Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts
und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({0})
- Drucksachen 15/420, 15/522 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
({2})
- Drucksache 15/538 ({3})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({4})
- Drucksache 15/955 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Hartmut Koschyk
Erwin Marschewski ({5})
Dr. Max Stadler
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 15/957, 15/960 Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Klaus Hagemann
Anja Hajduk
Otto Fricke
Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch
und Petra Pau vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Michael Bürsch von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Alle reden in diesen Tagen vor allem von der Agenda
2010 und der Notwendigkeit sozialer Reformen. Dabei
gerät eine Reform aus dem Blick, die für das soziale Gefüge in der Bundesrepublik und für unsere Entwicklung
in den kommenden Jahrzehnten mindestens so wichtig
ist: die Reform des Zuwanderungsrechts, über die heute
im Bundestag abschließend entschieden werden soll.
Der Frage, der wir uns heute wie vor drei Jahren widmen sollten - das möchte ich Ihnen heute vortragen -,
lautet: Warum brauchen wir ein Zuwanderungsrecht und
was sind die Gründe dafür, dass wir das Zuwanderungsrecht modernisieren wollen?
Ich nenne Ihnen drei Gründe, die schon vor drei Jahren gegolten haben und heute genauso richtig sind wie
zu Beginn unserer Arbeit an diesem Gesetzeswerk:
Erstens. Das geltende deutsche Ausländer- und Zuwanderungsrecht ist zersplittert, unübersichtlich und
zum Teil sehr bürokratisch. Diese Erkenntnis ist nicht
neu und wird vermutlich von allen Fraktionen dieses
Hauses geteilt. Auch die Opposition wird deshalb leicht
zustimmen können. Das Zuwanderungsrecht muss geordnet und gestrafft werden. Im besten Falle wird es so
formuliert, dass auch der normale Mensch versteht, was
mit dem Gesetzeswerk gemeint ist.
({0})
Zweitens - dieser Punkt ist schwieriger -: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das mag politisch
nicht jedem gefallen; aber es lässt sich statistisch sehr
leicht belegen. Fest steht zum Beispiel: In den letzten
40 Jahren sind 32 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen und 24 Millionen Menschen haben
unser Land in dieser Zeit wieder verlassen. Das heißt,
Redetext
Einwanderung findet millionenfach statt und hat millionenfach stattgefunden.
({1})
Das allein kann kein Grund für Hysterie, Angstmacherei
oder gar Horrorvisionen sein.
({2})
In dieser Migrationsbewegung liegt sicherlich eine
große Herausforderung. Wenn man sie aber richtig betrachtet und anschließend eine gute Regelung findet,
liegt darin auch eine Chance. Wenn Deutschland also
klar belegbar ein Einwanderungsland ist, dann tun wir
gut daran, mit dieser Tatsache offen und offensiv umzugehen und die tatsächlich ständig stattfindende Zuwanderung zu steuern und mit den Möglichkeiten der Steuerung sachgerecht zu begrenzen.
Die Behauptung, der vorgelegte Entwurf der Regierungskoalition führe zu massiver Ausweitung der Zuwanderung, ist falsch und wird durch die hundertfache
Wiederholung auch nicht richtig.
({3})
Die Auslegungsregel des § 1 stellt klar und unmissverständlich fest:
Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung
des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik
Deutschland.
({4})
- Das werden Ihnen meine Nachredner, insbesondere der
sehr kundige Innenminister dieses Landes, im Einzelnen
nachweisen, Herr Grindel.
({5})
Dass auch die SPD die Grenzen der Belastbarkeit der
deutschen Gesellschaft kennt und respektiert, hat sie
nicht zuletzt mit dem Asylkompromiss von 1993 bewiesen. Die Wirkungen dieser Regelung sind unübersehbar.
Die Zahl der Asylbewerber ist seit 1993 kontinuierlich
zurückgegangen.
({6})
2002 betrug die Zahl noch rund 70 000. Die Entwicklung in diesem Jahr belegt, dass es wahrscheinlich einen
weiteren Rückgang um 15 Prozent gibt. Niemand ist daran interessiert, die Asylbewerberzahlen wieder steigen
zu lassen. Das wird auch durch dieses Gesetz geregelt.
({7})
Drittens. Für das 21. Jahrhundert brauchen wir ein
modernes Zuwanderungsrecht, das der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung, der Globalisierung, dem Wegfall von Grenzen und der immer höheren Mobilität von
Menschen Rechnung trägt. Dazu hat eine in Deutschland, wie ich meine, allseits anerkannte, objektive Institution schon vor sechs Jahren das Passende gesagt:
Die in Deutschland geltenden legislativen und administrativen Regeln über Einreise und Aufenthalt
von Zuwanderern werden den Anforderungen ...
nicht mehr gerecht. Die gewandelte Stellung
Deutschlands in der Staatenwelt zum Ausgang dieses Jahrhunderts verlangt ... eine Neubestimmung
der Einstellung gegenüber Angehörigen anderer
Staaten. Zur Sicherung der notwendigen Bedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland gehört
es ..., Konsequenzen aus seiner Rolle als Mittelpunkt des Lebens und Arbeitens vieler Nichtdeutscher zu ziehen.
Das Zitat stammt aus dem Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und
Flucht. Das ist, glaube ich, für uns alle eine objektive
Quelle der Erkenntnis.
Was wir nicht brauchen, ist ein defensives Ausländerrecht, das die gesetzlichen Regelungen als Abwehrbollwerk gegen Zuwanderung versteht und missbraucht. Internationale Erfahrungen zeigen, dass dieser defensive
Ansatz auch nicht die erhoffte Wirkung zeigt. Staaten,
die Gesetze über Zuwanderung als Instrumentarium der
Abwehr anlegen, haben mit solcher Strategie in aller Regel keinen Erfolg. Die Migration nimmt damit nicht ab.
Die Vorstellungen der Union, die aus ihren 128 Änderungsanträgen hervorgehen,
({8})
entsprechen genau diesem defensiven Ansatz. Das ist
nicht der Weg für ein modernes Zuwanderungsrecht. Er
wird uns nicht in eine geregelte, gesteuerte und begrenzte Zuwanderung führen.
({9})
Was wir vielmehr brauchen, ist ein offensives Gesetzeskonzept zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, ein Gesamtkonzept, das alle Fragen der Zuwanderung gesamtheitlich regelt, also die Fragen des
humanitären Zuzugs, die Fragen der Arbeitsmigration
und die Fragen der Integration. Genau diese Anforderungen erfüllt der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungskoalition. Er verdient deshalb Zustimmung.
({10})
In den Eckpunkten ist der FDP-Entwurf ebenfalls zustimmungsfähig. Er enthält jedenfalls auch den modernen, offensiven Ansatz, mit Zuwanderung umzugehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mir wünschen, dass die anstehende Entscheidung über das Zuwanderungsrecht frei von Vorurteilen und frei von EmoDr. Michael Bürsch
tionen getroffen wird. Vielmehr sollten Vernunft und
womöglich auch Objektivität die Richtschnur für den
Beschluss bilden. Mit Immanuel Kant könnte man auch
an manchen Oppositionspolitiker gerichtet sagen:
({11})
„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition wird heute mit ihrer Mehrheit hier im Deutschen
Bundestag das rot-grüne Zuwanderungsgesetz verabschieden, verbunden mit der sicheren Gewissheit, dass
dieses Gesetz niemals in Kraft treten wird. Und das ist
auch gut so.
({0})
Für dieses Gesetz zur Ausweitung der Zuwanderung
nach Deutschland haben Sie nur im Bundestag eine
Mehrheit. Es ist zustimmungspflichtig. Sie haben keine
Mehrheit im Bundesrat. Selbst wenn Herr Wowereit Präsident des Bundesrates auf Lebenszeit wäre
({1})
und alle Abstimmungen leiten würde, bekämen Sie dafür
keine Mehrheit.
({2})
Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfes würde in der
Praxis zu einer erheblichen Ausweitung der ohnehin hohen Zuwanderung nach Deutschland führen.
({3})
Das würde die Integrationskraft unseres Landes weit
übersteigen.
({4})
Wir könnten so die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
nicht lösen; im Gegenteil: wir würden sie weiter verschärfen. Wir würden die unübersehbaren Integrationsprobleme, die es in weiten Teilen unseres Landes gibt,
nicht lösen, sondern weiter verschärfen.
({5})
Wir würden - darum geht es Ihnen im Kern - unser Land
zu einem klassischen Einwanderungsland machen.
({6})
- Herr Bürsch, es gab und es gibt Zuwanderung nach
Deutschland und es wird sie auch in Zukunft geben. Das
ist keine Frage. Es muss uns aber darum gehen, ob mehr
Zuwanderung und die Werbung um Zuwanderung den
Interessen unseres Landes dienen. Wir sind kein klassisches Einwanderungsland und können es aufgrund unserer historischen, geographischen und gesellschaftlichen
Gegebenheiten auch nicht werden.
({7})
Für uns ist nicht mehr Zuwanderung, sondern eine
bessere Integration das Gebot der Stunde. Beim Thema
Zuwanderung geht die Koalition viel zu weit, beim
Thema Integration bleibt sie zu weit hinter dem zurück,
was richtigerweise schnell getan werden müsste.
Nun bestreiten Sie, dass dieser Gesetzentwurf zu einer Ausweitung bei der Zuwanderung führen würde. Sie
haben aber keine einzige Gruppe von Ausländern genannt, die nach geltendem Recht kommen, nach zukünftigem Recht aber nicht mehr kommen kann. Das können
Sie auch nicht, Herr Bürsch, weil es eine solche Restriktion in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht gibt.
({8})
Jeder Ausländer, der nach geltendem Recht in die Bundesrepublik Deutschland kommen kann, kann es auch
nach dem künftigen. Es gibt keinerlei Beschränkungen.
Es gibt aber zahlreiche Bestimmungen in dem Gesetzentwurf, die zwangsläufig zu einer Ausweitung der
Zuwanderung nach Deutschland führen würden.
({9})
Erstes Beispiel. Der Anwerbestopp von 1973 soll generell und nicht etwa nur für besonders hoch qualifizierte Fachkräfte aufgehoben werden. Zweites Beispiel.
Hinsichtlich der Ermessensentscheidungen, bei denen
die Behörde entscheiden kann, ob sie eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt oder nicht, heißt es im Gesetz wörtlich - Sie reden immer nur über das Gesetz, aber argumentieren nicht mit dessen Inhalt -:
Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger
eine übergeordnete ausländerpolitische einseitige
Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung
oder der Anwerbestopp.
Da sagen Sie, die Aufhebung des Zuwanderungstopps
führe zu einer Reduktion der Zuwanderung? Das glaubt
Ihnen doch kein Mensch.
({10})
Der Familiennachzug nach Deutschland, der ohnehin schon einen großen Umfang aufweist, wird nicht reduziert, sondern ausgeweitet. Es gelten neue Schutzmechanismen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus
humanitären Gründen. Die Zuwanderung im Rahmen
des so genannten Auswahlverfahrens nach § 20 aus rein
demographischen Gründen zur Erhöhung der Bevölkerungszahl soll ohne Nachweis eines Arbeitsplatzes möglich sein. Und da sagen Sie, das führe zu einer Begrenzung der Zuwanderung?
({11})
Nein, es wird zu einer Ausweitung führen. Deswegen
bekommen Sie unsere Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf nicht.
({12})
Herr Schily wird in seinem Beitrag nachher bestimmt
das Gegenteil behaupten.
({13})
Deshalb möchte ich von einer Veranstaltung beim Evangelischen Stadtkirchenverband in Köln am 28. April berichten. An dieser Veranstaltung habe nicht nur ich teilgenommen, sondern auch der verehrte Kollege Winkler
von den Grünen. Ich zitiere ihn wörtlich:
Mit diesem Gesetz soll die überholte Begrenzungslogik im Ausländerrecht endlich überwunden werden.
({14})
Wer hat Recht, Herr Schily oder Herr Winkler? Jedenfalls können nicht beide gleichzeitig Recht haben. Wissen Sie, wer Recht hat? - Herr Winkler hat Recht, weil
er das Gesetz offensichtlich nicht nur gelesen hat, sondern auch verstanden hat.
({15})
In der gleichen hoch interessanten Veranstaltung hat
die Kollegin Dr. Lale Akgün zum Thema Zuwanderung
im Auswahlverfahren gesagt:
Die Zuwanderung im demographischen Verfahren
ist das Herzstück des Gesetzentwurfes.
Herr Schily sagt, diese Vorschrift könnten wir in den
nächsten acht bis zehn Jahren vergessen, wir wollten
keine Zuwanderung aus demographischen Gründen,
jedenfalls zurzeit nicht. Hierzu folgende Bemerkung: Es
ist ein fundamentaler Unterschied, ob man sagt, das sei
das Herzstück des Gesetzes, oder ob man sagt, man
wolle diese Vorschrift nicht anwenden. Ihre Aussage,
Herr Schily, wir sollten aus demographischen Gründen
zu einer neuen Zuwanderung im Auswahlverfahren
kommen, Sie wollten diese Vorschrift aber acht oder
zehn Jahre lang nicht anwenden - das glauben wir Ihnen
nicht.
({16})
Natürlich haben wir eine demographische Entwicklung mit Besorgnis erregenden Folgen. Wer will das bestreiten? Unserer Überzeugung nach haben wir allerdings nicht die viel zitierte Überalterung der
Gesellschaft, sondern eher eine Unterjüngung.
({17})
Wir haben nicht zu viele ältere Mitbürger, in Deutschland werden zu wenige Kinder geboren.
({18})
Deswegen ist die demographische Entwicklung ein Appell für eine bessere Familienpolitik, sodass Deutschland
ein kinderfreundliches Land wird, und kein Appell für
mehr Zuwanderung nach Deutschland.
({19})
Herr Kollege Bürsch, Sie haben gerade die
Agenda 2010 angesprochen. Ein Blick ins Internet verschlägt einem glatt die Sprache, wenn man sich einmal
anschaut, was die Bundesregierung der Bevölkerung bezüglich der Agenda 2010 dort glauben machen will. Zur
Agenda 2010 heißt es in der offiziellen Verlautbarung
der Bundesregierung: Es gibt in Deutschland 1,5 Millionen offene Stellen, die nicht besetzt werden können.
({20})
Das beeinträchtige die wirtschaftliche Situation unseres
Landes, weswegen wir dieses Zuwanderungsgesetz
bräuchten.
({21})
Die Bundesanstalt für Arbeit weiß von diesen offenen
Stellen allerdings nichts.
({22})
Sie sollten dort die Adressen, unter denen sich diese offenen Stellen befinden, angeben. Die Bundesanstalt für
Arbeit sagt, dass sich 5,3 Millionen Arbeitsuchende darum bemühen, 419 000 freie Stellen zu besetzen. Das
sind taufrische Zahlen; die Druckerschwärze ist noch
nicht trocken.
In welchem Land leben Sie eigentlich? Die Situation
auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist so dramatisch wie
niemals zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Im April
dieses Jahres hatten wir über 400 000 Arbeitslose mehr
als im April des vergangenen Jahres. Jeden Tag - einschließlich Samstag und Sonntag - machen 120 Betriebe
in Deutschland Pleite. Jeden Tag gehen Hunderte von
Arbeitsplätzen verloren. Der Anteil der Ausländer an
den Arbeitslosen ist doppelt so hoch wie ihr Anteil an
der Bevölkerung. Der Anteil der Ausländer an den SoWolfgang Bosbach
zialhilfeempfängern ist dreimal so hoch wie ihr Anteil an
der Bevölkerung.
({23})
In Berlin sind über 40 Prozent der Bevölkerung türkischer Herkunft, die sich im arbeitsfähigen Alter befindet,
arbeitslos. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie diese Probleme mit mehr Zuwanderung oder mit diesem Gesetzentwurf lösen können? Sie werden die Probleme weiter
verschärfen und nicht lösen.
({24})
Herr Schily, Sie sagen, wir müssen uns an dem weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen.
Richtig so!
({25})
Wir würden uns selbst schaden, wenn wir uns nicht darum bemühen würden, weltweit Spitzenkräfte für die
Wirtschaft und für Forschung und Lehre zu gewinnen.
Sie sagen, dass wir dafür dieses Gesetz brauchen.
({26})
Nun zitiere ich jemanden, der jedenfalls für Rot-Grün
unzweifelhaft zitierfähig sein dürfte, nämlich den Innenminister höchstpersönlich. Die „Süddeutsche Zeitung“
erwähnte 1999 ihm gegenüber: „Die Wirtschaft sagt
auch, dass sie Zuwanderer benötigt.“ Schily erwiderte:
Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen so und so
viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein
Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem geltenden Ausländergesetz.
({27})
Herr Schily, Sie haben ja Recht. Sie können Ihre Meinung aber nicht um 180 Grad drehen, sich im Jahre 2003
hier hinstellen, das Gegenteil behaupten und dann von
uns noch verlangen, dass wir diesen Kurswechsel mitmachen.
({28})
Allerdings befinden Sie sich hier in guter Tradition
mit Ihrem Bundeskanzler. 1996 hat er zum Thema Ökosteuer nämlich gesagt:
Wo ist denn der Vorteil für einen ganz konkreten
Betrieb in Deutschland, wenn ich dem sage: Ich
senke dir die Lohnkosten und brumme dir gleichzeitig bei den Energiepreisen ordentlich einen
drauf?
1997 sagte er:
Zwei Mark für den Liter Sprit bringen zwar mehr
Geld in die Kasse, aber die ökologische Lenkungswirkung ist gleich Null … Das kann ich aus sozialen Gründen nicht akzeptieren.
Genau diesen politischen Gesinnungswechsel, diesen
Wechsel der politischen Meinung je nach Opportunität
machen wir nicht mit. Deswegen können Sie unsere Zustimmung für dieses Gesetz nicht erwarten.
({29})
Sie sagen, wir haben 4,5 Millionen registrierte Arbeitslose und können einige Hunderttausend offene Arbeitsstellen nicht besetzen. Das ist für die Betriebe ein
Problem. Wir können die Probleme aber nicht mit mehr
Zuwanderung lösen. Wir müssen vielmehr dafür sorgen,
dass die Anreize erhöht werden, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und in mehr Beschäftigung hineinzugehen. Es muss wieder der schöne Satz gelten:
Derjenige, der den ganzen Monat gearbeitet hat, muss
am Monatsende mehr in der Tasche als derjenige haben,
der eine staatliche Transferleistung bezieht.
({30})
Es muss ein Ende damit haben, dass die Betriebe Arbeitnehmern, die älter als 50 oder 55 Jahre sind, erklären, dass sie leider für den deutschen Arbeitsmarkt nicht
mehr brauchbar seien.
({31})
60 Prozent der Unternehmen in Deutschland beschäftigen keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Wenn dadurch
Lücken im Arbeitsmarkt entstehen, dann können wir
diese nicht durch mehr Zuwanderung nach Deutschland
kompensieren.
({32})
Dieser Gesetzentwurf wird in den Bundesrat eingebracht werden. Dort wird es zu einem Vermittlungsverfahren kommen. Wenn es bei dem bleibt, was die Vertreter von Rot-Grün in den letzten Monaten immer
wieder gesagt haben - redaktionelle Änderungen: ja,
aber keine substanziellen Änderungen an diesem Gesetzentwurf -, wird es die Zustimmung der Union nicht geben. Wir werden keinem Gesetz die Hand reichen, das
zu einer Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland führt.
({33})
Wir wollen nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration. Wir sind der festen Überzeugung, dass dies
auch dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung entspricht.
({34})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzter Kollege Bosbach, auch wir wollen mehr Integration.
Wir wollen Zuwanderung steuern und begrenzen. Zuwanderung findet auch unter dem jetzt geltenden Ausländerrecht statt. Aber die Art, wie wir die Zuwanderung
steuern, ist einfach nicht effizient. Wir müssen jenseits
des humanitären Aspekts dafür sorgen, dass die Menschen zu uns kommen, die wir für unseren Arbeitsmarkt
tatsächlich brauchen.
Hierfür brauchen wir Steuerungsinstrumente, die
differenziert gehandhabt und mit denen je nach Bedarf
die Tore weiter geöffnet oder geschlossen werden können. Das leistet das Zuwanderungsgesetz. Mit diesem
Gesetzentwurf wird durch die Steuerung der Zuwanderung dem nationalen Bedarf an Arbeitskräften Rechnung
getragen.
Der Mythos, wir bräuchten keine Zuwanderung mehr,
hilft nicht weiter. Bislang gilt die Ausnahmeverordnung
zum Anwerbestopp. Das Ergebnis ist, dass die Zuwanderungsrate in manchen Jahren sehr hoch ist. Es ist besser,
zu einem gesellschaftlichen Phänomen Ja zu sagen, als
diesen Mythos weiterhin zu verbreiten. Wir müssen den
Stier bei den Hörnern packen und ihn in die richtige
Richtung lenken.
({0})
Ich gestehe Ihnen gerne zu: Dies ist ein Gesetz zur
Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Es ist
kein Zuwanderungsverhinderungsgesetz. Dies wollen
wir auch nicht. Wir wollen die Zuwanderung, die aus
vielfältigen Gründen erfolgt, steuern. Das leisten wir mit
diesem Gesetzentwurf angemessen und differenziert.
Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem Zuwanderung im großen Stil stattfindet. Herr Bürsch hat
die Zahlen genannt. Es finden gleichermaßen Zuwanderung und Abwanderung statt. Im Saldo hatten wir in den
letzten 40 Jahren 12 Millionen mehr Zuwanderer als Abwanderer. Insgesamt betrug die Zahl der Zuwanderer
32 Millionen. Hätten wir diese nicht gehabt, hätte die
Zahl von 20 Millionen Abwanderern zu erheblichen demographischen Verwerfungen geführt. Wir verabschieden uns jetzt von den Mythen des deutschen Ausländerrechts. Das jetzt geltende Ausländerrecht ist als
Abwehrinstrument und nicht als Instrument der Steuerung geplant.
Mit dem Zuwanderungsgesetz erreichen wir eine effiziente und vernünftige Steuerung der Arbeitsmigration.
Wir regeln die Aspekte der Integration. In diesem
Punkt, Herr Bosbach, können Sie sich von der Union
nicht aufblasen. Sie haben in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit die Notwendigkeit einer Regelung der Integration von Ausländerinnen und Ausländern verschlafen.
({1})
Die von Ihnen beklagte hohe Arbeitslosigkeit bei Ausländern ist darauf zurückzuführen, dass Sie sie von Integrationsmaßnahmen ausgeschlossen und die Grundlage
für entsprechende Weiterqualifizierungen nicht gelegt
haben.
({2})
Sie verbreiten hier den Mythos, wir sagten mit dem
Zuwanderungsgesetz: „Nun kommt doch alle her nach
Deutschland, die Tore sind offen!“ Sie wissen, dass das
Unsinn ist.
Wenn Sie sich einmal die Mühe machen würden, ins
Gesetz zu schauen - es ist ja schon lange genug gedruckt -,
({3})
dann könnten Sie sehen: Was den § 20, Zuwanderung
im Auswahlverfahren, angeht, den Sie zitiert haben,
haben Sie einfach Unrecht. Bundesregierung, Bundestag
und Bundesrat müssen sich Jahr für Jahr darauf verständigen, nach welchen Kriterien Zuwanderung im Auswahlverfahren stattfindet und wie hoch die Gesamtquote
sein soll. Wenn es hierüber keine Verständigung zwischen den Häusern gibt, dann findet in dem jeweiligen
Jahr Zuwanderung nach dem Auswahlverfahren überhaupt nicht statt. Sie wissen - der Innenminister hat das
immer wieder betont -, dass die Koalition überhaupt
nicht daran denkt, vor dem Jahr 2010 von diesem Instrument Gebrauch zu machen.
({4})
- Es ist doch keine Reform, wenn in einem Gesetz gerade einmal Regelungen für das nächste und das übernächste Jahr enthalten sind.
({5})
Es bedarf eines Gesetzes aus einem Guss, das die Probleme löst, mit dem man für die verschiedenen gesellschaftlichen, demographischen und wirtschaftlichen
Situationen gewappnet ist und die entsprechenden Steuerungsinstrumente in der Hand hat.
Herr Kollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bosbach?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Bosbach.
Lieber Herr Kollege Beck, sind Sie wenigstens bereit,
mir zuzustimmen, dass das, was Sie gerade über den
§ 20 gesagt haben - ich habe das Gesetz hier vor mir liegen -, schlicht falsch ist? Jedenfalls steht das so nicht im
Gesetz. Die Beteiligung des Bundesrates bezieht sich
ausdrücklich und ausschließlich auf den Kriterienkatalog - Alter des Zuwanderungsbewerbers, Familienstand,
Sprachkenntnisse -, nicht aber auf die Zahl.
({0})
Hinsichtlich der Zahl ist lediglich das neue Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen. Das heißt,
Sie brauchen nur ein einziges Mal die Zustimmung des
Bundesrates, nämlich bei der Erstellung des Kriterienkataloges, und dann hat die Bundesregierung Pleinpouvoir,
sie kann mit diesem § 20 Zuwanderung organisieren,
wie sie möchte.
Herr Bosbach, würden Sie mir im Gegenzug zugestehen - ich weiß, Sie dürfen mir nicht antworten; aber
vielleicht sagen Sie es mir nachher -, dass das, was Sie
hier vortragen, nicht ganz logisch ist?
({0})
- Vielleicht hören Sie noch auf meine Antwort.
Wenn der Bundesrat, weil er mit der Quote nicht einverstanden ist, die Zustimmung beim Kriterienkatalog
verweigert, dann gibt es in dem jeweiligen Jahr keine
Verständigung über die gesetzlichen Voraussetzungen einer Zuwanderung nach dem Auswahlverfahren und dann
tritt eben das ein, was ich hier geschildert habe: In dem
jeweiligen Jahr findet keine Zuwanderung nach dem
Auswahlverfahren statt.
({1})
Der Bundesrat hat so ein faktisches Vetorecht. Deshalb
muss man sich vorher mit der jeweiligen Mehrheit des
Bundesrates über die Höhe der Gesamtquote verständigen. Ansonsten funktioniert der Mechanismus nach diesem Gesetz nicht. Solange Sie im Bundesrat noch über
die Mehrheit verfügen, können Sie sicher sein, dass ohne
Ihre Zustimmung in diesem Bereich nichts läuft. Sie
können also alle ruhig schlafen.
({2})
Deshalb ist Gelassenheit und nicht Panikmache angesagt.
({3})
Ihren Beitrag zu diesem Gesetz hat der Kollege
Stadler im Innenausschuss - das möchte ich ausdrücklich betonen - richtig beschrieben: Dieses Gesetz ist kein
rot-grünes Gesetz, sondern ein überparteilicher Kompromiss.
({4})
Leider sind Sie nicht bereit, zu würdigen, dass Teile dieses Gesetzes aus Ihrer Feder stammen. Mehr als
40 Punkte
({5})
entsprechen den Vorstellungen der Union und der Mehrheit des Bundesrates, weil wir sie im Rahmen der Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz in den Entwurf
übernommen haben. Wir haben uns nicht nur an den Ergebnissen der Zuwanderungskommission der Bundesregierung - der bekanntlich eine CDU-Politikerin vorstand - orientiert, sondern auch an den Vorstellungen des
Kollegen Müller, auch wenn sich dieser zwischenzeitlich
davon distanziert hat.
Ihr Vorgehen heute hier und im Innenausschuss zeigt:
Die Union ist weder willens noch in der Lage, im Deutschen Bundestag über dieses Gesetz zu verhandeln.
Stattdessen haben Sie versucht, Ihre Position mit
128 Änderungsanträgen zu markieren. Angesichts der
Tatsache, dass diese 128 Änderungsanträge, die Sie vorgelegt haben, noch nicht einmal in den unionsgeführten
Bundesländern mehrheitsfähig waren, kommt das einer
Fundamentalopposition gleich.
Sie signalisieren damit, dass Sie keine Einigung wollen, weil Sie Ihr parteitaktisches Süppchen mit der Zuwanderung kochen wollen. Es ist auch ein Armutszeugnis für die Kollegin Merkel. Ganz offensichtlich hat sie
bei der Zuwanderungsfrage in der Union kein Verhandlungsmandat.
({6})
Hier haben offensichtlich die Kollegen Stoiber und
Koch den Hut auf. Sonst hätten Sie sich doch im Bundestag zu Verhandlungen bereit finden können, anstatt
sich mit den 128 Anträgen zu verweigern.
({7})
- Sie hätten mit Herrn Schily und den beiden Koalitionsfraktionen verhandeln können, statt Ihre Anträge aus
dem Bundesrat hier sogar noch in verschärfter Form vorzulegen.
Sie wollen - das machen Sie in Ihren Anträgen deutlich - an einem verstaubten Ausländerrecht festhalten.
Es geht Ihnen in Wirklichkeit um Abschottung und die
Verhinderung von Zuwanderung. Wer Arbeitsmigration
de facto gar nicht will, dem geht es auch nicht wirklich
um das wirtschaftliche Wohl unseres Landes.
Wir haben die entsprechenden Stellungnahmen der
Wirtschaft. Arbeitswissenschaftler rechnen damit, dass
wir bis zum Jahr 2015 einen Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskräften von sieben Millionen Erwerbstätigen haben werden, auch wenn wir aktuell noch eine
hohe Arbeitslosigkeit haben. Wer da nicht vorbeugt und
Volker Beck ({8})
nicht dafür sorgt, dass wir dies vernünftig gestalten, der
schadet der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir haben es bei der Greencard gesehen: Die jetzigen Regelungen, die wir hoch qualifizierten Zuwanderern anbieten
können, sind eben nicht attraktiv.
({9})
Im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe
ziehen wir den Kürzeren, weil die Zuwanderungsvoraussetzungen in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien wesentlich attraktiver sind als das,
was wir im deutschen Ausländerrecht anbieten können.
Im humanitären Teil des Gesetzes zeigt die Union ihr
wahres Gesicht. Sie wollen den integrationshemmenden
Status der Duldung beibehalten. Sie wollen die Voraussetzung für die Erteilung des menschenrechtlichen
Schutzstatus so weit verschärfen, dass ihn praktisch niemand mehr in Anspruch nehmen kann. Sie wollen diesen
Menschen auch jegliche Aufenthaltsverfestigung nehmen. Sie wollen den Ehegattennachzug verschärfen und
Ausweisungen erleichtern. Beim Kindernachzug begeben Sie sich europaweit mit Ihrer Forderung, den Nachzug von Kindern nur bis zum zehnten Lebensjahr zu erlauben, in die völlige Isolation. Es ist schon bezeichnend,
dass die familienfreundliche Union das Kindeswohl aus
dem Ausländergesetz streichen will.
({10})
Diese Änderungsanträge sind eine Kampfansage und
alles andere als ein Versuch, sich mit den Koalitionsparteien und auch mit der FDP auf einen vernünftigen Kompromiss zu einigen. Sie haben sogar noch eins draufgesattelt gegenüber den Anträgen, die Sie im ersten
Durchgang dieses Gesetzes eingebracht haben. Sie wollen das Geburtsrecht im Staatsbürgerschaftsrecht wieder
kippen, wo wir doch wissen, dass es ganz entscheidend
für die Integration jüngerer Migrantenkinder ist, dass sie
von Anfang an nach der Geburt als Staatsbürger in diesem Land willkommen geheißen werden, hier integriert
werden
({11})
und wissen, dass sie zu dem Land gehören, in dem sie
geboren sind, und dass sie gleiche Rechte und gleiche
Pflichten wie jeder andere haben. Hier zeigt sich: Ihnen
liegt an der Integration, die Sie so gerne im Munde führen, überhaupt nichts. Sie leisten auch mit Ihren Beiträgen zu der Zuwanderungsdebatte einen Beitrag zur Desintegration, wenn Sie Ausländer immer nur im
Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen oder mit
Abzocken von Sozialkassen in Verbindung bringen. Sie
müssen zu einem anderen Diskussionsstil kommen.
Herr Kollege Beck, kommen Sie bitte zum Schluss.
Zum Schluss: Wir sind im Vermittlungsausschuss mit
Ihnen und den B-Ländern zu ernsthaften Gesprächen
und auch zu Kompromissen bereit. Aber eines ist klar:
Für uns ist das Kriterium der Zustimmung zu einem
Kompromiss, dass es eine Modernisierung des deutschen Ausländerrechts gibt und dass das Gesetz, das
dann beschlossen wird, besser als der jetzige Rechtszustand ist.
Herr Kollege Beck!
Wenn wir Ihren Vorschlägen folgen würden, dann
würde es zu einer Verschlechterung kommen. Dem werden wir nicht die Hand reichen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, man greift nicht zu hoch mit der Feststellung, der Deutsche Bundestag hätte heute die Chance
zu einem historischen Kompromiss, um den seit einem
Jahr andauernden Streit um das Zuwanderungsgesetz zu
beenden. Deutschland braucht in seinem eigenen Interesse ein Gesamtkonzept, um die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen und um die Integration zu fördern.
({0})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat basierend auf Vorarbeiten aus Baden-Württemberg einen, wie wir meinen,
allseits akzeptablen Kompromissvorschlag vorgelegt. Es
wäre schade, wenn der Deutsche Bundestag heute seine
Chance versäumen würde, sich auf diesen Kompromiss
zu einigen.
({1})
Nach drei Jahren öffentlicher Debatte birgt eine solche Aussprache wie die heutige die Gefahr, dass nur altbekannte Argumente wiederholt werden. Ich meine aber,
dass die Einwände, die die Union heute noch einmal geltend gemacht hat - der Kollege Bosbach hat sie eben
vorgebracht -, durchaus ernst zu nehmen sind.
Auch wir, die wir ein Zuwanderungsgesetz befürworten, stellen uns die Frage, ob die Bedingungen für ein
solches Gesetz jetzt noch dieselben sind wie vor zwei
Jahren, als die Süssmuth-Kommission ihren Bericht vorgelegt hat, oder vor einem halben Jahr. Denn der
Arbeitsmarkt hat sich inzwischen geändert; er ändert
sich aufgrund der verfehlten rot-grünen Wirtschaftspolitik leider zum Schlechteren.
Daher ist die auch von der Bevölkerung gestellte
Frage berechtigt, ob bei mehr als 4 Millionen Arbeitslosen noch eine Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt vertretbar ist. Wir glauben aber, dass diese Frage
zu bejahen ist. Wir meinen sogar, dass es dringend notwendig ist, die Zuwanderung - die ohnehin stattfindet zu steuern.
({2})
Die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes hängt
nicht vom Monats- oder Quartalsbericht der Bundesanstalt für Arbeit ab. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage - darin besteht der Unterschied zur derzeitigen Praxis der Ausnahmeverordnungen - nicht für eine
Situation des Augenblicks; vielmehr streben wir mit diesem Gesetz eine Grundlage für die gesamte weitere Zuwanderungspolitik der Bundesrepublik Deutschland auf
längere Dauer an. Dieses Gesetz soll sozusagen zum
Grundgesetz für die deutsche Migrationspolitik werden.
Deswegen macht es nach wie vor Sinn.
({3})
Im Übrigen - das ist der wichtigste Punkt, den es herauszustellen gilt - bedeutet ein Zuwanderungsgesetz
nicht automatisch mehr Zuwanderung. Es geht um zwei
völlig verschiedene Fragen. Ob wir mehr Zuwanderung
nach Deutschland brauchen, ist aufgrund der Situation
auf dem Arbeitsmarkt von Zeit zu Zeit unterschiedlich
zu beantworten. Hier geht es aber auch um die Frage, ob
wir ein Gesetz brauchen, das die Zuwanderung steuert.
Wir Freie Demokraten meinen, dass ein solches Gesetz
nach wie vor notwendig ist.
Wir schlagen Ihnen einen Mechanismus vor, der alle
Bedenken aufgreift, indem wir Ihnen anbieten, die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt und aus humanitären
Gründen nach einer Jahreshöchstquote zu gestalten.
Damit hätten wir als Politiker es in der Hand, die jeweilige aktuelle Situation zu beurteilen und die Quote gegebenenfalls auf Null festzusetzen. Insofern sind die zum
Ausdruck gebrachten Sorgen unbegründet und es ist und
bleibt vernünftig, in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig zu werden.
({4})
Lassen Sie mich nun auf einen weiteren Punkt zu
sprechen kommen. Nachdem wir in früheren Debatten
darauf hingewiesen haben, dass bei der CDU/CSU Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen, indem sie
sich zum Beispiel hier gegen das Zuwanderungsgesetz
ausspricht, aber in Bayern Pflegekräfte aus der Slowakei
und Kroatien anwirbt,
({5})
hat die Union ihre Argumentation jetzt geändert und vorgebracht, es sei zwar richtig, dass in manchen Bereichen
ausländische Arbeitskräfte benötigt würden; dies könne
jedoch über Ausnahmeverordnungen geregelt werden.
({6})
Nun komme ich zu dem entscheidenden Punkt. Notwendig ist nicht der alte Flickenteppich von Ausnahmeverordnungen;
({7})
notwendig ist vielmehr ein Gesamtkonzept, weil alle
drei Bereiche eng miteinander verzahnt sind: Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, Zuwanderung aus humanitären Gründen und Integration. Alle drei Bereiche gehören
zusammen.
({8})
Ich möchte Ihnen das an den Vorschlägen deutlich
machen, die die FDP dazu gemacht hat. Wir meinen
- das kann niemand bestreiten -, dass es eine Fehlsteuerung im Asylrecht gegeben hat. Viele versuchen nämlich, sich über das Asylrecht Zugang zu Deutschland zu
verschaffen, obwohl sie keine Chance haben, jemals anerkannt zu werden. Wenn man diesen Menschen eine legale Zuwanderungsmöglichkeit - ich gebe zu: in begrenztem Umfang; denn die Zahlen würden etwas
anderes nicht zulassen - bietet und wenn man zugleich
festlegt, dass diejenigen, die sich zu Unrecht auf ein
nicht mehr bestehendes Asylrecht berufen, von der legalen Möglichkeit der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt
ausgeschlossen werden, dann wird dieser Steuerungsmechanismus dazu führen, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte nicht mehr mit einer solchen Vielzahl von
Asylverfahren, die im Endeffekt aussichtslos sind, belastet werden wie jetzt.
({9})
Ich möchte Ihnen die Verzahnung noch an einem
zweiten Beispiel deutlich machen. Wenn man ein Gesamtkonzept für die Integration entwickelt, dann hat
man die Möglichkeit, mehr Angebote als bisher zu machen, aber auch mehr Anforderungen an diejenigen zu
stellen, die nach Deutschland kommen, und zwar unter
anderem dadurch, dass man die Teilnahme an Deutschkursen und an Integrationskursen zum entscheidenden
Kriterium für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung macht. Das ist nicht unzumutbar, sondern eine
sinnvolle Steuerung und zeigt erneut, dass wir eine Verknüpfung aller Elemente brauchen.
Der gescheiterte Gesetzentwurf war nur formal ein
rot-grüner. Die FDP hat in den Verhandlungen mit Minister Schily etliche ihrer Vorstellungen in den Gesetzentwurf einbringen können. Deswegen hat ja RheinlandPfalz im Bundesrat zugestimmt. Aber wir werden heute
nicht zustimmen, sondern uns enthalten;
({10})
denn Sie haben den gescheiterten Gesetzentwurf erneut
unverändert eingebracht, obwohl er nicht mehr dem aktuellen Stand der Diskussion entspricht.
({11})
Die weitere Diskussion hat nämlich ergeben, dass ein
Zuwanderungsgesetz mehr Maßnahmen für die Integration derjenigen vorsehen muss, die schon hier sind. Hier
treffen sich unsere Vorstellungen mit denen der Union.
({12})
Wir brauchen die so genannte nachholende Integration
({13})
und müssen besonders im Blick behalten, dass die jetzige Generation der Spätaussiedler im Gegensatz zu denjenigen, die Anfang der 90er-Jahre gekommen sind, aufgrund fehlender Sprachkenntnisse große Probleme hat,
in den Arbeitsmarkt und in das Sozialgefüge integriert
zu werden.
({14})
Daher gehen die Integrationsangebote der FDP - ich betone: mit entsprechenden Verpflichtungen betreffend die
Migrantinnen und Migranten - weiter als das, was Ihr
Gesetzentwurf vorsieht. Aber alles muss seriös finanzierbar sein. Die Angebote, die die Union in ihren Änderungsanträgen macht, sind zeitlich unbegrenzt. Das geht
nicht; denn das können die Kommunen auf keinen Fall
mehr finanzieren. Auch wenn wir einen eigenen Beitrag
von den Migrantinnen und Migranten verlangen, meinen
wir, dass sich die nachholende Integration auf diejenigen
beziehen sollte, die in den letzten fünf Jahren nach
Deutschland gekommen sind.
Sie sehen also, dass wir Kompromissangebote in unsere Vorschläge eingearbeitet haben, die dem neuesten
Stand der Diskussion entsprechen und die vor allem
auch ein Angebot an die Union sind. Die Tatsache, dass
Sie 128 Änderungsanträge gestellt haben, kann als ein
hohes Pokern verstanden werden, um im Vermittlungsausschuss möglichst viel von den eigenen Vorstellungen
durchzusetzen. Das wäre noch verständlich. Aber wir
haben nach der vorangegangenen Rede des Kollegen
Bosbach den Eindruck, dass es Ihnen gar nicht um einen
Kompromiss geht, sondern dass Sie ein Zuwanderungsgesetz generell ablehnen, obwohl es dringend notwendig
wäre.
({15})
Deswegen hoffen wir, dass diejenigen aus Kirche und
Wirtschaft, die Einfluss auf Sie haben und auf deren
Wort Sie hören, Sie doch noch eines Besseren belehren.
Zum Schluss möchte ich noch folgendes Grundsätzliche anmerken: Ein solches Gesetzesvorhaben löst bei
der Bevölkerung zunächst Ängste und Besorgnisse aus,
beispielsweise Besorgnis darüber, dass es mehr Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geben wird - und das, obwohl Inländer bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes
Vorrang haben -, und Besorgnis darüber, dass die sozialen Systeme überlastet werden. Man kann den Weg gehen, diese Besorgnisse aufzugreifen - das ist ehrenhaft und ihnen nachzugeben, das ist die Politik der Union.
Politische Führung heißt für mich aber, solche Besorgnisse ernst zu nehmen und daraus vernünftige Lösungen
zu entwickeln. Das ist die Politik der FDP.
Wir bieten Ihnen noch einmal an, die Brücke zu betreten, die wir Ihnen mit unserem Gesetzeskompromiss
vorschlagen.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Cornelie SonntagWolgast von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Selten ist ein Gesetz von der CDU/CSU so mutwillig, so
anhaltend und so absichtsvoll fehlgedeutet worden wie
dieses. Leider hat der Kollege Bosbach dafür heute wieder ein unrühmliches Beispiel geliefert.
({0})
Wenn es nur um reine Sachfragen ginge, dann könnte
man sagen: Zuspitzung ist nun einmal ein Mittel der Opposition. Bei diesem Gesetz geht es aber um das künftige
Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Traditionen, Kulturen und Glaubensgemeinschaften. Dem
Ziel, dass sie friedlich und in gegenseitigem Respekt
miteinander leben, nützt dieses Zerrbild wahrhaftig
nicht. Deswegen richte ich die dringende Bitte an Sie,
diesen Gesetzestext endlich realistisch zur Kenntnis zu
nehmen.
({1})
Sie wollen den Bürgern seit Monaten einreden, diese
Bundesregierung habe nichts Eiligeres zu tun, als möglichst viele Menschen in dieses Land zu holen. Das ist
kein Irrtum, sondern geplante Irreführung.
({2})
Gestatten Sie mir folgende Randbemerkung: Ich kann
mir angesichts des Elendsbildes, das Sie im Moment von
der Bundesrepublik zeichnen, eigentlich gar nicht vorstellen, dass noch irgendein Ausländer
({3})
ein Interesse daran hat, seinen Fuß in dieses Land zu setzen. Leider spielen Sie mit dem Mittel der Verzerrung.
Jeder, der sich ohne Scheuklappen - ich betone: ohne
Scheuklappen - mit diesem Gesetz befasst, erkennt:
Arbeitsmigration wird gerade dadurch beherrschbar,
dass man sie steuert und politisch gestaltet. Jeder weiß
auch darum, dass Deutsche und EU-Bürger nach diesem
Gesetz bei der Arbeitsvermittlung weiterhin Vorrang haben und dass die Auswahlverfahren überhaupt erst in einigen Jahren zum Zuge kommen, wenn die Überalterung
bzw. die „Unterjüngung“ - so lautet der neue Begriff der Gesellschaft ihre ersten deutlichen Spuren auf dem
Arbeitsmarkt hinterlässt.
Jeder kennt auch die Funktion des Sachverständigenrates, der ebenfalls ein Wort mitzureden hat. Jeder merkt,
wodurch dieses Gesetz die Einwanderung zugleich begrenzt - Herr Kollege Grindel, nun können Sie noch etwas dazulernen -: durch die Beschleunigung der Asylverfahren; durch die konsequentere Abschiebung, wo
dies rechtsstaatlich vertretbar ist; durch die Senkung des
Kindernachzugsalters; durch erhöhte Anforderungen an
die Sprachkenntnisse mitreisender Familienangehöriger
von Spätaussiedlern, übrigens eine der im Moment problematischsten Zuwanderungsgruppen.
Durch unser Gesetz wird Zuwanderern ein realistisches Angebot gemacht. Es zeigt Möglichkeiten, aber
auch Hürden für die Zuwanderung zwecks Arbeitsaufnahme. Dieses Gesetz enthält Anforderungen an die
Neuankömmlinge, zeigt aber auch den hier Lebenden,
wie man sich aufeinander einlassen, aufeinander zubewegen kann. Es unterscheidet schärfer zwischen abgelehnten Asylbewerbern, die nicht ins Heimatland zurückkehren können, und denen, die es nicht wollen. Es
vereinfacht die komplizierten ausländerrechtlichen Regelungen und es reduziert die zahlreichen schwer verständlichen Aufenthaltstitel. Vor allem aber bekennt sich
der Staat endlich, nach mehr als vier Jahrzehnten Migration, zu seiner Aufgabe, die Integration hier mitzugestalten und zu fördern. Das ist ein epochaler Schritt.
({4})
Das Grundkonzept der Integration - das ist Kernidee
des gesamten Gesetzes - geht aber weit über Eingliederung und Sprachvermittlung hinaus - es gehört nämlich
alles zusammen; Kollege Stadler hat es eben verdeutlicht -, weil wir einerseits unsere humanistischen Verpflichtungen deutlicher umreißen und weil wir andererseits Zuwanderung mit modernen und flexiblen Methoden steuern und dabei - dies war im bisherigen Recht
nicht der Fall - unsere eigenen Interessen beim Namen
nennen. Deshalb macht es keinen Sinn, etwa den - vielleicht am wenigsten strittigen - Integrationsteil herauszulösen und alle anderen Reformteile fallen zu lassen.
Das Zuwanderungsgesetz der Bundesregierung und
der sie tragenden Koalition ist - das wissen Sie sehr
wohl - in seiner jetzigen Form auf Konsens ausgerichtet:
Es schlägt Brücken auch zur Union - wie wir eben hörten, auch zur FDP - in Bund und Ländern.
({5})
Es versöhnt endlich politisches Handeln mit der Wirklichkeit der heutigen Migration. Es zeigt Perspektiven
und Optionen für morgen. Das Konzept der CDU/CSU
jedoch, wie es sich in Ihren 128 Änderungsanträgen
widerspiegelt, beschwört den Geist von gestern. Sie werden von uns nicht verlangen, dass wir diesem Weg folgen.
({6})
Wer, Herr Kollege Marschewski, soll eigentlich nachvollziehen, warum Sie hoch qualifizierten Arbeitskräften, wenn wir sie hier brauchen können, wieder nur einen befristeten Aufenthalt - das war ja ein Kritikpunkt
bei der Greencard-Regelung - erlauben wollen? Warum
sollen Migrantenkinder wieder Schwierigkeiten bei der
Einbürgerung bekommen? Warum sollen ausländische
Ehefrauen wieder vier statt zwei Jahre auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht warten müssen und etwa bei einer
gescheiterten Beziehung Prügel und Schikanen einstecken müssen? Warum um alles in der Welt wollen Sie
Frauen und Mädchen, die aus Angst vor der Beschneidung zum Beispiel hierher geflüchtet sind, nicht wenigstens befristet eine verlässliche Lebensperspektive gewähren?
({7})
Über diese Art des Umgangs mit der geschlechtsspezifischen Verfolgung schütteln fast alle europäischen Partnerstaaten den Kopf. Sie erweisen sich in der Asyl- und
Flüchtlingspolitik ja überhaupt als europauntauglich.
({8})
Reformen sollen den Menschen zukunftsfähige Lösungen anbieten und ihnen auch die Angst vor Unbekanntem und vor Unwägbarem nehmen. Weil der Prozess der gegenseitigen Annäherung wirklich kein
Spaziergang ist, weil Umdenkprozesse Zeit und Überzeugungskraft brauchen, weil wir Migration eben nicht
nur geschehen lassen, sondern gestalten wollen, ist das
Gesetz jetzt wichtig; das erkennt die FDP dankenswerterweise auch an.
Die gesamte Migration in all ihren Facetten als Drohkulisse aufzubauen, wie Sie es tun, ist falsch und schädlich. Akzeptanz ist schon wichtig - ich weiß, wovon ich
rede -, aber Akzeptanz ist dehnbar und hängt sehr davon
ab, wie man über das Thema redet, welche Worte und
welche Argumente man benutzt.
({9})
Ihr neues Bedrohungsgemälde ist der angebliche
Migrationsdruck durch die EU-Erweiterung. Natürlich
schafft sie Probleme, aber sie schafft eben auch
Chancen. Deswegen möchte ich jemanden zitieren, der
sich auskennt, nämlich den EU-Kommissar Günter
Verheugen. Er weist auf Folgendes hin:
Derzeit verweilen mehr Deutsche in der Tschechischen Republik als Tschechen in Deutschland. Die
Frage einer rechtlichen Regelung der Zuwanderung
ist also weit wichtiger als Spekulationen über ihr
dramatisches Ausmaß.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir eine
Schlussbemerkung. Seit ich mich mit Ausländerpolitik
befasse, stört mich die scharfe Polarisierung in dieser
Frage, diese Teilung in zwei große Lager: hier die so genannten Gutmenschen, die praktisch jeden Ausländer in
Watte packen, und dort die Scharfmacher, die der Abschottung das Wort reden. Das Zuwanderungsgesetz
schafft nun endlich eine Möglichkeit, sich mit beiden
Lagern auseinander zu setzen und Brücken zu schlagen.
Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und Migrationsforscher begrüßen es - nicht ohne Kritik, aber immerhin
alle doch mit dem Votum: Das ist der richtige Weg. Die
Probleme der Migration werden nicht verkleistert. Es
bringt uns insgesamt voran.
Wenn Sie die Gesellschaft jetzt wieder spalten, dann
leisten Sie dieser Entwicklung einen Bärendienst. Ich
kann Sie und uns alle vor dieser Strategie nur warnen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Erwin Marschewski
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer sagt, das Problem ungesteuerter Zuwanderung lösen zu wollen, und wer weiß, dass er dazu die Zustimmung der Union benötigt, und wer dennoch den vor
dem Bundesverfassungsgericht gescheiterten Gesetzentwurf Wort für Wort wieder einbringt, ohne der Union
auch nur ein Jota entgegenzukommen, der beweist keinen ernsthaften Willen zur Lösung dieses Problems.
({0})
Er will wohl keinen Kompromiss, Herr Kollege; sonst
wären die 128 Anträge der Union nicht samt und sonders
abgelehnt worden.
({1})
Deswegen hat die „FAZ“ Recht, Herr Bundesinnenminister: Es war unverantwortlich, das Zuwanderungsgesetz im Bundestag mit einfacher Koalitionsmehrheit
zu verabschieden. Es war geradezu verwerflich - so
schreibt die „FAZ“ -, es mit Brachialgewalt - verfassungswidrig - durch den Bundesrat zu drücken.
({2})
Gesetze von dieser Tragweite, meine Damen und
Herren, brauchen eine Mehrheit, die einen Regierungswechsel überdauert, Herr Bundesinnenminister.
({3})
- Wir stimmen gerne zu, aber das Gesetz muss dann,
Herr Kollege, auch wirklich eine Regelung zur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung zum Inhalt haben, was beim vorliegenden leider nicht der Fall ist. Dieses Gesetz führt zu mehr Einwanderung. Die Zuwanderung wird nicht begrenzt und die Integration - zumindest da sind wir uns doch einig, Kollege Bürsch und
Kollege Stadler - wird nicht hinreichend geregelt.
({4})
Dies steht, meine Damen und Herren, in krassem Widerspruch zur Position der Union. Deswegen können wir Ihren Gesetzentwurf so nicht akzeptieren.
Zunächst einmal wäre ein einheitliches Gesamtpaket
arbeitsmarktpolitischer Leistungen sowie familien- und
sozialpolitischer Maßnahmen nötig, denn zur Bewältigung der demographischen Probleme bedarf es solcher
Maßnahmen in der Familien- und Bildungspolitik sowie
der Ausschöpfung vorhandener Erwerbspotenziale. Da
sind wir uns doch einig: Zuwanderung allein löst die
Probleme nicht.
Ihr Gesetzentwurf, Herr Bundesinnenminister, bietet
keine sachgerechten Lösungen für die Arbeitsmigration. Es ist doch nicht verantwortbar - Herr Kollege
Bosbach hat es zu Recht gesagt -, bei so vielen Arbeitslosen in Deutschland die Arbeitsmigration in allen, auch
den einfachen Arbeitsmarktsegmenten zuzulassen, ohne
Bundesrat und Bundestag zu befragen.
Herr Kollege Beck, Sie haben übrigens Unrecht, der
vorgeschlagene § 20 des Aufenthaltsgesetzes sieht nicht
vor, dass bezüglich der Zahl Bundestag oder Bundesrat
gefragt werden müssen. Sie haben leider nicht zugegeben, dass Sie sich da geirrt haben. Es ist keine überregionale Steuerung vorgesehen, sondern nur eine durch den
jeweiligen Arbeitsausschuss der 181 Arbeitsämter in
diesem Lande.
Meine Damen und Herren, es ist gut bekannt, dass aus
Gastarbeitern, die dabei helfen sollten, vorübergehende
Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, Millionen „Daueranwesende“ - „FAZ“ -, verteilt über mehrere
Generationen, geworden sind und davon heute mehr als
eine halbe Million arbeitslos sind. Vor diesem Hintergrund ist es doch einfach nicht verständlich, wenn Sie
den Anwerbestopp aufheben.
({5})
- Herr Kollege, zu Zeiten Willy Brandts waren nur
0,8 Prozent der Ausländer arbeitslos, heute sind es über
20 Prozent. Doch Sie heben den Anwerbestopp auf. Das
kann doch nicht richtig sein!
({6})
Nein, meine Damen und Herren, auch die Sprecher
der Wirtschaft - ich sage dies hier ausdrücklich - kommen an diesen Tatsachen nicht vorbei. Tatsache ist eben,
dass eine generelle Einwanderung von Arbeitskräften
Erwin Marschewski ({7})
zurzeit nicht notwendig ist und nach der Osterweiterung,
Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, erst recht nicht.
({8})
Tatsache ist auch: Weder die Unternehmer noch ihre
Verbände werden sich an der Rückführung von Migranten beteiligen, die sie selbst aus konjunkturpolitischen
Gründen bzw. zur Einsparung von Ausgaben für die Sozialversicherung freigesetzt haben. Auch das ist Tatsache. Den Sprechern der Wirtschaft wird es nicht gelingen, ihre speziellen Interessen als Gemeinwohlinteresse
umzudeuten.
({9})
Ebenso wenig wird es Ihnen, Herr Bundesminister,
gelingen, Ihr Gesetz als Zuwanderungsbegrenzungsgesetz zu verkaufen, denn Sie selbst haben ja ausdrücklich
im Gesetz von dieser Vorstellung Abschied genommen.
Die Konsequenzen sind offenkundig: Durch die Gleichstellung von Personen, die Abschiebeschutz genießen,
mit Asylberechtigten werden die Wirkungen der Drittstaatenregelung zumindest zum Teil aufgehoben.
({10})
- Natürlich werden sie aufgehoben, wenn Sie diesen
Leuten, wenn sie nach Deutschland kommen, die in § 53
des Ausländergesetzes enthaltenen Rechte gewähren.
Auch Sie wissen doch, dass der Asylkompromiss damals
zur Reduzierung der Zahl der Asylberechtigten von
450 000 auf 100 000 geführt hat.
({11})
Zur geschlechtsspezifischen Verfolgung: Im Ausschuss haben wir darüber, Frau Kollegin SonntagWolgast, diskutiert. Sie haben mich gefragt, wo es denn
eine entsprechende Stellungnahme des Bundesinnenministers gibt. Ich kann sie Ihnen vorlesen. Am 23. Juni
2000 hat der Bundesinnenminister eine Stellungnahme
herausgegeben, in der steht:
Eine asyl- oder ausländerrechtliche Schutzlücke
zum Nachteil von Frauen besteht nicht.
Da heißt es also ausdrücklich: besteht nicht. Das hat übrigens der Europäische Gerichtshof am 7. März 2000
ebenfalls bestätigt.
({12})
Nein, Herr Bundesinnenminister, Sie steuern und begrenzen die Zuwanderung nicht, wie von der Union gewollt. Ihr Gesetz wird - ich sage es noch einmal und beweise das auch - die Zuwanderung nach Deutschland
erhöhen.
Schauen Sie sich die Regelungen zum Familiennachzug an. Sie weiten den Familiennachzug aus,
({13})
nämlich auf Homosexuelle und faktisch auf Kinder
bis 18. Das ist doch Ihre Regelung.
({14})
Über diese Vorschriften kommen mehr Leute nach
Deutschland.
Sie verkürzen außerdem die Asylverfahren nicht.
Warum schaffen Sie nicht beispielsweise eine einzige Instanz, wie es europaweit üblich ist? Das Asylverfahren
wird nicht verkürzt.
({15})
Wenn Sie Härtefallregelungen und -ausschüsse einführen, dann bedeutet dies doch, dass die Abschiebung
mit Sicherheit nicht in größerem Umfang erfolgen wird,
wie es im Augenblick der Fall sein müsste.
({16})
Herr Bundesinnenminister, ich habe Ihnen drei Beweise genannt: Familiennachzug, Asylverfahren, Abschiebung. Das bedeutet eine Erweiterung Ihres Gesetzes. Nehmen Sie Stellung dazu! Das widerspricht doch
völlig dem, was Sie vor geraumer Zeit gesagt haben: Die
Grenze der Belastbarkeit, was Zuwanderung nach
Deutschland anbetrifft, ist überschritten. Sie haben
Recht, Herr Bundesinnenminister, nur, Ihr Gesetz ist anders als Ihre Aussage damals.
({17})
Was wir brauchen - darin sind wir uns wohl einig -,
ist mehr Integration. Da ist der Gesetzentwurf mehr als
mangelhaft. Er enthält zwar Integrationsangebote; das ist
richtig. Aber er enthält keine Integrationspflichten. Vor
allem gilt er nicht für die Leute, die bereits hier wohnen,
sondern nur für neu ankommende Ausländer. Meine Damen und Herren, eines ist doch auch klar: Insbesondere
die Leute, die hier sind, müssen integriert werden. Das
regelt der Gesetzentwurf keineswegs.
Ein weiterer Punkt. Sie sprechen hier von einer Teilnahmeverpflichtung bezüglich der Integrationskurse,
verzichten aber auf jede Durchsetzungsmöglichkeit. Das
kann doch nicht in Ordnung sein. Es ist auch nicht in
Ordnung, Kollege Wiefelspütz, dass derjenige nicht zu
einem Integrationskurs muss, der sich auf einfache
Weise mündlich verständigen kann. Nein, das reicht
nicht.
({18})
Nötig ist, die deutsche Sprache zu erlernen und die
Verfassung und unsere Werteordnung anzuerkennen.
Das sind Forderungen aus dem Integrationskonzept der
Union, das Sie leider vor einigen Jahren abgelehnt haben, Herr Kollege Wiefelspütz.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wiefelspütz?
Bitte schön.
Herr Marschewski, sollten wir nicht einmal gemeinsam den Präsidenten des Bundesamtes in Nürnberg,
Herrn Dr. Albert Schmid, aufsuchen und darum bitten,
dass Sie, Herr Marschewski, und ich einen Integrationskurs besuchen, damit wir erfahren, was da eigentlich abläuft?
({0})
Ich bedanke mich herzlich für die Einladung und
nehme sie gerne an. Aber ich bin mittlerweile ziemlich
integriert; das sagt der Kollege Zeitlmann zumindest. Das soll ein Scherz sein.
({0})
Herr Wiefelspütz, Sie wissen doch ganz genau, dass
diese Dinge so nicht in Ordnung sind, weil sie letzten
Endes keine Integration bewirken. Wir haben unsere Integrationsvorstellungen vor ein paar Jahren vorgelegt
und Sie haben sie abgelehnt.
Ich frage mich, Herr Bundesinnenminister, warum Sie
bei diesem Gesetzesvorhaben nicht den Weg gewählt haben, den wir, Wolfgang Schäuble - ich sehe ihn gerade und die CDU/CSU-Fraktion, 1994 gewählt haben. Er
war damals umstritten; es war falsch, dass er umstritten
war. Dieser runde Tisch, Herr Bundesinnenminister, hat
zu einem Ergebnis geführt, zu einem erfolgreichen Ergebnis, weil er die Flüchtlingsrechte bewahrte - wir haben das subjektive Asylrecht letzten Endes behalten und weil er unbegründete Zuwanderung begrenzte.
Eine solche Regelung, wie sie in Art. 16 a des Grundgesetzes erfolgte, war damals dringend notwendig. Wir
sind als Union der Meinung, dass genauso dringend notwendig eine Begrenzung der Zuwanderung ist; denn die
herrschende Asyl- und Einwanderungspraxis ist alles andere als befriedigend, genauso unbefriedigend, Herr
Bundesinnenminister, wie Ihr Gesetzentwurf. Denn so,
wie er gestaltet ist, dient er keineswegs den Interessen
unseres Landes.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Winkler,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst eine Bitte an die Union zwecks Förderung einer blühenden politischen Karriere: Bitte verzichten Sie in Zukunft darauf, mir in der Kernzeit zu applaudieren; denn das wird mir bei meiner weiteren Karriere
nicht helfen.
({0})
Nach nunmehr dreijähriger öffentlicher Debatte liegt
diesem Haus nun zum zweiten Mal der Regierungsentwurf zum Zuwanderungsgesetz vor. Ich weiß nicht, ob
es das modernste Zuwanderungsrecht Europas ist. Ich
bin mir aber sicher, dass es sich um das modernste Zuwanderungsrecht handelt, das Deutschland je haben
könnte, wenn die Union nur wollte.
({1})
Vor uns liegt ein Kompromiss, der für alle Seiten tragbar
sein könnte. Sie sehen: Ich formuliere im Konjunktiv;
denn die Union will das Rad der Migrationsgeschichte
zurückdrehen.
Die im Bundesratsverfahren von den unionsregierten
Bundesländern im Januar 2003 eingebrachten Änderungsanträge sowie die nahezu deckungsgleichen
128 Änderungsanträge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes wollen
den Entwurf tiefgreifend in seiner Ausrichtung verändern
({2})
und zielen teilweise darauf, den Gedanken einer Modernisierung des geltenden Ausländerrechts in das Gegenteil zu verkehren.
Darüber hinaus zielen einige Ihrer Änderungsanträge
- das wurde schon erwähnt - auf bereits vom Deutschen
Bundestag verabschiedete rot-grüne Reformprojekte wie
das neue Staatsangehörigkeitsrecht ab. Nicht ein Einwanderer soll hier die Möglichkeit haben, Deutscher zu
werden, schon gar nicht seine Kinder - wenn überhaupt,
dann vielleicht seine Enkelkinder. Das ist für uns wirklich nicht akzeptabel.
Sie von der Union fallen mit dieser Verhandlungsgrundlage zudem weit hinter Ihre eigenen früheren
Positionen, die in Ihrer Zuwanderungskommission entwickelt worden sind, zurück. Es ist für das gesellschaftliche Klima in diesem Land verheerend, wenn Sie ein
Roll-Back zur alten Gastarbeiterpolitik der 50er- und
60er-Jahre planen.
({3})
Bereits im April 1983, also vor 20 Jahren, schrieb die
damalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Liselotte Funcke, an den damaligen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl - ich zitiere mit Erlaubnis
der Präsidentin -:
Um die bestehenden Unsicherheiten, Befürchtungen und Unterstellungen im Interesse der Deutschen und der Ausländer zu überwinden, erscheinen mir die folgenden Entscheidungen und
Maßnahmen notwendig und dringend: Der deutschen Bevölkerung ist zu sagen, dass die BeschäftiJosef Philip Winkler
gung ausländischer Arbeitnehmer auch bei hoher
Arbeitslosigkeit unverzichtbar ist, weil es nicht einen undifferenzierten Gesamtarbeitsmarkt, sondern
viele spezielle Teilarbeitsmärkte gibt. Um der Unsicherheit der Ausländer und der Deutschen entgegenzuwirken, sollten deshalb bald die Grundzüge
einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ausländerpolitik deutlich werden.
So weit Liselotte Funcke. Genau diese Prämisse finden
Sie in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf wieder.
Die von Ihnen vorgelegten Anträge zeigen: Es geht
Ihnen nicht um die Klärung sachlicher oder verfassungsrechtlicher Fragen. Es geht Ihnen offensichtlich darum,
die Lufthoheit über die Stammtische zu erlangen. Dies
ist eine für Migranten und Flüchtlinge in diesem Land
gefährliche Strategie.
({4})
Mir zeigen die Erlebnisse der letzten Wochen und
Monate vor Ort und unzählige Gespräche: Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, in dem das Bemühen
um einen gesellschaftlichen Konsens klar erkennbar
und der auch gut vermittelbar ist. Ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der aufnehmenden Gesellschaft
und den Interessen der Migranten ist mit diesem Gesetz
nach vielen Jahren des Stillstands endlich erreicht.
Da mein Appell an Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Union, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen,
wahrscheinlich wieder verhallt, scheint die Endlosdebatte um die Gestaltung der Zuwanderung in diesem
Land ins 21. Jahr zu gehen. Als migrationspolitischer
Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion kann ich Ihnen
allerdings sagen
({5})
- so tolle Posten haben wir, Herr Koschyk -:
({6})
Unsere Maßstäbe für die Bewertung eines Zuwanderungsgesetzes bleiben auch für das wohl anstehende Verfahren im Vermittlungsausschuss klar. Wir wollen ein
Zuwanderungsgesetz, das Zuwanderung und den Schutz
vor Verfolgung sozialverträglich, modern, europatauglich, demokratisch und orientiert an hohem menschenrechtlichem Niveau entwickelt und in einem weltoffenen
Deutschland ausgestaltet.
Daraus folgt für uns: Ein Zuwanderungsgesetz, in
dem alles einer reinen Begrenzungs- und Abschottungslogik untergeordnet wird, ist nicht zukunftsfähig. Ein
Zuwanderungsgesetz, durch das mehr Menschen in einem ungesicherten Status belassen werden, der Status
anderer Gruppen verschlechtert und das elementare
Grundrecht auf die Einheit der Familie angegriffen wird,
ist integrationsfeindlich.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie greifen
immer wieder den Familiennachzug an. Ich bitte Sie:
Es geht hier um enge Familienangehörige. Das kann
doch nun wirklich nicht als unbegrenzte Zuwanderung
bezeichnet werden.
({7})
- Eine Erweiterung mag vorliegen; aber im Sinne der
Familienfreundlichkeit halte ich dies in unserem Gesetzentwurf für vertretbar.
Ein Zuwanderungsgesetz, durch das ein Klima von
Unsicherheit, Zwang und Druck zum Kern des Umgangs
mit Migranten gemacht wird, beschädigt unsere Gesellschaft im Ganzen. Ein Zuwanderungsgesetz, das den anerkannten menschenrechtlichen Standards nicht uneingeschränkt und umfassend genügt, ist nicht konsensfähig
und würde Deutschland in Europa vollständig isolieren.
({8})
Unter diesen Gesichtspunkten werden wir die eventuellen Ergebnisse eines Vermittlungsverfahrens zu prüfen
haben. Ein Zurückgehen hinter das geltende Ausländerrecht ist mit den Grünen nicht zu machen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Grindel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Ziel unserer Politik muss sein, dass Deutsche und
Ausländer friedlich zusammenleben. Nur, das setzt Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit auf beiden
Seiten voraus.
({0})
Wir erwarten von Zuwanderern, dass sie deutsch sprechen können oder es zumindest zügig lernen, dass sie
unsere Gesetze - auch die Trennung von Staat und Religion - achten und dass sie keine Gettobildung und keine
Parallelgesellschaften anstreben. Es geht um ein gesellschaftliches und kulturelles Miteinander,
({1})
nicht um ein Nebeneinander, nicht um Multikulti.
Von diesem Grundansatz ist Ihr Zuwanderungsgesetz
leider sehr weit entfernt.
({2})
Sie betreiben eine ideologische Ausländerpolitik. Sie
wissen, Ideologen sind bekanntlich Leute, die sich von
Tatsachen nicht beirren lassen.
({3})
Es ist nun einmal eine Tatsache, dass die Sprachkompetenz der Ausländer in Deutschland - gerade derjenigen, die hier geboren sind - zurückgeht. Immer mehr
ausländische Kinder werden wegen mangelnder Sprachkenntnisse vom Schulunterricht zurückgestellt. Es ist
eine Tatsache - das sollte uns Sorgen machen -, dass immer mehr ausländische Jugendliche die Schule ohne Abschluss und ohne Zukunftsperspektive verlassen. Es ist
eine Tatsache, dass es in immer mehr Gegenden Parallelgesellschaften gibt, die dort wegen hoher Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug bei Ausländern entstanden
sind. Es ist eine Tatsache, dass die Gewaltkriminalität
gerade unter ausländischen Jugendlichen ständig zunimmt.
({4})
Wir müssen die Probleme, die bei den Ausländern bestehen, die schon bei uns sind, anpacken und dürfen uns
nicht neue Probleme durch weitere Zuwanderung in das
Land holen. Das ist das Gebot der Stunde!
({5})
Herr Minister Schily, Sie haben das zu Beginn Ihrer
Amtszeit im Grunde genommen ganz genauso gesehen.
Ich will Ihnen noch einmal das Zitat vorhalten, auf das
Erwin Marschewski bereits hingewiesen hat:
Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch
Zuwanderung ist überschritten, weil wir mehr Menschen für absehbare Zeit nicht verkraften können.
Die Probleme sind inzwischen viel größer geworden.
Trotzdem legen Sie uns hier ein grün gefärbtes Zuwanderungsgesetz vor. Reden wie Beckstein und handeln
wie Ströbele, das ist keine überzeugende Politik, Herr
Minister!
({6})
Wir müssen die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen.
Die wachsenden Integrationsprobleme sehen Sozialdemokraten mittlerweile genauso wie wir: Die Weigerung
vieler ausländischer Eltern, sich zu integrieren, fördere
die kriminellen Karrieren ihrer Kinder.
({7})
- Herr Kollege Bürsch, Sie sagen, das sei ein Vorurteil.
Sie sollten das einmal unter Genossen klären. Denn das,
was ich eben gesagt habe, war ein Zitat aus dem gestrigen „Tagesspiegel“. Das stammt nämlich nicht von mir.
Das hat vielmehr der Berliner Innensenator Körting,
SPD, gesagt. Viel Erfolg für die Diskussion!
({8})
Herr Körting hat Recht. Sie kennen die Lage in Berlin. Die Situation ist die - dies ist nicht nur in Berlin,
sondern auch in vielen Mittelzentren so -, dass es mittlerweile allein in Berlin viele Hunderte jugendliche Intensivtäter ausländischer Herkunft gibt.
Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass wir
solchen Tätern entgegentreten und dass wir deutlich machen, dass man hier nicht mit Multikulti-Gesäusel weiterkommt. Integration heißt auch, dass die vielen friedlichen in unserem Land lebenden Ausländer - das ist die
Mehrheit, keine Frage - der kriminellen Minderheit entschlossen entgegentreten. Das gilt übrigens genauso für
Aussiedler. Ich sage das mit großem Ernst: Alle Gewalttäter müssen mit allem Nachdruck in die Schranken gewiesen werden, egal welche Staatsangehörigkeit sie besitzen.
({9})
Während wir hier in Deutschland über die Zuwanderung streiten, sollen unbemerkt in Brüssel, auf der Ebene
der EU, Fakten geschaffen werden. In Brüssel steht eine
ganze Reihe von Richtlinien zur Entscheidung an,
({10})
die unser Ausländer- und Asylrecht, lieber Josef
Winkler, in dramatischer Weise verändern würden. Die
Drittstaatenregelung würde gekippt, durch die wir den
Asylmissbrauch erheblich reduzieren konnten; nicht
staatliche und geschlechtsbezogene Verfolgung würden
anerkannt und damit würden dem Missbrauch des Asylrechts wiederum Tür und Tor geöffnet; für alle Flüchtlinge soll es schon nach kurzer Zeit freien Zugang zum
Arbeitsmarkt geben. Herr Beck von den Grünen sagt
dazu: Falls beim Zuwanderungsrecht kein Kompromiss
zustande kommt, können wir besser mit den Regelungen
leben, die auf europäischer Ebene sowieso kommen.
Herr Minister Schily, über das Asylrecht muss in
Brüssel einstimmig entschieden werden. Sie können das
jederzeit durch Ihr Veto verhindern.
({11})
Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Schaffen Sie keine
vollendeten Tatsachen! Warten Sie die Ergebnisse der
Beratungen über das Zuwanderungsgesetz ab! Oder besser: Beraten Sie dort in unserem nationalen Interesse!
Andere Innenminister tun das ja in Brüssel auch.
Ich habe sehr wohl mitbekommen, dass Herr Böse,
der Innensenator von Bremen, Sie heute für Ihr gestriges
Verhalten im Innenministerrat gelobt hat. Sie sehen:
Große Koalitionen stimmen milde. Ich hoffe, dass Sie
den Kollegen Böse auch in Zukunft nicht enttäuschen
und uns, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auch nicht.
Es darf nicht sein, dass wir hier monatelang über das Zuwanderungsgesetz streiten und Sie über die EU-Asylrichtlinie in Brüssel, wie gesagt, vollendete Tatsachen
schaffen, also einen Weg gehen, der den Grünen und Sozialdemokraten vielleicht hilft, ihren Laden zusammenzuhalten, aber nicht den Menschen in unserem Land.
({12})
Die Integrationsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung fördert man dadurch, dass Ausländer, die zu Unrecht nach Deutschland gekommen sind, unser Land
auch wieder verlassen.
({13})
Das ist in der Praxis nicht der Fall. Nur 2 Prozent der
Asylbewerber werden anerkannt, aber 90 Prozent bleiben hier. Diesem Problem müssen wir uns stärker widmen. Wir haben im letzten Jahr 71 000 Asylbewerber
gehabt, aber 350 000 Menschen bekommen immer noch
Geld aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes - von
den 230 000 Geduldeten, die ebenfalls Sozialleistungen
erhalten, ganz zu schweigen. Anstatt die Rückführung
von unrechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländern
zu verbessern, schaffen Sie die Duldung ab und geben
ihnen eine Aufenthaltserlaubnis, die später die Abschiebung erschwert.
({14})
Wir lehnen das ab, weil das nur einen neuerlichen Anreiz
darstellt, hier zu bleiben und sich der Ausreisepflicht zu
entziehen. Wir wollen nicht, dass das Austricksen von
Behörden noch mit Aufenthaltsrecht und Sozialleistungen belohnt wird.
({15})
Wir sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
({16})
Wir haben in der Hochphase des Asylbewerberzustroms 1992/1993 gemeinsam aus guten Gründen das
Asylrecht geändert und den Missbrauch damit erheblich
eingedämmt. Die Bundesregierung hat vorgestern im Innenausschuss mitgeteilt, dass die Zahl der Asylbewerber
bisher im Jahr 2003 erneut um 24 Prozent zurückgegangen ist, wohlgemerkt - Herr Wiefelspütz, Sie nicken mit
dem Kopf - aufgrund des alten Ausländer- und Asylrechts und nicht wegen des neuen Zuwanderungsrechts.
({17})
Wir wollen, dass es bei diesem alten Rechtszustand und
den entsprechenden Ergebnissen bleibt.
({18})
Bassam Tibi, der Reform-Muslim - so nennt er sich
selbst -, sagt: Europa hat eine westliche Identität und
darf nicht zum multiethnischen Wohngebiet werden.
({19})
Muslimische Migranten sollten auf der Basis der
europäischen Werte integriert werden und nicht die Bestrebung haben, Europa zu islamisieren.
({20})
- Verzeihen Sie; Sie sollten, wenn ein Experte wie
Bassam Tibi Ihnen so etwas auf den Weg gibt, Herr
Edathy, das schon ernst nehmen.
Innenminister Schily hat am 20. März in „ZDF-Spezial“ gesagt:
Da wir eine Demokratie sind, kann es nicht falsch
sein, die Auffassung zu vertreten, die die Mehrheit
unseres Volkes vertritt.
Das haben Sie damals auf eine andere Thematik bezogen, dennoch halte ich Ihnen diesen Satz heute entgegen;
denn in Bezug auf das Zuwanderungsgesetz gilt er für
unsere Haltung. Wir gehen mit großem Selbstbewusstsein in die weiteren Gespräche über das Zuwanderungsgesetz.
Schönen Dank.
({21})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Grindel, eine Bemerkung zu Ihnen vorweg: Ich habe die ganze Zeit überlegt, was besser ist, ob
Sie zu diesem Thema hier im Bundestag reden oder vor
einem Millionenpublikum im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen auftreten. Ich bin zu dem Schluss gekommen:
Eine Rede hier im Bundestag richtet nicht so viel Schaden an wie Ihre Argumente im öffentlich-rechtlichen
Fernsehen.
({0})
Nun zur Sache: Wir erleben heute den dritten Aufguss
ein und derselben Debatte zu ein und demselben Gesetz.
Auch die Pöbeleien der Opposition zur Rechten haben
wir nun das dritte Mal hier gehört. Der Unterhaltungswert hält sich also in Grenzen. Das Ganze ist ein Ritual
ohne erkennbaren Nutzen. Dabei sah es vor drei Jahren
so aus, als wären wir uns einig, dass die Bundesrepublik
ein übersichtliches, handhabbares und modernes
Einwanderungsgesetz braucht.
Gerade die Grünen hatten dies, ebenso wie die PDS,
seit Jahren gefordert, doch Rot-Grün stand von Anfang
an vor einer Gewissensfrage: entweder ein modernes
Gesetz zu schaffen oder gemeinsame Sache mit der
CDU/CSU zu machen. Sie haben sich mit Ihrem Gesetzentwurf schon in der vergangenen Legislaturperiode mit
der Opposition zur Rechten gemein gemacht, allen voran
Bundesinnenminister Schily. Er wird uns sicherlich
gleich sagen, wie viele Anträge der CDU/CSU er in den
Gesetzentwurf übernommen hat. Es gibt also kein modernes Gesetz und folglich wird die PDS im Bundestag
auch heute Nein sagen.
Die PDS hat sich von Anfang an für einen Paradigmenwechsel engagiert. Wir wollten ein Gesetz, das sich
von menschenrechtlichen Ansprüchen und nicht von Kapitalverwertungsinteressen leiten lässt. Wir wollten ein
Gesetz, das mit dem Bild vom Ausländer als Gast und
Lückenbüßer für Arbeitsmarktengpässe sowie mit dem
Bild vom Ausländer als potenzieller Bedrohung der inneren Sicherheit bricht. Wir unterteilen Migrantinnen
und Migranten nicht in nützliche und weniger nützliche
Menschen.
({1})
Diese Leitlinien sind modern, sie waren aber nicht
mehrheitsfähig. Stattdessen wird seit Jahren ein Trauerspiel mit wechselnden Kulissen gegeben. Mal muss der
Bundestag dafür herhalten, mal der Bundesrat. Ein Meisterstück sieht anders aus.
Nun haben wir in der gestrigen Debatte goldene
Worte über die Europäische Union und ihre künftige
Verfassung gehört. Die Krux ist nur: Mit diesem Einwanderungsgesetz bleiben Sie schon jetzt hinter Standards zurück, die Europa prägen werden. Das betrifft
vor allem den humanitären Bereich, den Umgang mit
Menschen in Not, mit Asylsuchenden und Flüchtlingen.
Das ist ein Bereich, der Bündnis 90/Die Grünen einst besonders wichtig war. Nun vermisse ich, Herr Kollege
Winkler, Ihre bürgerrechtliche Handschrift. Ich sage das
auch mit Blick auf ein ganz aktuelles Problem, das Bleiberecht für Sinti und Roma.
Die PDS im Bundestag hat heute zur abschließenden
Lesung des Gesetzes noch einmal einen Änderungsantrag mit zahlreichen Vorschlägen vorgelegt. Dieser Antrag könnte das Gesetz - das gebe ich zu - auch nicht
grundlegend verbessern, aber unsere Vorschläge sind ein
Gradmesser, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, für Ihre Bereitschaft, wenigstens Schlimmeres zu
verhindern. Unser Antrag zielt auf drei Punkte: Wir wollen hierzulande die Integration verbessern, wir wollen
die Rechte von Menschen in Not stärken und wir wollen,
dass internationale Normen in bundesdeutsches Recht
übernommen werden.
Ein abschließendes Wort zur CDU/CSU: Ich kann Ihnen noch ein zweifelhaftes Kompliment machen: Sie haben sich von Ihren liberalen Mitgliedern in keiner Weise
beirren lassen und sind in all den Debatten zum Zuwanderungsrecht erkennbar geblieben. Ein Zuwanderungsgesetz nach Ihrem Geschmack ließe sich eigentlich in
zwei Sätzen zusammenfassen: Erstens gilt der Grundsatz: Ausländer stören. Zweitens gilt die Ausnahme:
Wenn sie Geld in unsere Kassen spülen, dürfen sie willkommen sein.
({2})
Mit dem 21. Jahrhundert hat das wenig zu tun, allerdings das heute zur Abstimmung vorliegende Gesetz
auch nicht.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesinnenminister,
Otto Schily.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe hier eine einigermaßen interessante Debatte verfolgen dürfen. Aber es gibt auch ganz neue Aspekte, nämlich dass sich die Bemerkungen von Frau Pau
von ganz links außen mit denen von Herrn Marschewski
von ganz rechts außen treffen. Beide kritisieren - wenn
auch zu Unrecht -, dass sich das Gesetz an den Kapitalverwertungsinteressen orientiere. Das ist schon eine interessante Erfahrung.
({0})
- Sie haben doch gesagt, wir würden uns zu sehr an der
Wirtschaft orientieren.
Deutschland braucht dringend ein neues Zuwanderungs- und Integrationsgesetz,
({1})
das den Zuzug von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten
begrenzt und die Voraussetzungen für eine bessere Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländer schafft. - Hier hätte ich jetzt eigentlich Beifall
von der CDU/CSU erwartet,
({2})
denn das war ein Zitat aus einer Presseerklärung der
Konferenz der innenpolitischen Sprecher der Unionsfraktionen von Bund und Ländern vom 2. April dieses
Jahres. Aber vielleicht wollen Sie davon nichts mehr
wissen. Damit erkennt auch die Union an, dass wir ein
neues Zuwanderungsrecht brauchen.
({3})
Das war doch Ausgangspunkt für die Kommissionen,
die auf allen politischen Seiten gebildet worden sind.
Wir brauchen dieses neue Zuwanderungsrecht, weil
im Bereich des Ausländerrechts dringender Reformbedarf besteht. Alle Klagelieder, die heute gesungen worden sind, unterstreichen das. Der Reformbedarf geht dabei über einzelne Änderungen des geltenden Rechts weit
hinaus. Deutschland benötigt ein modernes aufenthaltsrechtliches Gesamtkonzept, wie es Michael Bürsch zu
Beginn dieser Debatte richtig gesagt hat. Hierzu gehört
vor allem die Gestaltung der Arbeitsmigration, der Integration und der humanitär begründeten Aufenthalte.
Der von der Bundesregierung mit der Vorlage des Zuwanderungsgesetzes beschrittene Weg ist deshalb richtig; denn das Zuwanderungsgesetz stellt das erforderliche Gesamtkonzept dar, das mit einem umfassenden
Ansatz sowohl die Zuwanderung aus wirtschaftlichen
und humanitären Gründen als auch erstmals umfassend
die Integration regelt.
({4})
Übrigens, Herr Kollege Marschewski, Integrationspolitik fängt bei der Wortwahl an. Wer Menschen, die zu
uns gekommen und bei uns geblieben sind, als Daueranwesende bezeichnet, hat die Integrationspolitik schon im
Ansatz verfehlt.
({5})
Das Zuwanderungsgesetz beseitigt bestehende Mängel des geltenden Rechts und legt gleichzeitig die
Grundlagen für eine moderne Ausländerpolitik. Die
Bundesregierung und hoffentlich auch der Bundestag sowie die Gremien, die im Folgenden darüber zu beraten
haben, nehmen damit ihre politische Verantwortung
wahr, die darin besteht, eine als notwendig erkannte Reform zum Wohle unseres Landes auf den Weg zu bringen.
Ich möchte anerkennen, dass die FDP bei diesen Beratungen eine sehr konstruktive Haltung eingenommen
hat. Das begrüße ich sehr.
({6})
Herr Grindel - bevor Sie weiter dazwischen reden -, bemerkenswert ist, dass weder Sie noch Herr Marschewski
noch Herr Bosbach ein Sterbenswörtchen zu dem FDPGesetzentwurf gesagt haben.
({7})
Das ist ganz interessant. Es kam nicht ein Sterbenswort,
obwohl dieser Gesetzentwurf in weiten Teilen mit unserem Gesetzentwurf übereinstimmt. Es wäre interessant,
zu fragen, was in den Koalitionskabinetten in BadenWürttemberg und Niedersachsen dazu gesagt werden
wird. Ich bin gespannt, was da auf uns zukommt.
Ich will mich nicht mit Einzelheiten dieses Gesetzentwurfs auseinander setzen. Er enthält einige interessante
Anregungen. Herr Stadler, Sie haben, wie ich finde, eine
sehr faire und vernünftige Rede gehalten.
({8})
- Ist das oberlehrerhaft? Das ist meine Meinung. Herr
Grindel, von Ihrer Rede kann ich das leider nicht sagen,
sie war - auch das können Sie als oberlehrerhaft bezeichnen - miserabel. Die Rede von Herrn Stadler war
wirklich gut.
({9})
Herr Stadler, ich muss allerdings eine sachliche Kritik
anbringen. Ich halte eine Quote, die Sie gefordert haben
- wir haben sie früher im Gegensatz zu Ihnen gefordert;
das gebe ich ehrlich zu -, für kein vernünftiges Steuerungsinstrument. Das ist zu bürokratisch. Darüber werden wir dann im Vermittlungsausschuss zu reden haben.
Interessant ist, dass es von der Union bisher kein umfassendes Gesamtkonzept gibt. Herr Grindel, Sie haben
hier eben Klagelieder angestimmt. Manches, was Sie zu
den Tatsachen gesagt haben, stimmt; das ist nicht zu
leugnen.
({10})
Es gibt Integrationsprobleme. Das wird keiner bestreiten, ich zuallerletzt. Genau das meinte ich, als ich von
Überbeanspruchung gesprochen habe. Herr Grindel, Sie
müssen das Interview im „Tagesspiegel“ übrigens ganz
lesen, anstatt nur kleine Stücke herauszunehmen. Darin
steht - das ist ganz interessant -, Zuwanderung sei auch
aus wirtschaftlichen Gründen notwendig und wichtig für
unser Land. Nur wer eine verstockte Gesellschaft will,
der muss sich vor der Welt verschließen. In einer globalisierten Welt brauchen wir in unserem Land offene Türen, sonst werden wir auch in Europa nicht weiterkommen.
({11})
Meine Damen und Herren, die von den Innenpolitikern auch der Union formulierten Ziele eines Zuwanderungsgesetzes, nämlich Zuzugsbegrenzung und bessere
Integration, finden sich in § 1 unseres Gesetzentwurfes.
Dort stehen alle Zielsetzungen, die ich im Übrigen für
richtig halte. Dieser Paragraph ist sozusagen die Überschrift des gesamten Gesetzes. Die darin formulierten
Ziele finden sich in den Instrumenten dieses Gesetzes
wieder. Das Gesetz dient der Steuerung und der Begrenzung des Zuzuges von Ausländern in die Bundesrepublik. Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter
Berücksichtigung der Integrationsfähigkeit sowie der
wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen
der Bundesrepublik Deutschland.
({12})
Wer kann gegen ein Gesetz, das solche Ziele hat - wir
können im Vermittlungsausschuss gerne darüber reden,
ob es an der einen oder anderen Stelle Klärungsbedarf
gibt -, Kritik üben? Zu § 1 dieses Gesetzentwurfes habe
ich bisher keine Kritik gehört.
Natürlich hat die Opposition das Recht, zu fragen, ob
sich diese Ziele im Gesetz wiederfinden.
({13})
Leider muss ich aber feststellen: Sie von der Union haben bisher dazu nicht viel Sachliches beitragen können.
Stattdessen haben Sie sich auf eine brutale Desinformationspolitik versteift.
({14})
Das hat Ihnen nicht die Regierung oder die Regierungskoalition ins Stammbuch geschrieben, sondern das
ehemalige Mitglied Ihrer Fraktion, Frau Professor
Süssmuth. Frau Süssmuth hat gesagt, sie habe in ihrer
gesamten politischen Laufbahn noch kein Gesetz erlebt,
über das von der Opposition - in dem Fall nur von der
Union - so viel Falsches geredet worden sei. Nehmen
Sie sich das einmal zu Herzen.
({15})
Herr Bosbach, Sie sind einer der Protagonisten, die
diese Art von Politik am schärfsten betreiben.
({16})
Sie haben heute im Bundestag wie schon bei früheren
Debatten durch das Zitieren eines Satzes aus der Begründung des Gesetzes, ohne den Zusammenhang darzustellen, versucht, den Eindruck zu erwecken, Ziel des Zuwanderungsgesetzes sei nicht die Begrenzung und die
Steuerung der Zuwanderung, sondern ungehinderten
Zuzug zu ermöglichen.
({17})
Sie selbst wissen am besten, dass das nicht stimmt. Sie
haben einen Satz aus der Begründung zu den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 des
Aufenthaltsgesetzes zitiert.
({18})
- Das sage ich gleich. Seien Sie nicht so ungeduldig!
({19})
- Warten Sie einen Moment! Haben Sie ein wenig Geduld!
Der Satz lautet:
Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger
eine übergeordnete ausländerpolitische einseitige
Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung
oder der Anwerbestopp.
Dieser Satz - da haben Sie Recht, Herr Bosbach - steht
in einer Passage der Gesetzesbegründung,
({20})
in der darauf hingewiesen wird, dass im Rahmen der
Auslegung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland künftig nicht mehr eine einseitige - ich betone: einseitige - Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp zugrunde zu legen ist.
({21})
Nun lesen Sie den Begründungstext bitte weiter, dann
kennen Sie die ganze Wahrheit - das schließt an die berühmte Einsicht von Hegel an, dass die Wahrheit das
Ganze ist -:
({22})
Stattdessen ist Ziel der Anwendung der ausländerrechtlichen Instrumentarien eine flexible und bedarfsorientierte Zuwanderungssteuerung. Dabei
können je nach bestehender Zuwanderungs- und Integrationssituation Interessen der Zuwanderungsbegrenzung wie auch der gezielten Zuwanderung im
Vordergrund stehen. Um die notwendige Flexibilität zu erhalten, erfolgt abgesehen von dem Interesse
der Zuwanderungssteuerung keine übergeordnete
Festlegung.
Das ist vernünftig, modern und das entspricht der gegebenen Situation.
({23})
Herr Bosbach, Sie behaupten ferner, die Bundesregierung wolle den Anwerbestopp nicht teilweise, sondern
generell aufheben. Die gleiche Behauptung haben Sie
auch bei früherer Gelegenheit schon aufgestellt.
({24})
Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Ich empfehle
Ihnen die Lektüre des § 39 des Aufenthaltsgesetzes. In
dieser Vorschrift wird das Zustimmungserfordernis der
Bundesanstalt für Arbeit zur Ausländerbeschäftigung
geregelt. In § 39 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes steht:
Die Zustimmung zu einer Beschäftigung nach § 18,
die keine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt, darf nur erteilt werden, wenn dies durch
Rechtsverordnung oder zwischenstaatliche Vereinbarung bestimmt ist.
Das bedeutet Folgendes: Der Anwerbestopp für gering qualifizierte Ausländer bleibt im Grundsatz bestehen.
({25})
- Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.
({26})
- Herr Bosbach, Sie können doch lesen. Sie müssen sich
jetzt nicht mutwillig zu einem Legastheniker zurückentwickeln; das ist doch nicht notwendig.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Jetzt ist aber mal gut! Was soll das denn
jetzt? - Wolfgang Bosbach ({0}): Das
ist genau das Niveau, auf dem Sie sich wohl
fühlen! Wenn Sie sich im Dreck suhlen kön-
nen, sind Sie zu Hause!)
Nur in Ausnahmefällen, die dann einer gesonderten
Regelung bedürfen, kann die Arbeitsaufnahme zugelassen werden. Solche Ausnahmen gibt es aber auch schon
jetzt, zum Beispiel für Schaustellergehilfen - dort können Sie sich auch einmal bewerben - und saisonale
Erntehelfer.
({1})
Die teilweise Aufhebung des Anwerbestopps bedeutet zudem nicht, dass für die davon betroffenen Beschäftigungsbereiche künftig eine allgemeine aktive Anwerbung stattfindet. Die teilweise Aufhebung des
Anwerbestopps bedeutet auch nicht, dass künftig Arbeitskräfte unkontrolliert und ohne weiteres nach
Deutschland kommen dürfen. Vielmehr haben wir hier
eine systematische Neuordnung des Zugangs von ausländischen Arbeitskräften auf den deutschen Arbeitsmarkt vorgenommen, die von der Union bewusst - das
muss ich immer wiederholen - falsch interpretiert wird.
Die Neuordnung erlaubt eine streng am Bedarf orientierte marktwirtschaftliche Zulassung von Arbeitskräften. Durch Ihre Demagogie bilden Sie einen Gegensatz
zwischen der Not der Arbeitsuchenden in Deutschland,
die wir verdammt ernst nehmen,
({2})
und der Tatsache, dass wir der Wirtschaft an bestimmten
Stellen, an denen es ihr dient, helfen wollen, dass arbeitsuchende Ausländer in Deutschland Arbeitsplätze finden
können. Wir haben die entsprechende Regelung mit einem strengen und ausnahmslosen Vorrangprinzip verbunden. Sie wollen hier einen Gegensatz bilden. Das,
was Sie wollen, verschlechtert die Situation in unserem
Land und ist verantwortungslos.
({3})
- Ich habe Ihnen doch auch zugehört. Nun seien Sie einmal ein bisschen ruhig!
({4})
- Die Unruhe beweist mir, dass ich Recht habe.
({5})
Sie haben sich wieder einmal mit § 20 des Aufenthaltsgesetzes beschäftigt. Herr Bosbach, es ist falsch,
wenn Sie diesen Paragraphen immer auf die Demografie
beziehen.
({6})
Das ganze Zuwanderungsgesetz steht nicht unter dem
Vorzeichen der demografischen Entwicklung. Dass Zuwanderung auch demografische Probleme mildern kann,
stimmt. Aber ich persönlich habe nie gesagt, dass wir
mit der Zuwanderung demografische Probleme lösen
können. Das halte ich für illusionär.
({7})
§ 20 hat einen anderen Ansatz. Er ist einem Instrument aus Kanada nachgebildet, das dort mit Erfolg praktiziert wird. Dort orientiert man sich nicht immer an der
Nachfrage, sondern auch an dem Angebot. Einem bestimmten Kreis ausgewählter und hoch qualifizierter
Personen wird die Möglichkeit gegeben, sich einen für
sie passenden Arbeitsplatz zu suchen. Das ist ein ganz
anderer Ansatz. Unser Ansatz ist im Übrigen so beschaffen, dass er die Zustimmung von verschiedenen Seiten
voraussetzt, sodass Sie sich wirklich keine Sorgen machen müssen. Herr Bosbach und Herr Marschewski,
wenn Sie das Problem haben, dass der Bundesrat bei der
Höchstzahl der Zuwanderung ein Wörtchen mitreden
soll, dann kann ich Ihnen sagen: Es ist für mich die einfachste Übung, Ihnen das zuzugestehen. Wenn das Ihr
Problem ist, dann können wir uns sehr schnell einigen.
Ich darf noch einmal daran erinnern - das ist in dieser
Debatte schon angesprochen worden -, dass dieser Gesetzentwurf in der Gesellschaft breite Unterstützung
findet.
({8})
- Darüber brauchen Sie nicht zu lachen, Frau Kollegin.
Das ist so. Das können Sie nachlesen. Der Gesetzentwurf
wird von den Gewerkschaftsverbänden, den Kirchen,
aber auch von allen Wirtschaftsverbänden unterstützt.
Frau Kollegin, es kommt nicht sehr oft vor, dass sowohl
Gewerkschafts- als auch Wirtschaftsverbände zustimmen.
({9})
- Das ist in dem klassenkämpferischen Ton von Herrn
Marschewski eine zu starke Berücksichtigung der Wirtschaft, aber bitte schön.
({10})
Ich halte diese Zustimmung für eine gute Grundlage
für ein solches Gesetz. Ich muss ehrlich sagen: Ich vertraue mehr dem Sachverstand der Wirtschafts- und der
Gewerkschaftsverbände als
({11})
der Meinung von Herrn Marschewski. Das kann aber jeder halten, wie er will.
Herr Grindel, Sie haben die EU angesprochen. Sie
müssen einmal klar machen, wer nun Recht hat: Herr
Böse oder Sie. Das würde mich wirklich interessieren.
({12})
- Beide haben Recht? Das ist natürlich die interessanteste Lösung. Das erinnert mich an den ältesten Juristenwitz. Ein Referendar nimmt das erste Mal an einer Gerichtsverhandlung teil.
({13})
Zuerst plädiert der Anwalt des Klägers. Daraufhin flüstert der Richter dem Referendar zu: Der Mann hat Recht.
Anschließend hält der Anwalt des Beklagten ein furioses
Plädoyer. Wieder flüstert der Richter dem Referendar zu:
Der Mann hat Recht. Daraufhin ist der Referendar genauso verwirrt wie ich bei Ihrer Antwort.
({14})
Der Referendar erklärt daraufhin dem Richter: Beide haben gegensätzliche Auffassungen vertreten. Sie können
nicht beide Recht haben.
({15})
Der Richter antwortet daraufhin dem Referendar: Da haben Sie nun auch wieder Recht.
({16})
Wenn Sie so Ihre Politik definieren wollen, Herr
Grindel, dann können Sie das gerne machen. Aber Sie
müssen sich über eines im Klaren sein: Die Uhren in Europa werden nicht nach deutscher Zeit gestellt.
({17})
- Sie täuschen sich, Herr Grindel. - In Europa findet
eine breite Debatte über diese Probleme statt. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Politik nach europäischem Geist und nicht nach Ihrer muffigen und zurückgebliebenen Haltung zu diesem Thema gestalten. Darin
dürfen wir nicht verharren. Diese Haltung können wir
nicht übernehmen.
({18})
Wir müssen eine europäische Diskussion führen.
Dazu gehört auch die Frage des Staatsangehörigkeitsrechts. Ich verspreche Ihnen: Ich werde niemals die
Hand dazu reichen, dass wir unser modernes, europäisches und offenes Staatsbürgerschaftsrecht wieder auf
das völkische Denken zurückführen, das Sie noch immer
repräsentieren. Das werde ich niemals zulassen.
({19})
Versuchen Sie, aus Ihrer Ecke herauszukommen!
({20})
Das ist die einzige Möglichkeit, die Sie haben.
({21})
Sie müssen aufpassen, dass Sie dem gerecht werden,
was von verschiedenen Seiten aus Ihren Reihen gesagt
worden ist. Ministerpräsident Müller hat vor kurzem erklärt: Wir streben einen Konsens an. Wir brauchen ein
Gesamtkonzept, das eben nicht nur die Integration und
das Ausländerrecht betrifft, sondern die gesamte Steuerung der Zuwanderung. Dafür bedarf es eben einer anderen Qualität. Was wir heute haben - diese Zustände beklagen Sie ja, Herr Grindel -, ist ein Zuzug in die
Sozialsysteme. Das Problem liegt nicht darin, dass Arbeitskräfte an der einen oder anderen Stelle aus dem
Ausland zu uns kommen. Das ist sogar gut so, weil das
die Wirtschaft belebt. Selbst die relativ bescheidene Zahl
derjenigen, die in der IT-Technik zu uns gekommen sind,
hat dazu geführt, dass die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich anstieg - im Gegensatz zu dem, was Sie immer behaupten.
({22})
Deshalb: Versuchen Sie, auf einen Kompromiss zuzugehen, und füttern Sie bitte nicht das Gerücht, ein Kompromiss scheitere an unserem Koalitionspartner, Bündnis 90/Die Grünen.
({23})
Ich muss unserem Koalitionspartner ein großes Kompliment machen.
({24})
Die waren nun wahrlich auf der ganzen Linie kompromissbereiter und flexibler als Sie in auch nur einem einzigen Punkt, meine Damen und Herren von der Union.
({25})
Nehmen Sie sich ausnahmsweise einmal ein Beispiel an
den Grünen,
({26})
dann kommen wir weiter.
Wie wollen Sie sich eigentlich mit der FDP einigen?
Auch diese Frage müssen Sie einmal beantworten. Sie
wollen doch irgendwann einmal, vielleicht in 20 Jahren,
regieren. Dann müssen Sie aber sehen, wie Sie mit der
FDP zurechtkommen.
({27})
- Dazu habe ich aber heute keine einzige Silbe gehört,
Herr Grindel. Da müssen Sie sich noch einmal besinnen.
({28})
Das Wichtigste ist mir - das ist eine Bitte -: Verzichten Sie darauf, in der Bevölkerung Ängste zu schüren
und die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander aufzuhetzen.
({29})
Vielleicht darf ich auch diesen Punkt noch ansprechen: Ich durfte vor kurzem in der Unterkirche der Frauenkirche in Dresden eine sehr eindrucksvolle Veranstaltung miterleben, die vom „Bündnis für Demokratie und
Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ initiiert und
dankenswerterweise vom ZDF und der Dresdner Bank
mit gestaltet und wurde. Wir haben dort die Preise im
Rahmen des Victor-Klemperer-Jugendwettbewerbes verliehen. Das Zuwanderungsgesetz ist ein Zukunftsgesetz.
Deshalb hat, so finde ich, die Stimme der Jugend hier ein
besonderes Gewicht. Wenn Sie einmal hören, wie unsere
Jugend mit diesem Thema umgeht, dann werden Sie entdecken: Wir sind auf dem richtigen Weg und Sie müssen
aus ihrer Ecke herauskommen. Das ist meine Überzeugung.
({30})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, Sie legen dieses Gesetz zum
zweiten Mal vor - völlig unverändert! Sie werfen uns
Kompromisslosigkeit vor, aber haben in dieser Phase der
Gesetzgebung nie auch nur den Versuch gemacht, mit
uns einen Kompromiss zu schließen.
({0})
Wir haben 120 Änderungsanträge vorgelegt. Sie haben
sich nicht mit einem einzigen vernünftig und ernsthaft
beschäftigt.
({1})
Das ist es, was die Bevölkerung draußen nicht versteht.
Letzten Endes ist das auch eine Missachtung des Parlamentes.
Sie können doch nicht einen Gesetzentwurf, der abgelehnt worden ist und von dem Sie wissen, dass er im
Bundesrat nicht angenommen werden wird, hier wieder
vorlegen und in der ursprünglichen Form durchpauken
und uns dann Kompromisslosigkeit vorwerfen. Ist das
Ehrlichkeit? So kann man mit der Opposition nicht umgehen. Sie können so auch nicht mit der Bevölkerung
umgehen. Was soll denn die Bevölkerung von diesem
Parlament halten? Wir reden hier zum zweiten Mal über
einen Gesetzentwurf, von dem Sie wissen, dass er hier
die Mehrheit bekommt, aber im Bundesrat abgelehnt
werden wird. Dann wird er wahrscheinlich in den Vermittlungsausschuss kommen und dann ist dieses Parlament nicht mehr gefragt. Aber im Parlament müssen wir
die Kompromisse schließen. Das haben Sie nicht versucht.
Herr Kollege Geis, es besteht der Wunsch nach einer
Zwischenfrage. Wollen Sie die zulassen? - Bitte.
Herr Kollege Geis,
({0})
warum sprechen Sie hier wahrheitswidrig von Kompromisslosigkeit, wenn in Wahrheit im ersten Gesetzgebungsverfahren Rot-Grün in elf Punkten den Wünschen
des Bundesrats, der von Ihnen dominiert war, nachgekommen ist? 16 Änderungsanträgen der CDU/CSU ist
Rot-Grün im Innenausschuss nachgekommen. Hinzu
kommen die vier Stolpe-Punkte, deren Erfüllung Ihr Parteikollege Herr Schönbohm zur Bedingung für die Zustimmung Brandenburgs im Bundesrat gemacht hat. Er
hat leider an dieser Stelle sein Wort gebrochen. Warum
verschweigen Sie dies? Warum sagen Sie wahrheitswidrig, wir seien nicht kompromissbereit? Wir waren es und
das ist bereits ein Kompromiss.
({1})
Das Verfahren im Bundesrat kam vor das Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht hat festgestellt,
dass das Verhalten des damaligen Bundesratspräsidenten
und das Verhalten der SPD-regierten Länder falsch und
verfassungswidrig gewesen ist. Deswegen ist dieses Gesetz nichtig.
({0})
Es ist nichtig, weil es nicht unserer Verfassung gemäß
zustande gekommen ist.
({1})
Im Übrigen wäre es bei Beachtung des Art. 51 GG im
Bundesrat gescheitert, weil die Mehrheit der CDU/CSUregierten Länder auch nach den Änderungen im Bundesrat Nein gesagt hat.
Wir haben aber jetzt das zweite Gesetzgebungsverfahren. Es geht jetzt nicht mehr um das Gesetzgebungsverfahren, das vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet worden ist, sondern es geht
um das jetzige Gesetzgebungsverfahren.
({2})
- Warten Sie noch ein bisschen! - Sie haben in dem jetzigen Gesetzgebungsverfahren überhaupt keine Anstalten gemacht, über die Vorstellungen, die im Bundesrat
geherrscht haben und die wir ins Parlament eingebracht
haben in Form der 120 Änderungsanträge, zu diskutieren. Sie haben nicht ein einziges Mal Anstalten gemacht,
auf diese Anträge einzugehen.
({3})
Deswegen werfe ich Ihnen vor: Sie machen heute
eine große Schau; mehr ist es nicht. Sie missachten die
Rechte und damit auch die Würde dieses Parlamentes.
Das kann draußen niemand verstehen.
Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Stadler? - Bitte.
Dann möchte ich doch, dass wir der Rede weiter zuhören.
({0})
Herr Kollege Geis, jedermann wird verstehen, dass
Sie jetzt in dieser Lesung nicht einem Gesetzentwurf der
Bundesregierung zustimmen, den Sie vor kurzem mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat noch abgelehnt haben. Aber
sind Sie bereit, mir zuzugeben, dass jedenfalls auf meiner Tagesordnung, die ich vorliegen habe, heute nicht
nur ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, sondern
auch ein Gesetzentwurf der FDP zur Debatte und Abstimmung steht, und wären Sie bereit, der deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, welche Anstrengungen Sie unternommen haben, mit der FDP hinsichtlich des
Entwurfs zu einem Kompromiss zu kommen, den wir
vorgelegt haben?
({0})
Lieber Herr Stadler, die Frage gebe ich natürlich zurück. Welche Anstrengungen haben Sie unternommen,
um mit uns zu einem Kompromiss zu kommen? Das haben Sie nämlich auch nicht gemacht.
({0})
Wir wollen hier keine Spiegelfechterei betreiben, sondern ich gebe Ihnen ohne weiteres zu: Es ist auch unsere
Auffassung - deswegen haben wir 120 Änderungsanträge eingereicht -, dass die Zuwanderung in Deutschland besser regelbar ist, als es derzeit der Fall ist. Ich
gebe Ihnen auch zu, dass in Ihrem Gesetzentwurf viele
Ansätze sind, über die man ernsthaft diskutieren kann.
Aber Sie kennen die Mehrheitsverhältnisse. Sie hätten
die Frage, die Sie jetzt an mich gerichtet haben, viel eher
an die SPD richten müssen, denn die hat die Mehrheit.
Wenn Sie sich mit uns zusammentun, dann werden wir
hier genauso scheitern. Das wissen Sie. Deswegen ist
dies wohl auch eine nicht ganz ernsthafte, sondern eine
eher spaßige Frage, die etwas Freude in den trüben Alltag bringt.
({1})
Ich habe eben in meiner Antwort auf Herrn Stadler
deutlich gemacht, dass es uns durchaus um eine Verbesserung der derzeitigen Regelungen im Ausländerrecht
und damit auch im Zuwanderungsbereich geht. Dies
stellt aber nicht die vorrangige Aufgabe dar. Vorrangig
ist vielmehr die Integration. Das haben alle Redner unserer Fraktion betont. Die Integration scheint mir aber in
den Gesetzentwürfen der Bundesregierung und der FDP
nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden zu
sein.
({2})
Ich wiederhole: Nicht die Zuwanderung ist der wichtigste Punkt, sondern die Integration. Die Zuwanderung
muss sich nach der Integrationsfähigkeit unserer Bevölkerung richten.
Der Herr Minister hat vorhin behauptet, dass die Jugend das Zuwanderungsgesetz befürworte. Mitnichten!
Vielmehr ist eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen die Zuwanderung.
({3})
Warum denn? - Weil die Integrationsfähigkeit der deutschen Bevölkerung an einem Punkt angelangt ist, an
dem sie leicht in eine sich selbst verstärkende Desintegration übergehen kann.
({4})
Das ist das Problem, das wir erkennen und mit dem wir
uns beschäftigen sollten. Das ist bei dem vorliegenden
Gesetzentwurf aber nicht geschehen.
Auch wenn Sie noch so lange rechnen, werden Sie
mit diesem Gesetz die Zuwanderung nicht begrenzen.
Wie Sie es auch wenden, unterm Strich würde Folgendes
herauskommen, wenn Ihr Vorhaben Gesetzeskraft erlangen würde:
({5})
Zurzeit gibt es eine Nettozuwanderung von
200 000 Personen im Jahr, und zwar nicht aus dem Bereich der Europäischen Union, sondern aus Nicht-EUStaaten. Wenn das Gesetz in Kraft treten würde, würde
die Zahl auf über 300 000 steigen. Das ist zu viel.
({6})
Das war übrigens auch die Auffassung des Ministers.
Er hat den Gesetzentwurf nur deshalb wieder vorgelegt,
weil Sie mit Ihrem Koalitionspartner, der es ablehnt, das
Vorhaben aufzugeben, in dieser Frage nicht zusammenarbeiten können. Das ist doch der eigentliche Grund für
Ihre Unvernunft, denselben Gesetzentwurf zum zweiten
Mal vorzulegen. Das liegt doch daran, dass Sie mit den
Grünen nicht zurechtkommen.
({7})
Sie müssen meiner Meinung nach den Schwerpunkt
auf die Frage legen, wie die Integration bewältigt werden kann. Danach muss sich das Zuwanderungsgesetz
richten.
({8})
Es wird auch weiterhin Zuwanderung geben. Sie wird
in einem Rahmen von jährlich rund 200 000 Personen
verlaufen. Es wird auch Zuwanderung aus den neuen
EU-Staaten geben. Schätzungen belaufen sich auf
300 000 bis 400 000 Personen jährlich. Das wird aber
kein Problem darstellen, weil diese Menschen aus unserem Kulturkreis kommen. Ihnen wird die Integration
leichter fallen.
Aber die Integration ist doch anerkanntermaßen
schwierig - darüber müssen wir wohl nicht diskutieren -, wenn Menschen aus einem anderen Kulturkreis
kommen. An dieser Stelle trifft das Zitat von Gustav
Heinemann zu, der festgestellt hat: „Wir wollten Arbeitskräfte und es kamen Menschen“.
({9})
- Nein, das ist von Gustav Heinemann, der es von Max
Frisch übernommen hat. Sie können das nachlesen. Ich
habe es nachgelesen und kann Ihnen die Quelle des Zitats zukommen lassen. Gustav Heinemann hat das Zitat
übernommen. Wir müssen uns nicht darüber streiten.
Das ist doch lächerlich.
({10})
- Ja, es stammt von Max Frisch. Aber es ist ein treffendes Wort.
Menschen müssen immer im Kontext ihrer Herkunft,
ihrer Kultur, ihrer Wertmaßstäbe und ihrer Geschichte
gesehen werden. Die Integration ist insofern kein leichtes Geschäft. Sie muss nicht nur von denjenigen geleistet
werden, die ins Land kommen, sondern auch von denen,
die sie aufnehmen. Wenn zu viele Menschen aus anderen
Kulturkreisen zu uns kommen, dann nimmt die Integrationsfähigkeit der aufnehmenden Bevölkerung immer
mehr ab.
Bekanntlich beträgt der Ausländeranteil an der Einwohnerzahl Münchens 22 Prozent; in Hamburg sind es
16 Prozent, in Berlin 13 Prozent. Die Ausländer bewohnen dort Quartiere, wo sich die deutsche Bevölkerung
zurückzieht, weil die Deutschen dort Angst haben, in ihrer Mitte als Fremde zu erscheinen.
({11})
Auch unter Deutschen macht sich Angst breit. Deswegen lehnen doch weit mehr als 80 Prozent der deutschen
Bevölkerung eine weitere Zuwanderung ab, weil sie
Angst hat, ihre Identität zu verlieren.
({12})
Das muss man sich vor Augen halten, wenn man sich
ernsthaft mit dem Gelingen der Zuwanderung auseinander setzt.
Es geht darum, die Integrationsfähigkeit unserer Bevölkerung zu erhalten. Das geht nur, wenn wir versuchen, die Zuwanderung ernsthaft zu begrenzen. Diese
Begrenzung leistet der Gesetzentwurf nicht. Deswegen
haben wir die 120 Änderungsanträge eingebracht und
deswegen müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen. Vielleicht wird es einen Kompromiss im Vermittlungsausschuss geben, vielleicht aber auch nicht. Es wäre jedenfalls nicht schlimm, wenn der vorliegende Gesetzentwurf
scheitern würde; denn wir brauchen ein Integrationsgesetz. Wir müssen ernsthafter und in viel stärkerem Maße
als in der Vergangenheit die Integration der bei uns lebenden und der zu uns kommenden Ausländer vorantreiben. Sonst werden wir den Frieden in unserem Land
nicht erhalten können.
({13})
Es geht letztendlich um die eigene Existenz.
({14})
Es geht um eine friedliche Gesellschaft.
({15})
Wir dürfen uns nicht nur mit der Lösung von Konflikten
beschäftigen. Wir haben andere Aufgaben in dieser Gesellschaft zu bewältigen, die schwierig genug sind.
Wenn noch Konflikte hinzukommen, dann wird das
nicht zu schaffen sein.
Herr Kollege Geis, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werden erleben, dass der vorliegende Gesetzentwurf im Bundesrat scheitert.
({0})
Es wird dann im Vermittlungsausschuss viele Beratungen geben. Es kann durchaus sein, dass der Entwurf auch
dort scheitert. Das wäre kein Unglück. Wir werden uns
auf jeden Fall in stärkerem Maße um ein Integrationsgesetz bemühen. Das ist, wie ich meine - ich wiederhole
das -, die eigentliche Aufgabe der Ausländerpolitik.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/955,
den Gesetzentwurf anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag auf Drucksache 15/961? - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der Abgeordneten Pau und Lötzsch abgelehnt worden.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU sowie der
beiden fraktionslosen Abgeordneten bei Enthaltung der
FDP angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen worden.
({0})
Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/955, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf der FDP zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses gegen die Stimmen der FDP abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes
- Drucksache 15/805 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
- Drucksache 15/969 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz
Thomas Strobl ({3})
Volker Beck ({4})
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt offensichtlich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem das
Wort dem Abgeordneten Dr. Dieter Wiefelspütz.
({5})
- Einen Moment noch, Herr Wiefelspütz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte setzen Sie sich oder, wenn
Sie der Debatte nicht folgen wollen, verlassen Sie rasch
den Plenarsaal, damit wir fortfahren können.
Ich glaube, Sie können jetzt beginnen, Herr
Wiefelspütz.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich anerkenne und respektiere, dass das
Zuwanderungsgesetz eine ungleich höhere Bedeutung
als das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes hat.
Wir haben uns im Jahre 1999 - liebe Kolleginnen und
Kollegen, einige werden sich daran erinnern -, in der
Zeit des Umzuges von Bonn nach Berlin darüber GedanDr. Dieter Wiefelspütz
ken machen müssen, ob es auch in Berlin eine Bannmeile geben soll.
({0})
Wir sind damals mit großer Mehrheit der Auffassung gewesen, dass das sinnvoll sei. Es war damals nicht ganz
einfach, den grünen Koalitionspartner, insbesondere den
Kollegen Ströbele, davon zu überzeugen.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass Herr Ströbele auch heute
noch letzte Zweifel hat.
({2})
Aber, Herr van Essen, anerkennen Sie bitte, dass der leidenschaftliche Einsatz für eine vernünftige Regelung in
Bezug auf dieses Parlament letztlich auch Herrn Ströbele
hat überzeugen können.
Unser damaliger Gesetzentwurf war relativ umstritten. Wir haben deswegen gesagt: Wir wollen einander
nicht belehren. Die Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes
wurde befristet. Dies geschah mit der Maßgabe, dass sowohl das Innenministerium als auch die Bundestagsverwaltung dem Parlament Erfahrungsberichte vorlegen.
Wir beschlossen damals, im Lichte dieser Erfahrungen
erneut zu entscheiden, wie es mit diesem Gesetz weitergehen soll.
Wir haben die Erfahrungsberichte zur Kenntnis genommen. Mich hat erstaunt, dass anders als in Bonn, wo
innerhalb einer Legislaturperiode nur in Ausnahmesituationen drei oder vier Demonstrationen stattfanden, im
befriedeten Bezirk - das ist der Bereich, der früher
„Bannmeile“ genannt worden ist - in den vergangenen
fast vier Jahren, also seitdem der Bundestag seinen Sitz
in Berlin hat, mehrere hundert Demonstrationen stattgefunden haben.
({3})
Darüber sollten wir uns freuen,
({4})
denn das bedeutet doch, dass es uns gelungen ist, die
Menschen nicht auszusperren. Demonstrieren kann man
auch vor den Toren dieses Parlamentes. Man kann das
politische Geschehen in Berlin von der Besuchertribüne
des Deutschen Bundestags aus verfolgen; das ist jedermanns gutes Recht. Man kann sich aber auch an das Parlament wenden, indem man im befriedeten Bezirk aktiv
demonstriert. Das ist ein Ausdruck von Interesse und davon, dass man das Parlament und auch die Parlamentarier ernst nimmt. Für dieses große Interesse sollten wir
dankbar sein.
Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass der
Reichstag, in dem der Deutsche Bundestag tagt, mittlerweile das meistbesuchte Gebäude Deutschlands ist. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar.
({5})
- Nicht meinetwegen und auch nicht Ihretwegen, Herr
Strobl. - Mit anderen Worten: Ich bin - das sage ich
ohne jedes Pathos - dafür dankbar, dass der Reichstag
für viele Menschen so interessant ist. Die Menschen
kommen hierhin, weil sie sich selbst dazu entschieden
haben. Dieses Parlamentsgebäude ist offenbar genauso
attraktiv wie die Gebäude des amerikanischen oder des
britischen Parlaments. Ich freue mich darüber.
Herr Ströbele, dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit - man darf es nur friedlich wahrnehmen - ist,
was den Verfassungsrang angeht, die Funktionsfähigkeit des Parlaments gleichgestellt. Vor den Toren dieses
Hauses haben Hunderte von Demonstrationen stattgefunden,
({6})
ohne dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments und damit unsere Arbeitsfähigkeit zu irgendeinem Zeitpunkt
infrage gestellt worden sind. Besser hätte gar nicht bewiesen werden können, dass die Bannmeilenregelung
für dieses Parlament funktioniert, dass dieses Gesetz
also gelungen ist.
({7})
Ich freue mich darüber, geschätzter Kollege van
Essen, dass die FDP inzwischen mit im Boot ist. Sie waren damals skeptisch, eher ablehnend, aber haben jetzt
gesagt - so habe ich das verstanden; Sie werden das
gleich selbst artikulieren, Herr van Essen; ich kann aber
auch Ihre Rede halten, wenn es denn sein muss -:
({8})
Jawohl, das hat sich bewährt. Warum dann nicht auch
zustimmen? - Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür.
Ich will, mit etwas Abschwächung, auch Herrn Strobl
danken, nicht dafür, dass er diesen Gesetzentwurf nachher
ablehnen wird, aber dafür, dass er doch anerkennt - das
wird er nachher natürlich noch selbst sagen, denke ich -,
dass sich das, was wir hier gemacht haben, im Großen
und Ganzen doch ziemlich bewährt hat.
Vor vier Jahren, Herr Strobl, habe ich nicht geglaubt
und auch nicht gewusst - das konnte ich auch nicht; woher sollte ich es auch wissen? -,
({9})
dass sich diese Art von Regelung zum befriedeten Bezirk - einerseits Versammlungsfreiheit und andererseits
Funktionsfähigkeit des Parlaments gewährleisten - hier
in Berlin so gut bewährt. Wir haben keine Angst vor den
Bürgern, aber hier muss frei entschieden werden können,
hier darf der Zugang zum Parlament für Abgeordnete
nicht beeinträchtigt sein. Beides, Freiheit der Versammlung und Funktionsfähigkeit des Parlaments, ist gewährleistet.
({10})
Also ist die Regelung gut und in Ordnung und dann
sollte man sie auch so akzeptieren und schätzen.
Nun kommt von der Union der Änderungsantrag, erneut eine Frist zu setzen, für weitere vier Jahre sozusagen auszuprobieren. Ich räume ein: Auch bei uns hat das
eine Rolle gespielt. Wir haben das hin und her gewendet.
Insbesondere, Herr Strobl, bei den Bedenkenträgern von
den Bündnisgrünen - darüber wollen wir hier einmal
ganz offen sprechen - gab es erneut diese Überlegung.
Es war nicht ganz einfach, die Kollegen davon zu überzeugen, dass eine Frist doch nur Sinn macht, wenn man
etwas ausprobiert. Wir haben ausprobiert. Wir haben Erfahrungen gesammelt, nicht für vierzehn Tage, sondern
für vier Jahre.
({11})
Wir haben festgestellt: Die Probephase ist abgeschlossen.
Es hat sich bewährt. Wir haben nicht eine Demonstration
oder zwei Demonstrationen gehabt, sondern Hunderte.
Also gibt es keinen Grund für eine weitere Fristverlängerung. Eine bewährte Sache verdient es, keine Befristung
mehr zu bekommen. Also schaffen wir heute die Frist
ab, ganz entspannt und ohne Dramatik.
({12})
Wir werden damit auch in der Zukunft, denke ich, gut leben können.
Ich will noch einen Aspekt ansprechen und damit
wende ich mich an Sie persönlich, Frau Präsidentin. Wir
haben hier den Platz der Republik. Er war lange Zeit
eine Baustelle. Jetzt ist er weitgehend fertig gestellt. Ich
glaube, dass auf diesem Platz in Zukunft die ganz, ganz
großen Demonstrationen stattfinden werden, bei Themen, die die Nation bewegen,
({13})
wenn es möglicherweise um Krieg und Frieden oder um
andere Fragen von ähnlichem Gewicht geht. Das ist der
Platz, auf dem früher, zu anderen Zeiten, schon einmal
ganz, ganz große Demonstrationen stattgefunden haben.
Jetzt spanne ich den Bogen einmal von ganz ernst zu
nicht ganz so ernst. Ich höre, dass man auf dieser Wiese
dort nicht Fussball spielen darf.
({14})
Schadet es wirklich dem Ansehen und der Würde dieses
Hauses,
({15})
verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,
wenn da und dort einmal ein eleganter Doppelpass gespielt wird?
({16})
Ich bitte das Präsidium, das ja wohl das Hausrecht ausübt, insoweit noch einmal zu bedenken, ob man nicht da
und dort auch etwas toleranter sein kann.
({17})
Die Bundesrepublik Deutschland präsentiert sich in
diesem Parlamentsviertel weltoffen, zugänglich und so
entspannt, wie man uns das häufig nicht nachsagt. Wir
sind hier sehr entspannt. Hier kann man demonstrieren.
Hier kann man sich frei betätigen. Die Menschen kommen herein, nehmen dieses Parlament als ihr Haus der
Demokratie für Deutschland an. So sollten wir das insgesamt auch halten.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem insgesamt gesehen gut gelungenen Gesetz. Die Frist muss jetzt aufgehoben werden, weil es für die Befristung keinen Grund
mehr gibt.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
({18})
Und Sie garantieren dann für die Eleganz des Doppelpasses?
Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Strobl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bis zum Jahr 1999 wurde die Funktionsfähigkeit
auch des Deutschen Bundestages durch das so genannte Bannmeilengesetz aus dem Jahre 1955 geschützt. Dieses Gesetz hat sich in 44 Jahren deutscher
Parlamentsgeschichte außerordentlich bewährt, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in diesem
Hause.
({0})
- 44 Jahre lang, Herr Ströbele. - Dieses Gesetz hat sich
insbesondere auch in den schwierigen Situationen bewährt, die es ja zuweilen gab. Ich erinnere etwa an die
Asylrechtsdebatte im Bonner Bundestag. Die älteren
Kollegen - es gibt sie ja noch - dürften sich noch sehr
gut erinnern. Damals ist klar geworden, dass eine Bannmeilenregelung notwendig ist. Das ist ja in diesem
Hause - Herr Kollege Ströbele, Ausnahmen gibt es weitgehend unstreitig.
Thomas Strobl ({1})
Wir meinen, dass wir Regelungen brauchen, die ein
Funktionieren von Verfassungsorganen auch in schwierigen Situationen und in Krisenzeiten ermöglichen. Auch
das ist ja weitgehend unumstritten; auf alle Fälle ist es
die eindeutige Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Genauso unbestritten ist freilich, dass jede Bannmeilenregelung in einem gewissen Spannungsverhältnis zu
Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes und der darin verbürgten Versammlungsfreiheit steht. Wir akzeptieren und
respektieren selbstverständlich diese grundrechtliche
Wertentscheidung des Verfassungsgesetzgebers. Sie
steht aber nicht im Widerspruch zu einer Bannmeilenregelung, denn der Verfassungsgesetzgeber hat ja aus gutem Grund in Art. 8 Abs. 2 des Grundgesetzes in Form
eines Gesetzesvorbehaltes ausdrücklich „durch Gesetz
oder aufgrund eines Gesetzes“ Beschränkungen der Versammlungsfreiheit vorgesehen bzw. eingeräumt.
({2})
Insofern kann an einer grundsätzlichen Zulässigkeit von
Bannmeilenregelungen keinerlei Zweifel bestehen.
Mit dem Umzug des Deutschen Bundestages nach
Berlin hat die rot-grüne Koalition das 44 Jahre geltende
Bannmeilengesetz durch das Gesetz zur Neuregelung
des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes ersetzt. Zur alten Regelung ergeben sich nicht geringe Unterschiede. Die bis 1999 geltenden Regelungen beinhalteten
gesetzestechnisch ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt,
das heißt, ob Demonstrationen innerhalb der befriedeten
Bezirke zulässig waren, war letztlich eine Ermessensentscheidung im Einzelfall. Dass die Ausübung dieses Ermessens niemals willkürlich oder unverhältnismäßig
sein darf und dass Ermessensentscheidungen auch gerichtlich überprüft werden konnten und können, ist
selbstverständlich. Mit dem neuen Gesetz wurde ab
1999 das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt
durch einen schlichten Genehmigungsvorbehalt ersetzt. Das heißt, jedermann und jedwede Organisation
haben nun einen Rechtsanspruch darauf, auch innerhalb
befriedeter Bezirke zu demonstrieren. Wir haben kein
Ermessen mehr; es besteht ein klarer, im Zweifel einklagbarer Rechtsanspruch.
Außerdem wurden die Sanktionsmöglichkeiten geändert. Aus dem Straftatbestand der Bannkreisverletzung wurde eine bloße Ordnungswidrigkeit. Dies begegnet ernst zu nehmenden Bedenken.
Ganz sicher war man sich im Übrigen seiner Sache
wohl nicht, denn man hat das neue Gesetz ja seinerzeit
mit einer auflösenden Befristung zum 30. Juni 2003 und
einer regelmäßigen Berichtspflicht des Bundesministers
des Innern vor dem Deutschen Bundestag versehen. Diesem Bericht des Bundesinnenministeriums entnehmen
wir gerne, dass unter der neuen Rechtslage keine Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit von Verfassungsorganen des Bundes eingetreten sind. Diese positive Bilanz
nehmen wir selbstverständlich zur Kenntnis.
Wir, die CDU und die CSU, entnehmen dem Bericht
des Bundesinnenministers aber auch, dass das neue Gesetz innerhalb des Berichtszeitraums noch keine Bewährungsprobe zu bestehen hatte, da - ich zitiere aus dem
Bericht des Bundesinnenministers -:
... nicht kontrollierbare Massenversammlungen... im
Berichtszeitraum nicht eingetreten
sind. Das neue Recht war also Belastungen, wie es sie
etwa zu Bonner Zeiten durchaus gegeben hatte, noch
nicht ausgesetzt. So begegnet die Aussage, Herr Kollege
Wiefelspütz, es habe sich bewährt, durchaus gewissen
Zweifeln.
({3})
Dass Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
nicht ganz frei von Zweifeln sind, zeigt im Übrigen ein
Blick in Ihre eigene Gesetzesbegründung, nach der Sie
an der Berichtspflicht generell festhalten wollen.
({4})
Im vorletzten Absatz des allgemeinen Teils der Begründung schreiben Sie:
Es soll aber sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber in diesem sensiblen Bereich der Abwägung
zwischen dem notwendigen Schutz der Arbeitsund Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane und
dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit über die
nötige rechtstatsächliche Erkenntnisgrundlage für
die Kontrolle und gegebenenfalls die Fortentwicklung und Anpassung des geltenden Rechts verfügt.
({5})
Zu Beginn einer Legislaturperiode ist es damit dem
Gesetzgeber möglich, die bisherige Praxis zu bewerten und zu prüfen, ob die Sonderregelung für
den Schutz der Verfassungsorgane des Bundes neben dem der Versammlungsfreiheit weiter bestehen
muss oder wegfallen kann.
({6})
Offensichtlich sind also auch bei Rot-Grün durchaus gewisse Zweifel vorhanden.
({7})
Zu diesen Zweifeln, die in der Gesetzesbegründung
zum Ausdruck kommen, passt es allerdings nicht, dass
Sie heuer die Befristung, unter der das Gesetz bisher
stand, gänzlich aufheben. Wir halten es für sachgerecht,
die am 30. Juni dieses Jahres auflösende Befristung des
Gesetzes um weitere vier Jahre, bis zum 30. Juni 2007,
zu verlängern. Damit wäre Gelegenheit, mit dem derzeitigen Gesetz weitere Erfahrungen zu sammeln, gegebenenfalls auch dann, wenn das Gesetz Belastungen ausgesetzt sein sollte,
({8})
Thomas Strobl ({9})
die bis jetzt - Gott sei Dank - nicht eingetreten sind. Das
Gesetz könnte sich dann aber jedenfalls wirklich bewähren.
Noch eine Bemerkung am Rande. Alle, inzwischen
auch die Bundesregierung, reden von Bürokratieabbau
und Entbürokratisierung. In diesem Zusammenhang
wird immer wieder auch von der Befristung von Gesetzen geredet. Hier haben wir nun ein Gesetz mit einer Befristung, die Sie jedoch, meine Damen und Herren von
Rot-Grün,
({10})
mit Ihrem heutigen Gesetzentwurf gerade abschaffen
wollen.
({11})
Das passt nicht ganz in diesen Zusammenhang.
Wir wollen als CDU/CSU ganz pragmatisch und ohne
jede Ideologie,
({12})
die die Angelegenheit im Übrigen auch nicht verdient,
dem geltenden Gesetz die Chance geben, sich tatsächlich
zu bewähren. Wir wollen weiter Erfahrungen sammeln.
Dann wäre der Deutsche Bundestag in vier Jahren aufgefordert, aufgrund der gemachten Erfahrungen erneut zu
beraten und zu entscheiden.
Wir halten dies unter allen Gesichtspunkten für eine
sachgerechte Lösung. Deswegen haben wir entsprechende Anträge im 1. Ausschuss und im Innenausschuss
eingebracht und bringen diese Anträge heute auch hier
im Plenum ein und bitten um Zustimmung.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Christian Ströbele.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Wenn man die Vertreter der CDU/CSU im Ausschuss
und auch hier reden hört, dann hat man immer ein bisschen den Eindruck, Demonstrationen würden eigentlich als etwas Störendes empfunden. Ich sage Ihnen als
Vertreter einer Fraktion und einer Partei, die auch aus
Bewegungen, Demonstrationen und Meinungskundgaben auf der Straße entstanden ist, dass Demonstrationen
und Meinungskundgaben auf öffentlichen Plätzen und
Straßen in einer Demokratie dazugehören
({1})
wie die Luft zum Atmen für die Menschen.
({2})
Deshalb ist es auch richtig, logisch und nachvollziehbar,
dass die Beatmung des Parlaments, des wichtigsten Organs in der Demokratie, auch aus der Nähe stattfinden
können muss, das heißt auch in unmittelbarer Umgebung
des Reichstagsgebäudes bzw. des Bundestages.
({3})
Deshalb waren und sind wir eigentlich der Meinung,
dass eine Bannmeile um ein Parlament, um den Deutschen Bundestag, überflüssig ist
({4})
und dass wir uns durchaus einreihen könnten in die alten
Demokratien, ob USA, England, Frankreich oder andere,
die so etwas gar nicht kennen. Man kann beispielsweise
auf den Stufen des Kapitols demonstrieren; daran stört
sich keiner. In London und in Paris ist es genauso. Wir
haben immer dafür gefochten, dass das auch in Deutschland möglich ist.
Herr Kollege Ströbele, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Ja, wenn es der Sache und der Wahrheitsfindung
dient.
Das weiß man vorher nie.
Meine Frage dient der Sache und der Erkenntnisfindung.
Herr Kollege Ströbele, ich kann das, was Sie sagen, ja
unterschreiben.
({0})
Aber sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass es auch in
einer Demokratie und in demokratischen Prozessen
Grenzen geben muss, an denen man sein eigenes Bewusstsein schärfen und mit deren Hilfe man seine Entwicklung voranbringen kann? Sie sind doch selbst ein
gutes Beispiel dafür; denn gerade aufgrund dieser Grenzen, die Sie in Ihrer Jugendzeit erfahren haben, sind Sie
dahin gekommen, wo Sie heute stehen.
Herr Kollege Schauerte, Sie verkennen mich völlig.
({0})
Ich halte Demonstrationen nach wie vor für ein ganz
wichtiges demokratisches Mittel zur Willensbildung.
({1})
Ich bemühe mich, an fast allen Demonstrationen in Berlin teilzunehmen. Ich lasse nur die eine oder andere Demonstration aus, wie etwa Demonstrationen, die mit
Traktoren und mit Lastwagen durchgeführt werden.
Ich bin der Meinung, dass man sich in dieser Beziehung nicht verändern, sondern dass man seinen Idealen
treu bleiben sollte. Deshalb sage ich: Ich demonstriere
weiter für die politischen Ziele, für die ich einstehe. Es
gibt hin und wieder Demonstrationen, für deren Ziele ich
nicht eintrete und an denen ich deshalb nicht teilnehme.
Aber bei den meisten kann ich meine Überzeugungen
sehr gut wiederfinden.
Es ist doch nicht so, wie immer wieder dargestellt
wird, dass öffentliche Einrichtungen wie Parlament,
Bundeskanzleramt und Bundespräsidentenvilla schutzlos sind. Es gibt ein Versammlungsgesetz und ein Polizeigesetz, nach denen ein polizeilicher Schutz selbstverständlich immer möglich ist, wenn von Demonstrationen
eine Gefährdung ausgeht. Dieser Punkt wird oft übersehen. Verhältnisse wie in London, Washington und Paris
wären ohne Bannmeilengesetz und auch ohne dieses
vorliegende Gesetz auch in Berlin möglich.
({2})
Wir haben uns auf dieses Gesetz geeinigt, weil wir
der Meinung sind, dass es unseren Vorstellungen sehr
weit entgegenkommt. Es hat in der Tat nur ganz wenige
Ausnahmen gegeben - ich komme gleich auf eine, die
ich bedauere -, wo Demonstrationen in Reichstagsnähe
nicht stattfinden konnten. Ansonsten fanden an dieser
Stelle Hunderte von Demonstrationen statt. Das war gut,
belebend und richtig, selbst wenn der eine oder die andere den jeweiligen Parolen nicht zustimmen wollte. Das
Gesetz hat sich also tatsächlich bewährt.
Aber ich will gar nicht darum herumreden - der Kollege Wiefelspütz hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass
wir uns zunächst für eine weitere Befristung mit dem
Ziel eingesetzt haben, irgendwann dieses Gesetz endgültig streichen zu können. Dafür gab es bei uns eine ganze
Reihe von Befürwortern; ich habe auch dazu gehört.
Der Kollege Wiefelspütz hat dann angefangen, mich
zu überzeugen.
({3})
Aber letztlich haben Sie von der CDU/CSU mich überzeugt, weil Sie eine Befristung des Gesetzes wollen, um
das alte, einschränkende - ich sage einmal: demokratietheoretisch sehr bedenkliche - Bannmeilengesetz wieder
einzuführen. Das hat mich davon überzeugt - so denkt
auch meine Fraktion -, dass wir auf keinen Fall befristen
dürfen; denn dieses Risiko, dass das Gegenteil von dem
herauskommt, was wir wollen - nämlich möglichst freie
Agitations- und Demonstrationsmöglichkeiten auch in
Reichstagsnähe -, dürfen wir nicht eingehen.
({4})
Wir sind deshalb gegen eine erneute Befristung. Wir
wollen das Gesetz unbefristet weiterlaufen lassen. Wir
wollen allerdings Berichte bekommen, wenn es Probleme geben sollte, die es in der Vergangenheit nicht gegeben hat.
Noch eine abschließende Bemerkung. Man hat
manchmal den Eindruck, dass nicht die Polizei, nicht das
Innenministerium und auch nicht das Präsidium des
Bundestages Demonstrationen und Lebensäußerungen
vor dem Reichstag verhindern, sondern das Gartenbauamt Tiergarten-Mitte.
({5})
Das gilt übrigens nicht nur für das Fußballspielen,
sondern auch für die große Friedensdemonstration
vom 15. Februar dieses Jahres, von der ich mir gewünscht hätte, dass sich die Abschlusskundgebung in
die Tradition der großen Demonstrationen vor dem
Reichstag - damals in Westberlin - hätte einreihen und
hier vor dem Reichstag hätte stattfinden können.
({6})
Das war aus Gründen des Rasens und anderer formaler
Gründe angeblich nicht möglich. Sie musste ein paar
Meter von hier entfernt auf der Straße des 17. Juni stattfinden.
Ich bin dafür, dass solche Demonstrationen wie übrigens auch die Abschlusskundgebung des Kirchentages,
wie ich gehört habe, sehr wohl vor dem Deutschen
Reichstag ihren Platz haben. Hier soll zu allen wichtigen
Gelegenheiten demonstriert werden. Auch andere Lebensäußerungen wie beispielsweise Fußballspielen sollen hier stattfinden können. Ich meine, es ist für diesen
Reichstag eine Zierde, wenn man vor dem Reichstag
tummelnde, liegende, sich unterhaltende, Volleyball oder
Fußball spielende Menschen bei schönem Wetter erleben
kann. Das ist eine gute Tradition. Die haben wir hier eingeführt und die sollten wir fortsetzen. Die sollten wir uns
auch nicht vom Bezirksamt Berlin-Mitte, das für Tiergarten zuständig ist, verderben lassen.
Deshalb sind wir dafür, das neue Gesetz unbeschränkt
gelten zu lassen. Den Antrag auf Befristung werden wir
ablehnen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Wiefelspütz hat es schon angekündigt: Die
FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Das haben wir im Jahre 1999 nicht getan; denn wir hatten Bedenken. Ich finde, es ehrt einen, wenn man sagt,
dass sich die Bedenken nicht bewahrheitet haben.
Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin sogar froh, dass
sie sich nicht bewahrheitet haben. Wir waren offen und
haben einen Schritt hin auf die Menschen gemacht. Wir
haben ihnen Vertrauen entgegengebracht. Heute müssen
wir feststellen: Die Menschen haben dieses Vertrauen
gerechtfertigt. Das erfreulichste Ergebnis der heutigen
Debatte ist für mich, dass wir das feststellen können.
Es haben sehr viel mehr Demonstrationen stattgefunden als in Bonn. Die Demonstrationen sind sehr viel näher am Parlamentsgebäude gewesen als in Bonn. Wir
müssen feststellen, dass wir in der ganzen Zeit nie in unserer Arbeitsfähigkeit - von wenigen Ausnahmefällen zu
Beginn abgesehen, als die Zugänge zum Gebäude noch
nicht so vielfältig waren wie heute - beeinträchtigt worden sind.
Deshalb sind beide Ziele zu erreichen: auf der einen
Seite die Möglichkeit zu demonstrieren, die ganz selbstverständlich zu einer Demokratie gehört, und auf der anderen Seite die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu
gewährleisten.
Ich verstehe nicht ganz, warum die CDU/CSU eine
neue Befristung will. Denn das bedeutet ja, dass das jetzige Gesetz weiter gilt. Das insinuiert auch, dass man der
Auffassung ist, dass dieses Gesetz, so wie es im Augenblick besteht, offensichtlich den Anforderungen gerecht
wird.
Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass beispielsweise aufgrund einer anderen Entwicklung der
Demonstrationskultur reagiert werden müsste, dann
müssen wir unabhängig davon, ob ein befristetes oder
ein unbefristetes Gesetz gilt, selbstverständlich die entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen treffen. Wir
als FDP werden dafür sorgen, dass sie getroffen werden,
weil für uns die Funktionsfähigkeit des Parlaments ein
hohes Gut ist.
Ich denke, dass wir nach dem Erfahrungshorizont,
den wir jetzt haben, klar sagen können: Das neue Gesetz
kann unbefristet gelten. Ich hoffe, dass die vernünftige
Praxis, die sich eingespielt hat, dazu beiträgt, dass wir
weiter viele friedliche Demonstrationen sehen und das
Parlament trotzdem vernünftig tagen kann.
Zum Schluss will ich einen Aspekt ansprechen, der
mich eigentlich am meisten freut. Wir hatten bei der
Bannmeilenregelung eine sehr starre Regelung, die beispielsweise auch dann galt, wenn der Bundestag gar
nicht tagte. Dass wir das heute anders handhaben, halte
ich für einen ganz wesentlichen Fortschritt.
({1})
Von daher wiederhole ich: Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf zustimmen und dafür sorgen, dass wir eine endgültige Regelung haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/970? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der CDU/
CSU abgelehnt worden.
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Der
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 15/969, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik
Bulgarien, der Republik Estland, der Republik Lettland, der Republik Litauen, Rumäniens, der Slowakischen Republik und der
Republik Slowenien
- Drucksache 15/906 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Herr Bundesminister Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Beitritt der sieben europäischen Demokratien Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien,
Slowakei und Slowenien zur NATO ist ein weiterer großer Schritt auf dem Weg zu einem ungeteilten und freien
Europa, zu mehr Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum und zu einer gestärkten NATO.
({0})
Die Öffnung des Bündnisses nach Osten und Südosten Europas und die Erweiterung der Europäischen
Union waren die historischen, politisch einzig richtigen
Antworten auf die Jahrzehnte der Teilung Europas, auf
Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent. Die Festigung und Erweiterung des europäischen Stabilitätsraumes war und ist immer noch zwingende Konsequenz sowohl der veränderten europäischen Situation selbst als
auch der Entwicklung und der neuen Herausforderungen
in der Welt der Globalisierung. Der Beitritt dieser neuen
Mitglieder im nächsten Jahr wird die Allianz stärken; er
wird die Fähigkeit der NATO verbessern, die veränderten Herausforderungen zu meistern. Das setzt allerdings
voraus, dass die neuen Mitglieder die Reformbemühungen der vergangenen Jahre auch nach dem Beitritt
fortsetzen; dazu haben sie sich verpflichtet.
Wir, die Bundesregierung, werden unsererseits alles
tun, um, wie bisher, die sieben eingeladenen Kandidaten
und auch die drei Aspiranten Albanien, Kroatien und
Mazedonien bilateral konkret bei der Vorbereitung auf
die NATO-Mitgliedschaft zu unterstützen - zum Beispiel durch Ausbildungshilfe, Materialhilfe und militärpolitische Konsultationen.
Deutschland gehörte vor wenigen Jahren aus guten
Gründen zu den politischen Vorreitern einer Öffnung der
Allianz für Polen, Tschechien und Ungarn. Als Land in
der Mitte Europas werden wir auch von der zweiten Beitrittsrunde in besonderer Weise profitieren. Deshalb wollen wir eine zügige Ratifizierung der NATO-Beitrittsprotokolle. Denn das ist auch ein wichtiges politisches
Signal an unsere europäischen Nachbarn.
({1})
Natürlich bringt der Beitritt von gleich sieben Staaten
besondere Herausforderungen für das Bündnis mit
sich. Aber die Öffnung des Bündnisses für die neuen Demokratien im Osten Europas war von Anfang an Teil einer ehrgeizigen Agenda, mit der wir das Bündnis politisch und militärisch auf das 21. Jahrhundert ausrichten
wollen.
Neue Fähigkeiten und neue Mitglieder machen seit
dem NATO-Gipfel 1999 im Kern die Transformation der
Allianz zu einem Bündnis mit Zukunft aus. Deshalb ist
es so wichtig, dass die NATO die auf dem Gipfel in
Prag im vergangenen November getroffenen Entscheidungen zur Anpassung an die neuen Bedrohungen und
Konfliktlagen konsequent umsetzt. Diese gehen über die
dort getroffene Entscheidung zur Einladung neuer Mitglieder hinaus.
Ich spreche von der neuen Fähigkeitsinitiative von
Prag, durch die die NATO in die Lage versetzt wird, mit
den komplexen Gefährdungen und Bedrohungen, wo
immer sie ihren Ursprung haben, besser fertig zu werden. Ich meine auch die Erarbeitung einer neuen NATOKommandostruktur bis zum Juni 2003, die ganz wichtig
ist, um Effizienz, Wirkungsmöglichkeiten und politische
Kohärenz des Bündnisses trotz Erweiterung zu erhalten.
Natürlich denke ich auch an die Schaffung der
NATO-Response-Force, der multinationalen Eingreiftruppe mit schneller Verfügbarkeit, für die bereits 2004
eine erste Einsatzfähigkeit bestehen soll. Sie wird Effizienz und Glaubwürdigkeit der Allianz in einem zentralen
Punkt erhöhen und die Transformation der Allianz zu einem Bündnis untermauern, das rasch handeln kann, wo
immer die Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten betroffen sind.
Diese Transformation des Bündnisses ist noch lange
nicht abgeschlossen, wir sind aber auf gutem Wege. So
stellen wir sicher, dass die NATO als die zentrale Sicherheitsinstitution der euro-atlantischen Demokratien
auch weiterhin ihre Aufgabe erfüllen wird. Es gibt keine
Alternative zu einer handlungsfähigen NATO und der
transatlantischen Partnerschaft demokratischer Staaten.
Es gibt keine Alternative zu einem Bündnis, das einen
einzigartigen transatlantischen Konsultationsrahmen für
gemeinsame Analysen und gemeinsames Handeln bietet.
Das sage ich deutlich in Richtung derjenigen, die gelegentlich ernsthafte Debatten zwischen Bündnismitgliedern zum Anlass nehmen, den Niedergang der nordatlantischen Allianz zu prophezeien.
({2})
Wenn dem so wäre, dann frage ich: Warum hat die
NATO auch unter den neuen Bedingungen unserer Sicherheit wiederholt ihre besonderen Fähigkeiten für
wirksame Krisenreaktionen unter Beweis gestellt: in
Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Mazedonien, im
Kampf gegen den Terror? Bald schon wird sie es auch
stärker in Afghanistan tun. Wenn dem so wäre, frage ich:
Warum hat die NATO bis heute ihre Attraktivität für
neue Mitglieder nicht verloren?
Fest steht doch: Gemeinsame Werte, gemeinsame Interessen und gemeinsame Geschichte befreundeter und
verbündeter Staaten führen nicht automatisch zur identischen Beurteilung konkreter politischer Fragen. Gemeinsames Handeln muss immer wieder im Dialog und
in der Diskussion zwischen souveränen Staaten abgestimmt werden. Die Irakerfahrung hat das bestätigt.
Fest steht aber auch: Die NATO hat weder als Bündnis gemeinsamer Verteidigung und gegenseitigen Beistands noch als Forum umfassender Krisen- und Konfliktverhütung und -bewältigung ausgedient, ganz im
Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, dass die NATO der
Zukunft noch stärker in der Lage sein wird, die Interessen ihrer Mitglieder dort zu verteidigen, wo sie wirklich
gefährdet sind, noch besser ihre militärischen Fähigkeiten auf der Grundlage eines umfassenden Sicherheitsverständnisses an die neuen Bedrohungen anpasst und noch
mehr bereit und in der Lage sein wird, mit anderen Sicherheitsorganisationen, insbesondere mit einer handlungsfähigeren Europäischen Union, zu kooperieren.
Dieses Bild der NATO schließt ein: Wer ein starkes
transatlantisches Bündnis will, der muss den europäischen Pfeiler, der muss Europa stärken.
({3})
Die von uns angestrebte strategische Partnerschaft zwischen NATO und Europäischer Union ist der einzige
Weg, wie ein starkes Amerika und ein neues und stärkeres Europa konstruktiv zusammenwirken können, um
ihre gemeinsamen Ziele bestmöglich zu erreichen.
Die Bundesregierung ist zum umfassenden Engagement in der NATO und der Europäischen Union bereit;
das haben wir in den vergangenen Monaten und Jahren
mehr als deutlich unter Beweis gestellt.
({4})
Dafür spricht nicht nur unser politisches Handeln, sondern auch das Engagement von mehr als 100 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die seit 1998
zusammen mit Verbündeten und Partnern an internationalen Einsätzen teilgenommen haben.
({5})
Ihren Bemerkungen, Herr Nolting, entnehme ich, dass
Sie Ihren Zwischenruf wieder zurücknehmen.
Dafür sprechen auch die konkreten und weit reichenden Reformanstrengungen, mit denen wir die Bundeswehr auf die neue Sicherheitslage und die veränderten
Verpflichtungen innerhalb von NATO und Europäischer
Union ausrichten.
Noch in diesem Monat werde ich erstmals nach über
zehn Jahren wieder verteidigungspolitische Richtlinien
erlassen. Sie bilden die konzeptionelle Grundlage für die
erforderliche Anpassung der Bundeswehr an grundlegend veränderte Bedingungen und Risiken und an die
fortentwickelte NATO-Strategie. Die verteidigungspolitischen Richtlinien werden verdeutlichen: Die Bundeswehr wird konsequent mit Blick auf die wahrscheinlichsten Aufgaben im Bereich der internationalen
Krisenbewältigung umgestaltet.
({6})
Die herkömmliche Landesverteidigung kann nicht mehr
vorrangig die Strukturen und Fähigkeiten der Bundeswehr bestimmen. Die erhöhten Anforderungen im internationalen Einsatz verlangen für die Bundeswehr zwingend ein verändertes Fähigkeitsprofil und einen
teilstreitkraftübergreifenden Gesamtansatz für Beschaffung und Ausrüstung.
Deshalb überprüfen wir alle Rüstungsvorhaben konsequent mit Blick auf die künftigen militärischen Erfordernisse. Wichtige Entscheidungen hierzu habe ich bereits Ende letzten Jahres getroffen. Weitere werden auf
der Grundlage der verteidigungspolitischen Richtlinien
in Kürze folgen.
Deutschlands Platz, so hat es der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung vor wenigen Wochen am
3. April formuliert, ist bei der Durchsetzung von Frieden
und Sicherheit in der Staatengemeinschaft, in unseren
Bündnissen und vor allem in Europa. Deshalb unterstützen wir den Beitritt weiterer Demokratien zur NATO.
Deshalb tun wir alles, um die Bundeswehr als leistungsfähiges Instrument unserer Außenpolitik für den multinationalen Einsatz zusammen mit unseren Verbündeten
und Partnern zu erhalten.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das meiste dessen, was der Herr Bundesminister Struck zur NATO und zum Prozess der Erweiterung
gesagt hat, können wir nur unterstreichen.
({0})
Aber eines können wir, wenn wir diese schönen Sonntagsreden hören, nicht nachvollziehen, nämlich warum
so wenig konkret für die Kraft und Ausstrahlung der
NATO getan wird.
({1})
CDU und CSU begrüßen, dass die Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Estland, Lettland und Litauen als neue NATO-Mitglieder zu uns stoßen. Aus diktatorisch regierten Ländern sind Demokratien geworden,
aus Feinden Freunde. Die Erweiterung der NATO erhöht
die Stabilität in Europa in einer instabilen und gefährlichen Welt.
Wir als CDU/CSU sind stolz darauf, dass der erste,
der das Thema der Öffnung des Bündnisses auf die internationale Tagesordnung gebracht hat, und zwar bereits
vor zehn Jahren, Verteidigungsminister Volker Rühe gewesen ist. Der ganze Prozess der NATO-Erweiterung ist
mit den Namen Kohl und Rühe verbunden. Wir freuen
uns, dass dieser Prozess jetzt, wenn auch nicht zum Endpunkt, so doch zu einer ganz wichtigen Weichenstellung
gekommen ist.
({2})
In der ersten Erweiterungsrunde haben die Europäer
konzeptionell vorgedacht und als Fürsprecher der Mittelund Osteuropäer in Amerika gewirkt. Sie haben die
Amerikaner überzeugt, die am Anfang sehr skeptisch
waren. In der zweiten Runde war es leider umgekehrt: In
der zweiten Runde haben die Europäer konzeptionell
quasi gar nichts gemacht, sondern gewartet, wie man
sich in Washington entscheidet. Deshalb wird auch die
jetzige NATO-Erweiterung in den Ländern Mittel- und
Osteuropas nicht den Deutschen und den anderen europäischen Staaten zugerechnet. Vielmehr richtet sich der
Dank dieser Staaten in erster Linie an Amerika.
Ich finde es schade, dass wir uns in dieser ureigensten
europäischen Frage, nämlich der Integration Mittel- und
Osteuropas in das Atlantische Bündnis nicht selbst engagiert und konzeptionell vorgedacht haben sowie als Fürsprecher dieser Länder aufgetreten sind. Dann hätten wir
mehr europäisches Gewicht; davon reden doch immer
alle. Warum hat man diese große Chance verpasst?
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten
Wochen und Monaten viel über den Frieden am Golf
gesprochen, der uns allen am Herzen lag und liegt. Die
Bundesregierung hat allerdings nicht viel dazu beigetragen, den Frieden in dieser Region zu erhalten. Sie hat
sich auf eine Achse der Wirkungslosigkeit mit Frankreich und Russland eingelassen. Auf diese Weise hat sie
zum Frieden nicht wirklich etwas beigetragen. Was sie
damit in den letzten Monaten aber leider bewirkt hat, ist
die Spaltung von EU und NATO. EU und NATO sind
heute, nach den Problemen, Sorgen und Konflikten der
letzten sechs Monate, schwächer denn je. Das gefährdet
den Frieden auch bei uns; denn EU und NATO sind die
beiden Institutionen, die über fünf Jahrzehnte hinweg
den Frieden bei uns garantiert und zu einer Stabilisierung beigetragen haben.
({4})
Was sind die Gründe für diesen Besorgnis erregenden
Bedeutungsverlust? Joseph Nye, der als ein hoher Berater der Clinton-Regierung wirklich nicht im Verdacht
steht, ein Fan von George Bush zu sein, sagte am
23. April in einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“:
Deutschland hat seine Politik in der Vergangenheit
ja immer auf zwei Beine gestellt: auf ein atlantisches und auf ein europäisches. Die Regierung
Schröder hat im vergangenen Jahr offenkundig entschieden, das eine Bein wegzuhauen. Das ist neu.
({5})
Das, was Joseph Nye sagt, trifft genau den Kern des
Problems. Alle Kanzler, von Adenauer über Brandt und
Schmidt bis zu Kohl, haben immer eine Balance zwischen der Orientierung auf das atlantische Bündnis und
auf Europa gefunden. Wir als Deutsche haben es immer
als unsere Aufgabe in Europa verstanden, nicht zu
gaullistisch zu sein, wie man das nannte, und nicht zu atlantisch zu werden, die Briten davon abzuhalten, sich zu
eng an Amerika zu binden und die europäische Orientierung zu vernachlässigen und die Franzosen davon abzubringen, Europa als Gegengewicht zu Amerika organisieren zu wollen.
Diese wichtige Funktion, die verschiedenen Positionen zusammenzuführen, wie Kohl, Schmidt und
Adenauer es immer wieder erfolgreich gemacht haben,
die eine gemeinsame europäische Position formuliert
haben, die dann durch ihr Gewicht die Chance hatte, in
Amerika gehört zu werden, haben wir in dieser Situation
nicht wahrgenommen. Wir haben die anderen Länder
nicht zusammengeführt. Im Gegenteil: Deutschland war
durch seine Vierer-Gipfel und seine Dreier-Achsen der
Spaltpilz der Allianz und der Europäischen Union. Diese
Art der Politik hat uns in Europa geschwächt und nicht
gestärkt.
({6})
Die Bildung der Dreier-Achse, der Versuch, sich mit
Russland und Frankreich auf höchster Ebene zum wiederholten Mal zu treffen, um die Politik zu bestimmen
und Deklarationen zu verabschieden, hat gerade in Mittel- und Osteuropa große Ängste wiederbelebt. Gestern
war eine polnische Delegation unter Vorsitz des polnischen Europaausschussvorsitzenden Oleksy bei mir zu
Gast, deren Mitglieder bestimmt keine Christdemokraten und ganz bestimmt keine besonderen Freunde der
Bush-Regierung waren. Die Delegationsmitglieder haben mir gesagt, eine solche Achsenbildung zwischen
Deutschland und Russland über ihre Köpfe hinweg
würde in ganz Mittel- und Osteuropa die alten Ängste
wiederbeleben. Die drei Teilungen Polens liegen tief in
der polnischen Seele. Warum hat man in so unseliger
Weise in den letzten Wochen und Monaten immer wieder daran angeknüpft?
({7})
Vor allem aber sagen die Mittel- und Osteuropäer sehr
deutlich, dass sie sich nicht zwischen Europa und Amerika entscheiden wollen müssen. Sie haben uns aufgefordert, ihnen zu helfen, dass sie sich durch solche Achsenbildungen nicht öffentlich gegen Amerika und Spanien
positionieren müssen, dass sie sich nicht entscheiden
müssen. Sie wollen das, was wir Deutschen über
50 Jahre hinweg gemacht haben, nämlich europäische
und atlantische Orientierung in der Balance halten.
Der zentrale Fehler der Aufgabe der Balance ist bei
dem Vierer-Gipfel vor wenigen Tagen in Brüssel wiederholt worden. Natürlich ist es legitim und notwendig, die
europäische Verteidigung auszubauen.
({8})
Natürlich ist es notwendig und über das Instrument der
verstärkten Zusammenarbeit auch möglich, dass einige
Länder bei einzelnen Fragen in Europa zunächst einmal
voranpreschen und andere einladen, ihnen zu folgen.
({9})
Auf diesem Gebiet war das aber in der Tat nicht notwendig; denn wir haben bereits eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine Militärkommission, also ein permanentes Sicherheitskomitee, und
eine entsprechende Bürokratie. Wir bauen an einer Eingreiftruppe, die noch in diesem Jahr voll einsatzfähig
sein soll. Warum wird in der jetzigen Situation ein solcher Vierer-Gipfel durchgeführt? Warum soll etwas
Neues geschaffen werden, obwohl das Alte immer noch
nur ein Papiertiger ist? Warum wird die bestehende
ESVP nicht gestärkt? Es kommt nicht auf neue Hauptquartiere und die 173. Deklaration und Willenserklärung
an, sondern darauf, dass die Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik endlich militärische Fähigkeiten in die Hand bekommt. Dann, und nicht durch solche
Absichtsbekundungen und Spaltergipfel, können wir als
Europäer mitsprechen.
({10})
Spanien und Italien fühlten sich ausgeschlossen. Ich
war in der letzten Woche bei der spanischen Außenministerin, Frau Palacio. Sie sagte: Natürlich können sich
vier Länder treffen. Sie sollen aber bitte nicht den Anspruch erheben, für Europa zu sprechen.
Damit bin ich beim nächsten Problem: Ich freue mich
über die Wiederbelebung der deutsch-französischen Zusammenarbeit.
({11})
Ich freue mich darüber, dass der Motor wieder läuft. Es
wäre aber noch besser, wenn das Auto, in dem sich dieser Motor befindet, in die richtige Richtung fahren
würde, nämlich in eine Richtung, durch die Europa zusammengeführt, die kleinen Ländern ernst genommen
und nicht der untaugliche Versuch unternommen wird,
ein Gegengewicht zu Amerika aufzubauen.
({12})
In dem Kommuniqué von Brüssel wird viermal von
der Notwendigkeit geredet, den A400M, das große
Transportflugzeug, zu bauen. Es liegt ein wenig der Verdacht nahe, dass man den mangelnden Fortschritt in der
Substanz mit viel Gerede verdecken will. Das ist übrigens das Grundproblem Ihrer Außenpolitik: Neue Institutionen werden geschaffen, neue Erklärungen abgegeben und zum zigsten Mal wird über den A400M geredet.
Wir wollen endlich davon wegkommen, immer neue Papiertiger und Papierflieger zu produzieren. Wir wollen
endlich Fortschritte in der Substanz sehen.
({13})
Was können wir in Zukunft besser machen? Ich
glaube, wenn wir es in den nächsten Monaten besser machen und wieder Vertrauen schaffen wollen - das liegt in
unser aller Interesse -, dann wird es mit das Wichtigste
sein, endlich wieder mit und nicht über Amerika zu
sprechen. Wir müssen endlich - auch auf der höchsten
Ebene - wieder direkt miteinander kommunizieren. Seit
Sommer des letzten Jahres hat es auf der höchsten
Ebene, nämlich zwischen Bush und Schröder, nur ein
einziges zehnminütiges Telefonat und nur einen einzigen
zehnsekündigen Händedruck gegeben. Das reicht nicht.
Dass der Kontakt zwischen einem amerikanischen Präsidenten und einem Bundeskanzler so schlecht ist, hat es
in der Nachkriegsgeschichte noch nie gegeben.
Man redet von mehr Europa und einem größeren
deutschen Gewicht und sagt, dass man mehr Profil zeigen möchte. Um das zu erreichen, muss man damit anfangen, dafür zu arbeiten, wieder einen direkten Draht
zum Präsidenten der größten Macht, nämlich Amerika,
zu haben. Das haben Sie sträflich vernachlässigt. Das ist
der eigentliche Fehler, der zu unserer Gewichtslosigkeit
in den letzten Wochen und Monaten geführt hat.
({14})
Ich finde es gut, dass Herr Struck nach Amerika geflogen ist und Herrn Rumsfeld getroffen. Das war ein
erster und wichtiger Schritt. Ich finde es aber ein wenig
komisch, dass das jetzt als Weltsensation behandelt wird.
Früher hat sich kein Mensch dafür interessiert, wenn ein
deutscher Verteidigungsminister nach Amerika geflogen
ist. Jetzt wird jede Miene auf die Goldwaage gelegt: Ist
Herr Rumsfeld freundlich oder ist er kühl? Dauert das
Gespräch 20 oder 25 Minuten? Sind Fotografen zugelassen? Die Bundesregierung fragt sich: Wird Herr Powell
freundlich genug sein? Wird er auch den Bundeskanzler
sehen? Wie lange wird er ihn sehen? Danach wird darüber berichtet. Ich finde das ziemlich würdelos.
({15})
Sie müssen in Amerika jetzt darum baggern, endlich
wieder ernst genommen zu werden. Momentan wird es
im öffentlichen Ansehen keine Emanzipation geben. Im
Gegenteil: Es kommt zu einem Hinterherlaufen, damit
man endlich wieder ins Gespräch kommt. Nicht die eindrucksvolle Reise von Frau Merkel, die in einer schwierigen Zeit Gesprächskontakte in Amerika aufrechterhalten hat, sondern Ihr Verhalten ist würdelos und
anbiedernd.
({16})
Das sollten Sie ändern. Beim Thema Irak sollten Sie
nicht die alten Fehler der Vorfestlegung wiederholen.
Herr Struck und Herr Fischer, ich lese Ihnen jetzt einmal
die Agenturmeldungen der letzten Tage vor: 7. Mai:
Deutschland lehnt Beteiligung an Irakfriedenstruppe ab,
dpa. 8. Mai: Struck für Prüfung eines NATO-Einsatzes
im Irak. 9. Mai, 8.35 Uhr: SPD bereitet Bundeswehreinsatz im Irak vor. 9. Mai, 10.58 Uhr: Laut Struck gibt es
keine konkreten Pläne.
Wir möchten gerne wissen, wie Sie sich vorstellen,
dass und unter welchen Umständen sich deutsche Soldaten beteiligen sollen. Wir möchten Sie bitten, mit diesen
dauernden Vorfestlegungen endlich aufzuhören. Gehen
Sie doch einmal offen in die Gespräche mit der amerikanischen Administration! Wir schlagen ein UNO-Mandat
mit der NATO als Auftragnehmer der UNO vor. Zusammen mit einigen arabischen Staaten könnte eine Art
NATO plus als Schutztruppe im Irak gebildet werden.
Das hat zwei Vorteile: Es befriedigt den amerikanischen
und britischen Wunsch nach einer starken eigenen Präsenz. Aber es schafft gleichzeitig eine Multinationalität.
Versuchen wir doch einmal, konstruktiv in diese Richtung zu arbeiten und uns nicht sofort jedes Einflusses dadurch zu berauben, indem wir erklären: Am Wiederaufbau beteiligen wir uns nicht und wir schicken keine
Soldaten in diese Region, wie es Frau Wieczorek-Zeul
gesagt hat.
Herr Kollege Pflüger, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Wir wollen keine Beteiligung an einem „Kolonialregime“, wie es der Kollege Nachtwei formuliert hat.
({0})
Hören Sie endlich mit Ihren Vorfestlegungen auf! Hören Sie auf, über andere zu reden, sondern reden Sie mit
ihnen! Finden Sie eine gemeinsame europäische Position! Unsere Bitte ist: Hören Sie mit den Vierer-Gipfeln
und den Dreier-Achsen auf! Wenn Sie das berücksichtigen, dann werden wir auch Europa wieder stärken können. Dann brauchen wir uns auch nicht länger über die
angebliche Dominanz Amerikas zu beschweren und daran herumzukritteln, sondern dann können wir endlich
etwas Konkretes für die europäische Stärke und das europäische Profil als Pfeiler in der Allianz tun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Pflüger, ich hatte den Eindruck, dass Sie sich vor allen
Dingen an Ihrer eigenen Rhetorik berauscht haben.
({0})
Ich möchte nun versuchen, einen Maßstab zu setzen, um
beurteilen zu können, welch großer historischer Fortschritt in dem heutigen Tag liegt, an dem wir die Osterweiterung der NATO im Deutschen Bundestag ratifizieren werden.
Erinnern wir uns, was der erste NATO-Generalsekretär als Aufgabe der NATO beschrieb: Die NATO dient
dazu, die Russen draußen zu halten, die Amerikaner
drinnen zu halten und die Deutschen unten zu halten.
Das war damals die Aufgabe. Was ist aus der Aufgabe
geworden, die Russen draußen zu halten? Diese Aufgabe
ist heute so überflüssig, wie sie in der Geschichte noch
nie war. Die Russen sind Partner geworden und werden
bald Freunde sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch
Russland und die Ukraine über den bestehenden NATORussland-Pakt und den NATO-Ukraine-Pakt hinaus in
einer erneuten Erweiterungsrunde noch enger an die
NATO gebunden werden.
({1})
Wir haben nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes über die Zukunft der NATO geredet. Dabei standen sich zwei Perspektiven gegenüber: Die einen
sprachen von einem System kollektiver Sicherheit von
Vancouver bis Wladiwostok, organisiert über die OSZE.
Ich gebe zu, dass dies die Lieblingsvorstellung meiner
Partei war. Anderen - das war teilweise der Hintergrund
der Politik von Herrn Rühe - ging es darum, die NATO
als hegemoniale Struktur gegenüber dem zusammengebrochenen Osten aufzubauen. Das haben wir damals kritisiert. Zum Glück hat sich in der Realität nun eine Entwicklung ergeben, die man als Kompromiss zwischen
diesen beiden Positionen ansehen kann, nämlich eine
Öffnung der NATO, ergänzt um die beiden eben von mir
erwähnten Pakte. Wir werden daher ein System kooperativer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok erreichen, wenn auch nicht auf Basis der OSZE. Aber insgesamt ist dies ein enormer Fortschritt, den wir begrüßen.
Deshalb werden wir dieser Erweiterung zustimmen.
Die zweite Dimension: die Amerikaner drinnen zu
halten. Das ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Wir
haben ein Interesse daran - bei allen Streitigkeiten in der
Irakfrage -, dass die amerikanische Seite in Europa präsent bleibt und dass die NATO eine tragfähige Grundlage für die zukünftige Gestaltung des transatlantischen
Verhältnisses bleibt. Wir sagen aber auch: Die NATO alleine reicht nicht mehr aus. Wir brauchen neue Dimensionen der transatlantischen Agenda, etwa was die globale Verantwortung angeht. Stichworte sind: KiotoProtokoll, Internationaler Strafgerichtshof. Auch auf diesen Ebenen müssen wir unseren Dialog mit den Vereinigten Staaten weiterführen und vertiefen. Grundlage
ist und bleibt aber die nordatlantische Gemeinschaft im
Rahmen der Sicherheitspolitik.
Wenn wir dies wollen, müssen wir bestimmte Ansprüche an Partnerschaft stellen. Partnerschaft im Rahmen des transatlantischen Bündnisses kann nicht bedeuten, dass ein Staat oder eine kleine Staatengruppe
unilateral Interessen definiert und quasi fordert, dass die
anderen Bündnispartner dem folgen, unabhängig davon,
ob das deren verfassungsrechtliche Lage möglich macht
bzw. von ihrer Interpretation des Völkerrechts gedeckt
ist.
({2})
Ich glaube, das war das eigentliche Problem, Herr
Pflüger. Daran aber haben Sie vorbeigeredet. Es ging
nicht um Imponiergehabe gegenüber den Vereinigten
Staaten; es ging darum, in einer Situation zugespitzter
politischer Entscheidungen einzuklagen, dass die Europäer Partner sind in einer Allianz und sie sich nicht ohne
weiteres hegemonialen Wünschen, die völkerrechtlich
zumindest fragwürdig sind, anschließen oder gar unterwerfen können. Verfassungsrechtlich war das für uns unmöglich zu akzeptieren.
({3})
Damit komme ich zur dritten Dimension, die Ismay
seinerzeit definiert hat: Deutschland unten halten. Dass
dies heute keine Zielsetzung mehr sein kann, liegt auf
der Hand. Aber aus dem neuen Selbstbewusstsein und
der wiedergewonnenen Souveränität leiten wir jetzt
nicht etwa Großmachtsansprüche ab. Vielmehr haben
wir gesagt: Souveränität und Selbstbewusstsein sind immer mit der Selbsteinbindung in internationale Zusammenhänge und mit der Selbstbeschränkung verbunden. Wenn wir über Selbsteinbindung reden, reden wir
gleichermaßen über die NATO wie über die Europäische
Union und die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität. Diese beiden Pole auszutarieren wird immerwährende Aufgabe deutscher Außenpolitik sein.
Wenn die Bundesregierung im Fall des Irakkrieges
eine kritische Position gegenüber der aktuellen Politik
der amerikanischen Administration bezogen hat, dann
heißt dies nicht, dass die Stärkung des europäischen
Pfeilers gegen die USA gerichtet ist. Es heißt nur, dass
die Europäer dabei sind, genau das Selbstbewusstsein zu
entwickeln, das wir im transatlantischen Bündnis - als
zweiten Pfeiler neben dem amerikanischen - brauchen.
Ich finde, die Politik der Bundesregierung war hier sehr
gelungen.
({4})
Selbstbeschränkung als eine Prämisse unserer Sicherheitspolitik bedeutet auch: Obwohl wir einer der
kräftigsten europäischen Staaten sind, sollten wir nicht
versuchen, die anderen zu dominieren. Deshalb haben
wir ein großes Interesse daran, dass auch kleinere und,
vordergründig gesehen, schwächere Staaten Mitglied der
Allianz werden. Sie verdienen, genauso konsultiert zu
werden und in ihren Sicherheitsansprüchen ernst genommen zu werden, wie wir dies für uns im transatlantischen
Verhältnis gegenüber den Vereinigten Staaten fordern.
In den letzten Tagen gab es eine Diskussion über den
polnischen Vorschlag. Wir haben diesen Vorschlag abgelehnt. Aber das Gefühl der Polen, das dahintersteht, können wir sehr gut nachvollziehen. Wir kennen die polnische Geschichte, wir kennen die polnische Sicht, wir
kennen die polnischen Befürchtungen - und wir haben
großes Verständnis dafür, dass Polen, welches von seinen großen Nachbarn in der Vergangenheit nicht nur bedroht, sondern okkupiert und geteilt wurde, seine Sicherheitsperspektive insbesondere jenseits des Atlantiks
sieht. Das sehen wir ohne großen Argwohn. Wir sind
aber genauso sicher, dass im Zuge des dialogischen und
partnerschaftlichen Prozesses innerhalb der NATO diese
alten, historisch gewachsenen Vorbehalte langsam, aber
sicher verschwinden
({5})
und dass wir mit unseren östlichen Nachbarn eine genauso tiefe Freundschaft werden eingehen können, wie
das heute mit unseren westlichen Nachbarn der Fall ist.
Deshalb begrüßen wir auch, dass der Bundeskanzler
im Weimarer Dreieck nun mit Frankreich und Polen zusammen versucht, die Differenzen der Vergangenheit zu
klären und einen Ansatz zu finden, der eine deutsch-polnische Freundschaft neben die deutsch-französische
setzt. Beide werden nicht gegen die USA gerichtet sein,
sondern werden versuchen, den europäischen Pfeiler im
Rahmen eines freundschaftlichen Verhältnisses mit den
Vereinigten Staaten zu kräftigen.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Volmer, das waren eben schon fast versöhnliche Worte in Richtung Polen.
({0})
Das hat in den letzten Tagen aus der Richtung der
Bundesregierung und der Koalition teilweise anders geklungen. Ich finde es gut, dass man hier nicht nur sensibler an das Thema herangeht, sondern dass man auch die
Möglichkeiten offen auslotet, die vielleicht in diesem
Vorschlag stecken können. Denn dieser Vorschlag
könnte möglicherweise den Weg zurück zu einer Stärkung der Rolle der NATO weisen, deren Bild, Herr Bundesverteidigungsminister, in der Realität nicht ganz so
schön aussieht, wie Sie es eben gemalt haben. Das war
eine wirklich tolle NATO-Rede, aber die Realität der gegenwärtigen NATO sieht ein bisschen anders aus.
Jedenfalls ist die FDP-Fraktion ausgesprochen glücklich darüber, dass wir nun über die Aufnahme von sieben
neuen Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa entscheiden können. Wir sind auch der Auffassung, dass wir das
Ratifikationsverfahren schnell über die Bühne bringen
können. Das wäre ein gutes Signal.
Es muss auch wieder das Signal von Deutschland ausgehen, dass wir uns als Anwalt der neuen und insbesondere der kleinen neuen Mitgliedstaaten verstehen. Da ist
in der letzten Zeit einiges zu Bruch gegangen. Man hatte
den Eindruck, dass Deutschland lieber Machtpolitik mit
den Großen betreibt, anstatt die Ausgleichsrolle wahrzunehmen, die Deutschland traditionell sowohl in der Europäischen Union als auch in der NATO und erst recht
im Hinblick auf die Osterweiterung wahrzunehmen hat.
({1})
Es kommen nun Länder hinzu, für die die NATO noch
vor wenigen Jahren geradezu der propagierte Feind war.
Dennoch war die NATO für viele Menschen jenseits des
Eisernen Vorhangs immer der offenbar unerreichbar erscheinende Raum der Freiheit.
Gemeinsam mit der bevorstehenden großen Erweiterungsrunde der EU ist die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht nur ein historischer, sondern
auch ein tektonischer Schritt, weil sich damit dramatische Verschiebungen innerhalb der politischen Geografie Europas vollziehen. Zwei bislang getrennte Teile
Europas wachsen zusammen. Dass diese tektonischen
Verschiebungen so harmonisch und jetzt fast geräuschlos
über die Bühne gehen können, verdanken wir nicht zuletzt der Tatsache, dass es mittlerweile eine funktionierende vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Russland
und der Ukraine gibt. Das heißt, dass das besondere Problem des Verhältnisses der früher dem sowjetischen
Machtbereich zuzurechnenden neuen NATO-Mitglieder
zu Russland gelöst ist. Das ist ein großer Fortschritt, der
vor fünf oder acht Jahren noch nicht als selbstverständlich genommen werden konnte. Allen, die dazu beigetragen haben, gilt großer Dank.
({2})
Gleichzeitig ist die Aufnahme der neuen Mitglieder in
die NATO ein entscheidender Schritt zur Stabilisierung
der betroffenen Länder selber. Diese Länder haben den
Beitritt zur NATO nicht geschenkt bekommen. Sie
mussten sich in erheblichem Umfang darum bemühen,
die Voraussetzungen für eine NATO-Mitgliedschaft zu
erfüllen. Sie hatten mit der Aufnahme in die NATO ein
Ziel vor Augen, das es ihnen erleichtert, wenn nicht sogar erst ermöglicht hat, viele dieser manchmal schmerzhaften Reformschritte zu unternehmen.
Es war der amerikanische Sicherheitsschirm, der gewünscht wurde und der deswegen auch die Prioritäten
bestimmt hat. Wie können wir es den Beitrittsländern eigentlich übel nehmen, dass sie bei der Abwägung zwischen EU und NATO diese Priorität gesetzt haben? Nach
den Erfahrungen im größten Teil des letzten Jahrhunderts musste für die neuen NATO-Länder die Frage im
Vordergrund stehen: Wie können wir verhindern, jemals
wieder in eine solche Abhängigkeit wie zuvor zu geraten? Da war der Blick auf den Hühnerhaufen, den die
Europäische Union bisweilen abgegeben hat, nicht unbedingt ermutigend im Vergleich zu dem, was die NATO
an solider Sicherheit zu bieten hat.
({3})
Auch deswegen bin ich der Auffassung, dass wir auf
die Polen offen zugehen sollten und nicht die Debatte
führen sollten, ob eine mögliche Annahme des polnischen Vorschlages uns in die Situation führt, dass wir
nachträglich etwas legitimieren, was wir damals nicht
für richtig gehalten haben.
Wer sich zu lange mit der Debatte über die Legitimität
früherer Entscheidungen aufhält, könnte möglicherweise
die Zukunftsgestaltung verschlafen. Das hielte ich für einen großen Fehler.
({4})
Es ist höchste Zeit, dass Gräben zugeschüttet werden,
die nicht zuletzt durch den Brief der acht Regierungschefs und durch die einseitigen Entscheidungen einzelner Regierungen innerhalb der EU und der NATO - einschließlich der Bundesregierung - aufgerissen worden
sind. Ich fürchte aber, dass wir demnächst wieder in eine
ähnliche Situation geraten werden, wenn es nicht gelingt, strittige Fragen auf europäischer Ebene rechtzeitig
zu klären. Das Gelingen dieser Aufgabe hat weniger mit
unserem Verhältnis zu den USA als mit Europa selbst zu
tun.
Nur wenn die Menschen in Mittel- und Osteuropa davon überzeugt sind, dass die Europäische Union nicht
nur ein Garant für Wohlstand ist, sondern auch für Sicherheit, werden sie die Europäische Union in vollem
Umfang als politische Union annehmen und sich in Sicherheitsfragen im Zweifel nicht nur Hilfe heischend an
Washington wenden, sondern vielleicht auch an Brüssel
denken.
Eines ist klar: Die NATO ist heute leider nicht mehr
der Bezugsrahmen, in dem die Abstimmung und Umsetzung transatlantischer Sicherheitsinteressen automatisch stattfindet. Die Ursachen dafür liegen bei Fehlern auf beiden Seiten des Atlantiks. Sie liegen darin,
dass in der NATO in den vergangenen Jahren versäumt
worden ist, eine gemeinsame Strategiedebatte zu führen
und unsere Sicherheitsinteressen und deren Umsetzung
gemeinsam zu definieren.
Fakt bleibt, dass die Vereinigten Staaten als einzig
verbliebene Supermacht heute nicht mehr auf die NATO,
sondern auf einzelne NATO-Verbündete zurückgreifen,
wenn sie nach Partnern für die Definition und vor allem
die Umsetzung von Sicherheitsinteressen suchen.
({5})
Dabei spielen die neuen NATO-Staaten bisweilen eine
wichtigere Rolle als manche der alten, aber den entscheidenden Handlungsrahmen bildet eben nicht mehr die
NATO selbst. Wir haben ein nachhaltiges Interesse, das
wieder zu ändern.
({6})
Denn so unproblematisch das aus Sicht der Beitrittsstaaten erscheinen mag, so stellt es für die bisherigen Mitgliedstaaten der NATO ein großes Problem dar, und
zwar aus zwei Gründen.
Erstens ist es ausgesprochen unbefriedigend, wenn
- wie nach dem 11. September 2001 - erst der Bündnisfall festgestellt wird - übrigens zum ersten Mal in der
Geschichte der NATO -, aber anschließend der NATO
überhaupt keine Rolle mehr zugewiesen wird.
Zweitens ist es sehr wichtig, den Beitrittsländern jetzt
zu verdeutlichen, dass auch die EU eine immer stärkere
Sicherheitsdimension entwickelt, die nicht als Alternative oder gar Konkurrenz zur NATO wahrgenommen
wird, sondern als Vorhaben, mit dem wir als Europäer
gemeinsam den europäischen Pfeiler der NATO stärken
wollen.
Nur wenn wir die neuen EU- und NATO-Mitglieder
davon überzeugen, dass diese europäische Sicherheitsdimension einen wirklichen Mehrwert bringt, werden wir
mit diesem Projekt Erfolg haben. Es ist aber sicherlich
nicht hilfreich, mit dem Zeigefinger auf die neuen Mitgliedstaaten der NATO in Mittel- und Osteuropa zu zeigen. Nach Jahren der sowjetischen Dominanz reagieren
diese Länder ausgesprochen sensibel auf jeglichen Anschein einer Bevormundung durch andere.
({7})
- Nein, die Bundesregierung hat sich durch die Aufgabe
ihrer Mittlerfunktion zwischen den Vereinigten Staaten
und Frankreich und zwischen den großen und den kleinen Staaten unglücklicherweise in die Situation gebracht, dass sie mit in die Haftung genommen wird für
das, was zum Beispiel der französische Staatspräsident
durch seine rhetorischen Fehlleistungen gegenüber den
mittel- und osteuropäischen Staaten zuwege gebracht
hat.
({8})
Meine Damen und Herren, wir haben eine riesige
Chance, die wir nutzen sollten. Wir sollten unsere mittelund osteuropäischen Partner in der NATO und demnächst auch in der Europäischen Union von Herzen willkommen heißen.
({9})
Jetzt spricht der Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
transatlantischen Beziehungen sind ein Eckpfeiler für
Frieden und Stabilität in der Welt des 21. Jahrhunderts,
und zwar nicht nur für die globale Sicherheit, sondern
auch für die regionale Sicherheit. Wir würden, wenn die
Präsenz der USA in Europa nicht mehr gegeben wäre,
sofort feststellen, dass dies vor allen Dingen unser Land
betrifft. Das gilt aber auch für viele andere Regionen. Ob
es um Konflikte in Süd- und Ostasien, um den Konflikt
zwischen Indien und Pakistan, um Konflikte in Afrika
oder um die Zukunft des Nahen Ostens und insbesondere
um die Friedensperspektive im israelisch-arabischen
Konflikt geht, all dies ist ohne die Macht der USA nicht
zu lösen. Deswegen führt - das ist von entscheidender
Bedeutung, wie auch die heutige Debatte deutlich
macht - kein Weg an einer Neudefinition der Beziehungen zu den USA, die die wichtigsten sind, die wir
außerhalb Europas haben, auf der Grundlage dieser
Basiserkenntnis vorbei - das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle anderen europäischen Länder, ob große oder kleine, ob Frankreich, Großbritannien
oder Polen. Wir müssen auf dieser Grundlage eine realistische Bestandsaufnahme vornehmen.
Die Erweiterung wird Europa sicherer machen. Das
gilt auch - das ist im Zusammenhang zu sehen - für die
Europäische Union. Das Kabinett hat in seiner letzten Sitzung die Zuleitung der Entwürfe der Ratifikationsgesetze
beschlossen. Das Zusammenwachsen Europas - das erleben wir doch täglich auch beim Zusammenwachsen der
beiden deutschen Teile - wird Zeit und Verständnis erfordern. Schließlich müssen unterschiedliche Lebenserfahrungen, Perspektiven und Horizonte im wahrsten Sinne
des Wortes erst zusammenwachsen. Das bedarf mehr eines organischen Prozesses als einer politischen Entscheidung. Aber ich bin mir sicher, dass das vereinte Europa
Realität werden wird, und zwar auf der Grundlage der
transatlantischen Beziehungen und der europäischen Integration.
Von entscheidender Bedeutung dafür ist allerdings
das Verständnis, das wir füreinander aufbringen, und
auch, dass wir endlich mit Realismus an eine Neudefinition der Beziehungen zu den USA herangehen. Herr
Kollege Hoyer, an dem Punkt, an dem es in der Diskussion spannend wurde, haben Sie aus für mich nachvollziehbaren Gründen aufgehört. Aber die entscheidende
Frage ist, was geschehen soll, wenn die NATO den
Bündnisfall nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags erklärt.
Damit komme ich auf die Essentials der Neubestimmung
zu sprechen. Dabei müssen wir nicht über weniger Amerika, sondern über mehr Europa diskutieren, wie der
Bundeskanzler völlig zu Recht gesagt hat.
({0})
Ich finde das Bild des Pfeilers sehr gut. Was ist die
Aufgabe eines Pfeilers? Ein Pfeiler lenkt den Druck ab
und stabilisiert damit die tragenden Teile einer Brücke,
ja er ermöglicht erst das Überbrücken. Das heißt aber,
dass ein Pfeiler ein solides Fundament haben muss.
Wenn wir vom europäischen Pfeiler sprechen, dann
müssen wir uns also fragen, ob heute tatsächlich die
Pfeilerfähigkeit gegeben ist. Das ist eine Frage der militärischen Fähigkeiten, der Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen und der europäischen Willensbildung. Bei all diesen drei Elementen gibt es
entscheidende europäische Defizite, egal wo man hinschaut. Solange diese Defizite existieren, können wir
zwar die Pfeilerfähigkeit reklamieren, aber wir werden
keinen belastbaren europäischen Pfeiler haben. Damit
komme ich zu meiner Grundthese. Ein schwaches Europa, das die Pfeilerfähigkeit unter den neuen internationalen Bedingungen des 21. Jahrhunderts faktisch nicht
hat, wird die transatlantischen Beziehungen meines Erachtens eher belasten - um nicht zu sagen: gefährden als ein starkes Europa.
({1})
- Hören Sie auf! Das ist überhaupt keine Oppositionsanalyse. Wenn ich Herrn Pflüger richtig verstanden
habe, dann hat er das Gegenteil gesagt.
Die Position der Bundesregierung ist immer gewesen
- das ist die erste Priorität -: Wir wollen einen europäischen Pfeiler innerhalb der NATO. Dann - so konsequent muss man sein - stellt sich auch die Frage nach einem europäischen Element in der NATO. Bisher galt das
Tabu: Es darf in der NATO keinen europäischen Caucus,
also keine europäische Gruppenbildung geben.
({2})
Über diese Frage müssen wir - das tun wir bereits - mit
unseren amerikanischen Partnern ernsthaft diskutieren;
denn sonst wird über die Frage der europäischen Pfeilerbildung mehr und mehr außerhalb Europas diskutiert
werden. Das hat zumindest die Diskussion in der Europäischen Union klar gemacht. Die Erfahrungen bei dem
Gymnich-Treffen und dem Treffen in Griechenland, genauer: auf Rhodos, wo die 25 Mitgliedstaaten der erweiterten Europäischen Union erstmals zusammengekommen sind, waren hervorragend. Ich war zunächst eher
skeptisch, ob eine so große Runde in der Praxis arbeitsfähig ist. Ich kann Ihnen an diesem Punkt berichten: Es
lief hervorragend. Auch was die Substanz der Diskussion angeht, war es eine sehr wohltuende Erfahrung.
Das alles macht doch klar, dass es keinen Gegensatz
zwischen der Stärkung des europäischen Pfeilers, der
Stärkung der europäischen Integration und der transatlantischen Beziehungen und ihrer Neugestaltung gibt.
({3})
- Ach, nein. Was Sie zum Beispiel über die Viererinitiative gesagt haben, teile ich nicht. Verhofstadt hat bereits
vor einem Jahr einen Brief geschrieben, der in diese
Richtung ging. Der Europäische Konvent arbeitet jetzt
und genau darauf zielte diese Initiative. Ganz entscheidend sind natürlich nicht nur die gemeinsame Außenpolitik und ihre institutionelle Umsetzung, sondern auch
der Ausbau der entsprechenden Fähigkeiten. Dieser Gipfel hat der Diskussion einen Stoß in die richtige Richtung gegeben.
({4})
Von dem, was Sie, Herr Kollege Pflüger, hier dargestellt
haben, habe zumindest ich in den europäischen Gremien
- ich war sowohl im Rat als auch beim Gymnich-Treffen nichts gehört.
Wenn wir eine positive Entwicklung der Beziehungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union
wollen, dann müssen wir die Fähigkeiten stärken, die
uns Europäer in die Lage versetzen, in Zukunft - anders
als auf dem Balkan in den 90er-Jahren - alle internen europäischen Sicherheitsprobleme selbst zu lösen. Das ist
von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus müssen
wir in unserem strategischen Umfeld dazu beitragen
können, dass Sicherheit und Stabilität langfristig geschaffen werden können. Unsere Erfahrungen mit den
langfristigen Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan, aber auch auf dem Balkan werden dazu wesentlich
beitragen. Außerdem müssen wir die Fähigkeiten entwickeln, im transatlantischen Bündnis des 21. Jahrhunderts
wirklich Partner zu sein.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden wir - der Kollege Struck hat darauf hingewiesen - vieles auf den Prüfstand stellen müssen. Die Militärausgaben der EUStaaten machen zusammengerechnet 60 Prozent des Militärbudgets der Vereinigten Staaten aus; der Output liegt
allerdings bei nur 10 Prozent. Der Grund dafür besteht
darin, dass die Betriebsgrößen heutzutage schlicht und
einfach „unterkritisch“ sind; jeder europäische Staat, ob
groß, ob klein, hat faktisch eine eigene Armee. Das Ergebnis ist entsprechend. Eine Verbesserung der Fähigkeiten Europas wird nur über mehr Integration möglich
sein.
({5})
Über das, was ich angesprochen habe, werden wir verstärkt diskutieren müssen.
Die Erweiterung der Europäischen Union und die Erweiterung der NATO werden Europa mehr Sicherheit
und mehr Stabilität bringen. Man wird mehr Verständnis
füreinander aufbringen und mehr aufeinander zugehen
müssen. Bis der Prozess der notwendigen äußeren Integration tatsächlich zu einem größeren Verständnis untereinander geführt hat, wird einige Zeit vergehen. Das größer gewordene Europa muss den politischen Willen, die
Institutionen und die Fähigkeiten haben, die zur transatlantischen Partnerschaft gehören. Das ist nicht nur für
Frieden und Stabilität in Europa, sondern auch in der
Welt von entscheidender Bedeutung.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer
Zeitung stand etwas Bemerkenswertes: „Struck auf USFriedenstour“. Wer den entsprechenden Artikel genau
las, der spürte: Es geht nicht um Frieden, sondern darum,
dass ein Bundesminister nach Amerika reist, um außenpolitisches Porzellan, das von Ihnen, Herr Außenminister, und vom Bundeskanzler zerschlagen wurde, zusammenzukehren. So weit sind wir in diesem Land
gekommen. Glückwunsch!
({0})
Es ist in der Tat bezeichnend, wie viel Aufmerksamkeit ein normaler Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik
heute erregt. Herr Außenminister, auch Ihr schönstes Lächeln und auch die schönsten staatsmännischen Reden
können nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass das
Verhältnis zwischen US-Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder irreparabel zerstört ist. Das wird Ihnen in Washington überall bestätigt.
Es ist ja in Ordnung, dass der Bundeskanzler in
Wladimir Putin einen neuen Freund gefunden hat und
Dr. Karl A. Lamers ({1})
sich mit ihm in Moskau und Sankt Petersburg an russischen Kaminen wärmt.
({2})
Aber klug wäre es, Herr Erler, sich nicht die Freundschaft seines bisher verlässlichsten Partners zu verscherzen, der USA, eines Landes, das bisher stets Garant unserer Sicherheit gewesen ist. Setzen Sie, Herr Minister,
dies nicht aufs Spiel!
({3})
Zu guter Politik gehört auch handwerkliches Können,
gehört Sensibilität, gehört Fingerspitzengefühl - wenn
Sie verstehen, was ich meine.
({4})
All das spreche ich dieser Bundesregierung in hohem
Maße ab. Selbst wenn Sie dann einmal etwas Richtiges
tun, nämlich die Außen- und Sicherheitspolitik vertiefen,
erweitern und ausbauen, schaffen Sie es, die gute Sache
in Misskredit zu bringen. Ich denke an den Vierergipfel
in Brüssel - ohne Großbritannien, ohne die Niederlande,
ohne andere.
Wer sich in diesen Tagen mit den Kolleginnen und
Kollegen der Parlamentarischen Versammlung der
NATO unterhält, zum Beispiel mit meinem Freund
Markus Meckel, der erfährt, dass viele irritiert sind, dass
viele misstrauisch sind: die Briten, die Amerikaner, die
Italiener, die Spanier. Herr Minister Fischer, da ist auch
von Ihrer Seite Vertrauen, das Grundkapital eines jeden
Bündnisses, zerstört worden. Damit muss Schluss sein.
Vor allem muss jetzt wieder Verlässlichkeit bewiesen
werden.
({5})
Die französische Verteidigungsministerin hat in diesen Tagen in Berlin mehr Dialog zwischen den Europäern gefordert. Ich sage: Recht hat sie. Wir brauchen nicht
eine Einladung an vier nach Brüssel, sondern an alle 15, um
die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
aufzubauen. Was wir vor allem brauchen, sind ein Neubeginn und die Wiederaufnahme eines vertrauensvollen
Dialogs mit Amerika. Dies ist der Schlüssel zu einer guten Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten.
Zu erwähnen ist gerade auch das, was Condoleezza
Rice, die Sie, Herr Minister Struck, am Montag getroffen
haben, gesagt hat. Sie hat scharfe Kritik an Deutschland
und Frankreich geübt, weil beide Länder - so wörtlich während der Irakkrise die NATO als Geisel genommen
haben.
({6})
Ich finde es nicht tröstlich, Herr Minister Fischer, dass
sie dann noch hinzugefügt hat, Frankreich und Deutschland blieben aber doch Verbündete. Wir waren einmal
Freunde. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.
({7})
Diese Aussage spricht noch nicht dafür, dass Tauwetter
eingesetzt hat. Wir brauchen wieder ein vertrauensvolles
Miteinander.
Wir stehen vor der zweiten Erweiterungsrunde. Wir
haben die Öffnung der NATO immer gewollt. Wer sich
die Landkarte Europas anschaut, der sieht, wie entscheidend sie sich verändert hat. Insbesondere sieht man das
am Beitritt der baltischen Staaten, von Ländern also, die
über Jahrzehnte von der Sowjetunion einverleibt waren.
Wir heißen alle Beitrittsländer herzlich willkommen. Die
Erweiterung erhöht die Stabilität in ganz Europa. Sie
verbessert die Fähigkeit der gesamten Allianz, neuen
Bedrohungen zu begegnen. Die Öffnung der NATO richtet sich gegen niemanden. Partnership for Peace ist auch
in Zukunft der Weg in die NATO. Die Tür bleibt auch in
Zukunft offen.
In fünf Jahren zehn neue Mitglieder - das zeigt uns,
welch weiten Weg die Reformstaaten bei den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Reformen hin
zu Demokratie zurückgelegt haben. Sie sind heute nicht
nur Kooperationspartner; sie sind echte Bündnispartner.
Wo früher Gegner standen, stehen heute Freunde, die
sich gegenseitig helfen und unterstützen. Diese Länder
haben ihre Chance genutzt. Die Menschen in diesen
Ländern wollen Demokratie. Sie wollen Marktwirtschaft
und echten Frieden. Eines muss uns aber immer klar
sein: Diese Länder spüren auch - Herr Minister Fischer,
jetzt spreche ich gerade Sie an -, wo letztlich ihre Sicherheit liegt, wer ihnen Sicherheit gibt: Amerika und
die NATO. Wenn sich diese Länder wie Polen und andere in der Irakfrage hinter die USA stellen, dann ist es
nicht zu akzeptieren, dass sie seitens der Europäischen
Union dafür abgestraft oder gar gemaßregelt werden.
({8})
Ich fordere weniger Arroganz und mehr Bescheidenheit,
mehr Achtung diesen Ländern gegenüber.
({9})
EU und NATO sind für diese Länder kein Entwederoder.
({10})
Gerade vor dem Hintergrund ihrer leidvollen Geschichte
sind wir gut beraten, ihnen deutlich zu machen, dass sie
vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder beider Zusammenschlüsse sind oder werden. Da gibt es Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten, auf die wir achten
müssen.
Eine persönliche Erfahrung: Markus Meckel und ich
waren vor wenigen Tagen in Georgien. Gerade in einem
solchen Land mit großen inneren und äußeren Problemen, das von der Geschichte nun wahrlich nicht verhätschelt wurde, spürt man, wie die Menschen in die NATO
Dr. Karl A. Lamers ({11})
streben. Das zeigt uns, wie ungebrochen die Attraktivität
dieses Bündnisses als Garant für Frieden und Stabilität
ist. Auch das Beispiel Balkan zeigt doch: Nicht die UNSchutztruppe konnte den Krieg stoppen, nein, es war die
NATO, die die blutigen Kämpfe, das Morden und andere
Verbrechen beendet hat. Erst die NATO hat den Wiederaufbau der zerstörten Landschaften ermöglicht.
({12})
Meine Damen und Herren, die Bedrohungen der heutigen Zeit sind andere und gravierendere, als sie noch
1989/1990 bestanden. Ich denke an die Bedrohung durch
den internationalen Terrorismus und durch Massenvernichtungswaffen, an die Destabilisierung durch zusammenbrechende Staaten. Gerade dieses Ausmaß der Bedrohung zeigt uns, dass Europa und Deutschland heute
allein überhaupt keine Chance haben, sondern dass wir
diese Bedrohungen nur Seite an Seite mit den Freunden
in Amerika bewältigen können. Das ist gerade auch am
heutigen Tag eine wichtige Grundaussage.
({13})
Das Bündnis braucht eine gemeinsame Bedrohungsanalyse. Wir müssen uns darüber einig werden, mit welchen militärischen Strukturen und Fähigkeiten wir unsere
Bürger schützen wollen. Die französische Verteidigungsministerin spricht von echter Partnerschaft. Herr Minister Fischer, echte Partnerschaft mit Amerika kann nicht
dadurch verwirklicht werden, dass man nur Reden hält
und große Beschlüsse verabschiedet, sondern nur dadurch, dass man endlich etwas tut. Die Amerikaner sind
es nämlich leid, Ihre Bekundungen bezüglich Gemeinsamkeiten und einem konstruktiven Miteinander entgegenzunehmen. Sie wollen endlich sehen, was Sie konkret leisten, investieren und zur Verfügung stellen.
Es reicht vor diesem Hintergrund eben auch nicht aus,
wenn der Herr Bundesminister Struck immer wieder immer mehr Geld für die Bundeswehr fordert - da hat er
unsere volle Unterstützung -, der Bundeskanzler ihm
aber sagt, dass er vielleicht ab 2006 damit rechnen
könne. Das ist ein Jahr, in dem er hoffentlich gar nicht
mehr an der Regierung ist.
({14})
Er sollte lieber etwas tun, solange er es noch machen
kann.
({15})
Also Schluss mit Absichtserklärungen! Jetzt muss investiert werden, um glaubwürdig zu sein.
Bevor Sie auf irgendwelchen Gipfeln neue Beschlüsse fassen, tun Sie doch erst einmal das, wozu Sie
sich bereits verpflichtet haben, zum Beispiel die Anforderungen des European Headline Goal erfüllen und den
Verpflichtungen vom NATO-Gipfel 1999 und denen von
Prag aus dem Jahr 2002 nachkommen. Da ist noch viel
zu tun. Reden Sie nicht, handeln Sie! So lautet meine
Forderung.
({16})
Ich fordere Sie auf: Machen Sie Schluss mit den reinen
Sonntagsreden, Herr Minister! Stellen Sie vielmehr mit
Schritten der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens die
nordatlantische Solidarität wieder her! Das ist das Wichtigste.
Statt an Achsenbildungen mitzuwirken,
({17})
sollte die Bundesregierung lieber an unserer besonderen
Sicherheitspartnerschaft mit den USA festhalten und
in das Fundament der brüchig gewordenen transatlantischen Brücke wieder neuen Zement in Form von Vertrauen und Verlässlichkeit gießen. Darauf kommt es an.
({18})
Wir, CDU und CSU, sind selbstverständlich für die
Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, aber
nicht auf Kosten der atlantischen Bündnissolidarität.
NATO und EU dürfen nicht zu Konkurrenten in Sachen
Sicherheit in Europa und in der Welt werden. Nur gemeinsam haben wir die Chance, die Aufgaben der Zukunft zu lösen.
Ich danke Ihnen.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Lamers, eines kann man ganz sicher sagen: Ihr letzter Satz stimmt.
({0})
Über vieles andere müssen wir diskutieren; das will ich
aber nicht hier an dieser Stelle machen. Ich will vielmehr
auf den langen Diskussionsprozess innerhalb der NATO
in den letzten zwölf Jahren eingehen.
Wir sind heute an einem wichtigen Punkt angekommen. Noch vor zwei Jahren wäre das so einfach und so
klar nicht gewesen. Man könnte einmal die verschiedenen damaligen Positionen auch in den Reihen der heutigen Opposition über das, was damals für möglich und
nicht für möglich gehalten wurde, darstellen.
Ich denke, es ist ein großer Erfolg, dass jetzt eine größere Zahl von Staaten mit der NATO Verhandlungen geführt hat, als es vor zwei Jahren Konsens war. Vor zwei
Jahren war es Konsens, nur zwei Staaten aufzunehmen.
Wir haben es geschafft, dass jetzt sieben Staaten Mitglieder werden. Dies ist ein großer Erfolg. Ich freue mich,
dass einige Kollegen, Herr Panajotov und Herr Iltschev
aus Bulgarien, die oft mit Bangen verfolgt haben, was
wir in der NATO miteinander diskutieren, dieser Debatte
beiwohnen.
({1})
Diese Diskussion war nicht einfach. Wir müssen uns
darüber klar sein, dass wir auch vor der Frage stehen - damit komme ich auf das Verhältnis von NATO und EU zurück -: Wie soll es weitergehen? Eben ist die Frage der
offenen Tür, künftiger Erweiterungen und mannigfaltiger Wünsche angesprochen worden. Es sind noch fünf
Staaten in der Mitte Europas, die eine Integrationsperspektive haben wollen: Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro, Mazedonien und Albanien.
Wir sollten ein Interesse daran haben, dass die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO möglichst kongruent ist. Das mag nicht für jeden gelten; aber diese
Kongruenz sollte uns, soweit sie möglich ist, bei der Perspektive auf eine neue Mitgliedschaft ausgesprochen
wichtig sein.
({2})
Wir werden in Zukunft eine intensive Diskussion über
die Frage miteinander führen müssen: In welchen Fällen
wollen wir Staaten eine Mitgliedsperspektive geben und
in welchen Fällen wollen wir unsere Nachbarschaftsverhältnisse so gestalten, wie es im Verhältnis zu Russland
und zur Ukraine geschieht?
Hier ist schon der Wunsch etwa Georgiens angesprochen worden, Mitglied zu werden. Wir alle sollten diesen Wunsch in dem Sinne akzeptieren, dass die Länder
damit ihre innere Perspektive, die politische Entwicklung stabil halten wollen, dass sie ihre Westbindung
deutlich machen wollen, dass sie Sicherheit suchen, die
auch durch die Integrationsperspektive und die Kooperation mit dem Westen besteht. Ob dies unmittelbar in eine
Mitgliedsperspektive mündet, darüber werden wir miteinander diskutieren müssen. Ich denke, dass wir jedenfalls die Kooperation in jedem Sinne verstärken und
deutlich machen sollten, dass wir unsere zukünftigen
EU-Nachbarn im Blick haben und die Integration entsprechend weiter ausbauen wollen.
Die NATO hat sich deutlich gewandelt. Manchmal
hat man den Eindruck, dass Kandidaten, die ihren Mitgliedswunsch äußern, vielleicht sogar Kandidaten, die
jetzt Mitglied werden, in eine NATO wollen, wie sie vor
zehn Jahren war, die also in erster Linie Schutz bedeutet.
Diese Länder müssen erst einmal lernen, was es eigentlich heißt, sowohl in der NATO als auch in der Europäischen Union ein globaler Akteur zu werden. Heute kann
man nicht mehr von einer bestimmten Konstellation von
Gefolgschaften, der EU oder der Amerikaner, reden. Dafür ist die NATO oft das Signum; da brauchen wir uns
nichts vorzumachen. Wir müssen sehen, inwieweit wir
selber partnerschaftsfähig sind. Da liegt unsere zentrale
Aufgabe. In diese Richtung werden unsere Bemühungen
in Zukunft gehen müssen.
({3})
Der Bundesaußenminister hat schon deutlich ausgesprochen, dass die europäischen Bemühungen um eine
sicherheitspolitische Gemeinsamkeit auch in der NATO
manche Fragen aufgeworfen haben. Als die ersten
Schritte zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegangen worden sind, hat man diese bei
der Clinton-Administration zunächst skeptisch betrachtet, obwohl man zuvor immer gesagt hatte, dass die Europäer mehr Verantwortung tragen sollen. Dann hat die
Clinton-Administration dies akzeptiert. Die Bush-Administration war zu Beginn wiederum skeptisch. Heute lautet die Frage: Welche Rolle spielt die NATO eigentlich
für die Vereinigten Staaten? Ich glaube, erst dann wird
ein Schuh daraus, wenn man fragt, worin die Bedeutung
der NATO liegt.
({4})
Wir als europäische Staaten haben sicherlich ein eminentes Interesse an der NATO als sicherheitspolitischer
Verbindung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten und Kanada. Wir wollen diese Beziehung gerade
durch eine Stärkung des europäischen Pfeilers und
durch die Zusammenführung Europas ausbauen.
Das heißt natürlich auch, dass sich innerhalb der
NATO die Führungsrolle verändern wird. Es wird nicht
mehr nur eine Führungsnation in Gestalt der Vereinigten
Staaten geben - das ist die alte NATO -, unter deren
Schutz sich die anderen Staaten stellen werden. In der
neuen NATO wird es eine sicherheitspolitische Beziehung zwischen Amerika und dem stärker werdenden und
gemeinsam agierenden Europa, das in der NATO mit einer Stimme auftritt, geben. Wie das zu erreichen ist, wird
eine spannende Frage sein.
In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass die zentralen Fragen der Sicherheit in den NATO-Gremien gar
nicht diskutiert wurden. Wir, die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung der NATO, haben dies allerdings getan. Im NATO-Rat hingegen sind die zentralen
Fragen überhaupt nicht diskutiert worden. Beispielsweise wurde in der NATO lange nicht über die Frage diskutiert, welche Konstellation es im Zusammenhang mit
dem Raketenabwehrsystem Missile Defence geben soll.
({5})
Ein weiteres Beispiel ist die Irakfrage, mit der sich die
NATO selber auch nicht beschäftigt hat.
Man muss Condoleezza Rice Folgendes deutlich sagen: Es waren die Vereinigten Staaten, die die NATO instrumentalisiert haben;
({6})
denn die Vereinigten Staaten - und nicht die Türkei - haben eine Verbindung zwischen dem Schutz der Türkei
und eine Entsendung von amerikanischen Truppen dorthin hergestellt. Damit wurde die Kriegsvorbereitung zu
einem Thema für die NATO. Dieser Instrumentalisierung haben sich einige Staaten entgegengestellt. Diesen
Punkt, auf den man genau schauen muss, sollte man Frau
Rice sehr deutlich machen.
In der Parlamentarischen Versammlung der NATO
wurde klar - das ist schon mehrfach angesprochen worMarkus Meckel
den, Herr Kollege Lamers -, dass viele Fragen von denjenigen Staaten, die den Krieg für schwierig, problematisch und nicht gerechtfertigt gehalten haben, auf ein
breites Interesse gestoßen sind. In vielen Gesprächen - sowohl am Rande als auch in den Plenarsitzungen - ist unsere Position akzeptiert worden, nicht zuletzt von britischen Abgeordneten und Abgeordneten anderer Länder,
die sich am Irakkrieg beteiligt haben.
Das Ziel der neuen Mitgliedstaaten ist - das ist völlig
klar -, sich nicht von Amerika abkoppeln zu lassen. Es
wird mit Recht gefordert, dass wir beispielsweise die
Bindungen Polens zu Amerika akzeptieren müssen und
dass wir sensibel damit umgehen sollten. Diese Forderung bedeutet keine Kritik an der Position der Bundesregierung, sondern eine Akzeptanz ihrer Politik in der Vergangenheit.
({7})
Ich denke, das wird auch das heutige Treffen in Breslau
zeigen.
Wir müssen deutlich machen, dass auch Polens Rolle
im Hinblick auf die Gestaltung Europas anerkannt wird.
Angesichts der Tatsache, dass Polen das Weimarer Dreieck stärken will, muss man sich natürlich fragen, was
das bezüglich der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet. Manchmal hat man den Eindruck, dass darüber noch keine große Klarheit besteht.
Wir sollten das den Polen nicht vorwerfen, sondern mit
ihnen ein klärendes Gespräch suchen.
Die zentrale Frage ist, wie wir als Europäer das fortsetzen, was in Brüssel am 23. April beschlossen worden
ist. Wir werden beim nächsten Gipfel im Juni sehen,
dass sich nicht nur vier Staaten, sondern mehrere Staaten
an dieser Pressure Group beteiligen, die die europäische
Integration aus sicherheitspolitischen Gründen voranbringen wollen. Auch die andernen EU-Partner werden
dieses Vorgehen irgendwann unterstützen; das ist gar
keine Frage. Wir sollten versuchen, diese Politik zu stärken, und wir sollten deutlich machen, dass die Sicherheit
in der Welt größer wird, wenn Europa stark und damit
auch das transatlantische Verhältnis gestärkt wird.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Klaus Rose für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unabhängig von der notwendigen politischen Auseinandersetzung über das Thema NATO besteht heute,
so glaube ich, eine gemeinsame Freude. Es liegt uns der
Entwurf eines Gesetzes über den Beitritt von neuen Staaten vor; ich werde es im Weiteren noch genauer begründen. Insgesamt höre ich nur Zustimmung und Freude
darüber. Wir sollten dies auch signalisieren.
({0})
Der Gesetzentwurf, über den wir heute in erster Lesung
beraten, besteht - auch das soll erwähnt werden - aus nur
zwei kurzen Artikeln. Wo sonst gibt es das?
Aber es geht um den Inhalt, um die Denkschrift der
Bundesregierung zu den Beitrittsprotokollen. Daraus
möchte ich zitieren; denn solche Worte hört man von der
Bundesregierung leider sonst nicht sehr häufig. Dort
heißt es, dass die Öffnung der NATO für neue Mitglieder, insbesondere die Aufnahme der genannten sieben
neuen Mitglieder, einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen
Raum leisten wird. Außerdem heißt es:
Als Land in der Mitte Europas wird Deutschland in
besonderer Weise davon profitieren.
Das ist inzwischen eine Binsenweisheit, eine allgemeine Erkenntnis. Aber es gab Jahre, in denen das völlig
anders ausgedrückt wurde. Darum sollte man nochmals
darauf hinweisen.
Ich sehe es genauso und sah es Mitte der 90er-Jahre
so, als ich als damaliger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses die Öffnung der NATO mitbegleiten durfte.
Man möge mir die heutige Genugtuung verzeihen; aber
damals gab es nicht bloß aus Moskau, sondern auch aus
großen Teilen der damaligen Opposition Sperrfeuer. Bei
so manchen Delegationsreisen und ernsten Gesprächen
mit Parlamentariern aus Ländern des ehemaligen Ostblocks, die zu Besuchen in Bonn weilten, mussten wir
mühsam Vertrauen schaffen, Argumente austauschen
und vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, um
die beitrittswilligen Länder davon zu überzeugen, dass
sie in der NATO gut aufgehoben und zu Hause sind.
Ich möchte das auch deshalb sagen, weil wir nicht nur
darüber diskutieren sollten, was die Bundesregierung tut.
Vielmehr hat auch der Deutsche Bundestag einen wichtigen Beitrag zum euro-atlantischen Prozess geleistet. Die
damaligen Mitglieder des Verteidigungsausschusses,
darunter der heutige Staatssekretär Walter Kolbow von
der SPD oder Paul Breuer, können das alles bestätigen.
Auch heute sind einige Kollegen anwesend, die damals
hart mitgearbeitet haben.
Mir hat zum Beispiel 1995 US-Verteidigungsminister
Perry bei einem Gespräch im Pentagon gesagt, die
NATO sei kein Klub, zu dessen Eintritt man einfach ein
Billet kaufen könne. Die mögliche NATO-Erweiterung,
so hat er gesagt, sei vielmehr als ein Reifeprozess aufzufassen, an dessen Ende von Fall zu Fall neue Beitrittskandidaten stünden. Das heißt, jetzt können wir das Reifezeugnis für zusätzliche sieben Partnerländer unterschreiben.
Und das ist gut so.
Ich persönlich habe all diese sieben Länder mehrfach
bereist. Ich möchte ihre Namen noch einmal aufzählen:
Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. Ich erinnere mich an so manche
schöne Begegnung, zum Beispiel bei einem Gebirgsjägerbataillon in Rumänien. Das war 1996. Dieses gute
Bataillon hätte schon damals die Voraussetzungen dafür
gehabt, unter dem NATO-Schirm zu stehen. Deshalb
habe ich keine Sorge, dass diese Länder nicht gut in die
NATO integriert werden können.
Was wird sich durch die veränderte, die vergrößerte
NATO neu ergeben? Natürlich muss man die Frage der
Rolle der NATO immer wieder stellen. Das ist heute
schon mehrfach kritisch getan worden. Bei uns muss
man natürlich die Frage stellen können, was die neuen
Staaten von sich aus zur kollektiven Sicherheit beitragen.
Aus aktuellem Anlass möchte ich als CSU-Vertreter
unseren Nachbarn Polen ansprechen - eigentlich möchte
ich mich nicht an unseren Nachbarn Polen, sondern an
die Bundesregierung wenden -: Anstatt sich verärgert
darüber zu zeigen und beleidigt darüber zu sein, dass Polen im Irak eine größere Rolle als Deutschland spielt und
Polen das deutsch-dänisch-polnische Korps ins Gespräch gebracht hat - das haben wir bekannterweise
während unserer Regierungszeit gewollt und eingerichtet; jetzt hat es eine Funktion; ich finde es eigentlich
schön, dass man an diese Funktion denkt -,
({1})
sollte die Bundesregierung fair vom NATO-Partner Polen sprechen. Ein Partner darf nicht folgenlos beschimpft
werden.
({2})
Es passt auch nicht zusammen, dass der Parlamentarische Staatssekretär Kolbow vor kurzem bei seinem Besuch in Breslau die engen Beziehungen gepriesen und
die Reformschritte der polnischen Streitkräfte gelobt hat,
andere aus der Bundesregierung aber beleidigte Masken
aufsetzen, nur weil sich die Polen einmal trauen, ein bisschen selbstbewusst in der modernen politischen Landschaft aufzutreten.
({3})
Natürlich muss und wird sich die NATO erneut reformieren. Sie hat sich schon oft reformiert; ich will das alles gar nicht im Einzelnen aufzählen. Sie muss vor allen
Dingen in der Lage sein, größere Entfernungen zu überwinden, eine größere Flexibilität zu gewinnen und Strategiefragen zu lösen. Peter Struck hat ja bekanntlich sogar gesagt, dass die NATO und damit auch die
Bundeswehr notfalls Verteidigungsmaßnahmen am Hindukusch durchführen müssten. Die Bundesregierung hat
also immer den Veränderungen der NATO zugestimmt.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie geneigt sind, eine Zwischenfrage des gerade angesprochenen Kollegen Struck
zuzulassen.
Aber selbstverständlich.
Lieber Kollege Rose, sind Sie bereit - das nur zur
Klarstellung -, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht
ärgerlich war wegen der möglichen Prüfung der Frage
des Einsatzes des deutsch-dänisch-polnischen Korps im
Zusammenhang mit Überlegungen der NATO? Vielmehr
war ich über die Art und Weise ärgerlich, wie es öffentlich vermittelt worden ist, und darüber, dass es öffentlich
vermittelt worden ist, ohne dass mit der Bundesregierung oder der dänischen Regierung gesprochen worden
wäre.
Sind Sie, Herr Kollege Rose, ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass diese kleine Unstimmigkeit - so
möchte ich es beschreiben - wirklich nichts an dem guten Verhältnis zu dem polnischen Verteidigungsminister
ändern wird?
({0})
Erstens bin ich jederzeit bereit, etwas zur Kenntnis zu
nehmen, was der Klarstellung dient. Zweitens habe ich
den Namen Struck vorher nicht erwähnt; Sie haben jetzt
für die Bundesregierung Stellung bezogen. Allerdings
gab es andere, die etwas beleidigt reagierten. Drittens
habe ich jetzt die Chance, dem ehemaligen Vizekapitän
der Fußballmannschaft des Deutschen Bundestages - deren Kapitän ich war - zu sagen: So geht man partnerschaftlich miteinander um; das war eine Steilvorlage. Ich
hoffe, ich habe sie richtig zurückgegeben.
({0})
Es geht also auch darum, dass wir die Rolle der
NATO immer wieder neu definieren müssen. In der erwähnten Denkschrift der Bundesregierung ist ja vor allem betont worden, dass sich die NATO nicht nur als reines Verteidigungsbündnis versteht, sondern zugleich
auch als eine breit angelegte transatlantische Wertegemeinschaft. Daher meine ich, zusätzliche Partner gewonnen zu haben bedeutet politische Erfüllung. Gerade
auch die CSU stimmt dieser Entwicklung zu. Die neuen
Partner werden noch viele Reformarbeiten leisten müssen. Sie müssen NATO-kompatibel werden. Sie dürfen
nicht nur in Teilaspekten einen hohen Standard erreichen.
Ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion unseren
neuen Partnern viel Erfolg wünschen und unsere Unterstützung signalisieren.
({1})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Monika Heubaum, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir über
einen wahrhaft historischen Vorgang: die anstehende Erweiterung der NATO um sieben Staaten. Um die herausragende Bedeutung dieses Ereignisses richtig einschätzen zu können, erscheint mir ein kleiner Rückblick
angebracht.
Am 4. April 1949 schlossen zwölf Staaten Europas
und Nordamerikas in Washington den Nordatlantikvertrag mit dem Ziel, sich gegenseitig Beistand bei Angriffen von außen zu leisten und friedliche und freundschaftliche internationale Beziehungen zu entwickeln.
Während des Kalten Krieges standen sich zwei Militärblöcke starr und in Konfrontation gegenüber.
Das Ende des Kalten Krieges im Jahre 1990 hat die
politischen Gegebenheiten fundamental verändert. Aus
ehemaligen potenziellen Feinden sind Freunde und Partner geworden. Die NATO hat durch ihre Kooperation
mit diesen Nationen zu dieser Entwicklung einen entscheidenden Beitrag geleistet.
Der Wegfall des alten Feindbildes machte die Allianz
jedoch nicht hinfällig, sondern erfüllte sie sogar mit
neuem Elan. Ehemalige Ostblockstaaten wollten nun
neue Mitglieder des Sicherheits- und Wertebündnisses
werden. So erfolgte im März 1999 der Beitritt der drei
Mitgliedstaaten Polen, Ungarn und Tschechische Republik, was aus euro-atlantischer Sicht der Stabilitäts- und
Wertegemeinschaft einen enormen Zuwachs an Festigkeit und Sicherung gebracht hat.
Schon zu dieser Zeit stand fest, dass die Tür für weitere Mitgliedstaaten offen bleiben muss. Damalige Befürchtungen über auftretende Probleme wie beispielsweise verstärkte Spannungen mit Russland haben sich
als irreal erwiesen. Im Gegenteil: Parallel zur Öffnung
der NATO für neue Mitgliedstaaten haben wir in den
vergangenen Jahren schrittweise die Kooperation gerade
mit Russland vorangetrieben. Insbesondere die Intensivierung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland ist ein wichtiger Faktor für Sicherheit und Stabilität
im euro-atlantischen Raum geworden.
Das hat zu großer Akzeptanz auch in der Bevölkerung
bezüglich einer NATO-Erweiterung geführt. Für den gewünschten Beitritt zur NATO gibt es jedoch keinen Automatismus. So haben in den vergangenen drei Jahren
weitere Aspirantenstaaten erhebliche Anstrengungen unternommen, um Beitrittsreife zu erlangen. Dazu gehören zum Beispiel die Beilegung von Konflikten, die Einführung demokratischer Kontrolle bei den Streitkräften,
die Achtung der Menschenrechte und Strukturreformen
im militärischen Bereich. Ausrüstung und Strukturen
müssen dabei an die NATO-Standards angeglichen werden. Daran werden natürlich auch künftige Beitrittskandidaten gemessen werden.
Schritte zu Reformen werden nicht zuletzt mithilfe
der NATO im Rahmen eines „Membership Action Plan“
erzielt. Der „Membership Action Plan“ unterstützt die
Beitrittskandidaten in ihren Bemühungen, er eröffnet ihnen konkretes Feedback auf durchgeführte Maßnahmen
und steht den Ländern beratend bei der Aufstellung von
Programmen zur Seite.
Auch Deutschland hat bilateral erhebliche und allseits
anerkannte Hilfe geleistet. So wurden beispielsweise militärische und zivile Berater entsandt, von Beitrittsländern benötigte Materialien zur Verfügung gestellt und
Ausbildungsunterstützung geleistet. Dieses Engagement
ist aber nicht zuletzt auch im nationalen Interesse; denn
Deutschland als ein Land in der Mitte Europas profitiert
in besonderem Maße vom Stabilitätstransfer, der mit der
NATO-Erweiterung verbunden ist.
({0})
Die sieben in Prag eingeladenen Staaten könnten nach
erfolgreichem Ratifikationsverfahren bereits im Mai
2004 formell Mitglieder der NATO sein. Die Erweiterung ist sowohl ein Erfolg für die Allianz als auch für die
Beitrittskandidaten. Sie leistet einen erheblichen Beitrag
zur europäischen Stabilität und festigt die transatlantischen Beziehungen. Außerdem beschleunigt sie notwendige Reformen in den Mitgliedstaaten.
Die Welt steht nun aber auch vor neuen Herausforderungen, die viel komplexer sind. Auf der einen Seite hat
Europa ein System von kooperativer Sicherheit aufbauen
können, auf der anderen Seite sehen wir uns mit expandierendem Terrorismus konfrontiert, wie nicht zuletzt
durch die dramatischen Ereignisse des 11. September
2001 drastisch deutlich wurde. Nur die konstruktive
ständige Zusammenarbeit der Nationen, für die sich gerade die SPD einsetzt, kann dieser neuen Herausforderung begegnen.
({1})
Wir müssen Alternativen zu rein militärisch angelegten Reaktionen auf Konflikte finden. Dies ist nur in einem multilateralen Rahmen auf allen relevanten Ebenen
zu verwirklichen. Eine elementare Funktion des Bündnisses ist es, die richtigen Erwiderungen auf neue Risiken zu finden. Neben politischer Solidarität gehört dazu
die militärische Fähigkeit zur Bekämpfung des Terrorismus, aber auch zur zivilen Notfallplanung.
Die NATO ist also mehr als ein reines Verteidigungsbündnis. Sie ist eine Wertegemeinschaft, die entscheidend für die Sicherheit und Stabilität in der Welt sorgt.
Außerdem sind Frieden und Sicherheit Grundlagen für
gesellschaftliche und wirtschaftliche Prosperität. So
trägt die NATO zur Stärkung der Demokratie und der
Rechtstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten bei.
Aber nicht alle Länder, die Mitglied der NATO werden wollen, konnten zum NATO-Gipfel in Prag eingeladen werden. Mit Albanien, Mazedonien und Kroatien
müssen wir in intensivem Kontakt bleiben. Gemeinsam
mit der Bundesregierung werden wir diese Länder auch
weiterhin ermutigen, ihre Anstrengungen fortzusetzen,
um die Beitrittskriterien zu erfüllen.
({2})
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass allein die Perspektive, Mitglied der NATO werden zu können, einen
entscheidenden Beitrag zur Konfliktprävention und
Konfliktlösung leisten kann. Die NATO-Operationen in
Mazedonien haben die Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit der NATO im Bereich der präventiven Konfliktbearbeitung unter Beweis gestellt. Die Aussicht auf Mitgliedschaft aktiviert und beschleunigt den Reformkurs
der Kandidatenstaaten. Sie trägt sichtbar zur Stabilisierung der Länder, aber auch der gesamten Region bei.
Eine Erweiterung der NATO bedeutet auch immer
Vergrößerung und Stärkung der transatlantischen Wertegemeinschaft. Gemeinsam mit der Erweiterung der Europäischen Union ist sie daher auch in unserem Interesse. Die Politik der offenen Tür muss fortgesetzt
werden, denn wir wollen, dass alle Menschen in Frieden,
Freiheit und Sicherheit leben können. Daher begrüßt die
SPD-Fraktion diese Erweiterung ausdrücklich.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/906 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es offenkundig keine anderweitigen Vorschläge.
Dann stelle ich mit der ausdrücklichen Ermutigung des
Kollegen Hoyer die Zustimmung des Plenums fest. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 16 auf:
15 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er-/
0900er-Mehrwertdiensterufnummern
- Drucksache 15/907 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Karl-Josef
Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Den Missbrauch von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen
- Drucksache 15/919 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine Stunde vorgesehen, die wir nicht
benötigen werden, weil die von den Fraktionen gemelde-
ten Redner Hubertus Heil, Manfred Zöllmer, Martina
Krogmann, Ursula Heinen, Ulrike Höfken, Marita Sehn
und für die Bundesregierung der Parlamentarische
Staatssekretär Ditmar Staffelt ihre Reden zu Protokoll
gegeben haben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/907 und 15/919 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/907 - das ist
Tagesordnungspunkt 15 - soll zusätzlich an den Rechtsausschuss, die Vorlage auf Drucksache 15/919 - das ist
Zusatzpunkt 16 - soll zusätzlich an den Innenausschuss
und an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden. - Auch dazu gibt es offensichtlich keine anderweitigen Vorschläge. Ich vermute, dass mich der Kollege Hoyer jetzt ermutigen möchte, die Zustimmung des
Plenums zu den Überweisungsvorschlägen herzustellen,
({2})
was hiermit mangels Widerspruchs bereits erfolgt ist.
Damit komme ich zu Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina
Reiche, Helmut Heiderich, Dr. Maria Böhmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland
- Drucksache 15/423 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Kollegin Katherina Reiche für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Bedeutung dessen, was sich gegenwärtig
auf dem Gebiet der Bio- und Gentechnik abspielt, ist
kaum zu überschätzen. Eine Revolution ist im Gange,
die unser aller Leben tiefer und stärker verändern wird
als die industrielle und die informationelle Revolution.
1) Anlage 2
Denn die Erkenntnisse der modernen Biologie und ihre
Anwendung beeinflussen unser Selbstverständnis als
Menschen viel unmittelbarer als andere Naturwissenschaften. Kaum ein Lebensbereich wird davon unbeeinflusst bleiben.
In Barcelona haben die EU-Regierungschefs im letzten Jahr eine europäische Life-Science-Strategie beschlossen, eine strategische Vision für die Biowissenschaften und die Biotechnologie bis in das Jahr 2010.
Doch was hat die Bundesregierung seitdem getan, um
diese Strategie umzusetzen? - Nichts!
({0})
Die Rahmenbedingungen für die Biotechnologie haben
sich stattdessen verschlechtert.
({1})
Ich möchte Sie nur an die Haushaltsberatungen in diesem Jahr erinnern - ich weiß, das hören Sie nicht
gerne -: Der Spitzenforschung wurde mit einer Kürzung
von 60 Millionen Euro der Saft abgedreht.
Im globalen Wettbewerb ist Deutschland gerade auf
einen innovativen Vorsprung bei Produkten und Dienstleistungen angewiesen. Wissen und Forschung sind die
entscheidenden Faktoren. Fakt ist: Wir investieren nur
2,4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung. Das ist definitiv zu wenig.
({2})
Der Anteil der Förderung der Biomedizin an den Forschungsmitteln beträgt in Deutschland nur 25 Prozent. In
den USA sind dies 33 Prozent, in Großbritannien
34 Prozent und in Dänemark 35 Prozent.
Resultat dieser Politik ist, dass Forschung und Entwicklung zunehmend außerhalb von Deutschland stattfinden. Gleichzeitig verlassen immer mehr junge deutsche Wissenschaftler unser Land. Sie forschen in der
Schweiz, in Großbritannien und in den USA. Allein im
letzten Jahr sind 111 000 junge Wissenschaftler abgewandert. Da der Abwanderung der Forschung und Entwicklung erfahrungsgemäß auch die Produktion folgt,
hat dies mittel- und langfristig negative Auswirkungen
auf die Innovationskraft und die Leistungsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft. Das führt zum Beispiel dazu, dass
Patienten viel später Zugang zu neuen innovativen Medikamenten haben.
({3})
In Kürze werden auch die aufstrebenden asiatischen
Länder in den Wettbewerb eingreifen.
Die Bundesregierung hat es bis heute nicht fertig gebracht, neue Spielräume für private Zukunftsinvestitionen zu schaffen.
({4})
Das gilt insbesondere für das Steuerrecht. In fast allen
Industrienationen gibt es neben niedrigen Unternehmensteuern auch eine steuerliche Forschungsförderung.
F-und-E-treibende Unternehmen in Deutschland werden
dagegen nicht zielgerichtet steuerlich entlastet. Hinzu
kommen eine Reihe von starren Reglementierungen,
eine hohe Bürokratiedichte, steuerlich generell ungünstige Rahmenbedingungen, schleppende Genehmigungsund Zulassungsverfahren, ein überregulierter Arbeitsmarkt, eine schwache Konjunktur und der eben schon
beschriebene steigende Fachkräftemangel.
Es ist fahrlässig, das junge Pflänzchen Biotechnologie
durch einen Rückgriff auf starre Dogmen zu zerstören.
({5})
Geben Sie den Unternehmen endlich mehr Luft zum Atmen!
({6})
Wir stehen in Deutschland vor einer wichtigen Entscheidung: Entweder wir spielen in der Biotechnologie eine
passive und reagierende Rolle oder wir werden wieder
Vorreiter in diesem Bereich.
Die Erfahrungen in den vergangenen Jahren haben
ganz deutlich gezeigt, dass die Entwicklung in der Biotechnologie stark von den politischen Rahmenbedingungen abhängt. Wir haben in den 90er-Jahren das Gentechnikgesetz novelliert und haben den Bioregio-Wettbewerb
initiiert. Das war der Ausgangspunkt für einen bislang unerreichten Gründungsboom.
({7})
Der Technologietransfer aus universitären Forschungseinrichtungen in junge Start-up-Unternehmen hat seitdem zugenommen. In der Biotechnologiebranche ist ein
selbstbewusstes Unternehmertum gewachsen. Auch die
Akzeptanz der Biotechnologie hat in der Bevölkerung
zugenommen.
Wie sieht die Situation heute aus? Die Tageszeitung
„Die Welt“ titelte gestern: „Deutsche Biotech-Branche
steckt in ihrer ersten schweren Krise“.
Der am 7. Mai vorgelegte „Deutsche BiotechnolgieReport 2003“ von Ernst & Young ist ein Alarmzeichen
an die Adresse der Bundesregierung. Den jungen Biotechunternehmen geht die Luft aus. Die Zahl der Beschäftigten ging 2002 um 7 Prozent auf 13 400 zurück.
Der Umsatz sank um 3 Prozent. Die Zahl der Unternehmen sank zum ersten Mal seit fünf Jahren von 365 auf
360. 26 Unternehmen mussten Insolvenz anmelden. Die
Ausgaben für Forschung und Entwicklung wurden um
11 Prozent zurückgefahren. Von einer Aufholjagd gegenüber den Konkurrenten USA und Großbritannien
kann wirklich nicht mehr die Rede sein.
Die Bundesregierung muss reagieren, sonst bricht uns
eine der Schlüsseltechnologien weg. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts muss verbessert werden, um
Forschungsergebnisse schneller in marktfähige Produkte
und Dienstleistungen umzusetzen. Wir müssen die
Zulassungsverfahren beschleunigen und die steuerlichen
Rahmenbedingungen verbessern.
({8})
Die Akzeptanz der Biotechnologie ist eine entscheidende Voraussetzung. Erfreulicherweise fand in der Bevölkerung ein Stimmungswechsel statt. 44 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger sind mittlerweile der Ansicht,
dass der Nutzen der Bio- und Gentechnik deren Risiken
überwiegt. 1998 waren es noch 25 Prozent.
({9})
Außerdem stimmen 42 Prozent der Deutschen der Auffassung zu, dass die Gentechnik für Deutschland eine
wirtschaftliche Bedeutung hat, und 46 Prozent der Deutschen befürworten den Einsatz der Gentechnologie zur
Immunisierung von Pflanzen.
({10})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie kannten diese Ergebnisse der Allensbach-Studie
lange vor der Bundestagswahl. Sie haben sie aus ideologischen Gründen verschwiegen
({11})
und die Veröffentlichung mehr als acht Monate verschleppt.
({12})
Es wird Zeit, dass diese Bundesregierung ein deutliches
Bekenntnis zur Biotechnologie abgibt und sich deutlich
hinter die Forscher der 360 Unternehmen mit 13 400 hoch
qualifizierten Beschäftigten stellt.
Lassen Sie gentechnisch veränderte Organismen in
der Pflanzenzüchtung wieder zu!
({13})
Setzen Sie sich für eine unverzügliche Aufhebung des
De-facto-Moratoriums für alle Neuzulassungen von gentechnisch veränderten Lebensmitteln auf EU-Ebene ein!
({14})
Bei keinem einzigen der über 38 000 weltweit durchgeführten Feldversuche konnten schädliche Auswirkungen
auf die Menschen, die Tiere oder die Biodiversität festgestellt werden.
({15})
Frau Kollegin Reiche, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Nein, danke. Herr Kollege Tauss sollte zuhören, um
noch ein bisschen was zu lernen.
({0})
Hören Sie auf, mit den Ängsten der Menschen zu
spielen! Reine Angst war noch nie ein guter Ratgeber,
zumal Sie diese mit einer hypertrophen Moral verbinden.
({1})
Angst verengt den Blick und immunisiert vor allem gegen jede Abwägung, die auch nach dem Nutzen neuer
Erkenntnisse fragt. „Wer jedes Risiko ausschalten will,
der zerstört auch alle Chancen“, so Hans-Olaf Henkel,
der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft.
({2})
Wenn Deutschland seine führende Rolle innerhalb der
europäischen Biotechnologie-Industrie selbstbewusst
behaupten will, sind weitere Anstrengungen notwendig.
Setzen Sie unverzüglich die EU-Biopatentrichtlinie
um!
({3})
Die Unternehmen warten seit Juli 2000 auf Rechtssicherheit. Ohne Patente finden die Unternehmen keine
Geber von Venture Capital und ohne Venture Capital
gibt es keinen Bestand der Unternehmen.
Novellieren Sie das Gentechnikgesetz, aber bitte
nicht so, wie Sie es jetzt gerade planen! Das würde die
Biotechnologiebranche nämlich weiter schwächen. Das
ist ein Gentechnikverhinderungs- oder auch Ökolandbauschutzgesetz.
({4})
Schon allein, dass der ursprüngliche Zweck des Gesetzes, die Bio- und Gentechnik nämlich als Chance und
Potenzial für den Standort Deutschland anzusehen, ersatzlos gestrichen wurde, spricht Bände, Herr Tauss.
({5})
Die ebenso überraschenden wie faszinierenden Ergebnisse von Professor Hans Schölers Arbeit an murinen
ES-Zellen sind ein weiteres Indiz für das ungeheure Potenzial dieser Technologie.
({6})
Wir beginnen, den Schlüssel für das Funktionieren unserer Innenwelt zu verstehen. Auf diese faszinierende Option sollten wir uns einlassen.
Wichtig ist ein Klima, in dem neue Ideen und Innovationen entstehen können. Schule und Ausbildung können
hier einen großen Beitrag leisten. Wir müssen die Neugierde der Schülerinnen und Schüler auf Mathematik
und Naturwissenschaft weiter fördern.
({7})
Vielleicht ist ein naturwissenschaftlich interessierter
Abiturient schon der selbstständige Life-Science-Unternehmer von morgen.
Der fruchtbare Transfer, der im 19. und in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bereich der Ingenieurwissenschaften, der Chemie und der Physik zwischen
Wissenschaft und Unternehmertun stattfand, wiederholt
sich heute im Bereich der Biologie und der Pharmazie.
Es wäre fahrlässig, dieses Klima, in dem die Spitzenforschung und der Unternehmergeist oft ein ganz neues,
symbiotisches Verhältnis eingehen, im Rückgriff auf
starre Dogmen zu zerstören, während die Entwicklung
um uns herum ganz rasant voranschreitet.
({8})
Die Bundesregierung ist aufgefordert zu handeln.
Vielen Dank.
({9})
Herr Kollege Tauss, Sie wissen, dass ich persönlich
eine ganz besondere Freude an gezielten, knappen und
vor allen Dingen intelligenten Zwischenrufen habe. Ich
habe aber den Eindruck, dass es nicht nur der jeweilige
Redner, sondern möglicherweise auch das anwesende
Auditorium begrüßen würde, wenn gelegentlich einmal
drei aufeinander folgende Sätze ohne Zwischenruf vorgetragen werden könnten.
({0})
Ich wollte damit indirekt vorschlagen, dies bei der
nächsten Rednerin zu üben. Ich erteile dazu nun der Kollegin Frau Dr. Reimann für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegin von der CDU/CSUFraktion, es lohnte eigentlich nicht, Ihren Antrag zur
Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie zu Papier zu bringen.
({0})
Nun haben Sie sich auch nicht sehr viel Mühe gemacht;
denn Sie haben im Großen und Ganzen den alten Antrag
aus der 14. Legislaturperiode aus dem Papierkorb geholt
und einfach abgeschrieben.
({1})
Schon damals hinkte dieser Antrag in den allermeisten
Punkten der Realität hinterher.
Unter Ihrem so genannten Zukunftsminister war der
Forschungshaushalt doch lediglich ein Steinbruch, der
dazu genutzt wurde, Theo Waigels Haushaltslöcher zu
stopfen. Diesen Trend haben wir mit der Regierungsübernahme 1998 umgekehrt. Wir haben den Haushalt
für Forschung und Bildung kontinuierlich erhöht.
({2})
Wir haben die Forschungsförderung gerade für die Biotechnologie von 119 Millionen Euro in 1998 auf
243 Millionen Euro im Jahre 2003 verdoppelt.
({3})
Mit dieser Verdopplung der Mittel haben wir deutliche
Signale für eine Förderung von zukunftsweisenden
Technologien gesetzt. Wie Sie alle wissen, war dieser
Schritt überfällig; denn international hatte Deutschland
auf dem Gebiet der Biotechnologie in der Tat viel an Boden wettzumachen.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht
auf der Höhe der Zeit. Ein Großteil Ihrer Forderungen ist
obsolet. Ich muss sagen: Ihr Antrag ignoriert so souverän alles bisher Geleistete, dass wir ihm deshalb nicht
zustimmen können.
({4})
Sie verlangen ein Rahmenkonzept für Biotechnologie. Wir haben eines.
({5})
Das ist auch überall nachzulesen. Seit 2001 ist dieses
Rahmenprogramm mit 800 Millionen Euro für die Förderung von Projekten im Bereich der Biotechnologie
ausgestattet, Kollege Heiderich. Darüber hinaus haben
wir 180 Millionen Euro für ein „Nationales Genomforschungsnetz“ bereitgestellt, das nicht nur mit den nötigen Mitteln ausgestattet ist, sondern von seiner Infrastruktur und seiner Vernetzung her international
Beachtung findet und beispielhaft ist.
({6})
Wir haben die besten Arbeitsgruppen und Forschungseinrichtungen, die fortgeschrittensten Technologien und
die notwendige interdisziplinäre Forschungsexpertise aus
Biologie, Medizin, Physik, Ingenieurwissenschaften,
Mathematik und Chemie darin gebündelt. Sie sind gut
ausgestattet und haben mit 400 Millionen Euro Projektförderung in diesem Bereich eine Basis, sinnvoll zu forschen. Darüber hinaus haben wir - das wurde bereits angesprochen - 480 Millionen Euro für die institutionelle
Forschung über die DFG, die MPG und die HGF für den
Bereich Biotechnologie zur Verfügung gestellt.
Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf einem
der wichtigen Zukunftsfelder in Wissenschaft und Wirtschaft ist durch diese Bemühungen damit nachhaltig
gestärkt. Deshalb ist es für uns selbstverständlich, die
Förderung des Nationalen Genomforschungsnetzes auch
über das Jahr 2003 hinaus auf dem erforderlich hohen
Niveau zu unterstützen.
({7})
Sie fordern zum Beispiel eine Fokussierung auf Zukunftsfelder. Ein Beispiel, die Proteomforschung, ist genannt. Auf dieses Beispiel will ich näher eingehen. In der
Tat hat sich nach der Aufklärung der Genomsequenzen
ein Feld eröffnet, das nach der Sequenzierung des
menschlichen Erbguts und vieler größerer und kleinerer
Organismen die Erforschung von Struktur, Funktionen
und Interaktionen von Proteinen weltweit auf diesen Bereich verlagert. Aber diese Tatsache wurde längst berücksichtigt. Schon im Jahr 2000 gab es einen Förderschwerpunkt „Neue effiziente Verfahren für die funktionelle
Proteomanalyse“. Hierfür wurden 60 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt, und zwar mit Erfolg. Deutsche Forschergruppen liegen im Bereich der Proteomforschung
mit an der Weltspitze.
Ein weiterer Punkt: Sie fordern ein Konzept zur Förderung der Bioinformatik. Ohne Zweifel stellt die Bioinformatik ein weiteres Schlüsselfeld in der Forschung
dar. Sie aber suggerieren in Ihrem Antrag, wir hätten den
Zug verpasst und in Untätigkeit verharrt. Schauen Sie
sich einmal die Zahlen an! Dann werden Sie feststellen,
dass dies schlicht nicht stimmt. Schon 2000 gab es eine
Ausbildungs- und Technologieoffensive Bioinformatik.
Das hat dazu geführt, dass von 2001 bis 2005 für den
Aufbau von sechs nationalen Kompetenzzentren im
Bereich Bioinformatik 50 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt wurden.
({8})
Zu nennen sind: Berlin, München, Köln, Braunschweig,
Jena und Gatersleben. In diesen Zentren sollen interdisziplinäre Arbeitsgruppen aus Hochschule, Wirtschaft
und außeruniversitären Forschungseinrichtungen innovative Werkzeuge für die Bioinformatik entwickeln und
gleichzeitig einen aktiven Beitrag zur Ausbildung qualifizierter junger Bioinformatikerinnen und Bioinformatiker leisten; denn in der Tat gab es bisher in Deutschland
auf diesem Gebiet einen Mangel an qualifiziertem Personal. Die Kompetenzzentren bieten gemeinsam mit den
Ländern Aufbaustudien- und Ausbildungsgänge an, um
eine schnelle Deckung des Bedarfs an Nachwuchs in
Forschung und Wirtschaft sicherzustellen.
({9})
Mittlerweile gibt es nicht nur diese sechs, sondern elf
Kompetenzzentren für Bioinformatik. Wenn Sie sich informieren,
({10})
werden Sie erfahren, dass an 20 Hochschulen und Universitäten in Deutschland Bioinformatik studiert werden
kann.
({11})
Meine Damen und Herren, es wurde bereits angesprochen: Diese Woche wurde der neue „Deutsche Biotechnologie-Report 2003“ von Ernst & Young vorgestellt.
Die deutsche Biotech-Branche hat sich trotz eines
schlechten gesamtwirtschaftlichen Umfeldes behaupten
können. Freilich haben wir für das Jahr 2002 leichte
Rückgänge auch in diesem Hightechsektor verzeichnen
müssen. Aber nach Jahren überschießenden Wachstums
erlebt die deutsche Biotechnologie-Industrie eine Phase
der Konsolidierung, die von Ernst & Young eigentlich
schon länger erwartet worden war, aber erst jetzt eingetreten ist. Vor diesem Hintergrund sehen wir die große
wirtschaftliche Bedeutung der Förderung der Biotechnologie.
Ein Beispiel für die fortgesetzten Bemühungen, diesen Wirtschaftszweig zu entwickeln, ist das Programm
„Bio-Chance“ der Bundesregierung. Es wendet sich gezielt an kleine und mittelständische Unternehmen. Zurzeit werden 52 Firmen mit 50 Millionen Euro unterstützt. Eine kleine Geschichte am Rande: Die „BioChance“-Preisträger können sich in der Regel sehr erfolgreich am internationalen Markt etablieren.
Der Report weist im Übrigen ausdrücklich darauf hin,
dass für die erste Phase, die Gründungsphase, bei Biotech-Unternehmen genügend Kapital vorhanden ist und
dass es zahlreiche Zuschüsse gibt, allen voran vom Staat.
Im Sommer werden Frau Ministerin Edelgard
Bulmahn und Herr Minister Wolfgang Clement das Konzept „Innovation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ vorstellen. Mit dieser Mittelstandsinitiative werden unter anderem die steuerlichen Rahmenbedingungen
für Wagniskapital in Deutschland verbessert und so weitere Anreize geschaffen, dass das in Deutschland zweifellos vorhandene Kapital auch in diesen zukunftsträchtigen Wachstumsmarkt fließt.
({12})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, biotechnologische Produkte erfahren - Frau Reiche hat es angesprochen - eine steigende Akzeptanz und positive Befürwortung durch die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Es gibt bereits jetzt eine wachsende Nachfrage, gerade
im pharmazeutischen Bereich. Die Hoffnungen, die sich
auf diesen Sektor unserer Wirtschaft richten, sind damit
durchaus berechtigt und für uns überdies Ansporn, den
erfolgreichen Weg fortzusetzen. Dafür bedarf es - es tut
mir Leid - nicht Ihres überholten Antrages, sondern der
Unterstützung der Regierung.
({13})
Nun hat die Kollegin Ulrike Flach das Wort für die
FDP-Fraktion.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
({0})
- Selbstverständlich nicht.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Tauss, üben Sie sich ruhig weiter in Zurückhaltung!
Die EU-Kommission hat bereits vor einem Jahr ein
Papier vorgelegt, in dem eine europäische Biotechnologiestrategie konkretisiert wurde. Was auf EU-Ebene
geht, muss auch in Deutschland endlich umgesetzt werden: eine konsistente, eine klare und eine einheitliche
Biotechnologiestrategie. Ich bin aus diesem Grunde der
Kollegin Reiche sehr dankbar, dass die CDU/CSU mit
einem Antrag - genau wie wir es in der vergangenen Legislaturperiode getan haben - erneut auf dieses Manko in
Deutschland hinweist.
({0})
Das unterscheidet uns deutlich von Bundesregierung und
Koalitionsfraktionen,
({1})
die immer wieder gegenteilige, sich diametral widersprechende Signale an die Wissenschaftler und Unternehmer der Biotechnologiebranche gegeben haben.
Gerade die jüngsten Entwicklungen in den USA in
der Stammzellforschung machen klar, wie rasant die
Wissenschaft voranschreitet. Zum ersten Mal konnten
Wissenschaftler nachweisen, dass sich aus isolierten embryonalen Stammzellen Eizellen züchten lassen. Auch
wenn vieles noch der Überprüfung in Versuchsreihen bedarf, ergeben sich daraus weitreichende Perspektiven,
lieber Herr Röspel. Ich bin gespannt, wie unterschiedlich
wir beide das interpretieren werden.
({2})
Es sollte Ihre Ministerin, Frau Bulmahn, doch stutzig
machen,
({3})
dass es wieder einmal ein deutscher Wissenschaftler gewesen ist, der in den USA arbeitet, der diese Entdeckung
gemacht hat. Wir haben ausgezeichnete Wissenschaftler,
({4})
aber wir halten sie offensichtlich nicht am Standort
Deutschland,
({5})
weil unsere Rahmenbedingungen in der Biotechnologie nach wie vor nicht optimal sind.
({6})
Das liegt an dem von mir schon angesprochenen widersprüchlichen Bild, das die Bundesregierung in dieser
Frage abgibt.
Beispiel eins: Für die Förderung der Pflanzengenomforschung gibt das BMBF unter Frau Bulmahn dankenswerterweise circa 16 Millionen Euro aus. Aber wenn es
um die Zulassung geht, dann verhandelt Frau Künast
keinen Deut anders, als Frau Fischer das vor einigen Jahren getan hat. Sie blockiert über das Bundessortenamt
erneut, dass es zum Anbau und damit zur Nutzung
kommt.
({7})
Fazit: Frau Bulmahn fördert ehrenwerterweise die
Grundlagenforschung, Frau Künast verstopft die Anwendung. Es ist noch grotesker: Obwohl Sie über die
Mitfinanzierung des 6. Forschungsrahmenprogramms
auch die grüne Gentechnik fördern, haben Sie erst im
April einen Antrag zum Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen abgelehnt, der schließlich die logische Konsequenz Ihrer Forderungen und Förderungen wäre.
Beispiel zwei: Die Novellierung des Gentechnikgesetzes, basierend auf neuen Richtlinien der EU, sollte
eine spürbare Deregulierung für gentechnische Arbeiten
in Labors bringen. Die Bundesregierung hat daraus ein
Verregelungsgesetz gemacht,
({8})
das umfangreiche Dokumentations- und Meldepflichten
vorsieht. Von Entlastung keine Spur, im Gegenteil. Das
ist offensichtlich wieder einmal ein Fall für unsere Kollegin Birgit Homburger, die sich vor allen Dingen mit
Bürokratie befasst.
Beispiel drei: Die Biopatentrichtlinie ist zwischen der
SPD und den Grünen so umstritten, dass Sie das Vorhaben offenbar aufgegeben haben.
({9})
Dabei haben sich schon im letzten Jahr die Verbände,
die sich auch nicht ganz einig waren, auf eine Umsetzung eins zu eins geeinigt, liebe Kollegen von der SPD
und den Grünen. Die Umsetzung ist seit drei Jahren
überfällig. Die unmittelbare Folge für Wissenschaft und
Industrie ist Rechtsunsicherheit und alles andere, als der
berühmte, eben von allen beschworene Ruck nach vorn.
({10})
Ich habe auch Zweifel, ob die gerade eingerichtete
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ dazu führen wird, dass wir endlich Entscheidungen bekommen. Der CDU-Antrag scheint offensichtlich auch nichts dazu beizutragen.
Frau Flach, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röspel gestatten?
Herr Röspel.
Danke, Frau Flach, ich frage als Abgeordneter. - Sie
sprachen an, dass die Nichtumsetzung der Patentrichtlinie dazu führt, dass es Rechtsunsicherheit und Unsicherheit bei den Unternehmen gibt. Sind Sie darüber informiert, dass das Europäische Patentamt bereits
Erteilungen in Vorwegnahme dieser Richtlinie vollzieht
und sozusagen de facto - das ist eines der diskutablen
Probleme - diese Richtlinie schon angewendet wird?
({0})
Es kann doch, lieber Herr Röspel, eine konsistente Biotechnologiestrategie dieser Bundesregierung nicht darin
bestehen, dass Sie sagen, es passiere etwas im Hintergrund.
({0})
Wir wollen klare nationale Regeln haben, nach denen
unsere Unternehmen vorgehen können. Wenn sie die
nicht haben, sind sie verunsichert.
({1})
Gerade das Thema Ethikkommission hat bei mir zu
einer Verunsicherung geführt, liebe Frau Reiche, was das
Thema Ihres Antrags angeht. Ich sehe mit großem Interesse, dass der Name des Kollegen Hüppe nicht auf dem
Antrag steht, was mich nicht weiter erstaunt, da ich seine
Gedanken zu diesem Thema verfolge. Wir brauchen auf
jeden Fall - das haben Sie deutlich gemacht - einen
Schub für dieses Land. Darin haben Sie unsere volle Unterstützung. Ihr Antrag ist an vielen Stellen mit unserer
Meinung konsistent, aber er atmet nach wie vor auch an
vielen Stellen die nicht gerade forschungsfreundliche
Seele der CDU, und das gerade im Stammzellbereich.
Wir werden uns aus diesem Grunde enthalten.
({2})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zuerst etwas zu dem Antrag der CDU/CSU anmerken. In der CDU/CSU gibt es eine gewisse Zwiespältigkeit, die durch diesen Antrag sehr deutlich wird.
Auf der einen Seite werden sehr fundamentale ethische
Positionen vertreten; auf der anderen Seite sind Sie völlig kritiklos den Empfehlungen der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie gefolgt. Das passt vorne und
hinten nicht zusammen. Das sollten Sie sich klar machen.
({0})
Der Hinweis von Frau Flach ist insofern berechtigt.
Es ist auch erstaunlich, wer in dieser Debatte nicht anwesend ist. Ich möchte niemanden konkret nennen, aber
ihr bildet in dieser Frage offenbar zwei Fraktionen, von
der nur eine hier vertreten ist, die sich aber umso lauter
äußert. Das ist nicht besonders glaubwürdig.
({1})
Als zweiten Punkt möchte ich auf Professor Schöler
zurückkommen. Auch das ist ein interessanter Widerspruch. Man muss in diesem Zusammenhang die Frage
stellen, wann er in die Vereinigten Staaten gegangen ist,
weil er hier keine Beschäftigungsmöglichkeit gefunden
hat. Das war nämlich zu einer Zeit, als es diese Regierung noch nicht gab. Ich habe vergangene Woche auf der
ersten Seite der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, dass
im Gegenteil inzwischen viele Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler wieder aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren. Wir haben es langsam geschafft
- auch wenn wir noch viel besser werden müssen -, den
Zug in eine andere Richtung zu bewegen.
({2})
Dass ausgerechnet Sie uns vorhalten, die Wissenschaftler seien ausgewandert, ist schon arg an den Haaren herbeigezogen, zumal Sie genau wissen, dass seit
1998 im Bereich der Wissenschaft insgesamt eine
enorme Aufstockung erfolgt ist. Zwischen 1994 und
1998 gab es einen Rückgang; zwischen 1998 und 2002
war ein Anstieg zu verzeichnen. Selbst in der schwierigen Situation, in der wir uns jetzt befinden, wächst dieser Haushalt, wenn auch langsamer als geplant. Insofern
passen Ihre Ausführungen vorne und hinten nicht zusammen.
Herr Loske, der Kollege Tauss möchte gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Eine kritische?
Das wissen wir möglicherweise, sobald er sie gestellt
hat.
({0})
Lieber Herr Kollege Loske, es geht mir um einen Erkenntnisgewinn, weil sich die Kollegin Reiche beharrlich geweigert hat, Zwischenfragen zu beantworten. Sehe ich es richtig, dass der von ihr erwähnte Wissenschaftler Schöler 1996 das Land verlassen hat? Können
Sie mir noch einmal auf die Sprünge helfen, wer 1996
regiert hat?
({0})
Ob Professor Schöler 1996 das Land verlassen hat,
weiß ich nicht. Sein Weggang ist jedenfalls ein Verlust
für die deutsche Forschungslandschaft; das ist keine
Frage. Aber soweit ich mich erinnere, haben 1996 die
CDU/CSU und die FDP regiert.
({0})
Sie sehen, ich kenne mich in der deutschen Innenpolitik
aus.
Ich wollte, wie gesagt, auf die enorme Spaltung in der
CDU/CSU zwischen den sehr heroischen, fundamentalen Positionen zur Bioethik und der Tatsache, dass Sie
einer sehr kritiklosen Biopolitikstrategie das Wort reden,
hinweisen. Das passt nicht zusammen.
Ähnliches gilt für das Thema Biopatentrichtlinie.
Ich gehe gleich näher darauf ein. Man kann dieses
Thema zwar sehr gewissenhaft diskutieren, aber einstweilen ist Realität, dass nur sechs von 15 Ländern innerhalb der Europäischen Union die Biopatentrichtlinie in
nationales Recht umgesetzt haben. Neun Länder haben
sie noch nicht umgesetzt. Manche haben sogar vor dem
Europäischen Gerichtshof dagegen geklagt. Viele verschleppen die Umsetzung; andere quälen sich damit. Nur
die Union - die FDP sowieso - weiß, was richtig ist.
({1})
Realität ist, dass es auch in Deutschland eine Spaltung
gibt. Auf der einen Seite gibt es ernst zu nehmende Kritiken vonseiten der Kirchen, der Umweltverbände und interessanterweise vonseiten der Forschung und des Bauernverbands. Deren Kritik gilt der Sorge, dass es eine
forschungshemmende Wirkung geben könnte und die
Entwicklung möglicherweise eingeschränkt würde. Auf
der anderen Seite steht das Begehren nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Das ist völlig klar. In diesem
Spannungsfeld bewegen wir uns. Wir führen zurzeit Gespräche zwischen den Koalitionspartnern.
({2})
Die Gespräche sind keineswegs eingestellt worden, Frau
Kollegin Flach.
Wir - ich meine in diesem Zusammenhang die
Grünen - verfolgen ein doppeltes Ziel: Wir sind bereit,
die Biopatentrichtlinie auf nationaler Ebene umzusetzen,
wenn die offenen Fragen geklärt werden, die die Reichweite der Patente betreffen. Wir wollen nicht, dass große
Konzerne quasi ganze Gensequenzen besetzen und dann
den Forschungsfortschritt verhindern. Das ist mit uns
nicht möglich.
({3})
Das zweite Ziel, das wir verfolgen, ist die Einführung
eines Herkunftsnachweises. Hinzu kommen Datenschutzerwägungen.
({4})
Ich glaube, dass wir in diesen Fragen zu einer Lösung
kommen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir das
schaffen werden.
Der entscheidende Punkt ist, dass auf europäischer
Ebene über kurz oder lang ein neuer Anlauf zur Überarbeitung der Biopatentrichtlinie erfolgen muss.
({5})
Denn diese Richtlinie entspricht in ihrer heutigen Fassung dem Diskussionsstand von Anfang bis Mitte der
90er-Jahre. Das wissen diejenigen unter Ihnen, die sich
damit beschäftigen, sehr genau. Die Revolution der Erkenntnisse in der Bioforschung hat in den vergangenen
drei bis fünf Jahren stattgefunden. Das heißt, das Patentrecht auf dem Stand der ersten Hälfte der 90er-Jahre und
der Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts
klaffen weit auseinander. Weil beides nicht zusammenpasst, ist die Überarbeitung der Biopatentrichlinie auf
europäischer Ebene notwendig. Das ist unsere Position.
({6})
- Sie wissen doch, dass das Initiativrecht bei der Kommission liegt. Die Regierung kann sehr wohl Signale
senden. Das werden wir auch tun.
Herr Loske, darf nun vielleicht auch die Kollegin
Flach eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gerne. Warum nicht?
Lieber Kollege Loske, da Sie offensichtlich allwissend sind, möchte ich Sie gerne fragen:
Allwissend?
Darf ich das, was Sie gesagt haben, so interpretieren,
dass Sie erst abwarten wollen, ob auf EU-Ebene erneut
novelliert wird, bevor Sie zu Werke gehen?
Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Was meinen
Sie mit „allwissend“?
({0})
Ich meinte das im Hinblick auf die zielführende Frage
des Kollegen Tauss.
Jetzt verstehe ich die tiefere Ironie. Der Groschen ist
bei mir pfennigweise gefallen.
Die Umsetzung der europäischen Richtlinie in nationales Recht müssen wir angehen. Das ist gar keine
Frage.
({0})
Es gibt noch - das habe ich bereits erwähnt - drei offene Fragen, nämlich die Frage der Reichweite der
Stoffpatente, des Herkunftsnachweises und des Datenschutzes. Hierüber gibt es im Moment Gespräche zwischen SPD, Grünen und BMJ. Wir sind gewillt, zu einer Lösung zu kommen. Aber wir als Grüne wollen das hat das Kabinett schon in der letzten Legislaturperiode beschlossen -, dass die Bundesregierung in Brüssel einen neuen Anlauf zur Überarbeitung der Biopatentrichtlinie startet, um sie auf die Höhe der Zeit zu
bringen. Das ist unsere Position.
({1})
Ich hoffe, dass ich Ihre Frage auch mit meinem durchschnittlichen Wissen ausreichend beantworten konnte.
Zurück zu dem, was wir Grüne wollen: Unsere Position zur gesamten Gentechnik ist, glaube ich, in den letzten Jahren klar geworden. Wir wollen die ethisch unbedenkliche Forschung im Bereich der roten Gentechnik
unterstützen. Das tun wir bereits im Rahmen unserer
Forschungspolitik. Das soll bei der medizinischen Forschung und insbesondere bei der Medikamentenforschung intensiviert werden. Wir wollen aber auch klare
ethische Prinzipien und vor allen Dingen Transparenz.
Deswegen sind solch große Konferenzen, die zur Aufklärung der Öffentlichkeit beitragen, wie die im Jahr
2000 von Andrea Fischer oder wie die im Jahr 2003 von
Edelgard Bulmahn zum Klonen initiierte, ein wichtiger
Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Der Opposition fehlt
offenbar die Vorstellung, dass man über komplexe ethische Probleme auch fundamental diskutieren muss.
Für uns ist auch die ethische Begleitforschung sehr
wichtig; denn wir glauben in der Tat, dass neben der reinen technischen Forschung auch dieser Forschung ein
großer Stellenwert beigemessen werden muss. Biotechnologie ist mehr als das, was Sie in Ihrem Antrag präsentieren. Wir sind zum Beispiel der Meinung, dass der
ganze Bereich der Bionik ein sehr zukunftsträchtiges
Feld ist. Hier geht es um das Lernen von der Natur
- Stichwort „sanfte Biotechnologie“ -, um die Übertragbarkeit von Bau-, Funktions-, Datenübertragungs-, Entwicklungs- und Evolutionsprinzipien der Natur auf die
Technik. Das ist eine intelligente Form der Biotechnologie, die wir auf der ganzen Linie unterstützen.
({2})
Es ist bekannt, dass wir der grünen Gentechnologie
skeptisch gegenüberstehen. Wir glauben nämlich, dass
sie im Grunde genommen nicht erforderlich ist, dass
durch züchterische Leistungen die gleichen oder sogar
bessere Ergebnisse erzielt werden können. Hier gibt es
offenkundig einen Dissens. Wir sind jedenfalls der Meinung, dass man in diesem Bereich eher Anbau-, Züchtungs- und auch Tierhaltungsoptionen fördern sollte, die
auf eine umweltverträgliche Landwirtschaft hinauslaufen.
({3})
- Man muss es vor allen Dingen ganzheitlich sehen.
Man darf nicht einen kleinen Bereich herausnehmen.
Mit der CDU-Position habe ich folgendes Problem: Auf
der einen Seite vertreten Sie fundamentalistische Prinzipien. Auf der anderen Seite reden Sie - quasi als Ersatzhandlung - die grüne Gentechnologie hoch. Das ist recht
eigentümlich.
({4})
Ich fasse zusammen: Das, was die CDU/CSU in ihrem heutigen Antrag präsentiert hat, ist meines Wissens
wortgleich mit einem Antrag aus dem Jahre 2002. Die
Diskussion ist aber weitergegangen. Sie sind genau ein
Jahr hinter dem Stand der aktuellen Diskussion zurück.
Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Tauss, ich werde versuchen, Ihnen intellektuell
gerecht zu werden.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zuerst: Die wirtschaftliche Lage in
Deutschland ist bedenklich. Die Arbeitslosigkeit steigt
unaufhörlich. Anstatt Fortschritte zu erzielen, dümpeln
wir nur noch dahin. Es gibt mehr Stillstand als Entwicklung. Wachstum weisen unter Rot-Grün nur noch die
vergrößerten Löcher in den Haushaltskassen auf.
({0})
- Verehrter Herr Kollege Schmidt, das ist keine
Schwarzmalerei, sondern Feststellung der Fakten, die jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen verbreitet werden. Das ist Ihre Politik. Diese müssen Sie schon zur
Kenntnis nehmen.
({1})
Warum sage ich das? Gerade in einer solchen Lage
- so meine ich - müsste die Regierung doch massiv interessiert sein, die Wachstumskerne der Zukunft mit aller
Kraft weiterzuentwickeln. Ich möchte in diesem Zusammenhang Herrn Schröder zitieren. In seiner Rede
bezeichnete der Bundeskanzler die Gentechnik - jetzt
hören Sie gut zu! - als Schlüsseltechnologie für die moderne Landwirtschaft - Herr Loske, haben Sie zugehört? -,
für die Medizin, für die Pharmazie, für die Chemie und
für die Lebensmittelindustrie, für den Umweltschutz und
für viele andere Wirtschaftsbereiche. Solche Worte hörte
man auf der EXPO 2000. Manche sollen daran sogar geglaubt haben.
Die Realität der Politik von Rot-Grün und des Kanzlers sehen schlecht aus, verehrter Herr Tauss. Das kann
man aktuell beispielsweise dem Biotechnologie-Report
von Ernst & Young entnehmen, aus dem hier eben schon
mehrfach zitiert worden ist.
Man muss die Situation genau betrachten. Wir von
der CDU/CSU weisen schon seit zwei Jahren in diesem
Hause auf Folgendes hin - Herr Tauss, hören Sie gut
zu! -: Die Biotechnikbranche in Deutschland verliert
zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit. Die Bundesregierung, insbesondere Frau Ministerin Bulmahn, hat für die
Öffentlichkeit immer ein rosiges Bild gezeichnet, indem
sie auf die bloße Anzahl der gegründeten Unternehmen
hingewiesen hat. Die Praxis ist allerdings gar nicht rosig;
denn die deutschen Unternehmen sind zu klein, sie sind
in ihrer Entwicklung weit zurück und sie sind weit davon
entfernt, wirtschaftlichen Erfolg zu haben.
Ich nenne in diesem Zusammenhang zwei Zahlen.
Schon 2001 stellten Ernst & Young fest, die deutsche Biotechnik habe in diesem Jahr einen Verlust von
411 Millionen Euro erwirtschaftet; das seien 66 Prozent
mehr als im Vorjahr. In 2002 ist der Verlust auf inzwischen 661 Millionen Euro - das ist ein Zuwachs um
mehr als die Hälfte - gestiegen. Uns ist es ein Rätsel,
wie Sie bei diesen Vorgaben behaupten können, im Bereich der Biotechnik alles Erforderliche getan zu haben.
({2})
Des Weiteren zeigt der aktuelle Biotechnologie-Report, dass Deutschland in den wichtigen Entwicklungsphasen II und III - in diesen Phasen werden die Ideen
der Forscher in Produkte, in wirtschaftlichen Erfolg und
in Arbeitsplätze umgesetzt - weit abgeschlagen zurückliegt. In diesen Phasen habe Deutschland einen Anteil
von gerade 6 Prozent an der europäischen Entwicklung.
Zum Vergleich: Großbritannien hat einen Anteil von
58 Prozent. Man hat uns jahrelang erklärt, man wolle
eine Aufholjagd gegenüber Großbritannien und den
USA beginnen. Ich stelle fest: Deutschland liegt mit einem Anteil von 6 Prozent gegenüber Großbritannien um
Längen zurück. Sie sollten sich nicht loben, sondern
endlich versuchen, eine bessere Politik im Bereich Biotechnologie zu machen.
({3})
In Entwicklungsphase III - erst in dieser Phase wird
über die Vermarktung der Produkte Umsatz gemacht - waren im Jahre 2002 - Herr Tauss, bitte hören Sie genau zu;
das können auch Sie intellektuell verarbeiten - gerade
noch drei deutsche Produkte im Wettbewerb.
({4})
Ich möchte Sie bitten, sich dieses Themas ein bisschen
mehr anzunehmen und über unseren Antrag nicht einfach hinwegzugehen, nach dem Motto: Das alles haben
wir schon gestern gewusst. - Mitnichten! Vielleicht haben Sie etwas gewusst; aber Sie haben - das ist der entscheidende Punkt - nichts vorangebracht.
({5})
Was tut die Bundesregierung in dieser Lage? Ich erinnere nur kurz - meine Redezeit ist sehr eng bemessen - an
das, was Sie getan haben: Die Bundesregierung hat - entgegen ihrer festen Zusage - im Bereich der Spitzenforschung Kürzungen in Höhe von 70 Millionen Euro vorgenommen.
({6})
Angesichts dessen frage ich Sie: Wo bleiben die Forscher? Wo bleiben die Wissenschaftler? Wo bleiben die
technischen Mitarbeiter? Wo bleiben die Studenten? Wo
bleibt die Entwicklung? Erst auf hohen Druck von allen
Seiten sind Sie von Ihren Plänen ein Stück weit abgerückt. Dem gingen monatelange Diskussionen voraus.
In der „FAZ“ vom 29. April 2003 steht Folgendes:
Wegen besserer Arbeitsbedingungen, besserer Bezahlung, besserer Perspektiven kommt es zu einer
verstärkten Abwanderung von Spitzenkräften ins
Ausland.
({7})
- Ich bitte Sie, das einfach nachzulesen. Ich habe dieses
Zitat nicht erfunden. Ich habe es hier einfach nur vorgetragen.
({8})
- Verehrter Herr Tauss, ich habe es so vorgetragen, wie
es in der „FAZ“ steht. Dort können Sie es gerne nachlesen.
Ich komme auf das Biopatentrecht zu sprechen. Die
Bundesregierung sei auf der Höhe der Zeit, hat Herr
Loske gesagt. Inzwischen sind aber fast fünf Jahre ins
Land gegangen. Die Bundesregierung - das haben Sie
eben bestätigt - ist noch immer handlungsunfähig.
({9})
Ich erinnere Sie daran, dass Sie schon einmal einen Entwurf in dieses Parlament eingebracht haben. Da Sie sich
nicht einig werden konnten, mussten Sie Ihren Entwurf
wieder zurückziehen. Sie sind bis heute nicht in der
Lage, einen neuen Entwurf einzubringen. Das ist ein
Faktum und das ist das Ergebnis Ihres politischen Handelns.
({10})
Nun kann man natürlich, wie der Kollege Röspel, sagen: Was soll es? Das Europäische Patentamt macht sowieso längst, was es will. - Dann können Sie auch Ihre
Regierungstätigkeit in Deutschland einstellen und sich
verabschieden.
({11})
Dann können andere für Sie handeln.
({12})
Das wäre für Deutschland in dieser Situation sicherlich
eine bessere Lösung.
({13})
Ich will an dieser Stelle, Herr Tauss, ein Zitat von EUKommissar Bolkestein einbringen, der zum Thema Biopatentrichtlinie gesagt hat: Solange diese nicht umgesetzt ist, „sind dem europäischen Biotechnologiesektor
die Hände gebunden; er wird folglich immer weiter zurückfallen“. Das ist ein Zitat vom 28. Januar dieses Jahres. Das ist eine klare Aussage eines Fachmannes. Das
sollte man zumindest einmal zur Kenntnis nehmen und
nicht einfach so zur Seite wischen.
Was macht die Bundesregierung sonst noch? Sie verschärft die Vorschriften; sie verstärkt die Bürokratie. Sie
verzögert - das ist eben schon vorgetragen worden - Genehmigungsverfahren. Herr Loske, an einer Stelle könnten Sie sich wirklich sehr erfolgreich betätigen. Es ist
höchste Zeit, dass Sie Künast und Trittin von der Bremse
nehmen. Solange sie die Verfahren weiter verschärfen,
wird in Deutschland die Biotechnikbranche weiter auf
dem Rückzug sein und nicht nach vorn kommen.
({14})
Beispiel Gentechnikgesetz; das ist schon angesprochen worden. Erst haben Sie jahrelang gebraucht, bis
überhaupt eine Umsetzung in Gang kam.
({15})
- Ich bitte Sie, Herr Tauss!
({16})
- Ich kann Ihnen zum Nachlesen gern einen Bericht Ihrer Bundesregierung geben, in dem sie versprochen hat,
bis zum Jahr 2000 die Umsetzung vorzulegen. Das können Sie gern von mir haben. Eingehalten haben Sie es
nicht; Sie haben es in 2002 endlich geschafft. Sie sind
hinter Ihren eigenen Versprechungen also um Jahre zurück.
({17})
- Herr Tauss, das ist so.
({18})
Statt Hürden abzubauen - wir Deutschen waren einmal die Vorreiter beim Gentechnikrecht; viele Europäer
haben das übernommen; jetzt kommt es von Europa
nach Deutschland zurück, aber Sie sagen nicht: Wir sind
froh und damit einverstanden -, setzen Sie neue Hürden
obendrauf. Sie packen neue Bürokratie drauf. Das ist zu
einer neuen Behinderung und zu einer neuen Beeinträchtigung geworden.
({19})
Bundesregierung und Forschung. Vorhin ist die Genomforschung schon angesprochen worden. Was wird
mit den UMTS-Förderungen im nächsten Jahr? Ihnen
liegen sicherlich so wie mir die Brandbriefe von Forschungsanstalten vor, zum Beispiel der Proteinstrukturfabrik Berlin. Es wird gesagt: Wir stehen vor dem Aus.
Die Bundesregierung sagt nicht, wie es weitergehen soll.
Alles zerbricht und zerfällt. - Frau Bulmahn, ich habe es
schriftlich. Sie können es gerne bei mir einsehen. Es
liegt Ihnen bestimmt auch vor.
({20})
- Gern; das können Sie haben. - Es besteht längst die Situation, dass Sie um die Probleme herumreden, aber Lösungen hermüssen.
({21})
Noch ein letztes Beispiel. In der grünen Gentechnik
haben Sie es dazu gebracht, dass in diesem Jahr wenigstens ein Miniversuch auf sage und schreibe 200 Quadratmetern in Thüringen stattfinden durfte. Nur, ehe der Versuch überhaupt in Gang kommen konnte, haben die
Freunde von Greenpeace den Versuch gegen Recht und
Gesetz zerstört. Sie sitzen dabei, schauen sich das an und
sagen kein Wort; weder verhindern Sie es, noch verurteilen Sie es. Da wäre eine Bundesregierung gefordert, endlich einmal Position zu beziehen.
({22})
Wenn Sie das täten, könnten Sie sagen, Sie hätten etwas
für die Gentechnik getan.
Unser Antrag ist ein deutlicher Fortschritt.
Aber die Redezeit ist auch deutlich überschritten.
Es ist mein letzter Satz, Herr Präsident. - Ich bitte Sie
herzlich, im Interesse der deutschen Biotechnikindustrie
dem Thema mehr Beachtung zu schenken und unserem
Antrag zuzustimmen.
Schönen Dank.
({0})
Frau Kollegin Bulmahn, ich bitte um Nachsicht. Bei
deutlich überschrittener Redezeit kann ich eine Zusatzfrage nur noch schwerlich zulassen.
Zum Schluss der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Röspel für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich meine Rede einmal mit einem ganz anders gearteten Überblick über dieses Thema beginnen, aber ich
kann nicht anders, als zunächst auf Herrn Heiderich einzugehen. Frau Reimann hatte ja wirklich in aller Deutlichkeit gezeigt, was diese Bundesregierung in den letzten vier Jahren geleistet hat. Ich hatte gehofft, dass das
auch verstanden wird, aber vielleicht lesen Sie einfach
noch einmal das Protokoll nach, um die entsprechenden
Zahlen und Fakten nachzuvollziehen.
({0})
Es war schon hanebüchen, was ich hier teilweise von Ihnen, Herr Heiderich, vernommen habe.
Erster Punkt. Sie behaupteten, ein Gentechnikgesetz
gebe es nicht und dessen Erstellung sei von uns verschleppt worden, während andere Länder Vorreiterrollen
eingenommen hätten. Ich erinnere mich noch, als ich vor
etwas mehr als zehn Jahren im Labor gestanden habe,
dass darüber diskutiert wurde, dass die Zulassungsverfahren gerade für Laborversuche in allen anderen Ländern viel einfacher und weniger bürokratisch seien, die
Kohl-Regierung es aber wenigstens hinbekommen habe,
das Gentechnikgesetz in Teilen zu verändern. Das heißt,
es gab es schon damals und es gibt es heute auch noch.
Es geht darum, es zu verändern und
({1})
- in der Tat - EU-Richtlinien umzusetzen.
Zweiter Punkt. Ehe Sie etwas zur Situation von Biotechnologieunternehmen sagen, sollten Sie vielleicht
erst einmal den Bericht von Ernst & Young wirklich
durchlesen und nicht nur einige aus dem Zusammenhang
gerissene Fakten bringen.
({2})
Natürlich steckt diese Branche im Moment in der Krise
und hat Probleme. Wenn man sich aber einmal umschaut, stellt man zum Ersten fest, dass das für alle Branchen in Deutschland, in Europa und in der Welt zutrifft.
Zum Zweiten ist die Krise der Biotechnologie nicht auf
deutsche Unternehmen beschränkt, sondern in allen anderen Ländern besteht das gleiche Problem. Zum Dritten
sind auch die Verluste der Biotech-Unternehmen, die Sie
beklagen, in größerem Zusammenhang zu sehen. Ich
kenne bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland weltweit kaum Unternehmen im Biotechnologiesektor, die
bereits schwarze Zahlen schreiben. Das Grundproblem
ist nämlich immer dasselbe: Man braucht am Anfang
viele Mittel für die Forschung, bis man überhaupt zu einem Ergebnis kommt. Das führt quasi automatisch dazu,
dass das Unternehmen, wenn es nicht mit starker staatlicher Unterstützung gegründet wird, in den ersten Jahren
massive Verluste macht. Ihre Darstellung hat mich also
schon ein wenig entsetzt.
Schließlich möchte ich noch einen Punkt ansprechen:
In der Tat haben wir es geschafft, dass seit den Jahren
1999 und 2000 viele Biotechnologieunternehmen in
Deutschland gegründet wurden. Ich kann mich dann
aber nicht 2003 darüber auslassen und beschweren, dass
das alles kleine Unternehmen seien. Erwarten Sie etwa,
dass bereits nach drei Jahren Großkonzerne existieren?
({3})
Ich muss schon sagen, dass es wohl besser wäre, wenn
man diese Argumentation von Ihnen im Protokoll nicht
nachliest; denn das lohnt sich nicht wirklich.
Ich wollte eigentlich meine Rede mit einem entwicklungs- bzw. evolutionsbiologischen Überblick beginnen. Nach einer gängigen wissenschaftlichen Theorie ist
an einem Freitagmorgen - wir können uns darüber unterhalten, ob es nicht vielleicht doch ein Donnerstagmorgen
war - vor etwa 4,5 Milliarden Jahren diese Erde bzw.
diese Welt entstanden. Dieser Zeitraum übersteigt unsere
Vorstellungsmöglichkeiten bei weitem. Vielleicht macht
es ja Sinn, statt dieses Zeitraums eine Strecke zu nehmen. Wenn man sich also vorstellt, dass sich die Evolution jedes Jahr um 1 Millimeter auf dieses Rednerpult zubewegen würde, dann wäre die Welt in 4 500 Kilometern
entstanden; die Evolution hätte also irgendwo mitten im
Atlantik auf den Azoren begonnen.
Da es weitere 700 Millionen Jahre gebraucht hat, bis
das erste Leben entstanden ist, wären wir damit also immer noch 3 500 Kilometer von hier entfernt in Spanien.
Da es weitere 2 Milliarden Jahre brauchte, bis die ersten
Zellen entstanden sind, wären wir in Marseilles angekommen und hätten noch 1 500 Kilometer bzw. 1,5 Milliarden
Jahre vor uns. 450 Kilometer von hier entfernt in Frankfurt - das entspricht 450 Millionen Jahren - wären, wenn
man sich jedes Jahr nur 1 Millimeter vorwärts bewegen
würde
({4})
- gleich, ich will nur einen Überblick geben; das dürfte
nicht schaden -, die ersten Würmer aufgetaucht, 350 Kilometer entfernt in Göttingen die ersten Fische und im
150 Kilometer entfernten Magdeburg würden wir die
ersten Säugetiere sehen, die sich jedes Jahr um
1 Millimeter weiter auf uns zu bewegten. Der Mensch
trennt sich vom Affen etwa auf dem Ku’damm und auf
dem Wege von der Gedächtniskirche zum Kanzleramt
würde er in den letzten 600 000 Jahren auch den aufrechten Gang erlernt haben.
({5})
- Warten Sie einmal ab. - Kurz vor dem Plenarsaal
stünde der moderne Homo sapiens sapiens und 8 Meter
von mir entfernt hätten wir vor 8 000 Jahren gelernt,
Ackerbau zu betreiben. Vor 4 000 Jahren hat er das Herstellen von Metallwerkzeugen erlernt; das wären die
nächsten 4 Meter gewesen.
Die Erfindung der Elektrizität vor 100 Jahren - jetzt
wird es vom Maßstab her vielleicht deutlich; ich merke
an Ihrer Unruhe, dass Sie das möglicherweise noch nie
gehört haben, aber es bedarf auch einer gewissen Form
von Geduld - hätte 10 Zentimeter von mir entfernt stattgefunden. Auf den letzten 3 Zentimetern befindet sich
der Mensch im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie,
wo er beginnt, Evolution zu verändern, wo er das, was
sich auf einer Strecke von Frankfurt oder Magdeburg bis
hierhin ereignet hat, auf eine Strecke von 2 oder
3 Zentimetern reduziert.
({6})
- Was Sie daraus lernen, will ich Ihnen, wenn Sie das
noch nicht verstanden haben, sagen: Wir sind dabei, evolutionäre Grenzen zu überschreiten, indem wir Gene aus
Bakterien in Pflanzen übertragen, wobei wir nicht überblicken können, was in den letzten Jahrmillionen passiert ist. Dass es zu einer solchen Entwicklung kam,
wussten wir nicht.
Darf man nicht skeptisch sein, wenn sich die Ereignisse auf der Strecke von Magdeburg bis hierher nun auf
2 Zentimetern abspielen sollen? Muss man sich nicht sogar bewusst sein, dass man hier Prozesse initiiert, die in
der Natur Jahrmillionen gebraucht und evolutionäre Katastrophen am laufenden Band verursacht haben? Handeln wir richtig, wenn wir glauben, im Vergleich dazu
reichten ein paar Jahre, um Folgen wirklich abschätzen
zu können?
({7})
Darum geht es. Wir müssen die Dimension erkennen,
die wir in Teilen überschreiten. Deswegen habe ich das
etwas ausführlicher dargestellt. Ich habe gehofft, dass
Sie das auf diese Weise begreifen.
Ist das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Ideologie, die Sie uns auch heute wieder
vorgeworfen haben? Auch im Antrag haben Sie uns vorgeworfen, wir seien per se gegen grüne Gentechnologie.
Begreifen Sie nicht, dass wir in wenigen Jahren Evolution spielen und überhaupt nicht wissen, was wir anrichten, wenn die Natur Tausende von Jahren gebraucht hat,
um Erfahrungen zu sammeln?
({8})
Sie erwarten, dass wir das binnen zehn Jahren schaffen.
Wir müssen und wollen mit freisetzender Gentechnik
bewusst umgehen; aber es gibt keine wissenschaftliche
Beurteilung der Folgen. Eines ist sicher: Wenn wir gentechnisch veränderte Pflanzen, Fische, Mikroorganismen
freisetzen, so ist das irreversibel und wir wissen nicht,
was damit passieren wird. Der Zeitraum von zehn Jahren
reicht nicht aus, um das zu beurteilen.
({9})
- Ich sehe, Sie verstehen das nicht.
Wir haben in den letzten Jahren zwei große Dogmen
verloren. Dolly, vor fünf Jahren entstanden, hat uns gezeigt, dass alle Lehrbücher der Biologie neu geschrieben
werden müssen.
({10})
Die Veröffentlichungen der letzten Woche zeigen, dass
das, was wir noch vor einem Jahr bezüglich der Stammzellen glaubten, ebenfalls neu bewertet werden muss.
Frau Reiche, Sie sagen, junge Forscher verlassen
Deutschland und gehen in die Schweiz. Dort hat der Nationalrat vor zwei Tagen ein Moratorium beschlossen,
wonach die Landwirtschaft in der Schweiz bis 2009 gentechnikfrei bleiben soll.
({11})
Sie haben gesagt, wir sollen die Biopatentrichtlinie
umsetzen. Sie haben als Opposition natürlich das Recht,
zu mäkeln; aber Sie bieten keine Lösungen an. Natürlich
gibt es kritische Stimmen aus den Kirchen, aus Krankenhäusern, von Ärzten, aber auch aus der Forschung, die
sagen, dass sie so nicht umgesetzt werden kann. Wollen
Sie, dass Gene patentiert werden, oder nicht? Wir machen uns die Entscheidung sehr schwer und es ist eine
langwierige Auseinandersetzung; aber wir werden diese
Richtlinie umsetzen und hoffen, dass sie zum Wohle aller sein wird.
({12})
Eine weitere dicke Luftblase in Ihrem Antrag ist die
Forderung, Tiere gentechnisch nur zu verändern, wenn
es nicht auf Kosten ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens geschieht. Ich frage Sie: Wer hat diesen Antrag
geschrieben? Müssten Ihre Forschungspolitiker da nicht
aufschreien? Wie wollen Sie in der Realität beurteilen,
ob sich eine Maus noch wohl fühlt, wenn sie gentechnisch verändert ist? Wenn Sie diesen Antrag eins zu eins
umsetzen, gibt es keine Forschung an Tieren mehr. Ich
habe mich zu Beginn meines Studiums wirklich dafür
eingesetzt und es gibt gute Initiativen, auch vom Ministerium, um die Forschung an Tieren und Tierversuche
möglichst zu reduzieren. Aber wenn dieser Antrag so
umgesetzt wird, wird Forschung an Tieren nicht mehr
möglich sein. Ich bin gespannt auf die Debatte mit den
Forschern. Oder haben Sie einen Dr. Doolittle in Ihrer
Fraktion, der mit Tieren reden kann?
Aber es gibt auch realistische und vernünftige Forderungen in Ihrem Antrag; das will ich gar nicht verschweigen.
Herr Röspel, Sie werden die Forderungen nicht mehr
alle vortragen können, wenn Sie die Redezeit annähernd
einhalten wollen.
Das Gentestgesetz muss kommen. Ich bin guten Mutes, dass wir nach der Sommerpause mit der parlamentarischen Diskussion beginnen werden.
Vieles aus Ihrem Antrag hat sich erledigt; viele Forderungen laufen ins Leere. Diese Regierung braucht sich
eben nicht, was die Förderung von Biotechnologie anbelangt, zu verstecken. Aber wir müssen auch die Besonderheit dieser Technologie berücksichtigen und verantwortungsvoll damit umgehen. Ich habe versucht,
darzulegen, welche Dimension Evolution und Gentechnik haben. Aber es scheint mir in Teilen nicht gelungen
zu sein.
Eine letzte Bemerkung. Mein Ausflug in die Evolution am Anfang meiner Rede hatte das Ziel, klar zu machen, dass es manchmal Zeit zum Nachdenken braucht.
Was uns als lang erscheint - ein Jahrzehnt oder zwei
Jahrzehnte -, ist im Maßstab der Evolution nur der
Bruchteil einer Sekunde. Diesen Punkt müssen wir sehen. Manche Entscheidungen darf man eben nicht in einer Sekunde fällen.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Röspel, die Übersetzung der Evolutionsgeschichte in ein Entfernungs- und Streckenmodell
hat zweifellos den großen Reiz, dass man von der bildhaften Vorstellung ausgehen kann, dass das erstmalige
Auftreten des Homo sapiens im Plenum des Deutschen
Bundestag stattgefunden hat.
({0})
Ich bin aber nicht ganz so sicher, ob man das unseren
Debatten immer anmerkt.
({1})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 15/423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
darf ich offensichtlich Einverständnis feststellen. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 17 und Zusatzpunkt 17 der Tagesordnung auf:
17 Erste Beratung des von den Abgeordneten HansMichael Goldmann, Birgit Homburger,
Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des
Gesetzes zur Modulation von Direktzahlungen
im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik
und zur Änderung des GAK-Gesetzes
- Drucksache 15/754 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 17 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des
Modulationsgesetzes und zur Änderung des
GAK-Gesetzes
- Drucksache 15/948 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP als Antragstellerin fünf Minuten erhalten soll. Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Hans Goldmann für die antragstellende FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir werden uns große Mühe geben, dem
Rechnung zu tragen, was Sie, Herr Präsident, eben angemahnt haben. Bei dem Thema Modulation wird uns das
- darüber sind wir uns sicherlich einig - besonders gut
gelingen.
Lassen Sie mich eine kurze Vorbemerkung machen.
Die Ereignisse in Nordrhein-Westfalen, wo es möglicherweise einen ersten Fall von Geflügelpest gibt - der
Verdacht erhärtet sich - und wo bis zu 100 000 Tiere getötet werden sollen - der Kollege von der CDU/CSU
wird gleich noch darauf zu sprechen kommen -, zeigen,
dass wir in der Agrarpolitik vor sehr ernsten Herausforderungen stehen, denen man keinesfalls national begegnen kann, sondern bei denen es darauf ankommt, die
Dinge im Zusammenhang - das heißt: im europäischen
Kontext - zu sehen.
({0})
Warum sage ich das hier und heute? Weil uns das
Schicksal der Menschen berührt, die davon betroffen
sind, und weil durch diese Ereignisse deutlich wird, dass
die nationale Modulation so, wie es sich die rot-grüne
Regierung - allen voran Frau Künast - denkt, nicht
funktioniert.
({1})
Nationale Modulation - man muss es einmal auf den
Punkt bringen - ist in einer Zeit, in der die Bauern das
Geld brauchen, um die Weichen in Richtung Globalisierung zu stellen, nichts anderes, als den Bauern das ihnen
zustehende Geld wegzunehmen und an ihnen vorbei
zurückzuverteilen. Es ist im Grunde genommen nichts
anderes als Diebstahl bei den Bauern. Das muss man in
aller Deutlichkeit sagen.
({2})
Weil es eine breite Kritik an der nationalen Modulation
gibt - ich werde noch darauf zu sprechen kommen -,
muss man sich fragen: Warum wird das Instrument der
nationalen Modulation so engagiert, aber auch so unqualifiziert von Rot-Grün verteidigt? Ich glaube, dass hat etwas damit zu tun, dass die Erfolge der Agrarpolitik der
Grünen nicht zu sehen sind. Ganz im Gegenteil: Ein
Misserfolg reiht sich an den anderen.
Lassen Sie mich etwas zu einem Thema sagen, dass
Sie sehr hoch gezogen haben: zum Biosiegel. Festzustellen ist, dass deutsche Bioverbände durch die europäische
Biosiegelregelung in ihrer Existenz massiv gefährdet
sind, weil europäische Bioprodukte mit niedrigerem
Standard und aufgrund dadurch möglicher günstigerer
Preise deutsche Biobauern aus dem Markt in Deutschland verdrängen. Den deutschen Biobauern geht es deshalb so schlecht, weil Sie ein sehr schlechtes Biosiegel
auf den Weg gebracht haben.
({3})
Das Fazit ist - auch wenn es wehtut -: Das Biosiegel
à la Frau Ministerin Künast geht eindeutig zulasten der
heimischen Bioproduzenten.
({4})
- Herr Kollege Heinrich, Sie hatten natürlich Recht;
denn Sie sind ein Experte. - Das Problem ist, dass es in
diesem Bereich zu einer Verarmung kommt. Die Bioagrarwende war eine dicke Bauchlandung.
Eine nächste steht in dem Bereich der nationalen Modulation bevor. Man muss sich das einmal auf der Zunge
zergehen lassen: An vielen Stellen diskutieren wir im
Hinblick auf die anstehenden Gespräche auf europäischer Ebene über die so genannten Fischler-Vorschläge,
aber auch im Hinblick auf die anstehenden WTO-Gespräche sehr engagiert und qualifiziert über Möglichkeiten, wie deutsche Bauern bzw. die europäische Landwirtschaft mit den geplanten Maßnahmen klarkommen
können, und darüber, welche Perspektiven wir in diesem
Zusammenhang schaffen können. Sie reagieren mit der
nationalen Modulation in einer Situation, in der die Europäische Kommission von der Modulation Abstand
nimmt und andere Länder, die die nationale Modulation
schon getestet haben, sagen: Das bringt jetzt nichts, weil
wir europäische Vorstellungen und Richtlinien brauchen.
Wenn wir das national machen, haben wir einen enormen bürokratischen Aufwand. Wir könnten an die
Länder, die eigentlich davon profitieren sollten, zum Teil
nur Mittel vergeben, die geringer sind als die Kosten, die
dort aufgrund des bürokratischen Aufwands entstehen
würden. In einer Situation, in der alle die Ausweitung
der Bürokratie kritisieren, sollte man sich das einmal auf
der Zunge zergehen lassen. Das heißt, hier wird auf nationaler Ebene ein bürokratischer Moloch auf den Weg
gebracht, der erstens Diebstahl an den Bauern ist und
zweitens keine positive Auswirkung haben wird.
Sie aber halten daran fest, und zwar auch dann - es ist
völlig unverständlich -, wenn sich Ihre eigenen Ministerpräsidenten dagegen wenden, zum Beispiel der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der an den
Bundeskanzler - wahrscheinlich in Du-Form - geschrieben hat: Gerd, sorge doch dafür, dass wir aus diesem nationalen Mist herauskommen! Selbst dann sagen Sie:
Nein, wir bleiben dabei, weil wir sonst überhaupt nichts
mehr in diesem Bereich zu bieten hätten.
Es gibt eine Gesetzesinitiative aus dem Bundesrat und
vielfältige fachliche Bemühungen, Sie auf einen vernünftigen Kurs zu bringen. Sie aber verschließen sich
klugen Argumenten. Wir unternehmen heute einen weiteren Versuch mit einem klugen Gesetzentwurf in Begleitung des Gesetzentwurfes aus dem Bundesrat, Sie
zur Vernunft zu bringen. Ich setze nach wie vor darauf,
dass die Weiterentwicklung des Homo sapiens, die der
Präsident vorhin angemahnt hat, auch bei Ihnen angekommen ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Waltraud Wolff für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen die Sache wieder richtig auf die Füße
stellen. Die rot-grüne Agrarpolitik stellt, seit Frau
Künast Ministerin ist, den Verbraucherschutz und die
Lebensmittelsicherheit in den Vordergrund. Denn das alles sind wichtige Elemente, die zur Agrarpolitik gehören. Wir haben hier große Erfolge zu verzeichnen.
({0})
- Herr Goldmann, ich weiß überhaupt nicht, was für eine
Wahrnehmung Sie haben.
({1})
Nun aber zu dem Thema, das Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Seit mehr als zwei Jahren - das
möchten wir an dieser Stelle einmal richtig stellen - beschäftigen wir uns hier im Parlament in bestimmten Abständen immer wieder mit der nationalen Modulation.
Auch nach dem Beschluss des Bundestages und der Einigung im Vermittlungsausschuss ist es der Opposition
- nun mit neuen Mehrheiten im Bundesrat - wieder einmal wichtig, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Waltraud Wolff ({2})
Nicht mit uns, sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition!
({3})
Das Modulationsgesetz ist seit 1. Januar 2003 in Kraft
und wird es auch bleiben. Denn wir schauen nach vorn.
Wir blicken nach Europa; wir arbeiten auf eine gemeinsame Agrarpolitik hin.
({4})
Dazu gehört unbestritten natürlich auch die Modulation.
Die FDP-Fraktion bringt heute diesen Gesetzentwurf
ein.
({5})
Das Papier kann ruck, zuck überflogen werden; die immer wiederkehrenden Schlagworte sind sofort im Blick,
etwa: Einführung der nationalen Modulation nur für einen kurzen Zeitraum ist nicht verantwortbar;
({6})
hohe Kosten;
({7})
enormer Verwaltungsaufwand.
({8})
Es kommt aber etwas für mich Neues hinzu. Daher zitiere ich aus dem Vorspann Ihres Entwurfs:
Die dadurch verursachte Verschwendung von Steuergeldern ist auch gerade angesichts der derzeitigen
Haushaltslage von Bund und Ländern nicht akzeptabel.
({9})
Darauf werde ich nachher noch einmal zurückkommen.
({10})
In diese Beratungen ist auch ein Gesetzentwurf des
Bundesrates eingebracht worden, der den gleichen Wortlaut wie der Ihrige aufweist. Am 11. April hat der Bundesrat mit Mehrheit beschlossen, dieses Gesetz dem
Bundestag zuzuleiten. Ich sagte soeben: gleicher Wortlaut. Auch hier finden wir dieselben Schlagworte. Sie
werden sagen: Es sind ja auch dieselben Probleme. Man
könnte allerdings auch auf die Idee kommen, dass Sie,
nachdem sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
geändert haben, die im Vermittlungsausschuss erzielten
Kompromisse über den Jordan schicken möchten, nur
um damit zu zeigen, dass Sie das Unterste nach oben
kehren können. Da frage ich mich natürlich: Was ist
denn das für eine Politik?
({11})
Wenn ich ganz böse wäre, könnte ich Sie auch als beratungsresistent bezeichnen,
({12})
aber das mache ich ja gar nicht.
({13})
Ich möchte jetzt zu den Argumenten kommen. Sie
sprechen von einem zu kurzen Zeitraum für die Modulation auf nationaler Ebene. Ich weiß nicht, wieso Sie
diese abgegriffenen Floskeln immer wieder verwenden;
denn wir reden ja nicht das erste Mal darüber. Ich gebe
Ihnen gerne noch einmal Nachhilfe. Ich glaube, ich erkläre Ihnen das jetzt zum dritten Mal, aber ich mache es
gern. Der EU-Vorschlag über die obligatorische Modulation bezog sich auf den Beginn des Jahres 2006.
({14})
Als wir, auch mithilfe der Opposition, den Kompromiss
im Vermittlungsausschuss gefunden haben, war klar,
dass die nationale Regelung nur so lange gilt, bis in Europa die entsprechende Regelung obligatorisch eingeführt wird.
({15})
Das haben wir damals alle gewusst. Vielleicht war die
Opposition nicht so weitsichtig; das mag sein.
({16})
Aber Fakt ist, dass wir alle über diesen Umstand Bescheid gewusst haben.
Der nächste Punkt: die zu hohen Kosten und der
enorme Verwaltungsaufwand. Erstens ist ein Vorschlag
kein Beschluss. Das heißt, ob die EU die Modulation
2006 einführt, ist noch gar nicht klar.
({17})
- Das ist geplant; ein Vorschlag ist kein Beschluss, Herr
Goldmann.
({18})
Es handelt sich um den kurzen Zeitraum von 2003 bis
2006. Über ihn kann man sicherlich sagen: Das ist noch
in Ordnung.
({19})
Ich bin ja nicht die Frau mit der Glaskugel; im Kaffeesatz kann ich auch nicht lesen. Deswegen sage ich: Wir
bleiben bei der Gesetzeslage, die wir beschlossen haben.
Gemeinsam, meine Damen und Herren von der Opposition, haben wir im Vermittlungsausschuss, auf Wunsch
Waltraud Wolff ({20})
der Länder, ausdrücklich die Kleinbeihilfen für Hopfen,
Stärke, Saatgut und Tabak herausgenommen. Auf diese
Weise haben wir es ja erreicht, dass der bürokratische
Aufwand vertretbar blieb. Haben Sie auch das schon
wieder vergessen?
({21})
Ich sage es noch einmal - für Sie als Erinnerung -,
dass nur diejenigen Direktzahlungen der Modulation unterliegen, die im Rahmen des integrierten Verwaltungsund Kontrollsystems abgewickelt werden. Auf gut
Deutsch heißt das - falls Sie es nicht wissen -,
({22})
dass es für jeden Landwirt nur eine Zahlstelle gibt. Worin besteht denn das Problem? Die 2 Prozent nationale
Modulation werden für die Betriebe direkt berechnet und
einbehalten; das ist ein Vorgang. Dabei kann man nicht
von einem großartigen Aufwand sprechen.
Wenden wir unseren Blick einmal woanders hin: Denken wir darüber nach, was seit dem Beschluss im Lande
passiert ist. Die Landesministerien, alle Berufsverbände,
jeder einzelne Bauer wusste, dass ab Januar 2003 ein
Teil der Betriebe 2 Prozent weniger Direktzahlungen aus
Brüssel bekommen wird.
({23})
- Darauf kommen wir noch. - Dieses Geld wird zukünftig zur Stärkung der ländlichen Räume hin zu einer noch
umweltgerechteren Landbewirtschaftung und für einen
besseren Verbraucherschutz verwandt, um nur einige
Verwendungszwecke zu nennen.
Die Leute saßen zusammen - viele sogar in ihrer Freizeit ({24})
und haben sich Gedanken darüber gemacht, wie sie die
neue Ausrichtung der Agrarpolitik mit eigenen Projekten
gestalten können. Alle Berufsverbände haben hier große
inhaltliche Zuarbeit geleistet. Auch wenn sie die Modulation nicht wollten, akzeptierten sie den Bundestagsbeschluss
({25})
und gingen an die Arbeit.
({26})
Auch in den Landesministerien war man nicht träge.
Man schimpfte zwar über die Entscheidung, doch auch
dort wollte man nicht unvorbereitet auf den 1. Januar
2003 zugehen. Es ist nicht nur Papier beschrieben worden. Man hat die Vorschläge und Programme
({27})
und die Beschlüsse des Bundestages ernst genommen,
sonst hätte es gar nicht so viel Bewegung in den Bundesländern gegeben.
({28})
Jetzt möchte ich gern auf den Anfang meiner Rede
zurückkommen. Die FDP-Kollegen schreiben im Gesetzentwurf, dass es sich hier um eine Verschwendung
von Steuergeldern handelt. Außerdem heißt es unter
„D. Kosten“, dass keine zusätzlichen Kosten entstehen.
({29})
Oberflächlich betrachtet mögen Sie ja Recht haben, aber
ich finde das sehr fadenscheinig. Wir würden hier natürlich nur einen Federstrich machen, aber was ist mit der
geleisteten Arbeit in den Ländern? Hat sie nichts gekostet? Geht es nicht um Steuergelder?
({30})
Die Länder mussten Programme erarbeiten, möglicherweise auch die EDV umstellen. Kostet das nicht das
Geld der Steuerzahler?
({31})
Zusätzlich haben Sie etwas ganz Schlimmes gemacht:
Sie haben nämlich mit der Einbringung des Gesetzentwurfs das gesamte ehrenamtliche Engagement der landwirtschaftlichen Berufsverbände, die nicht nur Zeit geopfert, sondern auch viele Ideen eingebracht haben,
infrage gestellt.
({32})
Zum Teil - so war es bei mir in Sachsen-Anhalt - sind
die Berufsverbände sogar über ihren Schatten gesprungen und haben dem Ministerium einen gemeinsamen
Vorschlag vorgelegt. Hat das alles kein Geld gekostet?
Zugegeben, dabei handelt es sich nicht um Steuergeld,
aber moralisch betrachtet ist Ihr Entwurf ein Tritt gegen
das Schienbein all derer, die sich abgemüht haben.
({33})
Das bitte ich Sie noch einmal zu bedenken. Überlegen
Sie, was Sie mit diesem Gesetzentwurf anrichten. Ziehen
Sie ihn zurück! Lassen Sie uns die Zeit bis 2006 nutzen!
Gestalten wir unsere Programme so, dass sie zukunftsfähig sind, den EU-Normen entsprechen und unsere Landwirtschaft weiterentwickeln!
Schönen Dank.
({34})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Schulte-Drüggelte, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hans Goldmann hat gerade erwähnt, dass in Nordrhein-Westfalen ein Verdachtsfall zur Geflügelpest positiv bestätigt wurde. Ich komme aus NordrheinWestfalen und möchte sagen: Das ist ein sehr trauriger
Vorfall. Wir müssen jetzt alle Anstrengungen unternehmen, um die Geflügelpest einzugrenzen, damit wir
Klarheit erhalten. Staatssekretär Berninger ist anwesend. Er hat heute Vormittag schon einmal darüber informiert, vielleicht nutzt er die Gelegenheit, um den
Abgeordneten hier weitere Informationen zukommen zu
lassen.
({0})
Ich möchte zum Thema Modulation überleiten. Europa wird weiter zusammenwachsen. Die Verträge zur
Osterweiterung sind Realität. Gemeinsam muss eine europäische Politik gestaltet werden. Das gilt auch für eine
gemeinsame europäische Agrarpolitik, die den neuen
Herausforderungen gerecht wird. „Gemeinsam gestalten“ sind die Worte von Bedeutung. Nationale Sonderwege führen ins Abseits. Die Regierung erhält nun abermals die Chance, das Gesetz zur Modulation von
Direktzahlungen rückgängig zu machen. Hier bietet sich
die Chance, fehlerhafte Entscheidungen der jüngsten
Vergangenheit zu korrigieren.
({1})
Hier besteht die Chance, die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Bauern in Europa nicht noch durch einen weiteren nationalen Sonderweg zu verschlechtern.
Es drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass die Regierungsfraktionen das Modulationsgesetz im Mai 2002
wider besseres Wissen verabschiedet haben, obwohl die
Schwierigkeiten und Nachteile eines deutschen Sonderweges schon damals bekannt waren. Heute stehen nur
noch Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zu
diesem Gesetz. Im Bundesrat hielt Staatssekretär
Dr. Thalheim seine eigenen Argumente für eine Modulation scheinbar selbst für so wenig überzeugend, dass er
es für besser hielt, sie gleich zu Protokoll zu geben.
Auch die neuerliche Begründung der Ministerin
Künast für die Beibehaltung des Modulationsgesetzes
nach dem Agrarministertreffen in Schwerin erscheint
mir da etwas dünn. Ich zitiere die Ministerin:
Wir werden ein erst vor kurzem beschlossenes Gesetz nicht schon wieder aufheben, noch bevor es
umgesetzt ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierung, noch haben Sie Gelegenheit, die Notbremse zu ziehen. Ich fordere Sie auf: Machen Sie einfach Gebrauch
von dieser Technik!
({2})
Ich möchte Ihnen noch einmal die wichtigsten
Gründe nennen, die gegen die Einführung der Modulation sprechen. Erstens. Nach den starken Einkommensrückgängen in der Landwirtschaft im letzten Jahr wird
die Modulation nun zu weiteren Kürzungen führen. Die
Betriebe in den neuen Ländern wird es besonders treffen. Die landwirtschaftlichen Betriebe erhalten Ausgleichszahlungen für politisch begründete Preissenkungen. Sie sind auf diese Direktzahlungen angewiesen. Nur
ökonomisch intakte Betriebe können auch eine ökologisch intakte Landschaft erhalten. Nachhaltigkeit beinhaltet eben nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische und soziale Komponenten.
Zudem werden die Einschnitte die deutsche Landwirtschaft in einer Zeit schwächen, in der sie eigentlich
gestärkt werden müsste: im Vorfeld wesentlicher Entscheidungen bei den WTO-Verhandlungen und angesichts der Vorschläge der EU-Kommission zur Agrarreform. Das wurde bereits deutlich gesagt. In dieser Lage
müssten eigentlich die durch rot-grüne Politik verursachten Wettbewerbsnachteile ausgeglichen und nicht noch
verschärft werden.
({3})
Es ist wirklich nicht einzusehen, warum die deutsche
Landwirtschaft als Testgebiet für rot-grünen ideologischen Firlefanz herhalten muss.
({4})
Zweitens. Die Bundesregierung erreicht mit der Einführung der Modulation auch keine Stärkung des ländlichen Raumes. Der Bundeshaushalt für 2003 dokumentiert
eine Kürzung des Etats für die Gemeinschaftsaufgabe
„Agrar- und Küstenschutz“ um mehr als 100 Millionen
Euro. Da die nationale Kofinanzierung der Modulation
aus diesem Topf bezahlt werden soll, ohne dass eine Plafonderhöhung erfolgt, bedeutet das doch nichts anderes
als neue Lasten für die Landwirtschaft.
({5})
Drittens. Eine Agrarstruktur- und Umweltpolitik kann
von den Ländern auch ohne Modulation hervorragend
betrieben werden. Das zeigen viele unionsgeführte Länder wie beispielsweise Baden-Württemberg, Bayern,
Sachsen und Thüringen.
({6})
Nordrhein-Westfalen, das immer noch die Einführung
der Modulation befürwortet, nimmt bei seinen Zahlungen für Agrar- und Umweltmaßnahmen einen der hinteren Plätze ein. Vielleicht sollte in Nordrhein-Westfalen
hier erst einmal ein Anfang gemacht werden.
Viertens. Bürokratie und Regulierung im Agrarbereich haben überhand genommen. Das Gesetz wird Steuergelder in Millionenhöhe verschlingen. Die Modulation
ist bürokratischer Unsinn und liegt nicht im Interesse der
wirtschaftenden Betriebe.
Fünftens. Zuletzt möchte ich die europapolitische
Argumentation der Bundesregierung zurückweisen, die
lautet: Mit der Einführung der Modulation setze
Deutschland auch ein positives Signal für die erforderliche Reform der gemeinsamen Agrarpolitik. Das nach
Meinung der Bundesregierung vermeintlich positive Signal muss da wohl eher als Warnlicht für einen möglichen Irrweg gedeutet werden. Mit der Einführung der
nationalen Modulation schlägt die Bundesregierung
nämlich einen Weg ein, den andere EU-Länder wie
Frankreich und Portugal aufgrund schlechter Erfahrungen gerade erst verlassen haben.
In Europa findet derzeit eine Diskussion über die Modulation in den Mitgliedstaaten statt. EU-Kommissar
Fischler hat bereits angekündigt, dass die Einführung der
obligatorischen Modulation in Europa auf das Jahr 2006
verschoben werden soll. Ich frage mich, ob es in dieser
Situation wirklich sinnvoll ist, mit nationalen Alleingängen zu beginnen. Zudem bestätigen die jüngsten EU-Berechnungen alle Befürchtungen: Bei einer Umsetzung
einer europäischen Modulation der Direktbeihilfen
müssten die deutschen Landwirte zugunsten ihrer Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten mit Einbußen von
200 Millionen Euro rechnen.
({7})
Die Nettozahlerposition Deutschlands in der EU würde
sich weiter verschlechtern.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Das mache ich. - Ich darf zum Schluss sagen - das
Plenum ist ja heute eher leerer -, was genau Modulation
eigentlich bedeutet. Dazu darf ich einen Kollegen zitieren, der gesagt hat: Wenn man einem Lehrer 10 Prozent
seines Gehaltes wegnimmt und der Staat dann die gleiche Summe dazutut, um die maroden Schulen zu sanieren, dann ist das Modulation. - Ich füge hinzu: Wenn Sie
Pech haben, werden von der Summe Verwaltungskosten
in Höhe von 30 bis 50 Prozent fällig, und nicht eine
Schule wird saniert, sondern der Kiosk, der daneben
steht.
Schönen Dank.
({0})
Herr Kollege Schulte-Drüggelte, ich gratuliere Ihnen
zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen Bundestages, die Sie nach manchen Anläufen heute halten
konnten und nicht, wie Ihre Reden zuvor, zu Protokoll
geben mussten, und wünsche Ihnen für die weitere parlamentarische Arbeit alles Gute.
({0})
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Matthias
Berninger das Wort.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
eben gebeten worden, etwas zur Situation angesichts der
Geflügelpest zu sagen. Die Situation ist in der Tat sehr
ernst. Das wurde heute bereits mit den Berichterstattern
und den Obleuten im Landwirtschaftsausschuss besprochen. Wir haben vonseiten unseres Hauses versucht, sie
umfassend über den aktuellen Stand zu informieren.
In einem Hähnchenmastbetrieb in Nordrhein-Westfalen an der Grenze zu Holland ist eine erste Probe positiv
auf Geflügelpest getestet worden. Wir sind nun dabei, all
die Maßnahmen, die Bund und Länder gemeinsam zur
Gefahrenabwehr und gegen die Ausbreitung der Geflügelpest vereinbart haben, in Nordrhein-Westfalen durchzuführen. Es haben heute bereits mehrere intensive Gespräche zwischen Bund und Ländern stattgefunden,
Krisenstäbe tagen. Ich werde den Ausschuss und die entsprechenden Mitarbeiter in den nächsten Tagen ausführlich über den Fortschritt unterrichten.
Wenn wir Glück haben, bewahrheitet es sich nicht,
dass es bei uns Geflügelpest gibt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist doch groß, dass wir Geflügelpest in Deutschland haben. Es ist uns allen klar, dass deswegen auf uns
und vor allem auf die Betriebe Ärger und viele Konflikte, die damit verbunden sind, zukommen werden.
Wir kennen die Situation in den Niederlanden, wo inzwischen, weil anfangs nicht hart genug gegen die Geflügelpest vorgegangen wurde, 26 Millionen Tiere geschlachtet werden mussten. Wir versuchen alles, um das in
Deutschland zu vermeiden.
Die Einigkeit zwischen Bund und Ländern in dieser
Frage ist in der Agrarpolitik sehr wohltuend. Ich
wünschte mir manchmal, es gäbe diese Einigkeit in der
Agrarpolitik auch da, wo es darum geht, fehlerhafte Entscheidungen der Vergangenheit zu korrigieren. Das hat
auch ein Kollege vorhin schon gesagt. Wir geben in
Europa Unsummen für die Agrarpolitik aus, nämlich den
halben Budgetansatz der Europäischen Union. Hinzu
kommen Gelder in Deutschland.
({1})
Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten falsche Akzente gesetzt. Es ist erklärtes Ziel der Bundesregierung,
die Agrarförderung so umzustellen, dass wir neue Akzente setzen können.
Die geplanten Modulationsmaßnahmen sind inzwischen schon sehr konkret. Hier ist sehr abstrakt über die
Umverteilung von Mitteln gesprochen worden. Ich frage
mich, was dagegen spricht, in intensiv bewirtschafteten
Regionen wie Vechta-Cloppenburg landwirtschaftliche
Betriebe dabei zu unterstützen, ihren Viehbesatz zu verringern. Das ist in Holland mit großem Erfolg gemacht
worden. Das ist auch gut für die Umwelt; denn dann
stinkt die Landwirtschaft in den Regionen nicht mehr
zum Himmel. Das ist eine der ganz konkreten Maßnahmen.
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
({2})
Was spricht, bitte schön, dagegen, - ({3})
- Aha, das ist die Region mit der geringsten Arbeitslosigkeit. - Soll ich Ihnen mal etwas sagen? Wir haben riesige ökologische Probleme in Vechta-Cloppenburg. In
dieser Region gibt es einen Viehbesatz, der bis zum
Himmel stinkt.
({4})
Ihre Agrarpolitik hat dazu geführt, dass die Tiere aus den
neuen Ländern abtransportiert und nach Vechta-Cloppenburg gebracht wurden. Das und die in den neuen
Ländern bestehende hohe Arbeitslosigkeit wollen wir
korrigieren, weil die Menschen in den ländlichen Gebieten dort Perspektiven brauchen.
({5})
- Lassen wir Herrn Goldmann am Freitagnachmittag
noch ein wenig dazwischenreden. Er kann gerne eine
Frage stellen. Ich sage Ihnen aber eines: Nachhaltigkeit
bedeutet, ökologische - ({6})
Die Wortmeldung ist immer für den Kollegen erteilt,
der aufgerufen wurde. Wenn das Bedürfnis besteht, irgendetwas klarzustellen oder nachzufragen, so gibt es
die Möglichkeit, sich zu einer Zwischenfrage zu melden.
Man kann das vernünftigerweise nicht durch ständiges
Zwischenrufen kompensieren.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Kollege Goldmann, Nachhaltigkeit bedeutet,
({0})
ökologische, soziale und wirtschaftliche Interessen in
Deckung zu bringen und nicht so einseitig vorzugehen,
wie Sie das hier wieder zum Ausdruck gebracht haben.
({1})
Meine Damen und Herren, was spricht aufgrund der
Erfahrungen mit der Oderflut und dem Elbehochwasser,
die in den letzten Jahren für alle Beteiligten ein sehr
ernstes Thema waren, dagegen, Anbaumethoden, wie
zum Beispiel die Mulchsaat, zu fördern, an deren Ende
eine Landwirtschaft steht, die dafür sorgt, dass die Absorptionsfähigkeit der landwirtschaftlichen Flächen
- zum Beispiel für Regenwasser - deutlich besser sein
wird, als das in der Vergangenheit der Fall war, und so
dazu beiträgt, Hochwasser in Zukunft zu vermeiden?
({2})
Was spricht, bitte schön, dagegen, landwirtschaftlichen Betrieben, die ihren Wirtschaftsdünger zielgenauer
ausbringen wollen, eine Unterstützung zu geben? Das ist
übrigens eine Maßnahme, die man gerade in Bayern besonders favorisiert. Ich kann eine ganze Reihe weiterer
Maßnahmen, die die Länder vereinbart haben - auch solche, die zum Beispiel die Biodiversität und die Fruchtfolge landwirtschaftlicher Flächen erhöhen -, nennen.
({3})
Der entscheidende Punkt ist: Durch diese Maßnahmen
werden fehlerhafte Entscheidungen einer Agrarpolitik,
die Sie über viele Jahre zu verantworten hatten, korrigiert.
({4})
Weil wir schon mal bei den Arbeitsplätzen sind:
Durch diese Fehlentscheidungen in der Agrarpolitik sind
Betriebe massenhaft vor die Hunde gegangen. Dem ging
ein galoppierender Strukturwandel voraus. Wir wollen
der Landwirtschaft eine dauerhafte Zukunft sichern.
Dazu gehört es eben auch, das Engagement der Bäuerinnen und Bauern für den Natur- und Tierschutz besonders zu fördern.
({5})
Das wird die Modulation mit einem Gesamtvolumen von
80 Millionen Euro natürlich nicht alleine schaffen. Sie
ist aber ein ganz wichtiger Baustein, mit dem wir in
diese Richtung gehen.
Herr Kollege Goldmann, die Debatten auf der
europäischen Ebene sind hier ganz eindeutig. Natürlich
wird es so gesehen, dass Fischlers Reformvorschläge in
der Agrarpolitik durch diese Maßnahmen in Deutschland
unterstützt werden. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb wir daran festhalten. Wir glauben, dass diese Reform der Agrarpolitik den ländlichen Räumen am Ende
etwas nutzt. Wir halten überhaupt nichts davon, Ihre, um
im Bild von vorhin zu bleiben, steinzeitliche Auffassung
von Agrarpolitik fortzusetzen.
Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die Bürgerinnen und Bürger - das zeigen alle Umfragen - wollen
eine umweltfreundlicher ausgerichtete Landwirtschaft,
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
in der besser mit Tieren umgegangen wird, unterstützen.
Es ist die Aufgabe der Modulation, das zu belohnen. Wir
werden daran festhalten.
Zum Schluss will ich noch eines sagen: Bund und
Länder haben sich auf die Modulation geeinigt. Dass die
Länder ein paar Monate nach ihrer Zustimmung wieder
anfangen, populistisch zu diskutieren und das umkehren
zu wollen, ist wirklich ein schlechter Stil.
({6})
Das widerspricht ein wenig den guten Sitten. Ich kenne
keinen landwirtschaftlichen Betrieb, bei dem ein solches
Gebaren an den Tag gelegt wird, wenn man sich einmal
die Hand gegeben und eingeschlagen hat.
({7})
Ich kann Ihnen ganz klar sagen: Auch das ist ein
Grund, weshalb wir daran festhalten. Wir wissen, wie hart
die Widerstände sind. Wir haben ja gemerkt, wie sehr Sie
sich selbst am ruhigen Freitagnachmittag aufregen. Auch
gegen diese Widerstände werden wir die Reform der
Agrarpolitik vorantreiben. Ich danke den Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag ganz ausdrücklich, dass
sie uns dabei unterstützen.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Berninger, ich habe Sie hin und wieder gelobt, dass Sie sich manchmal vernünftiger verhalten als Ihre Ministerin. Anscheinend verfallen Sie aber
immer mehr in die Sprechweise Ihrer Ministerin.
Ich möchte zwei Punkte aufgreifen. Erstens. Sie haben genauso wie Ihre Ministerin erklärt, dass 50 Prozent
des EU-Haushaltes für die Landwirtschaft verwendet
werden. Es ist eine Ungezogenheit, diese Zahl so darzustellen. Sie ist zwar rechnerisch richtig, aber man muss
ergänzen, dass nur wenig über den Brüsseler Haushalt
abgerechnet wird. Wenn die gesamten Ausgaben für die
Verteidigungspolitik und die Sozialpolitik genauso wie
große Teile der Agrarpolitik über Brüssel abgerechnet
würden, dann betrüge der Anteil für Landwirtschaft vielleicht 2 Prozent, nicht 50 Prozent. Ich kann es auch andersherum sagen: Wenn die Strukturpolitik nicht in
Brüssel gemacht würde, dann betrügen die Ausgaben für
die Agrarpolitik 100 Prozent. Das muss man den Bürgern einmal sagen und die Zahlen nicht immer verleumderisch darstellen.
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Zweitens. Man kann die Landwirtschaft doch nicht
für das Elbehochwasser verantwortlich machen. Das
Wasser stammt aus den Bergen in Tschechien. Dort sind
viele Wälder, aber keine moderne Landwirtschaft. Hier
einen Zusammenhang mit der modernen Landwirtschaft
herzustellen halte ich für ziemlich vermessen.
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Zum Thema der Modulation: Wir machen heute einen
weiteren Versuch - die FDP hat einen Gesetzentwurf
eingebracht, den die Union unterstützt -, zu erreichen,
dass dieses unsinnige Modulationsgesetz zurückgenommen wird. Dabei hoffen wir auf die Vernunft der Regierungsfraktionen. Aber inzwischen ist das Wort Vernunft
bei dieser Regierungskoalition anscheinend ein Fremdwort geworden. Wir hatten dieses Thema bereits am
20. Dezember des letzten Jahres diskutiert. Damals ist
ein entsprechender Antrag abgelehnt worden. Der Bundesrat hat erneut einen Gesetzentwurf eingebracht. Ich
möchte die SPD und die Grünen bitten, dass sie diesem
Anliegen Rechnung tragen.
Bis auf zwei Bundesländer sind alle Bundesländer für
die Abschaffung der Modulation. Diese beiden Bundesländer sind mit Nordrhein-Westfalen und SchleswigHolstein genau diejenigen, die im Agrar- und Umweltbereich das wenigste Geld ausgeben. Anscheinend erhoffen sich diese Bundesländer, über die Modulation das
Geld zu bekommen, das in ihrem eigenen Landeshaushalt zur Verfügung zu stellen sie nicht bereit sind.
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Ich habe diese Zahlen hier am Rednerpult schon öfter
genannt. Baden-Württemberg, das von der Union und
der FDP regiert wird, sowie die drei unionsregierten
Länder Bayern, Sachsen und Thüringen geben für Umwelt- und Tierschutzmaßnahmen im Agrarbereich
zwischen 54 und 104 Euro pro Hektar aus. In NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein sind es nur 1 bis
11 Euro pro Hektar. Das zeigt doch, wie weit hier Reden
und Handeln auseinander klaffen. Wenn ihr euch ein
Beispiel an Baden-Württemberg und den anderen
unionsregierten Ländern nehmt, dann brauchen wir das
Modulationsgesetz nicht.
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Auch dort, wo die FDP zusammen mit der SPD regiert,
sieht es besser als dort aus, wo Rot-Grün regiert. Es ist
schon interessant, sich einmal die parteipolitischen Konstellationen anzuschauen.
Ich bin der Meinung: Dieses Gesetz muss auch deshalb zurückgenommen werden, weil sich die Landwirtschaft in einer äußerst schwierigen Einkommenslage
befindet. Der Agrarbericht dieser Bundesregierung hat
ausgewiesen, dass die deutsche Landwirtschaft im
Wirtschaftsjahr 2001/2002 ein Einkommensminus von
fast 7 Prozent zu verkraften hatte. Für das laufende Wirtschaftsjahr hat diese Bundesregierung angekündigt, dass
mit einem Einkommensminus von 15 bis 20 Prozent zu
rechnen ist. Einen großen Teil dieser Einkommensschwierigkeiten hat nicht Brüssel, sondern diese rotgrüne Bundesregierung zu verantworten.
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Lieber Matthias Weisheit, mir wurde einmal ein Papier der SPD-Arbeitsgruppe Landwirtschaft von vor
über zwei Jahren zugespielt. Bezogen auf das Jahr 2004
wurde in diesem Papier festgestellt, dass die Maßnahmen, die diese Bundesregierung plant, für die deutsche
Landwirtschaft eine finanzielle Benachteiligung von damals 3 Milliarden DM, also 1,5 Milliarden Euro, bedeuten. Schon im heurigen Jahr wird die deutsche Landwirtschaft diese Benachteiligung in Höhe von 1,5 Milliarden
Euro zu spüren bekommen. Prozentual gesehen ist dies
genau die Zahl, die die Bundesregierung im Voraus berechnet hatte. Die Bundesregierung rechnet, wie gesagt,
für dieses Jahr mit einem Einkommensminus von 15 bis
20 Prozent. Eine Benachteiligung von 1,5 Milliarden
Euro durch die rot-grüne Bundesregierung bedeutet bei
etwa 7,5 Milliarden Euro Nettowertschöpfung der deutschen Landwirtschaft einen Einkommensverlust von genau 20 Prozent.
Ich bin dafür, dass Rot-Grün noch einmal intensiv
darüber nachdenkt, ob man nicht bereit sein sollte, zusammen mit der großen Mehrheit der Bundesländer eine
vernünftige Regelung zu finden.
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Unsere Bauern brauchen Luft zum Atmen und haben genug von den rot-grünen Alleingängen der deutschen
Bundesregierung. Die größte Benachteiligung der deutschen Bauern ist doch, dass sie hier in Deutschland wirtschaften. Sie sind wesentlich größeren Nachteilen ausgesetzt, als wenn sie ihre Betriebe in anderen Ländern
Europas hätten.
Es gäbe noch weitere Gründe, mit denen man darauf
hinweisen könnte, dass die Modulation abgeschafft werden soll; der Verwaltungaufwand ist heute schon angesprochen worden. Was bedeutet denn „Modulation“?
Modulation ist in der Musik das Wechseln von Dur in
Moll und umgekehrt. Für die deutsche Landwirtschaft,
die wegen der von Rot-Grün verursachten Wirtschaftsund Einkommensmisere ohnehin in Moll gestimmt ist,
bringt das Modulationsgesetz als rücksichtsloses Abkassiermodell den letzten Missklang. Dieser Missklang
sollte abgeschafft werden.
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Sie arbeiten anscheinend nach dem Prinzip: Entspricht die Wirklichkeit nicht der Ideologie - umso
schlimmer für die Wirklichkeit! Wir folgen einer anderen Verhaltensregel: Eine Wahrheit erklärt man einem
Erwachsenen einmal, einem Kind zweimal, einem Esel
dreimal. Wir haben es jetzt zweimal erklärt und hoffen,
es nicht ein drittes Mal erklären zu müssen. Schaffen Sie
es ab!
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/754 federführend an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu überweisen. Zusätzlich soll der Gesetzentwurf
zur Mitberatung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Der
Gesetzentwurf auf Drucksache 15/948, Zusatzpunkt 17,
soll in gleicher Weise überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist offenkundig nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
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Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. Mai 2003, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
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Die Sitzung ist geschlossen.