
Parallel dazu - das können wir heute nicht diskutieren; das will ich auch nicht beschreiben - gab es eine
Entwicklung, die die neuen Techniken mit großem
Schwung vorangebracht hat. Die Biotechnologie hat an
Schwung gewonnen. Es erwuchs aus winzigen Anfängen. Zu Beginn der 80er-Jahre hatten wir ein paar Dutzend Lehrstühle, an denen auch mal Gentechnologie gelehrt wurde, keinen einzigen Lehrstuhl, an dem nur
Gentechnologie gelehrt wurde.
({3})
Daraus ist eine Landschaft mit großem Reichtum entstanden: die Genzentren in Köln, in München, in Berlin
und in Heidelberg; Zusammenarbeit von Industrie, MaxPlanck-Gesellschaft und Universitäten. Wir haben das bei
der Informationstechnik gemacht. Ich erinnere daran, wie
wir die Empfehlungen der Queisser-Kommission - wir
brauchen neue Wissenschaftler, mehr Informatiker - umgesetzt haben: 100 Millionen für die Deutsche Forschungsgemeinschaft - mit der einzigen Auflage, neue
Lehrstühle einzurichten. Aus den drei Strängen ist es zusammengewachsen. Die Leute haben gesehen: Gründung ist möglich und kann erfolgreich sein.
Gleichzeitig ist die Entwicklung von neuer Technik
zu nennen. Es gab ganze Jahrgänge von tüchtigen Wissenschaftlern, die das aufgreifen konnten. So hat sich bei
vielen jungen Männern und Frauen, auch sehr gestandenen Männern und Frauen, die sich einfach mal rausgewagt haben und den Kopf rausgestreckt haben, schrittweise eine Kultur entwickelt, mit der wir in die 90erJahre gestartet sind.
({4})
Der Schwung war deshalb möglich, weil sich der Staat
auf der Kapitalseite zurückgezogen hat. Das private
Wagniskapital ist gewachsen. Die Fonds sind gewachDr. Heinz Riesenhuber
sen. Neue Fonds sind aufgelegt worden. Leute waren bereit, etwas zu riskieren und zu investieren.
Für diese Art von neuen Techniken ist eine wirklich
grundsätzliche Frage: Woher kriegen wir das Eigenkapital? Die Unternehmen können nicht über Fremdkapital,
über Kredite finanziert werden. Kredite beleihen geronnene Arbeit der Vergangenheit, nicht aber die Vision einer Zukunft. Es muss Kapital sein, das bereit ist, volles
Risiko einzugehen. Deshalb muss es in seiner anderen
Qualität gewürdigt werden.
Es ist eine Gründerszene entstanden. Bis 1998 hat die
Zahl der Gründungen jährlich zugenommen, auch was
auf neuer Technik basierende Dienstleistungen angeht.
Seit 1998 ist dieser Trend rückläufig.
({5})
- Herr Tauss, den Streit darüber können wir nachher austragen. Die entsprechenden Zahlen liegen vor. Die
Quelle dafür ist das Institut für Mittelstandsforschung.
Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass der Trend erst
seit dem Jahr 2000 rückläufig sei, gilt: In diesem Jahr
haben Sie regiert. In Ihrer Regierungszeit ist die Zahl der
Neugründungen im technischen Bereich offensichtlich
anhaltend rückläufig.
Wir haben den Aufstieg und den Niedergang des
Neuen Markts erlebt. Der Neue Markt ist gestern „begraben“ worden. Er ruhe in Frieden; die Sache ist vorbei.
Der Neue Markt war von drei Phasen gekennzeichnet:
Aufschwung, Überhitzung, Zusammenbruch. Zum
Schluss ist eine Situation entstanden, in der über den
Gang an die Börse kein neues Eigenkapital mehr beschafft werden konnte. Es gibt keine neuen Börsengänge
mehr, praktisch kein IPO mehr. Da die Wagniskapitalgesellschaften kein Exit und keine Möglichkeit haben, später wieder Kasse zu machen, investieren sie nicht.
Die Eigenkapitaleinsätze auf allen Ebenen sind rückläufig. Frau Bulmahn sagt: Die Frühphasenfinanzierung
ist um ungefähr 80 Prozent, von 380 Millionen Euro auf
77 Millionen Euro, zurückgegangen. Rezzo Schlauch - er
ist nicht da - sprach in einer Rede, die er kürzlich gehalten hat, von einem Rückgang von 90 Prozent. Eine
zweite und eine dritte Finanzierungsrunde finden praktisch nicht mehr statt, weil das nötige Geld nicht vorhanden ist. Auf dem Gebiet der Informationstechnik hat es
einen Rückgang um fast 90 Prozent gegeben. Auf dem
Gebiet der Biotechnik war der Rückgang zwar nicht so
stark; aber auch da gab es einen Rückgang um immerhin
50 Prozent. Im letzten Jahr standen dort noch knapp
250 Millionen Euro zur Verfügung.
Wir befinden uns also in einer ganz schwierigen Situation. Im letzten Quartal des vergangenen Jahres haben
vier Dutzend Unternehmen im Bereich der Biotechnologie Konkurs angemeldet. So etwas gab es vorher nicht.
Wir riskieren, eine Landschaft, die sich mit großem
Schwung entwickelt hat, zu zerstören. Das wäre gefährlich.
Die entscheidende Frage lautet: An welchen Stellen
kann man ansetzen? Ich gehe davon aus, dass die Lage
zwar in allen Ländern schwierig ist, aber in Deutschland
schwieriger als anderswo. Der Risikokapitalmarkt in
anderen europäischen Ländern ist im Schnitt um knapp
50 Prozent eingebrochen; in Deutschland ist er um
70 Prozent eingebrochen. Großbritannien und Deutschland hatten beide einen guten Anteil am europäischen
Risikokapitalmarkt. Der Anteil Deutschlands ist von
18 Prozent auf 13 Prozent zurückgegangen; der Anteil
Großbritanniens liegt bei 34 Prozent.
Angesichts der gegenwärtigen Landschaft befinden
wir uns also in Schwierigkeiten; damit verbunden ist
aber auch ein Zeichen der Hoffnung.
Herr Kollege Riesenhuber, das Präsidium wäre Ihnen
dankbar, wenn Sie sich in der Regel in der Ruf- und
Sichtweite des Präsidiums aufhielten, weil uns das die
Einhaltung der Geschäftsordnung erleichterte.
({0})
Ich nehme diese Intervention in Demut entgegen.
Bitte, rechnen Sie mir sie nicht auf die Redezeit an, sonst
komme ich in Schwierigkeiten. Ich bitte um Nachsicht.
In der gegenwärtigen Situation steht Deutschland also
schlechter als andere da. Die Gründe dafür müssen wir
bei uns suchen. Wir sollten überlegen, was wir machen
können. Wären nur die anderen schuld, könnten wir
nichts tun; nur weil wir selbst schuld sind, können wir
etwas tun.
Es geht um drei Bereiche - eigentlich sind alle eigenkapitalrelevant -: die Fonds, die Business Angels und
die Aktienoptionen. Die Anzahl der Neuauflagen von
Fonds ist bis 1999 gestiegen. 1999 waren es noch
30 Fonds, 2000 waren es 20 Fonds, 2001 keine einziger
mehr. Im Jahr 2002 waren es vielleicht zwei Fonds; aber
es wird darüber gestritten, ob das wirklich so war. Dazu
kommen zwei Unternehmensbeteiligungsgesellschaften; das ist etwas anderes. Außerdem verweise ich auf
die Gründungen im Ausland. Das heißt, in einer kritischen Zeit, in der wir eigentlich Eigenkapital für die
zweite Finanzierungsrunde bräuchten, sind nicht mehr
hinreichend Fonds vorhanden. Die Antwort auf die
Frage „Woran liegt das?“ lautet meistens: Seit zwei Jahren geben die Finanzämter keine verbindlichen Steuerbescheide mehr aus.
Ein Investor kann mit falschen Rahmenbedingungen
zwar nicht gut leben, aber er kann überleben. Wenn eine
Entscheidung aber ausbleibt, kann er nicht überleben.
Deshalb werden keine neuen Fonds gegründet, bzw.
wenn sie gegründet werden, dann im Ausland. Ich habe
gehört, dass im vergangenen Jahr von Deutschland aus
12 Fonds im Ausland gegründet wurden. Das erleichtert
den Zugang für unsere eigenen Firmen nicht.
Was haben wir in diesem Zusammenhang zu tun?
Ein Verzicht auf die Besteuerung der Fonds würde die
Sache zwar erleichtern. Die kompliziertere Frage ist die
des so genannten Carried Interest, also das, was die
Fondsinitiatoren selbst machen. Ich rate, das nachzulesen, was unsere tüchtigen Bundesländer eingebracht
haben: Bayern, Hamburg und Sachsen-Anhalt haben
zusammen einen sehr vernünftigen Vorschlag dazu unterbreitet, auf dem man aufbauen kann. Wir müssen
schnell zu einer Entscheidung kommen. Das heißt, dass
die Bundesregierung in ihrer Weisheit und Klugheit den
Bundesrat frühzeitig einbeziehen wird. Je schneller wir
uns einig sind, desto schneller passiert etwas.
Der zweite Bereich sind die Business Angels. Wir hatten eine aufblühende Landschaft von Business Angels.
Business Angels sind erfahrene Männer und Frauen, die
ein bisschen Geld haben und bereit sind, mit haftendem
Geld sowie ihrem Rat und ihrer Erfahrung in ein junges
Unternehmen einzusteigen. Manch ein Gründer hat vielleicht geniale Ideen, was die Technik betrifft, weiß aber
nicht, wie man Märkte und Kunden behandelt, wie man
Märkte abschätzt oder mit Behörden umgeht. Ein Business Angel bringt weit mehr als Geld in ein Unternehmen ein.
Herr Kuhn, ich fand es prima, dass Sie vor ein paar
Wochen in einer Debatte gesagt haben, dass die Besteuerung der Business Angels nicht sehr vernünftig ist. Eine
entsprechende konkrete Aussage findet sich auch in dem
Innovationspapier, das Sie mit einigen Kollegen erarbeitet haben. Es bewegt sich leider überwiegend auf einer
hohen Abstraktionsebene. Ich habe zwar nichts gegen
eine hohe Abstraktionsebene, sie muss im Gesetz aber
auch umgesetzt werden. Der heilige Thomas - sic! sagte: In den allgemeinen Grundsätzen ist man sich immer einig; schwierig wird es erst, wenn es konkret wird,
das heißt, wenn es ins Gesetzblatt kommt. Da würde ich
gerne etwas sehen.
Wenn wir die Wesentlichkeitsgrenze der Beteiligung, die die Bundesregierung auf 1 Prozent heruntergeknüppelt hat, wieder auf 10 Prozent, die wir einmal hatten, oder vielleicht noch stärker anheben, dann schaffen
wir eine völlig andere Situation, in der die Business Angels gestaltend wirken können.
Aktienoptionen sind ein Instrument zur Stärkung des
Eigenkapitals für junge Unternehmen, weil sie keine hohen Gehälter bezahlen können. Ansonsten wäre ihr begrenztes Eigenkapital schnell weg. Aktienoptionen müssen in Deutschland genauso wie in anderen Ländern
besteuert werden. Wenn sie höher besteuert werden, bekommen wir entweder die guten Leute nicht oder unsere
Firmen gehen ins Ausland.
Auch in diesem Zusammenhang existieren prächtige
Beschlüsse. Die Parlamentarischen Staatssekretäre der
Bundesregierung haben uns während der ganzen letzten
Legislaturperiode erklärt, dass auf diesem Gebiet etwas
geschieht. Es geschah aber nichts. Die Wirtschaftsministerkonferenz hat einen einstimmigen Beschluss gefasst.
Uns liegen Vorschläge von BDI und VCI vor. Ich rate
dringend dazu, etwas zu tun und nicht nur darüber zu reden.
({0})
Es gibt so viele Grundsatzpapiere. Ich will den Inhalt
unserer prächtigen Papiere nicht im Einzelnen darlegen.
Frau Bulmahn plagt sich mit ihrem Hightech-Masterplan. So etwas legt man, wenn man weise handelt, unmittelbar nach der Regierungsbildung vor. Sie sind in die
Legislaturperiode gestartet, ohne zu wissen, was Sie mit
Ihrer Regierungsverantwortung anfangen wollen. Das ist
Ihr Kernproblem.
({1})
- Liebe Frau Scheel, Sie haben es vielleicht gewusst, es
dem Finanzminister aber nicht in der Form gesagt, dass
er es Ihnen geglaubt hätte. Deshalb ist es nicht dazu gekommen und deshalb haben wir ein Steuersystem, dass
Sie und ich für suboptimal halten. Deshalb müssten wir
uns gemeinsam an die Arbeit machen.
Ich drösele nicht im Einzelnen auf, was der Masterplan enthält. Vieles davon ist in Ordnung. Dass wir von
Frankreich den Plan Innovation übernehmen, halte ich
für eine vernünftige Idee. Früher haben wir allerdings
die Ideen in Europa eingebracht und nicht die Pläne anderer übernommen. Dass die jungen Unternehmen bei
15 Prozent Forschungsaufwand in den ersten acht Jahren
steuerfrei gestellt werden, halte ich für eine gute Sache.
Das wird in dem Plan offensichtlich diskutiert. Dass wir
hier einen neuen Markt schaffen, einen Hightechmarkt,
halte ich eher für problematisch, aus Gründen, die wir
hier nicht diskutieren können; aber wir können an anderer Stelle darüber reden.
Was hier zu eher soften Themen wie Unternehmertraining und Markterschließung gesagt wird, mag alles
richtig sein. Immerhin geht es im Grundsatz in die richtige Richtung. Auch dass Herr Clement im Jahreswirtschaftsbericht und in seiner Mittelstandsoffensive „Pro
Mittelstand“ - da gibt es inzwischen wunderbare Papiere -, sagt, dass man Beteiligungskapitalfonds bilden
soll, auch in Public Private Partnership, halte ich für
prima. Ich sehe es nur noch nicht. Aber es muss geschehen. Hier liegt der wesentliche Punkt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde
ebenfalls prima, dass EU-Kommissar Busquin jetzt einen europäischen „Investing in research“-Plan aufstellt. Das ist alles wunderbar. Aber entscheidend ist,
dass etwas ins Gesetzblatt kommt. Wir versuchen hier,
der Bundesregierung in brüderlicher Hilfe Vorschläge
zu machen. Es ist schließlich Christenpflicht, den Bedürftigen zu helfen; da tun wir unser bescheidenes Bestes.
({2})
Wir sind völlig offen für innovative Vorschläge. Wenn
Ihre Ideen noch besser sind als die unseren, dann sind
wir glücklich und dankbar und nehmen sie mit Freude
auf. Aber dann wollen wir diese Sache durchziehen. Wir
können nicht alle Probleme lösen, aber wir können dafür
sorgen, dass die jungen Unternehmen wieder Luft zum
Atmen haben. Sonst verlieren wir eine ganze Kultur,
eine Kultur, die mehr als alle anderen neue Technik aus
der Wissenschaft gewinnt und diese überträgt.
Die ganzen Strategien zum Technologietransfer haben
nie optimal funktioniert. Aber wenn junge Frauen und
Männer dafür kämpfen, ihre Ideen in Produkte, Problemlösungen und Verfahren umzusetzen und sie in Märkte,
die durch die Produkte erst geschaffen werden, zu bringen, dann entsteht eine neue Welt, die Zukunftsperspektiven eröffnet und schnell wächst.
({3})
Das schafft nicht eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze,
aber das sind Bereiche, in denen es Zukunftsperspektiven gibt: die Welt der Quanten, die Welt der Gene, die
Welt der Computer, die Fähigkeit, Krankheiten zu heilen, die wir heute noch nicht verstehen, die Fähigkeit,
eine komplexe Welt zu begreifen.
Herr Kollege Riesenhuber, ich darf mit aller Vorsicht
an die abgelaufene Redezeit erinnern.
({0})
Die Beweglichkeit des Präsidiums bei der von den Fraktionen festgelegten Redezeit bleibt leider etwas hinter
Ihrer zurück.
Ich bitte sehr um Nachsicht, Herr Präsident.
Ich darf schließen mit dem herzlichen Wunsch an die
Koalition: Machen wir uns an die Arbeit und versuchen
wir, eine Lösung zu finden, die sich nicht in allgemeinen
Grundsatzpapieren erschöpft, sondern neue Hilfen einschließt, mit denen wir den jungen Unternehmen die
Möglichkeit verschaffen, die Zukunft für uns alle zu gewinnen. Auf gute Arbeit!
({0})
Der Kollege Tauss hat das Wort zu einer Kurzintervention erbeten. Bitte schön.
Ich freue mich auf die hohe Aufmerksamkeit. - Ich
will unmittelbar auf das, was Sie gesagt haben, antworten.
Sie haben, lieber Herr Kollege Riesenhuber, das Ausland angesprochen. Ich glaube, wir brauchen gar nicht
über den großen Teich zu schauen.
Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, was bei uns 2001,
2002 lief: Wir hatten 2001 500 Millionen Euro Risikokapital in diesem Land, 2002 waren es noch
77 Millionen Euro. Das ist keine Spielerei mit Jahreszahlen.
Sie haben den Zusammenbruch des Neuen Marktes
angesprochen. Ich halte es für eine Blamage für den Industriestandort und den Technologiestandort Deutschland, dass wir keine Technologiebörse mehr haben. Da
sind wir uns ja einig. Nur, dieser Zusammenbruch ist
doch nicht aufgrund von Beschlüssen erfolgt, sondern er
ist erfolgt, weil der überhitzten und aufgeblasenen New
Economy in vielen Bereichen das Gegenteil gefolgt ist.
So wird heute überhaupt nicht mehr investiert, weil auch
die Renditen gesunken sind.
Aus diesem Grunde habe ich die Bitte, dass Sie nicht
immer Forderungen an die Politik richten, sondern dorthin, wo sie hingehören. Die Banken versagen kläglich.
Es gibt keine Banken mehr, außer den kleinen und den
Sparkassen - darüber können wir heilfroh sein -, die ihr
Kreditgeschäft noch einigermaßen anständig betreiben
und Kreditabteilungen haben, die für junge Unternehmen zur Verfügung stehen und in der Lage sind, sie zu
beurteilen.
Es gibt konkrete Maßnahmen wie beispielsweise das
BTU-Programm mit einem Volumen von 1 Milliarde
Euro. In den letzten fünf Jahren hat Rot-Grün - ich sage
das, auch wenn Ihnen diese Zahl nicht gefällt; es ist unser aller Geld - 60 Milliarden Euro in die jungen Technologieunternehmen gesteckt. Wo ständen wir, wenn wir
es nicht gemacht hätten?
Da ich Sie als einen der wenigen seriösen Kollegen
aus Ihrer Fraktion im Bereich Technologie und Forschung schätze - viele gibt es nicht mehr; das habe ich
Ihnen schon einmal gesagt -,
({0})
habe ich die Bitte an Sie, sich nicht an der Miesmacherei
zu beteiligen und die Aufbruchstimmung, die wir gemeinsam fordern, nicht zu zerreden.
Wir sollten vielmehr ganz konkret darüber reden - ein
paar Punkte haben Sie angesprochen -, wo die Verantwortung liegt und an wen wir die Forderungen zu richten
haben. Aber zu sagen, auf diesem Gebiet sei nicht genügend getan worden, insbesondere nicht vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, ist nicht richtig.
Ich kann Ihnen sagen, dass das, was wir in den letzten
Jahren erreicht haben, schlichtweg sensationell war; das
sollten Sie auch als Oppositionspolitiker anerkennen. An
die Entwicklung der letzten Jahre müssen wir anknüpfen.
Ich würde mich freuen, wenn Sie an dieser Stelle, wie
Sie es sonst sind, korrekt bleiben würden.
Herr Kollege Riesenhuber, Sie möchten sich jetzt sicher für die Komplimente des Kollegen Tauss bedanken.
Genau das tue ich mit Respekt und brüderlicher Verbundenheit. Lieber Herr Tauss, Sie haben mich so
freundlich gelobt. Aber ich muss sagen: So sind wir alle.
({0})
Sie haben uns bis jetzt also nicht richtig eingeschätzt.
Was Sie an mir loben, ist bei uns nicht ungewöhnlich. In
anderen Parteien sieht es vielleicht anders aus.
Ich möchte nun auf die von Ihnen angesprochenen
Punkte eingehen. Ich kann im Moment nicht nachrechnen, ob die Zahl von 60 Milliarden Euro, die Sie in die
jungen Unternehmen gesteckt haben, stimmt. Angesichts
eines Bundeshaushalts von rund 240 Milliarden Euro
scheint mir das ein sehr stattlicher Betrag zu sein. Aber
diese Zahl wird sicherlich auf einer gesicherten Basis beruhen.
John Diebold hat einmal gesagt: Es kommt nicht darauf an, dass wir viel Geld für die Müllabfuhr bezahlen.
Es kommt vielmehr darauf an, dass die Straßen sauber
sind.
({1})
Da so viel Geld investiert wurde, muss man sagen, dass
es nicht am Geld gelegen hat, dass die Situation so
schlecht ist. Woran hat es dann gelegen?
({2})
Ich will nicht unterstellen, dass es an der fehlenden Intelligenz gelegen hat. Das verbietet mir schon der parlamentarische Umgang und der freundliche Respekt vor
Ihnen persönlich.
Sie sagten, dass es nicht an Beschlüssen lag, dass der
Neue Markt zusammengebrochen ist.
({3})
Sicher nicht! Aber vielleicht gab es den Zusammenbruch
wegen nicht gefasster Beschlüsse. Das wird sicherlich
nicht der einzige Grund sein; wie immer im Leben wird
es mehrere Gründe für diese Entwicklung geben. Trotzdem würde ich sagen, dass es weniger die Beschlüsse als
die nicht gefassten Beschlüsse hinsichtlich der Aktienoptionen bis hin zur Fondsbesteuerung waren. Ich habe
versucht, Ihnen das in einfachen und schlichten Worten
zu erläutern.
Schließlich sagten Sie, lieber Herr Tauss, die Banken
würden kläglich versagen.
({4})
Sie lesen sicherlich ebenso sorgsam Bilanzen wie jeder
andere von uns. Angesichts der Bilanzen muss man sich
fragen, wie viel die Banken noch riskieren können. Aus
der vorgelegten Bilanz der Deutschen Bank erkennt
man, dass sie mit dem Altkundengeschäft mehr verdient
hat als mit dem Investmentbanking.
({5})
Das heißt also, die Banken wissen genau, wo das nachhaltige Geschäft liegt.
Aber wenn Sie weder den Banken noch ihren Kunden
die Chance geben, Geld zu verdienen und Gewinne zu
machen,
({6})
und wenn Sie nicht eine wirkliche Steuersenkung
durchführen, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern,
dass der eine keine Kredite geben kann und der andere
nicht kreditfähig ist.
({7})
Die freundschaftliche Bitte an Sie ist: Lassen Sie die
Leute Geld verdienen! Lassen Sie die Leute erfolgreich
sein! Sie haben in der letzten Debatte gefragt, wie man
die Steuerpräferenzen - so haben wir sie genannt - für
die jungen Unternehmen finanzieren soll. Im Moment
nehmen wir keine Steuern von diesen Unternehmen ein,
weil sie nicht vorankommen. Wenn man ihnen aber
durch geringe Besteuerung von Fonds und Aktienoptionen Luft lässt und die Beratung und Finanzierung durch
Business Angels ermöglicht, dann kann der hochverehrte Finanzminister, den wir alle schätzen, in ein paar
Jahren von einer großen Zahl erfolgreicher junger Unternehmen eine reiche Ernte einfahren. Das wünschen wir
ihm. Vor allen Dingen wünschen wir den jungen Unternehmen, dass sie wirklich gut verdienen.
({8})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Wend,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir, dass ich den freundschaftlichen Ton von Herrn
Riesenhuber aufgreife und Ihnen, Herr Kollege
Riesenhuber, sage: Ihr Vortrag war der Form nach wie
gewohnt exzellent und in der Sache - wenn ich Ihre Ausflüge in die rituelle Kritik der Bundesregierung außer
Acht lasse - weitgehend zutreffend. Ich glaube übrigens,
dass der Antrag, den die CDU/CSU zu dieser Thematik
vorgelegt hat, ziemlich ausgezeichnet ist. Zu einem größeren Lob kann ich mich nicht hinreißen lassen.
({0})
Ich möchte Ihnen aber zunächst, bevor ich auf die
Dinge zu sprechen komme, in denen wir uns einig sind,
in zwei Punkten, die in Ihrem Vortrag anklangen und in
dem vorliegenden Antrag noch deutlicher zum Ausdruck
kommen, widersprechen. Zum einen sagten Sie - das
war ein Ausflug in die Makroökonomie -: Mit dem
Wirtschaftsstandort Deutschland wird es nur besser,
wenn wir endlich zu einer stärkeren Deregulierung
kommen. Dazu stelle ich fest: Nicht Sie persönlich, sondern Ihre Fraktion ist, was das Thema Deregulierung angeht, nicht mehr ausreichend satisfaktionsfähig.
({1})
Denn Sie können natürlich nicht in Sonntagsreden - von
mir aus auch donnerstagsnachmittags - die Deregulierung fordern, aber dann, wenn wir in der Praxis beim
Handwerksrecht deregulieren, auf die Barrikaden gehen
und sagen: Da machen wir nicht mit. Eines von beiden
geht nur: Sonntagsreden halten oder sich so verhalten,
wie Sie es ansonsten tun.
({2})
Wenn wir im Rahmen der Gesundheitsreform das
Thema der Apothekerkammern ansprechen und fragen:
„Muss das mit dem Vertrieb noch so sein oder können
wir nicht einen Versandhandel einführen und Mehrfachbesitz zulassen?“, dann sagen Sie dazu: Deregulierung
ja, aber nicht an dieser Stelle. Wenn man sich im Hinblick auf die Kassenärztlichen Vereinigungen fragt, wer
in diesem Bereich Verträge abschließen kann und ob wir
nicht auch hier deregulieren sollten, sagen Sie: Deregulierung ja, an dieser Stelle aber nicht.
Damit möchte ich Ihnen Folgendes sagen - ich verbinde damit eine Bitte -: Gleichgültig ob es um das allgemeine Thema Steuersenkungen oder um das allgemeine Thema Deregulierung geht, beides sind wichtige
Themen, die wir angehen müssen. Bei Ihnen aber verkommen sie in der aktuellen politischen Debatte dazu,
dass sie für Sonntagsreden herhalten müssen. Denn
wenn es um die praktische Umsetzung geht, stehen Sie
im Weg. Daran sollten Sie arbeiten.
({3})
Der zweite Punkt, den ich Ihnen wirklich nicht vorwerfe - ich glaube, so muss vermutlich jede Opposition
handeln -, ist: Es geht darum, dass Sie zu den Themen
Fondsbesteuerung, Business Angels, Stock Options
eine Reihe kluger Vorschläge machen. Das alles sind
wichtige Themen. Die Regierung hat in diesem Zusammenhang das Problem, dass es ihr gelingen muss, die
notwendigen finanziellen Mittel aufzubringen, um die
für sich genommen mehr als sinnvollen Vorschläge umzusetzen. Das ist nicht immer ganz einfach. Wir befinden uns in einem Zielkonflikt; wir müssen das im Zusammenhang mit dem Haushalt regeln. Darauf müssen
Regierungsfraktionen naturgemäß stärker achten, als Sie
dies tun müssen.
In diesen beiden Punkten habe ich also einen Einwand
bezüglich Ihres Antrages. In der Analyse der Situation
und in dem, was wir tun könnten, liegen wir aber nicht so
weit auseinander.
Ein paar Worte zur Lage des Beteiligungskapitalmarktes: Natürlich ist die Mobilisierung von Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen für die
SPD-Fraktion ein ganz wichtiges wirtschaftspolitisches
Ziel. Ich sage das deshalb, weil wir es vermeiden sollten,
über Dinge kontrovers zu diskutieren, die nicht kontrovers sind. Natürlich steckt der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieunternehmen - auch da
haben Sie Recht - derzeit in einer schweren Krise. Übrigens - auch das wissen Sie -, das ist keine rein deutsche
Besonderheit, sondern ein globales Phänomen. Ein großer Teil der Unternehmen, die mit Beteiligungskapital finanziert wurden, ist in Bedrängnis geraten oder gar insolvent.
Die Beteiligungskapitalgeber haben hohe Schäden zu
verkraften und sind oft nicht in der Lage, in ausreichendem Umfang Anschlussfinanzierungen zur Verfügung zu
stellen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich die Kapitalgeber bei neuen Engagements sehr bedeckt halten.
Die Zufuhr von Beteiligungskapital seitens privater
Kapitalgeber für junge innovative Unternehmen, die ihre
erste Finanzierungsrunde suchen, ist fast versiegt. Entsprechend rückläufig ist die Förderung der öffentlichen
Hand, die auf die frühen Phasen der Unternehmensentwicklung konzentriert ist. Die aktuellen Zahlen der
Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt für
Wiederaufbau sprechen dazu eine beredte Sprache.
Die Gründe für die schwierige Situation sind vielfältig: zum Teil nicht tragfähige Geschäftsmodelle, enttäuschte Erwartungen, Verfall von Unternehmensbewertungen, Krise und Auflösung des Neuen Marktes und
natürlich auch die eingetrübte Konjunktur. Was in welchem Umfang wofür kausal ist und wo die Zusammenhänge zu suchen sind, darüber kann man viel diskutieren.
({4})
Müssten heute nicht viele Beteiligungskapitalgeber ihre
knappen Mittel einsetzen, um den Bestand noch nicht
profitabler Beteiligungsunternehmen zu sichern, gäbe es
sicherlich auch keine so ausgeprägte Verknappung bei
Erstrundenfinanzierungen. Die Marktteilnehmer werden
aus der Entwicklung der letzten Jahre gewiss auch ihre
Lehren ziehen.
Zu den Maßnahmen, die vonseiten der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung vorgeschlagen werden: Die Bundesregierung leistet ihren Beitrag, damit
der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieunternehmen so schnell wie möglich wieder Tritt fasst.
Dazu ist es erforderlich, Förderansätze, die die jetzige
Bundesregierung noch aus Ihrer Zeit übernommen hat,
weiterzuentwickeln, auszubauen, im Einzelfall aber auch
im Hinblick auf die steuerlichen Auswirkungen kritisch
zu überprüfen, die nicht so linear, eindeutig und monokausal sind, wie Sie es beschrieben haben, Herr
Riesenhuber.
Anders als in den Jahren mit einer ausgesprochen euphorischen Stimmung am Kapitalmarkt reicht es derzeit
nicht aus, vor allem Kapital für die Frühphase zu mobilisieren und dann zu erwarten, dass der Markt die Anschlussfinanzierung schon bereitstellen werde. Wenn
aussichtsreiche Unternehmen und Projekte wegen der
gegenwärtigen Kapitalmarktlage an der Anschlussfinanzierung scheitern, ist das eine volkswirtschaftliche Verschwendung. Auf der anderen Seite soll man bekanntlich
schlechtem Geld kein gutes hinterherwerfen. Für den
Staat bedeutet das eine Gratwanderung und eine schwierige Abwägung; denn es wäre kaum zu rechtfertigen,
wenn der Staat einspränge, obwohl private Beteiligungskapitalgeber zu keinem weiteren Engagement bereit
sind. Es kann also immer nur um Anschubfunktionen
des Staates gehen.
Hier müssen wir uns fragen, was wir derzeit konkret
tun. Wir planen vonseiten der Bundesregierung und der
Koalition einen Dachfonds, der aus dem Europäischen
Investitionsfonds und dem ERP-Sondervermögen des
Bundes gespeist wird. Dieser Dachfonds, der für weitere
Partner offen ist, wird zusammen mit privaten Kapitalgebern in Venture-Capital-Fonds in Deutschland investieren. Der Dachfonds wird über die nächsten Jahre mit
rund 500 Millionen Euro eigenem Investment etwa
1,7 Milliarden Euro Beteiligungskapital für die Unternehmen in Deutschland mobilisieren können.
({5})
Wir hoffen, dass das für die privaten Kapitalgeber ein
deutliches Signal darstellt.
Auch auf der Ebene des Investments in einzelnen Unternehmen wollen wir den privaten Kapitalgebern zusätzliche Angebote machen, sich wieder verstärkt zu engagieren. Zusätzliche Liquidität soll dem Markt zur
Verfügung gestellt werden. Ferner hoffen wir, dass durch
die Fusion von KfW und DtA zusätzliche Anschubwirkungen organisiert werden.
Ein letztes Wort zu den steuerlichen Rahmenbedingungen, die Sie zu Recht ansprachen: Uns ist sehr wohl
bewusst, dass diesen steuerlichen Rahmenbedingungen
eine große Bedeutung zukommt. Mein Eindruck ist, dass
wir auch hier nicht auf ganz schlechtem Wege sind. Bei
der Fondsbesteuerung bin ich zuversichtlich, dass wir
gemeinsam - die Bundesländer wurden bereits angesprochen - zu sehr akzeptablen Lösungen kommen werden. Für die Mitarbeiterbeteiligungsoption hat das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit wiederholt flexible
Regelungen eingefordert und sich dafür eingesetzt, die
Veräußerungsgewinnbesteuerung bei Business-AngelInvestments zu überdenken. Ich glaube, dass das der
richtige Weg ist.
Meine Damen und Herren, in meinem Beitrag habe
ich versucht, auf Ihre zum Teil guten, zum Teil rituell etwas schwierigen Argumente differenziert einzugehen.
({6})
Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, bei diesem Thema,
das für unsere weitere wirtschaftliche Zukunft nicht völlig unbedeutend ist, das eine oder andere gemeinsam zustande zu bringen. Die Form unserer Debatte macht
mich diesbezüglich optimistisch.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gudrun Kopp,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! In
Bezug auf den Antrag der CDU/CSU-Fraktion, den die
FDP rundum als recht positiv beurteilt, lassen Sie mich
auch auf Ihre Worte eingehen, Herr Professor
Riesenhuber: Es gibt nicht nur höchste Insolvenzraten
bei der New und der Old Economy. Ich halte es ebenfalls
für Besorgnis erregend, dass fast jedes vierte deutsche
Unternehmen derzeit erwägt, die Produktion ins Ausland
zu verlegen, und zwar wegen der hohen Kosten aufgrund
der hier herrschenden Steuer- und Abgabenstrukturen.
Das ist alarmierend.
({0})
Hinsichtlich des fehlendes Eigenkapitals für den deutschen Mittelstand nenne ich ebenfalls ein paar Zahlen,
die wirklich sehr alarmierend sind. Nach einer Umfrage
des Sparkassen- und Giroverbandes aus dem vergangenen Jahr weisen nur noch 40 Prozent aller Unternehmen
eine Eigenkapitalquote auf; sie geht fast gegen null. Je
kleiner das Unternehmen ist, Herr Dr. Wend, desto größer sind die Probleme; das wissen wir alle.
({1})
Mehr als die Hälfte der Betriebe mit weniger als
1 Million Euro Jahresumsatz haben inzwischen schon
kein Eigenkapital mehr. Diese dramatische Situation
muss uns alle umtreiben; sie gilt es zu überwinden.
({2})
Lösungen dafür findet man aber auf gar keinen Fall, indem man jede Woche oder fast jeden Tag über neue
mögliche Steuererhöhungen spricht.
({3})
Die Diskussion über die Themen Tabaksteuer und Mehrwertsteuer sowie eine mögliche Erhöhung der Mineralölsteuer - heute aktuell in den Medien zu lesen - ist Gift
für die Konjunktur, Gift für den Wirtschaftsstandort
Deutschland.
({4})
Das führt zu einer totalen Verunsicherung bei den Firmen.
({5})
Es ist doch überhaupt keine Frage, dass die im deutschen Einkommensteuerrecht vorgenommene Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze bei Beteiligungen auf
ein Prozent erheblich zur Schwächung der Beteiligungskultur beigetragen hat.
({6})
Jeder Business Angel wird sich zweimal überlegen, ob
er wirklich sein Geld zur Verfügung stellen kann, weil es
vorher vom Finanzminister zum größten Teil schlicht
einkassiert wird.
Natürlich haben die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion völlig Recht mit ihren Aussagen,
dass Kontrollmitteilungen faktisch bereits eingeführt
seien und dass eine Mindeststeuer am Finanzplatz
Deutschland diesem sehr großen Schaden zufügen
würde. All dies sind Diskussionen, die uns schaden.
Mir geht es darum, Herr Kollege Tauss, dass wir nach
Lösungen für diese wirklich dramatische Situation suchen, die alles andere als lustig ist.
({7})
Angesichts dieser verfehlten Wirtschafts- und Steuerpolitik unterstreiche ich noch einmal, was Herr Kollege
Riesenhuber völlig zu Recht sagte: Wir können noch so
viele Fonds auflegen, uns noch so sehr bemühen, Programme zu initiieren. Alle Anstrengungen, die wir unternehmen, werden null und nichtig sein, sofern wir nicht,
um Luft zu bekommen, mit einer klaren, einfachen Besteuerung für jeden Arbeitnehmer und für Unternehmen
hier am Standort Deutschland einen Impuls setzen.
Wir haben vor längerer Zeit ein klares und einfaches
Steuerkonzept mit Steuersätzen von 15, 25 und
35 Prozent vorgelegt.
({8})
- Gerecht ist es natürlich auch. - Ehrlicherweise muss
man die Frage stellen, wie dies finanziert werden kann.
Die Anregungen, die Herr Professor Paqué, Finanzminister in Sachsen-Anhalt, am vergangenen Freitag gegeben hat - sie sind in der „FAZ“ nachzulesen -, halte ich
für hervorragend. Natürlich müssen wir uns nicht nur
über Subventionsabbau unterhalten, sondern in dieser
Hinsicht auch handeln, und zwar nicht selektiv. Es war
von Steuersenkungen und von Deregulierungen die
Rede, aber es fehlte das Stichwort Subventionsabbau.
Ein Befreiungsschlag ist nur durch eine pauschale Senkung der Subventionen möglich.
({9})
Nur dann schaffen wir es, Milliarden einzusparen. Ich
bitte Sie, in dieser Hinsicht künftig sehr viel mutiger zu
sein.
Wenn Sie nicht glauben, dass dies derzeit möglich ist,
dann führe ich an, welche Gesamtsumme an Subventionen das Institut für Weltwirtschaft in Kiel genannt hat.
Sie betrug im Jahr 2001 - man höre und staune 155 Milliarden Euro.
({10})
Das entspricht einem Drittel unserer gesamten Steuereinnahmen; das muss man sich einmal vorstellen. Wenn
man davon abzieht, was an staatlichen und halbstaatlichen Subventionen gezahlt wird, bleiben - quasi netto immer noch Subventionen in Höhe von 110 Milliarden
Euro. Wenn Sie nur 20 Prozent davon pauschal streichen, dann haben Sie ein Einsparvolumen von
22 Milliarden Euro.
({11})
Das ist ein Batzen Geld.
Ich kann Sie nur auffordern, wirklich mutige Schritte
zu Liberalisierung, Deregulierung, Steuersenkung und
Subventionsabbau zu vereinbaren. Dann haben Sie auch
uns auf der Seite derjenigen, die mitarbeiten.
Ich kann nur noch einmal sagen: Der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion ist wirklich sehr gut. Ich freue mich
auf die Debatte darüber in den entsprechenden Ausschüssen und hoffe, dass wir endlich vom Reden zum
Handeln kommen.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort der Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorab zwei Bemerkungen zu Ihnen, Frau Kopp.
Der erste Punkt. Ich gebe Ihnen völlig Recht; auch ich
erachte das Steuerrecht für zu kompliziert. Unser Problem ist aber, dass in der Bundesrepublik Deutschland
über Jahrzehnte alle gesellschaftspolitischen Felder - von
der Bildung über die Familie und die Bauförderung bis
hin zur Kulturpflege - im Steuerrecht geregelt wurden
und dass es unheimlich schwer ist, das wieder zurückzudrehen. Ich glaube, wir sind darüber einig, dass man die
notwendigen Investitionen an der einen oder anderen
Stelle besser über Direktinvestitionen als über das Steuerrecht regeln könnte. Das ist ein sehr schwieriger Weg.
Aber man muss ihn gehen; da gebe ich Ihnen Recht.
Der zweite Punkt. Selbstverständlich werden wir weiter Subventionen abbauen. Aber ich möchte Sie bitten,
dass Sie, wenn Sie die vom Institut für Weltwirtschaft
genannte Summe von 155 Milliarden Euro aufgreifen,
den Bürgerinnen und Bürger auch sagen, dass in diesen
Subventionen die Finanzierung unserer Bildungseinrichtungen enthalten ist. Es entspricht dem Grundgesetz und
unserem Verfassungsauftrag, dass der Staat für die Finanzierung dieser Einrichtungen aufkommt. Dies ist
nicht privatwirtschaftlich zu tragen.
({0})
- Das ist keine Subvention im engeren Sinne. Ich vermute, es wird sehr mühsam sein, sich zunächst einmal
auf einen Subventionsbegriff zu verständigen.
Dazu werden Vorlagen kommen. Ich bin gespannt,
wie die FDP sich verhält, wenn es konkret wird. Denn
dann sind Sie meistens nicht mehr dabei.
({1})
Es gibt zwei Gründe, warum mir der Antrag, den die
Union vorgelegt hat, nicht so gut gefällt.
Herr Riesenhuber, der erste Grund ist: Der Duktus des
Antrages ist mir zu negativ. Er verbreitet eine schlechte
Stimmung.
({2})
Wir alle sind der Auffassung, dass wir hier etwas tun
müssen und sollen. Es ist klar, dass die Förderung von
jungen Technologieunternehmen ein Schlüssel zur Innovationstätigkeit der Gesellschaft in Bezug auf neue
Produkte und Technologien ist. Wir sollten das positiv
formulieren und nicht immer alles als ganz furchtbar
darstellen.
Der zweite Grund ist: Die Lösungsansätze zu steuerlichen Fragen, die Sie hier formulieren, sind ein Schnellschuss. Wir können keine steuerlichen Regelungen
mehr gebrauchen, die denjenigen große Schlupflöcher
eröffnen, die sie nicht brauchen. Die Regelungen müssen
zielgenau, effektiv, kontrollierbar, nachvollziehbar und
im internationalen Wettbewerb sinnvoll sein.
({3})
Wir dürfen keine Maßnahme ergreifen, ohne uns die
Konsequenzen zu überlegen. Ich denke, wir werden im
Laufe des Verfahrens noch über die eine oder andere
Maßnahme diskutieren können.
Da Sie sich immer für die negative Seite zuständig
fühlen, möchte ich ein paar positive Sachen sagen.
({4})
Deutschland ist der zweitwichtigste Technologieexporteur der Welt, das weist der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit des letzten Jahres aus.
({5})
Wir haben hier nach wie vor eine weltweit führende Position, übrigens auch bei Patentanmeldungen. Tatsache
ist auch, dass nach dem Gründungsboom im Hightechbereich Ende der 90er-Jahre, speziell im Segment IT und
im Bereich der Biotechnologie, im Zuge der anhaltenden
Konjunkturschwäche ein Rückgang an Neugründungen
stattgefunden hat. Dass wir eine Zunahme an Insolvenzen verzeichnen mussten, ist richtig. Aber man darf die
Ursachen dieser Entwicklung nicht vorrangig auf mangelhafte steuerliche Rahmenbedingungen zurückführen.
Man muss die eigentlichen Ursachen auch im Zusammenhang mit den gestaltbaren Rahmenbedingungen für
innovatives Handeln von Unternehmen sehen.
Die Aussagen in der aktuellen Analyse der Deutsche
Bank Research vom Mai 2003, die wir bekommen haben, klingen viel seriöser als das, was Sie formulieren.
Ich zitiere kurz aus dem Bericht. Dort heißt es:
Ein Teil des Rückgangs der Gründungsaktivitäten
kann durch die anhaltende Wachstumsschwäche in
Deutschland erklärt werden. Ein bedeutender Teil
des Nachlassens ist aber auf das Platzen der Bubble
an den Wachstumsbörsen und am Venture-CapitalMarkt zurückzuführen.
Die Übertreibungen an diesen Märkten - das ist die Interpretation - führten natürlich auch zum Zusammenbruch
des Neuen Marktes. Spekulationsblasen an Börsen hat
nicht - das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen die Politik zu verantworten. Vielmehr sind es die Akteure
auf den Märkten selbst, die dies zu verantworten haben.
({6})
Wir haben für vieles, aber nicht für alles die Verantwortung. Leider haben auch hier unseriöse Investitionsentscheidungen stattgefunden; das war nach der Konsolidierung der
Venture-Capital-Märkte bei Unternehmensneugründungen
zu sehen. Hier müssen wir feststellen, dass Unternehmer
ihre Fehlinvestitionen und Finanzanleger und -anlegerinnen
ihr spekulatives Verhalten selbst zu verantworten haben.
Die Politik kann und will hier bessere, kalkulierbare
Rahmenbedingungen für Investorenverhalten bieten.
Ich denke, das ist auch sinnvoll. Bei Bund, Ländern und
Kommunen existieren insgesamt 129 Förderprogramme,
die sehr sorgfältig geprüft und ausgebaut werden. Eine
Vielzahl dieser Programme wird, was sehr schön ist, gerade in der letzten Zeit wieder stärker in Anspruch genommen. Hier gibt es also durchaus positive Gesichtspunkte. Aber nach wie vor stellen die Risikoaversion
und der Gründungspessimismus unter den Deutschen
große strukturelle Hemmnisse für innovative Neugründungen dar. Das ist eine psychologische Realität.
Ich sage es einmal ganz neutral: Das hat nichts mit
der steuerlichen Frage zu tun. Dem ist auch nicht unbedingt durch Förderprogramme zu begegnen, sondern nur
mit einem Mentalitätswechsel der Akteure und der potenziellen neuen Unternehmer und Unternehmerinnen.
Diesen Aspekt muss man berücksichtigen, wenn man
Vergleiche mit den USA betrachtet; denn dort ist die Situation ganz anders - hierzu gibt es wunderbare Untersuchungen -: Die Risikobereitschaft ist höher und dementsprechend ist die Grundsituation eine ganz andere.
Lassen Sie uns also, da wir die Zukunft positiv gestalten, hier investieren und diese Unternehmenskultur fördern wollen, die entsprechenden Regelungen gemeinsam
weiterentwickeln! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir
die unternehmerischen Talente in der Bundesrepublik
Deutschland fördern! Lassen Sie uns aber in der öffentlichen Diskussion bitte nicht den Fehler machen, unseren
Standort immer schlecht zu reden! Denn wenn wir das
tun, was leider vorwiegend vonseiten der FDP geschieht,
({7})
führt dies dazu, dass die Motivation derjenigen, die hier
ein Unternehmen gründen wollen, nicht gerade gefördert
wird. Darum sollte es uns aber eigentlich gehen.
Danke schön.
({8})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte gehört ja, was das Aufeinander-Zugehen anbetrifft, zweifelsfrei zu einer der erfreulicheren Debatten. Das fing
mit Ihnen, Herr Professor Riesenhuber, an und hat sich
so weitgehend fortgesetzt.
Ich persönlich bin sehr davon überzeugt, dass man genau hinsehen muss, wenn man junge Gründungsunternehmen, egal aus welchen Bereichen, fördert, ob man
sich nicht selber in die Tasche lügt, wenn man dies in
erster Linie durch Veränderung der steuerlichen Kulisse
macht, weil die Gründer selber und ihre Unternehmen in
ihren Verlustphasen davon meistens leider relativ wenig
haben; es sei denn, man überträgt die Vorlaufverluste sozusagen bis in alle Ewigkeit. Aber dann wird das, was
aus ihnen wird, wiederum für den Fiskus außerordentlich schwer kalkulierbar.
Deswegen haben wir in Deutschland in der Vergangenheit darauf gesetzt und setzen darauf auch heute
- das gilt übrigens für alle Industrieländer, die einen hohen Anteil von Forschungs- und Entwicklungskosten im
privaten wie im öffentlichen Bereich aufweisen, woraus
Unternehmensgründungen hervorgehen -, diesen Unternehmen durch direkte Förderung zu helfen. Sie selber
haben darauf abgehoben. Es gab eine Menge an Beteiligungskapital und Gründungshilfen über die KfW und die
DtA. Das wird künftig über die KfW-Mittelstandsbank,
wie sie, nachdem wir uns gestern geeinigt haben, heißen
wird, fortgeführt.
Das Problem ist natürlich, dass die Zahlung von Hilfen einen gewissen Eigenanteil bei der Finanzierung
voraussetzt, der denjenigen, die Unternehmen neu gründen oder bestehende Unternehmen fortführen wollen,
zunehmend fehlt.
Noch viel schwieriger ist - darauf ist ebenfalls schon
eingegangen worden -, Hausbanken zu finden, die sich
bei der Finanzierung eines normalen mittelständischen
Unternehmens über das normale Risiko hinaus engagieren. Sie sind noch nicht einmal bereit, „Querschreibungen“ vorzunehmen, also einen zinsgünstigen Kredit der
Mittelstandsbank durchzureichen. Das ist ein riesengroßes Problem, das wir angehen müssen. Wir sind auf jeden Fall bereit, über die Instrumente der Banken, die wir
haben und die wir sogar etwas schärfer gefasst haben,
Mittel auszugeben und die Programme fortzusetzen, und
zwar in vergleichbarer Größenordnung wie in der Vergangenheit. Wir müssen aber auch die Umgebung entsprechend anpassen.
Es ist eben anschaulich dargestellt worden, dass vieles dazu beigetragen hat, dass im Hightechbereich im
Augenblick keine Gründungsstimmung aufkommen
will. Das eine Problem ist, dass in diesem ganz interessanten Segment, über das alle gestaunt haben, eine Blase
geplatzt ist. Heute trauen sich viele diesen Schritt nicht
und gehen ihn nicht, auch wenn sie könnten. Das ist ein
großes psychologisches Problem, an dessen Lösung man
arbeiten muss und bei dem man durch öffentliche Darstellung viel erreichen kann. Es fängt bei der Schule an,
geht aber bis dahin, dass die Politik über solche Vorgänge redet und so darauf hinwirkt, dass sich die Menschen wieder trauen, sich selbstständig zu machen.
Ein weiteres Problem ist, dass sich die Anleger, die
auf dem Venture-Capital-Markt investiert haben, zunehmend des Risikos bewusst werden. Dies ist insbesondere deswegen der Fall, weil die normalen Ertragsquellen, aus deren Überschüssen sie diese Investitionen in
der Vergangenheit finanziert haben, in der Regel nicht
mehr in dem Maße sprudeln wie in der Vergangenheit
und alles etwas näher am Rand genäht ist. Sie müssen etwas stärker auf ihren Cashflow achten. Wenn also die
Quelle versiegt, wenn das Geld, das investiert werden
soll, gerade einmal für das Kerngeschäft reicht, dann
kann man betteln und beten, sogar noch etwas Geld hinterherwerfen und obendrein noch die Steuersätze senken
- aber Venture-Capital-Beteiligungen werden die Anleger nicht eingehen. Das machen sie nun einmal nicht aus
reiner Nächstenliebe.
Insofern glaube ich, dass man zwei Dinge beachten
muss. Man muss zum einen dafür sorgen, dass sich das
Pendel, das nach dem IT-Boom, nach der Begeisterung
und nach dem Platzen der Spekulationsblase in einem
Bereich des absoluten Attentismus gestanden hat, wieder
in einen normalen Bereich einpendelt.
Man muss zum anderen dafür sorgen, dass der Venture-Capital-Markt verstetigt wird. Dazu gehört, dass wir
uns die Möglichkeiten der öffentlichen Hilfen ansehen
müssen. Neben den Programmen der KfW, die nach wie
vor eine beachtliche Größenordnung aufweisen - KfW
und DtA haben im letzten Jahr zusammen 600 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt; das ist auch im europäischen Vergleich, den wir nicht zu scheuen brauchen, sehr
viel Geld -, müssen wir, wo es vernünftig ist, auf die
steuerliche Kulisse sehen.
Sie haben das Thema Business Angles angesprochen.
Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert; das wissen Sie
wahrscheinlich genauso gut wie ich. Es geht um die
Frage der wesentlichen Beteiligung. Wenn man eine
nicht wesentliche Beteiligung eingeht, dann ist man
- auch bei einem Gesellschafterdarlehen -, was die Haftung angeht, weitgehend außerhalb des Risikos. Im Falle
einer Insolvenz kommt man, zumindest theoretisch, auf
einen recht hohen Platz auf der Gläubigerliste. Wenn
man eine wesentliche Beteiligung eingeht, dann ist man
zwar voll in der Haftung, hat aber den großen Vorteil,
dass man die Verluste einer solchen Beteiligung im selben Jahr oder zeitlich gestreckt bei der Steuer voll mit
seinen anderen Einkünften verrechnen kann. Beides
gleichzeitig geht aber nicht.
Als wir damals diese Änderungen im Steuerrecht vorgenommen haben, habe ich mit den betreffenden Agenturen und Einzelpersonen geredet. Am liebsten hätten sie
natürlich beides, nämlich die Möglichkeit der vollständigen Absetzbarkeit möglicher Verluste und gleichzeitig
den Platz eins auf der Gläubigerliste. Das geht bei einem
solchen Geschäft nicht. Wir müssten überlegen, wie man
Reinhard Schultz ({0})
zu einer Regelung kommen kann, die etwas besser auf
diese besondere Situation zugeschnitten ist, sodass kein
Sonderfall geschaffen wird, der natürlich Begehrlichkeiten bei anderen hervorruft.
Das Gleiche gilt auch für die steuerliche Behandlung
von Risikobeteiligungen. Im Gegensatz zu manchen
anderen glaube ich, dass wir bei dem im Zusammenhang
mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz verfolgten
Ansatz, die Verlustzuweisungen zu begrenzen, richtig
gehandelt haben. Es wird ja niemandem die Möglichkeit
des Verlustvortrags genommen, sondern sie wird auf der
Zeitachse lediglich verstetigt. Im Grunde genommen ist
es eher eine Optimierung der persönlichen steuerlichen
Situation des betroffenen Bürgers, der Einkommensteuer
zahlen muss, und des Unternehmens, das Körperschaftsteuer zahlt. Niemandem wird die Möglichkeit des Verlustvortrags genommen, sondern sie wird - zugunsten
der Verstetigung der Steuereinnahmen - lediglich vernünftig auf der Zeitachse verteilt. Bei der Körperschaftsteuer haben wir dies gemeinsam mit dem Bundesrat so
geregelt.
Für viel wichtiger halte ich neue Vorstöße bei der Mobilisierung privaten Beteiligungskapitals. Im Rahmen
einer Anhörung des Finanzausschusses zum Finanzplatz
Deutschland hatten wir gestern eine ganz spannende
Diskussion. Alle Varianten von der Fondsfinanzierung
bis zum Aufbau neuer Märkte - es geht darum, eigene
Börsen für bestimmte Hightech-Segmente aufzubauen -,
sind diskutiert worden. Wir haben noch einmal unterstrichen, dass wir in Bezug auf die Fonds das fortsetzen
werden, was wir bereits im Steuervergünstigungsabbaugesetz vorgesehen haben. Wir werden die inländischen
und die ausländischen Fonds zum 1. Januar 2004 steuerlich völlig gleichstellen. Das ist seit längerem bekannt
und auch verbindlich. Das schafft Planungssicherheit
und es werden Produkte angeboten und Programme aufgelegt, die dieser neuen und mit Recht erwarteten steuerlichen Kulisse entsprechen. Ich hoffe, dass auch für die
Segmente, die wir hier diskutieren, etwas Maßgeschneidertes aufgelegt wird.
In Bezug auf das Investmentgesetz, in dessen Rahmen
dies vorgesehen ist, und das Investmentsteuergesetz, das
parallel dazu verabschiedet wird, werden wir auch zu
überlegen haben, ob wir der Finanzaufsicht nicht mehr
Ermessensspielraum einräumen sollten, sodass sie kurzfristig auf Produktideen, die dieser Gründerkulisse eher
entsprechen, reagieren kann und wir weg von der starken
Verrechtlichung kommen. Diese erklärt sich aufgrund
des Sicherheitsbedürfnisses, sie führt aber zu sehr langsamen Reaktionen der Aufsichtsbehörden bei neuen
Ideen.
Der Chef der Deutschen Börse hat uns gesagt, dass es
neue Hightech-Börsen geben wird. Es ist die Pflicht der
Deutschen Börse und der Regionalbörsen, dafür zu sorgen, dass sie eingerichtet werden, auch in internationaler
Kooperation. Der Neue Markt ist ja geschlossen worden.
Es sind ja nicht alle Unternehmen, die in diesem Index
notiert waren verschwunden; ein großer Teil wird inzwischen an den - in Anführungszeichen - normalen Börsen
international gelistet. Ein anderer Teil ist allerdings
„weg vom Fenster“.
Wir werden neue Anstrengungen erleben, die die
Gründerszene massiv befruchten werden. Ich denke, wir
sollten das konstruktiv unterstützen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/815 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
10 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Handwerksordnung und zur Förderung
von Kleinunternehmen
- Drucksache 15/1089 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Hinsken, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Handwerk mit Zukunft
- Drucksache 15/1107 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Meisterbrief erhalten und Handwerksordnung
zukunftsfest machen
- Drucksache 15/1108 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat der Kollege
Brandner für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einbringung des Gesetzentwurfes zur Änderung der Handwerksordnung und zur
Förderung von Kleinunternehmen schließen wir eine Lücke aus der Hartz-II-Gesetzgebung. Es geht um das Konzept der Ich-AG. Wie Sie wissen, gehören zur Ich-AG
der Existenzgründungszuschuss aus dem Sozialgesetzbuch III, die Minimalbesteuerung, die Einführung einfacher
Buchführungsrichtlinien für Kleinunternehmen und vor allem auch die Liberalisierung der Handwerksordnung.
Das Kleinunternehmerförderungsgesetz werden wir
morgen in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Es
benötigt allerdings die Zustimmung des Bundesrates. Der
jetzt vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
der Handwerksordnung ist jedoch nicht zustimmungspflichtig. Wir können und werden ihn deshalb zügig beraten und noch vor der Sommerpause verabschieden.
({0})
Erst wenn alle drei Teile des Konzepts im Gesetzblatt
stehen, wird sich - wir werden es sehen - bei der Ich-AG
eine Gründungsdynamik entwickeln.
({1})
- Nun stöhnen Sie nicht schon jetzt, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU; denn entgegen allen
Unkenrufen ist unser Weg, Existenzgründungen aus der
Arbeitslosigkeit heraus zu fördern, bereits jetzt ein voller
Erfolg.
({2})
Allein in den ersten fünf Monaten haben mehr als
90 000 Arbeitslose den Sprung in die Selbstständigkeit
gewagt,
({3})
davon 26 000 allein in Form der Ich-AG. Dabei konnte
dieses Konzept - ich wiederhole mich -, seine volle
Wirksamkeit noch gar nicht entfalten. Wir versprechen
uns deshalb von der raschen Umsetzung der Liberalisierung im Handwerksbereich und von der zügigen Beratung des Kleinunternehmerförderungsgesetzes im Bundesrat einen weiteren Durchbruch für mehr Existenzen
und mehr Beschäftigung.
({4})
Uns hat in den vergangenen Monaten eine Flut von
Anfragen Arbeitsloser erreicht, die sich selbstständig
machen wollten, jedoch von den Handwerkskammern
mit Blick auf die geltende Handwerksordnung daran gehindert wurden. Abmahnungen, Bußgelder und Betriebsschließungen wurden Existenzgründern angedroht oder
teilweise vollzogen. Das wollen und müssen wir ändern.
({5})
Wir wollen in einem ersten Schritt die Handwerksordnung für den Bereich einfacher Tätigkeiten entzerren
und liberalisieren. Wir nehmen mit dieser kleinen Novelle eine Klarstellung in das Gesetz auf, die der
höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht. Worum
geht es konkret? In § 1 Abs. 2 der Handwerksordnung
heißt es:
Ein Gewerbebetrieb ist Handwerksbetrieb im Sinne
dieses Gesetzes, wenn er handwerksmäßig betrieben wird und ein Gewerbe vollständig umfasst, das
in der Anlage A aufgeführt ist, oder Tätigkeiten
ausgeübt werden, die für dieses Gewerbe wesentlich sind ({6}).
Es kommt also auf die wesentlichen Tätigkeiten an. Wir
wollen nun mit diesem Gesetz klarstellen, welche Tätigkeiten nicht zum Kernbereich eines Handwerks gehören,
also keine wesentlichen Tätigkeiten im Sinne § 1 Abs. 2
des Gesetzes sind.
Keine wesentlichen Tätigkeiten eines Gewerbes der
Anlage A der Handwerksordnung sind insbesondere so
genannte einfache Tätigkeiten, die in kurzer Anlernzeit
erlernbar sind. Das Bundesverfassungsgericht hat „einfache Tätigkeiten“ definiert: Es sind Tätigkeiten, die ein
durchschnittlich begabter Berufsanfänger in zwei bis
drei Monaten erlernen kann. Wir stellen in diesem Gesetz aber auch klar, dass wesentliche Tätigkeiten auch
dann nicht vorliegen, wenn sie zwar eine längere Anlernzeit verlangen, aber für das Gesamtbild des betreffenden Gewerbes der Anlage A nebensächlich sind und
deshalb nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern,
auf die die Ausbildung in diesem Gewerbe hauptsächlich
ausgerichtet ist. Schließlich zählen zu den wesentlichen
Tätigkeiten im Sinne von § 1 Abs. 2 der Handwerksordnung nicht solche Tätigkeiten, die sich nicht aus einem
Gewerbe der Anlage A entwickelt haben.
Mit dieser kleinen Novelle werden viele Unklarheiten
der Auslegung der Handwerksordnung und noch mehr
Ungereimtheiten bei ihrer Ausführung beseitigt. Wir
werden dadurch mehr Existenzgründungen ermöglichen,
die bisher verhindert oder behindert wurden. Gerade
heute Morgen haben wir in einem Gespräch mit den führenden Vertretern der Handelsverbände in Deutschland
erfahren, dass der Handel Impulse braucht, um aus der
negativen Stimmung herauszukommen. Er sieht einen
Impuls darin, durch geschlossene Serviceleistungen
neue Beschäftigungsfelder zu erschließen. Zum Beispiel
könnten diejenigen, die Teppiche verkaufen, zugleich
auch die Serviceleistung des Verlegens oder des Anbringens von Fußleisten anbieten. Es sind also viele Geschäftsfelder denkbar, von denen Beschäftigungsimpulse
ausgehen können. Bereiche, die heute brach liegen,
könnten wir mit dieser gesetzlichen Änderung leicht erschließen.
Mit der kleinen Novelle der Handwerksordnung eröffnen wir zugleich die Diskussion über die große Novelle der Handwerksordnung, die mit der Vorlage des
Regierungsentwurfs vom 28. Mai 2003 begonnen
wurde. Lassen Sie mich deshalb mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen dazu schließen.
Die Reform der Handwerksordnung kommt aus
meiner Sicht mindestens 13 Jahre zu spät. Spätestens mit
der Vereinigung Deutschlands wäre eine grundlegende
Reform der Handwerksordnung überfällig gewesen. So
haben wir noch zu Beginn der 90er-Jahre das alte Regelwerk in die neuen Bundesländer übertragen, mit fatalen
Konsequenzen für die Gründungsdynamik in diesen
Ländern. Wir hätten uns viel Ärger ersparen und für
viele Gründungswillige auch ein hohes Maß an Ungerechtigkeiten vermeiden können, wenn wir schon damals
mutig an eine Novellierung der Handwerksordnung herangegangen wären. Wie viele hoch qualifizierte Techniker, Ingenieure und Werkmeister aus der ehemaligen
DDR sind davon abgehalten worden, sich im Handwerk
selbstständig zu machen, mit der Begründung, sie hätten
keinen Meisterbrief? Das werden wir jetzt ändern - für
viele leider 13 Jahre zu spät.
Zum Schluss noch eine Bitte an das Handwerk und an
die Verbandsfunktionäre: Rüsten Sie verbal ab!
({7})
Was hier in den letzten Tagen und Wochen an Verbandsradikalismen in die Debatte eingeführt wurde, ist nur
schwer erträglich.
({8})
Ich will hier auf Beispiele verzichten. Es war jedenfalls
nicht meisterlich, was dort geboten wurde. Es ist eher
beschämend, meine Damen und Herren.
Den Handwerkern, die uns heute zuhören, sage ich:
Wenn wir jetzt nicht handeln, dann können wir das
Handwerksrecht in Deutschland nicht zukunftssicher
und europafest machen.
({9})
Wir stehen zum Meisterbrief. Wir schaffen ihn nicht ab.
Wir fördern ihn beispielsweise, indem wir das BAföG
auf eine neue und erweiterte Grundlage gestellt haben.
Damit schaffen wir Qualitätsstandards, von denen viele
andere nur träumen.
({10})
Aber die Voraussetzung für die Berufsausübung ist doch
nicht allein der große Befähigungsnachweis. Wem wollen
Sie denn klar machen, dass sich ein Diplom-Ingenieur im
Handwerk nicht selbstständig machen kann, sondern nur
derjenige, der eine entsprechende Meisterprüfung abgelegt hat?
({11})
Wir werden in der Debatte, die uns von anderen europäischen Mitgliedstaaten und den europäischen Gerichten aufgezwungen wird, immer mehr in die Defensive
gedrängt, wenn wir jetzt nicht handeln. Demnächst werden Anbieter aus zwölf europäischen Nachbarländern
bei uns ihre Handwerksleistungen ungehindert anbieten
können, ohne den gleichen strengen Zugangsvoraussetzungen zu unterliegen wie ihre deutschen Mitkonkurrenten. Hier muss etwas passieren.
({12})
Den zukünftigen Existenzgründern sage ich: Wir werden für mehr Berufsfreiheit in einem bisher regulierten
Markt sorgen. Das wird Ihnen helfen. Es wird erheblich
leichter sein, eine selbstständige Existenz im Handwerk
zu gründen. Wir werden Ihnen dabei zur Seite stehen,
angefangen mit Förderinstrumenten wie dem Überbrückungsgeld oder der Ich-AG, mit steuerlichen Hilfen und
günstigen Kreditprogrammen der Mittelstandsbank, mit
der Modernisierung der beruflichen Bildung, bis hin
zum Meister-BAföG. Damit bieten wir ein komplettes
Programm an. Ich denke, dieses Programm ist in die Zukunft gerichtet. Ich bitte Sie dazu um Ihre Unterstützung.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Brandner, auch wenn Sie sich noch so oft einreden,
dass die Ich-AG etwas Gutes sei: Es wird nicht stimmen.
Die Realität draußen zeigt etwas ganz anderes. Die
Sorge im Handwerk ist gerade wegen der Einführung der
Ich-AG besonders groß. Wenn Sie als Spitzenredner und
wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD hier ans Pult geErnst Hinsken
hen, dann, so meine ich, sollten Sie sich so vorbereiten,
dass Sie nichts Falsches sagen.
({0})
Sie haben darauf verwiesen, dass die Novellierung der
Handwerksordnung um 13 Jahre zu spät kommt, dass damals nicht gehandelt wurde, als die neuen und die alten Bundesländer vereinigt wurden. Hinsichtlich der Anerkennung
von Meisterprüfungen - zum Beispiel in der Industrie möchte ich Sie daran erinnern, dass die Verordnung über
die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen von
Meistern 1991 im Bundestag beschlossen wurde. Ich sehe
es Ihnen nach, dass Sie das nicht wissen, weil Sie damals
noch nicht im Bundestag waren. Sie können es aber nachlesen. Wir waren damals sehr wohl auf der Höhe der Zeit
und haben die notwendigen Maßnahmen ergriffen.
({1})
Ich gehöre zu den Anhängern des großen Befähigungsnachweises. Ich gehöre zu denen, die die
Handwerksordnung, die das Handwerk mit seinem
Kammerwesen, mit seinem Innungswesen für unverzichtbar halten.
Das sagte - passen Sie jetzt gut auf! - Bundesminister
Clement auf dem Deutschen Handwerkstag am 29. November 2002, also vor einem halben Jahr, in Leipzig.
({2})
Ich zitiere Bundesminister Clement weiter:
Es wird durch diese Bundesregierung, jedenfalls
durch mich, keine Maßnahmen geben, die gewissermaßen von oben herab Veränderungen im Handwerk erzwingen wollen.
({3})
Das, was wir tun, was wir tun können im Verhältnis
zum Handwerk, was die Rechtsordnung angeht, die
Handwerksordnung angeht, das wird nur so gestaltet werden, dass Sie
- gemeint war das Handwerk mitgehen. Wir werden das mit Ihnen tun, das was
notwendig ist, aber nicht ohne Sie, nicht gegen Sie
und erst recht nicht von oben herab. Das ist mein
Verständnis der Arbeit.
({4})
Wo er Recht hat, hat er Recht. Aber den Worten müssten auch Taten folgen. Davon kann aber nicht die Rede
sein.
({5})
Denn das Verfallsdatum von Clements Worten ist schneller abgelaufen, als die Worte aus seinem Munde sprudeln.
Lassen Sie mich ein Sprichwort von La Fontaine zitieren:
Am Werke erkennt man den Meister!
Jetzt blasen Sie, meine Damen und Herren von RotGrün, aus ideologischen Gründen zum Sturm auf den
Meisterbrief. Wer sich so verhält, ist unglaubwürdig.
Ich kann auch nicht ganz nachvollziehen, dass eine
große Tageszeitung in der vergangenen Woche getitelt
hat: Das Handwerk hat mit Clement seinen Meister gefunden. - Darauf kann ich nur erwidern: Es hat nicht seinen Meister, sondern seinen Vernichter gefunden. Das ist
die Sorge, die uns vor allem bewegt.
({6})
Seit vergangenem Mittwoch ist im Handwerk die
Hölle los: Briefe, Telefonate, Hilferufe
({7})
treffen zigfach bei mir und meinen Kolleginnen und
Kollegen ein.
({8})
Bundesminister Clement und Sie, seine Genossen,
schlagen wie bei einem Amoklauf wild um sich: Beleidigungen am laufenden Band. Entspricht das Ihrem Verständnis der Zusammenarbeit; wollen Sie so die Handwerks-ordnung gestalten und meinen Sie, dass das
Handwerk sie dann mittragen kann?
Ich möchte nur an die Worte von Minister Clement in
Leipzig erinnern. Wenn Herr Clement ausführt, dass ihn
zum Beispiel der Betrug am Sozialstaat wütend macht,
dann halte ich ihm entgegen: Auch uns macht das wütend. Aber Mittelständler öffentlich zu bezichtigen, dass
sie ihre Ehepartner als Scheinangestellte beschäftigen,
die sich dann arbeitslos melden und auf Kosten der Allgemeinheit Geld kassieren - wie erst gestern wieder verschiedenen Pressemeldungen zu entnehmen war -, ist
mehr als starker Tobak.
({9})
Für mich ist das Brunnenvergiftung, die wir für keine
gesellschaftliche Gruppierung wollen und schon gar
nicht für das Handwerk, eine wichtige wirtschaftliche
Gruppierung, auf die wir in der Vergangenheit in großartiger Weise setzen konnten und weiter setzen wollen.
Denn wegen ein paar schwarzer Schafe eine gesamte gesellschaftliche Gruppierung in Verruf zu bringen geht
weit über meine Vorstellungswelt hinaus.
Was machen Sie noch? Täter- und Opferrolle werden
vertauscht: Sie von Rot-Grün treiben Deutschland in die
wirtschaftliche Misere und schieben den schwarzen
Peter dem Handwerk zu. So leicht machen Sie es sich!
({10})
Auch folgender Punkt ist nicht zu übersehen. Mir
kommt es so vor, als ob Sie von Rot-Grün, insbesondere
Herr Clement, über eine radikale Korrektur des Handwerksrechts das Handwerk dafür abstrafen wollen, dass
es bei der letzten Wahl nicht die SPD gewählt hat.
({11})
Sie ignorieren völlig, wofür das deutsche Handwerk
steht: für 5,3 Millionen Arbeitsplätze und 528 000 Ausbildungsplätze in 580 000 Betrieben, und das, obwohl
im letzten Jahr über 10 000 Betriebe Pleite und dadurch
300 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu stellen, warum nur etwa die Hälfte derjenigen, die die Meisterprüfung ablegen, in die Selbstständigkeit gehen. Für
mich gibt es nur eine kurze Antwort: weil die Bedingungen so schlecht sind. In Deutschland stehen 130 000
Handwerksmeister in Reserve. Sie, meine Damen und
Herren von Rot-Grün, sollten dafür sorgen, dass die
Rahmenbedingungen verbessert werden. Ich prophezeie
Ihnen, dass es, wenn Sie das tun, einen wahren Boom an
Existenzgründungen geben wird. Es gibt das alte Sprichwort: Ein schlechtes Handwerk, das seinen Meister nicht
ernährt! Abgewandelt auf die Bundesregierung, muss es
heute heißen: Eine schlechte Regierung, die ihre Meister
ausgrenzt!
Wie sieht denn Ihre Antwort aus? Herr Clement hofft
auf die Gründung von 200 000 Ich-AGs durch Erwerbslose noch in diesem Jahr. Anstatt tüchtige Existenzgründer zu fördern, kommt wieder nichts Gescheites heraus
frei nach dem Motto: Denn sie wissen nicht, was sie tun!
({12})
Sie von Rot-Grün sind feige - das betone ich ausdrücklich noch einmal -, weil Sie nicht den Mut aufbringen, heute Ihre vom Kabinett verabschiedeten Vorschläge zur Novellierung der Handwerksordnung in den
Deutschen Bundestag einzubringen.
({13})
Sie haben gerade einmal einen Zehn-Zeilen-Antrag vorgelegt. Da lobe ich mir meine Kolleginnen und Kollegen
von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion, die jeweils
einen umfangreichen Antrag in den Bundestag eingebracht haben und die versuchen, den Bürgern und insbesondere den Handwerkern wieder Perspektiven zu geben
und Mut einzuflößen, den sie dringend benötigen und
der ihnen bislang abgeht, weil Sie das Handwerk so
lange nach unten gedrückt haben, bis negative Zahlen zu
verzeichnen gewesen sind.
({14})
Es ist traurig, dass Sie, wie zu lesen ist, auch bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf mit allen Raffinessen tricksen, um den Meisterbrief abzukoppeln.
({15})
Es ist nicht hinnehmbar, wenn Bundeswirtschaftsminister Clement eine Reform der HWO gegen das Handwerk
über das Knie brechen will. Nicht gegeneinander, sondern miteinander - so müsste das Gebot der Stunde sein.
Das war auch versprochen.
({16})
Aber Sie haben ja noch nicht einmal mitbekommen, dass
es mehrere verschiedene Anträge gibt. Herr Kuhn, ich
bitte Sie, künftig zuerst alles zu lesen und nicht mehr
solche saudummen Zurufe wie eben zu machen.
({17})
Bei der Reform der Handwerksordnung darf meiner
Meinung nach - das ist auch die Meinung unserer
Freunde im Handwerk - das Kind nicht mit dem Bade
ausgeschüttet werden. Es ist unbestritten, dass Deutschland moderne, dynamische, flexible und europafeste
Handwerksmeister braucht. Wir brauchen Unternehmer,
die mit Fachkompetenz, betriebswirtschaftlichem Fachwissen, Mut und handwerklichem Können neue
Geschäftsideen entwickeln und Kunden gewinnen. Treffend heißt es hierzu in den „Meistersingern“ von Richard
Wagner: „Verachtet mir die Meister nicht!“ Der Meisterbrief muss als Qualitätssiegel des deutschen Handwerks
erhalten bleiben. Anstatt diesen, wie von der Bundesregierung vorgesehen, unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr nur noch in 29 von 94 Handwerksberufen
zu belassen, sollten unserer Meinung nach auch Kriterien wie Ausbildungsleistung und Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter berücksichtigt werden. Allein die Erfüllung eines dieser Kriterien sollte als Voraussetzung
ausreichen, damit sich ein Gewerbe in der Anlage A der
Handwerksordnung wiederfindet.
({18})
Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank - diese ist ja geradezu überfüllt -, haben kein Gesellenstück, geschweige denn eine Meisterleistung abgeliefert.
Sie - das möchte ich hier ausdrücklich sagen - dürften nicht
einmal in die Anlage B aufgenommen werden.
({19})
Herr Kollege Hinsken, denken Sie bitte an die Redezeit.
Sie haben genau gestoppt, Herr Präsident. Danke für
den Hinweis.
Der Begriff „Meister“ steht überall für etwas Positives und Besonderes, im Sport genauso wie in der Politik.
Was für einen Mediziner der Doktortitel ist, ist für einen
Handwerker der Meistertitel. Wir haben in zwölf Punkten zusammengefasst, wie wir uns den Meister der Zukunft vorstellen. Das wird in den nächsten Wochen und
Monaten von entscheidender Bedeutung sein. Wir lassen
in diesem Bereich nicht locker. Wir werfen uns für das
Handwerk in die Bresche. Wir wollen die VoraussetzunErnst Hinsken
gen dafür schaffen, dass sich das Handwerk auch in Zukunft entfalten kann,
({0})
dass es nicht zu guter Letzt von Ihnen so unterdrückt
wird, dass es nicht mehr zu existieren vermag.
({1})
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, und dem, den wir in einiger Zeit beraten werden,
machen wir eine umfangreiche Reform der Handwerksordnung, die Teil der Agenda 2010 ist. Ich will Ihnen
einfach einmal die Ziele nennen.
Wir wollen mehr Chancen für Betriebsgründer. Wir
wollen deregulieren und Zwangsbarrieren abbauen. Wir
wollen den Wettbewerb optimieren. Wir wollen Kleinunternehmen fördern. Schließlich wollen wir einen Beitrag zum Abbau der Schwarzarbeit leisten. Ich will Ihnen ganz klar sagen, dass dies Ziele sind, an denen
jemand, der an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in
Deutschland interessiert ist, nach meiner festen Überzeugung nicht vorbei kann.
({0})
Was Sie hier aufziehen nach dem Muster „Ist man nun
für oder gegen das Handwerk, für oder gegen den
Meister?“, ist eine völlig falsche und fatale Diskussion,
mit der Sie von einem Problem ablenken wollen, das Sie
haben.
Wir wollen mit dem, was wir machen, das Handwerk
stärken und wir wollen auch den Meister stärken. Aber
eines wollen wir nicht, nämlich dass der Meisterbrief
eine Zugangsbeschränkung für junge Existenzgründer
wird. Das ist er in einigen Bereichen unserer Wirtschaft
heute.
({1})
Deswegen machen wir die Reformen, die auf dem Tisch
liegen.
({2})
Wenn man Berufe, die nicht mit Gefahren verbunden
sind, von der Anlage A der Handwerksordnung in die
Anlage B überführt, ist das eine Erleichterung für Existenzgründungen. Deswegen werden wir das tun. Für unsere Fraktion ist eher die Frage, ob nicht noch mehr der
Berufe, die jetzt noch in der Anlage A stehen, in die
Anlage B überführt werden können.
({3})
Ich will noch einmal klar sagen: Wir sind nicht gegen
den Meisterbrief.
({4})
Das können Sie der Bevölkerung draußen nicht weismachen. Wir sind fest davon überzeugt, dass der Meisterbrief
eine andere Bedeutung bekommen muss. Er muss ein
Qualitätssiegel sein, das den Verbraucher darüber informiert, dass derjenige, der ein solches Siegel hat, für eine
besondere Qualität bürgt und eine besondere Ausbildung
hat.
({5})
Deswegen können Sie diese einfache Gleichung nicht
aufstellen.
Jetzt will ich einmal eine ordnungspolitische Frage an
die Union stellen.
({6})
- Ja, das ist eine ordnungspolitische Grundfrage, um die
Sie sich nicht herumdrücken können. - Ich will Ihnen
einmal drei Zitate von Herrn Merz vorlesen; das werden
Sie ja wohl aushalten.
Erstens.
Wir sind sofort bereit, mit Ihnen ein erhebliches
Stück an Bürokratieabbau zu betreiben.
Friedrich Merz am 30. Oktober hier im Bundestag.
({7})
- Sie können auch klatschen; das ist ja von Herrn Merz.
Zweitens.
Alte Besitzstände können nicht gegen ökonomische
Erfordernisse aufrechterhalten werden.
Herr Merz in einem „DHZ“-Gespräch.
Drittens.
Es sollte auch gelingen, mehr Menschen als bisher
Anreize zum selbstständigen Unternehmertum zu
geben.
Friedrich Merz in „Mut zur Zukunft“.
({8})
Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich
wirklich seltsam. Sie reißen in solchen Zitaten - Ihre Reden hier im Haus sind voll davon - die Klappe für Freiheit auf und sind andererseits für Zugangsbeschränkungen. Was Sie hier ordnungspolitisch darstellen, kann
nicht funktionieren.
({9})
Sie machen eine Rolle rückwärts und verteidigen die Zugangsbeschränkungen, die es heute gibt. Mancher kann
einen Handwerksbetrieb einfach deshalb nicht aufmachen, weil er den Meisterbrief nicht machen will oder
nicht machen kann.
({10})
Was Sie machen, ist ganz einfach Folgendes: Sie trällern das Lied der Freiheit und schlagen die Trommeln
des Zwangs.
({11})
Das ist die Ordnungspolitik, mit der Sie uns hier kommen.
Der Angriff, Herr Merz, den Sie auf die SPD und die
Gewerkschaften - in der Verbindung! - immer führen,
ist nichts anderes als Projektion. Sie werfen den anderen
ein Problem vor, dass sie in großer Abhängigkeit von einer bestimmten gesellschaftlich relevanten Gruppe
seien, und tatsächlich haben Sie selbst das Problem,
nämlich in Bezug auf das Handwerk. Ich kann diesbezüglich keinen Unterschied sehen. Sie gehen vor Lobbys
in die Knie und werfen eben dies anderen vor.
({12})
So etwas ist politisch nicht in Ordnung und es wird sich
meines Erachtens rächen.
({13})
Worum geht es? Ludwig Erhard hat gesagt: Marktwirtschaft ist, was den Verbrauchern dient. Wer marktwirtschaftlich denkt, beseitigt Zugangsbarrieren bei
der Eröffnung von Geschäften. Wir von der Regierung
machen das in diesem Bereich sehr konsequent.
Jetzt möchte ich noch eine Bemerkung zu dem Gesetzentwurf machen, der heute in erster Lesung beraten
wird; die anderen Vorlagen sind noch nicht eingebracht
worden.
({14})
Wir wollen Kleinunternehmen fördern. Wer einfache Tätigkeiten, die man in zwei bis drei Monaten erlernen
kann, auf dem Markt anbieten will, soll dies ohne Diskriminierung durch die Handwerkskammern und die Behörden tun können.
In diesem Zusammenhang möchte ich ganz offen
- auch an Ihre Adresse, Herr Hinsken - sagen: Es geht
hier um Bereiche, in denen einzelne Handwerker in der
letzten Zeit wirklich versagt haben.
({15})
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel aus meinem häuslichen Umfeld nennen: Aufgrund eines Sturmschadens
musste ein Zaun neu gespannt werden. Jetzt versuchen
Sie einmal, beim deutschen Handwerk in Berlin einen
Schlosser oder jemand anderes aus diesem Gewerk zu
finden, der in solch einem Fall hilft.
({16})
Ich habe vier oder fünf Anrufe getätigt und nur Absagen
bekommen. Man sagte mir, das lohne sich nicht, das
funktioniere nicht oder man habe keine Zeit, ich solle
später noch einmal anrufen. Es war ein Hin und Her.
({17})
Diese einfache Aufgabe hat letztendlich eine Berliner
Firma ausgeführt, die heute diskriminiert wird, aber in
der Lage ist, in einem Allroundpaket diese und verschiedene andere Dienstleistungen anzubieten. Im Bereich
der Existenzgründungen und der Ich-AGs wollen wir
ermöglichen, dass solche Tätigkeiten einfach ausgeführt
werden können. Sie blockieren das. Sie wollen den
Markt und damit auch den Wettbewerb beschränken.
Das alles begründen Sie mit fadenscheinigen Argumenten. Was Sie wollen, ist nichts anderes als krude und elementare Wettbewerbsbeschränkung. Das kann doch
nicht angehen.
Zu Ihrem Zwischenruf, man solle das doch selber machen, muss ich Ihnen sagen: Sie haben keine Ahnung davon, wie viele Arbeitsplätze wir durch das Angebot von
Dienstleistungen, nach denen viele Leute suchen und die
in Anspruch genommen würden, schaffen könnten. Deshalb muss die Möglichkeit gegeben werden, Allroundbetriebe zu gründen, die beispielsweise einen Wasserhahn reparieren oder eine Dachrinne säubern können,
ohne dass sie von den Handwerkskammern und den Behörden verfolgt werden. Das ist der entscheidende
Punkt. Wenn Sie das nicht verstehen, haben Sie von der
modernen Berufswelt und der Realität, in der die Bevölkerung lebt, meines Erachtens keine Ahnung. Deswegen
behandeln wir heute diesen Gesetzentwurf in erster Lesung und werden ihn nach den Beratungen im Ausschuss
auch verabschieden.
Was Sie zu den Ich-AGs sagen, ist wirklich Mumpitz.
Kollege Brandner hat dazu Ausführungen gemacht. Wir
haben einen Anfang gemacht, aber wir haben bei der
Verabschiedung der Vorschläge der Hartz-Kommission
ganz deutlich gemacht: Es muss noch einiges dazukomFritz Kuhn
men, zum Beispiel die Förderung von Kleinunternehmen
und der Abbau von Diskriminierungen, die es heute
noch gibt.
Herr Schauerte - Sie gucken so merkwürdig -, erklären Sie mir einmal ordnungspolitisch: Mit welchem Argument wollen Sie jungen Leuten, die so etwas anbieten
wollen, um sich aus der Arbeitslosigkeit zu befreien,
Ihre Ablehnung begründen? Was soll dafür denn der
Grund sein? Welches Argument spricht dafür, dass
Handwerker ein Monopol auf solche Tätigkeiten, die sie
nicht ausüben wollen, haben, während andere, die diese
Arbeit machen wollen und arbeitslos sind, dazu nicht berechtigt sind? Das müssen Sie mir einmal vernünftig erklären. Sie können das ja im Ausschuss versuchen.
({18})
Damit will ich zum Schluss kommen. Wir werden
mehr Wettbewerb im Bereich der handwerklichen
Dienstleistungen schaffen. Wir werden uns in diesem
Zusammenhang nicht in eine Auseinandersetzung mit
Ihnen treiben lassen. Wir lassen uns nicht nachsagen, wir
seien gegen den Meisterbrief; er ist als Gütesiegel wichtig für den Verbraucherschutz. Wir werden die Pläne
sehr rasch umsetzen, damit unsere Marktwirtschaft flexibler wird.
Ich dachte immer, dass die Union für Flexibilität und
Wettbewerb stehe.
({19})
Wenn man die Seligsprechung des Handwerks durch
Frau Merkel - sie beschrieb es als Herzstück der Gesellschaft - betrachtet, dann stellt man fest: Das war starker
Tobak. Ich kann nur sagen: Der Papstbesuch hat ihr nicht
gut getan. Sie hätte etwas nüchterner reden sollen.
Vielen Dank.
({20})
Der Kollege Friedrich Merz hat jetzt das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Kuhn, Sie haben meine Aussagen in
mehreren Interviews zitiert. Ich möchte zunächst ausdrücklich bestätigen, dass die Zitate richtig sind und
überhaupt nicht dem widersprechen, was wir zur Handwerksordnung zu sagen haben.
({0})
Sie widersprechen auch nicht unseren berechtigten Einwendungen gegen Ihren heutigen und den noch kommenden Gesetzentwurf.
({1})
Ich will versuchen, das zu begründen: Sie schaffen
ein Qualifikationsmerkmal, eine Berufszugangsvoraussetzung ab und erklären dies zu einem Beitrag zur Liberalisierung und zu einem Beitrag, mit dem eine höhere
Selbstständigenquote erreicht werden kann.
({2})
Ich stelle Ihnen einmal eine Frage: Wenn ich es richtig weiß, haben Sie auf Lehramt studiert. Käme irgendeiner von Ihnen auf die Idee, die zweite Staatsprüfung für
das Lehramt abzuschaffen, um auf diese Art und Weise
eine höhere Beschäftigungsquote der Lehrer zu ermöglichen? Was meinen Berufsstand anbetrifft, stelle ich die
Frage: Kommt irgendeiner von Ihnen auf den Gedanken,
die zweite juristische Staatsprüfung abzuschaffen und
das als einen Beitrag zur Deregulierung zu bezeichnen,
um so eine größere Anzahl von Richtern, Staatsanwälten
und Rechtsanwälten in der Bundesrepublik Deutschland
zu ermöglichen?
Mit Verlaub, Herr Kollege Kuhn, das ist doch eine
Ausrede. In Wahrheit geht es Ihnen um etwas ganz anderes: Es stört Sie, dass es in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes Maß an Qualifikation und privatwirtschaftlicher Fähigkeit zur Ausbildung gibt. Ihre Antwort
lautet: Auf der einen Seite organisieren Sie den Bereich
der Mikroökonomik, die Volkswirtschaft ganz unten,
neu - Stichworte Ich-AG und Kleinstunternehmerförderung - und holen diesen Bereich damit sozusagen aus
der Schwarzarbeit heraus und stellen ihn in Konkurrenz
zur Realwirtschaft. Auf der anderen Seite schaffen Sie
ganz oben mitbestimmte große Konzerngesellschaften,
die der andere Teil Ihres gesellschaftspolitischen Leitbildes sind. Dazwischen gibt es aber noch etwas: die
tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft mit qualifizierten Berufszugängen und hervorragender privatwirtschaftlicher Ausbildungsleistung. All das stört Sie.
Das haben wir übrigens heute Morgen in der Berufsbildungsdebatte und in der Debatte über die Abgabe, die
Sie für nicht ausbildende Unternehmen erheben wollen,
gehört.
Ich bitte Sie: Wenn Sie mich in Zukunft zitieren, dann
zitieren Sie mich in diesem Zusammenhang bitte vollständig und fügen Sie hinzu, was ich über die Reformbedürftigkeit der Handwerksordnung gesagt habe.
Ich gehöre nämlich zu denjenigen, die sehr nachdrücklich gesagt haben, dass hier manches reformiert werden
muss. Wenn Sie unseren Antrag lesen, werden Sie feststellen, welche Reformen wir vorschlagen. Lieber Herr
Kuhn, die Redlichkeit gebietet es, dass Sie dies in Zukunft auch sagen.
Ich entnehme dem Handbuch des Deutschen Bundestages, dass Sie zwischen 1989 und 1992 eine Professur
für sprachliche Kommunikation an der Stuttgarter MerzAkademie inne hatten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie bei dem bleiben würden, was politische Seriosität
ausmacht.
({3})
Zur Erwiderung, Kollege Kuhn.
Lieber Kollege Merz, ich bin überrascht. Ich dachte,
Sie seien ein echter Marktwirtschaftler. Ihre Ausführungen haben das aber nicht bestätigt.
({0})
Ich will Ihnen sagen, an welchem Punkt wir nicht
übereinstimmen: Bei nicht gefahrgeneigten Berufen
- darüber reden wir; wir können darüber diskutieren,
welche Berufe das sind - ist der Markt eine herausragend gut funktionierende Instanz, um zu beurteilen, ob
die Leistung und die Qualifikation, die jemand erbringt,
tatsächlich gut ist oder nicht. Genau das wollen wir. Sie
wollen das nicht. Sie misstrauen der Fähigkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher, zu beurteilen, welche
Firmen sie für welche Dienstleistungen in Anspruch
nehmen.
({1})
- Selbstverständlich. Ansonsten würden Sie nicht sagen,
dass man uns arme Individuen vor Missgriffen schützen
und darum auf jeden Fall den Meisterzwang aufrechterhalten müsse. In dieser ordnungspolitischen Frage besteht zwischen uns eine Differenz.
Sie sind ein halbierter Marktwirtschaftler. Sie misstrauen dem Marktgeschehen. Ich kann allein beurteilen,
ob das Brot eines Bäckers schmeckt. Das hat nichts mit
der Frage zu tun, ob der Bäcker einen Meisterbrief hat
oder nicht. Der Markt entscheidet selbstverständlich
auch, ob die Qualität stimmt oder nicht.
Zu Ihrer Frage bezüglich der Schule. Ich habe nicht
auf Lehramt studiert, aber egal. Die Schule ist durch die
Erziehung der Kinder ein öffentliches Gut, das wir nach
unserer Überzeugung - übrigens nicht unbedingt nach
Ihrer - nicht allein dem Markt überlassen können; denn
wenn bestimmte Ergebnisse nicht erzielt werden, ist der
Schaden an unseren Kindern irreparabel. Das ist der
Grund, warum jedenfalls wir auf einem öffentlichen
Schulwesen bestehen und die Privatschulen nach strengen gesetzlichen Regelungen allerhöchstens als Ergänzung dazu verstehen.
Deswegen geht es selbstverständlich in diesem Fall
um die Qualifikationen, die unsere Gesetze vorschreiben, womit ich nicht sagen möchte, dass wir bei der Lehrerausbildung in Deutschland und vor allem bei der
Lehrerfortbildung nicht einiges verbessern könnten.
Im Klartext: Ihre Unterstellung uns gegenüber funktioniert nicht. Wir wollen so viel Marktwirtschaft, wie in
diesem Bereich möglich ist. Ich muss nur feststellen, dass
Sie den Marktkräften misstrauen und eigentlich, Herr
Merz, doch ein ganz schöner Regulierer sind, obwohl Sie
immer Deregulierung auf Ihre Fahnen schreiben.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland ist bei seiner ersten Wahl mit der Maßgabe
angetreten, sich am Abbau der Arbeitslosigkeit messen
lassen zu wollen, und zwar jederzeit. Im Zusammenhang
mit dem Hartz-Konzept wurde von 2 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen gesprochen und die Bundesregierung bietet uns seit fünf Jahren wirklich einiges. Ich
habe mir einmal eine Stichwortsammlung zusammengestellt, die jedoch nicht vollständig ist: JUMP, Job
AQTIV, Hartz, Jobfloater, Kapital für Arbeit,
Agenda 2010, Ich-AG, IWAN. All das soll die Arbeitsmarktprobleme lösen. Aber wir hören heute aus Nürnberg, dass wir wieder 400 000 Arbeitslose mehr haben
als im gleichen Monat letztes Jahr. - Hervorragend!
({0})
Diese Bundesregierung ist grandios bei der Schöpfung
von Worthülsen und versagt kläglich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Schaffung von Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt, durch die die
Wirtschaft wieder wachsen kann und mehr Menschen in
den Arbeitsmarkt können.
({1})
Sie haben mit der Ich-AG ein neues Instrument geschaffen, ein weiteres Pflänzchen im Dschungel der unendlichen Fördermöglichkeiten der Bundesanstalt für
Arbeit. Herr Brandner, Ihr Staatssekretär Andres schreibt
mir, Eingang 5. Juni, auf meine parlamentarische Anfrage, es habe 16 094 Ich-AGs gegeben; das sind fünfmal weniger als beim Überbrückungsgeld. Sie hätten das
Geld in die Hand nehmen und in den Topf für Überbrückungsgeld geben sollen, dann hätten Sie ohne Verkomplizierung und weiteren bürokratischen Wust die
Förderung der Existenzen ehemals Arbeitsloser weiterhin unterstützen können. Das wäre effektive Arbeitsmarktpolitik gewesen.
Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, mit dem die
Handwerksordnung verändert werden soll. Sie machen
einen entscheidenden Fehler: Sie nehmen diejenigen, die
in dem Bereich arbeiten und davon leben, die die Stütze
der Ausbildung in diesem Land und das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft sind, bei den notwendigen Reformschritten nicht mit. Sie knallen ihnen einfach eine Änderung vors Hirn, die sie nicht nachvollziehen können,
obwohl doch selbst die Handwerksorganisationen verstanden haben und wissen, dass die Handwerksordnungsreform notwendig ist, dass sie zukunftssicher und
europafest gemacht werden muss. Nehmen Sie sie doch
an die Hand, wie es Herr Clement vor dem HandwerksDirk Niebel
tag gesagt hat, und nehmen Sie sie bei den notwendigen
Veränderungsschritten mit!
Das kann zum Beispiel eine Veränderung der Anerkennung anderer Qualifikationen, anderer Zugänge sein,
ein Abgehen vom Inhaberprinzip, das es ermöglicht,
dass man meinetwegen einen Meister einstellt und so
seine selbstständige Existenz gründet. Es muss mit Sicherheit eine Veränderung bei der Meisterausbildung
als solche erfolgen; sie ist zu teuer, zu lang, zu bürokratisch. Aber insgesamt könnten Sie das Handwerk mitnehmen auf einem fortschrittlichen Weg zu einer Modernisierung eines der wichtigsten Wirtschaftszweige, die
wir in der Bundesrepublik Deutschland haben. Das tun
Sie nicht und deswegen werden Sie auch hier versagen.
({2})
Herr Kollege Niebel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lange?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Niebel. Ich habe den Eindruck, dass Sie am 5. Januar 2003 nicht auf dem Landesparteitag Ihrer Partei in Stuttgart waren. Deshalb frage
ich Sie, ob Sie den Ausführungen des baden-württembergischen Wirtschaftsministers und stellvertretenden
FDP-Bundesvorsitzenden zustimmen, der sagte:
Ich fordere die Vertreter des Handwerks dazu auf,
sich nicht als Bremser auf dem Weg zur Selbstständigkeit zu betätigen, sondern die Reformvorschläge
von Professor Hellwig, dem Vorsitzenden der Monopolkommission, und der Bundesregierung aktiv
zu begleiten, um damit mehr Gründigungswilligen
den Weg in die Selbstständigkeit zu erleichtern und
damit auch mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
({0})
Lieber Herr Kollege, selbstverständlich stimme ich
den wegweisenden Ausführungen meines Landesvorsitzenden und stellvertretenden Ministerpräsidenten zu. Das
ist übrigens der Sachstand dessen, was Herr Clement vor
dem Handwerkstag gesagt hat. Er hat gesagt, die Vertreter
des Handwerks sollten sich nicht als Bremser betätigen.
Genau das habe auch ich vor nicht ganz anderthalb Minuten gesagt. Sie müssen einmal zuhören.
Da der Kollege Brandner die Vertreter des Handwerksverbandes hier auffordert, verbal abzurüsten,
möchte ich ihn und Sie an die Äußerungen der Vertreter
des Deutschen Gewerkschaftsbundes, von Verdi und der
IG Metall im Rahmen der Diskussion über die
Agenda 2010 erinnern.
({0})
Wenn es so weitergeht, wie wir es von Ihnen gewohnt
sind, dann wird daraus eine Agenda zwei Zehntel. Genau
auf diesem Weg befinden wir uns jetzt.
Wenn das Handwerk mitgenommen werden soll, dann
muss es sich auch bewegen. Deswegen hat Walter
Döring Recht. Deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion Recht. Deswegen könnten Sie unserem Antrag eigentlich zustimmen.
({1})
Wir haben heute 400 000 Arbeitslose mehr als vor genau einem Jahr und Sie legen uns einen Gesetzentwurf
zur Ich-AG vor! Das ist ein Skandal; es ist schlichtweg
eine Unverschämtheit. Wir müssen die Arbeitslosigkeit
bekämpfen, indem wir das Steuersystem reformieren.
Wir müssen einfache, niedrige und gerechte Steuersätze
schaffen und die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig gestalten, damit die Lohnnebenkosten heruntergehen und es sich wieder lohnt, jemanden einzustellen. Wir
müssen außerdem das Arbeitsrecht deregulieren, damit
die bürokratischen Hemmnisse - angefangen beim Kündigungsschutz über das Tarifvertragsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz bis hin zum Rechtsanspruch auf
einen Teilzeitarbeitsplatz - nicht dazu führen, dass gerade diejenigen geschädigt werden, die man doch eigentlich schützen wollte.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in diesem
Land Chancen haben, mitzumachen. Ihre Politik bewirkt
das Gegenteil. Wir brauchen nicht immer wieder neue
Worthülsen, sondern am besten eine neue Regierung.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin Ihnen ausdrücklich „dankbar“, dass Sie
durch den Stil und Inhalt Ihrer Rede Ihr Interesse an einer sachlichen Diskussion über dieses Thema zum Ausdruck gebracht haben. Natürlich können Sie als Opposition herumknüppeln und herumbrüllen.
({0})
Die Frage ist nur, ob es nicht für Sie und für uns alle besser wäre, wenn wir das Thema inhaltlich bearbeiten würden. Mit solchen Reden verweigern Sie sich in jedem
Fall.
({1})
Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Sie sprechen davon, dass es eine Unverschämtheit
ist, Ihnen einen Gesetzentwurf zur Ich-AG vorzulegen.
({2})
Sie sollten sich ein bisschen sachkundiger machen. Die
Ich-AG ist ein Teil aus einer Vielzahl von Gesetzesänderungen und neuen Gesetzen, die wir seit Beginn dieser
Legislaturperiode vorangebracht haben.
({3})
Fragen Sie doch einmal in den Arbeitsämtern nach.
Der Direktor des Arbeitsamtes meines Wahlkreises Berlin-Neukölln hat mir gesagt, dass 6 000 Arbeitslose ihr
konkretes Interesse an einer Ich-AG bekundet haben.
Warum reden Sie das sofort wieder schlecht? Doch nur,
um Polemik zu machen! Das darf doch nicht wahr sein
und wird der Situation, in der wir uns befinden, einfach
nicht gerecht.
({4})
Zu diesem Bereich gehören auch die Minijobs. Früher haben Sie sich beklagt, die Koalition würde immer
nur mit ordnungspolitischen Maßnahmen gegen die
Schwarzarbeit vorgehen. Jetzt wenden wir marktwirtschaftliche Mittel und Methoden an, indem wir Menschen die Chance geben, aus der Schwarzarbeit in die
Legalität zu gehen. Sie können entweder einen Minijob
annehmen oder sich selbstständig machen. Warum wollen Sie diese Maßnahmen kaputtreden? Es ist einfach
nicht nachvollziehbar.
({5})
Erlauben Sie mir eine polemische Bemerkung in Bezug
auf die Anmerkung, die Herr Merz im Zusammenhang
mit seinen Beispielen über akademische Grade und die
Handwerksordnung gemacht hat: Wir bewegen uns hier
- das sollten Sie als Jurist wissen - auf dem Boden des
Gewerberechtes. Gemessen am Gewerberecht ist die
Handwerksordnung ein Exot. Es ist eigentlich eine Absurdität: Ihre Vorgänger haben im 19. Jahrhundert für die
Gewerbefreiheit gekämpft. Heute scheinen Sie dies alles vergessen zu haben. Wir müssen Strukturen aufbrechen. Das war doch auch einmal Ihre Forderung.
Führen Sie hier keine kurzfristigen politischen Scharmützel, indem Sie sich einer Reform verweigern, die wir
dringend benötigen! Denn die Zahlen beim Handwerk
weisen aus, dass es nicht nur ein konjunkturelles, sondern auch ein strukturelles Problem gibt,
({6})
das wir mit der Änderung der Handwerksordnung zum
Besseren wenden wollen.
({7})
- Herr Hinsken, wenn wir dabei stehen bleiben, dass wir
die wagnerschen Meistersinger zum Vorbild einer zukünftigen Wirtschaftsordnung in unserem Lande machen, dann sage ich: Gute Nacht, Herr Hinsken! Damit
werden wir nämlich noch mehr Arbeitslosigkeit und den
tatsächlichen Niedergang des Handwerks inszenieren.
Das, was Sie hier erklärt haben, entspricht im Übrigen
nicht den Tatsachen. Wir haben mit dem Handwerk einen sehr interessanten Dialog geführt.
({8})
- Sie waren nicht dabei; Sie wissen das doch gar nicht.
Es ist ganz typisch: Sie sind an einem Dialog mit uns
nicht interessiert.
({9})
- Das alles können Sie sagen; es kommt in das Protokoll.
Es spricht nicht gerade für Sie.
({10})
Ich sage Ihnen noch einmal: Ich habe mit Herrn
Schleyer und vielen anderen Vertretern des Handwerks
gesprochen. Wir haben übrigens sehr viel Übereinstimmung vorgefunden; das sollte man nicht ganz vergessen.
({11})
- Sie können ruhig darüber lachen; es ist so. - Wir waren
uns darin einig, dass die Leipziger Beschlüsse nicht
ausreichen, um das Handwerksrecht europa- und zukunftssicher zu machen. Wir haben gesagt: Die Industriemeister, die Techniker und die Ingenieure müssen einen noch besseren Zugang zum Handwerk haben. Das
Inhaberprinzip muss aufgegeben werden. Auch das
Thema des unerheblichen Nebenbetriebs muss und wird
geregelt werden.
Wir waren uns im Übrigen auch darin einig, dass es
für einen Gesellen, der sich entschließt, eine Meisterprüfung zu machen, keinerlei zeitliche Begrenzung mehr
geben darf. Die dreijährige Wartezeit wird also gestrichen. Schließlich haben wir eine sehr intensive Debatte
über die Frage geführt, ob es nicht zulässig sein muss,
dass ein Geselle, der zehn Jahre tätig ist und davon fünf
Jahre in verantwortungsvoller Position in einem Handwerksunternehmen gearbeitet hat, in die Lage versetzt
werden muss, einen eigenen Betrieb gemäß Anlage A
aufzumachen.
Das alles sind Ergebnisse, über die wir gesprochen
haben. Wir haben nicht immer eine hundertprozentige
Übereinstimmung erzielt. Aber wir sind in diesen Gesprächen sehr weit gekommen.
Am Ende geht es um die Frage, ob wir über die Gefahrgeneigtheit hinaus andere Eigenschaften zur
Grundlage der Einordnung der Handwerke in die
Anlagen A oder B machen. Auch im Fortgang der Diskussion werden wir darüber sprechen müssen.
Herr Schauerte beispielsweise unterscheidet sich - in
diesem Falle einmal wohltuend - von Herrn Hinsken.
Ich habe nämlich gehört, dass er bereits festgestellt hat
- das war jedenfalls in den Zeitungen zu lesen -, mindestens 30 Handwerke von den 94 könnten ohne weiteres in die Anlage B transferiert werden. Das ist schon
einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Es muss Erkenntnisse geben, die dafür sprechen.
Lassen Sie mich ein Weiteres sagen: Wir glauben daran - ich bitte darum, Ihr Verständnis im Hinblick auf
den Markt zu mobilisieren -, dass es für das Handwerk
gut ist, wenn es nicht nach althergebrachten Gewerken
organisiert ist, sondern sich an der Nachfrage auf dem
Markt orientiert. Daraus können sich zukunftsträchtige
Gewerke entwickeln, die dem einzelnen Unternehmen
sehr viel bessere Zukunftschancen in seiner betriebswirtschaftlichen Planung ermöglichen, als das heute in diesen traditionellen Kategorien der Fall ist.
Die Grundidee ist doch folgende: Wir wollen damit auch
Innovationen erzielen und dafür Sorge tragen, dass sich
diese Unternehmen am Markt breiter orientieren können.
Insoweit handelt es nicht nur um eine Maßnahme für
Kleinstunternehmen, sondern um eine Reform für das
gesamte Handwerk, für die sehr vieles spricht.
Herr Kuhn hat völlig Recht: Warum misstrauen wir
eigentlich den Konsumenten? Er hat den Bäcker als Beispiel angeführt; ich könnte viele andere Beispiele nennen. Jeder wird sich doch genauso wie bei einem Industrieprodukt und bei anderen Dienstleistungen sehr genau
überlegen, wem er sich anvertraut und wem er einen
Auftrag erteilt. Dabei spielt der Meisterbrief ohne Frage
eine zentrale Rolle als Qualitätssiegel. Sehr viele werden
sagen, es lohne sich für sie, dieses Qualitätssiegel in ihrem Betrieb vorweisen zu können, weil es ihnen Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen bietet.
Meine Damen und Herren, was wir heute machen, ist
nur ein kleiner Schritt, um Existenzgründern zu helfen,
um ein paar Schranken zu beseitigen und um dafür zu
sorgen, dass auch jene Betriebe, die in einer Grauzone
arbeiten, Rechtsicherheit haben und nicht mehr unnötigerweise verfolgt werden. Deshalb bitte ich Sie, diesem
Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir glauben, auf dem richtigen Wege zu sein. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Lage unseres Landes bitte ich Sie, die Polemik
wegzulassen und mit uns in einen sachlichen Dialog
über diese Fragen einzutreten.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Herr Dr. Staffelt, ich weiß nicht, warum Sie sich so
echauffiert haben. Ich glaube, Sie haben die falsche
Rede gehalten. Wir sollten hier nicht im Streit agieren,
sondern versuchen, einen Konsens zu finden. Darauf war
Ihre Rede nicht ausgerichtet.
({0})
Aber ich nehme etwas ganz anderes übel. Normalerweise bin ich nicht so nachtragend; jeder, der mich
kennt, weiß das. Aber ich nehme einen Wortbruch übel:
Vor noch nicht einmal sechs Monaten haben wir im Vermittlungsverfahren zu den Hartz-Gesetzen zusammengesessen. Bereits dort waren die Handwerksordnung und
die Ich-AG ein Thema gewesen. In dieser Sitzung hat
uns Herr Clement sein Wort als Minister gegeben, dass
die Novelle der Handwerksordnung und die Ich-AGs gemeinsam mit der Opposition und dem Handwerk auf den
Weg gebracht werden.
({1})
Herr Stiegler, Herr Brandner, Herr Dr. Staffelt, Frau
Dr. Dückert, Herr Kollege Laumann und Herr Kollege
Niebel waren dabei; sie alle können das bestätigen. Wir
haben uns auf das Wort eines Ministers verlassen.
({2})
Was ist herausgekommen? Fakt ist: Seit diesem heiligen Versprechen des Wirtschaftsministers gab es kein
einziges Gesprächsangebot, geschweige denn ein Gespräch mit uns. Dasselbe gilt für das Handwerk. Ich weiß
nicht, mit welchen Vertretern des Handwerks Sie gesprochen haben, Herr Staffelt. Vielleicht mit Ihrem Friseur?
Ich habe keine Ahnung. Mit den wichtigen Vertretern
des Handwerks, die die Probleme wirklich kennen, haben Sie keine Gespräche geführt. Das wissen wir, weil
wir beim Handwerk nachgefragt haben. Sie haben nur in
Sonntagsreden auf Handwerkstagen Versprechungen gemacht, aber keine persönlichen Gespräche geführt.
({3})
Vielmehr haben Sie nur getäuscht, enttäuscht und eine
unanständige Politik gemacht.
({4})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, welche Philosophie steht hinter Ihrem Gesetzentwurf? Sie setzen
auf Kleinstunternehmen ohne Qualifikation. Natürlich brauchen wir einfache Tätigkeiten und auch in diesem Bereich mehr Selbstständigkeit. Es muss attraktiv
sein, im Niedriglohnbereich zu arbeiten. Arbeit ist wirklich genug vorhanden. Man braucht nur vom Tiergarten
zum Reichstagsgebäude zu laufen, dann sieht man noch
heute den Müll vom Kirchentag. Die Arbeit liegt also
buchstäblich auf der Straße.
Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass es wirklich
notwendig ist, Verbesserungen im Niedriglohnbereich
anzugehen. Ich glaube, die Union hat insbesondere bei
den Minijobs gezeigt, dass wir bereit sind, auf diesem
Gebiet vernünftige Reformen anzugehen.
({5})
Der Geburtsfehler Ihrer Gesetze ist jedoch, dass Sie
ausschließlich auf Tätigkeiten setzen, die nur geringe
Qualifikation erfordern, und diese fördern, dabei aber
die Leistungsträger unserer Gesellschaft, zu denen auch
das Handwerk gehört, völlig aus den Augen verlieren.
({6})
Wer ist es denn, der immer wieder mehr Arbeitsplätze
als der Durchschnitt der übrigen Wirtschaft geschaffen
hat?
({7})
Wer ist es denn, der dreimal mehr ausgebildet hat als der
Durchschnitt der Gesamtwirtschaft? Wer ist es denn, der
immer für hohe Qualifikation gesorgt hat? Das ist das
Handwerk.
Ich muss es Ihnen doch nicht erklären, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir leben heute in einer hoch modernen, komplexen Wissensgesellschaft. Das Wissen verdoppelt sich inzwischen innerhalb von fünf Jahren. Wir
alle müssen heute mehr wissen als früher. Die jungen
Menschen heute müssen mehr wissen als wir früher. Das
gilt für alle Berufe und für alle Ebenen. Wir sind ein rohstoffarmes Land; deswegen ist der Faktor Humankapital
eine unserer wichtigsten Ressourcen. Die Zukunft unseres Landes hängt auch nicht von „nur“ gut ausgebildeten
Unternehmern und Beschäftigten ab, sondern von sehr
gut ausgebildeten Unternehmern und Beschäftigten;
denn nur so werden wir es schaffen, unseren Lebensstandard künftig auf derzeitigem Niveau zu erhalten. Das ist
keine neue Erkenntnis. Es wäre gut, wenn auch Sie das
endlich erkennen würden.
Sie können auch Friedrich den Großen oder Ludwig
Erhard nachahmen, die das bereits erkannt haben. Ludwig
Erhard war einer derjenigen, der den Meisterbrief immer
hoch hielt, der wusste, welche Qualifikation mit dem
Meisterbrief zusammenhängt. Dieser Weg war richtig
und er ist auch heute noch richtig. Wir alle reden doch
vom lebenslangen Lernen, von hohen Qualifikationen
und davon, dass dies ein wesentlicher Standortvorteil ist.
Das Gesetz, das Sie auf den Weg bringen wollen, wird
jedoch nicht zu mehr Existenzgründungen führen, die
Bestand haben werden. In den ersten Monaten wird die
Selbstständigenquote sicherlich steigen, die Statistik
wird sich natürlich verändern - das beabsichtigen Sie
auch -, aber diese Existenzgründungen werden nach ein
paar Monaten wieder vom Markt verschwunden sein.
Das ist keine Lösung für unsere arbeitsmarktpolitischen
Probleme. Vielmehr brauchen wir stabile Existenzgründungen, Betriebe mit Zukunftsaussichten, die auch künftig Menschen ausbilden und Arbeitsplätze schaffen. Dies
wird auf die Ich-AGs bestimmt nicht zutreffen, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen.
({8})
65 Handwerksberufe - darunter auch Friseure, Maler
und Lackierer - die jetzt noch für eine Unternehmensgründung einen Meisterbrief benötigen, werden dafür
künftig keinerlei Qualifikation mehr brauchen.
({9})
Angesichts dessen frage ich Sie: Wieso soll heute das
Friseurhandwerk, das allein im letzten Jahr noch über
40 000 Lehrlinge ausgebildet hat, weiterhin über seinen
eigenen Bedarf hinaus ausbilden,
({10})
wenn ein Meister damit rechnen muss, dass sich seine
Auszubildenden sofort nach der Ausbildung im Laden
nebenan selbstständig machen können? Er zöge doch
seine eigene Konkurrenz heran. Zukünftig wird doch
keiner mehr über den Bedarf hinaus ausbilden.
({11})
Daher ist es auch verständlich, dass Sie sich den Zorn
der Handwerker zuziehen. Dies ist auch volkswirtschaftlich schädlich und einfach unvernünftig.
Ich frage mich, wie denn Ihre Vorstellungen dazu, zu
mehr Qualität, zu noch mehr hochwertigen Leistungen
im Handwerk und zu mehr Lehrstellen zu kommen, aussehen. Diese Vorstellungen vermissen wir; dazu findet
sich nichts.
Als einzige Änderung werden Sie kurzfristig eine
steigende Zahl von Ich-AGs verzeichnen können, die in
einen ungleichen Wettbewerb mit den wirklichen Leistungsträgern treten werden. Diese werden aber in null
Komma nichts wieder von der Bildfläche verschwunden
sein, wenn die Subventionen abgeschöpft sein werden,
die sie von der Bundesanstalt für Arbeit bekommen.
Humankapital ist der Schlüssel für hohe Produktivität.
Wir brauchen diese hohe Produktivität, damit wir im
Wettbewerb mit unseren Mitwettbewerbern im Ausland
bestehen können, damit weiterhin die hohen Standards
erhalten werden können, die wir tatsächlich haben, vor
allem im sozialen Bereich; das wissen Sie alle.
Aber so geht es nicht. Sie können keine Gesetze mit
negativen Auswirkungen auf die Menschen beschließen,
von denen Sie erwarten, dass sie ihr Leben selbstständig
in die Hand nehmen und zupacken. Am Dienstag waren
über 850 Handwerker hier. Da haben Sie erlebt, dass
selbst das Wort „Ausbildungsboykott“ mit heftigem Beifall bedacht worden ist. Daran sieht man, wie weit Sie
die Menschen bringen. Sie haben einen falschen Ansatz.
Neue marktfähige Produkte bekommen Sie nicht durch
Frust und Leistungsverweigerung, sondern nur durch Innovation und Qualität sowie durch motivierte Menschen.
({12})
Nur so entstehen Arbeitsplätze und nur so bringen Sie
die de facto 6 Millionen Arbeitslosen, die es momentan
gibt, wieder in Arbeit.
Die qualifizierte Suche nach neuen Wegen hat
Schumpeter einmal den „Prozess der ’schöpferischen
Zerstörung‘“ genannt. Bei Ihnen ist es anders: Sie zerDagmar Wöhrl
stören nur; von schöpferischer Kraft ist hier wirklich
überhaupt nichts zu spüren.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Ich möchte es
in einem Bild darstellen: Gute Erträge eines Kirschbaumes erreiche ich nur durch gute Standortbedingungen,
durch einen nahrhaften Boden und durch fachlich gekonnten Baumschnitt. Wenn Sie nun einen Baum mit der
Axt an den Wurzeln abhacken, können Sie zwar zukünftig die Kirschen im Sitzen essen, aber es werden nie
mehr Früchte an diesem Baum wachsen. Es werden auch
keine neuen Triebe wachsen, die unter den richtigen
Rahmenbedingungen zu neuen Bäumen werden können,
die wieder Früchte tragen.
Sorgen Sie dafür, dass es nicht zu diesem Kahlschlag
kommt! Das können Sie nur tun, indem Sie wirklich Reformen angehen, und zwar mit den Betroffenen. Dann
haben Sie eine Chance, dass es die richtigen Reformen
sind.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Lange von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Niebel, lassen Sie mich zunächst an
die Kolleginnen und Kollegen der Partei der Freiheit
({0})
ein paar Zitate richten:
Es wird von niemanden bestritten, dass die Meisterausbildung ein überaus erfolgreicher und geeigneter
Weg in eine sichere Existenz ist. Aber es stellt sich
doch die Frage, ob dieser Weg in allen Fällen
zwanghaft vorgeschrieben werden muss.
Wenn der Meisterbrief so gut und Erfolg versprechend ist, wenn er dem angehenden Unternehmer
im Handwerk eine vergleichsweise sichere Perspektive für die eigene Existenz bietet, dann wird er
doch auch ganz von selbst auf dem Aus- und Weiterbildungsmarkt nachgefragt werden.
Wir müssen wieder den Mut haben, im Meisterbrief
das zu sehen, was er sein soll: der Nachweis einer
seriösen, qualitätsvollen Ausbildung, die für den
Verbraucher erwarten lässt, dass er eine erstklassige
Handwerksleistung einkauft.
Qualität aber braucht keinen Zwang; sie setzt sich
einfach durch.
Genau so ist es. Genau das sagte Walter Döring auf besagtem Parteitag. Deshalb fordere ich die FDP-Fraktion
hier auf: Ziehen Sie Ihren Antrag zurück und stimmen
Sie dem Antrag der Koalitionsfraktionen zu.
Ein zweiter Punkt: Frau Kollegin Wöhrl, weil Sie bezüglich der Qualität fragen -
Entschuldigen Sie. Erlauben Sie, bevor Sie zu Frau
Wöhrl kommen, eine Zwischenfrage des Kollegen
Niebel, den Sie zunächst angesprochen haben?
Immer doch, gern.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Lange.
Nachdem Sie uns jetzt aufgefordert haben, unseren
Antrag zurückzuziehen, frage ich Sie: Wäre es Ihnen
möglich, auch den Rest der Rede von Herrn Döring vorzulesen?
({0})
Das wäre mir möglich, wenn Sie mir entsprechende
Redezeit einräumen würden.
({0})
Es wäre mir ein Vergnügen. Er führt danach nämlich
noch aus, wie es sich mit der Gewerbefreiheit in
Deutschland verhält. Da gibt es eben keinen Zwang,
keine Regulierung des Marktes. Er führt aus, dass wir
auch in den freien Berufen und der Industrie die Gewerbefreiheit haben und dass wir sie auch im Bereich des
Handwerks stärker als in der Vergangenheit brauchen.
Herr Lange, erlauben Sie eine weitere Frage des Kollegen Niebel?
Nein. Ich glaube, es ist müßig.
Keine weiteren Fragen.
Ich gebe Ihnen die Rede gerne zur weiteren Lektüre.
Zum zweiten Punkt der Qualifikation. Frau Kollegin
Wöhrl, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass diese Bundesregierung mit dem Meister-BAföG bereits einen Weg
begeht, um die Qualifikation weiter zu fördern, und zwar
in einem Ausmaß, in dem Sie, die Sie sich hier zur Blockade aufschwingen, es in der Vergangenheit nicht getan
haben. Ein Zuwachs im Bereich des Meister-BAföGs
Christian Lange ({0})
von über 100 Prozent - seitdem wir dieses Gesetz verbessert haben - bedeutet einen Ausbau der Qualität.
Warum gehen wir diesen Weg? Warum haben wir in
diesem Bereich eine Nachfrage von über 100 Prozent?
Das ist so, weil die entsprechenden Anwärter zum
Meister auf den Markt setzen und weil sie wissen, dass
sie ohne das Qualitätssiegel Meister auf dem Markt
keine Chance haben. Genau so soll es auch sein. Deshalb
wird es, wenn wir diese Reform durchgeführt haben,
letztendlich mehr Meister, mehr Auszubildende, mehr
Gesellen und mehr selbstständige Existenzen geben. Das
ist gut so und das ist das Ziel unserer Reform, meine Damen und Herren.
({1})
- Herr Kollege Hinsken, ich bin dankbar, dass Kollege
Schauerte noch sprechen wird.
Lassen Sie mich - damit komme ich zu meinem dritten Punkt - Folgendes feststellen: Ihr Kollege Schauerte
sagt, so steht es in der „Financial Times“ geschrieben,
dass er bereit ist, den Weg der Bundesregierung zu
gehen. Er möchte andere Kriterien und nur 30 bis
34 Berufe aus der Anlage A, dem Meisterzwang, herausnehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr Hinsken: Für wen haben Sie eigentlich gesprochen: für die CDU/CSU-Fraktion oder für die Lobby, die Sie vertreten, nämlich das
Handwerk?
({2})
Das ist doch die Frage, die Sie an dieser Stelle einmal
beantworten müssen. Welches ist eigentlich die Position
Ihrer Fraktion, meine Damen und Herren von der CDU/
CSU?
({3})
Lassen Sie mich viertens auf den Gesetzentwurf zu
sprechen kommen.
Herr Lange, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken?
Ja.
Bitte schön, Herr Hinsken.
Herr Kollege Lange, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass ich mich als Volksvertreter natürlich auch
für das Handwerk verantwortlich fühle? In diesem Fall
habe ich mich gerne für vernünftige und verbesserte
Bedingungen für das Handwerk ausgesprochen. Ich
meine, dass es über Fraktionsgrenzen hinweg unser aller
Ziel sein sollte, alles zu tun, um dem Handwerk auf die
Zukunft bezogen, Perspektiven zu geben und es nicht
weiterhin so niederzumachen, wie das aus Ihrer Sicht in
den letzten Tagen und Wochen der Fall war.
Im Übrigen möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, ob Sie
bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir statt eines
Kriteriums, das Sie anwenden wollen, um den Anspruch
erheben zu können, der Anlage A anzugehören - ich meine
die Gefahrgeneigtheit -, drei Kriterien einführen und
hier vor allen Dingen der Ausbildungsleistung und auch
anderen Bereichen eine gewisse Bedeutung einräumen
wollen, um somit sicherzustellen, dass das Handwerk
weiterhin ein Qualitätszeichen in unserer Wirtschaft
bleibt und die Ausbildungsleistung so, wie Kollegin
Wöhrl das eben gesagt hat, gewährleistet werden kann.
Herr Kollege Hinsken, lassen Sie mich zunächst Folgendes zu Ihrer ersten Frage sagen: Wir alle sind hier
versammelt, um das Handwerk zu stärken. Über diesen
Punkt besteht in der Tat Konsens. Ich bitte Sie, das auch
entsprechend zu formulieren und nicht etwas anderes zu
behaupten.
Zweiter Punkt. Wenn wir das Handwerk stärken wollen, dann dürfen wir in der Tag diejenigen, die sich im
Handwerksbereich - auch als ganz kleine Unternehmer selbstständig machen wollen, nicht diffamieren. Ich erinnere an Ihre Veranstaltung, die Sie in dieser Woche im
Paul-Löbe-Haus durchgeführt haben. Dort habe ich zur
Kenntnis nehmen müssen, dass kleine Selbstständige als
„Selbstständigenproletariat“ diffamiert worden sind.
({0})
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hinsken, ganz ehrlich:
Ich finde, es ist einer CDU/CSU-Fraktion und der Partei
Ludwig Erhards unwürdig, solche Bemerkungen auf einer Veranstaltung zu dulden.
Sie hätten aufstehen und sagen müssen: Nein, wir sind
froh, dass es jemand wagt, in die Selbstständigkeit zu gehen; denn es ist besser, in die Selbstständigkeit zu gehen,
als dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen.
({1})
Nun komme ich zu meinem nächsten Punkt. Ich
möchte Ihnen etwas zu den Kriterien sagen. Das betrifft
den zweiten Teil Ihrer Frage, Kollege Hinsken. In der
Tat hat das Handwerk drei Kriterien vorgeschlagen: die
Gefahrgeneigtheit, die Ausbildungsleistung und die
nachhaltige wirtschaftliche Leistung. Darüber kann man
reden. Aber die Bundesregierung hat dem Bundesrat einen Gesetzentwurf zugeleitet - über diesen beraten wir
hier ja gar nicht -, in dem sie die Gewerke in Punkt und
Komma nach ihren Kriterien dargestellt hat. Weder das
Handwerk noch die CDU/CSU-Fraktion haben dies bis
heute getan. Ich bitte Sie - daher habe ich auf den Kollegen Schauerte, der gleich noch sprechen wird, hingewiesen -, die Karten auf den Tisch zu legen.
({2})
Christian Lange ({3})
Sagen Sie doch, was nach Ihren Kriterien an den
Anlagen A und B der Handwerksordnung geändert werden soll. Dann kann man darüber reden. Aber Sie tun es
nicht, weil Sie die Menschen aufhetzen wollen. Das ist
der wahre Grund - sonst nichts.
({4})
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden wir
Erleichterungen für Existenzgründer schaffen, die außerhalb des Geltungsbereichs der Handwerksordnung tätig
werden wollen, die also einfache Tätigkeiten ausüben
wollen. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf nehmen
wir eine gesetzliche Klarstellung vor und nicht mehr.
Das ist notwendig, da das Handwerk derartige Tätigkeiten
häufig immer noch als zum Handwerk dazugehörige Teiltätigkeiten ansieht. Die Folge ist - ich merke, die Aufmerksamkeit lässt nach; warten Sie bitte ab -, dass auch
für einfache Tätigkeiten die Meisterprüfung verlangt wird,
obwohl das nicht der langjährigen höchstrichterlichen
Rechtsprechung entspricht. Mit dem Gesetzentwurf, der
heute auf dem Tisch liegt, beschließen wir nur noch einmal geltendes Recht und nichts anderes.
Handwerkskammern und Behörden gehen vielfach,
wie wir gehört haben, mit Abmahnverfahren, Betriebsschließungen und Bußgeldern gegen Unternehmen vor,
die einfache Tätigkeiten ausüben, aber nicht in der
Handwerksrolle eingetragen sind. Dadurch werden Existenzen aufs Spiel gesetzt. Ich will zwei Beispiele nennen, damit das geneigte Publikum weiß, worüber wir
hier eigentlich beraten. Das erste Beispiel: Ein Mann,
der sich selbstständig machen will und einen fünftägigen
Kurs besucht hat, will folgende Tätigkeiten ausüben: Er
will Lackschäden an Kfz beheben, Alufelgen polieren,
Interieurausbesserungen in Autos vornehmen - sprich:
die Polster säubern -, Dellen entfernen und Steinschlagschäden an Frontscheiben ausbessern. Diese Arbeit ist
ihm mit der Begründung, das gehöre zum Kernbereich
der Tätigkeit eines Lackierers, verboten worden.
({5})
Ich will Ihnen ein zweites Beispiel nennen, damit alle
wissen, worüber wir reden. Im Kreis Siegen-Wittgenstein
gibt es einen Trockenbaubetrieb, der auch ab und zu
kleine Maurerarbeiten durchführt. So mauert er beispielsweise eine Tür zu, bevor er seine Trockenbauarbeiten
macht. Das macht ein Fünftel seiner Arbeit aus. Gegen
diesen Betrieb liegt ein Bescheid vor - ich habe den Bescheid sogar vorliegen -, dass er diese Tätigkeiten sofort
einzustellen habe, weil das Teil des Maurerhandwerks
sei. Er wird, weil das nicht nur als Verletzung der Handwerksordnung, sondern auch als Schwarzarbeit gilt, mit
einer Bußgeldandrohung von 300 000 Euro belegt. Durch
solche Bescheide werden Firmen, Arbeits- und Ausbildungsplätze vernichtet. Das muss ein Ende haben. Das ist
ein Ziel des Gesetzentwurfes der Bundesregierung.
({6})
Hinter dem, was so abstrakt klingt - ich nenne nur
Rechtsprechung und Minderhandwerk -, stehen einzelne
Schicksale. Dadurch sind lauter einzelne Betriebe draußen im Land betroffen, die dran glauben müssen. Das ist
heute leider die Praxis, und zwar contra legem, gegen
das Gesetz.
Diesem Gesetzentwurf zur kleinen Novelle, den wir
heute beraten - er war Teil des Ergebnisses der HartzKommission - hat sogar Herr Schleyer, der auch in der
Kommission saß, zugestimmt. Auf einmal ist das alles
nichtig, alle sind in die Opposition gegangen und machen
reine Blockade. Nichts anderes machen Sie. Sie haben
kein Interesse am Aufbau von Existenzen und haben - leider - kein Interesse an sachlicher Zusammenarbeit. Stattdessen machen Sie Klamauk und Krawall, so wie wir es
Anfang dieser Woche erlebt haben, und nichts anderes.
Wenn man über dieses Thema spricht, muss man einfache Tätigkeiten natürlich auch definieren. Ich will die
letzten Minuten meiner Redezeit dazu nutzen, damit Ihnen klar wird, was einfache Tätigkeiten eigentlich sind.
Einfache Tätigkeiten sind solche, die ein durchschnittlich begabter Berufsanfänger in zwei bis drei Monaten
erlernen und erledigen kann. Keine wesentlichen Tätigkeiten sind solche, die zwar eine längere Anlernzeit verlangen, aber für das Gesamtbild des betreffenden Gewerbes der Anlage A nebensächlich sind und deswegen
nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern, auf die
die Ausbildung in diesem Gewerbe hauptsächlich ausgerichtet ist.
Die Kunden wollen heute alles aus einer Hand bekommen und nicht mehr von Pontius bis Pilatus laufen
und fünf, sechs oder sieben Handwerker beauftragen.
Das ist gefährdet, wenn wir an dieser Stelle keine
Rechtssicherheit und -klarheit schaffen. Auch deshalb
brauchen wir den Gesetzentwurf der kleinen Handwerksnovelle. Vergessen Sie nicht: Wenn Sie den vorliegenden Entwurf im Laufe des Gesetzgebungsprozesses
ablehnen, dann gefährden Sie Ausbildungsplätze, Existenzen und die Betriebe, die es schon heute gibt.
Sie verbrüdern sich, aus mir nicht erklärlichen Gründen, mit dem ZDH; denn er hat ihm einmal zugestimmt.
({7})
- Das ist keine Schande. Das ist in Ordnung. Aber Sie müssen wissen, dass alle anderen Wirtschaftsverbände - mit
Ausnahme dieses einen Lobby-Verbandes - dies anders
sehen. Es ist in Ordnung, wenn das Ihre Meinung ist.
Aber ich habe meine Zweifel, dass es der Partei Ludwig
Erhards, die sich einmal für die Gewerbefreiheit und für
Qualität eingesetzt hat, dass es Ihrer Partei würdig ist.
Deshalb bitte ich um Zustimmung.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine erste Bemerkung: Zwischen Ernst Hinsken
und mir passt bei der Diskussion um die Handwerksordnung kein Blatt Papier.
({0})
Wir haben gemeinsam einen Antrag entwickelt und vorgelegt, in dem wir sehr deutlich und sehr präzise sagen,
was wir geändert sehen wollen und was wir für vernünftig und notwendig halten. In diesem befinden sich mindestens zwölf sehr konkrete Vorschläge.
Sie haben bis heute keinen Antrag und auch keinen
Gesetzentwurf vorgelegt, weil Sie sich nicht wirklich einig sind. Nach der Reaktion, die Sie in der Öffentlichkeit
erlebt haben, haben Sie gezögert. Nun müssen Sie neu
nachdenken. Eigentlich war vorgesehen, dass Sie in der
heutigen Debatte Ihren Entwurf vorlegen. Er ist aber
nicht zustande gekommen.
Herr Kollege Schauerte, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?
Gerne.
Herr Brandner, bitte.
Herr Schauerte, zwischen Sie und Herrn Hinsken
passt kein Blatt Papier. Das haben Sie gerade hier öffentlich ausgeführt. Ich zitiere dazu die „Financial Times
Deutschland“ vom 30. Mai 2003. Darin sagen Sie:
Der Meisterzwang kann für gut 30 der 94 Meisterberufe abgeschafft werden.
Ich habe Herrn Hinsken so verstanden, dass er die
Meisterberufe stärken und ausbauen will. Können Sie
uns diesen Widerspruch erklären oder wie breit ist bei
Ihnen ein Blatt Papier?
Das ist kein Zitat, ich will Ihnen die Frage aber ganz
sauber beantworten: Wir haben Kriterien vorgeschlagen.
({0})
Aufgrund dieser Kriterien - wenn Sie sich die Mühe machen würden, das zu überprüfen, kämen Sie zu ähnlichen
Erkenntnissen - wird es in Zukunft Handwerksberufe
geben, die den vollen Schutz des Meisterbriefes nicht
mehr benötigen oder ihn nicht mehr erhalten. Der eine
oder andere wird nach der ordnungsgemäßen Überprüfung anhand der Kriterien herausfallen.
({1})
Insofern ist auch Ihr Vorwurf, wir wollten hier eine absolute Sperre gegen jede Veränderung einrichten, immer
falsch gewesen. Sie schauen einfach nicht richtig hin.
Noch einmal: Wenn das Kriterium der Gefahrgeneigtheit
europafest ist - das fordern Sie -, ein öffentliches Gut
darstellt - das fordern wir alle - und geeignet ist, eine
Entscheidung zu treffen, dann, das sagen wir, gibt es
auch noch andere Kriterien, die in die gleiche Kategorie
passen könnten. Ich nenne die Ausbildungsleistung; sie
ist geeignet. Herr Kuhn hat es gerade gesagt, als er auf
die Kurzintervention von Friedrich Merz geantwortet
hat. Wir sind bei der Ausbildungsleistung sehr sorgfältig,
deshalb sage ich: Wer überproportional ausbildet, muss
auch eine besondere Qualifikation haben können, etwas
besonders Privilegiertes haben dürfen und in besonderer
Weise geschützt sein dürfen. Das ist ein hohes Gut und
das wollen wir haben.
Herr Brandner, wenn Sie mit Ihrem Husarenritt unabgestimmt weitermachen und die Ausbildungsleistung
nicht als Kriterium aufnehmen, dann werden zu den
Hunderttausend Ausbildungsplätzen, die in diesem Jahr
im dualen Berufsausbildungssystem fehlen, noch einmal
etwa Hunderttausend dazukommen.
({2})
Das können wir nicht verantworten. Deswegen nennen
wir neue Kriterien, einschließlich der Ausbildungsleistung.
Wir wollen die Handwerksgewerke, die ihre Ausbildungsanstrengungen erhöhen, sogar noch mehr sichern.
Das ist ein intelligenter Ansatz und es ist doch ein gemeinsames Ziel von uns, die duale Ausbildung zu ermöglichen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass in Ihren
Reihen zurzeit eine heftige Diskussion darüber geführt
wird, ob Sie das Ausbildungskriterium vielleicht doch
aufnehmen müssen, und dass Sie in Ihrem Eifer - ich
sage Ihnen gleich noch etwas zu Ihrem Übereifer - an
diese Sache vielleicht nicht gedacht haben. Öffnen Sie
sich dieser These doch einfach! Seien Sie modern und
ausbildungsfreundlich! Tun Sie etwas für die Jugend!
Motivieren Sie die Handwerker, möglichst viel auszubilden!
({3})
Mir stellt sich folgende Frage, die hier ja auch immer
wieder diskutiert wird: Warum hat Herr Clement - wenn
er auch Journalist ist - das, was er vor einem halben Jahr
gesagt hat, so gründlich vergessen?
({4})
Von seiner Natur her neigt er eigentlich nicht dazu und er
tut das auch nicht gerne. Ich kann Ihnen aber sagen, warum er es getan hat: Er ist mit seiner Reformagenda in
schwerstes Feuer geraten. Die Linken bei Ihnen - Herr
Brandner, Sie waren dabei - standen auf Tischen und
Bänken. Daraufhin hat er umsteuern müssen, um ihnen
etwas zum Fraß vorzuwerfen. Er hat ihnen zur Beruhigung versprochen, beim Handwerk den Knoten durchzuschlagen. Genauso ist es gelaufen. Es ist eine Unverschämtheit, einen wichtigen Wirtschaftsbereich als
politische Verfügungsmasse hin- und herzuschieben.
({5})
Ein Großteil dieser Aufregung hätte vermieden werden können, wenn Sie die Gespräche in aller Ruhe geführt hätten und wir so zu übereinstimmenden Ergebnissen hätten kommen können. Unsere zwölf Vorschläge
sind mit dem Handwerk abgestimmt. Man muss dazu sagen, dass sie sehr viele Veränderungen bedeuten würden.
Ich will sie in meiner kurzen Redezeit nicht alle auflisten, doch wir sind wirklich sehr modern. Aber mit diesem brutalen Ritt, den Herr Clement den Linken zugestanden hat, damit sie der Agenda von Herrn Schröder
zustimmen, haben Sie das Porzellan zerschlagen. Damit
haben Sie Vertrauen zerstört. Wirtschaft und Wachstum
in unserem Lande haben Sie nicht weitergebracht, sondern die Enttäuschung in unserem Lande noch vergrößert. Das ist Ihr Problem. Deswegen müssen wir schnell
zur Sachlichkeit zurückkommen. Öffnen Sie sich für unsere Kriterien, dann kommen wir ein ganzes Stück mit
dem Programm voran, das wir umsetzen wollen.
({6})
Ich will noch etwas zu den übrigen Gründen sagen.
Alles, was wir tun, muss nützlich sein. Wenn Ihre Operation zur Förderung von Wachstum, Arbeitsplätzen und
Ausbildung hilft, müssen wir die Operation akzeptieren.
Wenn sie nicht hilft, müssen wir sie sein lassen. Schauen
wir uns die Sache einmal genauer an. Sie sagen: Das
Handwerk hat eine schlechtere wirtschaftliche Entwicklung als die Gesamtwirtschaft genommen. Das ist in Teilen wahr, hängt aber wohl auch damit zusammen, dass
das Handwerk im Gegensatz zur Gesamtwirtschaft ausschließlich an der Binnenkonjunktur hängt. Wer hingegen die Binnenkonjunktur schlecht macht, darf sich anschließend nicht darüber wundern, dass es dem
Handwerk schlechter als der exportierenden Wirtschaft
geht.
({7})
Sie sagen: Die enge Verfasstheit des Handwerks stört
die Gründungsdynamik. Schauen Sie sich einmal die
Gründungsdynamik und die Entwicklung von Existenzen im Einzelhandel an. In diesem Bereich herrscht absolute Freiheit. Dort sieht es noch schlechter als beim
Handwerk aus. Schauen Sie sich einmal die Gründungsdynamik bei Rechtsanwälten an. Dieser Berufsstand ist
verkammert und besitzt eine Gebührenordnung mit explodierenden Gebühren. Sie können anhand eines Kurvenverlaufs nicht einfach auf die Ursache schließen. Sie
haben keine sorgfältige Ursachenanalyse betrieben. Man
muss doch fragen: Hat das eine überhaupt etwas mit dem
anderen zu tun? Oder sind dies unterschiedliche Kausalitäten, die wir hier zu berücksichtigen haben?
Bevor so stark eingegriffen wird, wie Sie es vorhaben,
muss erst einmal der Nachweis geführt werden, dass
diese Maßnahmen dem Handwerk und der Binnennachfrage wirklich helfen. Lenken Sie mit dieser Operation
nicht in Wirklichkeit von Ihrer zerstörerischen Wirtschaftspolitik zulasten der Binnenkonjunktur ab? Ist das
nicht Ihr eigentliches Thema?
({8})
Sollen dafür die Handwerker mit einer nicht sachgerechten Reform bezahlen? Das kann doch nicht wahr sein!
Das kann nur einer machen, der sein Land nicht liebt.
({9})
Wir wollen Dinge beschließen, die diesem Land weiterhelfen. Sie hingegen sind jeden Beweis schuldig geblieben, dass Ihr Übermaß weiterhilft. Wir sagen: Ihr Übermaß behindert, stört und zerstört.
({10})
Um die Ernsthaftigkeit der Ausbildungsfrage anzusprechen, möchte ich einige Zahlen nennen. In Deutschland gibt es 760 000 freie Berufe. Sie sind auch deswegen frei, weil sie durch fast nichts reglementiert sind.
Diese 760 000 freien Berufe bilden 160 000 junge Menschen aus. Das Handwerk mit seinen 580 000 Unternehmungen bildet 564 000 junge Menschen aus. In der Berufssparte, die den höchsten Ausbildungsbeitrag leistet,
zerstören Sie die Ausbildungsmotivation in unverantwortlicher Weise. Wie wollen Sie das Eltern erklären,
die nicht wissen, wo sie ihre Kinder ausbilden lassen
können?
({11})
Sie zerstören die Ausbildungsbereitschaft; das werden Ihnen die Handwerker bestätigen. Diese fühlen sich
durch Ihre Vorgehensweise in einer solchen Weise missachtet, dass ihnen - ich möchte es einmal jovial sagen der Hals schwillt. Sie sind nicht mehr bereit, unter diesen
Umständen auszubilden. Sprechen Sie doch einmal mit
Vertretern der Lackiererinnung oder der Friseurinnung.
Allein in diesem Bereich gibt es zum gegenwärtigen
Zeitpunkt über 80 000 Ausbildungsplätze. Diese Innungen werden blockieren, weil sie diese Maßnahmen nicht
wollen. Dennoch werden Sie sie wohl durchsetzen. Aber
wer im dualen Ausbildungssystem so sehr über dem
Durchschnitt der deutschen Wirtschaft ausbildet, der hat
es nicht verdient, unter solchen, im Übermaß ausgedachten und zum Teil ideologisch begründeten Gesetzgebungsvorhaben zu leiden. Das ist der Punkt, gegen den
wir uns wehren.
Kommen Sie zurück zu einer ordnungsgemäßen, kausalbezogenen, ursachengerechten Reformdiskussion und
wir sind an Ihrer Seite. Alles andere ist falsch, schadet
dem Handwerk und schadet dem Wirtschaftsstandort
Deutschland. Nehmen Sie unsere Kriterien auf und Sie
haben einen ersten großen und vernünftigen Schritt getan.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/1089, 15/1107 und 15/1108 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus Haupt, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes
- Drucksache 15/756 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Ernst Burgbacher für die antragstellende FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende
April dieses Jahres waren mehr als 164 000 unbesetzte
Ausbildungsplätze bei den Arbeitsämtern gemeldet. Dem
standen mehr als 325 000 Bewerber ohne Ausbildungsplatz gegenüber. Die Situation ist dramatisch - wir haben
das heute Vormittag schon diskutiert. Wir hier in diesem
Hause müssen alles tun, diesen Problemen zu begegnen.
({0})
Es kann nicht sein, dass in unserem Land mehr und mehr
junge Menschen vor der Situation stehen, keinen Ausbildungsplatz zu bekommen. Heute Morgen haben wir über
das Instrument der Ausbildungsplatzabgabe diskutiert nach unserer festen Überzeugung ein völlig falsches Instrument.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben in einem Bereich eine ganz besondere Situation, nämlich in der Tourismuswirtschaft, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe. Dort gibt es Arbeitsplätze, genauer gesagt
Ausbildungsplätze, die kaum exportierbar sind. Laut einer aktuellen DIHK-Unternehmensbefragung beabsichtigt fast jedes vierte von 10 000 befragten Unternehmen in
Deutschland eine Produktionsverlagerung ins Ausland. In
der Tourismuswirtschaft ist das kaum möglich. Die Tourismuswirtschaft hat in Deutschland rund 2,8 Millionen
Beschäftigte und zählt circa 107 000 Auszubildende. Am
31. Dezember 2001 gab es rund 93 000 Ausbildungsverhältnisse im Hotel- und Gaststättengewerbe; das war immerhin eine Steigerung von 2,6 Prozent gegenüber dem
Vorjahr.
Wir haben freie Stellen. Heute Morgen habe ich die
Meldung gelesen, dass im Hotel- und Gaststättengewerbe in Baden-Württemberg mehr als 2 000 Ausbildungsplätze unbesetzt sind. Da müssen wir uns doch die
Frage stellen: Warum werden diese Plätze nicht besetzt?
Nun reden wir in diesen Zeiten immer wieder davon,
was wir gemeinsam in diesem Hause tun können, um die
Situation zu entschärfen. Die Leute draußen - die jungen
Leute, aber genauso die Arbeitgeber - erwarten nicht die
großen Konzepte; sie stehen mit dem Rücken zur Wand
und wollen, dass etwas geschieht.
({2})
Das ist unsere Herausforderung. Wenn Sie nun um die
Situation wissen, dass in diesem großen und wichtigen
Bereich - ich habe die Zahlen schon genannt - in vielen
Häusern nur noch Abiturienten ausgebildet werden,
({3})
weil die nämlich über 18 sind, und dass Auszubildende
unter 18 in vielen Häusern überhaupt nicht mehr genommen werden, dann müssen Sie doch handeln. Darauf
zielt unser Gesetzentwurf ab.
({4})
Meine Damen und Herren, es geht eben nicht, dass
Sie die Auszubildenden im Hotel- und Gaststättengewerbe um 22 Uhr einfach nach Hause schicken müssen;
die Betriebsabläufe lassen so etwas nicht zu. Übrigens
wollen das auch die Jugendlichen heute überhaupt nicht.
Sie haben sich auf diesen Beruf eingestellt und wissen,
was das mit sich bringt. Jetzt müssten sie um 22 Uhr aufhören. Was machen sie? Sie ziehen sich um und gehen in
die Disco. So kann man doch keine Politik gestalten!
({5})
Heute haben Sie die Möglichkeit, zu beweisen, ob Sie
wirklich willens sind, etwas zu verändern und erkannte
Mängel zu beseitigen, oder ob es nur Lippenbekenntnisse sind und Sie sich dann, wenn es konkret wird, auf
Ihre alten ideologischen Vorstellungen zurückziehen. Ich
bin gespannt auf die Debatte hier und in den Ausschüssen.
Ich wiederhole: Nach den bestehenden Regelungen ist
für Jugendliche unter 18 Jahren in diesen Bereichen um
22 Uhr Schluss. Bekanntlich hat sich das Ausgehverhalten
aber völlig verändert. Wir wissen, dass Jugendliche länger ausgehen und dass sich ihre Bedürfnisse verändert
haben.
Zudem muss man die Situation im Hotel- und Gaststättengewerbe berücksichtigen: Eine ganze Menge Betriebe erwirtschaften keine Gewinne mehr, sondern arbeiten mit Verlust. Diese Betriebe leiden erheblich unter
dem Konsumrückgang - durch Ihre Politik mit verschuldet.
({6})
Wenn Sie zum Beispiel die Tabaksteuer erhöhen, dann
trifft das vor allem diese Betriebe. Denn irgendwo muss
schließlich das Geld wieder eingespart werden.
Machen Sie doch einmal mit bei konkreten Maßnahmen, die diese Situation erheblich entschärfen würden!
Wir schlagen Ihnen vor, die Arbeitszeiten so zu verändern, dass junge Leute ab 16 Jahre bis 24 Uhr arbeiten
dürfen; am Vorabend von Berufsschultagen soll eine andere Regelung gelten. Das ist eine geringfügige Änderung, die aber viel bringen würde.
Sie können in dieser Frage zeigen, ob Sie für die Auszubildenden nur hehre Worte übrig haben oder ob Sie bereit sind, über Ihren ideologischen Schatten zu springen
und zu handeln. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf mittragen, dann helfen wir damit vielen jungen Menschen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Wir werden Sie
nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten messen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Burgbacher, wenn Sie davon sprechen, dass wir unsere Politik unseren ideologischen Vorstellungen unterordnen, dann darf ich Ihnen antworten:
Anscheinend haben Sie in Ihren Antrag vor allem Ideologie hineingepackt, indem nämlich Arbeitnehmerrechte abgebaut und Schutzrechte für junge Menschen
aufgegeben werden sollen.
({0})
Nichts anderes steht bei Ihnen im Vordergrund.
Ich will das an einigen Zahlen deutlich machen. Sie
sprachen davon, dass das starre Arbeitsrecht und die
zahlreichen Restriktionen in diesem Bereich dazu führen, dass das Ausbildungspotenzial nicht ausgeschöpft
werden kann. Sie haben einige Zahlen genannt. Ich will
diese Zahlen verdeutlichen. In den vergangenen zehn
Jahren gab es im Gastronomie-, Hotel- und Gaststättengewerbe eine Steigerung von fast 50 Prozent auf 91 986
Ausbildungsverhältnisse,
({1})
obwohl keine Änderungen am Jugendarbeitsschutzgesetz erfolgt sind, Herr Burgbacher. Insofern ist das, was
Sie verdeutlichen wollen, nämlich dass sich das Jugendarbeitsschutzgesetz hinderlich auswirkt, in keiner Weise
überzeugend.
({2})
Der andere Punkt, den Sie erwähnt haben, nämlich
dass die geltende Regelung zu einer bevorzugten Bereitstellung von Ausbildungsplätzen für Abiturienten gewährleistet sei, ist ebenfalls falsch, wie Sie wissen müssten, wenn Sie sich sachkundig gemacht hätten. Ich
möchte auch dazu einige Zahlen anführen: Rund
78 Prozent der Auszubildenden bei den Restaurantfachleuten sind Haupt- und Realschüler, unter den Fachkräften, die im Gastgewerbe ausgebildet werden, sind es
rund 70 Prozent, unter den Hotelfachleuten rund
64 Prozent, unter den Hotelkaufleuten rund 32 Prozent
und unter den Fachleuten für die Systemgastronomie
57 Prozent. Sie sollten sich etwas mehr damit beschäftigen und sich die Zahlen einmal zu Gemüte führen!
({3})
Ich sage noch einmal deutlich: Sie sprechen zwar von
Flexibilität, aber Sie verstehen darunter die Aufgabe von
Arbeitnehmerrechten und von Arbeitsschutzrechten für
junge Menschen.
({4})
- Ihre Reaktion gefällt mir übrigens. Je mehr Zwischenrufe Sie machen, desto mehr zeigt mir das, dass Sie sich
mit der Thematik nicht befasst, dass Sie sich mit den
Zahlen nicht vertraut gemacht haben und dass Sie von
den Fakten ablenken wollen, die hier genannt werden.
({5})
Sie gehen davon aus, dass sich das Freizeitverhalten
junger Menschen verändert hat. Das ist wohl richtig.
Aber ich glaube, dass es einen Unterschied zwischen
dem Freizeitverhalten junger Menschen am Wochenende
und der Vorgabe gibt, wann man als Arbeitnehmer zur
Verfügung zu stehen hat. Als junger Mensch kann man
sich aussuchen, an welchem Tag in der Woche man bis
24 Uhr in eine Diskothek geht. Als Arbeitnehmer kann
man sich aber nicht aussuchen, ob man bis 22 Uhr oder
bis 24 Uhr arbeitet. In diesem Fall ist man verpflichtet.
Sie haben außerdem gänzlich unerwähnt gelassen, dass
es auch Ausnahmeregelungen gibt. In Schichtbetrieben
kann nämlich die Arbeitszeit bis 23 Uhr verlängert werden. Auch das möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben.
Ich habe diese Anmerkungen gemacht, weil es mir wichtig erschien, den besonderen Wert des Jugendarbeitsschutzes herauszustellen.
Die SPD-Fraktion lehnt den Gesetzentwurf der FDP
aus zwei Gründen ab: Zum einen wird mit den vorgeschlagenen Maßnahmen in keiner Weise das angestrebte
Ziel erreicht. Die zugrunde gelegte Bewertung, das geltende Recht behindere die Schaffung von Ausbildungsplätzen, wird durch Zahlen widerlegt. Dies habe ich Ihnen gerade deutlich gemacht. Zum anderen ist die
Begründung, die Jugendarbeitsschutzregelungen seien
aufgrund veränderten Freizeitverhaltens zu vernachlässigen, mehr als dürftig.
({6})
Dies gilt in Gänze auch für Ihren Antrag. Daher lehnen
wir ihn ab.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Göhner
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grotthaus, mit dem Abbau von Arbeitnehmerrechten hat der vorliegende Gesetzentwurf der FDP nun
wirklich nichts zu tun.
({0})
Lassen Sie uns einmal ganz nüchtern und sachlich über
das Problem und über das reden, was im Gesetz steht. Im
Jugendarbeitsschutzgesetz ist geregelt, dass ein Jugendlicher nicht mehr als acht Stunden pro Tag arbeiten darf.
Das soll auch nach dem Gesetzentwurf der FDP so bleiben. Es geht aber um die Frage, ob ein jugendlicher
Lehrling auch noch um 22.30 Uhr oder 23 Uhr arbeiten
darf. Das gesamte Jugendarbeitsschutzgesetz ist sicherlich gut gemeint. Aber in drei Detailfragen hat sich dieses Gesetz als das Gegenteil von Gut herausgestellt, weil
es sich zulasten der Jugendlichen auswirkt.
Dass ein Lehrling im Alter von 17 Jahren zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe nach 22 Uhr
nicht mehr tätig sein darf, ist in der Tat eine anachronistische Vorschrift.
({1})
Ein 17-Jähriger darf zwar bis 24 Uhr in eine Gaststätte
oder in eine Disco gehen, aber nur vor dem Tresen und
nicht dahinter. Von jungen Leuten zu verlangen, dass sie
als Koch in einem Abendrestaurant - solche gibt es tatsächlich - um 22 Uhr den Löffel fallen lassen oder dass
sie in einer Gaststätte ab dieser Uhrzeit nicht mehr bedienen, mag zwar einmal gut gemeint gewesen sein. Im
Endeffekt führt das heute aber dazu, dass in solchen Betrieben vorzugsweise Abiturienten als Lehrlinge eingestellt werden. Diese Regelung wirkt sich also als eine
Benachteiligung der Haupt- und Realschüler aus.
({2})
In allen Berufen des Hotel- und Gaststättengewerbes
liegt das Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger
über 18 Jahre. Das ist doch kein Zufall. In der Systemgastronomie sind 85 Prozent der Lehrlinge - wohlgemerkt: zu Beginn ihrer Ausbildung - 18 Jahre und älter.
Bei den Hotelkaufleuten sind es sogar 90 Prozent. Der
Sachverhalt ist offensichtlich: Das Jugendarbeitsschutzgesetz wirkt in diesem Bereich als Bremse für Hauptund Realschüler.
({3})
Nicht die böse Opposition, sondern das Bundesinstitut
für Berufsbildung hat das exakt festgestellt: 2001 waren
84,5 Prozent der Ausbildungsanfänger älter als 18 Jahre;
beim Hotelkaufmann bzw. bei der Hotelkauffrau waren
es 89,5 Prozent. Die Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger betrugen: beim Restaurantfachmann
18,7 Jahre, beim Hotelfachmann 19,1 Jahre; bei Fachkräften im Gastgewerbe 18,5 Jahre. So weit die Fakten.
Die müssen wir ändern. Auch Haupt- und Realschüler
müssen in diesem Bereich mehr Chancen bekommen.
({4})
Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist in diesem Punkt
geradezu kurios. Lassen Sie uns doch bitte einmal ohne
Scheuklappen, ganz nüchtern darüber reden!
Beispiel eins: Nach geltendem Recht kann ein 17-jähriger Bäckerlehrling sinnvollerweise ab 4 Uhr in der
Backstube tätig sein. Aber ein in Ausbildung befindlicher
Kellner muss im Abendrestaurant um 22 Uhr den Löffel
fallen lassen. Nennen Sie das schlüssig und logisch?
({5})
Beispiel zwei - Sie haben es selbst erwähnt -: In großen Hotelbetrieben oder in großen Gastronomiebetrieben, in denen die Leute in zwei Schichten arbeiten, darf
der Lehrling bis 23 Uhr arbeiten. In einer kleinen Hotelpension, in einem Restaurant, das vielleicht mittags drei
Stunden und abends von 18 bis 23 Uhr aufmacht, darf er
nicht bis 23 Uhr arbeiten. Das ist nicht schlüssig. Da ist
keine Logik im Gesetz.
Diese Beispiele zeigen, dass das Jugendarbeitsschutzgesetz in diesem Punkt nicht dem Schutz der Jugendlichen dient. Es schadet den Interessen der jungen Leute
und deshalb sollten wir es auch ändern.
Das gilt übrigens auch für die Regelung mit den Berufsschultagen. Am Vortag muss der Lehrling schon um
20 Uhr den Löffel fallen lassen - als ob die Lehrlinge in
der Berufsschule am anderen Tag nicht frisch und munter und lernbegierig sein können, wenn sie bis 21 Uhr
gearbeitet haben! Das ist doch lachhaft.
({6})
Ich nenne einen weiteren Punkt - er ist in den FDPEntwurf nicht aufgenommen worden, muss aber auch
geändert werden -: Nach dem geltenden Jugenarbeitsschutzgesetz darf die so genannte Schichtzeit elf Stunden nicht überschreiten. Das heißt nicht, dass der Jugendliche bis zu elf Stunden arbeiten darf. Nein, es soll
bei acht Stunden bleiben. Aber die so genannte Schichtzeitenregelung hat die kuriose Folge, dass zum Beispiel
eine 17-Jährige in einer Hotelpension, die Halbpension
mit Abendessen bietet - kein theoretisches Beispiel -,
mit Arbeitszeiten morgens von 7 Uhr bis 10 Uhr - Frühstück, Zimmer machen - und später von 16 bis 20 Uhr,
nicht beschäftigt werden darf, weil die Öffnungszeiten
einen Zeitraum von insgesamt mehr als elf Stunden umfassen, obwohl die Arbeitszeit nur sieben Stunden beträgt. Wenn ein Restaurant hier am Gendarmenmarkt
von 11 bis 14 Uhr und abends von 17 bis meinetwegen
23 Uhr geöffnet hat, beträgt die Schichtzeit ebenfalls
mehr als elf Stunden; der Lehrling muss um 22 Uhr den
Löffel fallen lassen. Nach dem FDP-Entwurf könnte in
einem klassischen Speiserestaurant mit Öffnungszeiten
von 11 bis 14 Uhr sowie von 18 bis 23 Uhr der jugendliche Lehrling auch nicht nach 22 Uhr beschäftigt werden.
Dazu werden wir im Laufe der Ausschussberatungen sicherlich etwas ergänzen können.
({7})
Es ist ja richtig: 90 000 Ausbildungsplätze im Bereich
der Hotels und Gaststätten! Deshalb, liebe Kollegen von
der SPD, lassen Sie uns einmal auf diese ausbildungsplatzintensive Branche hören! Die Branche beklagt gerade, dass sie vorwiegend Ältere, vorwiegend Abiturienten einstellen muss; sie würde mehr Haupt- und
Realschüler einstellen. Lassen Sie uns deshalb den Aufschwung in diesem Servicebereich nutzen. Sie loben dieses Gewerbe zu Recht. Aber dann hören Sie doch auf die
Vertreter! Sie haben sich an alle Fraktionen gewandt,
auch an Ihre Fraktion, mit der Bitte, diese Grenze heraufzusetzen.
Ich kann nur nochmals sagen: Das alles im Gesetz ist
immer noch gut gemeint, aber für Jugendliche zwischen
16 und 18 Jahren, vor allem solche mit Haupt- oder Realschulabschluss, nicht mehr gut. Deshalb rate ich dazu,
dass wir im Ausschuss einmal ganz nüchtern gucken, ob
wir das nicht schnell ändern können.
({8})
Das würde den Jugendlichen helfen. Wir müssen die Jugend vor diesem Gesetz schützen.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir versuchen einmal, das ganz nüchtern zu betrachten: Weil es in
Deutschland eine hohe Arbeitslosigkeit gibt und weil vor
allem jede Menge Ausbildungsplätze fehlen, muss das
Jugendarbeitsschutzgesetz geändert werden; denn schuld
an der ganzen Misere ist natürlich - wie könnte es anders
sein? - unser starres Arbeitsrecht. Das jedenfalls meint
die FDP.
Deshalb beschäftigen wir uns heute mit einem ebenso
schlichten wie abenteuerlichen Vorschlag - ich zitiere -:
Mit einer punktuellen Flexibilisierung des Gesetzes
zum Schutz der arbeitenden Jugend wird der Jugendarbeitslosigkeit entgegengewirkt.
Im Klartext: Damit mehr Jugendliche in Ausbildung
kommen, will die FDP Zumutbarkeitskriterien verschärfen und entlang ihrer Philosophie das Jugendarbeitsschutzgesetz in folgenden Punkten ändern:
Erstens. Jugendliche in Gaststätten und im Schaustellergewerbe sollen künftig bis 24 Uhr statt wie bisher bis
22 Uhr auf Trab gehalten werden.
Zweitens. An einem dem Berufsschultag unmittelbar
vorangehenden Tag sollen die Beschäftigungszeiten von
20 Uhr auf 21 Uhr ausgeweitet werden.
Das sind die liberalen Vorschläge. Damit setzen Sie
die Brechstangen- und Rasenmäherpolitik, die wir schon
heute Morgen in der Ausbildungsplatzdebatte erlebt haben, auf dem Rücken junger Leute nahtlos fort.
({0})
Kein Bauer spannt ein Fohlen vor den Pflug. Er weiß
nämlich, dass das Tier noch nicht leistungsfähig ist und
dass körperliche Beanspruchung im jugendlichen Alter
die Leistungskraft für die Zukunft schädigen kann.
({1})
Für junge Menschen sollte der gleiche Grundsatz gelten.
Diese Erkenntnis ist etwas älter als ich - Sie stammt aus
dem Jahr 1931 - und ist unter der Überschrift „Der Jugendliche im Betrieb - Praxis des Arbeitsschutzes und
der Gewerbehygiene“ nachzulesen. Auch wenn wir mittlerweile eine ganze Menge dazugelernt haben, ist eines
wahr geblieben: Ausbildung kommt nicht von Ausbeutung und es wird kein frühkapitalistisches Zurück in die
Zukunft geben, schon gar nicht nach Ihrem Motto: Hau
weg den Arbeitsschutz für Jugendliche!
({2})
Die Realität ist eine völlig andere: Deutsche Unternehmen
ziehen sich aus ihrer sozialstaatlichen Verantwortung für
die Ausbildung mehr und mehr zurück. Nur noch ein
knappes Drittel bildet überhaupt aus. Sie selbst weisen
darauf hin, dass allein in der Tourismusbranche zum
Ende des Jahres 20 000 Lehrstellen fehlen. Welchen
Schluss ziehen Sie daraus? - Nicht den Unternehmen,
nein, den Auszubildenden müssen die Daumenschrauben angelegt werden. Es bleibt allerdings Ihr Geheimnis,
wie Sie mit der geforderten Verlängerung neue Arbeitsplätze schaffen wollen. Aber dass alle Vorschläge der
Opposition einer hohen Geheimhaltungsstufe unterliegen, haben wir heute Morgen gemerkt: Jedes Mal, bevor
ein solcher kommen konnte, war die Redezeit abgelaufen.
Außerdem haben Sie das Gesetz nicht gelesen. Wenn
Sie das getan hätten, dann wüssten Sie, dass es gerade
für den Bereich der Gastronomie, des Schaustellergewerbes, für Krankenpflegeeinrichtungen, Altenheime,
Bäckereien usw. eine Reihe von Ausnahmeregelungen
gibt. 16-Jährige dürfen in Bäckereien bereits um 5 Uhr
morgens Brötchen backen, 17-Jährige bereits ab 4 Uhr.
§§ 16 bis 18 des Jugendarbeitschutzgesetzes sehen außerdem noch Ausnahmeregelungen an Samstagen sowie
an Sonn- und Feiertagen vor.
Interessant sind auch Ihre Aussagen zum Ausgehverhalten von Jugendlichen. Motto: Weil 16-Jährige heutzutage länger ausgehen und am öffentlichen Leben teilnehmen, müssen sie auch länger arbeiten.
({3})
Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrem jugendlichen Alter einmal nachts in irgendeiner Kneipe gekellnert haben. Ich
vermute allerdings, eher nicht.
({4})
Hätten Sie es getan, wäre Ihnen der gravierende Unterschied zwischen Freizeit und Arbeit klar.
({5})
Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll Jugendliche vor
Überforderung und Gefahren am Ausbildungs- und Arbeitsplatz schützen. Sie stehen unter besonderem Schutz,
weil ihre psychische und physische Entwicklung noch
nicht abgeschlossen ist. Auch wenn es stimmt, dass sich
junge Menschen heute schneller entwickeln, dann heißt
das nicht, dass ihre Entwicklung mit 16 Jahren abgeschlossen ist. Im Gegenteil: Die Anforderungen an Jugendliche in einer sich rasant verändernden und immer
komplizierter werdenden Welt hat dazu geführt, dass der
körperliche und auch der soziale Reifungsprozess länger
dauert. Deshalb müssen wir sie in vollem Umfang schützen
({6})
und deshalb lehnen wir Ihre Änderungen zum Jugendarbeitsschutzgesetz ab.
Ich will Ihnen hier noch als Letztes sagen: Den
Schutz von Jugendlichen als Ideologie zu bezeichnen,
das ist schon ein starkes Stück. Ich hoffe, dass das viele
Jugendliche so wahrgenommen haben.
Danke schön.
({7})
Jetzt hat der Kollege Engelbert Wistuba von der SPDFraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Der uns heute vorliegende Entwurf löst
bei mir geteilte Gefühle aus. Zum einen begrüße ich die
Intention des Gesetzentwurfs ausdrücklich, setzt sich die
FDP-Bundestagsfraktion doch für eine Bekämpfung der
viel zu hohen Jugendarbeitslosigkeit und des nicht zu akzeptierenden Lehrstellenmangels in Deutschland ein.
Darüber hinaus könnte man sogar einen leichten Anflug
längst tot geglaubter sozial-liberaler Anwandlungen erkennen, wenn Sie sich für eine größere Chancengleichheit von Haupt- und Realschülern gegenüber Gymnasiasten einsetzen. Aber, um es mit Goethe gleich
klarzustellen: Die Botschaft höre ich wohl, allein mir
fehlt der Glaube.
({0})
Bei der Wahl der Mittel - das hat Ihnen der Kollege
Grotthaus schon klar diagnostiziert - trennen sich unsere
Wege aber deutlich. Auf die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage zur Ausweitung des § 14
des Jugendarbeitsschutzgesetzes, in dem es um die
Nachtruhe geht, wurde schon hingewiesen. Ich will es
trotzdem noch einmal betonen: Sinn und Zweck dieses
Gesetzes ist nicht die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit bzw. des Ausbildungsplatzmangels. Vielmehr
geht es um den Gesundheitsschutz der betroffenen arbeitenden Jugendlichen.
Herr Burgbacher, das können Sie auch mit dem Argument eines veränderten Freizeitverhaltens nicht außer
Kraft setzen. Ich kann kaum nachvollziehen, dass es
nach Ihrer Meinung keinen großer Unterschied ausmacht, ob ein junger Mensch bis 24 Uhr arbeiten muss
oder tanzen gehen darf.
({1})
Darüber hinaus sind in dem Gesetz bereits branchenspezifische Ausnahmen - das wurde hier schon gesagt -,
insbesondere für das Gaststätten- und das Schaustellergewerbe, enthalten.
Zweitens. Wir sprechen hier über das Thema Ausbildung. Bei Ihrem Vorschlag stellt sich mir die Frage, welche spezifischen Lerninhalte nach 22 Uhr eigentlich vermittelt werden sollen. Ich behaupte, dass es im
Restaurant, in der Küche oder auf dem Rummel keine
spezifischen Nachtinhalte gibt. Servicearbeiten wie Aufräumen, Säubern oder Frühstück-Eindecken können
auch zu den geltenden Arbeitszeiten gemacht werden.
Das führt mich zu Punkt drei.
({2})
- Gerne.
({3})
- Ich möchte fortfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich möchte alle an dieser Diskussion Beteiligten noch
einmal daran erinnern - der Kollege Grotthaus hat das
schon in ähnlicher Weise ausgeführt -, dass die Zahl der
Azubis im Gastgewerbe in den letzten zehn Jahren um
über 50 Prozent gestiegen ist. Dies kann man einerseits
als einen verdienstvollen Beitrag zur Bekämpfung des
Ausbildungsplatzmangels interpretieren. Man könnte bei
einem Blick auf die Realität in diesem Gewerbe andererseits aber auch zu dem Schluss kommen, dass diese Entwicklung darauf zurückzuführen ist, dass reguläre Arbeitskräfte im Gastgewerbe durch billige Auszubildende
ersetzt wurden.
({4})
Ich will den Kollegen von der FDP nichts unterstellen. Ein Blick auf die Angaben des Statistischen Bundesamtes zeigt aber, dass die Beschäftigungsquote in der
Branche seit 1995 - bis auf das Jahr 2001 - bei steigendem Ausbildungsplatzangebot stetig zurückgeht.
Punkt vier. Nach einer Pressemitteilung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes vom 14. Februar,
dessen Formulierung interessanterweise dem Gesetzentwurf der FDP sehr ähnlich ist, liegt die Ausbildungsquote im Gastgewerbe mit 12 Prozent deutlich über dem
Durchschnitt der Wirtschaft. Das heißt doch - ich begrüße das ausdrücklich -, dass die Branche schon jetzt in
überproportionalem Maße ausbildet. So weit, so gut. Ich
gebe aber zu bedenken, dass dies nicht auf Kosten der
Ausbildungsqualität geschehen darf,
({5})
wie das bei einer weiteren Verschiebung des Verhältnisses von ausgebildeten Arbeitnehmern zu Auszubildenden der Fall sein würde.
Ich formuliere es zum Schluss noch einmal klar und
deutlich: Ihre Intention ist löblich, der vorgeschlagene
Weg führt aber nicht zum gewünschten Ziel. Im Namen
meiner Fraktion wehre ich mich gegen den Ansatz
„mehr billige Azubis auf Kosten regulärer Arbeitsverhältnisse“.
({6})
Der brancheninterne Sparzwang darf unter keinen
Umständen auf dem Rücken der jungen Menschen ausgetragen werden. Aus der alltäglichen Arbeit wissen wir
doch, dass es schon heute in allen Betriebssystemen Verstöße gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz gibt, egal ob
es sich um die Einhaltung von Arbeitszeiten oder um tarifvertragliche Vereinbarungen handelt. Eine weitere
Senkung dieser Sanktionsschwelle ist deshalb absolut inakzeptabel.
Um Ihnen ein Beispiel zu geben, verweise ich Sie auf
einen Bericht in der „Bild“-Zeitung vom 15. Mai 2003,
wo - ich denke, es war die Münchner Ausgabe - über einen Hotelchef berichtet wurde, der in den letzten Monaten
mir nichts, dir nichts zehn Azubis die Gehälter gekürzt
und sie letztendlich - zum Teil in der Probezeit - ohne
triftige Gründe rausgeworfen hat.
({7})
Diese jungen Menschen sind doch schon heute das unterste Glied in der Arbeitshierarchie. Für ein Aufweichen ihres Arbeitsschutzes werden Sie unsere Stimme
nicht erhalten.
({8})
Abschließend möchte ich Ihnen ein chinesisches
Sprichwort mit auf den Weg geben. Es lautet folgendermaßen: Es gibt Menschen, die Fische fangen, und solche, die nur das Wasser trüben. - In diesem Sinne empfehle ich allen Beteiligten klare Sicht in dieser Debatte
und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Reinhard Göhner das Wort.
({0})
Ich habe vorhin fünf Minuten kürzer geredet, als mir
an Redezeit zustand.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich möchte noch einen kurzen Versuch machen, die Diskussion wieder zu
öffnen. Sie haben gesagt, Herr Kollege, es gehe beim Jugendarbeitsschutzgesetz um Gesundheitsschutz für die
Jugendlichen - in Ordnung. Jetzt erklären Sie mir aber
einmal, was es mit Gesundheitsschutz zu tun hat, wenn
der Lehrling bei McDonald’s nach geltendem Recht
- dort wird prinzipiell mehrschichtig gearbeitet und der
Betrieb ist sehr ausbildungsintensiv - bis 23 Uhr arbeiten kann, dieser Lehrling im Nachbarrestaurant, einem
Speiserestaurant, das als Abendspeiserestaurant von 18
bis 23.30 Uhr geöffnet hat, aber ab 22 Uhr nicht mehr arbeiten dürfte. Das hat doch nichts mit Gesundheitsschutz
zu tun!
Und was hat es mit Gesundheitsschutz zu tun, wenn
der 17-jährige Lehrling beim Bäcker morgens um 4 Uhr
- sinnvollerweise, das geht beim Bäcker nicht anders in der Backstube anfangen darf, aber abends um 22 Uhr
den Löffel fallen lassen muss?
({0})
Deshalb lassen Sie uns wirklich überlegen, ob es noch
zeitgemäß ist, zu behaupten, dass der Gesundheitsschutz
eines Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren beeinträchtigt ist, wenn er nach 22 Uhr etwas tun muss. Wenn
Sie das ernst meinen, dann müssten Sie die anderen Regelungen - für McDonald’s, für den Bäcker - auch ändern. Das wollen Sie doch selbst nicht.
({1})
Deshalb schlage ich vor, dass wir im Ausschuss ernsthaft darüber reden. Wenn Ihnen 24 Uhr zu spät ist, dann
reden wir über die 23 Uhr, die das Hotel- und Gaststättengewerbe selbst vorschlägt und die, wie ich Ihnen gesagt habe, bei McDonald’s und in allen anderen Schichtbetrieben - in jeder Hotelkette gibt es Schichtbetrieb zulässig sind, nur nicht in der kleinen Hotelpension, die
nicht mehrschichtig arbeitet; dort sagen Sie: 22 Uhr
Ende der Fahnenstange.
Ich finde, Sie sollten unter diesem Gesichtpunkt überlegen, ob Sie an Ihrer Position tatsächlich festhalten wollen.
({2})
Herr Kollege Wistuba, wollen Sie noch einmal das
Wort ergreifen? - Bitte schön.
Herr Göhner, ich meine, Schichtarbeit ist ein notwendiger Sektor in unserem Land. Das sagt Ihnen jemand,
der über 20 Jahre seines Lebens im Schichtdienst gearbeitet hat. Ich sage aber auch, dass wir das so bald wie
möglich eingrenzen sollten. Gerade bei jungen Menschen ist eine Eingrenzung besonders notwendig.
Sie sprachen davon, dass es Sonderregelungen gibt.
Wir wissen das; ich habe das in meinem Redebeitrag angesprochen, ebenso die anderen Kolleginnen und Kollegen. Wir werden Ihre Ansicht hinsichtlich der Punkte,
die die Schaffung von Ausbildungsplätzen betreffen,
aufgrund der von Ihnen vorgelegten Änderung des Gesetzes nicht teilen. In diesem Sinne sage ich: Wir werden
bei unserer Haltung bleiben und dem Gesetz nicht zustimmen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/756 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er/0900er-Mehrwertdiensterufnummern
- Drucksachen 15/907, 15/1068 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1})
- Drucksache 15/1126 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Den Missbrauch von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen
- Drucksachen 15/919, 15/1126 Berichterstattung:
Abgeordneter Hubertus Heil
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Beratung eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner der Kollege Hubertus Heil von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Gesetz, das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten und über das wir abstimmen werden, macht den Weg
frei für mehr Verbraucherschutz gegen den Missbrauch
von 0900er- und 0190er-Nummern.
Ich möchte nur ein Beispiel für den Missbrauch nennen. In einem Wohnhaus in Berlin, in dem zufälligerweise der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar
Staffelt wohnt, wurde ein Zettel in den Briefkasten einer
älteren Nachbarin des Staatssekretärs geworfen, auf dem
stand: Rufen Sie uns sofort an. Wir konnten Sie nicht antreffen. Es ist sehr dringend. - Darunter war eine 0190erNummer angegeben. Dies ist ein eklatanter Fall von Abzocke und Missbrauch dieser Mehrwertdienste, denen
wir heute mit diesem Gesetz entgegenwirken werden.
({0})
Worum geht es? Es geht bei diesem Gesetz darum, einen fairen Interessenausgleich zwischen den Ansprüchen
der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Schutz und
dem Interesse der Mehrwertdienste - mehrheitlich handelt
es sich bei diesen Diensten um seriöse Anbieter -, ihr Geschäftsmodell auch künftig zu betreiben, zu schaffen.
Angesichts der Tatsache, dass es sich um einen Zweig
der Telekommunikationsbranche handelt, der einen Umsatz von immerhin 1,5 Milliarden Euro erzielt und in
dem weiteres Wachstum erwartet wird, ist das wirtschaftspolitisch geboten. Der Verbraucher und vor allem
die Branche brauchen mehr Rechtssicherheit.
Nach den Ausschussberatungen und Anhörungen
liegt Ihnen ein Gesetz vor, mit dem wirksam gegen
Einwählprogramme, so genannte Dialer, vorgegangen
werden kann, die sich über Internetseiten automatisch
auf den Rechner aufschalten. Wir werden nicht nur dafür
sorgen, dass sich die Betreiber diese Dialer bei der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post zukünftig registrieren lassen müssen, sondern auch dafür - das
sahen im Übrigen auch die Initiative des Bundesrates und
der Antrag der Union vor -, dass diese Dialer auf eine
Nummerngasse beschränkt werden.
({1})
Wir werden weiterhin dafür sorgen, dass die Abzocke
im Internet durch das Aufschalten von Dialern - dies
kann durch Anklicken eines Bildes geschehen, ohne dass
es der Verbraucher bemerkt - zukünftig schwieriger wird
und dass mehr Transparenz herrscht. Wir werden außerdem dafür sorgen, dass es bei 0900er- und 0190er-NumHubertus Heil
mern zukünftig eine Preisobergrenze von 2 Euro pro
Minute bzw. 30 Euro pro Einwahl geben wird. Wir werden die Anbieter darauf verpflichten, die Verbindung
nach einer Stunde automatisch zu trennen.
Wir wollen darüber hinaus klar machen - auch das
gehört zur Transparenz -, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher ein Auskunftsrecht gegenüber der Regulierungsbehörde haben, um zu erfahren, wer sich hinter
diesen Diensten befindet. Die Verbraucherinnen und
Verbraucher sollen Adressen von Unternehmen bekommen, die in Deutschland im Falle von Missbrauch haftbar gemacht werden können.
Mit diesem Gesetz soll durch verschärfte Bußgeldvorschriften eine größere Abschreckung erzielt werden.
Wir werden den Bußgeldkatalog dahin gehend verändern, dass die Regulierungsbehörde zukünftig eine
Strafe bis zu 100 000 Euro und nicht wie bisher bis zu
20 000 Euro verhängen kann. Wir halten das für notwendig, um in diesem Bereich gegen den Mißbrauch vorzugehen.
({2})
- Von der FDP wurde gerade gerufen: zu wenig. Ich
habe Ihren Entschließungsantrag gelesen, in dem Sie
eine Obergrenze für das Bußgeld von 500 000 Euro vorschlagen. Es geht um die Verhältnismäßigkeit des Bußgeldes. Ich halte es für interessant, dass Liberale sehr
harte Strafen vorschlagen, wenn es um das Eigentum
geht. In anderen Bereichen des Rechts sollten Sie das
auch einmal fordern.
({3})
Ich will noch darauf hinweisen, dass wir auch für eine
Preisansage sorgen werden, die erfolgt, bevor ein Entgelt bezahlt werden muss, damit die Verbraucher wissen,
auf was sie sich bei den Mehrwertdiensten einlassen.
({4})
Zum Schluss noch eine Bemerkung. In der Anhörung
ist auch vonseiten der Opposition oft gefragt worden,
warum wir diese Vorschriften nicht für alle Nummerngassen, sondern nur für 0900er- und 0190er-Nummern
einführen. Den 0900er-Nummern gehört die Zukunft in
diesem Bereich; die 0190er-Nummern werden in zwei
Jahren auslaufen. Wir sehen nach In-Kraft-Treten dieses
Gesetzes die Gefahr, dass auf andere Nummerngassen
ausgewichen und mit diesen Nummern dann Missbrauch
getrieben werden kann. Wir müssen darauf - wir machen
das in unserem Entschließungsantrag zur Berichterstattung deutlich - flexibel reagieren.
Es geht allerdings nicht, dass wir die Regelung, die
wir jetzt haben, pauschal allen Nummerngassen überstülpen und damit beispielsweise in Bezug auf 0137erNummern, die vor allen Dingen für Televoting bzw.
TED-Umfragen - zum Beispiel im Rahmen der Sendung
„Deutschland sucht den Superstar“ - genutzt werden,
Regelungen schaffen, die gar nicht greifen oder das Gewollte verhindern würden. Wenn es um Televoting geht,
ist es nicht sinnvoll, Preisobergrenzen im Hinblick auf
die Dauer des Anrufs festzulegen. Bei den 0137er-Nummern geht es nämlich nicht darum, dass die Leute besonders lange telefonieren, sondern darum, dass besonders
viele Menschen anrufen. Insofern wäre es falsch, diese
Regelung auf alle Anrufarten zu beziehen. Das betrifft
übrigens auch andere Nummerngassen.
Wir müssen allerdings einen Blick auf diese Dinge
haben. Deshalb fordern wir in unserem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, im Rahmen eines Jahres, im Rahmen der großen TKG-Novelle, dann, wenn
ein weiterer Missbrauch auftritt, dafür zu sorgen, dass
dieser abgestellt werden kann.
({5})
Zum Schluss möchte ich feststellen: Wir schaffen
heute mehr Sicherheit für die Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Ich möchte mich übrigens ganz herzlich auch bei den
Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen bedanken. Ich finde, die Arbeit im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, Frau Dr. Krogmann, war insofern ein
gutes Beispiel für das Parlament, als wir es geschafft haben, miteinander über die Sache zu diskutieren.
Wenn wir den Unterausschuss Telekommunikation
und Post hätten, hätten wir öfter das Vergnügen, so vorzugehen.
({6})
In einem großen Ausschuss ist es leider oft so, dass
Fensterreden gehalten werden. Das ist leider so in einem
Parlament. Wir sollten uns dieses beispielhafte Verfahren der Gesetzgebung vielleicht auch für die große TKGNovelle bewahren; ich würde mich darüber freuen. Dies
ist kein Feld, bei dem es um linke oder rechte Ideologie
geht, sondern um Vernünftiges oder Unvernünftiges.
Wir beschließen heute ein vernünftiges Gesetz. Ich
danke Ihnen, dass offensichtlich Sie alle in diesem
Hause es heute mit unterstützen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Krogmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Heil, es ist schön, Sie so freudig darüber zu sehen, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf heute gemeinsam verabschieden. Auch wir als Opposition freuen
uns. Wir freuen uns vor allem darüber, dass Sie fast alle
Punkte unseres Antrages nachträglich in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben.
({0})
Wir freuen uns darüber, dass wir als konstruktive Opposition Ihnen so gute Ideen und Lösungen geliefert haben.
({1})
Eines dürfen wir nicht vergessen: Der Gesetzentwurf,
den Sie, Herr Staatssekretär Staffelt, zuerst auf den Tisch
gelegt haben, war absolut unzureichend,
({2})
um den Missbrauch in diesem Bereich zu bekämpfen.
Alle Sachverständigen, Verbände, Diensteanbieter und
Verbraucherschützer haben durch die Bank Ihren ursprünglichen Gesetzentwurf massiv kritisiert. Ich finde
es positiv, Herr Kollege Heil, dass Sie sich nicht verschlossen haben, sondern unseren guten Argumenten gegenüber offen waren
({3})
und sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben.
({4})
Ich will einmal kurz deutlich machen, worum es heute
geht: Mehrwertdiensterufnummern sind all diejenigen
Nummern, mit denen man telefonisch oder über den PC
schnell und einfach Dienstleistungen abfragen kann, zum
Beispiel Beratungsdienste, den Wetterbericht, Rennergebnisse, Verbraucherschutzinformationen, Stauprognosen, also Dienste all dieser Art. Das Problem ist, dass
es bei diesen Diensten seit längerem zu einem erheblichen Missbrauch im Rahmen dieser Nummern gekommen ist.
Dadurch entsteht erstens ein erheblicher volkswirtschaftlicher Schaden. Die schwarzen Schafe unter den
Mehrwertdiensteanbietern fügen gerade den seriösen
Anbietern Schaden zu. Der Markt ist im Wachsen. Mit
UMTS, mobilen Diensten und mobilem Internet wird
dieser Markt in Zukunft noch größer werden.
Zweitens entsteht ein erheblicher Schaden bei den
Verbrauchern, die mit immer kreativeren Methoden immer übler und gnadenloser abgezockt werden, und zwar
überall: im Festnetz, per Handy, per Fax und vor allem
im Internet. Beispiel Handy: Ihr Handy klingelt nur einmal. Auf dem Display erscheint eine 0137er- oder
0190er-Nummer, oftmals getarnt durch eine Länderkennung, die davor steht. Wenn Sie nun arglos zurückrufen,
kostet Sie dieser eine Anruf bis zu 3 Euro. Oder Sie bekommen eine SMS mit einem netten Text: Versuche seit
Tagen, dich zu erreichen, ruf unbedingt sofort zurück!
Wenn Sie auf die fünfstellige Kurzwahl antworten, kann
Sie dieser eine Anruf rund 5 Euro kosten.
Besonders dreist ist die Abzocke allerdings im Internet.
({5})
Mit einem falschen Klick zum Beispiel beim Schließen
von Pop-ups auf der Bildschirmoberfläche oder beim
Öffnen einer getarnten E-Mail installieren sich, ohne
dass man es merkt, die Dialer oft von selbst. Das böse
Erwachen kommt erst Wochen später mit der Telefonrechnung. Dann stellt man fest, dass man pro Einwahl
sogar bis zu 1 000 Euro berappen muss.
Diese Beispiele machen deutlich, dass wirklich dringender Handlungsbedarf besteht. Uns war es in den gesamten Beratungen wichtig, mit diesem Gesetz den
schmalen Grat zu gehen, einerseits die Verbraucher vor
Abzocke zu schützen, andererseits aber auch die seriösen Anbieter zu schützen, also nicht über das Ziel hinauszuschießen und die erfolgreichen Geschäftsmodelle
kaputtzumachen. Deshalb waren uns vor allem vier
Punkte wichtig, die Sie jetzt in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben:
Erstens. Das Gesetz darf nicht auf die 0190er- oder
0900er-Rufnummerngassen beschränkt bleiben.
({6})
Dies wäre eine Einladung auf dem Silbertablett an alle
Abzocker gewesen, einfach auf andere Rufnummern auszuweichen. Deshalb ist es gut, dass Sie unserem Vorschlag gefolgt sind und eine eigene Rufnummerngasse
für Dialer geschaffen haben. Das reicht aber aus unserer
Sicht für die nahe Zukunft noch nicht aus. Deshalb sollten
wir - Kollege Heil, Sie haben es angesprochen - im Rahmen der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes
unbedingt in diesem Bereich nachhaken, die Rufnummerngassen überprüfen und schauen, welcher Handlungsbedarf besteht, um die schwarzen Schafe herauszufiltern.
({7})
Der zweite Punkt, der uns am Herzen lag und jetzt in
den Gesetzentwurf aufgenommen worden ist, betrifft die
Auskunftspflicht für Zuteilungsnehmer. Für uns ist es
enorm wichtig, dass jeder Bürger Auskunft über Name
und Anschrift des Diensteanbieters einer 0190er-Nummer verlangen kann, damit zumindest die Transparenz
gegeben ist, die der Verbraucher dringend braucht.
({8})
Hier haben Sie in unserem Sinne Ihren Gesetzentwurf
nachgebessert. Es ist zu Präzisierungen gekommen, die
gerade für die Netzbetreiber wichtig sind und den Unternehmen Klarheit bringen.
Der dritte Punkt betrifft die Preisansage. Für uns ist
wichtig, dass der Verbraucher bei jeder Internetverbindung, die durch einen Dialer hergestellt wird, online eine
Information über den aktuellen Preis erhält und diese Information auch selbst durch Anklicken bestätigen muss.
In der Vergangenheit ist es nämlich oft passiert, dass die
Anbieter mit einem Lockangebot geworben haben, dieser Preis dann aber gar nicht mehr galt und die Preise exorbitant in die Höhe geschnellt sind. Auch dies wollten
wir verhindern. Sie haben unserer Forderung im Nachhinein stattgegeben. Dafür vielen Dank, wunderbar!
({9})
Unser vierter Punkt, den Sie ebenfalls aufgenommen
haben, betrifft die Zwangstrennung nach einer Stunde.
({10})
Vorher war in Ihrem Gesetzentwurf völlig unklar, wer
diese Zwangstrennung überhaupt zu vollziehen hat. Jetzt
haben Sie nachgebessert. Die Diensteanbieter sind - das
war unser Vorschlag - im Gesetz. Auch das ist wunderbar.
({11})
Wichtig ist uns, dass das Gesetz jetzt schnell verabschiedet wird und dass wir im Rahmen der TKG-Novellierung über die einzelnen Punkte noch einmal sprechen,
um hier dem dynamischen Markt gerecht zu werden. Damit Sie frohe Pfingsttage feiern können, sage ich zu Ihrer
Beruhigung, liebe Kollegen: Wir werden diesen Gesetzgebungsprozess ebenfalls mit unseren guten Vorschlägen
bereichern und Ihnen auch dann wieder mit besseren Lösungsvorschlägen zur Verfügung stehen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der heute zu verabschiedende Gesetzentwurf
ist tatsächlich ein großer Erfolg, meiner Meinung nach
auch ein Erfolg der von dieser Bundesregierung wahrgenommenen Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz.
Er ist ein Erfolg des Verbraucherschutzes insgesamt.
({0})
Wir freuen uns sehr, wenn der Bundesrat diesen Vorschlägen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes
folgt. Auch der CDU/CSU bekommt die Oppositionsrolle sehr gut; denn sie orientiert sich immer stärker am
Verbraucherschutz. Das ist ebenfalls ein Erfolg.
({1})
Heute ist übrigens das 25. Jubiläum des Blauen Engels. Weil wir gerade beim Thema Telekommunikation
sind: Wir würden uns darüber freuen, wenn bald zum
Beispiel das Label Blauer Engel für Handys etabliert
würde, um den Verbraucher über die von ihnen ausgehende Strahlenbelastung zu informieren. Auf diesem Gebiet haben wir gemeinsam noch etwas zu tun.
Der Missbrauch der so genannten Mehrwertdiensterufnummern führte zu eklatanten Missständen; sie sind
bereits beschrieben worden. Man muss wirklich sagen,
dass die daraus resultierenden Schädigungen der Wirtschaft und der Privathaushalte die Nutzung der seriösen
Diensteanbieter geradezu blockierten. Das kann nicht
sinnvoll sein. Eine solche Lizenz zum Gelddrucken, wie
sie bestanden hat, ist nicht im Sinne des Erfinders und
nicht im Sinne der Bundesregierung. Deswegen ist dies
jetzt auch beendet worden.
({2})
Wir haben neue Instrumente geschaffen, so die Einführung der Preisangabepflicht, die Einführung einer
Preisobergrenze - sie ist jetzt auf 2 Euro pro Minute
bzw. 30 Euro bei Blocktarifen reduziert - und die
Zwangstrennung. Zu ihnen zählt aber auch Folgendes:
Wenn der Anbieter in Zukunft nicht vorher über den
Preis informiert, bekommt er auch kein Geld. Die Beweislast liegt beim Anbieter. Mit einer Übergangsfrist
von einem Jahr gilt diese Regelung auch für den Mobilfunk. Die FDP fordert, dass man diese Regelung unverzüglich auf den Mobilfunk zu übertragen habe,
({3})
aber ich meine, diese Übergangszeit für die Wirtschaft
muss gewährt werden.
({4})
Auch ich konnte mich dieser Auffassung anschließen.
({5})
Ein neues Instrument besteht insbesondere darin, dass
die Dialer registriert werden müssen und damit das Versteckspiel endlich vorüber ist. Die Registrierpflicht beinhaltet unter anderem die Versicherung, dass eine
rechtswidrige Nutzung, zum Beispiel durch Täuschung
über die Kosten, auszuschließen ist. Auch hier werden
die Anbieter also ganz anders in die Pflicht genommen.
Somit ist auch die Stärkung der Regulierungsbehörde in diesem Punkt zu begrüßen; denn sie schafft
schlicht und ergreifend einen besseren Wettbewerb. Alles, was wir vorher hatten, bedeutete eine wettbewerbsverzerrende Wirkung, die für die Wirtschaft überhaupt
nicht positiv war.
Es wurde schon gesagt: Im parlamentarischen Verfahren haben wir sowohl im Änderungsantrag wie auch im
Entschließungsantrag einige Erweiterungen vorgenommen, um der technischen Entwicklung sowie den Erfahrungen mit diesen Techniken und mit den Raffinessen
der Anbieter Rechnung zu tragen. Auch hierzu stehen
Entscheidungen noch bevor.
Ich bin sehr froh, dass es zu einer Verständigung darüber gekommen ist, dass in Zukunft für möglichst alle Telefonmehrwertdienste, deren Preis zeitabhängig ist, eine
Preisangabepflicht eingeführt wird. Es kann nicht sein,
dass sie bei anderen Waren beispielsweise für jeden Lolli
gilt, aber nicht für diese Art von Dienstleistungen.
Ebenso halte ich es für sehr wichtig, dass bei Diensten, die über die Internetverbindungen abgerufen werden, ein aktiver Bestätigungsschritt vor deren Nutzung
eingeführt wird. Auch ich habe Kinder im jugendlichen
Alter und teile das Schicksal vieler Eltern, die horrende
Telefonrechnungen bezahlen mussten, weil kein Erwachsener und erst recht nicht Jugendliche absehen können, in welche Angebote sie sich einwählen und welche
Anbieter ihre Dienste über das Internet präsentieren. Insofern halte ich dies für einen bedeutenden Schritt im
Sinne positiver Unterstützung, um die Privathaushalte
vor ungewollten Gebühren zu bewahren und die Nutzung des Internets für Kinder und Jugendliche wieder
möglich zu machen.
Ebenso erachte ich es als gut, dass die Änderungen
und die Zustimmung zum Gesetz im Ausschuss für Verbraucherschutz und in anderen Ausschüssen mit den
Stimmen der CDU/CSU erfolgten. Daher gehe ich davon
aus, dass es auch im Bundesrat möglich sein wird, dieses
Gesetz möglichst zügig zu beschließen und die Schutzmaßnahmen anschließend so schnell wie möglich in
Kraft treten zu lassen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
hohe Telefonkosten, einseitige Beweislasten für Internetund Telefonnutzer, keine rechtliche Handhabe gegen betrügerische Firmen - das sind nur einige der Beschwerden zu den 0190er- oder 0900er-Nummern, wie sie in
mehr als 150 Eingaben - ich sage hinzu: Es kommen
täglich neue - an den Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages vorgebracht werden.
Wir sind sehr froh, dass endlich etwas passiert.
({0})
Auch wenn die FDP den Gesetzentwurf - das muss ich
an dieser Stelle sagen - nicht für optimal hält, werden
wir ihm zustimmen. Wir brauchen im Bereich der Mehrwertdiensterufnummern klare, verständliche und praktikable Regelungen. Mit den Wildwestmethoden auf
dem Telekommunikationsmarkt muss Schluss sein.
({1})
Besonders irritiert mich, wie lange es gedauert hat,
bis Rot-Grün bereit war, einer verbindlicheren Regelung
mit einer Interventionspflicht der Regulierungsbehörde
im Betrugsfall zuzustimmen.
({2})
Frau Höfken, die FDP hat von Anfang an darauf gedrängt,
({3})
den Verbraucherschutz nicht zu einer Ermessenssache
der Regulierungsbehörde zu machen. Betrug kann nicht
hingenommen werden, sondern muss geahndet werden.
({4})
Auch das vorgesehene Bußgeld in Höhe von
100 000 Euro - Herr Heil, im ursprünglichen Gesetzentwurf standen 50 000 Euro; Sie haben das jetzt aufgrund
unseres Entschließungsantrages verdoppelt ({5})
ist immer noch ein Ausdruck rot-grüner Halbherzigkeit.
Wir fordern nach wie vor eine Anhebung der Bußgelder
im konkreten Betrugsfall auf bis zu 500 000 Euro.
({6})
Herr Heil, Betrug ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein
Verbrechen. Wir wollen keinen Betrügerschutz, sondern
Verbraucherschutz.
({7})
Einen ganz wesentlichen Aspekt, der ebenfalls in
zahllosen Petitionen erwähnt wird, lässt der Gesetzentwurf völlig außer Acht: die massenhafte Belästigung der
Internetnutzer mit Massenwerbesendungen, so genannten Spam-Mails. Die Petentinnen und Petenten beschweren sich, dass sie keine Möglichkeit haben, sich gegen
diese Werbeflut zu wehren. Sie beschweren sich über
Locksendungen, die per Fax, Mail oder SMS verschickt
werden und die Empfänger auffordern, teure 0190erNummern anzuwählen. Die Verbraucher müssen das
Recht und die Möglichkeit haben, sich vor dem elektronischen Informationsmüll zu schützen.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle haben ein Interesse daran, dass der massenhafte Betrug mit
den so genannten Mehrwertdiensterufnummern eingedämmt wird. Die FDP fordert die Bundesregierung auf,
die Entwicklung in diesem Bereich genauestens zu verfolgen und dem Deutschen Bundestag Bericht zu erstatten.
({9})
Man kann nicht ein Gesetz machen und dann, Herr
Tauss, ein Jahr wegschauen. Deshalb wollen wir, dass
die Bundesregierung dem Bundestag nach sechs Monaten Bericht erstattet.
Herr Heil, wir haben einen entsprechenden Entschließungsantrag in den Deutschen Bundestag eingebracht;
Sie haben ihn erwähnt. Sie sollten ihm zustimmen,
meine Damen und Herren von Rot-Grün ({10})
im Interesse der seriösen Unternehmen, im Interesse der
Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht zuletzt in
unserem eigenen Interesse, im Interesse einer glaubwürdigen Verbraucherschutzpolitik.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Zöllmer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Sehn, auch mit Ihrem Entschließungsantrag können Sie die Defizite der FDP im Verbraucherschutz nicht wettmachen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wettbewerbssituation zwischen den Anbietern, die mit der Öffnung
und Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes
verbunden war, hat aus der Sicht der Verbraucherinnen
und Verbraucher viele positive Ergebnisse mit sich gebracht, besonders bei den Preisen, die deutlich gesunken
sind.
({1})
Doch Liberalisierung hat auch ihre Schattenseiten.
Jetzt sollten Sie, Frau Sehn, genau zuhören: Wo ein
freier Markt herrscht, gibt es auch Missbrauch. Telefonische Mehrwertdienste und Internetangebote werden zum
Teil benutzt - wir haben dies hier in sehr eindrucksvollen Beispielen gehört -, um in betrügerischer Art und
Weise bei vielen Telefon- und Internetnutzern abzukassieren. Dort ist großer materieller Schaden entstanden.
Dem werden wir nun einen Riegel vorschieben.
({2})
Heute ist deshalb ein guter Tag für den Verbraucherschutz.
({3})
- Dazu sage ich gleich etwas. Ich wollte nämlich gerade
sagen: Ich bin sehr erfreut darüber, dass es zu unseren
Anträgen breite Zustimmung gibt, Frau Heinen.
({4})
Somit ist es möglich, gemeinsam und konstruktiv vernünftige Lösungen zum Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher zu finden.
({5})
An diesem Ergebnis haben in der Tat viele mitgewirkt:
({6})
die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf, die Sachverständigen mit ihrer Anhörung, auch die CDU, Frau
Heinen,
({7})
der Bundesrat mit seinen Vorschlägen
({8})
und natürlich SPD und FDP, die Koalitionsfraktionen
({9})
Von der FDP habe ich in diesem Zusammenhang erst
jetzt etwas Konstruktives vernommen.
Das, was wir heute beschließen, stellt einen großen
Schritt für den Verbraucherschutz auf dem Telekommunikationsmarkt dar.
({10})
Durch eine Reihe von Maßnahmen wird der Missbrauch
der 0190er- und 0900er-Mehrwertdiensterufnummern
effektiv bekämpft. Wir schützen die Verbraucherinnen
und Verbraucher sowie - auch das ist sehr wichtig - die
seriösen Anbieter von Mehrwertdiensten auf diesem
Markt.
({11})
Folgende Regelungen sind dabei wichtig: erstens der
Aufbau einer für jeden auch über das Internet zugänglichen Datenbank von 0900er- und 0190er-Nummern
und deren Anbietern. Wer sich hinter diesen Nummern
verbirgt, wird endlich durchschaubar. Die Anbieter können sich dadurch in Zukunft nicht mehr verstecken.
Zweitens. In der Werbung und vor der Nutzung dieser
Nummern werden die Diensteanbieter zur präzisen
Preisangabe verpflichtet. Drittens. Nunmehr wird es
eine Preisobergrenze von 2 Euro pro Minute, bei
Blocktarifen von 30 Euro geben.
({12})
- Das war Ihre Idee, Frau Heinen.
({13})
Deswegen habe ich ja auch gesagt: Sie haben konstruktiv mitgearbeitet. Das ist auch gut so.
Viertens. Dialer werden in Zukunft bei der Regulierungsbehörde zu zertifizieren sein. Dann wird nur noch
eine einzige Nummerngasse zur Verfügung stehen, die
von den Verbraucherinnen und Verbrauchern im Übrigen
gesperrt werden kann. Das ist ein ganz wichtiger Schritt
im Kampf gegen den Missbrauch in diesem Bereich. Der
ist wirklich sehr groß.
Fünftens. Der Regulierungsbehörde werden effektive
Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen an die Hand gegeben.
({14})
Das Bußgeld wird auf 100 000 Euro festgesetzt. Das ist
notwendig, aber auch ausreichend. Folgendes sage ich
an die Adresse der FDP:
({15})
Ihr Antrag, auf grünem Papier geschrieben, ist - das
muss ich leider sagen - flüssiger als flüssig.
({16})
Er ist in diesem Zusammenhang völlig überflüssig.
({17})
Die gesetzliche Regelung und die vorgelegten Anträge
erfassen die aktuellen Missbrauchstatbestände.
Nun kann man in der Tat fragen, warum wir nicht
dem CDU-Vorschlag, diese Regelungen auch auf andere
Nummerngassen - etwa auf 0137er- und 0192er Nummern - auszudehnen, gefolgt sind. Natürlich ist auf
Dauer nicht völlig auszuschließen, dass es auch hier zu
Missbrauchstatbeständen kommen kann. Deswegen haben wir ja unseren Entschließungsantrag vorgelegt. Aber
hier liegt die Problematik anders. Denn jede Nummerngasse wird unterschiedlich genutzt. Daher muss auch
jede Nummerngasse für sich gesondert betrachtet werden.
({18})
Wer beispielsweise an einem Televoting oder an einer
Quizshow teilnimmt, wird nicht in der Leitung gehalten,
sondern hinausgeworfen. Eine Entgelthöchstgrenze von
2 Euro oder das Abschalten nach einer Stunde wären
hier ein völlig stumpfes Schwert. Dies würde nicht weiterhelfen. Mit unserem Entschließungsantrag gehen wir
den richtigen Weg.
Wir wissen, dass es auch in Zukunft Handlungsbedarf
gibt. Deshalb sind die gesetzlichen Regelungen im Interesse des Verbraucherschutzes dynamisch weiterzuentwickeln. Unser Ziel ist und bleibt es, den Missbrauch zu
bekämpfen, nicht die Mehrwertdienste. Ein fairer Interessenausgleich ist deshalb notwendig.
Die CDU ist mit ihrem Antrag und ihren Forderungen
an einigen Punkten deutlich über das Ziel hinaus geschossen.
({19})
Wer ein Inkassoverbot fordert, bekämpft nicht nur den
Missbrauch, sondern auch die seriösen Anbieter von
Mehrwertdienstleistungen.
({20})
Deshalb können und wollen wir diesen Vorschlägen
nicht folgen.
({21})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem,
was wir vorgelegt haben, dienen wir dem Verbraucherschutz in besonderer Weise, gleichzeitig aber auch der
wirtschaftlichen Entwicklung in diesem wichtigen Wirtschaftszweig.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({22})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Heute ist - da hatten meine Vorredner Recht
- ein guter und wichtiger Tag für die Verbraucher,
({0})
weil wir heute endlich das Gesetz zur Bekämpfung des
Missbrauchs bei Mehrwertdiensterufnummern verabschieden werden. Man könnte aber auch sagen: Was
lange währt, wird endlich gut; denn es hat schon einige
Zeit gedauert, bis die Regierung diesen Gesetzentwurf
mit den entsprechenden und unbedingt notwendigen Änderungs- und Entschließungsanträgen vorgelegt hat.
({1})
Ich möchte hier festhalten: Es ist meiner Kollegin
Martina Krogmann zu verdanken, die schon in der letzten Legislaturperiode dieses Thema immer wieder vorangetrieben hat,
({2})
dass wir heute ein vernünftiges Gesetz dazu verabschieden können. Von Ihnen gab es - das haben Sie, Herr Heil
und Herr Zöllmer, indirekt zugegeben - nur Halbherziges.
({3})
Es hat einige Zeit gedauert, bis Sie wirklich zu den wesentlichen Änderungen gekommen sind.
Wir werden heute diesem Gesetzentwurf mit all seinen Änderungsanträgen zustimmen.
({4})
Allerdings lässt der Entwurf zwei für uns ganz wesentliche Punkte offen; Martina Krogmann hat das vorhin angesprochen. Zum einen stellt sich die Frage, welche
Nummerngassen von den vorgesehenen Regelungen
überhaupt erfasst werden sollen. Wir wollen, dass sich
das Gesetz nicht auf die 0190er- bzw. 0900er-Nummern
konzentriert, sondern auch auf andere Nummerngassen
erstreckt.
({5})
Ansonsten droht, dass der Missbrauch von den einen auf
die anderen Nummerngassen verlagert wird. Für böswillige Diensteanbieter ist es geradezu eine Einladung und
eine Aufforderung, ihr Spiel bei anderen Nummerngassen fortzusetzen. Das wollen wir unterbinden.
({6})
Aber immerhin: In Ihrem Entschließungsantrag geben
Sie einen Prüfauftrag mit auf den Weg. Das ist der erste
Schritt zur Erkenntnis.
({7})
Wir können nur hoffen, dass diesem ersten Schritt weitere Schritte bis zu einer vernünftigen und vollständigen
Umsetzung folgen werden.
({8})
Der zweite Punkt, den wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf vermissen, ist das Inkassoverbot. Es ist mir
als Verbraucherschützerin völlig unbegreiflich, warum
Sie diese Regelung nicht aufgenommen haben, schließlich gehört sie für einen wirklich effektiven Schutz vor
Missbrauch unbedingt dazu. Denn nach wie vor - auch
nach dem vorliegenden Gesetzentwurf mit all seinen Änderungsanträgen - trägt der Verbraucher das generelle
Prozessrisiko. Der Netzbetreiber bucht auch für die
Diensteanbieter Forderungen beim Kunden ab, ganz
gleich, ob sie berechtigt sind oder nicht. Wir wollen,
dass schon dann das Prozessrisiko beim Diensteanbieter
liegt und dieser, wenn die Forderungen unberechtigt
sind, Einspruch erheben muss.
Das wurde auch in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses so gesehen. Dort haben sowohl ein Einzelsachverständiger als auch die Verbraucherzentrale Bundesverband ein Inkassoverbot gefordert.
({9})
- Bitte.
({10})
Eigentlich haben Sie Recht. Aber manchmal geht es
auch ohne mich.
({0})
Bitte schön, Herr Heil.
Frau Kollegin Heinen, es gibt auch in Ihrer Fraktion
Wirtschaftspolitiker, die das mit dem Inkassoverbot etwas anders sehen. Aber nun zu meiner Frage: Geben Sie
mir Recht, dass die Stellungnahmen eindeutig ergeben
haben - auch ich war bei dieser Anhörung -, dass ein Inkassoverbot nichts anderes bewirken würde als eine Remonopolisierung in diesem Bereich? Zu Deutsch heißt
das: Die Telekom hätte, weil man sich gegen eine solche
Forderung nicht wehren kann, die Möglichkeit, auch
weiterhin Inkasso durchzusetzen, andere Mehrwertdiensteanbieter aber nicht mehr. Ist die CDU für die Abschaffung des Wettbewerbs im Bereich der Mehrwertdienste?
Zum ersten Teil Ihrer Frage. Die Verbraucherzentrale
Bundesverband hat eindeutig ein Inkassoverbot gefordert. Ein Einzelsachverständiger, Herr Rechtsanwalt
Härting, der nicht von uns, sondern von Ihnen benannt
worden ist, hat gesagt:
Solange der Missbrauch von Mehrwertdiensten
nicht damit „bestraft“ wird, dass „schwarze Schafe“
ihre Gebühren nicht mehr beitreiben können, wird
die Diskussion um unseriöse Praktiken nicht abreißen.
Außerdem hat er gesagt, dass Regelungen, nach denen
die Kunden Einwendungen gegen einzelne Rechnungsposten erheben können, nicht wirken, wenn es kein Inkassoverbot gibt.
Um Ihre Frage nach dem Wettbewerb zu beantworten:
Die Deutsche Telekom sagt aus Gründen der Kulanz beispielsweise zurzeit schon, dass sie die Forderungen der
entsprechenden Diensteanbieter nicht eintreibt. Wir wollen, dass das bei den Netzbetreibern generell der Fall ist.
Die Kunden werden seriöse Rechnungen ganz normal
bezahlen und die unseriösen eben nicht.
({0})
Frau Sehn hat auf eine ganze Menge Fälle, bei denen genau dieses Problem auftrat, hingewiesen. Mit diesen
musste sich der Petitionsausschuss befassen. Mit einem
Inkassoverbot werden wir dieses Problem lösen.
Auch wenn diese neu eingeführten Regelungen es den
Verbrauchern etwas erleichtern sollen, möchten wir
trotzdem noch einmal an Sie appellieren: Setzen Sie das
Thema Inkassoverbot wieder auf die Tagesordnung,
wenn Sie das alles in einem Jahr bzw. vielleicht schon in
wenigen Wochen - das andere Problem mit den Nummerngassen ist ja noch nicht gelöst - noch einmal überprüfen müssen!
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen:
Letztendlich haben Sie alle Punkte wunderbar beim
Bundesrat abgeschrieben.
({1})
Dafür danken wir Ihnen ganz herzlich. Das geht ja bis in
die kleinsten Formulierungen; das ist wirklich hervorragend. Ein Punkt taucht bei Ihnen aber leider nicht auf,
nämlich der Short Message Service. Immer mehr Handynutzer erhalten diese Short Messages unaufgefordert.
({2})
Sie werden aufgefordert, teure Nummern anzurufen oder
Short Messages zurückzuschicken.
({3})
Mein Patenkind musste 100 Euro Taschengeld an
seine Eltern zahlen, weil es immer auf einen Short Message Service geantwortet hat. Man hat es eingeladen, an
einem Chat teilzunehmen. Es ist gut erzogen und hat immer zurückgeschrieben, dass es nicht teilnehmen würde.
Daraufhin musste es zahlen. Der Bundesrat empfiehlt,
das Thema SMS aufzunehmen. Sie haben es bislang abgelehnt. Wir wünschen uns - so steht es auch in der Stellungnahme des Bundesrates -, dass auch Sie es noch einmal überprüfen und dass es auch von Ihrer Fraktion
aufgegriffen wird.
({4})
Lassen Sie uns in den kommenden Wochen weiter
über die angesprochenen Änderungen diskutieren. Eines
ist aber sicher: Heute haben wir wirklich etwas für die
Verbraucherinnen und Verbraucher erreicht. Es verdient
unsere gemeinsame Anstrengung, dass wir auch in Zukunft weiter dafür arbeiten.
Ich danke Ihnen.
({5})
Danke schön. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf den
Drucksachen 15/907 und 15/1068. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Arbeit empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1126, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen?- Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Sie können sich erheben, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt je-
mand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig an-
genommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache
15/1143. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ab-
gelehnt worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Arbeit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel: „Den Missbrauch von Mehrwertdienste-
rufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/1126, den Antrag
auf Drucksache 15/919 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/1126 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? -- Gegenstimmen? - Gibt es Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit, soweit
ich sehe, einstimmig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Strukturpolitik zukunftsfähig gestalten
- Drucksache 15/749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiunddreißigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2003
bis 2006
- Drucksache 15/861 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Finanzausschuss
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Michael Stübgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Auslaufen der Agenda 2000 Ende 2006
steht die Europäische Union vor einer weit reichenden
Reform ihrer Regionalstruktur- und Kohäsionspolitik.
Schon Anfang Dezember dieses Jahres will die Europäische Kommission mit ihrem dritten Kohäsionsbericht
ihre Leitlinien für die künftige Regionalförderung vorlegen. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns als deutsches
Parlament mit der Frage der künftigen Strukturpolitik
der Europäischen Union beschäftigen.
Wir müssen zunächst einmal die aktuelle Strukturpolitik analysieren und Änderungsbedarf formulieren.
Dabei werden wir es nach 2006 mit drei entscheidend
veränderten Sachverhalten zu tun haben:
Erstens. Wir werden dann wahrscheinlich zwölf Mitgliedsländer mehr in der Europäischen Union sein.
Zweitens. Dies wird dazu führen, dass die finanziellen
Ressourcen der Europäischen Union grundlegend geändert und angepasst werden müssen. Drittens. Wir haben
es mit dem so genannten statistischen Effekt zu tun. Darauf komme ich später zurück.
Die Beschäftigung des Deutschen Bundestages mit
diesem Thema mit dem Ziel einer Beschlussfassung ist
deshalb so entscheidend, weil die Bundesregierung in
dieser wichtigen politischen Frage keine klare Position
hat. Wirtschaftsminister Clement hat im Europaausschuss vor einigen Wochen erklärt, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass sämtliche deutsche Strukturfördergebiete in das so genannte Phasing out fallen.
Er hat in diesem Zusammenhang aber eine nationale
Kompensation zugesagt. Für Eichel ist das unmöglich, er
lehnt dies ab.
Der zuständige europäische Kommissar Barnier ist
in Deutschland gewesen und hat die Bundesregierung
um Unterstützung für sein Programm gebeten, für die
betroffenen Strukturfördergebiete, die durch den so genannten statistischen Effekt ihre Förderung zu verlieren
drohen, eine Anschlussregelung zu schaffen. Die Bundesregierung hat ihn abfahren lassen, ohne ihm Unterstützung zuzusagen. Die Bundesregierung hat in dieser
wichtigen politischen Frage weder eine klare Position in
den europäischen Räten noch gegenüber der Kommission. Wir verlieren Zeit. Dabei geht es um sehr viel Geld.
Ich möchte kurz auf drei unserer Forderungen im Antrag eingehen.
Erstens. Wir fordern mehr Spielraum für die Feinabgrenzung nationaler Fördergebiete. Es hat sich in der
bisherigen Strukturpolitik gezeigt, dass die Abgrenzung
von Fördergebieten nur nach den Bevölkerungsplafonds weder in Deutschland noch in vielen anderen europäischen Ländern die Möglichkeit offen lässt, gezielt
und fein justiert zu fördern. Meine Heimat Lausitz zum
Beispiel hat das Problem, dass es ein extrem strukturschwaches Gebiet ist. Da die Lausitz aber mit einem geringen Bevölkerungsplafond mit dem so genannten
Speckgürtel Berlins zusammengerechnet werden muss,
fällt die gesamte Region aus der Förderung heraus. Eine
gezielte Förderung dieses strukturschwachen Gebietes
ist nicht möglich. Es ist also wichtig, dass die Mitgliedsländer mehr Möglichkeiten haben, ihre Förderpolitik zu
strukturieren. Das starre Festhalten am Bevölkerungsplafond muss aufgegeben werden.
({0})
Zweitens. Eine weitere notwendige Änderung bezieht sich auf den so genannten statistischen Effekt.
Ab 2007 wird die Situation eintreten, dass nahezu alle
Ziel-1-Fördergebiete in den neuen Ländern, wenn nicht
sogar alle, aus der Strukturförderung herausfallen werden, und zwar nicht etwa, weil sie sich so gut entwickelt hätten und sie durch ihre Entwicklung aus der
Fördernotwendigkeit herausfielen. Das wäre ja sehr positiv und jeder von uns würde das begrüßen. Nein, Sie
fallen aus dieser Strukturförderung heraus, weil aufgrund des Beitritts der mittel- und osteuropäischen Länder das Gesamtniveau des Bruttoinlandsprodukts in
Deutschland drastisch sinkt und damit diese Regionen
statistisch über das so genannte 75-Prozent-Kriterium
des Förderzuganges rutschen. Das heißt, es wird zwar
nicht besser, sie bekommen aber nichts mehr.
Es besteht hier die Gefahr, dass eine langjährige gezielte und gute Förderpolitik punktuell abbricht und dass
die Entwicklung in diesen Regionen einen zusätzlichen
Schlag bekommt. Deshalb fordern wir, dass es nicht einfach mit einem Phasing out getan ist. Diese Regionen
sollen über einen Lauf von sieben Jahren langsam abgestuft werden, außerdem sollte aber angesichts der speziellen Situation, die nachvollziehbar ist, eine Anschlussregelung mit einem vielleicht etwas niedrigeren Niveau
geschaffen werden, sodass Förderung auf hohen Niveau
auf diesen Gebieten weiter möglich ist. Das betrifft im
Wesentlichen Strukturfördergebiete in den neuen Ländern. Wie die wirtschaftliche Situation und die Arbeitsmarktsituation dort aussehen, brauche ich hier wohl
nicht weiter auszuführen.
Der dritte Punkt, der sehr wichtig ist, ist die
Grenzlandförderung. Hier haben wir zum einem ein
europäisches Programm zur Grenzgürtelförderung, das
an sich sehr gut ist. Wir, die CDC/CSU-Fraktion, haben
dieses Programm in diesem Haus auch schon mehrfach
begrüßt. Alle Fördermaßnahmen, die in diesem Programm vorgesehen sind, sind vernünftig. Man könnte
sich um Einzelpunkte streiten; insgesamt ist es ein sehr
vernünftiges Programm. Es hat aber leider einen entscheidenden Haken: Die Fördermaßnahmen können nahezu nicht greifen, weil dieses Programm hoffnungslos
unterfinanziert ist. Deshalb bleibt unsere Forderung an
die Bundesregierung, die wir immer - auch in diesem
Antrag - wiederholen müssen, weil bisher nichts verändert und nichts getan worden ist, dass dieses Grenzlandförderprogramm finanziell deutlich aufgestockt wird, sodass es seine Aufgaben erfüllen kann.
({1})
Des Weiteren ist es wichtig, dass gerade in den ehemaligen Außengrenzgebieten der Europäischen Union bei
der Neuabgrenzung der GA-Fördergebiete ein zusätzlicher Regionalindikator hinsichtlich der Grenzlage zu
den Beitrittsgebieten mit aufgenommen wird, sodass
diese Gebiete in Zukunft eine bessere Chance haben, die
für sie notwendige GA-Förderung zu bekommen und die
zumindest vorübergehenden nachteiligen Auswirkungen der Erweiterung der Europäischen Union abzufedern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
diesen Antrag als Grundlage nehmen, in den Ausschüssen zielorientiert dieses wichtige Thema zu beraten,
möglichst mit dem Ergebnis, ein klares, eindeutiges Votum des Bundestages zu erzielen; denn wir haben als
Deutscher Bundestag nicht nur das Recht, sondern auch
die Pflicht, in Fragen der europäischen Rechtsetzung die
Bundesregierung zu kontrollieren und Handlungsanweisungen zu geben.
Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit.
Ich bin fertig.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
So schnell hat man manchmal Erfolg. Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Müller,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union
wird in der Tat den regionalpolitischen Handlungsbedarf
in Europa, besonders aber auch bei uns verstärken. In
dieser Beurteilung der Situation liegen wir wohl ziemlich nahe beieinander.
Wir gehen davon aus, dass Regionen betroffen sein
werden, die schon heute wirtschaftlich schwach sind
oder im Strukturwandel stehen. Hierzu gehören auch
solche an den Außengrenzen der Beitrittsstaaten. Weitere Regionen, insbesondere im ländlichen Raum, könnten hinzukommen. Alle zusammen müssen sich schon
jetzt auf den stärkeren Anpassungsdruck vorbereiten und
sich für das erweiterte Europa fit machen. Zu dieser vorläufigen - zugegebenermaßen ziemlich ungenauen - Situationsbeschreibung gehört aber auch die Feststellung,
dass ebendiese Regionen auf mittlere Sicht von den Vorteilen der Entwicklung profitieren können. Wir dürfen
aber nicht übersehen, dass dabei zunächst auch Risiken
auftreten können.
Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesregierung in den
Beitrittsverhandlungen eine siebenjährige Übergangsfrist
hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern in bestimmten Dienstleistungen durchgesetzt.
Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung dabei,
alle notwendigen Schritte gegenüber der EU zu unternehmen, um auch nach dem Auslaufen der gegenwärtigen Förderperiode Ende des Jahres 2006 strukturpolitisch handlungsfähig zu bleiben.
({0})
Die europäische Strukturpolitik als Ausdruck innergemeinschaftlicher Solidarität ist insgesamt von positiver
Wirkung. Sie hat erheblich zur Verbesserung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts - besonders
auch in den ostdeutschen Bundesländern - beigetragen.
Dies muss auch nach der Erweiterung der EU gelten.
({1})
Der größte Teil der bedürftigsten Regionen wird in
den neuen Mitgliedstaaten liegen. Die regionalen Entwicklungsunterschiede innerhalb der EU werden erheblich zunehmen. Auf dieses Problem wird sich die
EU-Strukturpolitik konzentrieren müssen.
Andererseits muss sich die europäische Strukturpolitik an finanziellen Zwängen ausrichten. Nettozahler
wie wir dürfen nicht überfordert werden. Fördermaßnahmen für neue Mitglieder müssen deshalb weitestgehend
durch Einsparungen in der alten Gemeinschaft finanziert
werden. Dabei sind - das ist unabdingbar - vergleichbare Regionen gleich zu behandeln.
Die Abgeordneten der Koalition teilen die Auffassung
der Bundesregierung, dass sich die europäische Strukturpolitik künftig stärker am Prinzip der Subsidiarität und
in Verbindung damit am Gedanken des europäischen
Mehrwerts orientierten sollte. Regionalpolitischer Handlungsspielraum kann und muss dadurch wiedergewonnen werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
CDU/CSU, ich meine, wir begegnen uns in dieser Auffassung. Sie haben das in den Punkten 3 bis 5 Ihres Antrags ausformuliert; deshalb muss ich nicht näher darauf
eingehen.
Die Diskussion über die zukünftige Ausgestaltung der
EU-Strukturpolitik hat längst begonnen und muss ohne
Zweifel intensiviert werden. Die Kommission hat erste
Vorschläge für den Herbst angekündigt. Wir begrüßen
deshalb die Initiative des Bundeskanzlers, sich anhand
des vorgelegten Eckpunktepapiers für die künftige EUStrukturpolitik mit den deutschen Bundesländern intensiv abzustimmen.
({2})
Christian Müller ({3})
Um allerdings eines deutlich hervorzuheben: Die notwendige Konzentration der EU-Strukturförderung auf
die strukturschwächsten Regionen der EU hat eine zwingende Konsequenz. Die fortgeschrittenen Mitgliedstaaten - insbesondere diejenigen, die keine Ziel-1-Gebiete
im Sinne der Strukturfondsförderung sind - müssen sich
selbst um die Förderung ihrer strukturschwachen Regionen kümmern können.
Wir brauchen eine eigenständige Regionalpolitik und
benötigen dafür wieder mehr beihilferechtliche Handlungsspielräume als heute. Eine Reform der Beihilfenkontrolle der Kommission ist dringend geboten. Diese
muss flexibler werden und in Richtung einer Missbrauchskontrolle entwickelt werden.
({4})
Die Kommission muss sich dabei auf Beihilfefälle konzentrieren, die EU-weit tatsächlich zu Wettbewerbsverzerrungen führen können.
Wir können es nicht hinnehmen, dass die Kommission zeitgleich die EU-Strukturfondsförderung und die
nationale Regionalförderung in den fortgeschritteneren
Mitgliedstaaten wie Deutschland reduzieren will. Das
haben wir hier schon mehrfach angesprochen und kritisiert. Es darf zu keiner massiven Einschränkung des regionalpolitischen Spielraums der Bundesländer ab 2007
kommen.
Unser politisches Handeln ist erkennbar nicht auf eine
Verschlechterung der Nettozahlerposition unseres Landes, sondern auf die Rückgewinnung nationaler Spielräume in der Strukturpolitik gerichtet.
({5})
Insofern unterscheiden wir uns von Ihrer Position, die
Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben. Das gilt auch für
das von Ihnen zum wiederholten Male geforderte
Grenzgürtelprogramm. Die geforderte Mittelaufstockung des entsprechenden europäischen Programms
kann unter dem Gesichtspunkt der Nettozahlerposition
der Bundesrepublik Deutschland so nicht erfolgen.
({6})
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ ausführen. Ich habe an dieser Stelle
schon mehrfach festgehalten, dass die GA von Bund und
Ländern in den vergangenen Jahren zu einer wirksamen
und zeitgemäßen Regionalförderung weiterentwickelt
worden ist, die den Ländern weitgehende Eigenständigkeit und Flexibilität einräumt. Sie garantiert bei der Bekämpfung von regionalen Disparitäten in strukturschwachen Gebieten nachweislich eine Zielgenauigkeit, die
von keinem anderen Förderinstrument erreicht wird. In
der GA wird außerdem ein regionalpolitischer Konsens
zwischen Bund und Ländern ermöglicht, der auch eine
Voraussetzung für das hohe Förderniveau besonders in
Ostdeutschland ist.
Wir gehen davon aus, dass der Bund bei regionalen
Fehlentwicklungen im gesamten Bundesgebiet handlungsfähig bleiben muss - wir würden es als Abgeordnete ganz besonders zu spüren bekommen, wenn dem
nicht so wäre -, zumal er für regionale Strukturprobleme
politisch immer mit in die Verantwortung genommen
wird. Daher hat der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 27. Juni 2002 die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, wie die Gemeinschaftsaufgabe
als unverzichtbares und regelgebundenes System
und Koordinierungsrahmen einer gemeinsamen Regionalförderung von Bund und Ländern auch nach
dem Jahr 2004 erhalten bleiben kann.
Die Mittelausstattung der GA ist nicht nur eine Angelegenheit des Bundeshaushalts mit seinen bekannten
Beschränkungen, sondern natürlich auch von einer Kofinanzierung durch die Länder, die in den letzten Jahren
immer mehr an ihre Grenzen stieß, und von dem durch
Brüssel genehmigten Fördergebiet abhängig. Dieser Gedanke weist deutlich über den von Ihnen beklagten
Haushaltsrahmen der GA hinaus.
Lassen Sie uns auch nach dem Meinungsaustausch in
der heutigen Debatte einen konstruktiven Dialog über
die künftige EU-Strukturpolitik führen. Die Beratungen
über Ihren Antrag können dazu sicherlich beitragen. Ich
sehe dieser Debatte mit großem Interesse entgegen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Türk.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele Gelder aus der EU-Regionalhilfe fast wirkungslos versickern. Deshalb ist auch auf diesem Gebiet ein Systemwandel notwendig. So müssen in der Finanzpolitik
dringend neue Akzente gesetzt werden. Denkbar wäre
zum Beispiel, künftig einen Teil der von der EU ausgereichten Mittel als Darlehen bzw. Kredite für öffentlichprivate Unternehmenspartnerschaften bereitzustellen.
Das würde zu mehr Verantwortung und unternehmerischem Denken im Umgang mit den Geldern beitragen.
Eine effizientere Finanzpolitik liegt im vitalen Interesse von Deutschland als dem mit Abstand größten Nettozahler. Sie ist aber auch deshalb notwendig, weil zu erwarten ist, dass künftig die für jedes einzelne Land zur
Verfügung stehenden Mittel mit dem Beitritt von zehn
relativ wirtschaftsschwachen Staaten deutlich knapper
als derzeit sein werden. Aufgrund der extrem angespannten Haushaltslage in Deutschland ist es kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung der von EU-Regionalkommissar Barnier geforderten deutlichen Aufstockung
des EU-Strukturfonds in der nächsten Finanzierungsperiode von 2007 bis 2013, die im Wesentlichen zulasten
Deutschlands ginge, zustimmen kann und wird. Kommissar Barnier agiert in diesem Punkt nach dem Motto:
Teile und herrsche. So jedenfalls empfinde ich das.
Er weiß genau, dass die neuen Bundesländer nach der
Erweiterung aus der Ziel-1-Förderung herausfallen und
einen erheblichen Teil der ihnen jetzt zufließenden Fördermittel einbüßen würden. Er versucht daher, die Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer auf die EUSeite zu ziehen. Sie sollen - ich glaube, sie haben das
schon getan - Druck auf die Bundesregierung ausüben,
damit Deutschland mehr in den Strukturfonds einzahlt.
Dann, so Barnier, werde er dafür sorgen, dass die neuen
Bundesländer weiterhin großzügig gefördert würden.
Der Bund und die Länder dürfen sich aber in dieser
Frage von der EU nicht auseinander dividieren lassen,
sondern müssen gemeinsam nach einer Lösung suchen,
die den besonderen Problemen Ostdeutschlands Rechnung trägt und Deutschland als Ganzes nicht über Gebühr zum Nachteil gerät.
Davon, dass in der EU-Strukturpolitik einiges nicht
rund läuft, zeugt unter anderem die Tatsache, dass viele
Länder große Mühe haben, die bewilligten Hilfsmittel
fristgerecht abzurufen, zu verbrauchen und eine ordnungsgemäße Schlussabrechnung dafür vorzulegen.
So erhält Deutschland laut „FAZ“ vom 6. März 2003
2 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt 2002 zurück.
1 Milliarde Euro Agrarsubventionen sind verloren und
1 Milliarde Euro für Regionalpolitik - darüber sprechen wir
ja jetzt - können auf andere Haushaltsjahre verlagert
werden. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern,
das zu tun, zum Beispiel für die lebenswichtige LeiLa.
Ich sage Ihnen, wer LeiLa ist. Das ist die Verbindung
Leipzig-Lausitz. Herr Stübgen hat schon davon gesprochen, dass die Lausitz als Region abgehängt wird. Mit
1 Milliarde Euro kann man da sehr viel machen. Man
kann zwei Wirtschaftsräume miteinander und mit der
polnischen Grenze verbinden, wenn es nur um das Geld
geht. Da kommen 1 Milliarde Euro zurück. Sie erfüllen
so die Zielsetzung der GA - ich zitiere aus der Unterrichtung -, dass strukturschwache Regionen durch Ausgleich
ihrer Standortnachteile Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung halten können. Außerdem bereiten
Sie eine strukturschwache Grenzregion mit dreifacher Belastung - man muss das immer wieder einmal sagen: Anpassungsdruck, Strukturschwäche, EU-Erweiterung - so
sinnvoll auf die EU-Erweiterung vor. Die EU-Gemeinschaftsaktion - das haben wir alle festgestellt - war ja
nicht das Gelbe vom Ei. Eine Anpassung im Hinblick
auf die Erweiterung spielte da kaum eine Rolle.
Was die Gemeinschaftsaufgabe angeht, so hat die
FDP ihre seit Jahren vertretene Meinung, dass die
Mischfinanzierungen von Bund und Ländern zurückgeführt werden müssen, nicht geändert. Sie sind schlicht
ineffizient, da keine klaren Verantwortlichkeiten für die
Gelder bestehen. Aber wenn man schon Mischfinanzierungen macht, dann sollte man sich sorgfältiger als bisher überlegen, wo sie wirklich sinnvoll sind und wo
nicht. So ist es beispielsweise nicht hinnehmbar, dass
aufgrund der Finanzknappheit der Länder eine für die
Osterweiterung wichtige Einrichtung wie die DeutschPolnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft eingeht.
Wir brauchen sie noch. Sie hat in den vergangenen Jahren einen guten Beitrag geleistet und sie wird das auch
nach der EU-Erweiterung noch tun müssen. Ich will damit nur sagen: Folgen Sie unserem Antrag, die DeutschPolnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft zu erhalten.
Auch unser Antrag mit dem Titel „Bürokratieabbau flexible Anwendung von Bundesrecht in wirtschaftsschwachen Regionen“ - der Wirtschaftsminister hat Anfang des Jahres auch einmal davon gesprochen; das ist
leider wieder vergessen worden - macht deutlich, wie
sich die FDP-Fraktion eine ergebnisreichere Regionalpolitik vorstellen kann.
Aber ein Fördertopf da und einer hier werden uns auf
Dauer nicht wirklich weiterhelfen, sondern nur eine
Rahmenpolitik, die wirtschaftliche Freiräume zulässt
und damit Wirtschaftsentwicklung nachhaltig fördert.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder
Steenblock.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Vorredner haben schon sehr deutlich auf den Reformbedarf in der EU-Strukturpolitik und die Herausforderungen, die sich insbesondere durch die EU-Osterweiterung für die Strukturpolitik stellen, hingewiesen. Dazu
werde ich einiges sagen.
Wir dürfen hier aber auch nicht den Eindruck erwecken, als wenn alles das, was wir in der Europäischen
Union bisher an Strukturpolitik realisiert haben, nur negativ gewesen wäre, sondern sollten sehr deutlich auch
auf die Erfolge der Strukturpolitik hinweisen. Man
muss sich einmal angucken, was Strukturpolitik etwa in
Irland oder in anderen peripheren Regionen wie Spanien, Portugal oder Griechenland geleistet hat. In Griechenland lag noch 1988 das Bruttoinlandsprodukt bei einem Niveau von nur 58 Prozent des EU-Durchschnitts.
Das ist in den Jahren bis 2000 um fast 10 Prozentpunkte
angehoben worden. Das macht sehr deutlich, dass das
ein Politikansatz ist, der Solidarität in Europa und eine
europäische Entwicklung in ökonomische Gleichgewichtszustände hinein sehr befördert hat.
Ich glaube auch, dass diese Politik nicht nur auf quantitative, sondern auch auf qualitative Wachstumselemente ausgerichtet ist. Wir haben durch unsere aktive
Arbeitsmarktpolitik die Teilhabegerechtigkeit gestärkt.
Außerdem haben wir die Gleichstellung der Geschlechter sicherlich quantitativ und qualitativ nachhaltig gefördert, auch durch Strukturpolitik. Ich glaube, dass man
insgesamt von einem erfolgreichen Projekt sprechen
kann.
Unsere Erfolge zeigen, wie wichtig es ist, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Aber natürlich gibt es einen Reformbedarf. Eines unserer drei zentralen Kriterien
für diese Reform ist - der Kollege Türk hat gerade daRainder Steenblock
rauf hingewiesen - die Erhöhung der Effektivität dieser Strukturfonds. Die Art und Weise, wie die Vergabeverfahren zum Teil ablaufen, und die Tatsache, dass sehr
viele Geldmittel nicht ausgeschöpft werden können, haben auch etwas mit den bürokratischen Abläufen bei der
Beantragung dieser Mittel zu tun. Es gilt, diese bürokratischen Abläufe zu verschlanken und die Effizienz der
Verteilung der Mittel sicherzustellen. Das ist für uns ein
ganz wichtiger Punkt.
Der zweite für uns wichtige Punkt ist, dass Solidarität in Europa erhalten bleibt. Die Debatte über Nettozahlungen sollte sich unserer Meinung nach nicht allein darum drehen, wie viel Deutschland gibt und wie viel es
erhält. Solidarität und wirtschaftliche Stärke beruhen auf
anderen Prinzipien. In diesem Zusammenhang sollte
man sich auch klar machen, dass die exportorientierte
deutsche Wirtschaft vom europäischen Binnenmarkt
sehr stark profitiert. Anders formuliert: Unsere Wirtschaft ist sehr stark auf den europäischen Binnenmarkt
konzentriert; neun unserer größten Handelspartner gehören zum europäischen Raum. Das Geld, das in Strukturpolitik investiert wird und dazu dient, dass in den entsprechenden Regionen Nachfrage geschaffen wird,
müssen wir im Grunde genommen als ökonomischen
Gewinn für Deutschland werten. Deshalb ist eine Debatte über Nettozahlungen, die sich auf Soll und Haben
beschränkt, natürlich ein bisschen verkürzt. Trotzdem
spielt sie, was Vermittlung und Akzeptanz in der Bevölkerung angeht, politisch eine wichtige Rolle.
Man muss sich einmal Folgendes vor Augen halten:
Von 4 Euro für die Strukturpolitik fließen 3 Euro in die
entsprechenden Regionen - das ist auch richtig so - und
1 Euro in Aufträge außerhalb der entsprechenden Region. Davon profitiert der deutsche Export natürlich
ganz besonders. Daher sollte man die Kritik an der bisherigen Strukturpolitik relativieren.
Solidarität hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass
wir das Regionalprinzip - für mich ist es im Rahmen
von Strukturpolitik zentral - beibehalten. Wir sollten die
Bemessungsgrundlage - anders als es einige fordern nicht nach nationalstaatlichen Kriterien ausrichten. Vielmehr sollte es in diesem Bereich tatsächlich eine solidarische Politik geben. Unserer Ansicht nach sollte Förderungswürdigkeit an den Verhältnissen auf regionaler
Ebene bemessen werden. Man muss - mein Kollege
Stübgen hat das angesprochen - über die Kriterien für
die Förderungswürdigkeit einer Region wirklich rational
diskutieren, damit man keinen falschen Ansatz verfolgt,
zum Beispiel indem man für verschiedene Regionen eine
gemeinsame Bemessungsgrundlage anwendet, sodass
sie im Weiteren ihre Förderungswürdigkeit verlieren, obwohl nach wie vor deutlicher Handlungsbedarf besteht.
Ich wiederhole: Wir sollten über die Kriterien für Förderungswürdigkeit rational diskutieren.
Aus meiner Sicht geht es aber nicht an, dass man in
der Frage der Erweiterung Solidarität hintanstellt. Es
kann nicht richtig sein, dass wir in Bezug auf die Vergabe von Mitteln aus den Strukturfonds andere Kriterien für die Förderung der europäischen Länder, die Mitglied der Europäischen Union werden, als für die
bisherigen Zahlungsempfänger anwenden. Es gibt für
uns keine Staaten und keine Regionen erster und zweiter
Klasse. Es müssen auch in Zukunft dieselben Kriterien
wie bisher gelten.
({0})
Auch das, was ich gerade beschrieben habe, gehört zur
Solidarität. Gerade in den Ländern, mit deren Beitritt die
Europäische Union erweitert wird, gibt es Befürchtungen, dass es in diesem Punkt keine Solidarität gibt.
Das Gebot der Fairness erfordert - wir unterstützen
das - eine Regelung - auch das ist schon angesprochen
worden -, die den statistischen Effekt berücksichtigt.
Diejenigen Regionen, die ohne die Erweiterung unter
das 75-Prozent-Kriterium gefallen wären, die lediglich
durch die erweiterungsbedingte Absenkung des Bruttoinlandsproduktes herausfallen, sind nur statistisch und
nicht real reicher geworden. Deshalb brauchen wir in
diesem Bereich gerechte Übergangsregelungen.
Diese Regelungen können sich aus verschiedenen
Elementen zusammensetzen: degressive Förderung, geringe Pro-Kopf-Fördersätze, flexiblere Kofinanzierungen. Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass für
diese Regionen nicht nur Phasing-out, sondern eine andere Förderungsstruktur bereitsteht. Ich denke dabei natürlich gerade an die neuen Bundesländer. Nach den
neuen Zahlen, die mir vorliegen, sind es - ich muss fast
sagen: leider - nicht wenige, sondern relativ viele Regionen, die auch weiterhin durch Strukturfonds gefördert
werden müssen. Man kann diese ökonomische Entwicklung bedauern, aber ich glaube, dass so sehr viele ostdeutsche Regionen in dem Förderstrukturprogramm
bleiben werden.
Von den inhaltlichen Aspekten der Förderpolitik - lassen Sie mich das abschließend sagen - ist die weitere
Förderung der Nachhaltigkeit für uns besonders wichtig. Die EU-Strategie zur nachhaltigen Entwicklung ist
für uns im Rahmen der Strukturpolitik der zentrale Anker. In der Vergangenheit wurden unserer Meinung nach
zu viele Projekte gefördert, die irreversible Umweltschäden verursacht haben. Deshalb fordern wir, dass die
Qualität der Entwicklung von Regionen und nicht nur
rein quantitativ ökonomisches Wachstum bei der Vergabe der Fördermittel in den Mittelpunkt gerückt wird.
Regionale Entwicklungskonzepte müssen einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und soziale, ökonomische
und ökologische Entwicklungsfaktoren in gleichberechtigter Weise berücksichtigen. Dieses Kriterium muss
nach unserer Ansicht bei der Vergabe von Fördergeldern
berücksichtigt werden.
Abschließend will ich anmerken, dass die Beratung in
den Ausschüssen konstruktiv sein wird, weil wir in vielen Punkten dicht beieinander sind.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Veronika Bellmann.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Damen
und Herren Kollegen! Herr Steenblock, Sie haben Recht:
Strukturpolitik hat viel Gutes getan. Wie unschwer zu
hören ist, komme ich wie viele meiner Kollegen, die hier
heute schon gesprochen haben, aus Sachsen, einem Bundesland, das die regionale Strukturpolitik der EU wegen
seiner wirtschaftlichen Schwäche sehr dankbar angenommen hat.
Die so genannte Ziel-1-Förderung hat in den ostdeutschen Ländern einen sehr hohen Stellenwert. Aus
unserem Antrag will ich deshalb nur diesen Punkt herausgreifen. Am Ende der derzeitigen Förderperiode
2003 werden die Entwicklungsrückstände in Ostdeutschland nicht aufgeholt sein. Der Aufbau Ost ist durch eine
verfehlte Politik leider zum Stillstand gekommen. Der
Beweis dafür ist, dass das Bruttoinlandsprodukt von
1998 bis 2003 um durchschnittlich 2,3 Prozent gesunken
ist.
Das Anliegen der ostdeutschen Bundesländer ist, die
Förderung für die Ziel-1-Gebiete auch nach der EU-Osterweiterung in der gleichen Höhe wie bisher zu erhalten.
({0})
In diese Förderkategorie kommen nur Regionen, deren
Bruttoinlandsprodukt 75 Prozent des EU-Durchschnittswertes unterschreitet. Nach dem Beitritt der neuen EULänder übersteigen die meisten Ziel-1-Regionen Ostdeutschlands die 75-Prozent-Marke, ohne tatsächlich - das
wurde hier schon des Öfteren angesprochen - an Wirtschaftskraft gewonnen zu haben. Es wird sozusagen
reich gerechnet.
Wer den Gradmesser der 75 Prozent überschreitet, bekommt im nächsten Förderzeitraum, also von 2007 bis
2013, nur noch die Hälfte der Förderung, das bedeutet, statt
20 Milliarden nur noch 10 Milliarden. Nach unseren Berechnungen würde das zu einem Verlust von 75 000 Arbeitsplätzen führen. Neuansiedlungen könnten nur noch
mit 18 Prozent, statt bisher 35 Prozent der Investitionssumme gefördert werden. Dadurch würde die Schaffung
neuer Arbeitsplätze enorm erschwert.
Gleichzeitig entsteht vor der Haustür Ostdeutschlands
eine Höchstförderzone, die noch dazu Lohnkostenvorteile von bis zu 70 Prozent bietet. Man kann an einer
Hand abzählen, wo in Europa, was die Unternehmensansiedlungen betrifft, zukünftig die Post abgeht und wer
ins Abseits gerät. Diese Perspektive steigert in Ostdeutschland nicht gerade die Euphorie für Europa im
Allgemeinen und für die Osterweiterung im Besonderen.
Deshalb muss mit regionaler Strukturpolitik gegengesteuert werden.
Die ostdeutschen Ministerpräsidenten, die CDU/CSUAbgeordneten des Europäischen Parlaments und des
Deutschen Bundestages haben ihre Vorschläge zur künftigen Gestaltung der EU-Strukturpolitik vorgelegt.
Selbst der Ausschuss der Regionen hat in seinen Leitlinien die besondere Situation der Gebiete nach dem Verlust des Ziel-1-Status berücksichtigt. Er schlug deshalb
die Annahme der Obergrenze von 0,45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Gemeinschaft als Grundlage für
den Haushalt der Regionalpolitik nach 2006 vor. Der zuständige EU-Kommissar Michel Barnier setzte noch eins
drauf: Er sprach sich für eine neue Ziel-1-a-Förderung
aus, die sehr nahe am jetzigen Volumen liegen müsse
und für einen sehr langen Zeitraum gelten solle. Das
schließt die bestehenden Spielräume für das für Investitionen so wichtige Beihilferecht über das Jahr 2006 hinaus
mit ein.
Nun könnte man damit glücklich und zufrieden sein,
wenn dahinter auch noch eine befürwortende Stellungnahme der Bundesregierung stünde. Sie steht noch aus;
wir können uns überraschen lassen, was wir dazu noch
zu hören bekommen. Wir werden sicherlich auch im
Ausschuss noch einiges miteinander zu diskutieren haben.
Alle Reformbestrebungen von deutscher Seite werden
daran zu messen sein, wie sie den Erfordernissen künftiger Regional- und Strukturpolitik in Ostdeutschland gerecht werden. Nach wie vor gilt der Merksatz - ich
glaube, manche haben ihn sich noch nicht gehörig genug
hinter die Ohren geschrieben -: Wenn Ostdeutschland
nicht auf die Beine kommt, wird auch der Aufschwung
in ganz Deutschland nicht gelingen.
({1})
Aber leider ist von Bundesminister Clement bisher
nur unterschwellig eine Art Androhung - so habe ich es
zumindest empfunden - zu hören, dass alle Deutschen
wegen der EU-Hilfen und der damit verbundenen höheren Beitragszahlungen leiden werden. Die Ostdeutschen
als Prellbock der Nation? Ich weiß nicht, ob das so gut
ist. Der Bundesminister sagte wörtlich: Mit Leistungskürzungen, Steuererhöhungen für Verbraucher und Unternehmen, langsamerem Wirtschaftswachstum und - man höre
und staune - mit einem schwachen Euro ist zu rechnen.
Leistungskürzungen, Steuererhöhung und Nullwirtschaftswachstum gibt es seit dem Amtsantritt von RotGrün. Das der EU-Strukturpolitik ab 2007 in die Schuhe
zu schieben ist absolut vermessen.
({2})
Wenn der Bundeswirtschaftsminister jetzt von einem
schwachen Euro spricht, obwohl dieser sich seit spätestens März auf dem Höhenflug befindet, verschlägt einem
das wirklich fast die Sprache. Man muss fragen: Wo lebt
der Mann eigentlich? Vielleicht, Herr Staatssekretär
Staffelt, fragen Sie ihn einmal, ob er noch im vergangenen Jahrhundert lebt.
Unter diesen Umständen ist eine von Clement angesprochene nationale Kompensation für die Regionen,
die den Ziel-1-Status verlieren, mehr als fraglich, man
kann sogar sagen: verlogen. Aber die AnkündigungshäuVeronika Bellmann
figkeit steht bei Herrn Clement bekanntlich immer im
Quadrat zur eigentlichen Umsetzung.
({3})
Pascal hat gesagt: Man muss die Tugenden der
Menschen nicht nach ihren außergewöhnlichen Ankündigungen beurteilen, sondern nach ihrem täglichen
Benehmen. - Mit ihrem täglichen Benehmen ist die
Bundesregierung noch immer nicht in der ostdeutschen
Realität angekommen. Zeichen dafür: Die Solidarpaktmittel sind degressiv gestaltet, die Investitionszulagen
werden gekürzt, die GA-Mittel werden gekürzt, die Infrastrukturmittel werden gekürzt, Mittel für den Verkehrswegebau in den Grenzregionen im Hinblick auf die
EU-Osterweiterung sind praktisch nicht vorhanden.
Stattdessen gibt es Programme, die im Osten nicht greifen: Jobfloater, den ich immer gern Jobflopper nenne,
Hartz-Programm usw.
Es ist traurig, aber wahr: Der Osten kann sich auf die
Bundesregierung nicht verlassen, sonst ist er verlassen.
Da gehen wir lieber zur EU. Das ist sicherlich nicht unbedingt der einfachere Weg, aber er verschafft uns
Planungssicherheit und Kontinuität für einen Sechsjahresförderzeitraum mit einmaligem Verhandlungsaufwand. Bei der Bundesregierung hätten wir bei sechsmaligem Verhandlungsaufwand vielleicht nicht einmal ein
Jahr Planungssicherheit.
Heute so, morgen so, Politik nach Kassenlage und
Belieben - das schafft kein Vertrauen. Es gibt ein schönes Bild: Ein Landwirt kann das Wachstum des Weizens
nicht beschleunigen, wenn er einfach nur an den Halmen
zieht. Ähnliches gilt für die EU-Strukturpolitik. Sie zu
reformieren, die Osterweiterung zu finanzieren und
nationale Regionen, die Hilfe brauchen, nicht aus dem
Auge zu verlieren geht nicht ohne einen nennenswerten
Beitrag, sowohl ideell als auch materiell. Darauf hinzuweisen ist der Sinn unseres Antrages.
Danke schön.
({4})
Ich gratuliere Ihnen, Frau Kollegin Bellmann, im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede.
({0})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn Sie hier Ihre erste Rede gehalten haben, liebe Frau Kollegin, lege ich doch großen Wert darauf, dass Sie ein bisschen präziser mit dem umgehen,
was Sie hier behaupten. Allein die Tatsache, dass wir in
unseren nationalen Haushalt mehr als 2,3 Milliarden Euro
für Verkehrsinvestitionen in den Grenzregionen eingestellt haben, und die Tatsache, dass dazu noch mehr als
2 Milliarden Euro aus der Europäischen Union kommen,
sind Sachverhalte, die Sie hier völlig ausgeblendet haben.
({0})
Ähnliches gilt auch für die Anstrengungen, die sowohl von früheren Bundesregierungen als auch von dieser Bundesregierung unternommen worden sind, um gerade in Ostdeutschland dafür Sorge zu tragen, die
wichtigen Zentren der Wirtschaft, so gut es eben geht, in
ihrer Investitionstätigkeit zu unterstützen und das hohe
Maß der Solidarität für Ostdeutschland, das es in
Deutschland in den letzten zwölf Jahren gab, sehr kontinuierlich und ohne große Diskussionen fortzusetzen.
({1})
Sie sollten bei solchen Reden die Kirche im Dorf lassen.
({2})
Vor einem knappen Jahr hat der Deutsche Bundestag
einen Antrag mit dem Titel „Die Gemeinschaftsaufgabe‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘
als regelgebundenes Fördersystem erhalten“ angenommen. Es wurde gesagt, diese Gemeinschaftsaufgabe sei
ein flexibler Handlungsrahmen für die regionale Wirtschaftsförderung der Länder, der die Gleichbehandlung
von strukturschwachen Regionen im Standortwettbewerb sichere und einen unproduktiven Subventionswettlauf um überregionale Ansiedlungen verhindere.
Die Bundesregierung wurde in dieser Entschließung
des Bundestages vom 27. Juni 2002 insbesondere aufgefordert, zu prüfen, wie diese Gemeinschaftsaufgabe als
unverzichtbares regelgebundenes System auch nach dem
Jahr 2004 erhalten bleiben könne. Ferner sollte die Bundesregierung darauf hinwirken, dass Bund und Länder
die Wirksamkeit ihrer strukturpolitischen Aktivitäten
stärker und besser aufeinander abstimmen.
Der 32. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ orientiert
sich an dieser Entschließung des Deutschen Bundestages. Der 32. Rahmenplan wurde nach sorgfältiger Vorbereitung vom Bund-Länder-Planungsausschuss der Gemeinschaftsaufgabe unter Vorsitz von Bundesminister
Clement am 24. April 2003 einstimmig verabschiedet.
Der Planungsausschuss hat auch eine Orientierungsdiskussion über die zukünftige regionale Investitionsförderung in Deutschland geführt. Im Zusammenhang mit
der Diskussion um die Föderalismusreform bestand im
Planungsausschuss Einigkeit in der Frage, die Nutzung
der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur über 2006 hinaus zu vertiefen,
und zwar insbesondere mit Blick auf die Absicherung
der Gemeinschaftsaufgabe Ost, auf die Sicherung eines
nationalen regionalpolitischen Handlungsspielraums und
auf eine noch größere Wirksamkeit und Flexibilität der
Gemeinschaftsaufgabe.
Ich erinnere daran - Sie waren zehn Jahre erfolgreich
im Sächsischen Landtag tätig -,
({3})
dass auch die sächsische Staatsregierung hier mit am
Tisch gesessen hat. Es sind also nicht irgendwelche rotgrünen Hirngespinste, wie Sie das zu nennen pflegen,
sondern es sind tatsächlich wohlausgewogene Erörterungen der beteiligten Länder und der Bundesregierung.
Damit ist bereits ein wesentlicher Teil des künftigen Arbeitsprogramms der Bund-Länder-Gremien der Gemeinschaftsaufgabe vorgezeichnet.
Lassen Sie mich zur Erläuterung angesichts der knappen Zeit nur dies sagen: Der regionalpolitische Handlungsspielraum wird auch unserer Meinung nach bedauerlicherweise durch die Europäische Union immer
stärker eingeschränkt. Verlautbarungen aus Brüssel lassen weitere Einschränkungen befürchten. Die EU-Kommission erwägt nach der Osterweiterung parallele Reduzierungen der EU-Regionalförderung und der nationalen
Regionalförderung in Deutschland. Der Planungsausschuss hatte daher einen ausreichenden Spielraum der
Mitgliedstaaten der EU zur eigenständigen Lösung ihrer
Regionalprobleme gefordert.
({4})
Ich denke, das ist sehr wichtig.
Es ist schade, dass Sie mir nicht mehr zuhören, Frau
Kollegin. Sie scheinen an Informationen nicht interessiert zu sein, sonst hätten Sie wissen müssen, dass Herr
Clement mit Sicherheit nicht davon gesprochen hat, dass
der Euro im Moment in einer schwachen Phase ist. Das
muss ein Missverständnis sein.
({5})
- Es mag ein Versprecher sein. Niemand glaubt, dass er
das wirklich gesagt hat. Zeigen Sie es mir einmal. Eine
solche Politik sollte man nicht machen. Das ist eher unseriös.
({6})
Im vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion wird
deshalb ebenfalls - das begrüßen wir - auf eine Rückgewinnung regionalpolitischer Handlungsspielräume der
Mitgliedstaaten abgezielt, wobei Sie dieses Ziel durch
eine Reform der europäischen Strukturpolitik erreichen
wollen. Unklar bleibt in Ihrem Antrag die Rolle der Beihilfekontrolle der EU-Kommission, für die in erster Linie eine „effizientere Gestaltung“ gefordert wird. Ich
möchte einen Schritt weitergehen und die Forderung erheben, dass die Beihilfekontrolle der EU-Kommission
den Mitgliedstaaten einen ausreichenden regionalpolitischen Handlungsspielraum belässt.
Zur EU-Strukturpolitik wird im Unionsantrag zu
Recht eine Zurückdrängung des Zentralismus gefordert.
Mich irritiert allerdings die Forderung, diejenigen Regionen, die wegen des beitrittsbedingt sinkenden EU-Bruttoinlandsproduktdurchschnitts nach 2006 aus der Ziel-1Kategorie herausfallen würden, in der kommenden Förderperiode gleichwohl weiterhin wie ein Ziel-1-Gebiet
behandeln zu wollen. Die Bundesregierung lehnt eine
solche Sonderbehandlung aus verschiedenen Gründen
ab. Dazu gehört vor allem, dass wir mit unserer Forderung nach einer Konzentration der EU-Regionalförderung auf die Ziel-1-Regionen auch die Forderung nach
einer strikten Anwendung des 75-Prozent-Kriteriums
verbinden. Ich sage das ganz ausdrücklich auch im Hinblick auf die erweiterte Union und die Entwicklungen in
den Beitrittsländern, die zum Teil nicht die allerschlechtesten sind.
({7})
Um erreichte Fördererfolge in den aus der Förderung
herausfallenden Ziel-1-Regionen nicht zu gefährden,
setzen wir uns sodann für Übergangsregelungen im Rahmen eines generellen, fairen Phasing-out, wie es neudeutsch so schön heißt, also im Rahmen eines so genannten Hinausgleitens, ein. Wie dies konkret aussieht,
steht heute noch nicht fest. Dies wird abzustimmen sein.
Hier befinden wir uns wiederum mit den Bundesländern
in einem engen Dialog.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es für seriöse Aussagen, inwieweit die neuen Länder den Ziel-1-Status
überhaupt verlieren, zu früh ist. Entscheidend dafür werden die wirtschaftlichen Daten der Jahre 2001 bis 2003
sein, sodass wir feststellen müssen, dass hier erst einmal
evaluiert werden muss. Nach dieser Evaluierung wird
sich am Ende darstellen lassen, wie die konkrete Situation in Bezug auf diese Länder aussehen wird.
Herr Kollege Staffelt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, schon heute kennt man die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern. Die
können Sie beschreiben; das haben Sie bereits heute und
gestern in der Fragestunde getan. Sie wissen demzufolge
auch, welche Anstrengungen in den kommenden Jahren
aufgrund der wirtschaftlichen Situation nötig sind.
Deswegen die Frage: Können Sie uns zum einen erklären, ob aus Ihrer Sicht das finanzielle Volumen von
ungefähr 20 Milliarden Euro, das in den Jahren 2006 bis
2014 gezahlt würde, nötig ist? Wenn Sie nicht wollen,
dass dieses Geld auf dem Weg über die Europäische
Union zur Verfügung gestellt wird, wie wollen Sie dann
zum anderen diese Mittel bereitstellen, die für den Aufbau Ost nötig sind, um die Erfolge, von denen Sie gesprochen haben, und die Solidarität, die dem zugrunde
liegt, nicht zu gefährden?
Herr Abgeordneter, ich will Ihnen zum Ersten sagen,
dass Sie nicht nur über ein Ziel-1-Gebiet in Deutschland
sprechen dürfen. Sie müssen vielmehr sehen, was eine
solche Förderung für die gesamte Europäische Union bedeutet. Das heißt, Sie würden eines tun: Sie würden die
25-Prozent-Linie in entsprechender Weise aufstocken.
Zusätzlich zu den Gebieten, die jetzt im Rahmen der
EU-Beitrittsstaaten zu fördern sind, würden weitere Gebiete in Europa in die Förderung einbezogen. Dies ist finanziell nicht durchzuhalten.
({0})
Zum Zweiten sage ich Ihnen, dass sich die neuen
Bundesländer gemeinsam mit der Bundesregierung auf
nationaler Ebene überlegen müssen, welche Fördermöglichkeiten und -notwendigkeiten es gibt. Wenn Sie sich
daran erinnern, über wie viele Jahrzehnte hinweg es in
den alten Ländern Fördertatbestände gegeben hat - ich
nenne nur die Zonenrandförderung und die Berlin-Förderung -, dann müssten Sie sich in diesem Bereich auch
die Frage der Evaluierung stellen. Deswegen sind wir im
Dialog mit den Regierungen der neuen Bundesländer.
Ich bin sicher, dass wir eine gute Lösung für die neuen
Bundesländer finden werden.
Meine Damen und Herren, ich hätte gern noch ein
Wort zu den Grenzregionen gesagt, aber meine Zeit
läuft ab.
({1})
- Das sind die Spitzfindigkeiten, nachdem sich das Gewitter verzogen hat.
Ich verweise nur auf eines: Die Grenzregionen schlagen vor, dass es einen Gürtel von Förderregionen an den
ehemaligen Außengrenzen geben soll. Hier gibt es überhaupt nur zwei Arbeitsamtsbezirke in Bayern, die nicht
als Fördergebiete ausgewiesen sind. Von daher erscheint
ein solcher Ansatz nicht sehr hilfreich zu sein.
Erlauben Sie mir bitte noch eine letzte Bemerkung, da
Sie hier das Thema EU-Osterweiterung mit der Formel
angesprochen haben, Sie wüssten schon, wohin die Investitionen gingen. Von allen Volkswirten, wirtschaftswissenschaftlichen Instituten und Analysten wird bestätigt, dass die Bundesrepublik Deutschland von der EUOsterweiterung erheblich profitieren wird. Ich gebe Ihnen Recht, dass sich die Frage stellt, ob alle Regionen in
Deutschland davon profitieren werden. Dass die grenznahen Regionen besondere Probleme haben, steht ganz
außer Frage. Allerdings geht es hier nicht nur um Förderung, sondern auch darum, dass sich dort etwas bewegt
und die Dienstleister aufwachen, sich orientieren und in
Kooperationen mit den Unternehmen auf der anderen
Seite der Grenze einwilligen. Darum werbe ich gemeinsam mit den Industrie- und Handelskammern sowie den
Handwerkskammern für noch mehr Bewegung und unternehmerische Initiativen. Nur das wird am Ende helfen, nicht aber der Aufbau neuer Subventionstatbestände
und neuer Grenzen und Mauern.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, ich gebe Ihnen Recht: Die EUOsterweiterung wird für uns ebenfalls einen großen Vorteil bringen. Auch ich bin davon überzeugt, dass die Osterweiterung den Grenzregionen auf Dauer Vorteile bringen wird. Entscheidend ist aber, dass wir diesen Prozess
aktiv gestalten und miteinander Akzente setzen. Hierzu
sind die Politik, die Wirtschaft und die Kammern aufgerufen. Wir brauchen für die Grenzregionen eine konzertierte Aktion.
({0})
Aber wissen Sie, meine sehr geehrten Damen und
Herren, was uns in der Strukturpolitik zurzeit am meisten Schwierigkeiten bereitet? - Die fatale Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Die strukturschwachen Gebiete leiden in ganz besonderem Maße unter der verkehrten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik
von Rot-Grün.
({1})
Wir sind uns in diesem Hause sicherlich darüber einig, dass Strukturpolitik in den letzten Jahren erfolgreich
und richtig war und auch in Zukunft notwendig sein
wird. Dabei muss uns aber vor allen Dingen im Hinblick
auf die Erweiterung und Einigung Europas bewusst sein,
dass wir die Strukturpolitik auf allen Ebenen reformieren
müssen: die europäische Strukturpolitik, die nationale
Strukturpolitik und vor allen Dingen das Zusammenwirken beider Politiken. Ich teile die Auffassung meiner
Vorredner, dass ein wesentliches Element der europäischen Strukturreform eine Rückgewinnung nationaler
Handlungsspielräume sein muss. Wir spüren bei der
Gemeinschaftsaufgabe, was uns Brüssel alles vorschreibt. In der letzten Förderperiode haben wir nicht
einmal eine Abgrenzung der Fördergebiete von Brüssel
genehmigt bekommen. Nicht einmal mit der Klage, Herr
Kollege Müller, die wir gemeinsam vorgeschlagen und
angestrebt haben, sind wir durchgekommen. Die europäische Strukturpolitik wird also nur dann Erfolg haben,
wenn auch größere nationale Spielräume eine Chance
haben. Das müssen wir in diesen Wochen und Monaten
erkämpfen, insbesondere im Hinblick auf die Verabschiedung einer europäischen Verfassung.
({2})
Leider Gottes - ich sage dies sehr klar und deutlich - ist
in dem jetzigen Entwurf, soweit er uns vorliegt, im Grunde
genommen nur eine Festschreibung der bisherigen
Verträge enthalten. Wir müssen uns also verstärkt Gedanken darüber machen, was wir in Bezug auf die Strukturpolitik in die europäische Verfassung einbringen werden. Ich bin der festen Überzeugung und unterstreiche
dies: Wir brauchen auch in Zukunft eine europäische
Strukturpolitik.
Ich komme zu ein paar Anmerkungen zur GA und
insbesondere zur Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der zweiunddreißigste Rahmenplan zeigt auf, dass
diese GA auch in den letzten Jahren erfolgreiche Ansätze verzeichnete. Aber es gibt natürlich auch Probleme, Herr Staatssekretär, zu denen Sie nichts gesagt
haben. Die finanzielle Ausstattung der GA ist selbstverständlich nicht befriedigend. In Bezug auf die Grenzregionen können Sie zwar sagen, dass alle bis auf zwei
Landkreise über die GA „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ gefördert werden. Es steht jedoch
fest, dass wir zum Beispiel die Höchstsätze nicht ausschöpfen können, weil die finanziellen Voraussetzungen
dafür fehlen. Wir müssen uns also insbesondere hinsichtlich der nächsten Jahre hierüber Gedanken machen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie
mir, noch ein paar Sätze zu den Grenzregionen zu sagen. Herr Kollege Müller, auch Sie haben die Idee von
sich gewiesen, Grenzregionen zu fördern. Wir werden
hier durch den Herrn Bundeskanzler beschützt. Er hat in
Weiden etwas gesagt, das ich mit Genehmigung des
Herrn Präsidenten wörtlich zitieren darf. Ich habe die
Rede sogar dabei. Das ist die einzige Rede eines SPDMannes, die ich ständig bei mir trage.
({3})
- Ich habe einige dabei, aber von der SPD nur diese vom
Herrn Bundeskanzler in Weiden. - Bundeskanzler
Schröder hat dort „ein vernünftiges, auch materiell unterlegtes Programm der Förderung der Grenzregionen“
versprochen. Ich stelle hier ganz bescheiden fest, dass
dies eines der vielen Versprechen von Herrn Schröder
ist, die er nicht gehalten hat.
({4})
Dies müssten wir einfordern, aber nicht nur deshalb,
Herr Staatssekretär, weil es der Herr Bundeskanzler versprochen hat. Ich bitte auch die besondere Situation in
den Grenzregionen zu berücksichtigen. Das Lohngefälle,
das Wirtschaftsgefälle und das Strukturgefälle sind weder anderswo in Europa noch weltweit so rapide wie
zwischen den Grenzregionen und den angrenzenden Beitrittsländern. Hinzu kommt natürlich ein gewaltiges Fördergefälle. Darin besteht unser Problem. Deswegen bitte
ich, diesen Gedanken nicht von sich zu weisen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie
mir noch eine Schlussbemerkung. Wir sollten diesen Antrag, über dessen einen oder anderen Punkt sicherlich
Diskussionsbedarf besteht, beraten. Hinsichtlich des
Themenbereiches Strukturpolitik sind wir bereit, eine
gemeinsame Strategie zu entwickeln - im Hinblick auf
Europa und im Hinblick auf die nationale Entwicklung
und die Osterweiterung. Wir sollten jetzt Konzepte vorlegen, weil in Europa die Weichen gestellt werden und
die Osterweiterung neue Aufgaben und Ziele hervorbringt.
Gehen wir in diesem Sinne den Weg gemeinsam an!
Die Strukturpolitik ist notwendig. Wir sollten es miteinander schaffen, weil Europa dadurch wirklich positiv gestaltet wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/749 und 15/861 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwin
Marschewski ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter
- Drucksache 15/924 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Martin Hohmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
Dieses Land ist stark geworden und wird stark bleiben, wenn es im Innern gerecht zugeht.
Das sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 6. August 2002.
({0})
Ob es gerecht zugeht, darüber kann man grübeln und
Bücher schreiben. Wir als Politiker sollen nach Sehen
und Beurteilen handeln. Zu den wichtigsten Leitbegriffen beim Handeln gehört in der Tat Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit“ war auch bei der Rede von Gerhard
Schröder als SPD-Vorsitzendem zum 140-jährigen Jubiläum der SPD ein häufig gebrauchtes Wort.
({1})
- Es ist ausreichend berichtet worden. - Ich darf einige
Zitate bringen:
Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit - diese Grundwerte von damals sind unsere Werte von heute. Daran wird sich nichts ändern.
Oder:
Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit - das sind für
uns keine statischen Begriffe. Alle drei sind Voraussetzung für einander und stehen in Beziehung zueinander.
Oder:
Wir sagen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keine Freiheit und ohne Freiheit keine Solidarität.
Ich komme zu den Grünen. Fast zur gleichen Zeit, im
Mai 2003, fasste der Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen einen Beschluss für die Bundesdelegiertenkonferenz
in Cottbus. Auch darin war die Gerechtigkeit ein häufiger Gast. Sie trat als einfache Gerechtigkeit, als Geschlechtergerechtigkeit und als internationale Gerechtigkeit auf.
({2})
Weil Rot und Grün die Gerechtigkeit so herausstellen,
schöpfen wir Hoffnung. Wir haben neue Zuversicht, mit
unserem Antrag zur Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter gemeinsam voranzukommen. Denn Gerechtigkeit
verlangt im Kern: gleiches Leid, gleiche Entschädigung.
Menschenrechte sind unteilbar.
({3})
Was wollen wir mit unserem Antrag erreichen? Gerechtigkeit. Im Einzelnen möchten wir die Bundesregierung auffordern, „einen Gesetzentwurf zu erarbeiten
und … vorzulegen, der eine humanitäre Geste für Personen vorsieht, die als Zivilpersonen aufgrund ihrer deutschen Staats- oder Volkszugehörigkeit durch fremde
Staatsgewalt während des Zweiten Weltkrieges und danach“ Zwangsarbeit leisten mussten. Wir bitten für die
deutschen Opfer von Zwangsarbeit um „eine Einmalzahlung, vergleichbar der für die NS-Zwangsarbeiter geschaffenen Regelung“. Wir ersuchen die Bundesregierung, „die Anzahl der nach einem solchen Gesetz
Antragsberechtigten zu ermitteln“, einen entsprechenden
Gesetzentwurf zu erstellen und die finanzielle Ausstattung des Fonds zu regeln.
Bei alledem ist zu bedenken, dass die Opfer von
Zwangsarbeit sich in einem sehr fortgeschrittenen Alter
befinden. Die Zeit drängt. Eine schnelle Regelung ist nötig.
Um eine Regelung auch für deutsche Zwangsarbeiter
bemüht sich die Union im Bundestag seit Schaffung der
NS-Zwangsarbeiter-Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Im Einzelnen sind hier Fragen und
Initiativen von verschiedenen Unionsabgeordneten zu
nennen. Bisher haben wir von Ihnen leider nur abschlägige Antworten erhalten. Dennoch resignieren wir nicht.
Wir haben einen langen Atem. Wir kämpfen für eine gerechte Sache und wir wissen, dass wir heute in einer anderen Situation sind.
Warum? Die Einschätzung und Bewertung der deutschen Heimatvertriebenen unterlag nach dem Krieg starken Schwankungen. Während zunächst alle Parteien den
Vertriebenen und Flüchtlingen ein Rückkehrrecht quasi
selbstverständlich einräumten, weil man sich eine endgültige Vertreibung von 15 Millionen Menschen nicht
vorstellen konnte, gab es seit der Ostpolitik von Willy
Brandt Dissonanzen. Die Anerkennung der machtpolitisch geschaffenen Fakten nahm den Heimatvertriebenen
letzte vage Hoffnungen.
({4})
Damit standen die Heimatvertriebenen und die so genannten fortschrittlichen und linken Kräfte, mit ihnen
die SPD, seit den 70er-Jahren eher unversöhnlich in verschiedenen politischen Lagern. Ausgrenzungen und Abgrenzungen verschärften den Streit ebenso wie die
nationale Ich-Schwäche, die besonders von der neu
aufgekommenen Partei der Grünen hingebungsvoll gepflegt wurde.
({5})
So waren noch im Mai 1990 Claudia Roth und Angelika
Beer als Demonstrantinnen hinter einem Transparent
({6})
- hören Sie bitte zu - mit der Aufschrift „Nie wieder
Deutschland!“ zu finden. Das hat sie nicht gehindert, zur
gleichen Zeit als Abgeordnete des Deutschen Bundestages
({7})
das nicht unbeträchtliche Bundestagssalär zu beziehen.
({8})
Gerade bei den Grünen - heute: Bündnis 90/Die Grünen - wurde lange ein lieb gewordenes Bild gepflegt: die
Gleichsetzung der Vertriebenen mit dem äußerst rechten
Spektrum der Politik, mit Revanchisten und Chauvinisten. Zwar hat es vereinzelte schrille Stimmen aus dem
Bereich der Vertriebenen gegeben. Mit übergroßer
Mehrheit gehörten die Vertriebenen jedoch von Anfang
an zu dem wertvollen und tatkräftigen Aufbaupotenzial
unseres demokratischen Staates. Nicht zu vergessen ist
insbesondere die Charta der Vertriebenen. Mit ihr verzichteten die Vetrieben bereits im April 1950 auf Revanche und Gewalt und verpflichteten sich, am Aufbau
eines friedlichen Europas mitzuwirken.
Die Grünen sollten daher ihr fortwirkendes Negativbild und ihr altes Feindbild ablegen. Erst recht muss mit
der Unterstellung Schluss sein, dass, wer an das Elend
der Vertreibung erinnere, den Holocaust verharmlose.
({9})
Neue Hoffnung gibt hier - ich sage viel Gutes über ihn - Innenminister Otto Schily. Er hat sich, das sei dankbar angemerkt, mehrfach mit Offenheit und Sensibilität dem
Schicksal unserer Vertriebenen zugewandt.
Meine Damen und Herren, wenn ich zuvor gesagt
habe, wir seien heute in einer neuen Situation, so bezieht
sich das auf eine neue öffentliche Wahrnehmung des
Vertreibungsschicksals. Lassen Sie mich stellvertretend drei Namen nennen: Professor Dr. Guido Knopp ist
es gelungen, besonders mit seinen Fernsehbeiträgen zur
deutschen Zeitgeschichte, neues Interesse für die Zeit
des Zweiten Weltkrieges, seine Täter und seine Opfer zu
wecken. Dr. Jörg Friedrich hat mit seinem Buch „Der
Brand“ erstmals die Perspektive der mehr als 600 000 zivilen Opfer des Bombenkrieges in den Mittelpunkt gerückt. Schließlich hat die Novelle „Im Krebsgang“ des
Literaturnobelpreisträgers Günter Grass den Untergang
des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ thematisiert.
Damit lebten die deutschen Schicksale aus der Schreckenszeit des ausgehenden Krieges wieder auf. Vielen
wurde klar, dass ein Verschleppungsschicksal jeden treffen konnte, der sich im sowjetischen Machtbereich aufhielt. Um die Sollzahlen an Arbeitssklaven für die Lager
des Gulag zu erfüllen, wurde der 12-jährige Junge aus
Breslau ebenso eingefangen wie die 17-jährige Oberschülerin aus der S-Bahn in Berlin-Mahlsdorf.
Diese neue Betroffenheit ist messbar. Sie ist demoskopisch erfasst worden. Vor zwei Monaten hat das
Emnid-Institut auf die Frage, ob auch deutsche Zivilisten, die Zwangsarbeit leisten mussten, eine Entschädigung oder eine Geste der Wiedergutmachung erhalten
sollten, eine Zustimmung von 80 Prozent registriert. In
den östlichen Bundesländern lag die Zustimmung für das
Anliegen unseres Antrages sogar bei fast 90 Prozent.
({10})
Heute fragen insbesondere junge Menschen nach
Flucht, Vertreibung und Verschleppung. Sie wollen die
ganze Wahrheit wissen. Diese Wahrheit ist entsetzlich.
Wahrheit ist: Es hat rund zwei Millionen deutsche
Zwangsarbeiter gegeben. Wahrheit ist: Rund die Hälfte
von ihnen hat nicht überlebt. Wahrheit ist: Besonders
viele Frauen und nicht wenige Kinder wurden Opfer der
Zwangsarbeit. Wahrheit ist: Die meisten von diesen
Frauen waren sexuelles Freiwild für die enthemmte aufgehetzte Soldateska.
Entwürdigung und Demütigung waren neben Hunger
und Kälte Schicksal dieser Frauen. Ich zitiere aus dem
Buch von Freya Klier „Verschleppt ans Ende der Welt“:
… und wenn das nicht schnell genug ging mit dem
Hacken, dann wurde zur Abschreckung mal eine erschossen … Und zwischenrein wurden immer wieder Frauen zum Vergewaltigen weggezerrt … Das
Erschütterndste aber, so erzählte mir meine Mutter
mal, als ich erwachsen war, das waren die Frauenleichen, die man so übel zugerichtet hatte … Eine
Frau, die hatte gerade entbunden, da lag das Neugeborene daneben und der Frau - sie war schon steif
gefroren - steckte ein Stock in der Scheide … Der
Anblick hat meine Mutter ihr Leben lang verfolgt,
trotz allem, was wir selbst durchmachen mussten.
Das war kein Einzelfall. Vergewaltigung, Hunger, Entkräftung und Tod betrafen die Mehrheit dieser Frauen,
die Kinder nicht zu vergessen.
Ich bin sicher, auch Sie von den Regierungsfraktionen
lassen diese Schicksale und dieses grausame Leid nicht
gleichgültig. Sie haben für unsere deutschen Landsleute
keinen Stein an der Stelle Ihres Herzens. Sie haben erkannt, dass es noch lange keine Vergötzung der Nation
bedeutet, denjenigen einen Ausgleich zukommen zu lassen, die stellvertretend für diese Nation leiden mussten.
Sie waren die Deutschen, derer man habhaft werden
konnte. Sie waren die Deutschen, die alles abbüßen
mussten. Sie waren die Deutschen, an denen die Rachegefühle abgearbeitet wurden. Gemeinsam haben wir die
Pflicht, diesen nun alten Überlebenden etwas von ihrer
Würde wiederzugeben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
abschließend auf die eingangs zitierten Kernbegriffe sozialdemokratischen und grünen Selbstverständnisses zurückkommen, auf Gerechtigkeit und Solidarität. Unter
neuen Umständen stehen diese Begriffe neu auf dem
Prüfstand. Es kann nicht sein, dass die IOM, die International Organization for Migration, in der ganzen weiten
Welt nach NS-Zwangsarbeitern sucht, um sie zu entschädigen, und dass wir die deutschen Zwangsarbeiter vor
unserer eigenen Haustür im Regen stehen lassen.
({11})
Es kann nicht sein, dass für diese kleine Minderheit alter
Menschen die Leitbegriffe Solidarität und Gerechtigkeit
politische Leerformeln bleiben. Das wäre ideologisch
gepanzerte Kälte. Das wäre die Enttarnung der von Bundeskanzler Schröder initiierten NS-Zwangsarbeiterentschädigung als Polittheater.
Es kann nur eine Gerechtigkeit und nur eine Menschenwürde geben. Wir von der Union haben die NSZwangsarbeiterentschädigung in der Hoffnung mitgetragen, dass die jetzige Regierung auch für deutsche
Zwangsarbeiter etwas Konkretes tut. Mitleid reicht
nicht. Als Unionspolitiker appellieren wir an die Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen:
Dieses Land wird nur stark bleiben, wenn es im Innern
gerecht zugeht. Wir verlangen Gerechtigkeit und Mitempfinden, auch für deutsche Zwangsarbeiter.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir tun alle gut daran, egal welcher Fraktion wir
angehören, uns zu bemühen, uns sachlich an das Thema
anzunähern, das die Union heute mit ihrem Antrag auf
die Tagesordnung gesetzt hat. Das sage ich bewusst als
Angehöriger einer Generation, die Jahrzehnte nach dem
Ende des Zweiten Weltkrieges geboren ist; ich gehöre
dem Geburtsjahrgang 1969 an.
Gerade als Mitglieder des Bundestages haben wir
eine besondere Verantwortung dafür, das Geschehene
nicht vergessen zu lassen und uns immer wieder zu fragen, ob wir die richtigen Schlussfolgerungen aus dem
gezogen haben, was von deutschem Boden in deutschem
Namen ausgegangen ist und was die Folge dieser Geschehnisse war.
({0})
Ich glaube, deswegen ist es sinnvoll, zu Beginn einer
solchen Debatte noch einmal in Erinnerung zu rufen,
was in den Jahrzehnten seit Gründung der Bundesrepublik durch den Gesetzgeber auf den Weg gebracht und
verwirklicht worden ist, um auch deutschen Opfern der
Ereignisse des Zweiten Weltkrieges ein Stück Gerechtigkeit und Anerkennung zuteil werden zu lassen, insbesondere wenn es sich um Opfer handelt, die ein besonders
schweres Schicksal zu tragen hatten.
In diesem Zusammenhang ist an das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, aber auch an das Häftlingshilfegesetz zu erinnern, das ja immer noch gilt. Die entsprechende Stiftung bewilligt insbesondere bei sozialen
Notlagen auch heute noch Zuwendungen für Menschen,
die aus politischen Gründen interniert und als deutsche
Staatsbürger seitens anderer Staaten zur Zwangsarbeit
herangezogen worden sind.
Herr Kollege Hohmann, andererseits war es 50 Jahre
lang Konsens im Deutschen Bundestag, dass Verschleppung zu dem Zweck, die Betroffenen als Arbeitskräfte
einzusetzen, als allgemeines Kriegsfolgenschicksal bewertet worden ist. Mit ihrem Antrag „Entschädigung
deutscher Zwangsarbeiter“ fordern CDU und CSU abweichend von dieser Bewertung der Heranziehung deutscher Bürger zur Zwangsarbeit als allgemeines Kriegsfolgenschicksal nun die pauschale Entschädigung
früherer deutscher Zwangsarbeiter. Es lohnt sich, den
Antrag der CDU/CSU einmal näher zu betrachten.
Einleitend - Herr Hohmann hat den Bezug auch in
seiner Rede gerade hergestellt - wird direkt Bezug auf
die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
genommen, die der Deutsche Bundestag im Sommer
2000 zu errichten beschlossen hat. In Ihrem Antrag weisen Sie darauf hin, dass durch diese Stiftung insbesondere jene früheren Zwangsarbeiter berücksichtigt werden sollten, die als Bewohnerinnen und Bewohner
Osteuropas aufgrund des späten Falls des Eisernen Vorhangs zuvor nicht die Möglichkeit hatten, von deutscher
Seite eine Entschädigung zu erhalten.
Auf dieser Grundlage, also mit dem Hinweis darauf,
dass das eine späte Wiedergutmachung an die Opfer
deutschen Handelns ist, heißt es dann in dem Antrag der
Union ohne einen sachlichen Zusammenhang aber, dass
dies nun auch für frühere deutsche Zwangsarbeiter gelten müsse. Daneben sagt die Union in ihrem Antrag, die
Bundesregierung solle sich nun an jene ausländischen
Staaten bzw. ihre Nachfolgestaaten wenden, die deutsche Bürgerinnen und Bürger zur Zwangsarbeit herangezogen haben. Diese Forderung hat eine Reihe von
Unionsabgeordneten parallel zur Verabschiedung des
Stiftungsgesetzes bereits im Jahre 2000 erhoben. Nur
wenn dies nicht zum Ziel führe bzw. wenn sich die Bundesregierung nicht an die betreffenden ausländischen
Staaten wenden wolle, dann möge die Regierung einen
Gesetzentwurf vorlegen, auf dessen Grundlage analog
zur Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter auch
frühere deutsche Zwangsarbeiter zu entschädigen seien.
Das ist der Inhalt des Antrages der Union.
Lassen Sie mich für die SPD-Bundestagsfraktion
hierzu folgende Stellungnahme abgeben:
Dass auch viele deutsche Bürger während des Zweiten
Weltkrieges und unmittelbar danach Opfer von Gewalt
und Willkür wurden, ist zutreffend. Es gilt - nein, es ist
selbstverständlich - das Leid dieser Menschen anzuerkennen. Darüber gab es im Deutschen Bundestag im Übrigen
nie Streit. Im Gegenteil: Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, das Häftlingshilfegesetz und das Bundesversorgungsgesetz - auch dieses dritte Gesetz zählt dazu hatten zum Ziel, den Bürgerinnen und Bürgern zu helfen,
die ein besonders hartes Los getroffen hatte, das über das
allgemeine schwere Schicksal der Bevölkerung eines
Landes, das Gott sei Dank einen Krieg verloren hatte, hinausging.
Bereits in den 50er-Jahren herrschte darüber Konsens,
dass die Heranziehung von Deutschen zur Arbeitsleistung in der Folge des Zweiten Weltkrieges als allgemeines Kriegsfolgenschicksal zu bewerten sei. Hier wird
deutlich: Wir haben eine Meinungsverschiedenheit. Es
gilt: Das Leid, das Deutschland über andere gebracht
hat, ist schlimm. Das Leid, das deutsche Bürger als
Folge dessen erlitten haben, ist ebenfalls schlimm. Aber
für beides gilt: All dieses Leid hatte seine Wurzeln im
Unrecht der NS-Zeit und damit in Deutschland.
Es ist nicht verständlich und sachlich begründbar, aus
der Schaffung einer Stiftung für die Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter abzuleiten, man müsse nun
auch für frühere deutsche Zwangsarbeiter eine Zusatzregelung schaffen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Folgendes sagen: Wenn, wie ich glaube, die Union
aus der Existenz der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in unangebrachter Weise ableitet, es
bestehe nun die Notwendigkeit für eine Entschädigung
auch deutscher Zwangsarbeiter, dann ist es sehr befremdlich, wenn ausgerechnet der Kollege Hohmann das
Wort ergreift, der bei dem Gesetzgebungsbeschluss über
diese Stiftung nicht mit Ja gestimmt hat.
({1})
Kollege Edathy, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Marschewski?
Ja, bitte.
Herr Kollege Edathy, meine erste Frage: Opfer sind
doch Opfer. Ist es nicht gleich, wer sie zu Opfern gemacht hat?
Meine zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, dass es viele
Opfer gibt, die vom Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz und auch vom Häftlingshilfegesetz eben nicht erfasst worden sind?
Meine dritte Frage: Halten Sie es für richtig, dass,
wenn die betroffenen Menschen zum Kanzleramt gehen,
sie dort von niemandem empfangen werden und ihre Resolution beim Pförtner abgeben müssen?
({0})
Herr Strobl attestiert mir Überforderung. Diese Auffassung kann ich nicht teilen. Was ich wahrnehme, ist - das
will ich in aller Gelassenheit sagen -, dass die Union
nach 50 Jahren - ich nenne Bundeskanzler Kiesinger als
ein Beispiel - den Konsens darüber aufkündigt, dass
man Leid nicht gegeneinander aufrechnen darf und dass
man sehen muss, wo die Ursachen für Leid liegen.
({0})
In diesem Zusammenhang - ich werde sofort auf das
eingehen, was Sie gefragt haben, Herr Marschewski will ich doch sagen: Man muss sich einmal vor Augen
halten, dass Sie in Ihrem Antrag unter anderem der Regierung nahe legen, an Russland heranzutreten, ein
Land, in dem als Folge des Zweiten Weltkrieges
21 Millionen Menschen gestorben sind, darunter 7 Millionen Zivilisten, um es aufzufordern, frühere deutsche
Zwangsarbeiter zu entschädigen. Ich will deutlich sagen:
Das wäre eine erbärmliche, beschämende und geschichtslose Haltung, die Sie von der Regierung erwarten.
({1})
Ich komme zu Ihren Fragen, Herr Marschewski. Zu
Ihrem letzten Punkt, der Übergabe von Unterschriften
im Bundeskanzleramt, hat es meines Wissens aus der
Unionsfraktion eine schriftliche Frage gegeben. Sie ist
von der Regierung beantwortet worden. Es war wohl so,
dass diese Übergabe nicht angekündigt worden war. Das
heißt, diese Menschen kamen zum Bundeskanzleramt
und haben erwartet, dass der Bundeskanzler sie persönlich empfängt. Die Menschen haben aber die Möglichkeit gehabt, einem Beamten des Bundesgrenzschutzes
ihre Unterschriften zu übergeben.
({2})
Ich denke, dies hätte man auch anders vorbereiten
können. So wie ich den Bundeskanzler kenne, hätte es
keine Probleme gegeben, einen Termin zu vereinbaren,
an dem er diese Menschen empfangen hätte. Diesen
Punkt in die Debatte einzuführen finde ich ein bisschen
kleinkariert, Herr Marschewski.
Ich komme zu den anderen beiden Punkten, die Sie
genannt haben. Ihre Frage war: Ist es dem Opfer nicht
letztlich gleichgültig, wer der Täter ist? Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, die Situation des Opfers zu würdigen. Wenn Leid, Bedrückung und Not verursacht worden sind, dann muss man Abhilfe schaffen. - Ich glaube,
man hätte diese Debatte in den 50er- und 60er-Jahren so
führen können. Wenn man sich den Charakter der Gesetzgebung anschaut, die Sie als nicht hinlänglich bezeichnet haben, beispielsweise mit Blick auf frühere
Kriegsgefangene, frühere politische Häftlinge oder auf
solche Internierte, die dauerhaft gesundheitliche Schäden davongetragen haben, dann wird man einsehen:
Grundgedanke war, dass die Leistung des Staates eine
Eingliederungshilfe sein sollte. Die Leistung des Staates sollte dazu dienen, diesen Menschen den Start in ein
geordnetes Leben zu ermöglichen.
Wir führen diese Debatte 50 Jahre zu spät, Herr
Marschewski. Ich habe den Eindruck, dass sie seitens
der Union auch deshalb geführt wird, um hier ein vermeintliches Defizit kenntlich zu machen, von dem ich
der festen Überzeugung bin: Es ist in dieser Form nicht
vorhanden. Die Menschen, um die es geht, die Leid erfahren haben, haben in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik bzw. im östlichen Teil unseres Landes - dieser Teil gehörte bis 1990 nicht zur Bundesrepublik gelebt. Ich halte dies für nicht den richtigen Zeitpunkt,
diese Debatte zu führen.
({3})
Herr Kollege Edathy, der Kollege Marschewski
möchte noch einmal nachfragen. Wollen Sie das zulassen oder weiterreden?
Ich bin damit einverstanden, wenn Herr Marschewski
noch eine Frage stellt - nicht wieder drei.
Herr Kollege Edathy, verstehen Sie, dass ich Sie nicht
verstehe?
Herr Kollege Marschewski, ich gehöre dem Bundestag seit 1998 an. Wenn ich nicht falsch informiert bin,
gehören Sie dem Bundestag schon einige Jahre länger
an. Wenn ich ebenfalls nicht falsch informiert bin, hat es
vor 1998 eine 16-jährige Regierungszeit unter konservativer Führung gegeben. Wenn Sie auf die Idee kommen,
dass die Bundesregierung, die von Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen gestellt wird, hier ein Versäumnis habe, während Sie 16 Jahre lang selber nicht
dazu in der Lage, nicht willens oder nicht einsichtig waren, das zur Sprache zu bringen und zu regeln, was Sie
jetzt als angebliches Versäumnis kennzeichnen, dann
kann ich das nur als unglaubwürdig und als Heuchelei
betrachten.
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, Leid kann
man nicht gegeneinander aufrechnen; es summiert sich.
Zwangsarbeit - auch das habe ich gesagt - ist für jeden
Betroffenen ein einschneidendes und schlimmes Ereignis. Dies aber schließt nun einmal unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich der Frage staatlicher Reaktionen
nicht aus.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der
Union: Was eigentlich ändert die Tatsache der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ daran, dass wir hier immer eine grundsätzliche
Übereinstimmung gehabt haben, dass das harte Schicksal der deutschen Bevölkerung als Folge der barbarischen Politik des Deutschen Reiches zu bewerten ist?
Meine Antwort wäre: Das ändert nichts daran. Leider ist
es so, dass sich bei der Lektüre des Unionsantrages unvermeidlich der Eindruck aufdrängt, dass dieses Bekenntnis zu geschichtlicher Verantwortung nunmehr
relativiert werden und die Bewertung historischer Verantwortung massiv verändert werden soll. Ansonsten
hätte Ihr Antrag zumindest anders begründet werden
müssen.
Unabhängig von der Frage der Kriegsschuld, wie Sie
es in Ihrem Antrag versuchen, kann man dieses Thema
nun einmal nicht behandeln. Ich erlaube mir, den Kollegen Hohmann zu zitieren. In einer Rede aus dem
Jahre 2001 sagte er mit Blick auf die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - ich glaube, völlig
zu Recht -, dass Deutschland und die deutsche Wirtschaft eben nicht aufgrund rechtlicher, sondern aufgrund
politisch-moralischer Verpflichtung Entschädigung leisten.
Gleichwohl - das will ich hier zusichern - werden wir
im Innenausschuss Gelegenheit haben, Ihren Antrag im
Detail sachlich zu beraten. Wir werden dabei allerdings
seitens der SPD darauf achten, dass wir allen Versuchen
zur Umdeutung unserer schwierigen Geschichte mit
Nachdruck entgegentreten.
Herr Kollege Edathy, der Kollege Hohmann möchte
Sie auch noch etwas fragen. Wollen Sie das zulassen
oder nicht?
Ich halte das jetzt nicht für unbedingt erforderlich,
weil ich zum Ende meiner Rede kommen möchte. Aber
Herr Hohmann soll die Gelegenheit haben, als Berichterstatter der Union hier seine Frage zu stellen.
Herr Kollege Edathy, stimmen Sie mir darin zu, dass
der Sachverhalt doch etwas anders ist? Denn wir müssen
genau sein. In § 3 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes war geregelt, dass die Entschädigung, die damals bei 1 DM pro Tag Lagerhaft lag, die Freiheitsentziehung und die Arbeitsleistung abdecken sollte. Es war
die rot-grüne Bundesregierung, die nach 1998 diesen
Konsens durchbrochen und beschlossen hat, dass die Arbeitsleistung in einer Zwangsarbeitshaft extra honoriert
werden sollte. Sie haben neue Regeln geschaffen.
Nachdem Sie diese Änderung vorgenommen und eine
Gruppe von Opfern herausgegriffen haben,
({0})
erscheint es mir nur recht und billig, das auch für andere
zu tun. Stimmen Sie mir darin zu?
({1})
Ich stimme Ihnen darin nicht zu, Herr Kollege
Hohmann. Auch trifft das, was Sie geschildert haben,
sachlich nicht zu. Ich beschäftige mich zwar nicht täglich mit diesem Thema - das muss ich hinzufügen -,
aber ich habe mich sehr sorgfältig auf diese Debatte vorbereitet.
Das Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz, das zum
1. Januar 1993 aufgehoben worden ist, ist gerade als
Folge der Tatsache zustande gekommen, dass in der Regel jene ausländische Staaten, die Kriegsgefangene zu
schwerer Arbeit eingesetzt haben, diesen keinen nennenswerten Geldbetrag mit auf ihren Weg zurück in die
Bundesrepublik gegeben haben.
({0})
Das war der Grund für das Zustandekommen des
Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes. Darin ist geregelt worden, dass je nach Dauer der Haft bis zu
12 000 DM als Entschädigung und Hilfe für die Wiedereingliederung in ein - in Anführungsstrichen - „normales“ Leben in Deutschland gewährt werden sollen.
Mit dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Sie waren damals Berichterstatter, haben sich aber am Ende gemeinsam mit 30 Abgeordneten der Union nicht dazu in der
Lage gesehen, das Gesetz mit zu verabschieden - haben
wir die Konsequenz aus dem Fall des Eisernen Vorhangs
1989/1990 gezogen, indem wir den vielen betroffenen
Menschen in Osteuropa, denen wir keine direkte und unmittelbare Hilfe gewähren konnten, eine Anerkennung
von Deutschen für in Deutschland erlittenes Leid als
späte Wiedergutmachung zukommen lassen wollten. Damit hat Deutschland im Sinne der Wahrnehmung von
historischer Verantwortung Stellung bezogen.
Herr Hohmann, ich will an dieser Stelle auf einen
Punkt zu sprechen kommen, in dem wir als Demokraten
Gemeinsamkeit wahren sollten. Ich meine, wir wären
gut beraten, uns darauf zu verständigen. Darauf möchte
ich zum Schluss meiner Rede zu sprechen kommen.
({1})
Meine Mutter ist gebürtige Schwerinerin. Sie ist auf
einem Bauernhof groß geworden und hatte drei Brüder,
einen jüngeren und zwei ältere. Die beiden älteren Brüder sind im Krieg gefallen. Der Bauernhof meiner Großeltern ist ihnen weggenommen worden. Sie sind zwei,
drei Jahre später aus Gram gestorben. Sie hatten den Inhalt ihres Lebens verloren.
Ich habe mit meinem Onkel, dem jüngeren Bruder
meiner Mutter - kein Akademiker, sondern ein einfacher
Mann; ein Arbeiter, der in einer Fabrik Teile zusammengeschraubt hat -, sehr oft über dieses Leid meiner Familie mütterlicherseits gesprochen. Er hat immer wieder
gesagt: Wir haben schweres Leid erlitten. Er hat aber
auch immer wieder gesagt: Die Verantwortung für dieses
Leid können wir nicht den Russen zuschieben. Die Verantwortung für dieses Leid liegt vielmehr bei uns selbst,
beim deutschen Volk, weil wir es zugelassen haben, dass
ein Verbrecher wie Adolf Hitler nicht nur unser Land,
sondern fast die ganze Welt ins Unglück gestürzt hat.
Ich glaube, wenn wir uns wieder auf diesen Punkt besinnen, Herr Hohmann, dann kommen wir zu einer sachlich angemessenen Debatte, die frei von Polemik ist.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gern die Mahnung des Kollegen Edathy
aufgreifen und jede Polemik unterlassen. Herr Kollege
Edathy, wenn Sie aber behaupten, der vorliegende Antrag der Union komme 50 Jahre zu spät, dann muss ich
Ihnen sagen, dass das nicht ganz richtig ist; denn wir haben die gesamte Zwangsarbeiterdebatte 50 Jahre zu spät
geführt. Wir sind außerdem nicht wegen des Falls des
Eisernen Vorhangs zu einer Regelung der Entschädigung
von Zwangsarbeitern gekommen. Das war nur ein Teilaspekt. Übrigens wollte Ihre Bundesregierung polnische
Zwangsarbeiter davon ausnehmen. Diese wurden - Kollege Beck weiß das sicherlich noch genau - erst nach
Verhandlungen einbezogen.
Es hatte ganz andere Ursachen, dass der Deutsche
Bundestag vor drei Jahren - viel zu spät! - das unsägliche Leid, das den Zwangsarbeitern unter den Nationalsozialisten angetan wurde, mit einer symbolischen Entschädigungsleistung anerkannt hat. Ich möchte das jetzt
nicht im Detail darstellen. Aber das ist wichtig für den
heutigen Zusammenhang; denn schon in der damaligen
Debatte hatten der Kollege Hohmann und andere Abgeordnete in der Tat versucht, im selben Atemzug über die
Frage der Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter - das
ist das heutige Thema - zu diskutieren. Das habe ich namens der FDP heftig kritisiert, weil die Gefahr bestand,
dass wir dadurch falsche historische Parallelen gezogen
hätten. Das war nicht angemessen und nicht der richtige
Zeitpunkt.
Es bleibt aber festzuhalten, dass Zwangsarbeit für jeden Betroffenen ein schweres Schicksal ist. Deswegen
ist es jetzt, nachdem wir die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vor drei Jahren ins Leben gerufen haben, durchaus angebracht, über die Frage, die
heute von der Union aufgeworfen worden ist, sachlich
zu diskutieren. Das, was Kollege Edathy über die Verantwortung des Nationalsozialismus und des Deutschen
Reiches für die Leiden, die durch den Zweiten Weltkrieg
entstanden sind, gesagt hat, ist zwar richtig, betrifft aber
wiederum nur einen Teilaspekt des Problems. Gerade
wegen der ursächlichen Verantwortung der Nazis wäre
es tatsächlich inopportun, wenn nun die Bundesrepublik
Deutschland an andere Staaten mit der Forderung nach
Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter herantreten
würde. Das schließt aber nicht aus, dass wir im Namen
der Bundesrepublik Deutschland das Leid, das auch
deutsche Zwangsarbeiter erdulden mussten, benennen,
anerkennen und finanziell entschädigen.
({0})
Deswegen wird die FDP in den weiteren parlamentarischen Beratungen dem Antrag der Union im Grundsatz
folgen. Freilich gibt es etliche Einzelfragen zu klären. So
muss vom Bundesfinanzministerium genau dargelegt
werden, ob die Zahlungen, die der betreffende Personenkreis schon erhalten hat, Eingliederungshilfen sind, die
dem Charakter nach nicht dazu dienten, Zwangsarbeit
- und sei es nur symbolisch - anzuerkennen. Es muss
des Weiteren geklärt werden, ob sich aus einem entsprechenden Beschluss unerwünschte Präjudizwirkungen ergeben können. Die Kriegsfolgengesetzgebung ist ja an
sich abgeschlossen. Schließlich müssen wir darüber
nachdenken, ob Zwangsarbeit nur dann entschädigt werden soll, wenn sie mit zusätzlichen Erschwernissen verbunden war. So ist das in den Entschädigungsregelungen
festgelegt, nach denen die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ verfährt.
Wenn all diese Fragen befriedigend beantwortet sind,
dann kann dem vorliegenden Antrag der Union ohne
jede Polemik näher getreten werden.
({1})
Nun hat Kollegin Silke Stokar von Neuforn, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hohmann, Sie haben versucht - ich habe das eigentlich auch erwartet -, die Debatte nach altem Muster zu
polarisieren. Ich glaube, dass Sie Ihr Ziel nur so erreichen können. Sie sollten aber aufgrund der Reden, die
ich zum Beispiel über das Heimkehrergesetz gehalten
habe, die Erfahrung gemacht haben, dass die von Ihnen
beabsichtigte Polarisierung gerade bei meiner Person
nicht funktioniert.
Sie haben den Grünen pauschal eine nationale IchSchwäche vorgeworfen. Die Grünen als Gruppe, also die
vielen Menschen, die in dieser Partei sind, haben Ihrer
Meinung nach eine nationale Ich-Schwäche.
Ich möchte versuchen, etwas zu meinem Begriff von
Heimat und zu meinem Begriff von Heimatverbundenheit sagen. Das war für mich ein wichtiger Grund, Mitglied der Grünen zu werden, weil nämlich gerade der Erhalt der Umwelt für mich ein Ausdruck tiefer
Heimatverbundenheit ist. Heimat hat für mich nichts mit
Ideologie zu tun, sondern hat für mich etwas mit meiner
Heimatinsel Fehmarn, mit der Landschaft und den Menschen, die mir wichtig sind, zu tun. Es hat aber eben
nichts mit einer bestimmten politischen Ausrichtung und
der nationalen Identität - Sie versuchen, in diese Debatten immer wieder diesen Begriff einzubringen - zu tun.
Für mich stellt den wesentlichen Konsens, den wir alle
hier haben, und zwar Deutsche, Zugezogene, auch mein
Kollege Josef Winkler, der sich heute in der Zuwanderungsdebatte geäußert hat und erkennbar indischer Herkunft ist, unser Grundgesetz dar - das steht für mich
auch für die Stabilität unserer Nachkriegsdemokratie -,
unsere Verfassung, die - das merkt man in den innenpolitischen Debatten - Ihnen nicht mehr viel wert ist. Die
Grundwerte unserer Verfassung beschreiben für mich
den Konsens, der bindend ist.
({0})
Ich denke, dass gerade auch meine Partei - ich möchte
hier zum Beispiel an Antje Vollmer erinnern - mit der
Aufarbeitung der Schuld des Nationalsozialismus überhaupt erst den Boden für diese Debatte bereitet hat. Ich
gehöre zu dieser Generation. Die Karriere meines Großvaters vom Polizeibeamten zum Major des Reichssicherheitsdienstes hat mich sehr beeindruckt. Ich habe mich
mit dieser Biografie aus meiner Familie viele Jahre befasst. Ich habe mich auch mit dem Trauma befasst, das
meine Mutter erlitten hat, als sie die Dresdner Bombennächte erleben musste. Versuchen Sie nicht, hier so zu
tun, als wäre die Definition unserer Geschichte in Ihrer
Partei gut untergebracht.
Meine Partei hat gerade mit der Aufarbeitung der
Schuldfrage, die wir gegen unsere Eltern durchsetzen
mussten, erst den Boden dafür bereitet, dass wir heute - ich
begrüße das; ich habe das auch in der letzten Debatte gesagt - offen über deutsche Opfer reden können. Die Tabuisierung der deutschen Opfer konnte erst beendet werden, nachdem es in der Gesellschaft eine Anerkennung
der deutschen Schuld gegeben hatte. Meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, genau dieses Verhältnis müssen wir sehen: Aus der Anerkennung der deutschen
Schuld entwickelt sich bei uns im Lande eine freie Debatte auch zu den deutschen Opfern.
({1})
Auf dieser Ebene können wir eine Diskussion über Opfer und Schuld führen.
In der Bewertung Ihres Antrags schließe ich mich
meinem Kollegen Edathy an. Ich möchte Sie einfach nur
um etwas bitten: Lesen Sie doch bitte einmal die Rede
Ihres ehemaligen Bundeskanzlers Kiesinger nach, die er
1966 gehalten hat, als es um die Verlängerung der Frist
bei Regelungen zur Kriegsfolgenentschädigung ging. Ich
habe festgestellt: Es war kein Versehen. Es war kein
handwerklicher Fehler. Er hat damals gesagt: Es gibt
keine Einzelfallgerechtigkeit. - Er hat damals gesagt: Es
war richtig, keine Sondertatbestände aufzunehmen. - Er
hat damals als CDU-Bundeskanzler einen Satz gesagt,
den ich für sehr falsch und für zynisch halte: Wir wollen
investieren in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit.
Nachdem Sie jahrelang nur „Schlussstrichgesetze“
- das gilt auch für das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz
von 1992 - gemacht haben, bin ich froh, dass Rot-Grün
erkannt hat: Jawohl, es gibt noch Gerechtigkeitslücken;
es gibt noch Opfer. Aus genau diesem Grunde haben wir
damals diese Stiftung ins Leben gerufen. Vorwürfe können wir Ihnen und nicht Sie uns machen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksache 15/924 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Gedenken an die Opfer des Bombenkriegs im
Zweiten Weltkrieg
- Drucksache 15/986 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Diese Debatte geht fast nahtlos von dem vorherigen historischen Gesichtspunkt zu einem anderen über.
Ein Kapitel des Koalitionsvertrags dieser Regierung,
dessen Kanzler der 15. Deutsche Bundestag gewählt hat,
trägt die Überschrift „Moderne Gesellschaftspolitik“. In
diesem Kapitel ist der Begriff „Erinnerungskultur“ zwar
nicht erfunden, aber wieder aufgebracht worden. Damit
verbunden stellen sich zwei Fragen. Zum einen: Wie
transportiert unsere Kulturnation Erinnerungen? Zum
anderen: Wie lassen sich diese Erinnerungen kulturell
gestalten, pflegen und reflexiv verarbeiten?
Wir haben von dem Herrn Kollegen Edathy vorhin zu
Recht gehört, dass man Leid nicht aufrechnen soll. Das
ist richtig: Man soll Leid weder aufrechnen noch gegenrechnen.
In Deutschland gab es um die Weihnachtszeit eine
sehr weit gehende Debatte über das Buch eines Mannes,
der eher aus Ihrem Lager kommt. Ich meine den linksliberalen Historiker Jörg Friedrich; sein Buch heißt „Der
Brand“. Es beschäftigt sich mit den Bombardierungen
der deutschen Zivilbevölkerung zwischen 1943 und
1945. In einer Stellungnahme zu diesem Buch und der
damit verbundenen Debatte schreibt die „Süddeutsche
Zeitung“ - auch sie ist einer übertriebenen Distanz zum
sozialdemokratischen oder rot-grünen Lager unverdächtig - Folgendes - ich halte das für sehr wichtig -:
({0})
Ein aufgeklärtes Bewusstsein bedarf keiner halbierten Erinnerung. Die Wahrnehmungssperren der
Nachkriegszeit sind längst aufgehoben. Die eigene
Täterschaft ist weitgehend im historischen Gedächtnis der Deutschen verankert.
- Das stimmt doch. Daher kann die Erinnerung an die eigenen Opfer
getrost zurückkehren.
Wer zuerst fragt, wem die Wahrheit nutzen könnte,
anstatt festzustellen, welche Aussage wahr und welche
falsch ist, hat sich selbst um jede Glaubwürdigkeit gebracht. Der Betreffende hat sich von der Tatsachenprüfung schon verabschiedet, bevor diese überhaupt begonnen hat. Darum geht es.
(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
({1})
Der Begriff Erinnerungskultur, Herr Ströbele, wird
in diesem Hause heute nicht zum ersten Mal benutzt. Bei
diesem Tagesordnungspunkt wird er im Zusammenhang
mit der Bombardierung der Zivilbevölkerung in
1 000 Städten und Gemeinden, die im April/Mai 1943
begann, verwendet. Wir schreiben heute Anfang
Juni 2003. Es war vor genau 60 Jahren, als es bei den
Luftangriffen der Alliierten zur Zeit der Ruhrschlacht zu
einem - ich zitiere Herrn Friedrich - „Zivilisationssprung“ kam. Ich zitiere weiter:
In dieser Zeit geriet die Bombardierung zur Massenausrottung.
In dieser Woche, der letzten und der vorletzten Woche
vor genau 60 Jahren stieg die Anzahl der Opfer in der so
genannten Ruhrschlacht sprunghaft an. Bis dato waren
- das war schlimm genug - im Schnitt 500 zivile Opfer
pro Tag zu beklagen. Bei der Bombardierung der Stadt
Wuppertal-Barmen starben in der Nacht zum 30. Mai
3 500 Menschen. In den folgenden Wochen eskalierte
die Situation weiter, bis zum Höhepunkt, der Operation
Gomorrha: 12. Juni Düsseldorf: 1 300 Tote; 22. Juni
Krefeld: 1 056 Tote; 29. Juni Köln: 4 380 Tote; 28. Juli
1943 Hamburg: 45 000 Tote.
Warum hat Günter Grass sein Buch „Im Krebsgang“
einen Tabubruch genannt? Er sagte, dass diese Themen
zwar in der Geschichte jeder Familie in Deutschland präsent seien, dass diese Thematik aber in der öffentlichen
Wahrnehmung und der damit verbundene Schauder umgangen würde, als ob es eine verrufene Stelle wäre. Die
Frage des Ansprechens hat er in seinem Buch in einem
einzigen Satz auf den Punkt gebracht. Die Heldin seines
Buches, Tulla, redet im Danziger Dialekt auf Paul, der
alles über das Schicksal der „Wilhelm Gustloff“ aufschreiben soll, ein:
Wie eisig die See gewesen ist und wie die Kinderchen Kopp unter. Das musst Du aufschreiben; das
bist Du uns schuldig als glücklich Lebender.
Das ist unsere Schuldigkeit. Unser schöner, glücklicher Streit, den wir in diesem Haus während der Sitzungswochen täglich führen können, ist das eine; aber
die historische Verpflichtung - Herr Kollege, entschuldigen Sie, ich habe Sie bisher nicht gekannt; aber die Darstellung der Erlebnisse Ihrer eigenen Familie und Ihrer
Mutter, hat mich berührt - und die Schuldigkeit des Aufschreibens und des Nicht-vergessen-Lassens trägt der
ganze Deutsche Bundestag, die politische Klasse der
Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Die Bundeskulturstiftung - das entspricht ihrem
Auftrag -, zu der sich dieses Haus bekennt, wird in Bereichen tätig werden, in denen die Kulturkompetenzen
beim Bund liegen. Das sind beispielsweise der internationale Kulturaustausch, die Hauptstadtkultur und die
Erinnerungskultur.
Jeder von Ihnen hat in seiner Abgeordnetenpost jede
Woche irgendeine Einladung für einen Erinnerungsmarker der deutschen Geschichte. Ich habe die aus der letzten
Woche gesammelt. So bereiten wir im Deutschen Historischen Museum - das finde ich großartig - eine Ausstellung zur Erinnerung an den Besuch des amerikanischen
Präsidenten Kennedy vor. Für das Jahr 2004 sind große
Ausstellungen in Vorbereitung, weil sich dann zum
90. Mal die Monate Juni, Juli und August 1914 jähren
werden. In dieser Zeit begannen in diesem Hause die Debatten, die den Ersten Weltkrieg vorbereiten sollten.
Aber wir dürfen in dieser Erinnerungskultur doch keinen dunklen Fleck lassen, vor allem nicht in dem Bereich, der in jeder Familie - ich zitiere Ihren Wahlhelfer
Günter Grass - als „Schauder“ vermerkt ist. Dieser Bereich darf nicht mit einem Tabu belegt werden. Es ist
schlimm genug, dass diese Debatte erst so spät und so
spät am Abend und in so schwacher Besetzung als letzter
Punkt im Deutschen Bundestag geführt werden kann.
Wir können dieses Thema nicht beiseite tun, weil es
der politischen Klasse - möglicherweise sogar querfeldein - unangenehm ist. Das können wir nicht tun. Dem
müssten Sie sich gemeinsam widersetzen!
({3})
Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika KrügerLeißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich eine Bemerkung machen, bevor ich auf den Antrag zu sprechen komme. Historische
Debatten im Deutschen Bundestag unterliegen immer einer besonderen Problematik. Die Gefahr, dabei eine bestimmte Sichtweise auf die Geschichte politisch zu instrumentalisieren, ist nicht gering. Besonders groß ist die
Gefahr dann, wenn es um die Auseinandersetzung mit
dem Nationalsozialismus und - daraus resultierend - die
Frage nach dem Selbstverständnis der Deutschen geht.
Ich denke aber, Sensibilität und Vorsicht sind vor allem dann nötig, wenn es um die Opfer geht. Hier ist eine
sachliche Sicht geboten, die weder die Trauer verbietet
noch eine Positionierung der Deutschen in der Opferrolle ermöglicht und dabei das Leid der anderen vergessen lässt.
Die Deutschen als Opfer im Zweiten Weltkrieg sind
in den letzten Jahren zunehmend ins Blickfeld geraten.
Zunächst hat dieser Umstand die Vertriebenen betroffen.
Ein wichtiger Auslöser - das hat Herr Gauweiler gerade
erwähnt - war die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter
Grass. Ich habe diese Auseinandersetzung mit der Vertreibung und dem Elend, das sie bedeutete, für sehr
wichtig gehalten. Auch sie ist ein Teil der deutschen Geschichte, ein Teil der Geschichte des Nationalsozialismus und des Leids, das diese Diktatur brachte.
Aus diesem Gedächtnis heraus ist die Ablehnung des
Krieges in Deutschland stärker als in vielen anderen
Ländern. Das haben wir erst kürzlich beim Irakkrieg
feststellen können. Die Politik der Bundesregierung hat
diesem Umstand Rechnung getragen.
Was für die Vertriebenen gilt, gilt natürlich auch für
die Opfer der verheerenden Bombenangriffe auf Magdeburg, Dresden, Hamburg und viele andere Städte in
Deutschland. Bis zu 600 000 Tote, unzählige Verletzte,
zerstörte Städte und Kulturgüter, an all das muss man
sich erinnern. All das muss auch Teil der Erinnerungskultur sein.
Im Grunde ist es das auch immer gewesen. Allerdings
fand die Erinnerung häufig im kleineren Kreis statt.
Auch wenn es schon eine Aufarbeitung in der Literatur und in der Wissenschaft gab, so hatte diese in
Deutschland selten die ganz große Öffentlichkeit.
Auch das von Kollegen Herrn Gauweiler erwähnte
Buch „Der Brand“ von Jörg Friedrich hat in letzter Zeit
sicherlich einen neuen Anstoß gegeben, diese Diskussion wieder zu entfachen. Ich persönlich kann nicht sagen, dass mir das Buch von Friedrich in jeder Hinsicht
zusagt. Ich habe immer ein Problem, wenn die Sprache
einen Vergleich mit dem Holocaust suggeriert, Luftschutzbunker zu Krematorien werden und Bombardierung selbst zum Vernichtungskrieg wird. Ich sage Ihnen
ganz ehrlich: Diese unverhohlene sprachliche Gleichstellung mit dem Holocaust ist mir zuwider.
({0})
Dennoch stellt das Buch sicherlich keine Apologie
und keinen Revanchismus dar. Dafür bürgt auch der Autor, der zuvor die Verbrechen der Wehrmacht untersucht
hatte. Es ist vielmehr ein Anstoß für eine wissenschaftliche Diskussion, die zu Recht auch in der Öffentlichkeit
geführt wird und damit ein wichtiger Teil des Umgangs
mit der Geschichte ist.
Sicherlich war es auch Anstoß für die Kollegen der
CDU/CSU, diesen Antrag vorzulegen, in dem sie eine
Konzeption der Bundesregierung fordern, wie auf
Bundesebene in angemessener Form der 60. Jahrestag
der Zerstörung begangen werden soll. In der Begründung heißt es dazu, es sei sittliche Pflicht der Bundesrepublik, der Opfer in angemessener Weise zu gedenken.
Ich muss zugeben, dass ich mit dem Begriff „sittliche
Pflicht“ einige Probleme habe. Wenn ich ihn richtig verstehe, so meinen Sie, es sei unmoralisch, nicht aller Opfer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Aber erlauben
Sie mir in diesem Zusammenhang folgende Erwähnung:
Die Zerstörung von Dresden, Hamburg und vielen anderen deutschen Städten war vor allem Resultat des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland
({1})
und sie war Resultat der vorausgegangenen Angriffe auf
Rotterdam und Coventry.
Dies muss beim Gedenken bedacht werden. Dann
- da gebe ich Ihnen Recht - ist es eine Pflicht, alle Opfergruppen in unsere Erinnerungskultur mit einzubeziehen. Auch wenn die Trauer um die Opfer der Bombennächte zumeist eine eher stille ist, so findet sie doch statt,
und das schon seit vielen Jahrzehnten.
Dass die wissenschaftliche Diskussion diesen Aspekt
des Zweiten Weltkrieges mehr ins öffentliche Interesse
gerückt hat, ist begrüßenswert. Unverständlich ist mir allerdings Ihre Forderung nach einer Konzeption ausgerechnet zum 60. Jahrestag. Ich fragte mich zunächst:
Warum? Ich erinnere mich, dass zum 50. Jahrestag, einem allgemein doch als wichtiger anerkannten Jubiläum,
keine Konzeption gefordert wurde. War das aus Ihrer
Sicht damals nicht notwendig oder fanden Sie es nicht
richtig, das Ihrer damaligen Bundesregierung anzutragen?
Um einen anderen Vergleich anzubringen: Auch zum
50. Jahrestag des 17. Juni 1953 gibt es keine Konzeption der Bundesregierung. Das ist sicherlich ein mindestens ebenso relevantes Datum der deutschen Geschichte.
Schauen Sie, was sich in diesen Wochen und Monaten an
Aufarbeitung zu diesem Teil der Geschichte getan hat
und noch tun wird.
Bei den Gedenkstätten haben wir eine Konzeption
vorgelegt, und das zu Recht. Es geschah auch auf
Wunsch der Bundesländer, die um diese Unterstützung
und um die finanzielle Hilfe des Bundes gebeten haben
und die die gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung mit
der Bundesregierung gemeinsam wahrnehmen wollen.
Die Kulturhoheit der Länder wird dabei von uns selbstverständlich berücksichtigt.
Die Konzeption, die Sie mit Ihrem Antrag fordern, ist
aus meiner Sicht nicht nötig; denn Sie können selbst
feststellen: Gedenken geschieht allerorts auf vielfältige
Weise und tausendfach. Die Vielzahl an historischen
Ausarbeitungen und die große Menge an Veranstaltungen beispielsweise zum 17. Juni zeigen, dass sich die
Menschen ihr Erinnern selber schaffen. Sie haben Orte
zum Gedenken und Tage zum Gedenken. Sie können in
einer Vielzahl historischer Ausarbeitungen Fakten und
Meinungen über ihre Geschichte nachlesen. Was hier für
den 17. Juni gilt, gilt ebenso für die Bombenangriffe auf
Deutschland.
Gerade in der Nachkriegszeit fand eine starke Auseinandersetzung mit den Opfern statt. Diese Erinnerungskultur schließt Vertriebene und Bombenopfer ein. Wir
haben ihr Leid in unser kollektives Gedächtnis mit aufgenommen. Ich erinnere daran: Es gibt einen Tag des
Gedenkens, den Volkstrauertag, an dem in angemessener Weise aller Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht
wird. Das hat auch der damalige Bundespräsident
Roman Herzog in seiner Rede zum Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus 1996 deutlich hervorgehoben.
Es gibt viele Gedenkorte, die alle zum Gedenken an
die Opfer der Bombenkriege geeignet sind. An den
wichtigsten möchte ich hier besonders erinnern, nämlich
an die Neue Wache in Berlin, in deren Widmungstext es
heißt:
Wir gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg
und Folgen des Krieges in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben
gekommen sind.
Es gibt viele Veranstaltungen, und das nicht nur zum
60. Jahrestag. In Dresden beispielsweise laden jährlich
mehrere Initiatoren zum „GeDenken 13. Februar“ ein,
dem Tag, an dem die Stadt zerstört wurde. Kirchen und
Initiativen sind hier gleichermaßen tätig.
Wir haben im Jahr 2005 vieler zu gedenken. Ich halte
es für falsch, eine Opfergruppe aus der Vielzahl herauszunehmen und eine staatliche Lenkung des Gedenkens
anzustreben. Es geschieht so viel in großen wie in kleinen Städten. Überall ist die Erinnerung an die Zerstörungen noch da und vielfach ist im Stadtbild das Leid noch
spürbar. Diese Erinnerung müssen wir wach halten. Aber
eine staatliche Konzeption ist dafür nicht nötig.
Ich finde es wichtig, dass sich private Initiativen, Vereine, Verbände, Einzelpersonen, Kirchen und vor allen
Dingen der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
damit befassen und geeignete Formen der Aufarbeitung
und des Gedenkens finden. Eine Einmischung der Bundesregierung über die Unterstützung von Forschung und
Initiativen zu diesem Thema hinaus halte ich sogar für
kontraproduktiv.
Vergessen wir nicht: Wir haben zwei funktionierende
Museen, nämlich das Deutsche Historische Museum und
das Haus der Geschichte, und auch das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig, die sich intensiv mit diesen Themen beschäftigen.
Der Antrag suggeriert, es gebe ein Defizit in der Aufarbeitung. Wenn wir uns anschauen, was Länder, Kommunen und viele Einrichtungen im Rahmen der Erinnerungsarbeit tun, dann können wir erkennen, dass wir
nicht skeptisch zu werden brauchen. Es ist vieles auf den
Weg gebracht. Ich würde eher fürchten, dass die Länder,
Kommunen und die Verantwortlichen vor Ort sehr skeptisch werden, würden wir jetzt als Akteure auftreten.
Ich halte es für gefährlich, wenn es zu einer Form des
Gedenkens führt, die Apologien und Aufrechnung der
Opfer ermöglicht. Ich will dies dem Antrag nicht unterstellen. Das nationale Gedenken darf aber nie Basis für
einen neuen Nationalismus werden. Trauer um die Opfer
kann nie ohne Erkennen der Gründe geschehen. Dresden
und Hamburg können nie ohne Coventry und Rotterdam
gedacht werden. Darüber sollte zwischen uns Einigkeit
bestehen. Auf keinen Fall dürfen wir die Opfer gegeneinander ausspielen oder gar aufrechnen. Wir müssen mit
den Empfindungen der Generation der Leidtragenden
verantwortungsvoll umgehen.
Werte Kollegen der CDU/CSU, Ihre Forderung in
diesem Antrag nach einer großen nationalen Aktion ist
angesichts des in der Erinnerungskultur Erreichten nicht
angemessen. Unser kollektives Gedächtnis, das geprägt
ist vom Wissen um die Vergangenheit und der kritischen
Analyse des Geschehens, darf nicht zur Umsetzung einer
nationalen Erinnerungspolitik werden. Auch das sind wir
den Opfern schuldig.
Wir müssen die Erinnerung bewahren. Wir müssen
auch in Zukunft darauf achten, dass die Mahnung weiter
besteht. Denn das Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus - ob es Juden, ob es politisch Verfolgte, Vertriebene oder die Bombenopfer sind - garantiert unsere
feste Haltung zur Demokratie. Das ist vor allem eine
menschliche und keine nationale Aufgabe.
Danke.
({2})
Ich erteile Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Krüger-Leißner, ich muss gestehen, dass
Ihre Rede, die viele kluge und sensible Worte enthielt,
bei mir ein sehr ambivalentes Gefühl ausgelöst hat. Denn
ich kann auch bei aufmerksamem Zuhören Ihrer Rede nicht
verstehen, was dagegen einzuwenden ist, dass wir uns darum bemühen, für Hunderttausende von Opfern - ich betone: Opfern - eine angemessene Form des Gedenken
zu finden. Wir sind uns völlig einig darin, dass ein solHans-Joachim Otto ({0})
ches Gedenken nicht in Nationalismus abgleiten darf. Es
darf nicht aufgerechnet werden. Es muss auch klar sein,
wer Täter und wer Opfer war. Aber wir sprechen hier - um
das ganz klar zu sagen - über Hunderttausende Getötete,
vorwiegend Frauen und Kinder.
Wir haben in diesem Hause eine bestimmte Form der
Erinnerungskultur entwickelt, sodass ich es für nicht
ausreichend empfinde, wenn Sie jetzt sagen: Es gibt
doch schon so viele Initiativen; wir brauchen uns daher
darum nicht mehr zu kümmern; dem kann sich der Deutsche Bundestag entziehen. - Das sehe ich nicht so.
Herr Dr. Gauweiler, der Antrag - wir begrüßen ihn absolut - hat einen Mangel, den ich ansprechen möchte - vielleicht können wir diese Dinge zusammenführen -: Auch
ich bin wie Frau Kollegin Krüger-Leißner der Meinung,
dass das Suchen nach einer angemessenen Form eines
solchen Gedenkens nicht primär Aufgabe der Bundesregierung sein sollte. Der Bundestag, wir alle, das Parlament, ist aufgerufen, eine angemessene Form des Gedenkens zu finden, die objektiv und weder nationalistisch
noch revanchistisch ist.
Herr Dr. Gauweiler, ich darf Sie daran erinnern:
Schon bevor Sie in dieses Haus kamen, haben wir, der
Bundestag, an einer anderen Stelle, als es um Erinnerungskultur ging, einen Erfolg erzielt. Damals ging es
darum, ein Holocaust-Mahnmal zu errichten. Wir haben
die Suche nach einer angemessenen Form aus der Verantwortung der Bundesregierung gelöst und in die Verantwortung des Bundestages übertragen. Wir haben fraktionsübergreifend eine, wie ich finde, gute Lösung
gefunden. So etwas schwebt mir auch in Bezug auf Ihren
Antrag vor. Wir sollten die Suche nach einer angemessenen Form des Gedenkens nicht auf die Bundesregierung
abschieben. Wir als Parlament selber haben die Aufgabe,
eine Erinnerungskultur zu entwikkeln. Wir können uns
dabei vielleicht der Zuarbeit externer Sachverständiger
bedienen; ich denke an eine Anhörung und Ähnliches.
Frau Krüger-Leißner, ich denke nicht daran, große
Denkmäler zu errichten. Aber eine angemessene Form
des Gedenkens sollten wir erreichen. Dies ist, wenn wir
den Opfern gerecht werden wollen, allerdings nur dann
zu erreichen, wenn wir das fraktionsübergreifend tun,
nicht in parteipolitische Polemik abgleiten und uns nicht
wechselseitig unlautere Motive vorwerfen.
Wenn wir das schaffen, dann wäre das in der Tat eine
große kulturpolitische Leistung, die dem Bundestag sehr
gut zu Gesicht stünde. Ich denke, dass wir alle es - egal was
in den letzten 60 Jahren passiert oder was hinterlassen worden ist - den Hunderttausenden Opfern, die in diesen
Bombennächten ihr Leben haben hergeben müssen,
schuldig sind, dass der Bundestag auch dieser Opfergruppe gedenkt.
Deswegen werden wir Ihrem Antrag in den Ausschüssen prinzipiell zustimmen. Aber ich möchte an die
beiden großen Fraktionen und vielleicht auch an die der
Grünen appellieren, dass wir hier im Parlament eine
Konzeption suchen und dies nicht von der Bundesregierung verlangen. Wir selber sind aufgerufen, eine angemessene Form des Gedenkens zu finden.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile Kollegin Silke Stokar von Neuforn,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
hier nicht im „Literarischen Quartett“. Insoweit beteilige
ich mich auch nicht an haarspalterischen Buchbesprechungen. Ich habe das Buch „Der Brand“ gelesen, weil
es ein provozierendes und radikales Buch ist. Da ich davon ausgehe, dass diejenigen, die sich hier zu diesem
Buch geäußert haben, es ebenfalls gelesen haben, war
dieser Teil der Debatte für mich durchaus interessant. Ich
habe es als ein radikales Antikriegsbuch empfunden; das
ist meine Bewertung.
Meine Damen und Herren, ich halte es für richtig,
dass sich die angemessenen Formen einer Erinnerungskultur aus dem Bundestag heraus entwickeln sollen. Das
gehört in die Fachausschüsse. Den Wiederaufbau der
Dresdner Frauenkirche - ich habe ihn über die Jahre
verfolgt - empfinde ich als die eindrucksvollste Form
der Erinnerung und Wiedergutmachung, weil dieses
Symbol der Zerstörung mit großer Unterstützung aus
Großbritannien, Frankreich und den USA, also aus Ländern, die an diesem Krieg beteiligt waren, wiedererrichtet wird. Wenn wir in den Ausschüssen darüber reden,
können wir uns vielleicht auch einmal Gedanken machen, die über die deutsche Behandlung der Geschichte
hinausgehen und in denen es darum geht, wie man der
vielen zivilen Opfer dieser verheerenden Kriege, die es
infolge des deutschen Angriffskriegs in Europa gegeben
hat, gerade im erweiterten Europa gedenken kann.
Ich vertrete stets eine Gedenkkultur von unten, die
sich aus Erleben, aus Betroffenheit entwickelt und sich
in der Begegnung mit anderen Menschen weiterentwickelt. Deswegen bin ich auch sehr stolz darauf, dass
meine Heimatstadt Hannover seit vielen Jahren eine
enge Partnerschaft mit Hiroshima hat. In dieser Partnerschaft war es von Anfang an Tradition, dass nicht nur
wir Hannoveraner der Opfer von Hiroshima gedachten.
Vielmehr war es ein gegenseitiges Gedenken. Auch
Hannover ist im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört worden. Insbesondere in den großen industriell geprägten Stadtgebieten, in denen die Arbeiter wohnten,
hat es sehr viele Opfer gegeben. Es war schon frühzeitig
Teil unserer Stadtkultur, dieser Opfer bei gegenseitigen
Besuchen gemeinsam mit den Opfern in Hiroshima zu
gedenken. Den Gedanken des internationalen Gedenkens möchte ich in unsere Debatte einbringen.
Meine Damen und Herren, auch ich will in dieser Debatte keine Polarisierung. Im Zusammenhang mit der
Zerstörung Dresdens halte ich es für wichtig, die Debatte
über Militärstrategien einzubeziehen, die derzeit in England geführt wird. Für mich lautet das Ergebnis dieser Debatte: Auch wenn ein Verteidigungs- und Befreiungskrieg
geführt wird, der moralisch gerechtfertigt ist - in
dieser Bewertung sind wir uns sicherlich einig; die Befreiung vom Faschismus war ohne Frage moralisch gerechtfertigt -, kann ein solcher Krieg völkerrechtswidrige Elemente enthalten. Gerade aufgrund der Erfahrungen, die in
Deutschland, aber auch in London mit der Bombardierung ziviler Flächen gemacht wurden, ist es heute nicht
mehr möglich, gegen die zivile Bevölkerung in dieser
Form Krieg zu führen.
Mein letzter Satz: Ich ziehe aus dieser Diskussion, die
ich nie für beendet halte, weil der Opfer immer wieder
neu gedacht werden muss, die Lehre, dass ein Einsatz für
eine europäische Friedenspolitik das Beste ist, was wir
für die Opfer tun können.
Danke schön.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Günter Baumann, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit einiger Zeit läuft in den Medien, in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik eine Debatte über die deutsche Erinnerungskultur. In deren Zentrum stehen die
Zerstörungen deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg
und die Opfer des Bombenterrors unter der deutschen
Zivilbevölkerung. Verstärkt ist dabei der Ruf zu vernehmen, die Deutschen mögen sich endlich der Kriegsopfer
aus den eigenen Reihen mehr annehmen, als es bislang
geschehen ist.
Ich frage mich, warum wir diese Problematik gerade
in der heutigen Zeit diskutieren. Ich persönlich glaube
nicht, dass wir unsere eigenen Opfer im Krieg in den
Jahren zuvor mit einem Tabu belegt haben. Jeder von
uns, der nach 1945 geboren ist, kennt Familienschicksale
- wir haben heute von einigen gehört -, jeder hat über
seine eigene Familiengeschichte etliches gehört, weiß
von Opfern und ist mit dem Verlust an Heimat konfrontiert worden. Das sind Themen, die unsere gesamte deutsche Nation betreffen.
Nein, wir leiden nicht an Gedächtnisverlust. Das zeigt
auch die politische Debatte, wenn es um existenzielle
Fragen von Krieg und Frieden geht. Politiker berufen
sich oft auf die Grundwerte unserer Bundesrepublik,
sei es bewusst oder unbewusst. Zwei davon möchte ich
nennen.
Der erste lautet: „Nie wieder Krieg“. Damit drücken
wir aus, dass wir Deutschen - gerade weil wir auf unserem eigenen Territorium unmittelbar Kriegsopfer
waren - die Schrecken des Krieges so gut kennen, dass
wir die Verhinderung zukünftiger Kriege als Leitprinzip
unserer Identität annehmen wollen, egal welcher politischen Richtung wir angehören.
Der zweite Grundwert lautet: „Nie wieder Diktatur“. Das demokratisch-freiheitliche Leitprinzip unserer Identität kann freilich zum ersten Leitprinzip insofern
in Widerspruch geraten, als es gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust den Befreiungskrieg
als letztes Mittel - meine Vorredner sprachen davon nicht ausschließt.
Obwohl die eigenen Opfer somit in unserem kollektiven Gedächtnis durchaus gegenwärtig waren und sind,
gibt es dennoch einen guten Grund, dass wir heute darüber diskutieren. Unser kollektives Gedächtnis wandelt
sich mit dem Generationswandel. Wenn wir uns in der
Runde umschauen, stellt sich die Frage: Wie viele von
uns haben den Krieg noch selbst erlebt? Wir haben auch
auf diesem Gebiet der Erinnerungskultur einen Generationswechsel in der gesamten Gesellschaft.
Wenn wir aber nationale Tragödien nicht mehr kraft
persönlicher Erfahrungen, kraft kollektiver Erinnerungen
wahrnehmen können, wird die Erinnerung institutionalisiert, wie es auch bei anderen Ereignissen, zum Beispiel
bei der Ermordung europäischer Juden, vielfältig geschieht. Anderenfalls, wenn wir das nicht machen, droht
in den nächsten Jahren tatsächlich ein Gedächtnisverlust.
Es ist gut, wenn wir um die Toten in anderen Ländern
trauern, die dem Krieg zum Opfer fielen, der von
Deutschland ausging. Aber wir dürfen unsere eigenen
Toten nicht vergessen. Wenn wir auch in Zukunft aus der
Geschichte lernen wollen, müssen wir uns immer auch
dessen vergewissern, was unserem eigenen Volk durch
die Hitlertyrannei widerfahren ist.
Die Erinnerung an die Opfer von Dresden, Hamburg
oder Köln - man könnte viele Städte nennen - zählt zu
unserem nationalen Erbe. Die Stadt Dresden - Frau
Stokar, Sie sprachen davon -, deren historisches Zentrum in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 fast
völlig zerstört worden ist, hat mit dem Wiederaufbau der
Frauenkirche unserer Erinnerungskultur ein eindruckvolles Denkmal gesetzt.
Ich vertrete aber die Meinung, dass diese Erinnerung
nicht nur den Städten und Gemeinden überlassen werden
darf, deswegen unser Antrag. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept vorzulegen. Herr Kollege Otto,
ich gebe Ihnen Recht: Das kann auch der Bundestag sein.
Die Erinnerung soll eine gesamtnationale Aufgabe sein.
Wenn wir uns hier einigen könnten, wäre das eine
gute Sache.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/986 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Präsident Wolfgang Thierse
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Ernst Hinsken, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wassertourismus in Deutschland entwickeln
und stärken
- Drucksache 15/933 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Die Kollegen Annette Faße, Wilhelm Josef Sebastian,
Undine Kurth und Ernst Burgbacher haben ihre Rede-
beiträge zu Protokoll gegeben.1) Damit kann ich die Aus-
sprache schließen.
1) Anlage 2
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/933 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2003,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen einen kühlen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.