Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/9/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({0}) - Drucksachen 15/420, 15/522 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({2}) - Drucksache 15/538 ({3}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksache 15/955 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Hartmut Koschyk Erwin Marschewski ({5}) Dr. Max Stadler b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 15/957, 15/960 Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Klaus Hagemann Anja Hajduk Otto Fricke Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Michael Bürsch von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Alle reden in diesen Tagen vor allem von der Agenda 2010 und der Notwendigkeit sozialer Reformen. Dabei gerät eine Reform aus dem Blick, die für das soziale Gefüge in der Bundesrepublik und für unsere Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten mindestens so wichtig ist: die Reform des Zuwanderungsrechts, über die heute im Bundestag abschließend entschieden werden soll. Der Frage, der wir uns heute wie vor drei Jahren widmen sollten - das möchte ich Ihnen heute vortragen -, lautet: Warum brauchen wir ein Zuwanderungsrecht und was sind die Gründe dafür, dass wir das Zuwanderungsrecht modernisieren wollen? Ich nenne Ihnen drei Gründe, die schon vor drei Jahren gegolten haben und heute genauso richtig sind wie zu Beginn unserer Arbeit an diesem Gesetzeswerk: Erstens. Das geltende deutsche Ausländer- und Zuwanderungsrecht ist zersplittert, unübersichtlich und zum Teil sehr bürokratisch. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird vermutlich von allen Fraktionen dieses Hauses geteilt. Auch die Opposition wird deshalb leicht zustimmen können. Das Zuwanderungsrecht muss geordnet und gestrafft werden. Im besten Falle wird es so formuliert, dass auch der normale Mensch versteht, was mit dem Gesetzeswerk gemeint ist. ({0}) Zweitens - dieser Punkt ist schwieriger -: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Das mag politisch nicht jedem gefallen; aber es lässt sich statistisch sehr leicht belegen. Fest steht zum Beispiel: In den letzten 40 Jahren sind 32 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen und 24 Millionen Menschen haben unser Land in dieser Zeit wieder verlassen. Das heißt, Redetext Einwanderung findet millionenfach statt und hat millionenfach stattgefunden. ({1}) Das allein kann kein Grund für Hysterie, Angstmacherei oder gar Horrorvisionen sein. ({2}) In dieser Migrationsbewegung liegt sicherlich eine große Herausforderung. Wenn man sie aber richtig betrachtet und anschließend eine gute Regelung findet, liegt darin auch eine Chance. Wenn Deutschland also klar belegbar ein Einwanderungsland ist, dann tun wir gut daran, mit dieser Tatsache offen und offensiv umzugehen und die tatsächlich ständig stattfindende Zuwanderung zu steuern und mit den Möglichkeiten der Steuerung sachgerecht zu begrenzen. Die Behauptung, der vorgelegte Entwurf der Regierungskoalition führe zu massiver Ausweitung der Zuwanderung, ist falsch und wird durch die hundertfache Wiederholung auch nicht richtig. ({3}) Die Auslegungsregel des § 1 stellt klar und unmissverständlich fest: Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. ({4}) - Das werden Ihnen meine Nachredner, insbesondere der sehr kundige Innenminister dieses Landes, im Einzelnen nachweisen, Herr Grindel. ({5}) Dass auch die SPD die Grenzen der Belastbarkeit der deutschen Gesellschaft kennt und respektiert, hat sie nicht zuletzt mit dem Asylkompromiss von 1993 bewiesen. Die Wirkungen dieser Regelung sind unübersehbar. Die Zahl der Asylbewerber ist seit 1993 kontinuierlich zurückgegangen. ({6}) 2002 betrug die Zahl noch rund 70 000. Die Entwicklung in diesem Jahr belegt, dass es wahrscheinlich einen weiteren Rückgang um 15 Prozent gibt. Niemand ist daran interessiert, die Asylbewerberzahlen wieder steigen zu lassen. Das wird auch durch dieses Gesetz geregelt. ({7}) Drittens. Für das 21. Jahrhundert brauchen wir ein modernes Zuwanderungsrecht, das der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung, der Globalisierung, dem Wegfall von Grenzen und der immer höheren Mobilität von Menschen Rechnung trägt. Dazu hat eine in Deutschland, wie ich meine, allseits anerkannte, objektive Institution schon vor sechs Jahren das Passende gesagt: Die in Deutschland geltenden legislativen und administrativen Regeln über Einreise und Aufenthalt von Zuwanderern werden den Anforderungen ... nicht mehr gerecht. Die gewandelte Stellung Deutschlands in der Staatenwelt zum Ausgang dieses Jahrhunderts verlangt ... eine Neubestimmung der Einstellung gegenüber Angehörigen anderer Staaten. Zur Sicherung der notwendigen Bedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland gehört es ..., Konsequenzen aus seiner Rolle als Mittelpunkt des Lebens und Arbeitens vieler Nichtdeutscher zu ziehen. Das Zitat stammt aus dem Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht. Das ist, glaube ich, für uns alle eine objektive Quelle der Erkenntnis. Was wir nicht brauchen, ist ein defensives Ausländerrecht, das die gesetzlichen Regelungen als Abwehrbollwerk gegen Zuwanderung versteht und missbraucht. Internationale Erfahrungen zeigen, dass dieser defensive Ansatz auch nicht die erhoffte Wirkung zeigt. Staaten, die Gesetze über Zuwanderung als Instrumentarium der Abwehr anlegen, haben mit solcher Strategie in aller Regel keinen Erfolg. Die Migration nimmt damit nicht ab. Die Vorstellungen der Union, die aus ihren 128 Änderungsanträgen hervorgehen, ({8}) entsprechen genau diesem defensiven Ansatz. Das ist nicht der Weg für ein modernes Zuwanderungsrecht. Er wird uns nicht in eine geregelte, gesteuerte und begrenzte Zuwanderung führen. ({9}) Was wir vielmehr brauchen, ist ein offensives Gesetzeskonzept zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, ein Gesamtkonzept, das alle Fragen der Zuwanderung gesamtheitlich regelt, also die Fragen des humanitären Zuzugs, die Fragen der Arbeitsmigration und die Fragen der Integration. Genau diese Anforderungen erfüllt der vorliegende Gesetzentwurf der Regierungskoalition. Er verdient deshalb Zustimmung. ({10}) In den Eckpunkten ist der FDP-Entwurf ebenfalls zustimmungsfähig. Er enthält jedenfalls auch den modernen, offensiven Ansatz, mit Zuwanderung umzugehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mir wünschen, dass die anstehende Entscheidung über das Zuwanderungsrecht frei von Vorurteilen und frei von EmoDr. Michael Bürsch tionen getroffen wird. Vielmehr sollten Vernunft und womöglich auch Objektivität die Richtschnur für den Beschluss bilden. Mit Immanuel Kant könnte man auch an manchen Oppositionspolitiker gerichtet sagen: ({11}) „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition wird heute mit ihrer Mehrheit hier im Deutschen Bundestag das rot-grüne Zuwanderungsgesetz verabschieden, verbunden mit der sicheren Gewissheit, dass dieses Gesetz niemals in Kraft treten wird. Und das ist auch gut so. ({0}) Für dieses Gesetz zur Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland haben Sie nur im Bundestag eine Mehrheit. Es ist zustimmungspflichtig. Sie haben keine Mehrheit im Bundesrat. Selbst wenn Herr Wowereit Präsident des Bundesrates auf Lebenszeit wäre ({1}) und alle Abstimmungen leiten würde, bekämen Sie dafür keine Mehrheit. ({2}) Die Umsetzung dieses Gesetzentwurfes würde in der Praxis zu einer erheblichen Ausweitung der ohnehin hohen Zuwanderung nach Deutschland führen. ({3}) Das würde die Integrationskraft unseres Landes weit übersteigen. ({4}) Wir könnten so die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht lösen; im Gegenteil: wir würden sie weiter verschärfen. Wir würden die unübersehbaren Integrationsprobleme, die es in weiten Teilen unseres Landes gibt, nicht lösen, sondern weiter verschärfen. ({5}) Wir würden - darum geht es Ihnen im Kern - unser Land zu einem klassischen Einwanderungsland machen. ({6}) - Herr Bürsch, es gab und es gibt Zuwanderung nach Deutschland und es wird sie auch in Zukunft geben. Das ist keine Frage. Es muss uns aber darum gehen, ob mehr Zuwanderung und die Werbung um Zuwanderung den Interessen unseres Landes dienen. Wir sind kein klassisches Einwanderungsland und können es aufgrund unserer historischen, geographischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht werden. ({7}) Für uns ist nicht mehr Zuwanderung, sondern eine bessere Integration das Gebot der Stunde. Beim Thema Zuwanderung geht die Koalition viel zu weit, beim Thema Integration bleibt sie zu weit hinter dem zurück, was richtigerweise schnell getan werden müsste. Nun bestreiten Sie, dass dieser Gesetzentwurf zu einer Ausweitung bei der Zuwanderung führen würde. Sie haben aber keine einzige Gruppe von Ausländern genannt, die nach geltendem Recht kommen, nach zukünftigem Recht aber nicht mehr kommen kann. Das können Sie auch nicht, Herr Bürsch, weil es eine solche Restriktion in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht gibt. ({8}) Jeder Ausländer, der nach geltendem Recht in die Bundesrepublik Deutschland kommen kann, kann es auch nach dem künftigen. Es gibt keinerlei Beschränkungen. Es gibt aber zahlreiche Bestimmungen in dem Gesetzentwurf, die zwangsläufig zu einer Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland führen würden. ({9}) Erstes Beispiel. Der Anwerbestopp von 1973 soll generell und nicht etwa nur für besonders hoch qualifizierte Fachkräfte aufgehoben werden. Zweites Beispiel. Hinsichtlich der Ermessensentscheidungen, bei denen die Behörde entscheiden kann, ob sie eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt oder nicht, heißt es im Gesetz wörtlich - Sie reden immer nur über das Gesetz, aber argumentieren nicht mit dessen Inhalt -: Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine übergeordnete ausländerpolitische einseitige Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp. Da sagen Sie, die Aufhebung des Zuwanderungstopps führe zu einer Reduktion der Zuwanderung? Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. ({10}) Der Familiennachzug nach Deutschland, der ohnehin schon einen großen Umfang aufweist, wird nicht reduziert, sondern ausgeweitet. Es gelten neue Schutzmechanismen bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen. Die Zuwanderung im Rahmen des so genannten Auswahlverfahrens nach § 20 aus rein demographischen Gründen zur Erhöhung der Bevölkerungszahl soll ohne Nachweis eines Arbeitsplatzes möglich sein. Und da sagen Sie, das führe zu einer Begrenzung der Zuwanderung? ({11}) Nein, es wird zu einer Ausweitung führen. Deswegen bekommen Sie unsere Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf nicht. ({12}) Herr Schily wird in seinem Beitrag nachher bestimmt das Gegenteil behaupten. ({13}) Deshalb möchte ich von einer Veranstaltung beim Evangelischen Stadtkirchenverband in Köln am 28. April berichten. An dieser Veranstaltung habe nicht nur ich teilgenommen, sondern auch der verehrte Kollege Winkler von den Grünen. Ich zitiere ihn wörtlich: Mit diesem Gesetz soll die überholte Begrenzungslogik im Ausländerrecht endlich überwunden werden. ({14}) Wer hat Recht, Herr Schily oder Herr Winkler? Jedenfalls können nicht beide gleichzeitig Recht haben. Wissen Sie, wer Recht hat? - Herr Winkler hat Recht, weil er das Gesetz offensichtlich nicht nur gelesen hat, sondern auch verstanden hat. ({15}) In der gleichen hoch interessanten Veranstaltung hat die Kollegin Dr. Lale Akgün zum Thema Zuwanderung im Auswahlverfahren gesagt: Die Zuwanderung im demographischen Verfahren ist das Herzstück des Gesetzentwurfes. Herr Schily sagt, diese Vorschrift könnten wir in den nächsten acht bis zehn Jahren vergessen, wir wollten keine Zuwanderung aus demographischen Gründen, jedenfalls zurzeit nicht. Hierzu folgende Bemerkung: Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man sagt, das sei das Herzstück des Gesetzes, oder ob man sagt, man wolle diese Vorschrift nicht anwenden. Ihre Aussage, Herr Schily, wir sollten aus demographischen Gründen zu einer neuen Zuwanderung im Auswahlverfahren kommen, Sie wollten diese Vorschrift aber acht oder zehn Jahre lang nicht anwenden - das glauben wir Ihnen nicht. ({16}) Natürlich haben wir eine demographische Entwicklung mit Besorgnis erregenden Folgen. Wer will das bestreiten? Unserer Überzeugung nach haben wir allerdings nicht die viel zitierte Überalterung der Gesellschaft, sondern eher eine Unterjüngung. ({17}) Wir haben nicht zu viele ältere Mitbürger, in Deutschland werden zu wenige Kinder geboren. ({18}) Deswegen ist die demographische Entwicklung ein Appell für eine bessere Familienpolitik, sodass Deutschland ein kinderfreundliches Land wird, und kein Appell für mehr Zuwanderung nach Deutschland. ({19}) Herr Kollege Bürsch, Sie haben gerade die Agenda 2010 angesprochen. Ein Blick ins Internet verschlägt einem glatt die Sprache, wenn man sich einmal anschaut, was die Bundesregierung der Bevölkerung bezüglich der Agenda 2010 dort glauben machen will. Zur Agenda 2010 heißt es in der offiziellen Verlautbarung der Bundesregierung: Es gibt in Deutschland 1,5 Millionen offene Stellen, die nicht besetzt werden können. ({20}) Das beeinträchtige die wirtschaftliche Situation unseres Landes, weswegen wir dieses Zuwanderungsgesetz bräuchten. ({21}) Die Bundesanstalt für Arbeit weiß von diesen offenen Stellen allerdings nichts. ({22}) Sie sollten dort die Adressen, unter denen sich diese offenen Stellen befinden, angeben. Die Bundesanstalt für Arbeit sagt, dass sich 5,3 Millionen Arbeitsuchende darum bemühen, 419 000 freie Stellen zu besetzen. Das sind taufrische Zahlen; die Druckerschwärze ist noch nicht trocken. In welchem Land leben Sie eigentlich? Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist so dramatisch wie niemals zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Im April dieses Jahres hatten wir über 400 000 Arbeitslose mehr als im April des vergangenen Jahres. Jeden Tag - einschließlich Samstag und Sonntag - machen 120 Betriebe in Deutschland Pleite. Jeden Tag gehen Hunderte von Arbeitsplätzen verloren. Der Anteil der Ausländer an den Arbeitslosen ist doppelt so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. Der Anteil der Ausländer an den SoWolfgang Bosbach zialhilfeempfängern ist dreimal so hoch wie ihr Anteil an der Bevölkerung. ({23}) In Berlin sind über 40 Prozent der Bevölkerung türkischer Herkunft, die sich im arbeitsfähigen Alter befindet, arbeitslos. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie diese Probleme mit mehr Zuwanderung oder mit diesem Gesetzentwurf lösen können? Sie werden die Probleme weiter verschärfen und nicht lösen. ({24}) Herr Schily, Sie sagen, wir müssen uns an dem weltweiten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen. Richtig so! ({25}) Wir würden uns selbst schaden, wenn wir uns nicht darum bemühen würden, weltweit Spitzenkräfte für die Wirtschaft und für Forschung und Lehre zu gewinnen. Sie sagen, dass wir dafür dieses Gesetz brauchen. ({26}) Nun zitiere ich jemanden, der jedenfalls für Rot-Grün unzweifelhaft zitierfähig sein dürfte, nämlich den Innenminister höchstpersönlich. Die „Süddeutsche Zeitung“ erwähnte 1999 ihm gegenüber: „Die Wirtschaft sagt auch, dass sie Zuwanderer benötigt.“ Schily erwiderte: Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen so und so viele, bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein Zuwanderungsgesetz, das geht schon mit dem geltenden Ausländergesetz. ({27}) Herr Schily, Sie haben ja Recht. Sie können Ihre Meinung aber nicht um 180 Grad drehen, sich im Jahre 2003 hier hinstellen, das Gegenteil behaupten und dann von uns noch verlangen, dass wir diesen Kurswechsel mitmachen. ({28}) Allerdings befinden Sie sich hier in guter Tradition mit Ihrem Bundeskanzler. 1996 hat er zum Thema Ökosteuer nämlich gesagt: Wo ist denn der Vorteil für einen ganz konkreten Betrieb in Deutschland, wenn ich dem sage: Ich senke dir die Lohnkosten und brumme dir gleichzeitig bei den Energiepreisen ordentlich einen drauf? 1997 sagte er: Zwei Mark für den Liter Sprit bringen zwar mehr Geld in die Kasse, aber die ökologische Lenkungswirkung ist gleich Null … Das kann ich aus sozialen Gründen nicht akzeptieren. Genau diesen politischen Gesinnungswechsel, diesen Wechsel der politischen Meinung je nach Opportunität machen wir nicht mit. Deswegen können Sie unsere Zustimmung für dieses Gesetz nicht erwarten. ({29}) Sie sagen, wir haben 4,5 Millionen registrierte Arbeitslose und können einige Hunderttausend offene Arbeitsstellen nicht besetzen. Das ist für die Betriebe ein Problem. Wir können die Probleme aber nicht mit mehr Zuwanderung lösen. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass die Anreize erhöht werden, aus den sozialen Sicherungssystemen heraus- und in mehr Beschäftigung hineinzugehen. Es muss wieder der schöne Satz gelten: Derjenige, der den ganzen Monat gearbeitet hat, muss am Monatsende mehr in der Tasche als derjenige haben, der eine staatliche Transferleistung bezieht. ({30}) Es muss ein Ende damit haben, dass die Betriebe Arbeitnehmern, die älter als 50 oder 55 Jahre sind, erklären, dass sie leider für den deutschen Arbeitsmarkt nicht mehr brauchbar seien. ({31}) 60 Prozent der Unternehmen in Deutschland beschäftigen keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Wenn dadurch Lücken im Arbeitsmarkt entstehen, dann können wir diese nicht durch mehr Zuwanderung nach Deutschland kompensieren. ({32}) Dieser Gesetzentwurf wird in den Bundesrat eingebracht werden. Dort wird es zu einem Vermittlungsverfahren kommen. Wenn es bei dem bleibt, was die Vertreter von Rot-Grün in den letzten Monaten immer wieder gesagt haben - redaktionelle Änderungen: ja, aber keine substanziellen Änderungen an diesem Gesetzentwurf -, wird es die Zustimmung der Union nicht geben. Wir werden keinem Gesetz die Hand reichen, das zu einer Ausweitung der Zuwanderung nach Deutschland führt. ({33}) Wir wollen nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration. Wir sind der festen Überzeugung, dass dies auch dem Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung entspricht. ({34})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzter Kollege Bosbach, auch wir wollen mehr Integration. Wir wollen Zuwanderung steuern und begrenzen. Zuwanderung findet auch unter dem jetzt geltenden Ausländerrecht statt. Aber die Art, wie wir die Zuwanderung steuern, ist einfach nicht effizient. Wir müssen jenseits des humanitären Aspekts dafür sorgen, dass die Menschen zu uns kommen, die wir für unseren Arbeitsmarkt tatsächlich brauchen. Hierfür brauchen wir Steuerungsinstrumente, die differenziert gehandhabt und mit denen je nach Bedarf die Tore weiter geöffnet oder geschlossen werden können. Das leistet das Zuwanderungsgesetz. Mit diesem Gesetzentwurf wird durch die Steuerung der Zuwanderung dem nationalen Bedarf an Arbeitskräften Rechnung getragen. Der Mythos, wir bräuchten keine Zuwanderung mehr, hilft nicht weiter. Bislang gilt die Ausnahmeverordnung zum Anwerbestopp. Das Ergebnis ist, dass die Zuwanderungsrate in manchen Jahren sehr hoch ist. Es ist besser, zu einem gesellschaftlichen Phänomen Ja zu sagen, als diesen Mythos weiterhin zu verbreiten. Wir müssen den Stier bei den Hörnern packen und ihn in die richtige Richtung lenken. ({0}) Ich gestehe Ihnen gerne zu: Dies ist ein Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Es ist kein Zuwanderungsverhinderungsgesetz. Dies wollen wir auch nicht. Wir wollen die Zuwanderung, die aus vielfältigen Gründen erfolgt, steuern. Das leisten wir mit diesem Gesetzentwurf angemessen und differenziert. Deutschland ist ein Einwanderungsland, in dem Zuwanderung im großen Stil stattfindet. Herr Bürsch hat die Zahlen genannt. Es finden gleichermaßen Zuwanderung und Abwanderung statt. Im Saldo hatten wir in den letzten 40 Jahren 12 Millionen mehr Zuwanderer als Abwanderer. Insgesamt betrug die Zahl der Zuwanderer 32 Millionen. Hätten wir diese nicht gehabt, hätte die Zahl von 20 Millionen Abwanderern zu erheblichen demographischen Verwerfungen geführt. Wir verabschieden uns jetzt von den Mythen des deutschen Ausländerrechts. Das jetzt geltende Ausländerrecht ist als Abwehrinstrument und nicht als Instrument der Steuerung geplant. Mit dem Zuwanderungsgesetz erreichen wir eine effiziente und vernünftige Steuerung der Arbeitsmigration. Wir regeln die Aspekte der Integration. In diesem Punkt, Herr Bosbach, können Sie sich von der Union nicht aufblasen. Sie haben in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit die Notwendigkeit einer Regelung der Integration von Ausländerinnen und Ausländern verschlafen. ({1}) Die von Ihnen beklagte hohe Arbeitslosigkeit bei Ausländern ist darauf zurückzuführen, dass Sie sie von Integrationsmaßnahmen ausgeschlossen und die Grundlage für entsprechende Weiterqualifizierungen nicht gelegt haben. ({2}) Sie verbreiten hier den Mythos, wir sagten mit dem Zuwanderungsgesetz: „Nun kommt doch alle her nach Deutschland, die Tore sind offen!“ Sie wissen, dass das Unsinn ist. Wenn Sie sich einmal die Mühe machen würden, ins Gesetz zu schauen - es ist ja schon lange genug gedruckt -, ({3}) dann könnten Sie sehen: Was den § 20, Zuwanderung im Auswahlverfahren, angeht, den Sie zitiert haben, haben Sie einfach Unrecht. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat müssen sich Jahr für Jahr darauf verständigen, nach welchen Kriterien Zuwanderung im Auswahlverfahren stattfindet und wie hoch die Gesamtquote sein soll. Wenn es hierüber keine Verständigung zwischen den Häusern gibt, dann findet in dem jeweiligen Jahr Zuwanderung nach dem Auswahlverfahren überhaupt nicht statt. Sie wissen - der Innenminister hat das immer wieder betont -, dass die Koalition überhaupt nicht daran denkt, vor dem Jahr 2010 von diesem Instrument Gebrauch zu machen. ({4}) - Es ist doch keine Reform, wenn in einem Gesetz gerade einmal Regelungen für das nächste und das übernächste Jahr enthalten sind. ({5}) Es bedarf eines Gesetzes aus einem Guss, das die Probleme löst, mit dem man für die verschiedenen gesellschaftlichen, demographischen und wirtschaftlichen Situationen gewappnet ist und die entsprechenden Steuerungsinstrumente in der Hand hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Beck, sind Sie wenigstens bereit, mir zuzustimmen, dass das, was Sie gerade über den § 20 gesagt haben - ich habe das Gesetz hier vor mir liegen -, schlicht falsch ist? Jedenfalls steht das so nicht im Gesetz. Die Beteiligung des Bundesrates bezieht sich ausdrücklich und ausschließlich auf den Kriterienkatalog - Alter des Zuwanderungsbewerbers, Familienstand, Sprachkenntnisse -, nicht aber auf die Zahl. ({0}) Hinsichtlich der Zahl ist lediglich das neue Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu beteiligen. Das heißt, Sie brauchen nur ein einziges Mal die Zustimmung des Bundesrates, nämlich bei der Erstellung des Kriterienkataloges, und dann hat die Bundesregierung Pleinpouvoir, sie kann mit diesem § 20 Zuwanderung organisieren, wie sie möchte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Bosbach, würden Sie mir im Gegenzug zugestehen - ich weiß, Sie dürfen mir nicht antworten; aber vielleicht sagen Sie es mir nachher -, dass das, was Sie hier vortragen, nicht ganz logisch ist? ({0}) - Vielleicht hören Sie noch auf meine Antwort. Wenn der Bundesrat, weil er mit der Quote nicht einverstanden ist, die Zustimmung beim Kriterienkatalog verweigert, dann gibt es in dem jeweiligen Jahr keine Verständigung über die gesetzlichen Voraussetzungen einer Zuwanderung nach dem Auswahlverfahren und dann tritt eben das ein, was ich hier geschildert habe: In dem jeweiligen Jahr findet keine Zuwanderung nach dem Auswahlverfahren statt. ({1}) Der Bundesrat hat so ein faktisches Vetorecht. Deshalb muss man sich vorher mit der jeweiligen Mehrheit des Bundesrates über die Höhe der Gesamtquote verständigen. Ansonsten funktioniert der Mechanismus nach diesem Gesetz nicht. Solange Sie im Bundesrat noch über die Mehrheit verfügen, können Sie sicher sein, dass ohne Ihre Zustimmung in diesem Bereich nichts läuft. Sie können also alle ruhig schlafen. ({2}) Deshalb ist Gelassenheit und nicht Panikmache angesagt. ({3}) Ihren Beitrag zu diesem Gesetz hat der Kollege Stadler im Innenausschuss - das möchte ich ausdrücklich betonen - richtig beschrieben: Dieses Gesetz ist kein rot-grünes Gesetz, sondern ein überparteilicher Kompromiss. ({4}) Leider sind Sie nicht bereit, zu würdigen, dass Teile dieses Gesetzes aus Ihrer Feder stammen. Mehr als 40 Punkte ({5}) entsprechen den Vorstellungen der Union und der Mehrheit des Bundesrates, weil wir sie im Rahmen der Verhandlungen zum Zuwanderungsgesetz in den Entwurf übernommen haben. Wir haben uns nicht nur an den Ergebnissen der Zuwanderungskommission der Bundesregierung - der bekanntlich eine CDU-Politikerin vorstand - orientiert, sondern auch an den Vorstellungen des Kollegen Müller, auch wenn sich dieser zwischenzeitlich davon distanziert hat. Ihr Vorgehen heute hier und im Innenausschuss zeigt: Die Union ist weder willens noch in der Lage, im Deutschen Bundestag über dieses Gesetz zu verhandeln. Stattdessen haben Sie versucht, Ihre Position mit 128 Änderungsanträgen zu markieren. Angesichts der Tatsache, dass diese 128 Änderungsanträge, die Sie vorgelegt haben, noch nicht einmal in den unionsgeführten Bundesländern mehrheitsfähig waren, kommt das einer Fundamentalopposition gleich. Sie signalisieren damit, dass Sie keine Einigung wollen, weil Sie Ihr parteitaktisches Süppchen mit der Zuwanderung kochen wollen. Es ist auch ein Armutszeugnis für die Kollegin Merkel. Ganz offensichtlich hat sie bei der Zuwanderungsfrage in der Union kein Verhandlungsmandat. ({6}) Hier haben offensichtlich die Kollegen Stoiber und Koch den Hut auf. Sonst hätten Sie sich doch im Bundestag zu Verhandlungen bereit finden können, anstatt sich mit den 128 Anträgen zu verweigern. ({7}) - Sie hätten mit Herrn Schily und den beiden Koalitionsfraktionen verhandeln können, statt Ihre Anträge aus dem Bundesrat hier sogar noch in verschärfter Form vorzulegen. Sie wollen - das machen Sie in Ihren Anträgen deutlich - an einem verstaubten Ausländerrecht festhalten. Es geht Ihnen in Wirklichkeit um Abschottung und die Verhinderung von Zuwanderung. Wer Arbeitsmigration de facto gar nicht will, dem geht es auch nicht wirklich um das wirtschaftliche Wohl unseres Landes. Wir haben die entsprechenden Stellungnahmen der Wirtschaft. Arbeitswissenschaftler rechnen damit, dass wir bis zum Jahr 2015 einen Mangel an hoch qualifizierten Arbeitskräften von sieben Millionen Erwerbstätigen haben werden, auch wenn wir aktuell noch eine hohe Arbeitslosigkeit haben. Wer da nicht vorbeugt und Volker Beck ({8}) nicht dafür sorgt, dass wir dies vernünftig gestalten, der schadet der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir haben es bei der Greencard gesehen: Die jetzigen Regelungen, die wir hoch qualifizierten Zuwanderern anbieten können, sind eben nicht attraktiv. ({9}) Im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe ziehen wir den Kürzeren, weil die Zuwanderungsvoraussetzungen in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada oder Australien wesentlich attraktiver sind als das, was wir im deutschen Ausländerrecht anbieten können. Im humanitären Teil des Gesetzes zeigt die Union ihr wahres Gesicht. Sie wollen den integrationshemmenden Status der Duldung beibehalten. Sie wollen die Voraussetzung für die Erteilung des menschenrechtlichen Schutzstatus so weit verschärfen, dass ihn praktisch niemand mehr in Anspruch nehmen kann. Sie wollen diesen Menschen auch jegliche Aufenthaltsverfestigung nehmen. Sie wollen den Ehegattennachzug verschärfen und Ausweisungen erleichtern. Beim Kindernachzug begeben Sie sich europaweit mit Ihrer Forderung, den Nachzug von Kindern nur bis zum zehnten Lebensjahr zu erlauben, in die völlige Isolation. Es ist schon bezeichnend, dass die familienfreundliche Union das Kindeswohl aus dem Ausländergesetz streichen will. ({10}) Diese Änderungsanträge sind eine Kampfansage und alles andere als ein Versuch, sich mit den Koalitionsparteien und auch mit der FDP auf einen vernünftigen Kompromiss zu einigen. Sie haben sogar noch eins draufgesattelt gegenüber den Anträgen, die Sie im ersten Durchgang dieses Gesetzes eingebracht haben. Sie wollen das Geburtsrecht im Staatsbürgerschaftsrecht wieder kippen, wo wir doch wissen, dass es ganz entscheidend für die Integration jüngerer Migrantenkinder ist, dass sie von Anfang an nach der Geburt als Staatsbürger in diesem Land willkommen geheißen werden, hier integriert werden ({11}) und wissen, dass sie zu dem Land gehören, in dem sie geboren sind, und dass sie gleiche Rechte und gleiche Pflichten wie jeder andere haben. Hier zeigt sich: Ihnen liegt an der Integration, die Sie so gerne im Munde führen, überhaupt nichts. Sie leisten auch mit Ihren Beiträgen zu der Zuwanderungsdebatte einen Beitrag zur Desintegration, wenn Sie Ausländer immer nur im Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen oder mit Abzocken von Sozialkassen in Verbindung bringen. Sie müssen zu einem anderen Diskussionsstil kommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Beck, kommen Sie bitte zum Schluss.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum Schluss: Wir sind im Vermittlungsausschuss mit Ihnen und den B-Ländern zu ernsthaften Gesprächen und auch zu Kompromissen bereit. Aber eines ist klar: Für uns ist das Kriterium der Zustimmung zu einem Kompromiss, dass es eine Modernisierung des deutschen Ausländerrechts gibt und dass das Gesetz, das dann beschlossen wird, besser als der jetzige Rechtszustand ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Beck!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir Ihren Vorschlägen folgen würden, dann würde es zu einer Verschlechterung kommen. Dem werden wir nicht die Hand reichen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, man greift nicht zu hoch mit der Feststellung, der Deutsche Bundestag hätte heute die Chance zu einem historischen Kompromiss, um den seit einem Jahr andauernden Streit um das Zuwanderungsgesetz zu beenden. Deutschland braucht in seinem eigenen Interesse ein Gesamtkonzept, um die Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen und um die Integration zu fördern. ({0}) Die FDP-Bundestagsfraktion hat basierend auf Vorarbeiten aus Baden-Württemberg einen, wie wir meinen, allseits akzeptablen Kompromissvorschlag vorgelegt. Es wäre schade, wenn der Deutsche Bundestag heute seine Chance versäumen würde, sich auf diesen Kompromiss zu einigen. ({1}) Nach drei Jahren öffentlicher Debatte birgt eine solche Aussprache wie die heutige die Gefahr, dass nur altbekannte Argumente wiederholt werden. Ich meine aber, dass die Einwände, die die Union heute noch einmal geltend gemacht hat - der Kollege Bosbach hat sie eben vorgebracht -, durchaus ernst zu nehmen sind. Auch wir, die wir ein Zuwanderungsgesetz befürworten, stellen uns die Frage, ob die Bedingungen für ein solches Gesetz jetzt noch dieselben sind wie vor zwei Jahren, als die Süssmuth-Kommission ihren Bericht vorgelegt hat, oder vor einem halben Jahr. Denn der Arbeitsmarkt hat sich inzwischen geändert; er ändert sich aufgrund der verfehlten rot-grünen Wirtschaftspolitik leider zum Schlechteren. Daher ist die auch von der Bevölkerung gestellte Frage berechtigt, ob bei mehr als 4 Millionen Arbeitslosen noch eine Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt vertretbar ist. Wir glauben aber, dass diese Frage zu bejahen ist. Wir meinen sogar, dass es dringend notwendig ist, die Zuwanderung - die ohnehin stattfindet zu steuern. ({2}) Die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes hängt nicht vom Monats- oder Quartalsbericht der Bundesanstalt für Arbeit ab. Wir schaffen eine gesetzliche Grundlage - darin besteht der Unterschied zur derzeitigen Praxis der Ausnahmeverordnungen - nicht für eine Situation des Augenblicks; vielmehr streben wir mit diesem Gesetz eine Grundlage für die gesamte weitere Zuwanderungspolitik der Bundesrepublik Deutschland auf längere Dauer an. Dieses Gesetz soll sozusagen zum Grundgesetz für die deutsche Migrationspolitik werden. Deswegen macht es nach wie vor Sinn. ({3}) Im Übrigen - das ist der wichtigste Punkt, den es herauszustellen gilt - bedeutet ein Zuwanderungsgesetz nicht automatisch mehr Zuwanderung. Es geht um zwei völlig verschiedene Fragen. Ob wir mehr Zuwanderung nach Deutschland brauchen, ist aufgrund der Situation auf dem Arbeitsmarkt von Zeit zu Zeit unterschiedlich zu beantworten. Hier geht es aber auch um die Frage, ob wir ein Gesetz brauchen, das die Zuwanderung steuert. Wir Freie Demokraten meinen, dass ein solches Gesetz nach wie vor notwendig ist. Wir schlagen Ihnen einen Mechanismus vor, der alle Bedenken aufgreift, indem wir Ihnen anbieten, die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt und aus humanitären Gründen nach einer Jahreshöchstquote zu gestalten. Damit hätten wir als Politiker es in der Hand, die jeweilige aktuelle Situation zu beurteilen und die Quote gegebenenfalls auf Null festzusetzen. Insofern sind die zum Ausdruck gebrachten Sorgen unbegründet und es ist und bleibt vernünftig, in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig zu werden. ({4}) Lassen Sie mich nun auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Nachdem wir in früheren Debatten darauf hingewiesen haben, dass bei der CDU/CSU Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen, indem sie sich zum Beispiel hier gegen das Zuwanderungsgesetz ausspricht, aber in Bayern Pflegekräfte aus der Slowakei und Kroatien anwirbt, ({5}) hat die Union ihre Argumentation jetzt geändert und vorgebracht, es sei zwar richtig, dass in manchen Bereichen ausländische Arbeitskräfte benötigt würden; dies könne jedoch über Ausnahmeverordnungen geregelt werden. ({6}) Nun komme ich zu dem entscheidenden Punkt. Notwendig ist nicht der alte Flickenteppich von Ausnahmeverordnungen; ({7}) notwendig ist vielmehr ein Gesamtkonzept, weil alle drei Bereiche eng miteinander verzahnt sind: Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt, Zuwanderung aus humanitären Gründen und Integration. Alle drei Bereiche gehören zusammen. ({8}) Ich möchte Ihnen das an den Vorschlägen deutlich machen, die die FDP dazu gemacht hat. Wir meinen - das kann niemand bestreiten -, dass es eine Fehlsteuerung im Asylrecht gegeben hat. Viele versuchen nämlich, sich über das Asylrecht Zugang zu Deutschland zu verschaffen, obwohl sie keine Chance haben, jemals anerkannt zu werden. Wenn man diesen Menschen eine legale Zuwanderungsmöglichkeit - ich gebe zu: in begrenztem Umfang; denn die Zahlen würden etwas anderes nicht zulassen - bietet und wenn man zugleich festlegt, dass diejenigen, die sich zu Unrecht auf ein nicht mehr bestehendes Asylrecht berufen, von der legalen Möglichkeit der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, dann wird dieser Steuerungsmechanismus dazu führen, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte nicht mehr mit einer solchen Vielzahl von Asylverfahren, die im Endeffekt aussichtslos sind, belastet werden wie jetzt. ({9}) Ich möchte Ihnen die Verzahnung noch an einem zweiten Beispiel deutlich machen. Wenn man ein Gesamtkonzept für die Integration entwickelt, dann hat man die Möglichkeit, mehr Angebote als bisher zu machen, aber auch mehr Anforderungen an diejenigen zu stellen, die nach Deutschland kommen, und zwar unter anderem dadurch, dass man die Teilnahme an Deutschkursen und an Integrationskursen zum entscheidenden Kriterium für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung macht. Das ist nicht unzumutbar, sondern eine sinnvolle Steuerung und zeigt erneut, dass wir eine Verknüpfung aller Elemente brauchen. Der gescheiterte Gesetzentwurf war nur formal ein rot-grüner. Die FDP hat in den Verhandlungen mit Minister Schily etliche ihrer Vorstellungen in den Gesetzentwurf einbringen können. Deswegen hat ja RheinlandPfalz im Bundesrat zugestimmt. Aber wir werden heute nicht zustimmen, sondern uns enthalten; ({10}) denn Sie haben den gescheiterten Gesetzentwurf erneut unverändert eingebracht, obwohl er nicht mehr dem aktuellen Stand der Diskussion entspricht. ({11}) Die weitere Diskussion hat nämlich ergeben, dass ein Zuwanderungsgesetz mehr Maßnahmen für die Integration derjenigen vorsehen muss, die schon hier sind. Hier treffen sich unsere Vorstellungen mit denen der Union. ({12}) Wir brauchen die so genannte nachholende Integration ({13}) und müssen besonders im Blick behalten, dass die jetzige Generation der Spätaussiedler im Gegensatz zu denjenigen, die Anfang der 90er-Jahre gekommen sind, aufgrund fehlender Sprachkenntnisse große Probleme hat, in den Arbeitsmarkt und in das Sozialgefüge integriert zu werden. ({14}) Daher gehen die Integrationsangebote der FDP - ich betone: mit entsprechenden Verpflichtungen betreffend die Migrantinnen und Migranten - weiter als das, was Ihr Gesetzentwurf vorsieht. Aber alles muss seriös finanzierbar sein. Die Angebote, die die Union in ihren Änderungsanträgen macht, sind zeitlich unbegrenzt. Das geht nicht; denn das können die Kommunen auf keinen Fall mehr finanzieren. Auch wenn wir einen eigenen Beitrag von den Migrantinnen und Migranten verlangen, meinen wir, dass sich die nachholende Integration auf diejenigen beziehen sollte, die in den letzten fünf Jahren nach Deutschland gekommen sind. Sie sehen also, dass wir Kompromissangebote in unsere Vorschläge eingearbeitet haben, die dem neuesten Stand der Diskussion entsprechen und die vor allem auch ein Angebot an die Union sind. Die Tatsache, dass Sie 128 Änderungsanträge gestellt haben, kann als ein hohes Pokern verstanden werden, um im Vermittlungsausschuss möglichst viel von den eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Das wäre noch verständlich. Aber wir haben nach der vorangegangenen Rede des Kollegen Bosbach den Eindruck, dass es Ihnen gar nicht um einen Kompromiss geht, sondern dass Sie ein Zuwanderungsgesetz generell ablehnen, obwohl es dringend notwendig wäre. ({15}) Deswegen hoffen wir, dass diejenigen aus Kirche und Wirtschaft, die Einfluss auf Sie haben und auf deren Wort Sie hören, Sie doch noch eines Besseren belehren. Zum Schluss möchte ich noch folgendes Grundsätzliche anmerken: Ein solches Gesetzesvorhaben löst bei der Bevölkerung zunächst Ängste und Besorgnisse aus, beispielsweise Besorgnis darüber, dass es mehr Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geben wird - und das, obwohl Inländer bei der Besetzung eines Arbeitsplatzes Vorrang haben -, und Besorgnis darüber, dass die sozialen Systeme überlastet werden. Man kann den Weg gehen, diese Besorgnisse aufzugreifen - das ist ehrenhaft und ihnen nachzugeben, das ist die Politik der Union. Politische Führung heißt für mich aber, solche Besorgnisse ernst zu nehmen und daraus vernünftige Lösungen zu entwickeln. Das ist die Politik der FDP. Wir bieten Ihnen noch einmal an, die Brücke zu betreten, die wir Ihnen mit unserem Gesetzeskompromiss vorschlagen. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Cornelie SonntagWolgast von der SPD-Fraktion.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Selten ist ein Gesetz von der CDU/CSU so mutwillig, so anhaltend und so absichtsvoll fehlgedeutet worden wie dieses. Leider hat der Kollege Bosbach dafür heute wieder ein unrühmliches Beispiel geliefert. ({0}) Wenn es nur um reine Sachfragen ginge, dann könnte man sagen: Zuspitzung ist nun einmal ein Mittel der Opposition. Bei diesem Gesetz geht es aber um das künftige Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Traditionen, Kulturen und Glaubensgemeinschaften. Dem Ziel, dass sie friedlich und in gegenseitigem Respekt miteinander leben, nützt dieses Zerrbild wahrhaftig nicht. Deswegen richte ich die dringende Bitte an Sie, diesen Gesetzestext endlich realistisch zur Kenntnis zu nehmen. ({1}) Sie wollen den Bürgern seit Monaten einreden, diese Bundesregierung habe nichts Eiligeres zu tun, als möglichst viele Menschen in dieses Land zu holen. Das ist kein Irrtum, sondern geplante Irreführung. ({2}) Gestatten Sie mir folgende Randbemerkung: Ich kann mir angesichts des Elendsbildes, das Sie im Moment von der Bundesrepublik zeichnen, eigentlich gar nicht vorstellen, dass noch irgendein Ausländer ({3}) ein Interesse daran hat, seinen Fuß in dieses Land zu setzen. Leider spielen Sie mit dem Mittel der Verzerrung. Jeder, der sich ohne Scheuklappen - ich betone: ohne Scheuklappen - mit diesem Gesetz befasst, erkennt: Arbeitsmigration wird gerade dadurch beherrschbar, dass man sie steuert und politisch gestaltet. Jeder weiß auch darum, dass Deutsche und EU-Bürger nach diesem Gesetz bei der Arbeitsvermittlung weiterhin Vorrang haben und dass die Auswahlverfahren überhaupt erst in einigen Jahren zum Zuge kommen, wenn die Überalterung bzw. die „Unterjüngung“ - so lautet der neue Begriff der Gesellschaft ihre ersten deutlichen Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlässt. Jeder kennt auch die Funktion des Sachverständigenrates, der ebenfalls ein Wort mitzureden hat. Jeder merkt, wodurch dieses Gesetz die Einwanderung zugleich begrenzt - Herr Kollege Grindel, nun können Sie noch etwas dazulernen -: durch die Beschleunigung der Asylverfahren; durch die konsequentere Abschiebung, wo dies rechtsstaatlich vertretbar ist; durch die Senkung des Kindernachzugsalters; durch erhöhte Anforderungen an die Sprachkenntnisse mitreisender Familienangehöriger von Spätaussiedlern, übrigens eine der im Moment problematischsten Zuwanderungsgruppen. Durch unser Gesetz wird Zuwanderern ein realistisches Angebot gemacht. Es zeigt Möglichkeiten, aber auch Hürden für die Zuwanderung zwecks Arbeitsaufnahme. Dieses Gesetz enthält Anforderungen an die Neuankömmlinge, zeigt aber auch den hier Lebenden, wie man sich aufeinander einlassen, aufeinander zubewegen kann. Es unterscheidet schärfer zwischen abgelehnten Asylbewerbern, die nicht ins Heimatland zurückkehren können, und denen, die es nicht wollen. Es vereinfacht die komplizierten ausländerrechtlichen Regelungen und es reduziert die zahlreichen schwer verständlichen Aufenthaltstitel. Vor allem aber bekennt sich der Staat endlich, nach mehr als vier Jahrzehnten Migration, zu seiner Aufgabe, die Integration hier mitzugestalten und zu fördern. Das ist ein epochaler Schritt. ({4}) Das Grundkonzept der Integration - das ist Kernidee des gesamten Gesetzes - geht aber weit über Eingliederung und Sprachvermittlung hinaus - es gehört nämlich alles zusammen; Kollege Stadler hat es eben verdeutlicht -, weil wir einerseits unsere humanistischen Verpflichtungen deutlicher umreißen und weil wir andererseits Zuwanderung mit modernen und flexiblen Methoden steuern und dabei - dies war im bisherigen Recht nicht der Fall - unsere eigenen Interessen beim Namen nennen. Deshalb macht es keinen Sinn, etwa den - vielleicht am wenigsten strittigen - Integrationsteil herauszulösen und alle anderen Reformteile fallen zu lassen. Das Zuwanderungsgesetz der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition ist - das wissen Sie sehr wohl - in seiner jetzigen Form auf Konsens ausgerichtet: Es schlägt Brücken auch zur Union - wie wir eben hörten, auch zur FDP - in Bund und Ländern. ({5}) Es versöhnt endlich politisches Handeln mit der Wirklichkeit der heutigen Migration. Es zeigt Perspektiven und Optionen für morgen. Das Konzept der CDU/CSU jedoch, wie es sich in Ihren 128 Änderungsanträgen widerspiegelt, beschwört den Geist von gestern. Sie werden von uns nicht verlangen, dass wir diesem Weg folgen. ({6}) Wer, Herr Kollege Marschewski, soll eigentlich nachvollziehen, warum Sie hoch qualifizierten Arbeitskräften, wenn wir sie hier brauchen können, wieder nur einen befristeten Aufenthalt - das war ja ein Kritikpunkt bei der Greencard-Regelung - erlauben wollen? Warum sollen Migrantenkinder wieder Schwierigkeiten bei der Einbürgerung bekommen? Warum sollen ausländische Ehefrauen wieder vier statt zwei Jahre auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht warten müssen und etwa bei einer gescheiterten Beziehung Prügel und Schikanen einstecken müssen? Warum um alles in der Welt wollen Sie Frauen und Mädchen, die aus Angst vor der Beschneidung zum Beispiel hierher geflüchtet sind, nicht wenigstens befristet eine verlässliche Lebensperspektive gewähren? ({7}) Über diese Art des Umgangs mit der geschlechtsspezifischen Verfolgung schütteln fast alle europäischen Partnerstaaten den Kopf. Sie erweisen sich in der Asyl- und Flüchtlingspolitik ja überhaupt als europauntauglich. ({8}) Reformen sollen den Menschen zukunftsfähige Lösungen anbieten und ihnen auch die Angst vor Unbekanntem und vor Unwägbarem nehmen. Weil der Prozess der gegenseitigen Annäherung wirklich kein Spaziergang ist, weil Umdenkprozesse Zeit und Überzeugungskraft brauchen, weil wir Migration eben nicht nur geschehen lassen, sondern gestalten wollen, ist das Gesetz jetzt wichtig; das erkennt die FDP dankenswerterweise auch an. Die gesamte Migration in all ihren Facetten als Drohkulisse aufzubauen, wie Sie es tun, ist falsch und schädlich. Akzeptanz ist schon wichtig - ich weiß, wovon ich rede -, aber Akzeptanz ist dehnbar und hängt sehr davon ab, wie man über das Thema redet, welche Worte und welche Argumente man benutzt. ({9}) Ihr neues Bedrohungsgemälde ist der angebliche Migrationsdruck durch die EU-Erweiterung. Natürlich schafft sie Probleme, aber sie schafft eben auch Chancen. Deswegen möchte ich jemanden zitieren, der sich auskennt, nämlich den EU-Kommissar Günter Verheugen. Er weist auf Folgendes hin: Derzeit verweilen mehr Deutsche in der Tschechischen Republik als Tschechen in Deutschland. Die Frage einer rechtlichen Regelung der Zuwanderung ist also weit wichtiger als Spekulationen über ihr dramatisches Ausmaß. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir eine Schlussbemerkung. Seit ich mich mit Ausländerpolitik befasse, stört mich die scharfe Polarisierung in dieser Frage, diese Teilung in zwei große Lager: hier die so genannten Gutmenschen, die praktisch jeden Ausländer in Watte packen, und dort die Scharfmacher, die der Abschottung das Wort reden. Das Zuwanderungsgesetz schafft nun endlich eine Möglichkeit, sich mit beiden Lagern auseinander zu setzen und Brücken zu schlagen. Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und Migrationsforscher begrüßen es - nicht ohne Kritik, aber immerhin alle doch mit dem Votum: Das ist der richtige Weg. Die Probleme der Migration werden nicht verkleistert. Es bringt uns insgesamt voran. Wenn Sie die Gesellschaft jetzt wieder spalten, dann leisten Sie dieser Entwicklung einen Bärendienst. Ich kann Sie und uns alle vor dieser Strategie nur warnen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Erwin Marschewski von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer sagt, das Problem ungesteuerter Zuwanderung lösen zu wollen, und wer weiß, dass er dazu die Zustimmung der Union benötigt, und wer dennoch den vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterten Gesetzentwurf Wort für Wort wieder einbringt, ohne der Union auch nur ein Jota entgegenzukommen, der beweist keinen ernsthaften Willen zur Lösung dieses Problems. ({0}) Er will wohl keinen Kompromiss, Herr Kollege; sonst wären die 128 Anträge der Union nicht samt und sonders abgelehnt worden. ({1}) Deswegen hat die „FAZ“ Recht, Herr Bundesinnenminister: Es war unverantwortlich, das Zuwanderungsgesetz im Bundestag mit einfacher Koalitionsmehrheit zu verabschieden. Es war geradezu verwerflich - so schreibt die „FAZ“ -, es mit Brachialgewalt - verfassungswidrig - durch den Bundesrat zu drücken. ({2}) Gesetze von dieser Tragweite, meine Damen und Herren, brauchen eine Mehrheit, die einen Regierungswechsel überdauert, Herr Bundesinnenminister. ({3}) - Wir stimmen gerne zu, aber das Gesetz muss dann, Herr Kollege, auch wirklich eine Regelung zur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung zum Inhalt haben, was beim vorliegenden leider nicht der Fall ist. Dieses Gesetz führt zu mehr Einwanderung. Die Zuwanderung wird nicht begrenzt und die Integration - zumindest da sind wir uns doch einig, Kollege Bürsch und Kollege Stadler - wird nicht hinreichend geregelt. ({4}) Dies steht, meine Damen und Herren, in krassem Widerspruch zur Position der Union. Deswegen können wir Ihren Gesetzentwurf so nicht akzeptieren. Zunächst einmal wäre ein einheitliches Gesamtpaket arbeitsmarktpolitischer Leistungen sowie familien- und sozialpolitischer Maßnahmen nötig, denn zur Bewältigung der demographischen Probleme bedarf es solcher Maßnahmen in der Familien- und Bildungspolitik sowie der Ausschöpfung vorhandener Erwerbspotenziale. Da sind wir uns doch einig: Zuwanderung allein löst die Probleme nicht. Ihr Gesetzentwurf, Herr Bundesinnenminister, bietet keine sachgerechten Lösungen für die Arbeitsmigration. Es ist doch nicht verantwortbar - Herr Kollege Bosbach hat es zu Recht gesagt -, bei so vielen Arbeitslosen in Deutschland die Arbeitsmigration in allen, auch den einfachen Arbeitsmarktsegmenten zuzulassen, ohne Bundesrat und Bundestag zu befragen. Herr Kollege Beck, Sie haben übrigens Unrecht, der vorgeschlagene § 20 des Aufenthaltsgesetzes sieht nicht vor, dass bezüglich der Zahl Bundestag oder Bundesrat gefragt werden müssen. Sie haben leider nicht zugegeben, dass Sie sich da geirrt haben. Es ist keine überregionale Steuerung vorgesehen, sondern nur eine durch den jeweiligen Arbeitsausschuss der 181 Arbeitsämter in diesem Lande. Meine Damen und Herren, es ist gut bekannt, dass aus Gastarbeitern, die dabei helfen sollten, vorübergehende Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, Millionen „Daueranwesende“ - „FAZ“ -, verteilt über mehrere Generationen, geworden sind und davon heute mehr als eine halbe Million arbeitslos sind. Vor diesem Hintergrund ist es doch einfach nicht verständlich, wenn Sie den Anwerbestopp aufheben. ({5}) - Herr Kollege, zu Zeiten Willy Brandts waren nur 0,8 Prozent der Ausländer arbeitslos, heute sind es über 20 Prozent. Doch Sie heben den Anwerbestopp auf. Das kann doch nicht richtig sein! ({6}) Nein, meine Damen und Herren, auch die Sprecher der Wirtschaft - ich sage dies hier ausdrücklich - kommen an diesen Tatsachen nicht vorbei. Tatsache ist eben, dass eine generelle Einwanderung von Arbeitskräften Erwin Marschewski ({7}) zurzeit nicht notwendig ist und nach der Osterweiterung, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast, erst recht nicht. ({8}) Tatsache ist auch: Weder die Unternehmer noch ihre Verbände werden sich an der Rückführung von Migranten beteiligen, die sie selbst aus konjunkturpolitischen Gründen bzw. zur Einsparung von Ausgaben für die Sozialversicherung freigesetzt haben. Auch das ist Tatsache. Den Sprechern der Wirtschaft wird es nicht gelingen, ihre speziellen Interessen als Gemeinwohlinteresse umzudeuten. ({9}) Ebenso wenig wird es Ihnen, Herr Bundesminister, gelingen, Ihr Gesetz als Zuwanderungsbegrenzungsgesetz zu verkaufen, denn Sie selbst haben ja ausdrücklich im Gesetz von dieser Vorstellung Abschied genommen. Die Konsequenzen sind offenkundig: Durch die Gleichstellung von Personen, die Abschiebeschutz genießen, mit Asylberechtigten werden die Wirkungen der Drittstaatenregelung zumindest zum Teil aufgehoben. ({10}) - Natürlich werden sie aufgehoben, wenn Sie diesen Leuten, wenn sie nach Deutschland kommen, die in § 53 des Ausländergesetzes enthaltenen Rechte gewähren. Auch Sie wissen doch, dass der Asylkompromiss damals zur Reduzierung der Zahl der Asylberechtigten von 450 000 auf 100 000 geführt hat. ({11}) Zur geschlechtsspezifischen Verfolgung: Im Ausschuss haben wir darüber, Frau Kollegin SonntagWolgast, diskutiert. Sie haben mich gefragt, wo es denn eine entsprechende Stellungnahme des Bundesinnenministers gibt. Ich kann sie Ihnen vorlesen. Am 23. Juni 2000 hat der Bundesinnenminister eine Stellungnahme herausgegeben, in der steht: Eine asyl- oder ausländerrechtliche Schutzlücke zum Nachteil von Frauen besteht nicht. Da heißt es also ausdrücklich: besteht nicht. Das hat übrigens der Europäische Gerichtshof am 7. März 2000 ebenfalls bestätigt. ({12}) Nein, Herr Bundesinnenminister, Sie steuern und begrenzen die Zuwanderung nicht, wie von der Union gewollt. Ihr Gesetz wird - ich sage es noch einmal und beweise das auch - die Zuwanderung nach Deutschland erhöhen. Schauen Sie sich die Regelungen zum Familiennachzug an. Sie weiten den Familiennachzug aus, ({13}) nämlich auf Homosexuelle und faktisch auf Kinder bis 18. Das ist doch Ihre Regelung. ({14}) Über diese Vorschriften kommen mehr Leute nach Deutschland. Sie verkürzen außerdem die Asylverfahren nicht. Warum schaffen Sie nicht beispielsweise eine einzige Instanz, wie es europaweit üblich ist? Das Asylverfahren wird nicht verkürzt. ({15}) Wenn Sie Härtefallregelungen und -ausschüsse einführen, dann bedeutet dies doch, dass die Abschiebung mit Sicherheit nicht in größerem Umfang erfolgen wird, wie es im Augenblick der Fall sein müsste. ({16}) Herr Bundesinnenminister, ich habe Ihnen drei Beweise genannt: Familiennachzug, Asylverfahren, Abschiebung. Das bedeutet eine Erweiterung Ihres Gesetzes. Nehmen Sie Stellung dazu! Das widerspricht doch völlig dem, was Sie vor geraumer Zeit gesagt haben: Die Grenze der Belastbarkeit, was Zuwanderung nach Deutschland anbetrifft, ist überschritten. Sie haben Recht, Herr Bundesinnenminister, nur, Ihr Gesetz ist anders als Ihre Aussage damals. ({17}) Was wir brauchen - darin sind wir uns wohl einig -, ist mehr Integration. Da ist der Gesetzentwurf mehr als mangelhaft. Er enthält zwar Integrationsangebote; das ist richtig. Aber er enthält keine Integrationspflichten. Vor allem gilt er nicht für die Leute, die bereits hier wohnen, sondern nur für neu ankommende Ausländer. Meine Damen und Herren, eines ist doch auch klar: Insbesondere die Leute, die hier sind, müssen integriert werden. Das regelt der Gesetzentwurf keineswegs. Ein weiterer Punkt. Sie sprechen hier von einer Teilnahmeverpflichtung bezüglich der Integrationskurse, verzichten aber auf jede Durchsetzungsmöglichkeit. Das kann doch nicht in Ordnung sein. Es ist auch nicht in Ordnung, Kollege Wiefelspütz, dass derjenige nicht zu einem Integrationskurs muss, der sich auf einfache Weise mündlich verständigen kann. Nein, das reicht nicht. ({18}) Nötig ist, die deutsche Sprache zu erlernen und die Verfassung und unsere Werteordnung anzuerkennen. Das sind Forderungen aus dem Integrationskonzept der Union, das Sie leider vor einigen Jahren abgelehnt haben, Herr Kollege Wiefelspütz.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Marschewski, sollten wir nicht einmal gemeinsam den Präsidenten des Bundesamtes in Nürnberg, Herrn Dr. Albert Schmid, aufsuchen und darum bitten, dass Sie, Herr Marschewski, und ich einen Integrationskurs besuchen, damit wir erfahren, was da eigentlich abläuft? ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich herzlich für die Einladung und nehme sie gerne an. Aber ich bin mittlerweile ziemlich integriert; das sagt der Kollege Zeitlmann zumindest. Das soll ein Scherz sein. ({0}) Herr Wiefelspütz, Sie wissen doch ganz genau, dass diese Dinge so nicht in Ordnung sind, weil sie letzten Endes keine Integration bewirken. Wir haben unsere Integrationsvorstellungen vor ein paar Jahren vorgelegt und Sie haben sie abgelehnt. Ich frage mich, Herr Bundesinnenminister, warum Sie bei diesem Gesetzesvorhaben nicht den Weg gewählt haben, den wir, Wolfgang Schäuble - ich sehe ihn gerade und die CDU/CSU-Fraktion, 1994 gewählt haben. Er war damals umstritten; es war falsch, dass er umstritten war. Dieser runde Tisch, Herr Bundesinnenminister, hat zu einem Ergebnis geführt, zu einem erfolgreichen Ergebnis, weil er die Flüchtlingsrechte bewahrte - wir haben das subjektive Asylrecht letzten Endes behalten und weil er unbegründete Zuwanderung begrenzte. Eine solche Regelung, wie sie in Art. 16 a des Grundgesetzes erfolgte, war damals dringend notwendig. Wir sind als Union der Meinung, dass genauso dringend notwendig eine Begrenzung der Zuwanderung ist; denn die herrschende Asyl- und Einwanderungspraxis ist alles andere als befriedigend, genauso unbefriedigend, Herr Bundesinnenminister, wie Ihr Gesetzentwurf. Denn so, wie er gestaltet ist, dient er keineswegs den Interessen unseres Landes. Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst eine Bitte an die Union zwecks Förderung einer blühenden politischen Karriere: Bitte verzichten Sie in Zukunft darauf, mir in der Kernzeit zu applaudieren; denn das wird mir bei meiner weiteren Karriere nicht helfen. ({0}) Nach nunmehr dreijähriger öffentlicher Debatte liegt diesem Haus nun zum zweiten Mal der Regierungsentwurf zum Zuwanderungsgesetz vor. Ich weiß nicht, ob es das modernste Zuwanderungsrecht Europas ist. Ich bin mir aber sicher, dass es sich um das modernste Zuwanderungsrecht handelt, das Deutschland je haben könnte, wenn die Union nur wollte. ({1}) Vor uns liegt ein Kompromiss, der für alle Seiten tragbar sein könnte. Sie sehen: Ich formuliere im Konjunktiv; denn die Union will das Rad der Migrationsgeschichte zurückdrehen. Die im Bundesratsverfahren von den unionsregierten Bundesländern im Januar 2003 eingebrachten Änderungsanträge sowie die nahezu deckungsgleichen 128 Änderungsanträge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes wollen den Entwurf tiefgreifend in seiner Ausrichtung verändern ({2}) und zielen teilweise darauf, den Gedanken einer Modernisierung des geltenden Ausländerrechts in das Gegenteil zu verkehren. Darüber hinaus zielen einige Ihrer Änderungsanträge - das wurde schon erwähnt - auf bereits vom Deutschen Bundestag verabschiedete rot-grüne Reformprojekte wie das neue Staatsangehörigkeitsrecht ab. Nicht ein Einwanderer soll hier die Möglichkeit haben, Deutscher zu werden, schon gar nicht seine Kinder - wenn überhaupt, dann vielleicht seine Enkelkinder. Das ist für uns wirklich nicht akzeptabel. Sie von der Union fallen mit dieser Verhandlungsgrundlage zudem weit hinter Ihre eigenen früheren Positionen, die in Ihrer Zuwanderungskommission entwickelt worden sind, zurück. Es ist für das gesellschaftliche Klima in diesem Land verheerend, wenn Sie ein Roll-Back zur alten Gastarbeiterpolitik der 50er- und 60er-Jahre planen. ({3}) Bereits im April 1983, also vor 20 Jahren, schrieb die damalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Liselotte Funcke, an den damaligen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl - ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin -: Um die bestehenden Unsicherheiten, Befürchtungen und Unterstellungen im Interesse der Deutschen und der Ausländer zu überwinden, erscheinen mir die folgenden Entscheidungen und Maßnahmen notwendig und dringend: Der deutschen Bevölkerung ist zu sagen, dass die BeschäftiJosef Philip Winkler gung ausländischer Arbeitnehmer auch bei hoher Arbeitslosigkeit unverzichtbar ist, weil es nicht einen undifferenzierten Gesamtarbeitsmarkt, sondern viele spezielle Teilarbeitsmärkte gibt. Um der Unsicherheit der Ausländer und der Deutschen entgegenzuwirken, sollten deshalb bald die Grundzüge einer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ausländerpolitik deutlich werden. So weit Liselotte Funcke. Genau diese Prämisse finden Sie in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf wieder. Die von Ihnen vorgelegten Anträge zeigen: Es geht Ihnen nicht um die Klärung sachlicher oder verfassungsrechtlicher Fragen. Es geht Ihnen offensichtlich darum, die Lufthoheit über die Stammtische zu erlangen. Dies ist eine für Migranten und Flüchtlinge in diesem Land gefährliche Strategie. ({4}) Mir zeigen die Erlebnisse der letzten Wochen und Monate vor Ort und unzählige Gespräche: Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, in dem das Bemühen um einen gesellschaftlichen Konsens klar erkennbar und der auch gut vermittelbar ist. Ein Kompromiss zwischen den Bedürfnissen der aufnehmenden Gesellschaft und den Interessen der Migranten ist mit diesem Gesetz nach vielen Jahren des Stillstands endlich erreicht. Da mein Appell an Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Union, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen, wahrscheinlich wieder verhallt, scheint die Endlosdebatte um die Gestaltung der Zuwanderung in diesem Land ins 21. Jahr zu gehen. Als migrationspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion kann ich Ihnen allerdings sagen ({5}) - so tolle Posten haben wir, Herr Koschyk -: ({6}) Unsere Maßstäbe für die Bewertung eines Zuwanderungsgesetzes bleiben auch für das wohl anstehende Verfahren im Vermittlungsausschuss klar. Wir wollen ein Zuwanderungsgesetz, das Zuwanderung und den Schutz vor Verfolgung sozialverträglich, modern, europatauglich, demokratisch und orientiert an hohem menschenrechtlichem Niveau entwickelt und in einem weltoffenen Deutschland ausgestaltet. Daraus folgt für uns: Ein Zuwanderungsgesetz, in dem alles einer reinen Begrenzungs- und Abschottungslogik untergeordnet wird, ist nicht zukunftsfähig. Ein Zuwanderungsgesetz, durch das mehr Menschen in einem ungesicherten Status belassen werden, der Status anderer Gruppen verschlechtert und das elementare Grundrecht auf die Einheit der Familie angegriffen wird, ist integrationsfeindlich. Meine Damen und Herren von der Union, Sie greifen immer wieder den Familiennachzug an. Ich bitte Sie: Es geht hier um enge Familienangehörige. Das kann doch nun wirklich nicht als unbegrenzte Zuwanderung bezeichnet werden. ({7}) - Eine Erweiterung mag vorliegen; aber im Sinne der Familienfreundlichkeit halte ich dies in unserem Gesetzentwurf für vertretbar. Ein Zuwanderungsgesetz, durch das ein Klima von Unsicherheit, Zwang und Druck zum Kern des Umgangs mit Migranten gemacht wird, beschädigt unsere Gesellschaft im Ganzen. Ein Zuwanderungsgesetz, das den anerkannten menschenrechtlichen Standards nicht uneingeschränkt und umfassend genügt, ist nicht konsensfähig und würde Deutschland in Europa vollständig isolieren. ({8}) Unter diesen Gesichtspunkten werden wir die eventuellen Ergebnisse eines Vermittlungsverfahrens zu prüfen haben. Ein Zurückgehen hinter das geltende Ausländerrecht ist mit den Grünen nicht zu machen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Grindel. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ziel unserer Politik muss sein, dass Deutsche und Ausländer friedlich zusammenleben. Nur, das setzt Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit auf beiden Seiten voraus. ({0}) Wir erwarten von Zuwanderern, dass sie deutsch sprechen können oder es zumindest zügig lernen, dass sie unsere Gesetze - auch die Trennung von Staat und Religion - achten und dass sie keine Gettobildung und keine Parallelgesellschaften anstreben. Es geht um ein gesellschaftliches und kulturelles Miteinander, ({1}) nicht um ein Nebeneinander, nicht um Multikulti. Von diesem Grundansatz ist Ihr Zuwanderungsgesetz leider sehr weit entfernt. ({2}) Sie betreiben eine ideologische Ausländerpolitik. Sie wissen, Ideologen sind bekanntlich Leute, die sich von Tatsachen nicht beirren lassen. ({3}) Es ist nun einmal eine Tatsache, dass die Sprachkompetenz der Ausländer in Deutschland - gerade derjenigen, die hier geboren sind - zurückgeht. Immer mehr ausländische Kinder werden wegen mangelnder Sprachkenntnisse vom Schulunterricht zurückgestellt. Es ist eine Tatsache - das sollte uns Sorgen machen -, dass immer mehr ausländische Jugendliche die Schule ohne Abschluss und ohne Zukunftsperspektive verlassen. Es ist eine Tatsache, dass es in immer mehr Gegenden Parallelgesellschaften gibt, die dort wegen hoher Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug bei Ausländern entstanden sind. Es ist eine Tatsache, dass die Gewaltkriminalität gerade unter ausländischen Jugendlichen ständig zunimmt. ({4}) Wir müssen die Probleme, die bei den Ausländern bestehen, die schon bei uns sind, anpacken und dürfen uns nicht neue Probleme durch weitere Zuwanderung in das Land holen. Das ist das Gebot der Stunde! ({5}) Herr Minister Schily, Sie haben das zu Beginn Ihrer Amtszeit im Grunde genommen ganz genauso gesehen. Ich will Ihnen noch einmal das Zitat vorhalten, auf das Erwin Marschewski bereits hingewiesen hat: Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten, weil wir mehr Menschen für absehbare Zeit nicht verkraften können. Die Probleme sind inzwischen viel größer geworden. Trotzdem legen Sie uns hier ein grün gefärbtes Zuwanderungsgesetz vor. Reden wie Beckstein und handeln wie Ströbele, das ist keine überzeugende Politik, Herr Minister! ({6}) Wir müssen die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Die wachsenden Integrationsprobleme sehen Sozialdemokraten mittlerweile genauso wie wir: Die Weigerung vieler ausländischer Eltern, sich zu integrieren, fördere die kriminellen Karrieren ihrer Kinder. ({7}) - Herr Kollege Bürsch, Sie sagen, das sei ein Vorurteil. Sie sollten das einmal unter Genossen klären. Denn das, was ich eben gesagt habe, war ein Zitat aus dem gestrigen „Tagesspiegel“. Das stammt nämlich nicht von mir. Das hat vielmehr der Berliner Innensenator Körting, SPD, gesagt. Viel Erfolg für die Diskussion! ({8}) Herr Körting hat Recht. Sie kennen die Lage in Berlin. Die Situation ist die - dies ist nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen Mittelzentren so -, dass es mittlerweile allein in Berlin viele Hunderte jugendliche Intensivtäter ausländischer Herkunft gibt. Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass wir solchen Tätern entgegentreten und dass wir deutlich machen, dass man hier nicht mit Multikulti-Gesäusel weiterkommt. Integration heißt auch, dass die vielen friedlichen in unserem Land lebenden Ausländer - das ist die Mehrheit, keine Frage - der kriminellen Minderheit entschlossen entgegentreten. Das gilt übrigens genauso für Aussiedler. Ich sage das mit großem Ernst: Alle Gewalttäter müssen mit allem Nachdruck in die Schranken gewiesen werden, egal welche Staatsangehörigkeit sie besitzen. ({9}) Während wir hier in Deutschland über die Zuwanderung streiten, sollen unbemerkt in Brüssel, auf der Ebene der EU, Fakten geschaffen werden. In Brüssel steht eine ganze Reihe von Richtlinien zur Entscheidung an, ({10}) die unser Ausländer- und Asylrecht, lieber Josef Winkler, in dramatischer Weise verändern würden. Die Drittstaatenregelung würde gekippt, durch die wir den Asylmissbrauch erheblich reduzieren konnten; nicht staatliche und geschlechtsbezogene Verfolgung würden anerkannt und damit würden dem Missbrauch des Asylrechts wiederum Tür und Tor geöffnet; für alle Flüchtlinge soll es schon nach kurzer Zeit freien Zugang zum Arbeitsmarkt geben. Herr Beck von den Grünen sagt dazu: Falls beim Zuwanderungsrecht kein Kompromiss zustande kommt, können wir besser mit den Regelungen leben, die auf europäischer Ebene sowieso kommen. Herr Minister Schily, über das Asylrecht muss in Brüssel einstimmig entschieden werden. Sie können das jederzeit durch Ihr Veto verhindern. ({11}) Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Schaffen Sie keine vollendeten Tatsachen! Warten Sie die Ergebnisse der Beratungen über das Zuwanderungsgesetz ab! Oder besser: Beraten Sie dort in unserem nationalen Interesse! Andere Innenminister tun das ja in Brüssel auch. Ich habe sehr wohl mitbekommen, dass Herr Böse, der Innensenator von Bremen, Sie heute für Ihr gestriges Verhalten im Innenministerrat gelobt hat. Sie sehen: Große Koalitionen stimmen milde. Ich hoffe, dass Sie den Kollegen Böse auch in Zukunft nicht enttäuschen und uns, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auch nicht. Es darf nicht sein, dass wir hier monatelang über das Zuwanderungsgesetz streiten und Sie über die EU-Asylrichtlinie in Brüssel, wie gesagt, vollendete Tatsachen schaffen, also einen Weg gehen, der den Grünen und Sozialdemokraten vielleicht hilft, ihren Laden zusammenzuhalten, aber nicht den Menschen in unserem Land. ({12}) Die Integrationsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung fördert man dadurch, dass Ausländer, die zu Unrecht nach Deutschland gekommen sind, unser Land auch wieder verlassen. ({13}) Das ist in der Praxis nicht der Fall. Nur 2 Prozent der Asylbewerber werden anerkannt, aber 90 Prozent bleiben hier. Diesem Problem müssen wir uns stärker widmen. Wir haben im letzten Jahr 71 000 Asylbewerber gehabt, aber 350 000 Menschen bekommen immer noch Geld aufgrund des Asylbewerberleistungsgesetzes - von den 230 000 Geduldeten, die ebenfalls Sozialleistungen erhalten, ganz zu schweigen. Anstatt die Rückführung von unrechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländern zu verbessern, schaffen Sie die Duldung ab und geben ihnen eine Aufenthaltserlaubnis, die später die Abschiebung erschwert. ({14}) Wir lehnen das ab, weil das nur einen neuerlichen Anreiz darstellt, hier zu bleiben und sich der Ausreisepflicht zu entziehen. Wir wollen nicht, dass das Austricksen von Behörden noch mit Aufenthaltsrecht und Sozialleistungen belohnt wird. ({15}) Wir sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. ({16}) Wir haben in der Hochphase des Asylbewerberzustroms 1992/1993 gemeinsam aus guten Gründen das Asylrecht geändert und den Missbrauch damit erheblich eingedämmt. Die Bundesregierung hat vorgestern im Innenausschuss mitgeteilt, dass die Zahl der Asylbewerber bisher im Jahr 2003 erneut um 24 Prozent zurückgegangen ist, wohlgemerkt - Herr Wiefelspütz, Sie nicken mit dem Kopf - aufgrund des alten Ausländer- und Asylrechts und nicht wegen des neuen Zuwanderungsrechts. ({17}) Wir wollen, dass es bei diesem alten Rechtszustand und den entsprechenden Ergebnissen bleibt. ({18}) Bassam Tibi, der Reform-Muslim - so nennt er sich selbst -, sagt: Europa hat eine westliche Identität und darf nicht zum multiethnischen Wohngebiet werden. ({19}) Muslimische Migranten sollten auf der Basis der europäischen Werte integriert werden und nicht die Bestrebung haben, Europa zu islamisieren. ({20}) - Verzeihen Sie; Sie sollten, wenn ein Experte wie Bassam Tibi Ihnen so etwas auf den Weg gibt, Herr Edathy, das schon ernst nehmen. Innenminister Schily hat am 20. März in „ZDF-Spezial“ gesagt: Da wir eine Demokratie sind, kann es nicht falsch sein, die Auffassung zu vertreten, die die Mehrheit unseres Volkes vertritt. Das haben Sie damals auf eine andere Thematik bezogen, dennoch halte ich Ihnen diesen Satz heute entgegen; denn in Bezug auf das Zuwanderungsgesetz gilt er für unsere Haltung. Wir gehen mit großem Selbstbewusstsein in die weiteren Gespräche über das Zuwanderungsgesetz. Schönen Dank. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Grindel, eine Bemerkung zu Ihnen vorweg: Ich habe die ganze Zeit überlegt, was besser ist, ob Sie zu diesem Thema hier im Bundestag reden oder vor einem Millionenpublikum im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auftreten. Ich bin zu dem Schluss gekommen: Eine Rede hier im Bundestag richtet nicht so viel Schaden an wie Ihre Argumente im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. ({0}) Nun zur Sache: Wir erleben heute den dritten Aufguss ein und derselben Debatte zu ein und demselben Gesetz. Auch die Pöbeleien der Opposition zur Rechten haben wir nun das dritte Mal hier gehört. Der Unterhaltungswert hält sich also in Grenzen. Das Ganze ist ein Ritual ohne erkennbaren Nutzen. Dabei sah es vor drei Jahren so aus, als wären wir uns einig, dass die Bundesrepublik ein übersichtliches, handhabbares und modernes Einwanderungsgesetz braucht. Gerade die Grünen hatten dies, ebenso wie die PDS, seit Jahren gefordert, doch Rot-Grün stand von Anfang an vor einer Gewissensfrage: entweder ein modernes Gesetz zu schaffen oder gemeinsame Sache mit der CDU/CSU zu machen. Sie haben sich mit Ihrem Gesetzentwurf schon in der vergangenen Legislaturperiode mit der Opposition zur Rechten gemein gemacht, allen voran Bundesinnenminister Schily. Er wird uns sicherlich gleich sagen, wie viele Anträge der CDU/CSU er in den Gesetzentwurf übernommen hat. Es gibt also kein modernes Gesetz und folglich wird die PDS im Bundestag auch heute Nein sagen. Die PDS hat sich von Anfang an für einen Paradigmenwechsel engagiert. Wir wollten ein Gesetz, das sich von menschenrechtlichen Ansprüchen und nicht von Kapitalverwertungsinteressen leiten lässt. Wir wollten ein Gesetz, das mit dem Bild vom Ausländer als Gast und Lückenbüßer für Arbeitsmarktengpässe sowie mit dem Bild vom Ausländer als potenzieller Bedrohung der inneren Sicherheit bricht. Wir unterteilen Migrantinnen und Migranten nicht in nützliche und weniger nützliche Menschen. ({1}) Diese Leitlinien sind modern, sie waren aber nicht mehrheitsfähig. Stattdessen wird seit Jahren ein Trauerspiel mit wechselnden Kulissen gegeben. Mal muss der Bundestag dafür herhalten, mal der Bundesrat. Ein Meisterstück sieht anders aus. Nun haben wir in der gestrigen Debatte goldene Worte über die Europäische Union und ihre künftige Verfassung gehört. Die Krux ist nur: Mit diesem Einwanderungsgesetz bleiben Sie schon jetzt hinter Standards zurück, die Europa prägen werden. Das betrifft vor allem den humanitären Bereich, den Umgang mit Menschen in Not, mit Asylsuchenden und Flüchtlingen. Das ist ein Bereich, der Bündnis 90/Die Grünen einst besonders wichtig war. Nun vermisse ich, Herr Kollege Winkler, Ihre bürgerrechtliche Handschrift. Ich sage das auch mit Blick auf ein ganz aktuelles Problem, das Bleiberecht für Sinti und Roma. Die PDS im Bundestag hat heute zur abschließenden Lesung des Gesetzes noch einmal einen Änderungsantrag mit zahlreichen Vorschlägen vorgelegt. Dieser Antrag könnte das Gesetz - das gebe ich zu - auch nicht grundlegend verbessern, aber unsere Vorschläge sind ein Gradmesser, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, für Ihre Bereitschaft, wenigstens Schlimmeres zu verhindern. Unser Antrag zielt auf drei Punkte: Wir wollen hierzulande die Integration verbessern, wir wollen die Rechte von Menschen in Not stärken und wir wollen, dass internationale Normen in bundesdeutsches Recht übernommen werden. Ein abschließendes Wort zur CDU/CSU: Ich kann Ihnen noch ein zweifelhaftes Kompliment machen: Sie haben sich von Ihren liberalen Mitgliedern in keiner Weise beirren lassen und sind in all den Debatten zum Zuwanderungsrecht erkennbar geblieben. Ein Zuwanderungsgesetz nach Ihrem Geschmack ließe sich eigentlich in zwei Sätzen zusammenfassen: Erstens gilt der Grundsatz: Ausländer stören. Zweitens gilt die Ausnahme: Wenn sie Geld in unsere Kassen spülen, dürfen sie willkommen sein. ({2}) Mit dem 21. Jahrhundert hat das wenig zu tun, allerdings das heute zur Abstimmung vorliegende Gesetz auch nicht. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesinnenminister, Otto Schily. ({0})

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe hier eine einigermaßen interessante Debatte verfolgen dürfen. Aber es gibt auch ganz neue Aspekte, nämlich dass sich die Bemerkungen von Frau Pau von ganz links außen mit denen von Herrn Marschewski von ganz rechts außen treffen. Beide kritisieren - wenn auch zu Unrecht -, dass sich das Gesetz an den Kapitalverwertungsinteressen orientiere. Das ist schon eine interessante Erfahrung. ({0}) - Sie haben doch gesagt, wir würden uns zu sehr an der Wirtschaft orientieren. Deutschland braucht dringend ein neues Zuwanderungs- und Integrationsgesetz, ({1}) das den Zuzug von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten begrenzt und die Voraussetzungen für eine bessere Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländer schafft. - Hier hätte ich jetzt eigentlich Beifall von der CDU/CSU erwartet, ({2}) denn das war ein Zitat aus einer Presseerklärung der Konferenz der innenpolitischen Sprecher der Unionsfraktionen von Bund und Ländern vom 2. April dieses Jahres. Aber vielleicht wollen Sie davon nichts mehr wissen. Damit erkennt auch die Union an, dass wir ein neues Zuwanderungsrecht brauchen. ({3}) Das war doch Ausgangspunkt für die Kommissionen, die auf allen politischen Seiten gebildet worden sind. Wir brauchen dieses neue Zuwanderungsrecht, weil im Bereich des Ausländerrechts dringender Reformbedarf besteht. Alle Klagelieder, die heute gesungen worden sind, unterstreichen das. Der Reformbedarf geht dabei über einzelne Änderungen des geltenden Rechts weit hinaus. Deutschland benötigt ein modernes aufenthaltsrechtliches Gesamtkonzept, wie es Michael Bürsch zu Beginn dieser Debatte richtig gesagt hat. Hierzu gehört vor allem die Gestaltung der Arbeitsmigration, der Integration und der humanitär begründeten Aufenthalte. Der von der Bundesregierung mit der Vorlage des Zuwanderungsgesetzes beschrittene Weg ist deshalb richtig; denn das Zuwanderungsgesetz stellt das erforderliche Gesamtkonzept dar, das mit einem umfassenden Ansatz sowohl die Zuwanderung aus wirtschaftlichen und humanitären Gründen als auch erstmals umfassend die Integration regelt. ({4}) Übrigens, Herr Kollege Marschewski, Integrationspolitik fängt bei der Wortwahl an. Wer Menschen, die zu uns gekommen und bei uns geblieben sind, als Daueranwesende bezeichnet, hat die Integrationspolitik schon im Ansatz verfehlt. ({5}) Das Zuwanderungsgesetz beseitigt bestehende Mängel des geltenden Rechts und legt gleichzeitig die Grundlagen für eine moderne Ausländerpolitik. Die Bundesregierung und hoffentlich auch der Bundestag sowie die Gremien, die im Folgenden darüber zu beraten haben, nehmen damit ihre politische Verantwortung wahr, die darin besteht, eine als notwendig erkannte Reform zum Wohle unseres Landes auf den Weg zu bringen. Ich möchte anerkennen, dass die FDP bei diesen Beratungen eine sehr konstruktive Haltung eingenommen hat. Das begrüße ich sehr. ({6}) Herr Grindel - bevor Sie weiter dazwischen reden -, bemerkenswert ist, dass weder Sie noch Herr Marschewski noch Herr Bosbach ein Sterbenswörtchen zu dem FDPGesetzentwurf gesagt haben. ({7}) Das ist ganz interessant. Es kam nicht ein Sterbenswort, obwohl dieser Gesetzentwurf in weiten Teilen mit unserem Gesetzentwurf übereinstimmt. Es wäre interessant, zu fragen, was in den Koalitionskabinetten in BadenWürttemberg und Niedersachsen dazu gesagt werden wird. Ich bin gespannt, was da auf uns zukommt. Ich will mich nicht mit Einzelheiten dieses Gesetzentwurfs auseinander setzen. Er enthält einige interessante Anregungen. Herr Stadler, Sie haben, wie ich finde, eine sehr faire und vernünftige Rede gehalten. ({8}) - Ist das oberlehrerhaft? Das ist meine Meinung. Herr Grindel, von Ihrer Rede kann ich das leider nicht sagen, sie war - auch das können Sie als oberlehrerhaft bezeichnen - miserabel. Die Rede von Herrn Stadler war wirklich gut. ({9}) Herr Stadler, ich muss allerdings eine sachliche Kritik anbringen. Ich halte eine Quote, die Sie gefordert haben - wir haben sie früher im Gegensatz zu Ihnen gefordert; das gebe ich ehrlich zu -, für kein vernünftiges Steuerungsinstrument. Das ist zu bürokratisch. Darüber werden wir dann im Vermittlungsausschuss zu reden haben. Interessant ist, dass es von der Union bisher kein umfassendes Gesamtkonzept gibt. Herr Grindel, Sie haben hier eben Klagelieder angestimmt. Manches, was Sie zu den Tatsachen gesagt haben, stimmt; das ist nicht zu leugnen. ({10}) Es gibt Integrationsprobleme. Das wird keiner bestreiten, ich zuallerletzt. Genau das meinte ich, als ich von Überbeanspruchung gesprochen habe. Herr Grindel, Sie müssen das Interview im „Tagesspiegel“ übrigens ganz lesen, anstatt nur kleine Stücke herauszunehmen. Darin steht - das ist ganz interessant -, Zuwanderung sei auch aus wirtschaftlichen Gründen notwendig und wichtig für unser Land. Nur wer eine verstockte Gesellschaft will, der muss sich vor der Welt verschließen. In einer globalisierten Welt brauchen wir in unserem Land offene Türen, sonst werden wir auch in Europa nicht weiterkommen. ({11}) Meine Damen und Herren, die von den Innenpolitikern auch der Union formulierten Ziele eines Zuwanderungsgesetzes, nämlich Zuzugsbegrenzung und bessere Integration, finden sich in § 1 unseres Gesetzentwurfes. Dort stehen alle Zielsetzungen, die ich im Übrigen für richtig halte. Dieser Paragraph ist sozusagen die Überschrift des gesamten Gesetzes. Die darin formulierten Ziele finden sich in den Instrumenten dieses Gesetzes wieder. Das Gesetz dient der Steuerung und der Begrenzung des Zuzuges von Ausländern in die Bundesrepublik. Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter Berücksichtigung der Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. ({12}) Wer kann gegen ein Gesetz, das solche Ziele hat - wir können im Vermittlungsausschuss gerne darüber reden, ob es an der einen oder anderen Stelle Klärungsbedarf gibt -, Kritik üben? Zu § 1 dieses Gesetzentwurfes habe ich bisher keine Kritik gehört. Natürlich hat die Opposition das Recht, zu fragen, ob sich diese Ziele im Gesetz wiederfinden. ({13}) Leider muss ich aber feststellen: Sie von der Union haben bisher dazu nicht viel Sachliches beitragen können. Stattdessen haben Sie sich auf eine brutale Desinformationspolitik versteift. ({14}) Das hat Ihnen nicht die Regierung oder die Regierungskoalition ins Stammbuch geschrieben, sondern das ehemalige Mitglied Ihrer Fraktion, Frau Professor Süssmuth. Frau Süssmuth hat gesagt, sie habe in ihrer gesamten politischen Laufbahn noch kein Gesetz erlebt, über das von der Opposition - in dem Fall nur von der Union - so viel Falsches geredet worden sei. Nehmen Sie sich das einmal zu Herzen. ({15}) Herr Bosbach, Sie sind einer der Protagonisten, die diese Art von Politik am schärfsten betreiben. ({16}) Sie haben heute im Bundestag wie schon bei früheren Debatten durch das Zitieren eines Satzes aus der Begründung des Gesetzes, ohne den Zusammenhang darzustellen, versucht, den Eindruck zu erwecken, Ziel des Zuwanderungsgesetzes sei nicht die Begrenzung und die Steuerung der Zuwanderung, sondern ungehinderten Zuzug zu ermöglichen. ({17}) Sie selbst wissen am besten, dass das nicht stimmt. Sie haben einen Satz aus der Begründung zu den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes zitiert. ({18}) - Das sage ich gleich. Seien Sie nicht so ungeduldig! ({19}) - Warten Sie einen Moment! Haben Sie ein wenig Geduld! Der Satz lautet: Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine übergeordnete ausländerpolitische einseitige Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp. Dieser Satz - da haben Sie Recht, Herr Bosbach - steht in einer Passage der Gesetzesbegründung, ({20}) in der darauf hingewiesen wird, dass im Rahmen der Auslegung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland künftig nicht mehr eine einseitige - ich betone: einseitige - Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der Anwerbestopp zugrunde zu legen ist. ({21}) Nun lesen Sie den Begründungstext bitte weiter, dann kennen Sie die ganze Wahrheit - das schließt an die berühmte Einsicht von Hegel an, dass die Wahrheit das Ganze ist -: ({22}) Stattdessen ist Ziel der Anwendung der ausländerrechtlichen Instrumentarien eine flexible und bedarfsorientierte Zuwanderungssteuerung. Dabei können je nach bestehender Zuwanderungs- und Integrationssituation Interessen der Zuwanderungsbegrenzung wie auch der gezielten Zuwanderung im Vordergrund stehen. Um die notwendige Flexibilität zu erhalten, erfolgt abgesehen von dem Interesse der Zuwanderungssteuerung keine übergeordnete Festlegung. Das ist vernünftig, modern und das entspricht der gegebenen Situation. ({23}) Herr Bosbach, Sie behaupten ferner, die Bundesregierung wolle den Anwerbestopp nicht teilweise, sondern generell aufheben. Die gleiche Behauptung haben Sie auch bei früherer Gelegenheit schon aufgestellt. ({24}) Diese Behauptung ist schlichtweg falsch. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des § 39 des Aufenthaltsgesetzes. In dieser Vorschrift wird das Zustimmungserfordernis der Bundesanstalt für Arbeit zur Ausländerbeschäftigung geregelt. In § 39 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes steht: Die Zustimmung zu einer Beschäftigung nach § 18, die keine qualifizierte Berufsausbildung voraussetzt, darf nur erteilt werden, wenn dies durch Rechtsverordnung oder zwischenstaatliche Vereinbarung bestimmt ist. Das bedeutet Folgendes: Der Anwerbestopp für gering qualifizierte Ausländer bleibt im Grundsatz bestehen. ({25}) - Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. ({26}) - Herr Bosbach, Sie können doch lesen. Sie müssen sich jetzt nicht mutwillig zu einem Legastheniker zurückentwickeln; das ist doch nicht notwendig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt ist aber mal gut! Was soll das denn jetzt? - Wolfgang Bosbach ({0}): Das ist genau das Niveau, auf dem Sie sich wohl fühlen! Wenn Sie sich im Dreck suhlen kön- nen, sind Sie zu Hause!) Nur in Ausnahmefällen, die dann einer gesonderten Regelung bedürfen, kann die Arbeitsaufnahme zugelassen werden. Solche Ausnahmen gibt es aber auch schon jetzt, zum Beispiel für Schaustellergehilfen - dort können Sie sich auch einmal bewerben - und saisonale Erntehelfer. ({1}) Die teilweise Aufhebung des Anwerbestopps bedeutet zudem nicht, dass für die davon betroffenen Beschäftigungsbereiche künftig eine allgemeine aktive Anwerbung stattfindet. Die teilweise Aufhebung des Anwerbestopps bedeutet auch nicht, dass künftig Arbeitskräfte unkontrolliert und ohne weiteres nach Deutschland kommen dürfen. Vielmehr haben wir hier eine systematische Neuordnung des Zugangs von ausländischen Arbeitskräften auf den deutschen Arbeitsmarkt vorgenommen, die von der Union bewusst - das muss ich immer wiederholen - falsch interpretiert wird. Die Neuordnung erlaubt eine streng am Bedarf orientierte marktwirtschaftliche Zulassung von Arbeitskräften. Durch Ihre Demagogie bilden Sie einen Gegensatz zwischen der Not der Arbeitsuchenden in Deutschland, die wir verdammt ernst nehmen, ({2}) und der Tatsache, dass wir der Wirtschaft an bestimmten Stellen, an denen es ihr dient, helfen wollen, dass arbeitsuchende Ausländer in Deutschland Arbeitsplätze finden können. Wir haben die entsprechende Regelung mit einem strengen und ausnahmslosen Vorrangprinzip verbunden. Sie wollen hier einen Gegensatz bilden. Das, was Sie wollen, verschlechtert die Situation in unserem Land und ist verantwortungslos. ({3}) - Ich habe Ihnen doch auch zugehört. Nun seien Sie einmal ein bisschen ruhig! ({4}) - Die Unruhe beweist mir, dass ich Recht habe. ({5}) Sie haben sich wieder einmal mit § 20 des Aufenthaltsgesetzes beschäftigt. Herr Bosbach, es ist falsch, wenn Sie diesen Paragraphen immer auf die Demografie beziehen. ({6}) Das ganze Zuwanderungsgesetz steht nicht unter dem Vorzeichen der demografischen Entwicklung. Dass Zuwanderung auch demografische Probleme mildern kann, stimmt. Aber ich persönlich habe nie gesagt, dass wir mit der Zuwanderung demografische Probleme lösen können. Das halte ich für illusionär. ({7}) § 20 hat einen anderen Ansatz. Er ist einem Instrument aus Kanada nachgebildet, das dort mit Erfolg praktiziert wird. Dort orientiert man sich nicht immer an der Nachfrage, sondern auch an dem Angebot. Einem bestimmten Kreis ausgewählter und hoch qualifizierter Personen wird die Möglichkeit gegeben, sich einen für sie passenden Arbeitsplatz zu suchen. Das ist ein ganz anderer Ansatz. Unser Ansatz ist im Übrigen so beschaffen, dass er die Zustimmung von verschiedenen Seiten voraussetzt, sodass Sie sich wirklich keine Sorgen machen müssen. Herr Bosbach und Herr Marschewski, wenn Sie das Problem haben, dass der Bundesrat bei der Höchstzahl der Zuwanderung ein Wörtchen mitreden soll, dann kann ich Ihnen sagen: Es ist für mich die einfachste Übung, Ihnen das zuzugestehen. Wenn das Ihr Problem ist, dann können wir uns sehr schnell einigen. Ich darf noch einmal daran erinnern - das ist in dieser Debatte schon angesprochen worden -, dass dieser Gesetzentwurf in der Gesellschaft breite Unterstützung findet. ({8}) - Darüber brauchen Sie nicht zu lachen, Frau Kollegin. Das ist so. Das können Sie nachlesen. Der Gesetzentwurf wird von den Gewerkschaftsverbänden, den Kirchen, aber auch von allen Wirtschaftsverbänden unterstützt. Frau Kollegin, es kommt nicht sehr oft vor, dass sowohl Gewerkschafts- als auch Wirtschaftsverbände zustimmen. ({9}) - Das ist in dem klassenkämpferischen Ton von Herrn Marschewski eine zu starke Berücksichtigung der Wirtschaft, aber bitte schön. ({10}) Ich halte diese Zustimmung für eine gute Grundlage für ein solches Gesetz. Ich muss ehrlich sagen: Ich vertraue mehr dem Sachverstand der Wirtschafts- und der Gewerkschaftsverbände als ({11}) der Meinung von Herrn Marschewski. Das kann aber jeder halten, wie er will. Herr Grindel, Sie haben die EU angesprochen. Sie müssen einmal klar machen, wer nun Recht hat: Herr Böse oder Sie. Das würde mich wirklich interessieren. ({12}) - Beide haben Recht? Das ist natürlich die interessanteste Lösung. Das erinnert mich an den ältesten Juristenwitz. Ein Referendar nimmt das erste Mal an einer Gerichtsverhandlung teil. ({13}) Zuerst plädiert der Anwalt des Klägers. Daraufhin flüstert der Richter dem Referendar zu: Der Mann hat Recht. Anschließend hält der Anwalt des Beklagten ein furioses Plädoyer. Wieder flüstert der Richter dem Referendar zu: Der Mann hat Recht. Daraufhin ist der Referendar genauso verwirrt wie ich bei Ihrer Antwort. ({14}) Der Referendar erklärt daraufhin dem Richter: Beide haben gegensätzliche Auffassungen vertreten. Sie können nicht beide Recht haben. ({15}) Der Richter antwortet daraufhin dem Referendar: Da haben Sie nun auch wieder Recht. ({16}) Wenn Sie so Ihre Politik definieren wollen, Herr Grindel, dann können Sie das gerne machen. Aber Sie müssen sich über eines im Klaren sein: Die Uhren in Europa werden nicht nach deutscher Zeit gestellt. ({17}) - Sie täuschen sich, Herr Grindel. - In Europa findet eine breite Debatte über diese Probleme statt. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Politik nach europäischem Geist und nicht nach Ihrer muffigen und zurückgebliebenen Haltung zu diesem Thema gestalten. Darin dürfen wir nicht verharren. Diese Haltung können wir nicht übernehmen. ({18}) Wir müssen eine europäische Diskussion führen. Dazu gehört auch die Frage des Staatsangehörigkeitsrechts. Ich verspreche Ihnen: Ich werde niemals die Hand dazu reichen, dass wir unser modernes, europäisches und offenes Staatsbürgerschaftsrecht wieder auf das völkische Denken zurückführen, das Sie noch immer repräsentieren. Das werde ich niemals zulassen. ({19}) Versuchen Sie, aus Ihrer Ecke herauszukommen! ({20}) Das ist die einzige Möglichkeit, die Sie haben. ({21}) Sie müssen aufpassen, dass Sie dem gerecht werden, was von verschiedenen Seiten aus Ihren Reihen gesagt worden ist. Ministerpräsident Müller hat vor kurzem erklärt: Wir streben einen Konsens an. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das eben nicht nur die Integration und das Ausländerrecht betrifft, sondern die gesamte Steuerung der Zuwanderung. Dafür bedarf es eben einer anderen Qualität. Was wir heute haben - diese Zustände beklagen Sie ja, Herr Grindel -, ist ein Zuzug in die Sozialsysteme. Das Problem liegt nicht darin, dass Arbeitskräfte an der einen oder anderen Stelle aus dem Ausland zu uns kommen. Das ist sogar gut so, weil das die Wirtschaft belebt. Selbst die relativ bescheidene Zahl derjenigen, die in der IT-Technik zu uns gekommen sind, hat dazu geführt, dass die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Bereich anstieg - im Gegensatz zu dem, was Sie immer behaupten. ({22}) Deshalb: Versuchen Sie, auf einen Kompromiss zuzugehen, und füttern Sie bitte nicht das Gerücht, ein Kompromiss scheitere an unserem Koalitionspartner, Bündnis 90/Die Grünen. ({23}) Ich muss unserem Koalitionspartner ein großes Kompliment machen. ({24}) Die waren nun wahrlich auf der ganzen Linie kompromissbereiter und flexibler als Sie in auch nur einem einzigen Punkt, meine Damen und Herren von der Union. ({25}) Nehmen Sie sich ausnahmsweise einmal ein Beispiel an den Grünen, ({26}) dann kommen wir weiter. Wie wollen Sie sich eigentlich mit der FDP einigen? Auch diese Frage müssen Sie einmal beantworten. Sie wollen doch irgendwann einmal, vielleicht in 20 Jahren, regieren. Dann müssen Sie aber sehen, wie Sie mit der FDP zurechtkommen. ({27}) - Dazu habe ich aber heute keine einzige Silbe gehört, Herr Grindel. Da müssen Sie sich noch einmal besinnen. ({28}) Das Wichtigste ist mir - das ist eine Bitte -: Verzichten Sie darauf, in der Bevölkerung Ängste zu schüren und die gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. ({29}) Vielleicht darf ich auch diesen Punkt noch ansprechen: Ich durfte vor kurzem in der Unterkirche der Frauenkirche in Dresden eine sehr eindrucksvolle Veranstaltung miterleben, die vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ initiiert und dankenswerterweise vom ZDF und der Dresdner Bank mit gestaltet und wurde. Wir haben dort die Preise im Rahmen des Victor-Klemperer-Jugendwettbewerbes verliehen. Das Zuwanderungsgesetz ist ein Zukunftsgesetz. Deshalb hat, so finde ich, die Stimme der Jugend hier ein besonderes Gewicht. Wenn Sie einmal hören, wie unsere Jugend mit diesem Thema umgeht, dann werden Sie entdecken: Wir sind auf dem richtigen Weg und Sie müssen aus ihrer Ecke herauskommen. Das ist meine Überzeugung. ({30})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie legen dieses Gesetz zum zweiten Mal vor - völlig unverändert! Sie werfen uns Kompromisslosigkeit vor, aber haben in dieser Phase der Gesetzgebung nie auch nur den Versuch gemacht, mit uns einen Kompromiss zu schließen. ({0}) Wir haben 120 Änderungsanträge vorgelegt. Sie haben sich nicht mit einem einzigen vernünftig und ernsthaft beschäftigt. ({1}) Das ist es, was die Bevölkerung draußen nicht versteht. Letzten Endes ist das auch eine Missachtung des Parlamentes. Sie können doch nicht einen Gesetzentwurf, der abgelehnt worden ist und von dem Sie wissen, dass er im Bundesrat nicht angenommen werden wird, hier wieder vorlegen und in der ursprünglichen Form durchpauken und uns dann Kompromisslosigkeit vorwerfen. Ist das Ehrlichkeit? So kann man mit der Opposition nicht umgehen. Sie können so auch nicht mit der Bevölkerung umgehen. Was soll denn die Bevölkerung von diesem Parlament halten? Wir reden hier zum zweiten Mal über einen Gesetzentwurf, von dem Sie wissen, dass er hier die Mehrheit bekommt, aber im Bundesrat abgelehnt werden wird. Dann wird er wahrscheinlich in den Vermittlungsausschuss kommen und dann ist dieses Parlament nicht mehr gefragt. Aber im Parlament müssen wir die Kompromisse schließen. Das haben Sie nicht versucht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Wollen Sie die zulassen? - Bitte.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, ({0}) warum sprechen Sie hier wahrheitswidrig von Kompromisslosigkeit, wenn in Wahrheit im ersten Gesetzgebungsverfahren Rot-Grün in elf Punkten den Wünschen des Bundesrats, der von Ihnen dominiert war, nachgekommen ist? 16 Änderungsanträgen der CDU/CSU ist Rot-Grün im Innenausschuss nachgekommen. Hinzu kommen die vier Stolpe-Punkte, deren Erfüllung Ihr Parteikollege Herr Schönbohm zur Bedingung für die Zustimmung Brandenburgs im Bundesrat gemacht hat. Er hat leider an dieser Stelle sein Wort gebrochen. Warum verschweigen Sie dies? Warum sagen Sie wahrheitswidrig, wir seien nicht kompromissbereit? Wir waren es und das ist bereits ein Kompromiss. ({1})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Verfahren im Bundesrat kam vor das Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht hat festgestellt, dass das Verhalten des damaligen Bundesratspräsidenten und das Verhalten der SPD-regierten Länder falsch und verfassungswidrig gewesen ist. Deswegen ist dieses Gesetz nichtig. ({0}) Es ist nichtig, weil es nicht unserer Verfassung gemäß zustande gekommen ist. ({1}) Im Übrigen wäre es bei Beachtung des Art. 51 GG im Bundesrat gescheitert, weil die Mehrheit der CDU/CSUregierten Länder auch nach den Änderungen im Bundesrat Nein gesagt hat. Wir haben aber jetzt das zweite Gesetzgebungsverfahren. Es geht jetzt nicht mehr um das Gesetzgebungsverfahren, das vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet worden ist, sondern es geht um das jetzige Gesetzgebungsverfahren. ({2}) - Warten Sie noch ein bisschen! - Sie haben in dem jetzigen Gesetzgebungsverfahren überhaupt keine Anstalten gemacht, über die Vorstellungen, die im Bundesrat geherrscht haben und die wir ins Parlament eingebracht haben in Form der 120 Änderungsanträge, zu diskutieren. Sie haben nicht ein einziges Mal Anstalten gemacht, auf diese Anträge einzugehen. ({3}) Deswegen werfe ich Ihnen vor: Sie machen heute eine große Schau; mehr ist es nicht. Sie missachten die Rechte und damit auch die Würde dieses Parlamentes. Das kann draußen niemand verstehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stadler? - Bitte. Dann möchte ich doch, dass wir der Rede weiter zuhören. ({0})

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Geis, jedermann wird verstehen, dass Sie jetzt in dieser Lesung nicht einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen, den Sie vor kurzem mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat noch abgelehnt haben. Aber sind Sie bereit, mir zuzugeben, dass jedenfalls auf meiner Tagesordnung, die ich vorliegen habe, heute nicht nur ein Gesetzentwurf der Bundesregierung, sondern auch ein Gesetzentwurf der FDP zur Debatte und Abstimmung steht, und wären Sie bereit, der deutschen Öffentlichkeit mitzuteilen, welche Anstrengungen Sie unternommen haben, mit der FDP hinsichtlich des Entwurfs zu einem Kompromiss zu kommen, den wir vorgelegt haben? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Stadler, die Frage gebe ich natürlich zurück. Welche Anstrengungen haben Sie unternommen, um mit uns zu einem Kompromiss zu kommen? Das haben Sie nämlich auch nicht gemacht. ({0}) Wir wollen hier keine Spiegelfechterei betreiben, sondern ich gebe Ihnen ohne weiteres zu: Es ist auch unsere Auffassung - deswegen haben wir 120 Änderungsanträge eingereicht -, dass die Zuwanderung in Deutschland besser regelbar ist, als es derzeit der Fall ist. Ich gebe Ihnen auch zu, dass in Ihrem Gesetzentwurf viele Ansätze sind, über die man ernsthaft diskutieren kann. Aber Sie kennen die Mehrheitsverhältnisse. Sie hätten die Frage, die Sie jetzt an mich gerichtet haben, viel eher an die SPD richten müssen, denn die hat die Mehrheit. Wenn Sie sich mit uns zusammentun, dann werden wir hier genauso scheitern. Das wissen Sie. Deswegen ist dies wohl auch eine nicht ganz ernsthafte, sondern eine eher spaßige Frage, die etwas Freude in den trüben Alltag bringt. ({1}) Ich habe eben in meiner Antwort auf Herrn Stadler deutlich gemacht, dass es uns durchaus um eine Verbesserung der derzeitigen Regelungen im Ausländerrecht und damit auch im Zuwanderungsbereich geht. Dies stellt aber nicht die vorrangige Aufgabe dar. Vorrangig ist vielmehr die Integration. Das haben alle Redner unserer Fraktion betont. Die Integration scheint mir aber in den Gesetzentwürfen der Bundesregierung und der FDP nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden zu sein. ({2}) Ich wiederhole: Nicht die Zuwanderung ist der wichtigste Punkt, sondern die Integration. Die Zuwanderung muss sich nach der Integrationsfähigkeit unserer Bevölkerung richten. Der Herr Minister hat vorhin behauptet, dass die Jugend das Zuwanderungsgesetz befürworte. Mitnichten! Vielmehr ist eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung gegen die Zuwanderung. ({3}) Warum denn? - Weil die Integrationsfähigkeit der deutschen Bevölkerung an einem Punkt angelangt ist, an dem sie leicht in eine sich selbst verstärkende Desintegration übergehen kann. ({4}) Das ist das Problem, das wir erkennen und mit dem wir uns beschäftigen sollten. Das ist bei dem vorliegenden Gesetzentwurf aber nicht geschehen. Auch wenn Sie noch so lange rechnen, werden Sie mit diesem Gesetz die Zuwanderung nicht begrenzen. Wie Sie es auch wenden, unterm Strich würde Folgendes herauskommen, wenn Ihr Vorhaben Gesetzeskraft erlangen würde: ({5}) Zurzeit gibt es eine Nettozuwanderung von 200 000 Personen im Jahr, und zwar nicht aus dem Bereich der Europäischen Union, sondern aus Nicht-EUStaaten. Wenn das Gesetz in Kraft treten würde, würde die Zahl auf über 300 000 steigen. Das ist zu viel. ({6}) Das war übrigens auch die Auffassung des Ministers. Er hat den Gesetzentwurf nur deshalb wieder vorgelegt, weil Sie mit Ihrem Koalitionspartner, der es ablehnt, das Vorhaben aufzugeben, in dieser Frage nicht zusammenarbeiten können. Das ist doch der eigentliche Grund für Ihre Unvernunft, denselben Gesetzentwurf zum zweiten Mal vorzulegen. Das liegt doch daran, dass Sie mit den Grünen nicht zurechtkommen. ({7}) Sie müssen meiner Meinung nach den Schwerpunkt auf die Frage legen, wie die Integration bewältigt werden kann. Danach muss sich das Zuwanderungsgesetz richten. ({8}) Es wird auch weiterhin Zuwanderung geben. Sie wird in einem Rahmen von jährlich rund 200 000 Personen verlaufen. Es wird auch Zuwanderung aus den neuen EU-Staaten geben. Schätzungen belaufen sich auf 300 000 bis 400 000 Personen jährlich. Das wird aber kein Problem darstellen, weil diese Menschen aus unserem Kulturkreis kommen. Ihnen wird die Integration leichter fallen. Aber die Integration ist doch anerkanntermaßen schwierig - darüber müssen wir wohl nicht diskutieren -, wenn Menschen aus einem anderen Kulturkreis kommen. An dieser Stelle trifft das Zitat von Gustav Heinemann zu, der festgestellt hat: „Wir wollten Arbeitskräfte und es kamen Menschen“. ({9}) - Nein, das ist von Gustav Heinemann, der es von Max Frisch übernommen hat. Sie können das nachlesen. Ich habe es nachgelesen und kann Ihnen die Quelle des Zitats zukommen lassen. Gustav Heinemann hat das Zitat übernommen. Wir müssen uns nicht darüber streiten. Das ist doch lächerlich. ({10}) - Ja, es stammt von Max Frisch. Aber es ist ein treffendes Wort. Menschen müssen immer im Kontext ihrer Herkunft, ihrer Kultur, ihrer Wertmaßstäbe und ihrer Geschichte gesehen werden. Die Integration ist insofern kein leichtes Geschäft. Sie muss nicht nur von denjenigen geleistet werden, die ins Land kommen, sondern auch von denen, die sie aufnehmen. Wenn zu viele Menschen aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen, dann nimmt die Integrationsfähigkeit der aufnehmenden Bevölkerung immer mehr ab. Bekanntlich beträgt der Ausländeranteil an der Einwohnerzahl Münchens 22 Prozent; in Hamburg sind es 16 Prozent, in Berlin 13 Prozent. Die Ausländer bewohnen dort Quartiere, wo sich die deutsche Bevölkerung zurückzieht, weil die Deutschen dort Angst haben, in ihrer Mitte als Fremde zu erscheinen. ({11}) Auch unter Deutschen macht sich Angst breit. Deswegen lehnen doch weit mehr als 80 Prozent der deutschen Bevölkerung eine weitere Zuwanderung ab, weil sie Angst hat, ihre Identität zu verlieren. ({12}) Das muss man sich vor Augen halten, wenn man sich ernsthaft mit dem Gelingen der Zuwanderung auseinander setzt. Es geht darum, die Integrationsfähigkeit unserer Bevölkerung zu erhalten. Das geht nur, wenn wir versuchen, die Zuwanderung ernsthaft zu begrenzen. Diese Begrenzung leistet der Gesetzentwurf nicht. Deswegen haben wir die 120 Änderungsanträge eingebracht und deswegen müssen wir den Gesetzentwurf ablehnen. Vielleicht wird es einen Kompromiss im Vermittlungsausschuss geben, vielleicht aber auch nicht. Es wäre jedenfalls nicht schlimm, wenn der vorliegende Gesetzentwurf scheitern würde; denn wir brauchen ein Integrationsgesetz. Wir müssen ernsthafter und in viel stärkerem Maße als in der Vergangenheit die Integration der bei uns lebenden und der zu uns kommenden Ausländer vorantreiben. Sonst werden wir den Frieden in unserem Land nicht erhalten können. ({13}) Es geht letztendlich um die eigene Existenz. ({14}) Es geht um eine friedliche Gesellschaft. ({15}) Wir dürfen uns nicht nur mit der Lösung von Konflikten beschäftigen. Wir haben andere Aufgaben in dieser Gesellschaft zu bewältigen, die schwierig genug sind. Wenn noch Konflikte hinzukommen, dann wird das nicht zu schaffen sein.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, kommen Sie bitte zum Schluss.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden erleben, dass der vorliegende Gesetzentwurf im Bundesrat scheitert. ({0}) Es wird dann im Vermittlungsausschuss viele Beratungen geben. Es kann durchaus sein, dass der Entwurf auch dort scheitert. Das wäre kein Unglück. Wir werden uns auf jeden Fall in stärkerem Maße um ein Integrationsgesetz bemühen. Das ist, wie ich meine - ich wiederhole das -, die eigentliche Aufgabe der Ausländerpolitik. Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/955, den Gesetzentwurf anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Drucksache 15/961? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der Abgeordneten Pau und Lötzsch abgelehnt worden. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU sowie der beiden fraktionslosen Abgeordneten bei Enthaltung der FDP angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen worden. ({0}) Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/955, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der FDP zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der FDP abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes - Drucksache 15/805 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) - Drucksache 15/969 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz Thomas Strobl ({3}) Volker Beck ({4}) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt offensichtlich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem das Wort dem Abgeordneten Dr. Dieter Wiefelspütz. ({5}) - Einen Moment noch, Herr Wiefelspütz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte setzen Sie sich oder, wenn Sie der Debatte nicht folgen wollen, verlassen Sie rasch den Plenarsaal, damit wir fortfahren können. Ich glaube, Sie können jetzt beginnen, Herr Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich anerkenne und respektiere, dass das Zuwanderungsgesetz eine ungleich höhere Bedeutung als das Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes hat. Wir haben uns im Jahre 1999 - liebe Kolleginnen und Kollegen, einige werden sich daran erinnern -, in der Zeit des Umzuges von Bonn nach Berlin darüber GedanDr. Dieter Wiefelspütz ken machen müssen, ob es auch in Berlin eine Bannmeile geben soll. ({0}) Wir sind damals mit großer Mehrheit der Auffassung gewesen, dass das sinnvoll sei. Es war damals nicht ganz einfach, den grünen Koalitionspartner, insbesondere den Kollegen Ströbele, davon zu überzeugen. ({1}) Ich habe den Eindruck, dass Herr Ströbele auch heute noch letzte Zweifel hat. ({2}) Aber, Herr van Essen, anerkennen Sie bitte, dass der leidenschaftliche Einsatz für eine vernünftige Regelung in Bezug auf dieses Parlament letztlich auch Herrn Ströbele hat überzeugen können. Unser damaliger Gesetzentwurf war relativ umstritten. Wir haben deswegen gesagt: Wir wollen einander nicht belehren. Die Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes wurde befristet. Dies geschah mit der Maßgabe, dass sowohl das Innenministerium als auch die Bundestagsverwaltung dem Parlament Erfahrungsberichte vorlegen. Wir beschlossen damals, im Lichte dieser Erfahrungen erneut zu entscheiden, wie es mit diesem Gesetz weitergehen soll. Wir haben die Erfahrungsberichte zur Kenntnis genommen. Mich hat erstaunt, dass anders als in Bonn, wo innerhalb einer Legislaturperiode nur in Ausnahmesituationen drei oder vier Demonstrationen stattfanden, im befriedeten Bezirk - das ist der Bereich, der früher „Bannmeile“ genannt worden ist - in den vergangenen fast vier Jahren, also seitdem der Bundestag seinen Sitz in Berlin hat, mehrere hundert Demonstrationen stattgefunden haben. ({3}) Darüber sollten wir uns freuen, ({4}) denn das bedeutet doch, dass es uns gelungen ist, die Menschen nicht auszusperren. Demonstrieren kann man auch vor den Toren dieses Parlamentes. Man kann das politische Geschehen in Berlin von der Besuchertribüne des Deutschen Bundestags aus verfolgen; das ist jedermanns gutes Recht. Man kann sich aber auch an das Parlament wenden, indem man im befriedeten Bezirk aktiv demonstriert. Das ist ein Ausdruck von Interesse und davon, dass man das Parlament und auch die Parlamentarier ernst nimmt. Für dieses große Interesse sollten wir dankbar sein. Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass der Reichstag, in dem der Deutsche Bundestag tagt, mittlerweile das meistbesuchte Gebäude Deutschlands ist. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar. ({5}) - Nicht meinetwegen und auch nicht Ihretwegen, Herr Strobl. - Mit anderen Worten: Ich bin - das sage ich ohne jedes Pathos - dafür dankbar, dass der Reichstag für viele Menschen so interessant ist. Die Menschen kommen hierhin, weil sie sich selbst dazu entschieden haben. Dieses Parlamentsgebäude ist offenbar genauso attraktiv wie die Gebäude des amerikanischen oder des britischen Parlaments. Ich freue mich darüber. Herr Ströbele, dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit - man darf es nur friedlich wahrnehmen - ist, was den Verfassungsrang angeht, die Funktionsfähigkeit des Parlaments gleichgestellt. Vor den Toren dieses Hauses haben Hunderte von Demonstrationen stattgefunden, ({6}) ohne dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments und damit unsere Arbeitsfähigkeit zu irgendeinem Zeitpunkt infrage gestellt worden sind. Besser hätte gar nicht bewiesen werden können, dass die Bannmeilenregelung für dieses Parlament funktioniert, dass dieses Gesetz also gelungen ist. ({7}) Ich freue mich darüber, geschätzter Kollege van Essen, dass die FDP inzwischen mit im Boot ist. Sie waren damals skeptisch, eher ablehnend, aber haben jetzt gesagt - so habe ich das verstanden; Sie werden das gleich selbst artikulieren, Herr van Essen; ich kann aber auch Ihre Rede halten, wenn es denn sein muss -: ({8}) Jawohl, das hat sich bewährt. Warum dann nicht auch zustimmen? - Ich danke Ihnen ausdrücklich dafür. Ich will, mit etwas Abschwächung, auch Herrn Strobl danken, nicht dafür, dass er diesen Gesetzentwurf nachher ablehnen wird, aber dafür, dass er doch anerkennt - das wird er nachher natürlich noch selbst sagen, denke ich -, dass sich das, was wir hier gemacht haben, im Großen und Ganzen doch ziemlich bewährt hat. Vor vier Jahren, Herr Strobl, habe ich nicht geglaubt und auch nicht gewusst - das konnte ich auch nicht; woher sollte ich es auch wissen? -, ({9}) dass sich diese Art von Regelung zum befriedeten Bezirk - einerseits Versammlungsfreiheit und andererseits Funktionsfähigkeit des Parlaments gewährleisten - hier in Berlin so gut bewährt. Wir haben keine Angst vor den Bürgern, aber hier muss frei entschieden werden können, hier darf der Zugang zum Parlament für Abgeordnete nicht beeinträchtigt sein. Beides, Freiheit der Versammlung und Funktionsfähigkeit des Parlaments, ist gewährleistet. ({10}) Also ist die Regelung gut und in Ordnung und dann sollte man sie auch so akzeptieren und schätzen. Nun kommt von der Union der Änderungsantrag, erneut eine Frist zu setzen, für weitere vier Jahre sozusagen auszuprobieren. Ich räume ein: Auch bei uns hat das eine Rolle gespielt. Wir haben das hin und her gewendet. Insbesondere, Herr Strobl, bei den Bedenkenträgern von den Bündnisgrünen - darüber wollen wir hier einmal ganz offen sprechen - gab es erneut diese Überlegung. Es war nicht ganz einfach, die Kollegen davon zu überzeugen, dass eine Frist doch nur Sinn macht, wenn man etwas ausprobiert. Wir haben ausprobiert. Wir haben Erfahrungen gesammelt, nicht für vierzehn Tage, sondern für vier Jahre. ({11}) Wir haben festgestellt: Die Probephase ist abgeschlossen. Es hat sich bewährt. Wir haben nicht eine Demonstration oder zwei Demonstrationen gehabt, sondern Hunderte. Also gibt es keinen Grund für eine weitere Fristverlängerung. Eine bewährte Sache verdient es, keine Befristung mehr zu bekommen. Also schaffen wir heute die Frist ab, ganz entspannt und ohne Dramatik. ({12}) Wir werden damit auch in der Zukunft, denke ich, gut leben können. Ich will noch einen Aspekt ansprechen und damit wende ich mich an Sie persönlich, Frau Präsidentin. Wir haben hier den Platz der Republik. Er war lange Zeit eine Baustelle. Jetzt ist er weitgehend fertig gestellt. Ich glaube, dass auf diesem Platz in Zukunft die ganz, ganz großen Demonstrationen stattfinden werden, bei Themen, die die Nation bewegen, ({13}) wenn es möglicherweise um Krieg und Frieden oder um andere Fragen von ähnlichem Gewicht geht. Das ist der Platz, auf dem früher, zu anderen Zeiten, schon einmal ganz, ganz große Demonstrationen stattgefunden haben. Jetzt spanne ich den Bogen einmal von ganz ernst zu nicht ganz so ernst. Ich höre, dass man auf dieser Wiese dort nicht Fussball spielen darf. ({14}) Schadet es wirklich dem Ansehen und der Würde dieses Hauses, ({15}) verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wenn da und dort einmal ein eleganter Doppelpass gespielt wird? ({16}) Ich bitte das Präsidium, das ja wohl das Hausrecht ausübt, insoweit noch einmal zu bedenken, ob man nicht da und dort auch etwas toleranter sein kann. ({17}) Die Bundesrepublik Deutschland präsentiert sich in diesem Parlamentsviertel weltoffen, zugänglich und so entspannt, wie man uns das häufig nicht nachsagt. Wir sind hier sehr entspannt. Hier kann man demonstrieren. Hier kann man sich frei betätigen. Die Menschen kommen herein, nehmen dieses Parlament als ihr Haus der Demokratie für Deutschland an. So sollten wir das insgesamt auch halten. Ich bitte um Zustimmung zu diesem insgesamt gesehen gut gelungenen Gesetz. Die Frist muss jetzt aufgehoben werden, weil es für die Befristung keinen Grund mehr gibt. Ich danke Ihnen für das Zuhören. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Und Sie garantieren dann für die Eleganz des Doppelpasses? Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Strobl.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bis zum Jahr 1999 wurde die Funktionsfähigkeit auch des Deutschen Bundestages durch das so genannte Bannmeilengesetz aus dem Jahre 1955 geschützt. Dieses Gesetz hat sich in 44 Jahren deutscher Parlamentsgeschichte außerordentlich bewährt, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen in diesem Hause. ({0}) - 44 Jahre lang, Herr Ströbele. - Dieses Gesetz hat sich insbesondere auch in den schwierigen Situationen bewährt, die es ja zuweilen gab. Ich erinnere etwa an die Asylrechtsdebatte im Bonner Bundestag. Die älteren Kollegen - es gibt sie ja noch - dürften sich noch sehr gut erinnern. Damals ist klar geworden, dass eine Bannmeilenregelung notwendig ist. Das ist ja in diesem Hause - Herr Kollege Ströbele, Ausnahmen gibt es weitgehend unstreitig. Thomas Strobl ({1}) Wir meinen, dass wir Regelungen brauchen, die ein Funktionieren von Verfassungsorganen auch in schwierigen Situationen und in Krisenzeiten ermöglichen. Auch das ist ja weitgehend unumstritten; auf alle Fälle ist es die eindeutige Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Genauso unbestritten ist freilich, dass jede Bannmeilenregelung in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes und der darin verbürgten Versammlungsfreiheit steht. Wir akzeptieren und respektieren selbstverständlich diese grundrechtliche Wertentscheidung des Verfassungsgesetzgebers. Sie steht aber nicht im Widerspruch zu einer Bannmeilenregelung, denn der Verfassungsgesetzgeber hat ja aus gutem Grund in Art. 8 Abs. 2 des Grundgesetzes in Form eines Gesetzesvorbehaltes ausdrücklich „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes“ Beschränkungen der Versammlungsfreiheit vorgesehen bzw. eingeräumt. ({2}) Insofern kann an einer grundsätzlichen Zulässigkeit von Bannmeilenregelungen keinerlei Zweifel bestehen. Mit dem Umzug des Deutschen Bundestages nach Berlin hat die rot-grüne Koalition das 44 Jahre geltende Bannmeilengesetz durch das Gesetz zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes ersetzt. Zur alten Regelung ergeben sich nicht geringe Unterschiede. Die bis 1999 geltenden Regelungen beinhalteten gesetzestechnisch ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, das heißt, ob Demonstrationen innerhalb der befriedeten Bezirke zulässig waren, war letztlich eine Ermessensentscheidung im Einzelfall. Dass die Ausübung dieses Ermessens niemals willkürlich oder unverhältnismäßig sein darf und dass Ermessensentscheidungen auch gerichtlich überprüft werden konnten und können, ist selbstverständlich. Mit dem neuen Gesetz wurde ab 1999 das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt durch einen schlichten Genehmigungsvorbehalt ersetzt. Das heißt, jedermann und jedwede Organisation haben nun einen Rechtsanspruch darauf, auch innerhalb befriedeter Bezirke zu demonstrieren. Wir haben kein Ermessen mehr; es besteht ein klarer, im Zweifel einklagbarer Rechtsanspruch. Außerdem wurden die Sanktionsmöglichkeiten geändert. Aus dem Straftatbestand der Bannkreisverletzung wurde eine bloße Ordnungswidrigkeit. Dies begegnet ernst zu nehmenden Bedenken. Ganz sicher war man sich im Übrigen seiner Sache wohl nicht, denn man hat das neue Gesetz ja seinerzeit mit einer auflösenden Befristung zum 30. Juni 2003 und einer regelmäßigen Berichtspflicht des Bundesministers des Innern vor dem Deutschen Bundestag versehen. Diesem Bericht des Bundesinnenministeriums entnehmen wir gerne, dass unter der neuen Rechtslage keine Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit von Verfassungsorganen des Bundes eingetreten sind. Diese positive Bilanz nehmen wir selbstverständlich zur Kenntnis. Wir, die CDU und die CSU, entnehmen dem Bericht des Bundesinnenministers aber auch, dass das neue Gesetz innerhalb des Berichtszeitraums noch keine Bewährungsprobe zu bestehen hatte, da - ich zitiere aus dem Bericht des Bundesinnenministers -: ... nicht kontrollierbare Massenversammlungen... im Berichtszeitraum nicht eingetreten sind. Das neue Recht war also Belastungen, wie es sie etwa zu Bonner Zeiten durchaus gegeben hatte, noch nicht ausgesetzt. So begegnet die Aussage, Herr Kollege Wiefelspütz, es habe sich bewährt, durchaus gewissen Zweifeln. ({3}) Dass Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, nicht ganz frei von Zweifeln sind, zeigt im Übrigen ein Blick in Ihre eigene Gesetzesbegründung, nach der Sie an der Berichtspflicht generell festhalten wollen. ({4}) Im vorletzten Absatz des allgemeinen Teils der Begründung schreiben Sie: Es soll aber sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber in diesem sensiblen Bereich der Abwägung zwischen dem notwendigen Schutz der Arbeitsund Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane und dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit über die nötige rechtstatsächliche Erkenntnisgrundlage für die Kontrolle und gegebenenfalls die Fortentwicklung und Anpassung des geltenden Rechts verfügt. ({5}) Zu Beginn einer Legislaturperiode ist es damit dem Gesetzgeber möglich, die bisherige Praxis zu bewerten und zu prüfen, ob die Sonderregelung für den Schutz der Verfassungsorgane des Bundes neben dem der Versammlungsfreiheit weiter bestehen muss oder wegfallen kann. ({6}) Offensichtlich sind also auch bei Rot-Grün durchaus gewisse Zweifel vorhanden. ({7}) Zu diesen Zweifeln, die in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommen, passt es allerdings nicht, dass Sie heuer die Befristung, unter der das Gesetz bisher stand, gänzlich aufheben. Wir halten es für sachgerecht, die am 30. Juni dieses Jahres auflösende Befristung des Gesetzes um weitere vier Jahre, bis zum 30. Juni 2007, zu verlängern. Damit wäre Gelegenheit, mit dem derzeitigen Gesetz weitere Erfahrungen zu sammeln, gegebenenfalls auch dann, wenn das Gesetz Belastungen ausgesetzt sein sollte, ({8}) Thomas Strobl ({9}) die bis jetzt - Gott sei Dank - nicht eingetreten sind. Das Gesetz könnte sich dann aber jedenfalls wirklich bewähren. Noch eine Bemerkung am Rande. Alle, inzwischen auch die Bundesregierung, reden von Bürokratieabbau und Entbürokratisierung. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auch von der Befristung von Gesetzen geredet. Hier haben wir nun ein Gesetz mit einer Befristung, die Sie jedoch, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ({10}) mit Ihrem heutigen Gesetzentwurf gerade abschaffen wollen. ({11}) Das passt nicht ganz in diesen Zusammenhang. Wir wollen als CDU/CSU ganz pragmatisch und ohne jede Ideologie, ({12}) die die Angelegenheit im Übrigen auch nicht verdient, dem geltenden Gesetz die Chance geben, sich tatsächlich zu bewähren. Wir wollen weiter Erfahrungen sammeln. Dann wäre der Deutsche Bundestag in vier Jahren aufgefordert, aufgrund der gemachten Erfahrungen erneut zu beraten und zu entscheiden. Wir halten dies unter allen Gesichtspunkten für eine sachgerechte Lösung. Deswegen haben wir entsprechende Anträge im 1. Ausschuss und im Innenausschuss eingebracht und bringen diese Anträge heute auch hier im Plenum ein und bitten um Zustimmung. Besten Dank für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Christian Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Wenn man die Vertreter der CDU/CSU im Ausschuss und auch hier reden hört, dann hat man immer ein bisschen den Eindruck, Demonstrationen würden eigentlich als etwas Störendes empfunden. Ich sage Ihnen als Vertreter einer Fraktion und einer Partei, die auch aus Bewegungen, Demonstrationen und Meinungskundgaben auf der Straße entstanden ist, dass Demonstrationen und Meinungskundgaben auf öffentlichen Plätzen und Straßen in einer Demokratie dazugehören ({1}) wie die Luft zum Atmen für die Menschen. ({2}) Deshalb ist es auch richtig, logisch und nachvollziehbar, dass die Beatmung des Parlaments, des wichtigsten Organs in der Demokratie, auch aus der Nähe stattfinden können muss, das heißt auch in unmittelbarer Umgebung des Reichstagsgebäudes bzw. des Bundestages. ({3}) Deshalb waren und sind wir eigentlich der Meinung, dass eine Bannmeile um ein Parlament, um den Deutschen Bundestag, überflüssig ist ({4}) und dass wir uns durchaus einreihen könnten in die alten Demokratien, ob USA, England, Frankreich oder andere, die so etwas gar nicht kennen. Man kann beispielsweise auf den Stufen des Kapitols demonstrieren; daran stört sich keiner. In London und in Paris ist es genauso. Wir haben immer dafür gefochten, dass das auch in Deutschland möglich ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Ströbele, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, wenn es der Sache und der Wahrheitsfindung dient.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das weiß man vorher nie.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Frage dient der Sache und der Erkenntnisfindung. Herr Kollege Ströbele, ich kann das, was Sie sagen, ja unterschreiben. ({0}) Aber sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass es auch in einer Demokratie und in demokratischen Prozessen Grenzen geben muss, an denen man sein eigenes Bewusstsein schärfen und mit deren Hilfe man seine Entwicklung voranbringen kann? Sie sind doch selbst ein gutes Beispiel dafür; denn gerade aufgrund dieser Grenzen, die Sie in Ihrer Jugendzeit erfahren haben, sind Sie dahin gekommen, wo Sie heute stehen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Schauerte, Sie verkennen mich völlig. ({0}) Ich halte Demonstrationen nach wie vor für ein ganz wichtiges demokratisches Mittel zur Willensbildung. ({1}) Ich bemühe mich, an fast allen Demonstrationen in Berlin teilzunehmen. Ich lasse nur die eine oder andere Demonstration aus, wie etwa Demonstrationen, die mit Traktoren und mit Lastwagen durchgeführt werden. Ich bin der Meinung, dass man sich in dieser Beziehung nicht verändern, sondern dass man seinen Idealen treu bleiben sollte. Deshalb sage ich: Ich demonstriere weiter für die politischen Ziele, für die ich einstehe. Es gibt hin und wieder Demonstrationen, für deren Ziele ich nicht eintrete und an denen ich deshalb nicht teilnehme. Aber bei den meisten kann ich meine Überzeugungen sehr gut wiederfinden. Es ist doch nicht so, wie immer wieder dargestellt wird, dass öffentliche Einrichtungen wie Parlament, Bundeskanzleramt und Bundespräsidentenvilla schutzlos sind. Es gibt ein Versammlungsgesetz und ein Polizeigesetz, nach denen ein polizeilicher Schutz selbstverständlich immer möglich ist, wenn von Demonstrationen eine Gefährdung ausgeht. Dieser Punkt wird oft übersehen. Verhältnisse wie in London, Washington und Paris wären ohne Bannmeilengesetz und auch ohne dieses vorliegende Gesetz auch in Berlin möglich. ({2}) Wir haben uns auf dieses Gesetz geeinigt, weil wir der Meinung sind, dass es unseren Vorstellungen sehr weit entgegenkommt. Es hat in der Tat nur ganz wenige Ausnahmen gegeben - ich komme gleich auf eine, die ich bedauere -, wo Demonstrationen in Reichstagsnähe nicht stattfinden konnten. Ansonsten fanden an dieser Stelle Hunderte von Demonstrationen statt. Das war gut, belebend und richtig, selbst wenn der eine oder die andere den jeweiligen Parolen nicht zustimmen wollte. Das Gesetz hat sich also tatsächlich bewährt. Aber ich will gar nicht darum herumreden - der Kollege Wiefelspütz hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass wir uns zunächst für eine weitere Befristung mit dem Ziel eingesetzt haben, irgendwann dieses Gesetz endgültig streichen zu können. Dafür gab es bei uns eine ganze Reihe von Befürwortern; ich habe auch dazu gehört. Der Kollege Wiefelspütz hat dann angefangen, mich zu überzeugen. ({3}) Aber letztlich haben Sie von der CDU/CSU mich überzeugt, weil Sie eine Befristung des Gesetzes wollen, um das alte, einschränkende - ich sage einmal: demokratietheoretisch sehr bedenkliche - Bannmeilengesetz wieder einzuführen. Das hat mich davon überzeugt - so denkt auch meine Fraktion -, dass wir auf keinen Fall befristen dürfen; denn dieses Risiko, dass das Gegenteil von dem herauskommt, was wir wollen - nämlich möglichst freie Agitations- und Demonstrationsmöglichkeiten auch in Reichstagsnähe -, dürfen wir nicht eingehen. ({4}) Wir sind deshalb gegen eine erneute Befristung. Wir wollen das Gesetz unbefristet weiterlaufen lassen. Wir wollen allerdings Berichte bekommen, wenn es Probleme geben sollte, die es in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Noch eine abschließende Bemerkung. Man hat manchmal den Eindruck, dass nicht die Polizei, nicht das Innenministerium und auch nicht das Präsidium des Bundestages Demonstrationen und Lebensäußerungen vor dem Reichstag verhindern, sondern das Gartenbauamt Tiergarten-Mitte. ({5}) Das gilt übrigens nicht nur für das Fußballspielen, sondern auch für die große Friedensdemonstration vom 15. Februar dieses Jahres, von der ich mir gewünscht hätte, dass sich die Abschlusskundgebung in die Tradition der großen Demonstrationen vor dem Reichstag - damals in Westberlin - hätte einreihen und hier vor dem Reichstag hätte stattfinden können. ({6}) Das war aus Gründen des Rasens und anderer formaler Gründe angeblich nicht möglich. Sie musste ein paar Meter von hier entfernt auf der Straße des 17. Juni stattfinden. Ich bin dafür, dass solche Demonstrationen wie übrigens auch die Abschlusskundgebung des Kirchentages, wie ich gehört habe, sehr wohl vor dem Deutschen Reichstag ihren Platz haben. Hier soll zu allen wichtigen Gelegenheiten demonstriert werden. Auch andere Lebensäußerungen wie beispielsweise Fußballspielen sollen hier stattfinden können. Ich meine, es ist für diesen Reichstag eine Zierde, wenn man vor dem Reichstag tummelnde, liegende, sich unterhaltende, Volleyball oder Fußball spielende Menschen bei schönem Wetter erleben kann. Das ist eine gute Tradition. Die haben wir hier eingeführt und die sollten wir fortsetzen. Die sollten wir uns auch nicht vom Bezirksamt Berlin-Mitte, das für Tiergarten zuständig ist, verderben lassen. Deshalb sind wir dafür, das neue Gesetz unbeschränkt gelten zu lassen. Den Antrag auf Befristung werden wir ablehnen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Wiefelspütz hat es schon angekündigt: Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf zustimmen. ({0}) Das haben wir im Jahre 1999 nicht getan; denn wir hatten Bedenken. Ich finde, es ehrt einen, wenn man sagt, dass sich die Bedenken nicht bewahrheitet haben. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich bin sogar froh, dass sie sich nicht bewahrheitet haben. Wir waren offen und haben einen Schritt hin auf die Menschen gemacht. Wir haben ihnen Vertrauen entgegengebracht. Heute müssen wir feststellen: Die Menschen haben dieses Vertrauen gerechtfertigt. Das erfreulichste Ergebnis der heutigen Debatte ist für mich, dass wir das feststellen können. Es haben sehr viel mehr Demonstrationen stattgefunden als in Bonn. Die Demonstrationen sind sehr viel näher am Parlamentsgebäude gewesen als in Bonn. Wir müssen feststellen, dass wir in der ganzen Zeit nie in unserer Arbeitsfähigkeit - von wenigen Ausnahmefällen zu Beginn abgesehen, als die Zugänge zum Gebäude noch nicht so vielfältig waren wie heute - beeinträchtigt worden sind. Deshalb sind beide Ziele zu erreichen: auf der einen Seite die Möglichkeit zu demonstrieren, die ganz selbstverständlich zu einer Demokratie gehört, und auf der anderen Seite die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Ich verstehe nicht ganz, warum die CDU/CSU eine neue Befristung will. Denn das bedeutet ja, dass das jetzige Gesetz weiter gilt. Das insinuiert auch, dass man der Auffassung ist, dass dieses Gesetz, so wie es im Augenblick besteht, offensichtlich den Anforderungen gerecht wird. Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass beispielsweise aufgrund einer anderen Entwicklung der Demonstrationskultur reagiert werden müsste, dann müssen wir unabhängig davon, ob ein befristetes oder ein unbefristetes Gesetz gilt, selbstverständlich die entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen treffen. Wir als FDP werden dafür sorgen, dass sie getroffen werden, weil für uns die Funktionsfähigkeit des Parlaments ein hohes Gut ist. Ich denke, dass wir nach dem Erfahrungshorizont, den wir jetzt haben, klar sagen können: Das neue Gesetz kann unbefristet gelten. Ich hoffe, dass die vernünftige Praxis, die sich eingespielt hat, dazu beiträgt, dass wir weiter viele friedliche Demonstrationen sehen und das Parlament trotzdem vernünftig tagen kann. Zum Schluss will ich einen Aspekt ansprechen, der mich eigentlich am meisten freut. Wir hatten bei der Bannmeilenregelung eine sehr starre Regelung, die beispielsweise auch dann galt, wenn der Bundestag gar nicht tagte. Dass wir das heute anders handhaben, halte ich für einen ganz wesentlichen Fortschritt. ({1}) Von daher wiederhole ich: Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf zustimmen und dafür sorgen, dass wir eine endgültige Regelung haben. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/970? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der CDU/ CSU abgelehnt worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 15/969, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 26. März 2003 zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien, der Republik Estland, der Republik Lettland, der Republik Litauen, Rumäniens, der Slowakischen Republik und der Republik Slowenien - Drucksache 15/906 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Beitritt der sieben europäischen Demokratien Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien zur NATO ist ein weiterer großer Schritt auf dem Weg zu einem ungeteilten und freien Europa, zu mehr Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum und zu einer gestärkten NATO. ({0}) Die Öffnung des Bündnisses nach Osten und Südosten Europas und die Erweiterung der Europäischen Union waren die historischen, politisch einzig richtigen Antworten auf die Jahrzehnte der Teilung Europas, auf Krieg und Zerstörung auf unserem Kontinent. Die Festigung und Erweiterung des europäischen Stabilitätsraumes war und ist immer noch zwingende Konsequenz sowohl der veränderten europäischen Situation selbst als auch der Entwicklung und der neuen Herausforderungen in der Welt der Globalisierung. Der Beitritt dieser neuen Mitglieder im nächsten Jahr wird die Allianz stärken; er wird die Fähigkeit der NATO verbessern, die veränderten Herausforderungen zu meistern. Das setzt allerdings voraus, dass die neuen Mitglieder die Reformbemühungen der vergangenen Jahre auch nach dem Beitritt fortsetzen; dazu haben sie sich verpflichtet. Wir, die Bundesregierung, werden unsererseits alles tun, um, wie bisher, die sieben eingeladenen Kandidaten und auch die drei Aspiranten Albanien, Kroatien und Mazedonien bilateral konkret bei der Vorbereitung auf die NATO-Mitgliedschaft zu unterstützen - zum Beispiel durch Ausbildungshilfe, Materialhilfe und militärpolitische Konsultationen. Deutschland gehörte vor wenigen Jahren aus guten Gründen zu den politischen Vorreitern einer Öffnung der Allianz für Polen, Tschechien und Ungarn. Als Land in der Mitte Europas werden wir auch von der zweiten Beitrittsrunde in besonderer Weise profitieren. Deshalb wollen wir eine zügige Ratifizierung der NATO-Beitrittsprotokolle. Denn das ist auch ein wichtiges politisches Signal an unsere europäischen Nachbarn. ({1}) Natürlich bringt der Beitritt von gleich sieben Staaten besondere Herausforderungen für das Bündnis mit sich. Aber die Öffnung des Bündnisses für die neuen Demokratien im Osten Europas war von Anfang an Teil einer ehrgeizigen Agenda, mit der wir das Bündnis politisch und militärisch auf das 21. Jahrhundert ausrichten wollen. Neue Fähigkeiten und neue Mitglieder machen seit dem NATO-Gipfel 1999 im Kern die Transformation der Allianz zu einem Bündnis mit Zukunft aus. Deshalb ist es so wichtig, dass die NATO die auf dem Gipfel in Prag im vergangenen November getroffenen Entscheidungen zur Anpassung an die neuen Bedrohungen und Konfliktlagen konsequent umsetzt. Diese gehen über die dort getroffene Entscheidung zur Einladung neuer Mitglieder hinaus. Ich spreche von der neuen Fähigkeitsinitiative von Prag, durch die die NATO in die Lage versetzt wird, mit den komplexen Gefährdungen und Bedrohungen, wo immer sie ihren Ursprung haben, besser fertig zu werden. Ich meine auch die Erarbeitung einer neuen NATOKommandostruktur bis zum Juni 2003, die ganz wichtig ist, um Effizienz, Wirkungsmöglichkeiten und politische Kohärenz des Bündnisses trotz Erweiterung zu erhalten. Natürlich denke ich auch an die Schaffung der NATO-Response-Force, der multinationalen Eingreiftruppe mit schneller Verfügbarkeit, für die bereits 2004 eine erste Einsatzfähigkeit bestehen soll. Sie wird Effizienz und Glaubwürdigkeit der Allianz in einem zentralen Punkt erhöhen und die Transformation der Allianz zu einem Bündnis untermauern, das rasch handeln kann, wo immer die Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten betroffen sind. Diese Transformation des Bündnisses ist noch lange nicht abgeschlossen, wir sind aber auf gutem Wege. So stellen wir sicher, dass die NATO als die zentrale Sicherheitsinstitution der euro-atlantischen Demokratien auch weiterhin ihre Aufgabe erfüllen wird. Es gibt keine Alternative zu einer handlungsfähigen NATO und der transatlantischen Partnerschaft demokratischer Staaten. Es gibt keine Alternative zu einem Bündnis, das einen einzigartigen transatlantischen Konsultationsrahmen für gemeinsame Analysen und gemeinsames Handeln bietet. Das sage ich deutlich in Richtung derjenigen, die gelegentlich ernsthafte Debatten zwischen Bündnismitgliedern zum Anlass nehmen, den Niedergang der nordatlantischen Allianz zu prophezeien. ({2}) Wenn dem so wäre, dann frage ich: Warum hat die NATO auch unter den neuen Bedingungen unserer Sicherheit wiederholt ihre besonderen Fähigkeiten für wirksame Krisenreaktionen unter Beweis gestellt: in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Mazedonien, im Kampf gegen den Terror? Bald schon wird sie es auch stärker in Afghanistan tun. Wenn dem so wäre, frage ich: Warum hat die NATO bis heute ihre Attraktivität für neue Mitglieder nicht verloren? Fest steht doch: Gemeinsame Werte, gemeinsame Interessen und gemeinsame Geschichte befreundeter und verbündeter Staaten führen nicht automatisch zur identischen Beurteilung konkreter politischer Fragen. Gemeinsames Handeln muss immer wieder im Dialog und in der Diskussion zwischen souveränen Staaten abgestimmt werden. Die Irakerfahrung hat das bestätigt. Fest steht aber auch: Die NATO hat weder als Bündnis gemeinsamer Verteidigung und gegenseitigen Beistands noch als Forum umfassender Krisen- und Konfliktverhütung und -bewältigung ausgedient, ganz im Gegenteil. Ich bin davon überzeugt, dass die NATO der Zukunft noch stärker in der Lage sein wird, die Interessen ihrer Mitglieder dort zu verteidigen, wo sie wirklich gefährdet sind, noch besser ihre militärischen Fähigkeiten auf der Grundlage eines umfassenden Sicherheitsverständnisses an die neuen Bedrohungen anpasst und noch mehr bereit und in der Lage sein wird, mit anderen Sicherheitsorganisationen, insbesondere mit einer handlungsfähigeren Europäischen Union, zu kooperieren. Dieses Bild der NATO schließt ein: Wer ein starkes transatlantisches Bündnis will, der muss den europäischen Pfeiler, der muss Europa stärken. ({3}) Die von uns angestrebte strategische Partnerschaft zwischen NATO und Europäischer Union ist der einzige Weg, wie ein starkes Amerika und ein neues und stärkeres Europa konstruktiv zusammenwirken können, um ihre gemeinsamen Ziele bestmöglich zu erreichen. Die Bundesregierung ist zum umfassenden Engagement in der NATO und der Europäischen Union bereit; das haben wir in den vergangenen Monaten und Jahren mehr als deutlich unter Beweis gestellt. ({4}) Dafür spricht nicht nur unser politisches Handeln, sondern auch das Engagement von mehr als 100 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die seit 1998 zusammen mit Verbündeten und Partnern an internationalen Einsätzen teilgenommen haben. ({5}) Ihren Bemerkungen, Herr Nolting, entnehme ich, dass Sie Ihren Zwischenruf wieder zurücknehmen. Dafür sprechen auch die konkreten und weit reichenden Reformanstrengungen, mit denen wir die Bundeswehr auf die neue Sicherheitslage und die veränderten Verpflichtungen innerhalb von NATO und Europäischer Union ausrichten. Noch in diesem Monat werde ich erstmals nach über zehn Jahren wieder verteidigungspolitische Richtlinien erlassen. Sie bilden die konzeptionelle Grundlage für die erforderliche Anpassung der Bundeswehr an grundlegend veränderte Bedingungen und Risiken und an die fortentwickelte NATO-Strategie. Die verteidigungspolitischen Richtlinien werden verdeutlichen: Die Bundeswehr wird konsequent mit Blick auf die wahrscheinlichsten Aufgaben im Bereich der internationalen Krisenbewältigung umgestaltet. ({6}) Die herkömmliche Landesverteidigung kann nicht mehr vorrangig die Strukturen und Fähigkeiten der Bundeswehr bestimmen. Die erhöhten Anforderungen im internationalen Einsatz verlangen für die Bundeswehr zwingend ein verändertes Fähigkeitsprofil und einen teilstreitkraftübergreifenden Gesamtansatz für Beschaffung und Ausrüstung. Deshalb überprüfen wir alle Rüstungsvorhaben konsequent mit Blick auf die künftigen militärischen Erfordernisse. Wichtige Entscheidungen hierzu habe ich bereits Ende letzten Jahres getroffen. Weitere werden auf der Grundlage der verteidigungspolitischen Richtlinien in Kürze folgen. Deutschlands Platz, so hat es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vor wenigen Wochen am 3. April formuliert, ist bei der Durchsetzung von Frieden und Sicherheit in der Staatengemeinschaft, in unseren Bündnissen und vor allem in Europa. Deshalb unterstützen wir den Beitritt weiterer Demokratien zur NATO. Deshalb tun wir alles, um die Bundeswehr als leistungsfähiges Instrument unserer Außenpolitik für den multinationalen Einsatz zusammen mit unseren Verbündeten und Partnern zu erhalten. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das meiste dessen, was der Herr Bundesminister Struck zur NATO und zum Prozess der Erweiterung gesagt hat, können wir nur unterstreichen. ({0}) Aber eines können wir, wenn wir diese schönen Sonntagsreden hören, nicht nachvollziehen, nämlich warum so wenig konkret für die Kraft und Ausstrahlung der NATO getan wird. ({1}) CDU und CSU begrüßen, dass die Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Estland, Lettland und Litauen als neue NATO-Mitglieder zu uns stoßen. Aus diktatorisch regierten Ländern sind Demokratien geworden, aus Feinden Freunde. Die Erweiterung der NATO erhöht die Stabilität in Europa in einer instabilen und gefährlichen Welt. Wir als CDU/CSU sind stolz darauf, dass der erste, der das Thema der Öffnung des Bündnisses auf die internationale Tagesordnung gebracht hat, und zwar bereits vor zehn Jahren, Verteidigungsminister Volker Rühe gewesen ist. Der ganze Prozess der NATO-Erweiterung ist mit den Namen Kohl und Rühe verbunden. Wir freuen uns, dass dieser Prozess jetzt, wenn auch nicht zum Endpunkt, so doch zu einer ganz wichtigen Weichenstellung gekommen ist. ({2}) In der ersten Erweiterungsrunde haben die Europäer konzeptionell vorgedacht und als Fürsprecher der Mittelund Osteuropäer in Amerika gewirkt. Sie haben die Amerikaner überzeugt, die am Anfang sehr skeptisch waren. In der zweiten Runde war es leider umgekehrt: In der zweiten Runde haben die Europäer konzeptionell quasi gar nichts gemacht, sondern gewartet, wie man sich in Washington entscheidet. Deshalb wird auch die jetzige NATO-Erweiterung in den Ländern Mittel- und Osteuropas nicht den Deutschen und den anderen europäischen Staaten zugerechnet. Vielmehr richtet sich der Dank dieser Staaten in erster Linie an Amerika. Ich finde es schade, dass wir uns in dieser ureigensten europäischen Frage, nämlich der Integration Mittel- und Osteuropas in das Atlantische Bündnis nicht selbst engagiert und konzeptionell vorgedacht haben sowie als Fürsprecher dieser Länder aufgetreten sind. Dann hätten wir mehr europäisches Gewicht; davon reden doch immer alle. Warum hat man diese große Chance verpasst? ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Wochen und Monaten viel über den Frieden am Golf gesprochen, der uns allen am Herzen lag und liegt. Die Bundesregierung hat allerdings nicht viel dazu beigetragen, den Frieden in dieser Region zu erhalten. Sie hat sich auf eine Achse der Wirkungslosigkeit mit Frankreich und Russland eingelassen. Auf diese Weise hat sie zum Frieden nicht wirklich etwas beigetragen. Was sie damit in den letzten Monaten aber leider bewirkt hat, ist die Spaltung von EU und NATO. EU und NATO sind heute, nach den Problemen, Sorgen und Konflikten der letzten sechs Monate, schwächer denn je. Das gefährdet den Frieden auch bei uns; denn EU und NATO sind die beiden Institutionen, die über fünf Jahrzehnte hinweg den Frieden bei uns garantiert und zu einer Stabilisierung beigetragen haben. ({4}) Was sind die Gründe für diesen Besorgnis erregenden Bedeutungsverlust? Joseph Nye, der als ein hoher Berater der Clinton-Regierung wirklich nicht im Verdacht steht, ein Fan von George Bush zu sein, sagte am 23. April in einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Deutschland hat seine Politik in der Vergangenheit ja immer auf zwei Beine gestellt: auf ein atlantisches und auf ein europäisches. Die Regierung Schröder hat im vergangenen Jahr offenkundig entschieden, das eine Bein wegzuhauen. Das ist neu. ({5}) Das, was Joseph Nye sagt, trifft genau den Kern des Problems. Alle Kanzler, von Adenauer über Brandt und Schmidt bis zu Kohl, haben immer eine Balance zwischen der Orientierung auf das atlantische Bündnis und auf Europa gefunden. Wir als Deutsche haben es immer als unsere Aufgabe in Europa verstanden, nicht zu gaullistisch zu sein, wie man das nannte, und nicht zu atlantisch zu werden, die Briten davon abzuhalten, sich zu eng an Amerika zu binden und die europäische Orientierung zu vernachlässigen und die Franzosen davon abzubringen, Europa als Gegengewicht zu Amerika organisieren zu wollen. Diese wichtige Funktion, die verschiedenen Positionen zusammenzuführen, wie Kohl, Schmidt und Adenauer es immer wieder erfolgreich gemacht haben, die eine gemeinsame europäische Position formuliert haben, die dann durch ihr Gewicht die Chance hatte, in Amerika gehört zu werden, haben wir in dieser Situation nicht wahrgenommen. Wir haben die anderen Länder nicht zusammengeführt. Im Gegenteil: Deutschland war durch seine Vierer-Gipfel und seine Dreier-Achsen der Spaltpilz der Allianz und der Europäischen Union. Diese Art der Politik hat uns in Europa geschwächt und nicht gestärkt. ({6}) Die Bildung der Dreier-Achse, der Versuch, sich mit Russland und Frankreich auf höchster Ebene zum wiederholten Mal zu treffen, um die Politik zu bestimmen und Deklarationen zu verabschieden, hat gerade in Mittel- und Osteuropa große Ängste wiederbelebt. Gestern war eine polnische Delegation unter Vorsitz des polnischen Europaausschussvorsitzenden Oleksy bei mir zu Gast, deren Mitglieder bestimmt keine Christdemokraten und ganz bestimmt keine besonderen Freunde der Bush-Regierung waren. Die Delegationsmitglieder haben mir gesagt, eine solche Achsenbildung zwischen Deutschland und Russland über ihre Köpfe hinweg würde in ganz Mittel- und Osteuropa die alten Ängste wiederbeleben. Die drei Teilungen Polens liegen tief in der polnischen Seele. Warum hat man in so unseliger Weise in den letzten Wochen und Monaten immer wieder daran angeknüpft? ({7}) Vor allem aber sagen die Mittel- und Osteuropäer sehr deutlich, dass sie sich nicht zwischen Europa und Amerika entscheiden wollen müssen. Sie haben uns aufgefordert, ihnen zu helfen, dass sie sich durch solche Achsenbildungen nicht öffentlich gegen Amerika und Spanien positionieren müssen, dass sie sich nicht entscheiden müssen. Sie wollen das, was wir Deutschen über 50 Jahre hinweg gemacht haben, nämlich europäische und atlantische Orientierung in der Balance halten. Der zentrale Fehler der Aufgabe der Balance ist bei dem Vierer-Gipfel vor wenigen Tagen in Brüssel wiederholt worden. Natürlich ist es legitim und notwendig, die europäische Verteidigung auszubauen. ({8}) Natürlich ist es notwendig und über das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit auch möglich, dass einige Länder bei einzelnen Fragen in Europa zunächst einmal voranpreschen und andere einladen, ihnen zu folgen. ({9}) Auf diesem Gebiet war das aber in der Tat nicht notwendig; denn wir haben bereits eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine Militärkommission, also ein permanentes Sicherheitskomitee, und eine entsprechende Bürokratie. Wir bauen an einer Eingreiftruppe, die noch in diesem Jahr voll einsatzfähig sein soll. Warum wird in der jetzigen Situation ein solcher Vierer-Gipfel durchgeführt? Warum soll etwas Neues geschaffen werden, obwohl das Alte immer noch nur ein Papiertiger ist? Warum wird die bestehende ESVP nicht gestärkt? Es kommt nicht auf neue Hauptquartiere und die 173. Deklaration und Willenserklärung an, sondern darauf, dass die Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik endlich militärische Fähigkeiten in die Hand bekommt. Dann, und nicht durch solche Absichtsbekundungen und Spaltergipfel, können wir als Europäer mitsprechen. ({10}) Spanien und Italien fühlten sich ausgeschlossen. Ich war in der letzten Woche bei der spanischen Außenministerin, Frau Palacio. Sie sagte: Natürlich können sich vier Länder treffen. Sie sollen aber bitte nicht den Anspruch erheben, für Europa zu sprechen. Damit bin ich beim nächsten Problem: Ich freue mich über die Wiederbelebung der deutsch-französischen Zusammenarbeit. ({11}) Ich freue mich darüber, dass der Motor wieder läuft. Es wäre aber noch besser, wenn das Auto, in dem sich dieser Motor befindet, in die richtige Richtung fahren würde, nämlich in eine Richtung, durch die Europa zusammengeführt, die kleinen Ländern ernst genommen und nicht der untaugliche Versuch unternommen wird, ein Gegengewicht zu Amerika aufzubauen. ({12}) In dem Kommuniqué von Brüssel wird viermal von der Notwendigkeit geredet, den A400M, das große Transportflugzeug, zu bauen. Es liegt ein wenig der Verdacht nahe, dass man den mangelnden Fortschritt in der Substanz mit viel Gerede verdecken will. Das ist übrigens das Grundproblem Ihrer Außenpolitik: Neue Institutionen werden geschaffen, neue Erklärungen abgegeben und zum zigsten Mal wird über den A400M geredet. Wir wollen endlich davon wegkommen, immer neue Papiertiger und Papierflieger zu produzieren. Wir wollen endlich Fortschritte in der Substanz sehen. ({13}) Was können wir in Zukunft besser machen? Ich glaube, wenn wir es in den nächsten Monaten besser machen und wieder Vertrauen schaffen wollen - das liegt in unser aller Interesse -, dann wird es mit das Wichtigste sein, endlich wieder mit und nicht über Amerika zu sprechen. Wir müssen endlich - auch auf der höchsten Ebene - wieder direkt miteinander kommunizieren. Seit Sommer des letzten Jahres hat es auf der höchsten Ebene, nämlich zwischen Bush und Schröder, nur ein einziges zehnminütiges Telefonat und nur einen einzigen zehnsekündigen Händedruck gegeben. Das reicht nicht. Dass der Kontakt zwischen einem amerikanischen Präsidenten und einem Bundeskanzler so schlecht ist, hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nie gegeben. Man redet von mehr Europa und einem größeren deutschen Gewicht und sagt, dass man mehr Profil zeigen möchte. Um das zu erreichen, muss man damit anfangen, dafür zu arbeiten, wieder einen direkten Draht zum Präsidenten der größten Macht, nämlich Amerika, zu haben. Das haben Sie sträflich vernachlässigt. Das ist der eigentliche Fehler, der zu unserer Gewichtslosigkeit in den letzten Wochen und Monaten geführt hat. ({14}) Ich finde es gut, dass Herr Struck nach Amerika geflogen ist und Herrn Rumsfeld getroffen. Das war ein erster und wichtiger Schritt. Ich finde es aber ein wenig komisch, dass das jetzt als Weltsensation behandelt wird. Früher hat sich kein Mensch dafür interessiert, wenn ein deutscher Verteidigungsminister nach Amerika geflogen ist. Jetzt wird jede Miene auf die Goldwaage gelegt: Ist Herr Rumsfeld freundlich oder ist er kühl? Dauert das Gespräch 20 oder 25 Minuten? Sind Fotografen zugelassen? Die Bundesregierung fragt sich: Wird Herr Powell freundlich genug sein? Wird er auch den Bundeskanzler sehen? Wie lange wird er ihn sehen? Danach wird darüber berichtet. Ich finde das ziemlich würdelos. ({15}) Sie müssen in Amerika jetzt darum baggern, endlich wieder ernst genommen zu werden. Momentan wird es im öffentlichen Ansehen keine Emanzipation geben. Im Gegenteil: Es kommt zu einem Hinterherlaufen, damit man endlich wieder ins Gespräch kommt. Nicht die eindrucksvolle Reise von Frau Merkel, die in einer schwierigen Zeit Gesprächskontakte in Amerika aufrechterhalten hat, sondern Ihr Verhalten ist würdelos und anbiedernd. ({16}) Das sollten Sie ändern. Beim Thema Irak sollten Sie nicht die alten Fehler der Vorfestlegung wiederholen. Herr Struck und Herr Fischer, ich lese Ihnen jetzt einmal die Agenturmeldungen der letzten Tage vor: 7. Mai: Deutschland lehnt Beteiligung an Irakfriedenstruppe ab, dpa. 8. Mai: Struck für Prüfung eines NATO-Einsatzes im Irak. 9. Mai, 8.35 Uhr: SPD bereitet Bundeswehreinsatz im Irak vor. 9. Mai, 10.58 Uhr: Laut Struck gibt es keine konkreten Pläne. Wir möchten gerne wissen, wie Sie sich vorstellen, dass und unter welchen Umständen sich deutsche Soldaten beteiligen sollen. Wir möchten Sie bitten, mit diesen dauernden Vorfestlegungen endlich aufzuhören. Gehen Sie doch einmal offen in die Gespräche mit der amerikanischen Administration! Wir schlagen ein UNO-Mandat mit der NATO als Auftragnehmer der UNO vor. Zusammen mit einigen arabischen Staaten könnte eine Art NATO plus als Schutztruppe im Irak gebildet werden. Das hat zwei Vorteile: Es befriedigt den amerikanischen und britischen Wunsch nach einer starken eigenen Präsenz. Aber es schafft gleichzeitig eine Multinationalität. Versuchen wir doch einmal, konstruktiv in diese Richtung zu arbeiten und uns nicht sofort jedes Einflusses dadurch zu berauben, indem wir erklären: Am Wiederaufbau beteiligen wir uns nicht und wir schicken keine Soldaten in diese Region, wie es Frau Wieczorek-Zeul gesagt hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Pflüger, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen keine Beteiligung an einem „Kolonialregime“, wie es der Kollege Nachtwei formuliert hat. ({0}) Hören Sie endlich mit Ihren Vorfestlegungen auf! Hören Sie auf, über andere zu reden, sondern reden Sie mit ihnen! Finden Sie eine gemeinsame europäische Position! Unsere Bitte ist: Hören Sie mit den Vierer-Gipfeln und den Dreier-Achsen auf! Wenn Sie das berücksichtigen, dann werden wir auch Europa wieder stärken können. Dann brauchen wir uns auch nicht länger über die angebliche Dominanz Amerikas zu beschweren und daran herumzukritteln, sondern dann können wir endlich etwas Konkretes für die europäische Stärke und das europäische Profil als Pfeiler in der Allianz tun. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludger Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Pflüger, ich hatte den Eindruck, dass Sie sich vor allen Dingen an Ihrer eigenen Rhetorik berauscht haben. ({0}) Ich möchte nun versuchen, einen Maßstab zu setzen, um beurteilen zu können, welch großer historischer Fortschritt in dem heutigen Tag liegt, an dem wir die Osterweiterung der NATO im Deutschen Bundestag ratifizieren werden. Erinnern wir uns, was der erste NATO-Generalsekretär als Aufgabe der NATO beschrieb: Die NATO dient dazu, die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drinnen zu halten und die Deutschen unten zu halten. Das war damals die Aufgabe. Was ist aus der Aufgabe geworden, die Russen draußen zu halten? Diese Aufgabe ist heute so überflüssig, wie sie in der Geschichte noch nie war. Die Russen sind Partner geworden und werden bald Freunde sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch Russland und die Ukraine über den bestehenden NATORussland-Pakt und den NATO-Ukraine-Pakt hinaus in einer erneuten Erweiterungsrunde noch enger an die NATO gebunden werden. ({1}) Wir haben nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes über die Zukunft der NATO geredet. Dabei standen sich zwei Perspektiven gegenüber: Die einen sprachen von einem System kollektiver Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok, organisiert über die OSZE. Ich gebe zu, dass dies die Lieblingsvorstellung meiner Partei war. Anderen - das war teilweise der Hintergrund der Politik von Herrn Rühe - ging es darum, die NATO als hegemoniale Struktur gegenüber dem zusammengebrochenen Osten aufzubauen. Das haben wir damals kritisiert. Zum Glück hat sich in der Realität nun eine Entwicklung ergeben, die man als Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen ansehen kann, nämlich eine Öffnung der NATO, ergänzt um die beiden eben von mir erwähnten Pakte. Wir werden daher ein System kooperativer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok erreichen, wenn auch nicht auf Basis der OSZE. Aber insgesamt ist dies ein enormer Fortschritt, den wir begrüßen. Deshalb werden wir dieser Erweiterung zustimmen. Die zweite Dimension: die Amerikaner drinnen zu halten. Das ist nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Wir haben ein Interesse daran - bei allen Streitigkeiten in der Irakfrage -, dass die amerikanische Seite in Europa präsent bleibt und dass die NATO eine tragfähige Grundlage für die zukünftige Gestaltung des transatlantischen Verhältnisses bleibt. Wir sagen aber auch: Die NATO alleine reicht nicht mehr aus. Wir brauchen neue Dimensionen der transatlantischen Agenda, etwa was die globale Verantwortung angeht. Stichworte sind: KiotoProtokoll, Internationaler Strafgerichtshof. Auch auf diesen Ebenen müssen wir unseren Dialog mit den Vereinigten Staaten weiterführen und vertiefen. Grundlage ist und bleibt aber die nordatlantische Gemeinschaft im Rahmen der Sicherheitspolitik. Wenn wir dies wollen, müssen wir bestimmte Ansprüche an Partnerschaft stellen. Partnerschaft im Rahmen des transatlantischen Bündnisses kann nicht bedeuten, dass ein Staat oder eine kleine Staatengruppe unilateral Interessen definiert und quasi fordert, dass die anderen Bündnispartner dem folgen, unabhängig davon, ob das deren verfassungsrechtliche Lage möglich macht bzw. von ihrer Interpretation des Völkerrechts gedeckt ist. ({2}) Ich glaube, das war das eigentliche Problem, Herr Pflüger. Daran aber haben Sie vorbeigeredet. Es ging nicht um Imponiergehabe gegenüber den Vereinigten Staaten; es ging darum, in einer Situation zugespitzter politischer Entscheidungen einzuklagen, dass die Europäer Partner sind in einer Allianz und sie sich nicht ohne weiteres hegemonialen Wünschen, die völkerrechtlich zumindest fragwürdig sind, anschließen oder gar unterwerfen können. Verfassungsrechtlich war das für uns unmöglich zu akzeptieren. ({3}) Damit komme ich zur dritten Dimension, die Ismay seinerzeit definiert hat: Deutschland unten halten. Dass dies heute keine Zielsetzung mehr sein kann, liegt auf der Hand. Aber aus dem neuen Selbstbewusstsein und der wiedergewonnenen Souveränität leiten wir jetzt nicht etwa Großmachtsansprüche ab. Vielmehr haben wir gesagt: Souveränität und Selbstbewusstsein sind immer mit der Selbsteinbindung in internationale Zusammenhänge und mit der Selbstbeschränkung verbunden. Wenn wir über Selbsteinbindung reden, reden wir gleichermaßen über die NATO wie über die Europäische Union und die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität. Diese beiden Pole auszutarieren wird immerwährende Aufgabe deutscher Außenpolitik sein. Wenn die Bundesregierung im Fall des Irakkrieges eine kritische Position gegenüber der aktuellen Politik der amerikanischen Administration bezogen hat, dann heißt dies nicht, dass die Stärkung des europäischen Pfeilers gegen die USA gerichtet ist. Es heißt nur, dass die Europäer dabei sind, genau das Selbstbewusstsein zu entwickeln, das wir im transatlantischen Bündnis - als zweiten Pfeiler neben dem amerikanischen - brauchen. Ich finde, die Politik der Bundesregierung war hier sehr gelungen. ({4}) Selbstbeschränkung als eine Prämisse unserer Sicherheitspolitik bedeutet auch: Obwohl wir einer der kräftigsten europäischen Staaten sind, sollten wir nicht versuchen, die anderen zu dominieren. Deshalb haben wir ein großes Interesse daran, dass auch kleinere und, vordergründig gesehen, schwächere Staaten Mitglied der Allianz werden. Sie verdienen, genauso konsultiert zu werden und in ihren Sicherheitsansprüchen ernst genommen zu werden, wie wir dies für uns im transatlantischen Verhältnis gegenüber den Vereinigten Staaten fordern. In den letzten Tagen gab es eine Diskussion über den polnischen Vorschlag. Wir haben diesen Vorschlag abgelehnt. Aber das Gefühl der Polen, das dahintersteht, können wir sehr gut nachvollziehen. Wir kennen die polnische Geschichte, wir kennen die polnische Sicht, wir kennen die polnischen Befürchtungen - und wir haben großes Verständnis dafür, dass Polen, welches von seinen großen Nachbarn in der Vergangenheit nicht nur bedroht, sondern okkupiert und geteilt wurde, seine Sicherheitsperspektive insbesondere jenseits des Atlantiks sieht. Das sehen wir ohne großen Argwohn. Wir sind aber genauso sicher, dass im Zuge des dialogischen und partnerschaftlichen Prozesses innerhalb der NATO diese alten, historisch gewachsenen Vorbehalte langsam, aber sicher verschwinden ({5}) und dass wir mit unseren östlichen Nachbarn eine genauso tiefe Freundschaft werden eingehen können, wie das heute mit unseren westlichen Nachbarn der Fall ist. Deshalb begrüßen wir auch, dass der Bundeskanzler im Weimarer Dreieck nun mit Frankreich und Polen zusammen versucht, die Differenzen der Vergangenheit zu klären und einen Ansatz zu finden, der eine deutsch-polnische Freundschaft neben die deutsch-französische setzt. Beide werden nicht gegen die USA gerichtet sein, sondern werden versuchen, den europäischen Pfeiler im Rahmen eines freundschaftlichen Verhältnisses mit den Vereinigten Staaten zu kräftigen. Danke. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Werner Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Volmer, das waren eben schon fast versöhnliche Worte in Richtung Polen. ({0}) Das hat in den letzten Tagen aus der Richtung der Bundesregierung und der Koalition teilweise anders geklungen. Ich finde es gut, dass man hier nicht nur sensibler an das Thema herangeht, sondern dass man auch die Möglichkeiten offen auslotet, die vielleicht in diesem Vorschlag stecken können. Denn dieser Vorschlag könnte möglicherweise den Weg zurück zu einer Stärkung der Rolle der NATO weisen, deren Bild, Herr Bundesverteidigungsminister, in der Realität nicht ganz so schön aussieht, wie Sie es eben gemalt haben. Das war eine wirklich tolle NATO-Rede, aber die Realität der gegenwärtigen NATO sieht ein bisschen anders aus. Jedenfalls ist die FDP-Fraktion ausgesprochen glücklich darüber, dass wir nun über die Aufnahme von sieben neuen Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa entscheiden können. Wir sind auch der Auffassung, dass wir das Ratifikationsverfahren schnell über die Bühne bringen können. Das wäre ein gutes Signal. Es muss auch wieder das Signal von Deutschland ausgehen, dass wir uns als Anwalt der neuen und insbesondere der kleinen neuen Mitgliedstaaten verstehen. Da ist in der letzten Zeit einiges zu Bruch gegangen. Man hatte den Eindruck, dass Deutschland lieber Machtpolitik mit den Großen betreibt, anstatt die Ausgleichsrolle wahrzunehmen, die Deutschland traditionell sowohl in der Europäischen Union als auch in der NATO und erst recht im Hinblick auf die Osterweiterung wahrzunehmen hat. ({1}) Es kommen nun Länder hinzu, für die die NATO noch vor wenigen Jahren geradezu der propagierte Feind war. Dennoch war die NATO für viele Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs immer der offenbar unerreichbar erscheinende Raum der Freiheit. Gemeinsam mit der bevorstehenden großen Erweiterungsrunde der EU ist die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht nur ein historischer, sondern auch ein tektonischer Schritt, weil sich damit dramatische Verschiebungen innerhalb der politischen Geografie Europas vollziehen. Zwei bislang getrennte Teile Europas wachsen zusammen. Dass diese tektonischen Verschiebungen so harmonisch und jetzt fast geräuschlos über die Bühne gehen können, verdanken wir nicht zuletzt der Tatsache, dass es mittlerweile eine funktionierende vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Russland und der Ukraine gibt. Das heißt, dass das besondere Problem des Verhältnisses der früher dem sowjetischen Machtbereich zuzurechnenden neuen NATO-Mitglieder zu Russland gelöst ist. Das ist ein großer Fortschritt, der vor fünf oder acht Jahren noch nicht als selbstverständlich genommen werden konnte. Allen, die dazu beigetragen haben, gilt großer Dank. ({2}) Gleichzeitig ist die Aufnahme der neuen Mitglieder in die NATO ein entscheidender Schritt zur Stabilisierung der betroffenen Länder selber. Diese Länder haben den Beitritt zur NATO nicht geschenkt bekommen. Sie mussten sich in erheblichem Umfang darum bemühen, die Voraussetzungen für eine NATO-Mitgliedschaft zu erfüllen. Sie hatten mit der Aufnahme in die NATO ein Ziel vor Augen, das es ihnen erleichtert, wenn nicht sogar erst ermöglicht hat, viele dieser manchmal schmerzhaften Reformschritte zu unternehmen. Es war der amerikanische Sicherheitsschirm, der gewünscht wurde und der deswegen auch die Prioritäten bestimmt hat. Wie können wir es den Beitrittsländern eigentlich übel nehmen, dass sie bei der Abwägung zwischen EU und NATO diese Priorität gesetzt haben? Nach den Erfahrungen im größten Teil des letzten Jahrhunderts musste für die neuen NATO-Länder die Frage im Vordergrund stehen: Wie können wir verhindern, jemals wieder in eine solche Abhängigkeit wie zuvor zu geraten? Da war der Blick auf den Hühnerhaufen, den die Europäische Union bisweilen abgegeben hat, nicht unbedingt ermutigend im Vergleich zu dem, was die NATO an solider Sicherheit zu bieten hat. ({3}) Auch deswegen bin ich der Auffassung, dass wir auf die Polen offen zugehen sollten und nicht die Debatte führen sollten, ob eine mögliche Annahme des polnischen Vorschlages uns in die Situation führt, dass wir nachträglich etwas legitimieren, was wir damals nicht für richtig gehalten haben. Wer sich zu lange mit der Debatte über die Legitimität früherer Entscheidungen aufhält, könnte möglicherweise die Zukunftsgestaltung verschlafen. Das hielte ich für einen großen Fehler. ({4}) Es ist höchste Zeit, dass Gräben zugeschüttet werden, die nicht zuletzt durch den Brief der acht Regierungschefs und durch die einseitigen Entscheidungen einzelner Regierungen innerhalb der EU und der NATO - einschließlich der Bundesregierung - aufgerissen worden sind. Ich fürchte aber, dass wir demnächst wieder in eine ähnliche Situation geraten werden, wenn es nicht gelingt, strittige Fragen auf europäischer Ebene rechtzeitig zu klären. Das Gelingen dieser Aufgabe hat weniger mit unserem Verhältnis zu den USA als mit Europa selbst zu tun. Nur wenn die Menschen in Mittel- und Osteuropa davon überzeugt sind, dass die Europäische Union nicht nur ein Garant für Wohlstand ist, sondern auch für Sicherheit, werden sie die Europäische Union in vollem Umfang als politische Union annehmen und sich in Sicherheitsfragen im Zweifel nicht nur Hilfe heischend an Washington wenden, sondern vielleicht auch an Brüssel denken. Eines ist klar: Die NATO ist heute leider nicht mehr der Bezugsrahmen, in dem die Abstimmung und Umsetzung transatlantischer Sicherheitsinteressen automatisch stattfindet. Die Ursachen dafür liegen bei Fehlern auf beiden Seiten des Atlantiks. Sie liegen darin, dass in der NATO in den vergangenen Jahren versäumt worden ist, eine gemeinsame Strategiedebatte zu führen und unsere Sicherheitsinteressen und deren Umsetzung gemeinsam zu definieren. Fakt bleibt, dass die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Supermacht heute nicht mehr auf die NATO, sondern auf einzelne NATO-Verbündete zurückgreifen, wenn sie nach Partnern für die Definition und vor allem die Umsetzung von Sicherheitsinteressen suchen. ({5}) Dabei spielen die neuen NATO-Staaten bisweilen eine wichtigere Rolle als manche der alten, aber den entscheidenden Handlungsrahmen bildet eben nicht mehr die NATO selbst. Wir haben ein nachhaltiges Interesse, das wieder zu ändern. ({6}) Denn so unproblematisch das aus Sicht der Beitrittsstaaten erscheinen mag, so stellt es für die bisherigen Mitgliedstaaten der NATO ein großes Problem dar, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist es ausgesprochen unbefriedigend, wenn - wie nach dem 11. September 2001 - erst der Bündnisfall festgestellt wird - übrigens zum ersten Mal in der Geschichte der NATO -, aber anschließend der NATO überhaupt keine Rolle mehr zugewiesen wird. Zweitens ist es sehr wichtig, den Beitrittsländern jetzt zu verdeutlichen, dass auch die EU eine immer stärkere Sicherheitsdimension entwickelt, die nicht als Alternative oder gar Konkurrenz zur NATO wahrgenommen wird, sondern als Vorhaben, mit dem wir als Europäer gemeinsam den europäischen Pfeiler der NATO stärken wollen. Nur wenn wir die neuen EU- und NATO-Mitglieder davon überzeugen, dass diese europäische Sicherheitsdimension einen wirklichen Mehrwert bringt, werden wir mit diesem Projekt Erfolg haben. Es ist aber sicherlich nicht hilfreich, mit dem Zeigefinger auf die neuen Mitgliedstaaten der NATO in Mittel- und Osteuropa zu zeigen. Nach Jahren der sowjetischen Dominanz reagieren diese Länder ausgesprochen sensibel auf jeglichen Anschein einer Bevormundung durch andere. ({7}) - Nein, die Bundesregierung hat sich durch die Aufgabe ihrer Mittlerfunktion zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich und zwischen den großen und den kleinen Staaten unglücklicherweise in die Situation gebracht, dass sie mit in die Haftung genommen wird für das, was zum Beispiel der französische Staatspräsident durch seine rhetorischen Fehlleistungen gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten zuwege gebracht hat. ({8}) Meine Damen und Herren, wir haben eine riesige Chance, die wir nutzen sollten. Wir sollten unsere mittelund osteuropäischen Partner in der NATO und demnächst auch in der Europäischen Union von Herzen willkommen heißen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Herr Außenminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die transatlantischen Beziehungen sind ein Eckpfeiler für Frieden und Stabilität in der Welt des 21. Jahrhunderts, und zwar nicht nur für die globale Sicherheit, sondern auch für die regionale Sicherheit. Wir würden, wenn die Präsenz der USA in Europa nicht mehr gegeben wäre, sofort feststellen, dass dies vor allen Dingen unser Land betrifft. Das gilt aber auch für viele andere Regionen. Ob es um Konflikte in Süd- und Ostasien, um den Konflikt zwischen Indien und Pakistan, um Konflikte in Afrika oder um die Zukunft des Nahen Ostens und insbesondere um die Friedensperspektive im israelisch-arabischen Konflikt geht, all dies ist ohne die Macht der USA nicht zu lösen. Deswegen führt - das ist von entscheidender Bedeutung, wie auch die heutige Debatte deutlich macht - kein Weg an einer Neudefinition der Beziehungen zu den USA, die die wichtigsten sind, die wir außerhalb Europas haben, auf der Grundlage dieser Basiserkenntnis vorbei - das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle anderen europäischen Länder, ob große oder kleine, ob Frankreich, Großbritannien oder Polen. Wir müssen auf dieser Grundlage eine realistische Bestandsaufnahme vornehmen. Die Erweiterung wird Europa sicherer machen. Das gilt auch - das ist im Zusammenhang zu sehen - für die Europäische Union. Das Kabinett hat in seiner letzten Sitzung die Zuleitung der Entwürfe der Ratifikationsgesetze beschlossen. Das Zusammenwachsen Europas - das erleben wir doch täglich auch beim Zusammenwachsen der beiden deutschen Teile - wird Zeit und Verständnis erfordern. Schließlich müssen unterschiedliche Lebenserfahrungen, Perspektiven und Horizonte im wahrsten Sinne des Wortes erst zusammenwachsen. Das bedarf mehr eines organischen Prozesses als einer politischen Entscheidung. Aber ich bin mir sicher, dass das vereinte Europa Realität werden wird, und zwar auf der Grundlage der transatlantischen Beziehungen und der europäischen Integration. Von entscheidender Bedeutung dafür ist allerdings das Verständnis, das wir füreinander aufbringen, und auch, dass wir endlich mit Realismus an eine Neudefinition der Beziehungen zu den USA herangehen. Herr Kollege Hoyer, an dem Punkt, an dem es in der Diskussion spannend wurde, haben Sie aus für mich nachvollziehbaren Gründen aufgehört. Aber die entscheidende Frage ist, was geschehen soll, wenn die NATO den Bündnisfall nach Art. 5 des Nordatlantikvertrags erklärt. Damit komme ich auf die Essentials der Neubestimmung zu sprechen. Dabei müssen wir nicht über weniger Amerika, sondern über mehr Europa diskutieren, wie der Bundeskanzler völlig zu Recht gesagt hat. ({0}) Ich finde das Bild des Pfeilers sehr gut. Was ist die Aufgabe eines Pfeilers? Ein Pfeiler lenkt den Druck ab und stabilisiert damit die tragenden Teile einer Brücke, ja er ermöglicht erst das Überbrücken. Das heißt aber, dass ein Pfeiler ein solides Fundament haben muss. Wenn wir vom europäischen Pfeiler sprechen, dann müssen wir uns also fragen, ob heute tatsächlich die Pfeilerfähigkeit gegeben ist. Das ist eine Frage der militärischen Fähigkeiten, der Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen und der europäischen Willensbildung. Bei all diesen drei Elementen gibt es entscheidende europäische Defizite, egal wo man hinschaut. Solange diese Defizite existieren, können wir zwar die Pfeilerfähigkeit reklamieren, aber wir werden keinen belastbaren europäischen Pfeiler haben. Damit komme ich zu meiner Grundthese. Ein schwaches Europa, das die Pfeilerfähigkeit unter den neuen internationalen Bedingungen des 21. Jahrhunderts faktisch nicht hat, wird die transatlantischen Beziehungen meines Erachtens eher belasten - um nicht zu sagen: gefährden als ein starkes Europa. ({1}) - Hören Sie auf! Das ist überhaupt keine Oppositionsanalyse. Wenn ich Herrn Pflüger richtig verstanden habe, dann hat er das Gegenteil gesagt. Die Position der Bundesregierung ist immer gewesen - das ist die erste Priorität -: Wir wollen einen europäischen Pfeiler innerhalb der NATO. Dann - so konsequent muss man sein - stellt sich auch die Frage nach einem europäischen Element in der NATO. Bisher galt das Tabu: Es darf in der NATO keinen europäischen Caucus, also keine europäische Gruppenbildung geben. ({2}) Über diese Frage müssen wir - das tun wir bereits - mit unseren amerikanischen Partnern ernsthaft diskutieren; denn sonst wird über die Frage der europäischen Pfeilerbildung mehr und mehr außerhalb Europas diskutiert werden. Das hat zumindest die Diskussion in der Europäischen Union klar gemacht. Die Erfahrungen bei dem Gymnich-Treffen und dem Treffen in Griechenland, genauer: auf Rhodos, wo die 25 Mitgliedstaaten der erweiterten Europäischen Union erstmals zusammengekommen sind, waren hervorragend. Ich war zunächst eher skeptisch, ob eine so große Runde in der Praxis arbeitsfähig ist. Ich kann Ihnen an diesem Punkt berichten: Es lief hervorragend. Auch was die Substanz der Diskussion angeht, war es eine sehr wohltuende Erfahrung. Das alles macht doch klar, dass es keinen Gegensatz zwischen der Stärkung des europäischen Pfeilers, der Stärkung der europäischen Integration und der transatlantischen Beziehungen und ihrer Neugestaltung gibt. ({3}) - Ach, nein. Was Sie zum Beispiel über die Viererinitiative gesagt haben, teile ich nicht. Verhofstadt hat bereits vor einem Jahr einen Brief geschrieben, der in diese Richtung ging. Der Europäische Konvent arbeitet jetzt und genau darauf zielte diese Initiative. Ganz entscheidend sind natürlich nicht nur die gemeinsame Außenpolitik und ihre institutionelle Umsetzung, sondern auch der Ausbau der entsprechenden Fähigkeiten. Dieser Gipfel hat der Diskussion einen Stoß in die richtige Richtung gegeben. ({4}) Von dem, was Sie, Herr Kollege Pflüger, hier dargestellt haben, habe zumindest ich in den europäischen Gremien - ich war sowohl im Rat als auch beim Gymnich-Treffen nichts gehört. Wenn wir eine positive Entwicklung der Beziehungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wollen, dann müssen wir die Fähigkeiten stärken, die uns Europäer in die Lage versetzen, in Zukunft - anders als auf dem Balkan in den 90er-Jahren - alle internen europäischen Sicherheitsprobleme selbst zu lösen. Das ist von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus müssen wir in unserem strategischen Umfeld dazu beitragen können, dass Sicherheit und Stabilität langfristig geschaffen werden können. Unsere Erfahrungen mit den langfristigen Stabilisierungsbemühungen in Afghanistan, aber auch auf dem Balkan werden dazu wesentlich beitragen. Außerdem müssen wir die Fähigkeiten entwickeln, im transatlantischen Bündnis des 21. Jahrhunderts wirklich Partner zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, werden wir - der Kollege Struck hat darauf hingewiesen - vieles auf den Prüfstand stellen müssen. Die Militärausgaben der EUStaaten machen zusammengerechnet 60 Prozent des Militärbudgets der Vereinigten Staaten aus; der Output liegt allerdings bei nur 10 Prozent. Der Grund dafür besteht darin, dass die Betriebsgrößen heutzutage schlicht und einfach „unterkritisch“ sind; jeder europäische Staat, ob groß, ob klein, hat faktisch eine eigene Armee. Das Ergebnis ist entsprechend. Eine Verbesserung der Fähigkeiten Europas wird nur über mehr Integration möglich sein. ({5}) Über das, was ich angesprochen habe, werden wir verstärkt diskutieren müssen. Die Erweiterung der Europäischen Union und die Erweiterung der NATO werden Europa mehr Sicherheit und mehr Stabilität bringen. Man wird mehr Verständnis füreinander aufbringen und mehr aufeinander zugehen müssen. Bis der Prozess der notwendigen äußeren Integration tatsächlich zu einem größeren Verständnis untereinander geführt hat, wird einige Zeit vergehen. Das größer gewordene Europa muss den politischen Willen, die Institutionen und die Fähigkeiten haben, die zur transatlantischen Partnerschaft gehören. Das ist nicht nur für Frieden und Stabilität in Europa, sondern auch in der Welt von entscheidender Bedeutung. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Zeitung stand etwas Bemerkenswertes: „Struck auf USFriedenstour“. Wer den entsprechenden Artikel genau las, der spürte: Es geht nicht um Frieden, sondern darum, dass ein Bundesminister nach Amerika reist, um außenpolitisches Porzellan, das von Ihnen, Herr Außenminister, und vom Bundeskanzler zerschlagen wurde, zusammenzukehren. So weit sind wir in diesem Land gekommen. Glückwunsch! ({0}) Es ist in der Tat bezeichnend, wie viel Aufmerksamkeit ein normaler Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik heute erregt. Herr Außenminister, auch Ihr schönstes Lächeln und auch die schönsten staatsmännischen Reden können nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis zwischen US-Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder irreparabel zerstört ist. Das wird Ihnen in Washington überall bestätigt. Es ist ja in Ordnung, dass der Bundeskanzler in Wladimir Putin einen neuen Freund gefunden hat und Dr. Karl A. Lamers ({1}) sich mit ihm in Moskau und Sankt Petersburg an russischen Kaminen wärmt. ({2}) Aber klug wäre es, Herr Erler, sich nicht die Freundschaft seines bisher verlässlichsten Partners zu verscherzen, der USA, eines Landes, das bisher stets Garant unserer Sicherheit gewesen ist. Setzen Sie, Herr Minister, dies nicht aufs Spiel! ({3}) Zu guter Politik gehört auch handwerkliches Können, gehört Sensibilität, gehört Fingerspitzengefühl - wenn Sie verstehen, was ich meine. ({4}) All das spreche ich dieser Bundesregierung in hohem Maße ab. Selbst wenn Sie dann einmal etwas Richtiges tun, nämlich die Außen- und Sicherheitspolitik vertiefen, erweitern und ausbauen, schaffen Sie es, die gute Sache in Misskredit zu bringen. Ich denke an den Vierergipfel in Brüssel - ohne Großbritannien, ohne die Niederlande, ohne andere. Wer sich in diesen Tagen mit den Kolleginnen und Kollegen der Parlamentarischen Versammlung der NATO unterhält, zum Beispiel mit meinem Freund Markus Meckel, der erfährt, dass viele irritiert sind, dass viele misstrauisch sind: die Briten, die Amerikaner, die Italiener, die Spanier. Herr Minister Fischer, da ist auch von Ihrer Seite Vertrauen, das Grundkapital eines jeden Bündnisses, zerstört worden. Damit muss Schluss sein. Vor allem muss jetzt wieder Verlässlichkeit bewiesen werden. ({5}) Die französische Verteidigungsministerin hat in diesen Tagen in Berlin mehr Dialog zwischen den Europäern gefordert. Ich sage: Recht hat sie. Wir brauchen nicht eine Einladung an vier nach Brüssel, sondern an alle 15, um die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzubauen. Was wir vor allem brauchen, sind ein Neubeginn und die Wiederaufnahme eines vertrauensvollen Dialogs mit Amerika. Dies ist der Schlüssel zu einer guten Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Zu erwähnen ist gerade auch das, was Condoleezza Rice, die Sie, Herr Minister Struck, am Montag getroffen haben, gesagt hat. Sie hat scharfe Kritik an Deutschland und Frankreich geübt, weil beide Länder - so wörtlich während der Irakkrise die NATO als Geisel genommen haben. ({6}) Ich finde es nicht tröstlich, Herr Minister Fischer, dass sie dann noch hinzugefügt hat, Frankreich und Deutschland blieben aber doch Verbündete. Wir waren einmal Freunde. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. ({7}) Diese Aussage spricht noch nicht dafür, dass Tauwetter eingesetzt hat. Wir brauchen wieder ein vertrauensvolles Miteinander. Wir stehen vor der zweiten Erweiterungsrunde. Wir haben die Öffnung der NATO immer gewollt. Wer sich die Landkarte Europas anschaut, der sieht, wie entscheidend sie sich verändert hat. Insbesondere sieht man das am Beitritt der baltischen Staaten, von Ländern also, die über Jahrzehnte von der Sowjetunion einverleibt waren. Wir heißen alle Beitrittsländer herzlich willkommen. Die Erweiterung erhöht die Stabilität in ganz Europa. Sie verbessert die Fähigkeit der gesamten Allianz, neuen Bedrohungen zu begegnen. Die Öffnung der NATO richtet sich gegen niemanden. Partnership for Peace ist auch in Zukunft der Weg in die NATO. Die Tür bleibt auch in Zukunft offen. In fünf Jahren zehn neue Mitglieder - das zeigt uns, welch weiten Weg die Reformstaaten bei den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Reformen hin zu Demokratie zurückgelegt haben. Sie sind heute nicht nur Kooperationspartner; sie sind echte Bündnispartner. Wo früher Gegner standen, stehen heute Freunde, die sich gegenseitig helfen und unterstützen. Diese Länder haben ihre Chance genutzt. Die Menschen in diesen Ländern wollen Demokratie. Sie wollen Marktwirtschaft und echten Frieden. Eines muss uns aber immer klar sein: Diese Länder spüren auch - Herr Minister Fischer, jetzt spreche ich gerade Sie an -, wo letztlich ihre Sicherheit liegt, wer ihnen Sicherheit gibt: Amerika und die NATO. Wenn sich diese Länder wie Polen und andere in der Irakfrage hinter die USA stellen, dann ist es nicht zu akzeptieren, dass sie seitens der Europäischen Union dafür abgestraft oder gar gemaßregelt werden. ({8}) Ich fordere weniger Arroganz und mehr Bescheidenheit, mehr Achtung diesen Ländern gegenüber. ({9}) EU und NATO sind für diese Länder kein Entwederoder. ({10}) Gerade vor dem Hintergrund ihrer leidvollen Geschichte sind wir gut beraten, ihnen deutlich zu machen, dass sie vollwertige und gleichberechtigte Mitglieder beider Zusammenschlüsse sind oder werden. Da gibt es Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten, auf die wir achten müssen. Eine persönliche Erfahrung: Markus Meckel und ich waren vor wenigen Tagen in Georgien. Gerade in einem solchen Land mit großen inneren und äußeren Problemen, das von der Geschichte nun wahrlich nicht verhätschelt wurde, spürt man, wie die Menschen in die NATO Dr. Karl A. Lamers ({11}) streben. Das zeigt uns, wie ungebrochen die Attraktivität dieses Bündnisses als Garant für Frieden und Stabilität ist. Auch das Beispiel Balkan zeigt doch: Nicht die UNSchutztruppe konnte den Krieg stoppen, nein, es war die NATO, die die blutigen Kämpfe, das Morden und andere Verbrechen beendet hat. Erst die NATO hat den Wiederaufbau der zerstörten Landschaften ermöglicht. ({12}) Meine Damen und Herren, die Bedrohungen der heutigen Zeit sind andere und gravierendere, als sie noch 1989/1990 bestanden. Ich denke an die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und durch Massenvernichtungswaffen, an die Destabilisierung durch zusammenbrechende Staaten. Gerade dieses Ausmaß der Bedrohung zeigt uns, dass Europa und Deutschland heute allein überhaupt keine Chance haben, sondern dass wir diese Bedrohungen nur Seite an Seite mit den Freunden in Amerika bewältigen können. Das ist gerade auch am heutigen Tag eine wichtige Grundaussage. ({13}) Das Bündnis braucht eine gemeinsame Bedrohungsanalyse. Wir müssen uns darüber einig werden, mit welchen militärischen Strukturen und Fähigkeiten wir unsere Bürger schützen wollen. Die französische Verteidigungsministerin spricht von echter Partnerschaft. Herr Minister Fischer, echte Partnerschaft mit Amerika kann nicht dadurch verwirklicht werden, dass man nur Reden hält und große Beschlüsse verabschiedet, sondern nur dadurch, dass man endlich etwas tut. Die Amerikaner sind es nämlich leid, Ihre Bekundungen bezüglich Gemeinsamkeiten und einem konstruktiven Miteinander entgegenzunehmen. Sie wollen endlich sehen, was Sie konkret leisten, investieren und zur Verfügung stellen. Es reicht vor diesem Hintergrund eben auch nicht aus, wenn der Herr Bundesminister Struck immer wieder immer mehr Geld für die Bundeswehr fordert - da hat er unsere volle Unterstützung -, der Bundeskanzler ihm aber sagt, dass er vielleicht ab 2006 damit rechnen könne. Das ist ein Jahr, in dem er hoffentlich gar nicht mehr an der Regierung ist. ({14}) Er sollte lieber etwas tun, solange er es noch machen kann. ({15}) Also Schluss mit Absichtserklärungen! Jetzt muss investiert werden, um glaubwürdig zu sein. Bevor Sie auf irgendwelchen Gipfeln neue Beschlüsse fassen, tun Sie doch erst einmal das, wozu Sie sich bereits verpflichtet haben, zum Beispiel die Anforderungen des European Headline Goal erfüllen und den Verpflichtungen vom NATO-Gipfel 1999 und denen von Prag aus dem Jahr 2002 nachkommen. Da ist noch viel zu tun. Reden Sie nicht, handeln Sie! So lautet meine Forderung. ({16}) Ich fordere Sie auf: Machen Sie Schluss mit den reinen Sonntagsreden, Herr Minister! Stellen Sie vielmehr mit Schritten der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens die nordatlantische Solidarität wieder her! Das ist das Wichtigste. Statt an Achsenbildungen mitzuwirken, ({17}) sollte die Bundesregierung lieber an unserer besonderen Sicherheitspartnerschaft mit den USA festhalten und in das Fundament der brüchig gewordenen transatlantischen Brücke wieder neuen Zement in Form von Vertrauen und Verlässlichkeit gießen. Darauf kommt es an. ({18}) Wir, CDU und CSU, sind selbstverständlich für die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO, aber nicht auf Kosten der atlantischen Bündnissolidarität. NATO und EU dürfen nicht zu Konkurrenten in Sachen Sicherheit in Europa und in der Welt werden. Nur gemeinsam haben wir die Chance, die Aufgaben der Zukunft zu lösen. Ich danke Ihnen. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel, SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Lamers, eines kann man ganz sicher sagen: Ihr letzter Satz stimmt. ({0}) Über vieles andere müssen wir diskutieren; das will ich aber nicht hier an dieser Stelle machen. Ich will vielmehr auf den langen Diskussionsprozess innerhalb der NATO in den letzten zwölf Jahren eingehen. Wir sind heute an einem wichtigen Punkt angekommen. Noch vor zwei Jahren wäre das so einfach und so klar nicht gewesen. Man könnte einmal die verschiedenen damaligen Positionen auch in den Reihen der heutigen Opposition über das, was damals für möglich und nicht für möglich gehalten wurde, darstellen. Ich denke, es ist ein großer Erfolg, dass jetzt eine größere Zahl von Staaten mit der NATO Verhandlungen geführt hat, als es vor zwei Jahren Konsens war. Vor zwei Jahren war es Konsens, nur zwei Staaten aufzunehmen. Wir haben es geschafft, dass jetzt sieben Staaten Mitglieder werden. Dies ist ein großer Erfolg. Ich freue mich, dass einige Kollegen, Herr Panajotov und Herr Iltschev aus Bulgarien, die oft mit Bangen verfolgt haben, was wir in der NATO miteinander diskutieren, dieser Debatte beiwohnen. ({1}) Diese Diskussion war nicht einfach. Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir auch vor der Frage stehen - damit komme ich auf das Verhältnis von NATO und EU zurück -: Wie soll es weitergehen? Eben ist die Frage der offenen Tür, künftiger Erweiterungen und mannigfaltiger Wünsche angesprochen worden. Es sind noch fünf Staaten in der Mitte Europas, die eine Integrationsperspektive haben wollen: Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und Montenegro, Mazedonien und Albanien. Wir sollten ein Interesse daran haben, dass die Mitgliedschaft in der EU und in der NATO möglichst kongruent ist. Das mag nicht für jeden gelten; aber diese Kongruenz sollte uns, soweit sie möglich ist, bei der Perspektive auf eine neue Mitgliedschaft ausgesprochen wichtig sein. ({2}) Wir werden in Zukunft eine intensive Diskussion über die Frage miteinander führen müssen: In welchen Fällen wollen wir Staaten eine Mitgliedsperspektive geben und in welchen Fällen wollen wir unsere Nachbarschaftsverhältnisse so gestalten, wie es im Verhältnis zu Russland und zur Ukraine geschieht? Hier ist schon der Wunsch etwa Georgiens angesprochen worden, Mitglied zu werden. Wir alle sollten diesen Wunsch in dem Sinne akzeptieren, dass die Länder damit ihre innere Perspektive, die politische Entwicklung stabil halten wollen, dass sie ihre Westbindung deutlich machen wollen, dass sie Sicherheit suchen, die auch durch die Integrationsperspektive und die Kooperation mit dem Westen besteht. Ob dies unmittelbar in eine Mitgliedsperspektive mündet, darüber werden wir miteinander diskutieren müssen. Ich denke, dass wir jedenfalls die Kooperation in jedem Sinne verstärken und deutlich machen sollten, dass wir unsere zukünftigen EU-Nachbarn im Blick haben und die Integration entsprechend weiter ausbauen wollen. Die NATO hat sich deutlich gewandelt. Manchmal hat man den Eindruck, dass Kandidaten, die ihren Mitgliedswunsch äußern, vielleicht sogar Kandidaten, die jetzt Mitglied werden, in eine NATO wollen, wie sie vor zehn Jahren war, die also in erster Linie Schutz bedeutet. Diese Länder müssen erst einmal lernen, was es eigentlich heißt, sowohl in der NATO als auch in der Europäischen Union ein globaler Akteur zu werden. Heute kann man nicht mehr von einer bestimmten Konstellation von Gefolgschaften, der EU oder der Amerikaner, reden. Dafür ist die NATO oft das Signum; da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Wir müssen sehen, inwieweit wir selber partnerschaftsfähig sind. Da liegt unsere zentrale Aufgabe. In diese Richtung werden unsere Bemühungen in Zukunft gehen müssen. ({3}) Der Bundesaußenminister hat schon deutlich ausgesprochen, dass die europäischen Bemühungen um eine sicherheitspolitische Gemeinsamkeit auch in der NATO manche Fragen aufgeworfen haben. Als die ersten Schritte zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegangen worden sind, hat man diese bei der Clinton-Administration zunächst skeptisch betrachtet, obwohl man zuvor immer gesagt hatte, dass die Europäer mehr Verantwortung tragen sollen. Dann hat die Clinton-Administration dies akzeptiert. Die Bush-Administration war zu Beginn wiederum skeptisch. Heute lautet die Frage: Welche Rolle spielt die NATO eigentlich für die Vereinigten Staaten? Ich glaube, erst dann wird ein Schuh daraus, wenn man fragt, worin die Bedeutung der NATO liegt. ({4}) Wir als europäische Staaten haben sicherlich ein eminentes Interesse an der NATO als sicherheitspolitischer Verbindung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten und Kanada. Wir wollen diese Beziehung gerade durch eine Stärkung des europäischen Pfeilers und durch die Zusammenführung Europas ausbauen. Das heißt natürlich auch, dass sich innerhalb der NATO die Führungsrolle verändern wird. Es wird nicht mehr nur eine Führungsnation in Gestalt der Vereinigten Staaten geben - das ist die alte NATO -, unter deren Schutz sich die anderen Staaten stellen werden. In der neuen NATO wird es eine sicherheitspolitische Beziehung zwischen Amerika und dem stärker werdenden und gemeinsam agierenden Europa, das in der NATO mit einer Stimme auftritt, geben. Wie das zu erreichen ist, wird eine spannende Frage sein. In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass die zentralen Fragen der Sicherheit in den NATO-Gremien gar nicht diskutiert wurden. Wir, die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung der NATO, haben dies allerdings getan. Im NATO-Rat hingegen sind die zentralen Fragen überhaupt nicht diskutiert worden. Beispielsweise wurde in der NATO lange nicht über die Frage diskutiert, welche Konstellation es im Zusammenhang mit dem Raketenabwehrsystem Missile Defence geben soll. ({5}) Ein weiteres Beispiel ist die Irakfrage, mit der sich die NATO selber auch nicht beschäftigt hat. Man muss Condoleezza Rice Folgendes deutlich sagen: Es waren die Vereinigten Staaten, die die NATO instrumentalisiert haben; ({6}) denn die Vereinigten Staaten - und nicht die Türkei - haben eine Verbindung zwischen dem Schutz der Türkei und eine Entsendung von amerikanischen Truppen dorthin hergestellt. Damit wurde die Kriegsvorbereitung zu einem Thema für die NATO. Dieser Instrumentalisierung haben sich einige Staaten entgegengestellt. Diesen Punkt, auf den man genau schauen muss, sollte man Frau Rice sehr deutlich machen. In der Parlamentarischen Versammlung der NATO wurde klar - das ist schon mehrfach angesprochen worMarkus Meckel den, Herr Kollege Lamers -, dass viele Fragen von denjenigen Staaten, die den Krieg für schwierig, problematisch und nicht gerechtfertigt gehalten haben, auf ein breites Interesse gestoßen sind. In vielen Gesprächen - sowohl am Rande als auch in den Plenarsitzungen - ist unsere Position akzeptiert worden, nicht zuletzt von britischen Abgeordneten und Abgeordneten anderer Länder, die sich am Irakkrieg beteiligt haben. Das Ziel der neuen Mitgliedstaaten ist - das ist völlig klar -, sich nicht von Amerika abkoppeln zu lassen. Es wird mit Recht gefordert, dass wir beispielsweise die Bindungen Polens zu Amerika akzeptieren müssen und dass wir sensibel damit umgehen sollten. Diese Forderung bedeutet keine Kritik an der Position der Bundesregierung, sondern eine Akzeptanz ihrer Politik in der Vergangenheit. ({7}) Ich denke, das wird auch das heutige Treffen in Breslau zeigen. Wir müssen deutlich machen, dass auch Polens Rolle im Hinblick auf die Gestaltung Europas anerkannt wird. Angesichts der Tatsache, dass Polen das Weimarer Dreieck stärken will, muss man sich natürlich fragen, was das bezüglich der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet. Manchmal hat man den Eindruck, dass darüber noch keine große Klarheit besteht. Wir sollten das den Polen nicht vorwerfen, sondern mit ihnen ein klärendes Gespräch suchen. Die zentrale Frage ist, wie wir als Europäer das fortsetzen, was in Brüssel am 23. April beschlossen worden ist. Wir werden beim nächsten Gipfel im Juni sehen, dass sich nicht nur vier Staaten, sondern mehrere Staaten an dieser Pressure Group beteiligen, die die europäische Integration aus sicherheitspolitischen Gründen voranbringen wollen. Auch die andernen EU-Partner werden dieses Vorgehen irgendwann unterstützen; das ist gar keine Frage. Wir sollten versuchen, diese Politik zu stärken, und wir sollten deutlich machen, dass die Sicherheit in der Welt größer wird, wenn Europa stark und damit auch das transatlantische Verhältnis gestärkt wird. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Klaus Rose für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unabhängig von der notwendigen politischen Auseinandersetzung über das Thema NATO besteht heute, so glaube ich, eine gemeinsame Freude. Es liegt uns der Entwurf eines Gesetzes über den Beitritt von neuen Staaten vor; ich werde es im Weiteren noch genauer begründen. Insgesamt höre ich nur Zustimmung und Freude darüber. Wir sollten dies auch signalisieren. ({0}) Der Gesetzentwurf, über den wir heute in erster Lesung beraten, besteht - auch das soll erwähnt werden - aus nur zwei kurzen Artikeln. Wo sonst gibt es das? Aber es geht um den Inhalt, um die Denkschrift der Bundesregierung zu den Beitrittsprotokollen. Daraus möchte ich zitieren; denn solche Worte hört man von der Bundesregierung leider sonst nicht sehr häufig. Dort heißt es, dass die Öffnung der NATO für neue Mitglieder, insbesondere die Aufnahme der genannten sieben neuen Mitglieder, einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum leisten wird. Außerdem heißt es: Als Land in der Mitte Europas wird Deutschland in besonderer Weise davon profitieren. Das ist inzwischen eine Binsenweisheit, eine allgemeine Erkenntnis. Aber es gab Jahre, in denen das völlig anders ausgedrückt wurde. Darum sollte man nochmals darauf hinweisen. Ich sehe es genauso und sah es Mitte der 90er-Jahre so, als ich als damaliger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses die Öffnung der NATO mitbegleiten durfte. Man möge mir die heutige Genugtuung verzeihen; aber damals gab es nicht bloß aus Moskau, sondern auch aus großen Teilen der damaligen Opposition Sperrfeuer. Bei so manchen Delegationsreisen und ernsten Gesprächen mit Parlamentariern aus Ländern des ehemaligen Ostblocks, die zu Besuchen in Bonn weilten, mussten wir mühsam Vertrauen schaffen, Argumente austauschen und vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, um die beitrittswilligen Länder davon zu überzeugen, dass sie in der NATO gut aufgehoben und zu Hause sind. Ich möchte das auch deshalb sagen, weil wir nicht nur darüber diskutieren sollten, was die Bundesregierung tut. Vielmehr hat auch der Deutsche Bundestag einen wichtigen Beitrag zum euro-atlantischen Prozess geleistet. Die damaligen Mitglieder des Verteidigungsausschusses, darunter der heutige Staatssekretär Walter Kolbow von der SPD oder Paul Breuer, können das alles bestätigen. Auch heute sind einige Kollegen anwesend, die damals hart mitgearbeitet haben. Mir hat zum Beispiel 1995 US-Verteidigungsminister Perry bei einem Gespräch im Pentagon gesagt, die NATO sei kein Klub, zu dessen Eintritt man einfach ein Billet kaufen könne. Die mögliche NATO-Erweiterung, so hat er gesagt, sei vielmehr als ein Reifeprozess aufzufassen, an dessen Ende von Fall zu Fall neue Beitrittskandidaten stünden. Das heißt, jetzt können wir das Reifezeugnis für zusätzliche sieben Partnerländer unterschreiben. Und das ist gut so. Ich persönlich habe all diese sieben Länder mehrfach bereist. Ich möchte ihre Namen noch einmal aufzählen: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. Ich erinnere mich an so manche schöne Begegnung, zum Beispiel bei einem Gebirgsjägerbataillon in Rumänien. Das war 1996. Dieses gute Bataillon hätte schon damals die Voraussetzungen dafür gehabt, unter dem NATO-Schirm zu stehen. Deshalb habe ich keine Sorge, dass diese Länder nicht gut in die NATO integriert werden können. Was wird sich durch die veränderte, die vergrößerte NATO neu ergeben? Natürlich muss man die Frage der Rolle der NATO immer wieder stellen. Das ist heute schon mehrfach kritisch getan worden. Bei uns muss man natürlich die Frage stellen können, was die neuen Staaten von sich aus zur kollektiven Sicherheit beitragen. Aus aktuellem Anlass möchte ich als CSU-Vertreter unseren Nachbarn Polen ansprechen - eigentlich möchte ich mich nicht an unseren Nachbarn Polen, sondern an die Bundesregierung wenden -: Anstatt sich verärgert darüber zu zeigen und beleidigt darüber zu sein, dass Polen im Irak eine größere Rolle als Deutschland spielt und Polen das deutsch-dänisch-polnische Korps ins Gespräch gebracht hat - das haben wir bekannterweise während unserer Regierungszeit gewollt und eingerichtet; jetzt hat es eine Funktion; ich finde es eigentlich schön, dass man an diese Funktion denkt -, ({1}) sollte die Bundesregierung fair vom NATO-Partner Polen sprechen. Ein Partner darf nicht folgenlos beschimpft werden. ({2}) Es passt auch nicht zusammen, dass der Parlamentarische Staatssekretär Kolbow vor kurzem bei seinem Besuch in Breslau die engen Beziehungen gepriesen und die Reformschritte der polnischen Streitkräfte gelobt hat, andere aus der Bundesregierung aber beleidigte Masken aufsetzen, nur weil sich die Polen einmal trauen, ein bisschen selbstbewusst in der modernen politischen Landschaft aufzutreten. ({3}) Natürlich muss und wird sich die NATO erneut reformieren. Sie hat sich schon oft reformiert; ich will das alles gar nicht im Einzelnen aufzählen. Sie muss vor allen Dingen in der Lage sein, größere Entfernungen zu überwinden, eine größere Flexibilität zu gewinnen und Strategiefragen zu lösen. Peter Struck hat ja bekanntlich sogar gesagt, dass die NATO und damit auch die Bundeswehr notfalls Verteidigungsmaßnahmen am Hindukusch durchführen müssten. Die Bundesregierung hat also immer den Veränderungen der NATO zugestimmt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich möchte Sie fragen, ob Sie geneigt sind, eine Zwischenfrage des gerade angesprochenen Kollegen Struck zuzulassen.

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Rose, sind Sie bereit - das nur zur Klarstellung -, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht ärgerlich war wegen der möglichen Prüfung der Frage des Einsatzes des deutsch-dänisch-polnischen Korps im Zusammenhang mit Überlegungen der NATO? Vielmehr war ich über die Art und Weise ärgerlich, wie es öffentlich vermittelt worden ist, und darüber, dass es öffentlich vermittelt worden ist, ohne dass mit der Bundesregierung oder der dänischen Regierung gesprochen worden wäre. Sind Sie, Herr Kollege Rose, ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass diese kleine Unstimmigkeit - so möchte ich es beschreiben - wirklich nichts an dem guten Verhältnis zu dem polnischen Verteidigungsminister ändern wird? ({0})

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens bin ich jederzeit bereit, etwas zur Kenntnis zu nehmen, was der Klarstellung dient. Zweitens habe ich den Namen Struck vorher nicht erwähnt; Sie haben jetzt für die Bundesregierung Stellung bezogen. Allerdings gab es andere, die etwas beleidigt reagierten. Drittens habe ich jetzt die Chance, dem ehemaligen Vizekapitän der Fußballmannschaft des Deutschen Bundestages - deren Kapitän ich war - zu sagen: So geht man partnerschaftlich miteinander um; das war eine Steilvorlage. Ich hoffe, ich habe sie richtig zurückgegeben. ({0}) Es geht also auch darum, dass wir die Rolle der NATO immer wieder neu definieren müssen. In der erwähnten Denkschrift der Bundesregierung ist ja vor allem betont worden, dass sich die NATO nicht nur als reines Verteidigungsbündnis versteht, sondern zugleich auch als eine breit angelegte transatlantische Wertegemeinschaft. Daher meine ich, zusätzliche Partner gewonnen zu haben bedeutet politische Erfüllung. Gerade auch die CSU stimmt dieser Entwicklung zu. Die neuen Partner werden noch viele Reformarbeiten leisten müssen. Sie müssen NATO-kompatibel werden. Sie dürfen nicht nur in Teilaspekten einen hohen Standard erreichen. Ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion unseren neuen Partnern viel Erfolg wünschen und unsere Unterstützung signalisieren. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Monika Heubaum, SPD-Fraktion.

Monika Heubaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002674, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir über einen wahrhaft historischen Vorgang: die anstehende Erweiterung der NATO um sieben Staaten. Um die herausragende Bedeutung dieses Ereignisses richtig einschätzen zu können, erscheint mir ein kleiner Rückblick angebracht. Am 4. April 1949 schlossen zwölf Staaten Europas und Nordamerikas in Washington den Nordatlantikvertrag mit dem Ziel, sich gegenseitig Beistand bei Angriffen von außen zu leisten und friedliche und freundschaftliche internationale Beziehungen zu entwickeln. Während des Kalten Krieges standen sich zwei Militärblöcke starr und in Konfrontation gegenüber. Das Ende des Kalten Krieges im Jahre 1990 hat die politischen Gegebenheiten fundamental verändert. Aus ehemaligen potenziellen Feinden sind Freunde und Partner geworden. Die NATO hat durch ihre Kooperation mit diesen Nationen zu dieser Entwicklung einen entscheidenden Beitrag geleistet. Der Wegfall des alten Feindbildes machte die Allianz jedoch nicht hinfällig, sondern erfüllte sie sogar mit neuem Elan. Ehemalige Ostblockstaaten wollten nun neue Mitglieder des Sicherheits- und Wertebündnisses werden. So erfolgte im März 1999 der Beitritt der drei Mitgliedstaaten Polen, Ungarn und Tschechische Republik, was aus euro-atlantischer Sicht der Stabilitäts- und Wertegemeinschaft einen enormen Zuwachs an Festigkeit und Sicherung gebracht hat. Schon zu dieser Zeit stand fest, dass die Tür für weitere Mitgliedstaaten offen bleiben muss. Damalige Befürchtungen über auftretende Probleme wie beispielsweise verstärkte Spannungen mit Russland haben sich als irreal erwiesen. Im Gegenteil: Parallel zur Öffnung der NATO für neue Mitgliedstaaten haben wir in den vergangenen Jahren schrittweise die Kooperation gerade mit Russland vorangetrieben. Insbesondere die Intensivierung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland ist ein wichtiger Faktor für Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum geworden. Das hat zu großer Akzeptanz auch in der Bevölkerung bezüglich einer NATO-Erweiterung geführt. Für den gewünschten Beitritt zur NATO gibt es jedoch keinen Automatismus. So haben in den vergangenen drei Jahren weitere Aspirantenstaaten erhebliche Anstrengungen unternommen, um Beitrittsreife zu erlangen. Dazu gehören zum Beispiel die Beilegung von Konflikten, die Einführung demokratischer Kontrolle bei den Streitkräften, die Achtung der Menschenrechte und Strukturreformen im militärischen Bereich. Ausrüstung und Strukturen müssen dabei an die NATO-Standards angeglichen werden. Daran werden natürlich auch künftige Beitrittskandidaten gemessen werden. Schritte zu Reformen werden nicht zuletzt mithilfe der NATO im Rahmen eines „Membership Action Plan“ erzielt. Der „Membership Action Plan“ unterstützt die Beitrittskandidaten in ihren Bemühungen, er eröffnet ihnen konkretes Feedback auf durchgeführte Maßnahmen und steht den Ländern beratend bei der Aufstellung von Programmen zur Seite. Auch Deutschland hat bilateral erhebliche und allseits anerkannte Hilfe geleistet. So wurden beispielsweise militärische und zivile Berater entsandt, von Beitrittsländern benötigte Materialien zur Verfügung gestellt und Ausbildungsunterstützung geleistet. Dieses Engagement ist aber nicht zuletzt auch im nationalen Interesse; denn Deutschland als ein Land in der Mitte Europas profitiert in besonderem Maße vom Stabilitätstransfer, der mit der NATO-Erweiterung verbunden ist. ({0}) Die sieben in Prag eingeladenen Staaten könnten nach erfolgreichem Ratifikationsverfahren bereits im Mai 2004 formell Mitglieder der NATO sein. Die Erweiterung ist sowohl ein Erfolg für die Allianz als auch für die Beitrittskandidaten. Sie leistet einen erheblichen Beitrag zur europäischen Stabilität und festigt die transatlantischen Beziehungen. Außerdem beschleunigt sie notwendige Reformen in den Mitgliedstaaten. Die Welt steht nun aber auch vor neuen Herausforderungen, die viel komplexer sind. Auf der einen Seite hat Europa ein System von kooperativer Sicherheit aufbauen können, auf der anderen Seite sehen wir uns mit expandierendem Terrorismus konfrontiert, wie nicht zuletzt durch die dramatischen Ereignisse des 11. September 2001 drastisch deutlich wurde. Nur die konstruktive ständige Zusammenarbeit der Nationen, für die sich gerade die SPD einsetzt, kann dieser neuen Herausforderung begegnen. ({1}) Wir müssen Alternativen zu rein militärisch angelegten Reaktionen auf Konflikte finden. Dies ist nur in einem multilateralen Rahmen auf allen relevanten Ebenen zu verwirklichen. Eine elementare Funktion des Bündnisses ist es, die richtigen Erwiderungen auf neue Risiken zu finden. Neben politischer Solidarität gehört dazu die militärische Fähigkeit zur Bekämpfung des Terrorismus, aber auch zur zivilen Notfallplanung. Die NATO ist also mehr als ein reines Verteidigungsbündnis. Sie ist eine Wertegemeinschaft, die entscheidend für die Sicherheit und Stabilität in der Welt sorgt. Außerdem sind Frieden und Sicherheit Grundlagen für gesellschaftliche und wirtschaftliche Prosperität. So trägt die NATO zur Stärkung der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten bei. Aber nicht alle Länder, die Mitglied der NATO werden wollen, konnten zum NATO-Gipfel in Prag eingeladen werden. Mit Albanien, Mazedonien und Kroatien müssen wir in intensivem Kontakt bleiben. Gemeinsam mit der Bundesregierung werden wir diese Länder auch weiterhin ermutigen, ihre Anstrengungen fortzusetzen, um die Beitrittskriterien zu erfüllen. ({2}) Die letzten Jahre haben gezeigt, dass allein die Perspektive, Mitglied der NATO werden zu können, einen entscheidenden Beitrag zur Konfliktprävention und Konfliktlösung leisten kann. Die NATO-Operationen in Mazedonien haben die Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit der NATO im Bereich der präventiven Konfliktbearbeitung unter Beweis gestellt. Die Aussicht auf Mitgliedschaft aktiviert und beschleunigt den Reformkurs der Kandidatenstaaten. Sie trägt sichtbar zur Stabilisierung der Länder, aber auch der gesamten Region bei. Eine Erweiterung der NATO bedeutet auch immer Vergrößerung und Stärkung der transatlantischen Wertegemeinschaft. Gemeinsam mit der Erweiterung der Europäischen Union ist sie daher auch in unserem Interesse. Die Politik der offenen Tür muss fortgesetzt werden, denn wir wollen, dass alle Menschen in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben können. Daher begrüßt die SPD-Fraktion diese Erweiterung ausdrücklich. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/906 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es offenkundig keine anderweitigen Vorschläge. Dann stelle ich mit der ausdrücklichen Ermutigung des Kollegen Hoyer die Zustimmung des Plenums fest. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 16 auf: 15 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs von 0190er-/ 0900er-Mehrwertdiensterufnummern - Drucksache 15/907 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Kultur und Medien ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Den Missbrauch von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen - Drucksache 15/919 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, die wir nicht benötigen werden, weil die von den Fraktionen gemelde- ten Redner Hubertus Heil, Manfred Zöllmer, Martina Krogmann, Ursula Heinen, Ulrike Höfken, Marita Sehn und für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt ihre Reden zu Protokoll gegeben haben.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/907 und 15/919 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/907 - das ist Tagesordnungspunkt 15 - soll zusätzlich an den Rechtsausschuss, die Vorlage auf Drucksache 15/919 - das ist Zusatzpunkt 16 - soll zusätzlich an den Innenausschuss und an den Ausschuss für Kultur und Medien überwiesen werden. - Auch dazu gibt es offensichtlich keine anderweitigen Vorschläge. Ich vermute, dass mich der Kollege Hoyer jetzt ermutigen möchte, die Zustimmung des Plenums zu den Überweisungsvorschlägen herzustellen, ({2}) was hiermit mangels Widerspruchs bereits erfolgt ist. Damit komme ich zu Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Helmut Heiderich, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland - Drucksache 15/423 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Kollegin Katherina Reiche für die CDU/CSU-Fraktion.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung dessen, was sich gegenwärtig auf dem Gebiet der Bio- und Gentechnik abspielt, ist kaum zu überschätzen. Eine Revolution ist im Gange, die unser aller Leben tiefer und stärker verändern wird als die industrielle und die informationelle Revolution. 1) Anlage 2 Denn die Erkenntnisse der modernen Biologie und ihre Anwendung beeinflussen unser Selbstverständnis als Menschen viel unmittelbarer als andere Naturwissenschaften. Kaum ein Lebensbereich wird davon unbeeinflusst bleiben. In Barcelona haben die EU-Regierungschefs im letzten Jahr eine europäische Life-Science-Strategie beschlossen, eine strategische Vision für die Biowissenschaften und die Biotechnologie bis in das Jahr 2010. Doch was hat die Bundesregierung seitdem getan, um diese Strategie umzusetzen? - Nichts! ({0}) Die Rahmenbedingungen für die Biotechnologie haben sich stattdessen verschlechtert. ({1}) Ich möchte Sie nur an die Haushaltsberatungen in diesem Jahr erinnern - ich weiß, das hören Sie nicht gerne -: Der Spitzenforschung wurde mit einer Kürzung von 60 Millionen Euro der Saft abgedreht. Im globalen Wettbewerb ist Deutschland gerade auf einen innovativen Vorsprung bei Produkten und Dienstleistungen angewiesen. Wissen und Forschung sind die entscheidenden Faktoren. Fakt ist: Wir investieren nur 2,4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung. Das ist definitiv zu wenig. ({2}) Der Anteil der Förderung der Biomedizin an den Forschungsmitteln beträgt in Deutschland nur 25 Prozent. In den USA sind dies 33 Prozent, in Großbritannien 34 Prozent und in Dänemark 35 Prozent. Resultat dieser Politik ist, dass Forschung und Entwicklung zunehmend außerhalb von Deutschland stattfinden. Gleichzeitig verlassen immer mehr junge deutsche Wissenschaftler unser Land. Sie forschen in der Schweiz, in Großbritannien und in den USA. Allein im letzten Jahr sind 111 000 junge Wissenschaftler abgewandert. Da der Abwanderung der Forschung und Entwicklung erfahrungsgemäß auch die Produktion folgt, hat dies mittel- und langfristig negative Auswirkungen auf die Innovationskraft und die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Das führt zum Beispiel dazu, dass Patienten viel später Zugang zu neuen innovativen Medikamenten haben. ({3}) In Kürze werden auch die aufstrebenden asiatischen Länder in den Wettbewerb eingreifen. Die Bundesregierung hat es bis heute nicht fertig gebracht, neue Spielräume für private Zukunftsinvestitionen zu schaffen. ({4}) Das gilt insbesondere für das Steuerrecht. In fast allen Industrienationen gibt es neben niedrigen Unternehmensteuern auch eine steuerliche Forschungsförderung. F-und-E-treibende Unternehmen in Deutschland werden dagegen nicht zielgerichtet steuerlich entlastet. Hinzu kommen eine Reihe von starren Reglementierungen, eine hohe Bürokratiedichte, steuerlich generell ungünstige Rahmenbedingungen, schleppende Genehmigungsund Zulassungsverfahren, ein überregulierter Arbeitsmarkt, eine schwache Konjunktur und der eben schon beschriebene steigende Fachkräftemangel. Es ist fahrlässig, das junge Pflänzchen Biotechnologie durch einen Rückgriff auf starre Dogmen zu zerstören. ({5}) Geben Sie den Unternehmen endlich mehr Luft zum Atmen! ({6}) Wir stehen in Deutschland vor einer wichtigen Entscheidung: Entweder wir spielen in der Biotechnologie eine passive und reagierende Rolle oder wir werden wieder Vorreiter in diesem Bereich. Die Erfahrungen in den vergangenen Jahren haben ganz deutlich gezeigt, dass die Entwicklung in der Biotechnologie stark von den politischen Rahmenbedingungen abhängt. Wir haben in den 90er-Jahren das Gentechnikgesetz novelliert und haben den Bioregio-Wettbewerb initiiert. Das war der Ausgangspunkt für einen bislang unerreichten Gründungsboom. ({7}) Der Technologietransfer aus universitären Forschungseinrichtungen in junge Start-up-Unternehmen hat seitdem zugenommen. In der Biotechnologiebranche ist ein selbstbewusstes Unternehmertum gewachsen. Auch die Akzeptanz der Biotechnologie hat in der Bevölkerung zugenommen. Wie sieht die Situation heute aus? Die Tageszeitung „Die Welt“ titelte gestern: „Deutsche Biotech-Branche steckt in ihrer ersten schweren Krise“. Der am 7. Mai vorgelegte „Deutsche BiotechnolgieReport 2003“ von Ernst & Young ist ein Alarmzeichen an die Adresse der Bundesregierung. Den jungen Biotechunternehmen geht die Luft aus. Die Zahl der Beschäftigten ging 2002 um 7 Prozent auf 13 400 zurück. Der Umsatz sank um 3 Prozent. Die Zahl der Unternehmen sank zum ersten Mal seit fünf Jahren von 365 auf 360. 26 Unternehmen mussten Insolvenz anmelden. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung wurden um 11 Prozent zurückgefahren. Von einer Aufholjagd gegenüber den Konkurrenten USA und Großbritannien kann wirklich nicht mehr die Rede sein. Die Bundesregierung muss reagieren, sonst bricht uns eine der Schlüsseltechnologien weg. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts muss verbessert werden, um Forschungsergebnisse schneller in marktfähige Produkte und Dienstleistungen umzusetzen. Wir müssen die Zulassungsverfahren beschleunigen und die steuerlichen Rahmenbedingungen verbessern. ({8}) Die Akzeptanz der Biotechnologie ist eine entscheidende Voraussetzung. Erfreulicherweise fand in der Bevölkerung ein Stimmungswechsel statt. 44 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind mittlerweile der Ansicht, dass der Nutzen der Bio- und Gentechnik deren Risiken überwiegt. 1998 waren es noch 25 Prozent. ({9}) Außerdem stimmen 42 Prozent der Deutschen der Auffassung zu, dass die Gentechnik für Deutschland eine wirtschaftliche Bedeutung hat, und 46 Prozent der Deutschen befürworten den Einsatz der Gentechnologie zur Immunisierung von Pflanzen. ({10}) Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie kannten diese Ergebnisse der Allensbach-Studie lange vor der Bundestagswahl. Sie haben sie aus ideologischen Gründen verschwiegen ({11}) und die Veröffentlichung mehr als acht Monate verschleppt. ({12}) Es wird Zeit, dass diese Bundesregierung ein deutliches Bekenntnis zur Biotechnologie abgibt und sich deutlich hinter die Forscher der 360 Unternehmen mit 13 400 hoch qualifizierten Beschäftigten stellt. Lassen Sie gentechnisch veränderte Organismen in der Pflanzenzüchtung wieder zu! ({13}) Setzen Sie sich für eine unverzügliche Aufhebung des De-facto-Moratoriums für alle Neuzulassungen von gentechnisch veränderten Lebensmitteln auf EU-Ebene ein! ({14}) Bei keinem einzigen der über 38 000 weltweit durchgeführten Feldversuche konnten schädliche Auswirkungen auf die Menschen, die Tiere oder die Biodiversität festgestellt werden. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Reiche, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke. Herr Kollege Tauss sollte zuhören, um noch ein bisschen was zu lernen. ({0}) Hören Sie auf, mit den Ängsten der Menschen zu spielen! Reine Angst war noch nie ein guter Ratgeber, zumal Sie diese mit einer hypertrophen Moral verbinden. ({1}) Angst verengt den Blick und immunisiert vor allem gegen jede Abwägung, die auch nach dem Nutzen neuer Erkenntnisse fragt. „Wer jedes Risiko ausschalten will, der zerstört auch alle Chancen“, so Hans-Olaf Henkel, der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. ({2}) Wenn Deutschland seine führende Rolle innerhalb der europäischen Biotechnologie-Industrie selbstbewusst behaupten will, sind weitere Anstrengungen notwendig. Setzen Sie unverzüglich die EU-Biopatentrichtlinie um! ({3}) Die Unternehmen warten seit Juli 2000 auf Rechtssicherheit. Ohne Patente finden die Unternehmen keine Geber von Venture Capital und ohne Venture Capital gibt es keinen Bestand der Unternehmen. Novellieren Sie das Gentechnikgesetz, aber bitte nicht so, wie Sie es jetzt gerade planen! Das würde die Biotechnologiebranche nämlich weiter schwächen. Das ist ein Gentechnikverhinderungs- oder auch Ökolandbauschutzgesetz. ({4}) Schon allein, dass der ursprüngliche Zweck des Gesetzes, die Bio- und Gentechnik nämlich als Chance und Potenzial für den Standort Deutschland anzusehen, ersatzlos gestrichen wurde, spricht Bände, Herr Tauss. ({5}) Die ebenso überraschenden wie faszinierenden Ergebnisse von Professor Hans Schölers Arbeit an murinen ES-Zellen sind ein weiteres Indiz für das ungeheure Potenzial dieser Technologie. ({6}) Wir beginnen, den Schlüssel für das Funktionieren unserer Innenwelt zu verstehen. Auf diese faszinierende Option sollten wir uns einlassen. Wichtig ist ein Klima, in dem neue Ideen und Innovationen entstehen können. Schule und Ausbildung können hier einen großen Beitrag leisten. Wir müssen die Neugierde der Schülerinnen und Schüler auf Mathematik und Naturwissenschaft weiter fördern. ({7}) Vielleicht ist ein naturwissenschaftlich interessierter Abiturient schon der selbstständige Life-Science-Unternehmer von morgen. Der fruchtbare Transfer, der im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bereich der Ingenieurwissenschaften, der Chemie und der Physik zwischen Wissenschaft und Unternehmertun stattfand, wiederholt sich heute im Bereich der Biologie und der Pharmazie. Es wäre fahrlässig, dieses Klima, in dem die Spitzenforschung und der Unternehmergeist oft ein ganz neues, symbiotisches Verhältnis eingehen, im Rückgriff auf starre Dogmen zu zerstören, während die Entwicklung um uns herum ganz rasant voranschreitet. ({8}) Die Bundesregierung ist aufgefordert zu handeln. Vielen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Tauss, Sie wissen, dass ich persönlich eine ganz besondere Freude an gezielten, knappen und vor allen Dingen intelligenten Zwischenrufen habe. Ich habe aber den Eindruck, dass es nicht nur der jeweilige Redner, sondern möglicherweise auch das anwesende Auditorium begrüßen würde, wenn gelegentlich einmal drei aufeinander folgende Sätze ohne Zwischenruf vorgetragen werden könnten. ({0}) Ich wollte damit indirekt vorschlagen, dies bei der nächsten Rednerin zu üben. Ich erteile dazu nun der Kollegin Frau Dr. Reimann für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin von der CDU/CSUFraktion, es lohnte eigentlich nicht, Ihren Antrag zur Weiterentwicklung einer Biotechnologiestrategie zu Papier zu bringen. ({0}) Nun haben Sie sich auch nicht sehr viel Mühe gemacht; denn Sie haben im Großen und Ganzen den alten Antrag aus der 14. Legislaturperiode aus dem Papierkorb geholt und einfach abgeschrieben. ({1}) Schon damals hinkte dieser Antrag in den allermeisten Punkten der Realität hinterher. Unter Ihrem so genannten Zukunftsminister war der Forschungshaushalt doch lediglich ein Steinbruch, der dazu genutzt wurde, Theo Waigels Haushaltslöcher zu stopfen. Diesen Trend haben wir mit der Regierungsübernahme 1998 umgekehrt. Wir haben den Haushalt für Forschung und Bildung kontinuierlich erhöht. ({2}) Wir haben die Forschungsförderung gerade für die Biotechnologie von 119 Millionen Euro in 1998 auf 243 Millionen Euro im Jahre 2003 verdoppelt. ({3}) Mit dieser Verdopplung der Mittel haben wir deutliche Signale für eine Förderung von zukunftsweisenden Technologien gesetzt. Wie Sie alle wissen, war dieser Schritt überfällig; denn international hatte Deutschland auf dem Gebiet der Biotechnologie in der Tat viel an Boden wettzumachen. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Großteil Ihrer Forderungen ist obsolet. Ich muss sagen: Ihr Antrag ignoriert so souverän alles bisher Geleistete, dass wir ihm deshalb nicht zustimmen können. ({4}) Sie verlangen ein Rahmenkonzept für Biotechnologie. Wir haben eines. ({5}) Das ist auch überall nachzulesen. Seit 2001 ist dieses Rahmenprogramm mit 800 Millionen Euro für die Förderung von Projekten im Bereich der Biotechnologie ausgestattet, Kollege Heiderich. Darüber hinaus haben wir 180 Millionen Euro für ein „Nationales Genomforschungsnetz“ bereitgestellt, das nicht nur mit den nötigen Mitteln ausgestattet ist, sondern von seiner Infrastruktur und seiner Vernetzung her international Beachtung findet und beispielhaft ist. ({6}) Wir haben die besten Arbeitsgruppen und Forschungseinrichtungen, die fortgeschrittensten Technologien und die notwendige interdisziplinäre Forschungsexpertise aus Biologie, Medizin, Physik, Ingenieurwissenschaften, Mathematik und Chemie darin gebündelt. Sie sind gut ausgestattet und haben mit 400 Millionen Euro Projektförderung in diesem Bereich eine Basis, sinnvoll zu forschen. Darüber hinaus haben wir - das wurde bereits angesprochen - 480 Millionen Euro für die institutionelle Forschung über die DFG, die MPG und die HGF für den Bereich Biotechnologie zur Verfügung gestellt. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf einem der wichtigen Zukunftsfelder in Wissenschaft und Wirtschaft ist durch diese Bemühungen damit nachhaltig gestärkt. Deshalb ist es für uns selbstverständlich, die Förderung des Nationalen Genomforschungsnetzes auch über das Jahr 2003 hinaus auf dem erforderlich hohen Niveau zu unterstützen. ({7}) Sie fordern zum Beispiel eine Fokussierung auf Zukunftsfelder. Ein Beispiel, die Proteomforschung, ist genannt. Auf dieses Beispiel will ich näher eingehen. In der Tat hat sich nach der Aufklärung der Genomsequenzen ein Feld eröffnet, das nach der Sequenzierung des menschlichen Erbguts und vieler größerer und kleinerer Organismen die Erforschung von Struktur, Funktionen und Interaktionen von Proteinen weltweit auf diesen Bereich verlagert. Aber diese Tatsache wurde längst berücksichtigt. Schon im Jahr 2000 gab es einen Förderschwerpunkt „Neue effiziente Verfahren für die funktionelle Proteomanalyse“. Hierfür wurden 60 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, und zwar mit Erfolg. Deutsche Forschergruppen liegen im Bereich der Proteomforschung mit an der Weltspitze. Ein weiterer Punkt: Sie fordern ein Konzept zur Förderung der Bioinformatik. Ohne Zweifel stellt die Bioinformatik ein weiteres Schlüsselfeld in der Forschung dar. Sie aber suggerieren in Ihrem Antrag, wir hätten den Zug verpasst und in Untätigkeit verharrt. Schauen Sie sich einmal die Zahlen an! Dann werden Sie feststellen, dass dies schlicht nicht stimmt. Schon 2000 gab es eine Ausbildungs- und Technologieoffensive Bioinformatik. Das hat dazu geführt, dass von 2001 bis 2005 für den Aufbau von sechs nationalen Kompetenzzentren im Bereich Bioinformatik 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wurden. ({8}) Zu nennen sind: Berlin, München, Köln, Braunschweig, Jena und Gatersleben. In diesen Zentren sollen interdisziplinäre Arbeitsgruppen aus Hochschule, Wirtschaft und außeruniversitären Forschungseinrichtungen innovative Werkzeuge für die Bioinformatik entwickeln und gleichzeitig einen aktiven Beitrag zur Ausbildung qualifizierter junger Bioinformatikerinnen und Bioinformatiker leisten; denn in der Tat gab es bisher in Deutschland auf diesem Gebiet einen Mangel an qualifiziertem Personal. Die Kompetenzzentren bieten gemeinsam mit den Ländern Aufbaustudien- und Ausbildungsgänge an, um eine schnelle Deckung des Bedarfs an Nachwuchs in Forschung und Wirtschaft sicherzustellen. ({9}) Mittlerweile gibt es nicht nur diese sechs, sondern elf Kompetenzzentren für Bioinformatik. Wenn Sie sich informieren, ({10}) werden Sie erfahren, dass an 20 Hochschulen und Universitäten in Deutschland Bioinformatik studiert werden kann. ({11}) Meine Damen und Herren, es wurde bereits angesprochen: Diese Woche wurde der neue „Deutsche Biotechnologie-Report 2003“ von Ernst & Young vorgestellt. Die deutsche Biotech-Branche hat sich trotz eines schlechten gesamtwirtschaftlichen Umfeldes behaupten können. Freilich haben wir für das Jahr 2002 leichte Rückgänge auch in diesem Hightechsektor verzeichnen müssen. Aber nach Jahren überschießenden Wachstums erlebt die deutsche Biotechnologie-Industrie eine Phase der Konsolidierung, die von Ernst & Young eigentlich schon länger erwartet worden war, aber erst jetzt eingetreten ist. Vor diesem Hintergrund sehen wir die große wirtschaftliche Bedeutung der Förderung der Biotechnologie. Ein Beispiel für die fortgesetzten Bemühungen, diesen Wirtschaftszweig zu entwickeln, ist das Programm „Bio-Chance“ der Bundesregierung. Es wendet sich gezielt an kleine und mittelständische Unternehmen. Zurzeit werden 52 Firmen mit 50 Millionen Euro unterstützt. Eine kleine Geschichte am Rande: Die „BioChance“-Preisträger können sich in der Regel sehr erfolgreich am internationalen Markt etablieren. Der Report weist im Übrigen ausdrücklich darauf hin, dass für die erste Phase, die Gründungsphase, bei Biotech-Unternehmen genügend Kapital vorhanden ist und dass es zahlreiche Zuschüsse gibt, allen voran vom Staat. Im Sommer werden Frau Ministerin Edelgard Bulmahn und Herr Minister Wolfgang Clement das Konzept „Innovation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ vorstellen. Mit dieser Mittelstandsinitiative werden unter anderem die steuerlichen Rahmenbedingungen für Wagniskapital in Deutschland verbessert und so weitere Anreize geschaffen, dass das in Deutschland zweifellos vorhandene Kapital auch in diesen zukunftsträchtigen Wachstumsmarkt fließt. ({12}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, biotechnologische Produkte erfahren - Frau Reiche hat es angesprochen - eine steigende Akzeptanz und positive Befürwortung durch die Verbraucherinnen und Verbraucher. Es gibt bereits jetzt eine wachsende Nachfrage, gerade im pharmazeutischen Bereich. Die Hoffnungen, die sich auf diesen Sektor unserer Wirtschaft richten, sind damit durchaus berechtigt und für uns überdies Ansporn, den erfolgreichen Weg fortzusetzen. Dafür bedarf es - es tut mir Leid - nicht Ihres überholten Antrages, sondern der Unterstützung der Regierung. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat die Kollegin Ulrike Flach das Wort für die FDP-Fraktion. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert ({0}) - Selbstverständlich nicht. ({1})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Tauss, üben Sie sich ruhig weiter in Zurückhaltung! Die EU-Kommission hat bereits vor einem Jahr ein Papier vorgelegt, in dem eine europäische Biotechnologiestrategie konkretisiert wurde. Was auf EU-Ebene geht, muss auch in Deutschland endlich umgesetzt werden: eine konsistente, eine klare und eine einheitliche Biotechnologiestrategie. Ich bin aus diesem Grunde der Kollegin Reiche sehr dankbar, dass die CDU/CSU mit einem Antrag - genau wie wir es in der vergangenen Legislaturperiode getan haben - erneut auf dieses Manko in Deutschland hinweist. ({0}) Das unterscheidet uns deutlich von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen, ({1}) die immer wieder gegenteilige, sich diametral widersprechende Signale an die Wissenschaftler und Unternehmer der Biotechnologiebranche gegeben haben. Gerade die jüngsten Entwicklungen in den USA in der Stammzellforschung machen klar, wie rasant die Wissenschaft voranschreitet. Zum ersten Mal konnten Wissenschaftler nachweisen, dass sich aus isolierten embryonalen Stammzellen Eizellen züchten lassen. Auch wenn vieles noch der Überprüfung in Versuchsreihen bedarf, ergeben sich daraus weitreichende Perspektiven, lieber Herr Röspel. Ich bin gespannt, wie unterschiedlich wir beide das interpretieren werden. ({2}) Es sollte Ihre Ministerin, Frau Bulmahn, doch stutzig machen, ({3}) dass es wieder einmal ein deutscher Wissenschaftler gewesen ist, der in den USA arbeitet, der diese Entdeckung gemacht hat. Wir haben ausgezeichnete Wissenschaftler, ({4}) aber wir halten sie offensichtlich nicht am Standort Deutschland, ({5}) weil unsere Rahmenbedingungen in der Biotechnologie nach wie vor nicht optimal sind. ({6}) Das liegt an dem von mir schon angesprochenen widersprüchlichen Bild, das die Bundesregierung in dieser Frage abgibt. Beispiel eins: Für die Förderung der Pflanzengenomforschung gibt das BMBF unter Frau Bulmahn dankenswerterweise circa 16 Millionen Euro aus. Aber wenn es um die Zulassung geht, dann verhandelt Frau Künast keinen Deut anders, als Frau Fischer das vor einigen Jahren getan hat. Sie blockiert über das Bundessortenamt erneut, dass es zum Anbau und damit zur Nutzung kommt. ({7}) Fazit: Frau Bulmahn fördert ehrenwerterweise die Grundlagenforschung, Frau Künast verstopft die Anwendung. Es ist noch grotesker: Obwohl Sie über die Mitfinanzierung des 6. Forschungsrahmenprogramms auch die grüne Gentechnik fördern, haben Sie erst im April einen Antrag zum Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen abgelehnt, der schließlich die logische Konsequenz Ihrer Forderungen und Förderungen wäre. Beispiel zwei: Die Novellierung des Gentechnikgesetzes, basierend auf neuen Richtlinien der EU, sollte eine spürbare Deregulierung für gentechnische Arbeiten in Labors bringen. Die Bundesregierung hat daraus ein Verregelungsgesetz gemacht, ({8}) das umfangreiche Dokumentations- und Meldepflichten vorsieht. Von Entlastung keine Spur, im Gegenteil. Das ist offensichtlich wieder einmal ein Fall für unsere Kollegin Birgit Homburger, die sich vor allen Dingen mit Bürokratie befasst. Beispiel drei: Die Biopatentrichtlinie ist zwischen der SPD und den Grünen so umstritten, dass Sie das Vorhaben offenbar aufgegeben haben. ({9}) Dabei haben sich schon im letzten Jahr die Verbände, die sich auch nicht ganz einig waren, auf eine Umsetzung eins zu eins geeinigt, liebe Kollegen von der SPD und den Grünen. Die Umsetzung ist seit drei Jahren überfällig. Die unmittelbare Folge für Wissenschaft und Industrie ist Rechtsunsicherheit und alles andere, als der berühmte, eben von allen beschworene Ruck nach vorn. ({10}) Ich habe auch Zweifel, ob die gerade eingerichtete Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ dazu führen wird, dass wir endlich Entscheidungen bekommen. Der CDU-Antrag scheint offensichtlich auch nichts dazu beizutragen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Flach, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röspel gestatten?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Röspel.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Frau Flach, ich frage als Abgeordneter. - Sie sprachen an, dass die Nichtumsetzung der Patentrichtlinie dazu führt, dass es Rechtsunsicherheit und Unsicherheit bei den Unternehmen gibt. Sind Sie darüber informiert, dass das Europäische Patentamt bereits Erteilungen in Vorwegnahme dieser Richtlinie vollzieht und sozusagen de facto - das ist eines der diskutablen Probleme - diese Richtlinie schon angewendet wird? ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es kann doch, lieber Herr Röspel, eine konsistente Biotechnologiestrategie dieser Bundesregierung nicht darin bestehen, dass Sie sagen, es passiere etwas im Hintergrund. ({0}) Wir wollen klare nationale Regeln haben, nach denen unsere Unternehmen vorgehen können. Wenn sie die nicht haben, sind sie verunsichert. ({1}) Gerade das Thema Ethikkommission hat bei mir zu einer Verunsicherung geführt, liebe Frau Reiche, was das Thema Ihres Antrags angeht. Ich sehe mit großem Interesse, dass der Name des Kollegen Hüppe nicht auf dem Antrag steht, was mich nicht weiter erstaunt, da ich seine Gedanken zu diesem Thema verfolge. Wir brauchen auf jeden Fall - das haben Sie deutlich gemacht - einen Schub für dieses Land. Darin haben Sie unsere volle Unterstützung. Ihr Antrag ist an vielen Stellen mit unserer Meinung konsistent, aber er atmet nach wie vor auch an vielen Stellen die nicht gerade forschungsfreundliche Seele der CDU, und das gerade im Stammzellbereich. Wir werden uns aus diesem Grunde enthalten. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zuerst etwas zu dem Antrag der CDU/CSU anmerken. In der CDU/CSU gibt es eine gewisse Zwiespältigkeit, die durch diesen Antrag sehr deutlich wird. Auf der einen Seite werden sehr fundamentale ethische Positionen vertreten; auf der anderen Seite sind Sie völlig kritiklos den Empfehlungen der Deutschen Industrievereinigung Biotechnologie gefolgt. Das passt vorne und hinten nicht zusammen. Das sollten Sie sich klar machen. ({0}) Der Hinweis von Frau Flach ist insofern berechtigt. Es ist auch erstaunlich, wer in dieser Debatte nicht anwesend ist. Ich möchte niemanden konkret nennen, aber ihr bildet in dieser Frage offenbar zwei Fraktionen, von der nur eine hier vertreten ist, die sich aber umso lauter äußert. Das ist nicht besonders glaubwürdig. ({1}) Als zweiten Punkt möchte ich auf Professor Schöler zurückkommen. Auch das ist ein interessanter Widerspruch. Man muss in diesem Zusammenhang die Frage stellen, wann er in die Vereinigten Staaten gegangen ist, weil er hier keine Beschäftigungsmöglichkeit gefunden hat. Das war nämlich zu einer Zeit, als es diese Regierung noch nicht gab. Ich habe vergangene Woche auf der ersten Seite der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen, dass im Gegenteil inzwischen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren. Wir haben es langsam geschafft - auch wenn wir noch viel besser werden müssen -, den Zug in eine andere Richtung zu bewegen. ({2}) Dass ausgerechnet Sie uns vorhalten, die Wissenschaftler seien ausgewandert, ist schon arg an den Haaren herbeigezogen, zumal Sie genau wissen, dass seit 1998 im Bereich der Wissenschaft insgesamt eine enorme Aufstockung erfolgt ist. Zwischen 1994 und 1998 gab es einen Rückgang; zwischen 1998 und 2002 war ein Anstieg zu verzeichnen. Selbst in der schwierigen Situation, in der wir uns jetzt befinden, wächst dieser Haushalt, wenn auch langsamer als geplant. Insofern passen Ihre Ausführungen vorne und hinten nicht zusammen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Loske, der Kollege Tauss möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine kritische?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wissen wir möglicherweise, sobald er sie gestellt hat. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Loske, es geht mir um einen Erkenntnisgewinn, weil sich die Kollegin Reiche beharrlich geweigert hat, Zwischenfragen zu beantworten. Sehe ich es richtig, dass der von ihr erwähnte Wissenschaftler Schöler 1996 das Land verlassen hat? Können Sie mir noch einmal auf die Sprünge helfen, wer 1996 regiert hat? ({0})

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ob Professor Schöler 1996 das Land verlassen hat, weiß ich nicht. Sein Weggang ist jedenfalls ein Verlust für die deutsche Forschungslandschaft; das ist keine Frage. Aber soweit ich mich erinnere, haben 1996 die CDU/CSU und die FDP regiert. ({0}) Sie sehen, ich kenne mich in der deutschen Innenpolitik aus. Ich wollte, wie gesagt, auf die enorme Spaltung in der CDU/CSU zwischen den sehr heroischen, fundamentalen Positionen zur Bioethik und der Tatsache, dass Sie einer sehr kritiklosen Biopolitikstrategie das Wort reden, hinweisen. Das passt nicht zusammen. Ähnliches gilt für das Thema Biopatentrichtlinie. Ich gehe gleich näher darauf ein. Man kann dieses Thema zwar sehr gewissenhaft diskutieren, aber einstweilen ist Realität, dass nur sechs von 15 Ländern innerhalb der Europäischen Union die Biopatentrichtlinie in nationales Recht umgesetzt haben. Neun Länder haben sie noch nicht umgesetzt. Manche haben sogar vor dem Europäischen Gerichtshof dagegen geklagt. Viele verschleppen die Umsetzung; andere quälen sich damit. Nur die Union - die FDP sowieso - weiß, was richtig ist. ({1}) Realität ist, dass es auch in Deutschland eine Spaltung gibt. Auf der einen Seite gibt es ernst zu nehmende Kritiken vonseiten der Kirchen, der Umweltverbände und interessanterweise vonseiten der Forschung und des Bauernverbands. Deren Kritik gilt der Sorge, dass es eine forschungshemmende Wirkung geben könnte und die Entwicklung möglicherweise eingeschränkt würde. Auf der anderen Seite steht das Begehren nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Das ist völlig klar. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns. Wir führen zurzeit Gespräche zwischen den Koalitionspartnern. ({2}) Die Gespräche sind keineswegs eingestellt worden, Frau Kollegin Flach. Wir - ich meine in diesem Zusammenhang die Grünen - verfolgen ein doppeltes Ziel: Wir sind bereit, die Biopatentrichtlinie auf nationaler Ebene umzusetzen, wenn die offenen Fragen geklärt werden, die die Reichweite der Patente betreffen. Wir wollen nicht, dass große Konzerne quasi ganze Gensequenzen besetzen und dann den Forschungsfortschritt verhindern. Das ist mit uns nicht möglich. ({3}) Das zweite Ziel, das wir verfolgen, ist die Einführung eines Herkunftsnachweises. Hinzu kommen Datenschutzerwägungen. ({4}) Ich glaube, dass wir in diesen Fragen zu einer Lösung kommen können. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden. Der entscheidende Punkt ist, dass auf europäischer Ebene über kurz oder lang ein neuer Anlauf zur Überarbeitung der Biopatentrichtlinie erfolgen muss. ({5}) Denn diese Richtlinie entspricht in ihrer heutigen Fassung dem Diskussionsstand von Anfang bis Mitte der 90er-Jahre. Das wissen diejenigen unter Ihnen, die sich damit beschäftigen, sehr genau. Die Revolution der Erkenntnisse in der Bioforschung hat in den vergangenen drei bis fünf Jahren stattgefunden. Das heißt, das Patentrecht auf dem Stand der ersten Hälfte der 90er-Jahre und der Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts klaffen weit auseinander. Weil beides nicht zusammenpasst, ist die Überarbeitung der Biopatentrichlinie auf europäischer Ebene notwendig. Das ist unsere Position. ({6}) - Sie wissen doch, dass das Initiativrecht bei der Kommission liegt. Die Regierung kann sehr wohl Signale senden. Das werden wir auch tun.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Loske, darf nun vielleicht auch die Kollegin Flach eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne. Warum nicht?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Loske, da Sie offensichtlich allwissend sind, möchte ich Sie gerne fragen:

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Allwissend?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darf ich das, was Sie gesagt haben, so interpretieren, dass Sie erst abwarten wollen, ob auf EU-Ebene erneut novelliert wird, bevor Sie zu Werke gehen?

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Was meinen Sie mit „allwissend“? ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich meinte das im Hinblick auf die zielführende Frage des Kollegen Tauss.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt verstehe ich die tiefere Ironie. Der Groschen ist bei mir pfennigweise gefallen. Die Umsetzung der europäischen Richtlinie in nationales Recht müssen wir angehen. Das ist gar keine Frage. ({0}) Es gibt noch - das habe ich bereits erwähnt - drei offene Fragen, nämlich die Frage der Reichweite der Stoffpatente, des Herkunftsnachweises und des Datenschutzes. Hierüber gibt es im Moment Gespräche zwischen SPD, Grünen und BMJ. Wir sind gewillt, zu einer Lösung zu kommen. Aber wir als Grüne wollen das hat das Kabinett schon in der letzten Legislaturperiode beschlossen -, dass die Bundesregierung in Brüssel einen neuen Anlauf zur Überarbeitung der Biopatentrichtlinie startet, um sie auf die Höhe der Zeit zu bringen. Das ist unsere Position. ({1}) Ich hoffe, dass ich Ihre Frage auch mit meinem durchschnittlichen Wissen ausreichend beantworten konnte. Zurück zu dem, was wir Grüne wollen: Unsere Position zur gesamten Gentechnik ist, glaube ich, in den letzten Jahren klar geworden. Wir wollen die ethisch unbedenkliche Forschung im Bereich der roten Gentechnik unterstützen. Das tun wir bereits im Rahmen unserer Forschungspolitik. Das soll bei der medizinischen Forschung und insbesondere bei der Medikamentenforschung intensiviert werden. Wir wollen aber auch klare ethische Prinzipien und vor allen Dingen Transparenz. Deswegen sind solch große Konferenzen, die zur Aufklärung der Öffentlichkeit beitragen, wie die im Jahr 2000 von Andrea Fischer oder wie die im Jahr 2003 von Edelgard Bulmahn zum Klonen initiierte, ein wichtiger Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Der Opposition fehlt offenbar die Vorstellung, dass man über komplexe ethische Probleme auch fundamental diskutieren muss. Für uns ist auch die ethische Begleitforschung sehr wichtig; denn wir glauben in der Tat, dass neben der reinen technischen Forschung auch dieser Forschung ein großer Stellenwert beigemessen werden muss. Biotechnologie ist mehr als das, was Sie in Ihrem Antrag präsentieren. Wir sind zum Beispiel der Meinung, dass der ganze Bereich der Bionik ein sehr zukunftsträchtiges Feld ist. Hier geht es um das Lernen von der Natur - Stichwort „sanfte Biotechnologie“ -, um die Übertragbarkeit von Bau-, Funktions-, Datenübertragungs-, Entwicklungs- und Evolutionsprinzipien der Natur auf die Technik. Das ist eine intelligente Form der Biotechnologie, die wir auf der ganzen Linie unterstützen. ({2}) Es ist bekannt, dass wir der grünen Gentechnologie skeptisch gegenüberstehen. Wir glauben nämlich, dass sie im Grunde genommen nicht erforderlich ist, dass durch züchterische Leistungen die gleichen oder sogar bessere Ergebnisse erzielt werden können. Hier gibt es offenkundig einen Dissens. Wir sind jedenfalls der Meinung, dass man in diesem Bereich eher Anbau-, Züchtungs- und auch Tierhaltungsoptionen fördern sollte, die auf eine umweltverträgliche Landwirtschaft hinauslaufen. ({3}) - Man muss es vor allen Dingen ganzheitlich sehen. Man darf nicht einen kleinen Bereich herausnehmen. Mit der CDU-Position habe ich folgendes Problem: Auf der einen Seite vertreten Sie fundamentalistische Prinzipien. Auf der anderen Seite reden Sie - quasi als Ersatzhandlung - die grüne Gentechnologie hoch. Das ist recht eigentümlich. ({4}) Ich fasse zusammen: Das, was die CDU/CSU in ihrem heutigen Antrag präsentiert hat, ist meines Wissens wortgleich mit einem Antrag aus dem Jahre 2002. Die Diskussion ist aber weitergegangen. Sie sind genau ein Jahr hinter dem Stand der aktuellen Diskussion zurück. Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Tauss, ich werde versuchen, Ihnen intellektuell gerecht zu werden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zuerst: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist bedenklich. Die Arbeitslosigkeit steigt unaufhörlich. Anstatt Fortschritte zu erzielen, dümpeln wir nur noch dahin. Es gibt mehr Stillstand als Entwicklung. Wachstum weisen unter Rot-Grün nur noch die vergrößerten Löcher in den Haushaltskassen auf. ({0}) - Verehrter Herr Kollege Schmidt, das ist keine Schwarzmalerei, sondern Feststellung der Fakten, die jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen verbreitet werden. Das ist Ihre Politik. Diese müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen. ({1}) Warum sage ich das? Gerade in einer solchen Lage - so meine ich - müsste die Regierung doch massiv interessiert sein, die Wachstumskerne der Zukunft mit aller Kraft weiterzuentwickeln. Ich möchte in diesem Zusammenhang Herrn Schröder zitieren. In seiner Rede bezeichnete der Bundeskanzler die Gentechnik - jetzt hören Sie gut zu! - als Schlüsseltechnologie für die moderne Landwirtschaft - Herr Loske, haben Sie zugehört? -, für die Medizin, für die Pharmazie, für die Chemie und für die Lebensmittelindustrie, für den Umweltschutz und für viele andere Wirtschaftsbereiche. Solche Worte hörte man auf der EXPO 2000. Manche sollen daran sogar geglaubt haben. Die Realität der Politik von Rot-Grün und des Kanzlers sehen schlecht aus, verehrter Herr Tauss. Das kann man aktuell beispielsweise dem Biotechnologie-Report von Ernst & Young entnehmen, aus dem hier eben schon mehrfach zitiert worden ist. Man muss die Situation genau betrachten. Wir von der CDU/CSU weisen schon seit zwei Jahren in diesem Hause auf Folgendes hin - Herr Tauss, hören Sie gut zu! -: Die Biotechnikbranche in Deutschland verliert zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit. Die Bundesregierung, insbesondere Frau Ministerin Bulmahn, hat für die Öffentlichkeit immer ein rosiges Bild gezeichnet, indem sie auf die bloße Anzahl der gegründeten Unternehmen hingewiesen hat. Die Praxis ist allerdings gar nicht rosig; denn die deutschen Unternehmen sind zu klein, sie sind in ihrer Entwicklung weit zurück und sie sind weit davon entfernt, wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Ich nenne in diesem Zusammenhang zwei Zahlen. Schon 2001 stellten Ernst & Young fest, die deutsche Biotechnik habe in diesem Jahr einen Verlust von 411 Millionen Euro erwirtschaftet; das seien 66 Prozent mehr als im Vorjahr. In 2002 ist der Verlust auf inzwischen 661 Millionen Euro - das ist ein Zuwachs um mehr als die Hälfte - gestiegen. Uns ist es ein Rätsel, wie Sie bei diesen Vorgaben behaupten können, im Bereich der Biotechnik alles Erforderliche getan zu haben. ({2}) Des Weiteren zeigt der aktuelle Biotechnologie-Report, dass Deutschland in den wichtigen Entwicklungsphasen II und III - in diesen Phasen werden die Ideen der Forscher in Produkte, in wirtschaftlichen Erfolg und in Arbeitsplätze umgesetzt - weit abgeschlagen zurückliegt. In diesen Phasen habe Deutschland einen Anteil von gerade 6 Prozent an der europäischen Entwicklung. Zum Vergleich: Großbritannien hat einen Anteil von 58 Prozent. Man hat uns jahrelang erklärt, man wolle eine Aufholjagd gegenüber Großbritannien und den USA beginnen. Ich stelle fest: Deutschland liegt mit einem Anteil von 6 Prozent gegenüber Großbritannien um Längen zurück. Sie sollten sich nicht loben, sondern endlich versuchen, eine bessere Politik im Bereich Biotechnologie zu machen. ({3}) In Entwicklungsphase III - erst in dieser Phase wird über die Vermarktung der Produkte Umsatz gemacht - waren im Jahre 2002 - Herr Tauss, bitte hören Sie genau zu; das können auch Sie intellektuell verarbeiten - gerade noch drei deutsche Produkte im Wettbewerb. ({4}) Ich möchte Sie bitten, sich dieses Themas ein bisschen mehr anzunehmen und über unseren Antrag nicht einfach hinwegzugehen, nach dem Motto: Das alles haben wir schon gestern gewusst. - Mitnichten! Vielleicht haben Sie etwas gewusst; aber Sie haben - das ist der entscheidende Punkt - nichts vorangebracht. ({5}) Was tut die Bundesregierung in dieser Lage? Ich erinnere nur kurz - meine Redezeit ist sehr eng bemessen - an das, was Sie getan haben: Die Bundesregierung hat - entgegen ihrer festen Zusage - im Bereich der Spitzenforschung Kürzungen in Höhe von 70 Millionen Euro vorgenommen. ({6}) Angesichts dessen frage ich Sie: Wo bleiben die Forscher? Wo bleiben die Wissenschaftler? Wo bleiben die technischen Mitarbeiter? Wo bleiben die Studenten? Wo bleibt die Entwicklung? Erst auf hohen Druck von allen Seiten sind Sie von Ihren Plänen ein Stück weit abgerückt. Dem gingen monatelange Diskussionen voraus. In der „FAZ“ vom 29. April 2003 steht Folgendes: Wegen besserer Arbeitsbedingungen, besserer Bezahlung, besserer Perspektiven kommt es zu einer verstärkten Abwanderung von Spitzenkräften ins Ausland. ({7}) - Ich bitte Sie, das einfach nachzulesen. Ich habe dieses Zitat nicht erfunden. Ich habe es hier einfach nur vorgetragen. ({8}) - Verehrter Herr Tauss, ich habe es so vorgetragen, wie es in der „FAZ“ steht. Dort können Sie es gerne nachlesen. Ich komme auf das Biopatentrecht zu sprechen. Die Bundesregierung sei auf der Höhe der Zeit, hat Herr Loske gesagt. Inzwischen sind aber fast fünf Jahre ins Land gegangen. Die Bundesregierung - das haben Sie eben bestätigt - ist noch immer handlungsunfähig. ({9}) Ich erinnere Sie daran, dass Sie schon einmal einen Entwurf in dieses Parlament eingebracht haben. Da Sie sich nicht einig werden konnten, mussten Sie Ihren Entwurf wieder zurückziehen. Sie sind bis heute nicht in der Lage, einen neuen Entwurf einzubringen. Das ist ein Faktum und das ist das Ergebnis Ihres politischen Handelns. ({10}) Nun kann man natürlich, wie der Kollege Röspel, sagen: Was soll es? Das Europäische Patentamt macht sowieso längst, was es will. - Dann können Sie auch Ihre Regierungstätigkeit in Deutschland einstellen und sich verabschieden. ({11}) Dann können andere für Sie handeln. ({12}) Das wäre für Deutschland in dieser Situation sicherlich eine bessere Lösung. ({13}) Ich will an dieser Stelle, Herr Tauss, ein Zitat von EUKommissar Bolkestein einbringen, der zum Thema Biopatentrichtlinie gesagt hat: Solange diese nicht umgesetzt ist, „sind dem europäischen Biotechnologiesektor die Hände gebunden; er wird folglich immer weiter zurückfallen“. Das ist ein Zitat vom 28. Januar dieses Jahres. Das ist eine klare Aussage eines Fachmannes. Das sollte man zumindest einmal zur Kenntnis nehmen und nicht einfach so zur Seite wischen. Was macht die Bundesregierung sonst noch? Sie verschärft die Vorschriften; sie verstärkt die Bürokratie. Sie verzögert - das ist eben schon vorgetragen worden - Genehmigungsverfahren. Herr Loske, an einer Stelle könnten Sie sich wirklich sehr erfolgreich betätigen. Es ist höchste Zeit, dass Sie Künast und Trittin von der Bremse nehmen. Solange sie die Verfahren weiter verschärfen, wird in Deutschland die Biotechnikbranche weiter auf dem Rückzug sein und nicht nach vorn kommen. ({14}) Beispiel Gentechnikgesetz; das ist schon angesprochen worden. Erst haben Sie jahrelang gebraucht, bis überhaupt eine Umsetzung in Gang kam. ({15}) - Ich bitte Sie, Herr Tauss! ({16}) - Ich kann Ihnen zum Nachlesen gern einen Bericht Ihrer Bundesregierung geben, in dem sie versprochen hat, bis zum Jahr 2000 die Umsetzung vorzulegen. Das können Sie gern von mir haben. Eingehalten haben Sie es nicht; Sie haben es in 2002 endlich geschafft. Sie sind hinter Ihren eigenen Versprechungen also um Jahre zurück. ({17}) - Herr Tauss, das ist so. ({18}) Statt Hürden abzubauen - wir Deutschen waren einmal die Vorreiter beim Gentechnikrecht; viele Europäer haben das übernommen; jetzt kommt es von Europa nach Deutschland zurück, aber Sie sagen nicht: Wir sind froh und damit einverstanden -, setzen Sie neue Hürden obendrauf. Sie packen neue Bürokratie drauf. Das ist zu einer neuen Behinderung und zu einer neuen Beeinträchtigung geworden. ({19}) Bundesregierung und Forschung. Vorhin ist die Genomforschung schon angesprochen worden. Was wird mit den UMTS-Förderungen im nächsten Jahr? Ihnen liegen sicherlich so wie mir die Brandbriefe von Forschungsanstalten vor, zum Beispiel der Proteinstrukturfabrik Berlin. Es wird gesagt: Wir stehen vor dem Aus. Die Bundesregierung sagt nicht, wie es weitergehen soll. Alles zerbricht und zerfällt. - Frau Bulmahn, ich habe es schriftlich. Sie können es gerne bei mir einsehen. Es liegt Ihnen bestimmt auch vor. ({20}) - Gern; das können Sie haben. - Es besteht längst die Situation, dass Sie um die Probleme herumreden, aber Lösungen hermüssen. ({21}) Noch ein letztes Beispiel. In der grünen Gentechnik haben Sie es dazu gebracht, dass in diesem Jahr wenigstens ein Miniversuch auf sage und schreibe 200 Quadratmetern in Thüringen stattfinden durfte. Nur, ehe der Versuch überhaupt in Gang kommen konnte, haben die Freunde von Greenpeace den Versuch gegen Recht und Gesetz zerstört. Sie sitzen dabei, schauen sich das an und sagen kein Wort; weder verhindern Sie es, noch verurteilen Sie es. Da wäre eine Bundesregierung gefordert, endlich einmal Position zu beziehen. ({22}) Wenn Sie das täten, könnten Sie sagen, Sie hätten etwas für die Gentechnik getan. Unser Antrag ist ein deutlicher Fortschritt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Aber die Redezeit ist auch deutlich überschritten.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist mein letzter Satz, Herr Präsident. - Ich bitte Sie herzlich, im Interesse der deutschen Biotechnikindustrie dem Thema mehr Beachtung zu schenken und unserem Antrag zuzustimmen. Schönen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bulmahn, ich bitte um Nachsicht. Bei deutlich überschrittener Redezeit kann ich eine Zusatzfrage nur noch schwerlich zulassen. Zum Schluss der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Röspel für die SPD-Fraktion das Wort.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich meine Rede einmal mit einem ganz anders gearteten Überblick über dieses Thema beginnen, aber ich kann nicht anders, als zunächst auf Herrn Heiderich einzugehen. Frau Reimann hatte ja wirklich in aller Deutlichkeit gezeigt, was diese Bundesregierung in den letzten vier Jahren geleistet hat. Ich hatte gehofft, dass das auch verstanden wird, aber vielleicht lesen Sie einfach noch einmal das Protokoll nach, um die entsprechenden Zahlen und Fakten nachzuvollziehen. ({0}) Es war schon hanebüchen, was ich hier teilweise von Ihnen, Herr Heiderich, vernommen habe. Erster Punkt. Sie behaupteten, ein Gentechnikgesetz gebe es nicht und dessen Erstellung sei von uns verschleppt worden, während andere Länder Vorreiterrollen eingenommen hätten. Ich erinnere mich noch, als ich vor etwas mehr als zehn Jahren im Labor gestanden habe, dass darüber diskutiert wurde, dass die Zulassungsverfahren gerade für Laborversuche in allen anderen Ländern viel einfacher und weniger bürokratisch seien, die Kohl-Regierung es aber wenigstens hinbekommen habe, das Gentechnikgesetz in Teilen zu verändern. Das heißt, es gab es schon damals und es gibt es heute auch noch. Es geht darum, es zu verändern und ({1}) - in der Tat - EU-Richtlinien umzusetzen. Zweiter Punkt. Ehe Sie etwas zur Situation von Biotechnologieunternehmen sagen, sollten Sie vielleicht erst einmal den Bericht von Ernst & Young wirklich durchlesen und nicht nur einige aus dem Zusammenhang gerissene Fakten bringen. ({2}) Natürlich steckt diese Branche im Moment in der Krise und hat Probleme. Wenn man sich aber einmal umschaut, stellt man zum Ersten fest, dass das für alle Branchen in Deutschland, in Europa und in der Welt zutrifft. Zum Zweiten ist die Krise der Biotechnologie nicht auf deutsche Unternehmen beschränkt, sondern in allen anderen Ländern besteht das gleiche Problem. Zum Dritten sind auch die Verluste der Biotech-Unternehmen, die Sie beklagen, in größerem Zusammenhang zu sehen. Ich kenne bis auf wenige Ausnahmen in Deutschland weltweit kaum Unternehmen im Biotechnologiesektor, die bereits schwarze Zahlen schreiben. Das Grundproblem ist nämlich immer dasselbe: Man braucht am Anfang viele Mittel für die Forschung, bis man überhaupt zu einem Ergebnis kommt. Das führt quasi automatisch dazu, dass das Unternehmen, wenn es nicht mit starker staatlicher Unterstützung gegründet wird, in den ersten Jahren massive Verluste macht. Ihre Darstellung hat mich also schon ein wenig entsetzt. Schließlich möchte ich noch einen Punkt ansprechen: In der Tat haben wir es geschafft, dass seit den Jahren 1999 und 2000 viele Biotechnologieunternehmen in Deutschland gegründet wurden. Ich kann mich dann aber nicht 2003 darüber auslassen und beschweren, dass das alles kleine Unternehmen seien. Erwarten Sie etwa, dass bereits nach drei Jahren Großkonzerne existieren? ({3}) Ich muss schon sagen, dass es wohl besser wäre, wenn man diese Argumentation von Ihnen im Protokoll nicht nachliest; denn das lohnt sich nicht wirklich. Ich wollte eigentlich meine Rede mit einem entwicklungs- bzw. evolutionsbiologischen Überblick beginnen. Nach einer gängigen wissenschaftlichen Theorie ist an einem Freitagmorgen - wir können uns darüber unterhalten, ob es nicht vielleicht doch ein Donnerstagmorgen war - vor etwa 4,5 Milliarden Jahren diese Erde bzw. diese Welt entstanden. Dieser Zeitraum übersteigt unsere Vorstellungsmöglichkeiten bei weitem. Vielleicht macht es ja Sinn, statt dieses Zeitraums eine Strecke zu nehmen. Wenn man sich also vorstellt, dass sich die Evolution jedes Jahr um 1 Millimeter auf dieses Rednerpult zubewegen würde, dann wäre die Welt in 4 500 Kilometern entstanden; die Evolution hätte also irgendwo mitten im Atlantik auf den Azoren begonnen. Da es weitere 700 Millionen Jahre gebraucht hat, bis das erste Leben entstanden ist, wären wir damit also immer noch 3 500 Kilometer von hier entfernt in Spanien. Da es weitere 2 Milliarden Jahre brauchte, bis die ersten Zellen entstanden sind, wären wir in Marseilles angekommen und hätten noch 1 500 Kilometer bzw. 1,5 Milliarden Jahre vor uns. 450 Kilometer von hier entfernt in Frankfurt - das entspricht 450 Millionen Jahren - wären, wenn man sich jedes Jahr nur 1 Millimeter vorwärts bewegen würde ({4}) - gleich, ich will nur einen Überblick geben; das dürfte nicht schaden -, die ersten Würmer aufgetaucht, 350 Kilometer entfernt in Göttingen die ersten Fische und im 150 Kilometer entfernten Magdeburg würden wir die ersten Säugetiere sehen, die sich jedes Jahr um 1 Millimeter weiter auf uns zu bewegten. Der Mensch trennt sich vom Affen etwa auf dem Ku’damm und auf dem Wege von der Gedächtniskirche zum Kanzleramt würde er in den letzten 600 000 Jahren auch den aufrechten Gang erlernt haben. ({5}) - Warten Sie einmal ab. - Kurz vor dem Plenarsaal stünde der moderne Homo sapiens sapiens und 8 Meter von mir entfernt hätten wir vor 8 000 Jahren gelernt, Ackerbau zu betreiben. Vor 4 000 Jahren hat er das Herstellen von Metallwerkzeugen erlernt; das wären die nächsten 4 Meter gewesen. Die Erfindung der Elektrizität vor 100 Jahren - jetzt wird es vom Maßstab her vielleicht deutlich; ich merke an Ihrer Unruhe, dass Sie das möglicherweise noch nie gehört haben, aber es bedarf auch einer gewissen Form von Geduld - hätte 10 Zentimeter von mir entfernt stattgefunden. Auf den letzten 3 Zentimetern befindet sich der Mensch im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie, wo er beginnt, Evolution zu verändern, wo er das, was sich auf einer Strecke von Frankfurt oder Magdeburg bis hierhin ereignet hat, auf eine Strecke von 2 oder 3 Zentimetern reduziert. ({6}) - Was Sie daraus lernen, will ich Ihnen, wenn Sie das noch nicht verstanden haben, sagen: Wir sind dabei, evolutionäre Grenzen zu überschreiten, indem wir Gene aus Bakterien in Pflanzen übertragen, wobei wir nicht überblicken können, was in den letzten Jahrmillionen passiert ist. Dass es zu einer solchen Entwicklung kam, wussten wir nicht. Darf man nicht skeptisch sein, wenn sich die Ereignisse auf der Strecke von Magdeburg bis hierher nun auf 2 Zentimetern abspielen sollen? Muss man sich nicht sogar bewusst sein, dass man hier Prozesse initiiert, die in der Natur Jahrmillionen gebraucht und evolutionäre Katastrophen am laufenden Band verursacht haben? Handeln wir richtig, wenn wir glauben, im Vergleich dazu reichten ein paar Jahre, um Folgen wirklich abschätzen zu können? ({7}) Darum geht es. Wir müssen die Dimension erkennen, die wir in Teilen überschreiten. Deswegen habe ich das etwas ausführlicher dargestellt. Ich habe gehofft, dass Sie das auf diese Weise begreifen. Ist das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Ideologie, die Sie uns auch heute wieder vorgeworfen haben? Auch im Antrag haben Sie uns vorgeworfen, wir seien per se gegen grüne Gentechnologie. Begreifen Sie nicht, dass wir in wenigen Jahren Evolution spielen und überhaupt nicht wissen, was wir anrichten, wenn die Natur Tausende von Jahren gebraucht hat, um Erfahrungen zu sammeln? ({8}) Sie erwarten, dass wir das binnen zehn Jahren schaffen. Wir müssen und wollen mit freisetzender Gentechnik bewusst umgehen; aber es gibt keine wissenschaftliche Beurteilung der Folgen. Eines ist sicher: Wenn wir gentechnisch veränderte Pflanzen, Fische, Mikroorganismen freisetzen, so ist das irreversibel und wir wissen nicht, was damit passieren wird. Der Zeitraum von zehn Jahren reicht nicht aus, um das zu beurteilen. ({9}) - Ich sehe, Sie verstehen das nicht. Wir haben in den letzten Jahren zwei große Dogmen verloren. Dolly, vor fünf Jahren entstanden, hat uns gezeigt, dass alle Lehrbücher der Biologie neu geschrieben werden müssen. ({10}) Die Veröffentlichungen der letzten Woche zeigen, dass das, was wir noch vor einem Jahr bezüglich der Stammzellen glaubten, ebenfalls neu bewertet werden muss. Frau Reiche, Sie sagen, junge Forscher verlassen Deutschland und gehen in die Schweiz. Dort hat der Nationalrat vor zwei Tagen ein Moratorium beschlossen, wonach die Landwirtschaft in der Schweiz bis 2009 gentechnikfrei bleiben soll. ({11}) Sie haben gesagt, wir sollen die Biopatentrichtlinie umsetzen. Sie haben als Opposition natürlich das Recht, zu mäkeln; aber Sie bieten keine Lösungen an. Natürlich gibt es kritische Stimmen aus den Kirchen, aus Krankenhäusern, von Ärzten, aber auch aus der Forschung, die sagen, dass sie so nicht umgesetzt werden kann. Wollen Sie, dass Gene patentiert werden, oder nicht? Wir machen uns die Entscheidung sehr schwer und es ist eine langwierige Auseinandersetzung; aber wir werden diese Richtlinie umsetzen und hoffen, dass sie zum Wohle aller sein wird. ({12}) Eine weitere dicke Luftblase in Ihrem Antrag ist die Forderung, Tiere gentechnisch nur zu verändern, wenn es nicht auf Kosten ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens geschieht. Ich frage Sie: Wer hat diesen Antrag geschrieben? Müssten Ihre Forschungspolitiker da nicht aufschreien? Wie wollen Sie in der Realität beurteilen, ob sich eine Maus noch wohl fühlt, wenn sie gentechnisch verändert ist? Wenn Sie diesen Antrag eins zu eins umsetzen, gibt es keine Forschung an Tieren mehr. Ich habe mich zu Beginn meines Studiums wirklich dafür eingesetzt und es gibt gute Initiativen, auch vom Ministerium, um die Forschung an Tieren und Tierversuche möglichst zu reduzieren. Aber wenn dieser Antrag so umgesetzt wird, wird Forschung an Tieren nicht mehr möglich sein. Ich bin gespannt auf die Debatte mit den Forschern. Oder haben Sie einen Dr. Doolittle in Ihrer Fraktion, der mit Tieren reden kann? Aber es gibt auch realistische und vernünftige Forderungen in Ihrem Antrag; das will ich gar nicht verschweigen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Röspel, Sie werden die Forderungen nicht mehr alle vortragen können, wenn Sie die Redezeit annähernd einhalten wollen.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Gentestgesetz muss kommen. Ich bin guten Mutes, dass wir nach der Sommerpause mit der parlamentarischen Diskussion beginnen werden. Vieles aus Ihrem Antrag hat sich erledigt; viele Forderungen laufen ins Leere. Diese Regierung braucht sich eben nicht, was die Förderung von Biotechnologie anbelangt, zu verstecken. Aber wir müssen auch die Besonderheit dieser Technologie berücksichtigen und verantwortungsvoll damit umgehen. Ich habe versucht, darzulegen, welche Dimension Evolution und Gentechnik haben. Aber es scheint mir in Teilen nicht gelungen zu sein. Eine letzte Bemerkung. Mein Ausflug in die Evolution am Anfang meiner Rede hatte das Ziel, klar zu machen, dass es manchmal Zeit zum Nachdenken braucht. Was uns als lang erscheint - ein Jahrzehnt oder zwei Jahrzehnte -, ist im Maßstab der Evolution nur der Bruchteil einer Sekunde. Diesen Punkt müssen wir sehen. Manche Entscheidungen darf man eben nicht in einer Sekunde fällen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Röspel, die Übersetzung der Evolutionsgeschichte in ein Entfernungs- und Streckenmodell hat zweifellos den großen Reiz, dass man von der bildhaften Vorstellung ausgehen kann, dass das erstmalige Auftreten des Homo sapiens im Plenum des Deutschen Bundestag stattgefunden hat. ({0}) Ich bin aber nicht ganz so sicher, ob man das unseren Debatten immer anmerkt. ({1}) Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu darf ich offensichtlich Einverständnis feststellen. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 17 und Zusatzpunkt 17 der Tagesordnung auf: 17 Erste Beratung des von den Abgeordneten HansMichael Goldmann, Birgit Homburger, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Modulation von Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes - Drucksache 15/754 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 17 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des GAK-Gesetzes - Drucksache 15/948 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP als Antragstellerin fünf Minuten erhalten soll. Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Hans Goldmann für die antragstellende FDP-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden uns große Mühe geben, dem Rechnung zu tragen, was Sie, Herr Präsident, eben angemahnt haben. Bei dem Thema Modulation wird uns das - darüber sind wir uns sicherlich einig - besonders gut gelingen. Lassen Sie mich eine kurze Vorbemerkung machen. Die Ereignisse in Nordrhein-Westfalen, wo es möglicherweise einen ersten Fall von Geflügelpest gibt - der Verdacht erhärtet sich - und wo bis zu 100 000 Tiere getötet werden sollen - der Kollege von der CDU/CSU wird gleich noch darauf zu sprechen kommen -, zeigen, dass wir in der Agrarpolitik vor sehr ernsten Herausforderungen stehen, denen man keinesfalls national begegnen kann, sondern bei denen es darauf ankommt, die Dinge im Zusammenhang - das heißt: im europäischen Kontext - zu sehen. ({0}) Warum sage ich das hier und heute? Weil uns das Schicksal der Menschen berührt, die davon betroffen sind, und weil durch diese Ereignisse deutlich wird, dass die nationale Modulation so, wie es sich die rot-grüne Regierung - allen voran Frau Künast - denkt, nicht funktioniert. ({1}) Nationale Modulation - man muss es einmal auf den Punkt bringen - ist in einer Zeit, in der die Bauern das Geld brauchen, um die Weichen in Richtung Globalisierung zu stellen, nichts anderes, als den Bauern das ihnen zustehende Geld wegzunehmen und an ihnen vorbei zurückzuverteilen. Es ist im Grunde genommen nichts anderes als Diebstahl bei den Bauern. Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. ({2}) Weil es eine breite Kritik an der nationalen Modulation gibt - ich werde noch darauf zu sprechen kommen -, muss man sich fragen: Warum wird das Instrument der nationalen Modulation so engagiert, aber auch so unqualifiziert von Rot-Grün verteidigt? Ich glaube, dass hat etwas damit zu tun, dass die Erfolge der Agrarpolitik der Grünen nicht zu sehen sind. Ganz im Gegenteil: Ein Misserfolg reiht sich an den anderen. Lassen Sie mich etwas zu einem Thema sagen, dass Sie sehr hoch gezogen haben: zum Biosiegel. Festzustellen ist, dass deutsche Bioverbände durch die europäische Biosiegelregelung in ihrer Existenz massiv gefährdet sind, weil europäische Bioprodukte mit niedrigerem Standard und aufgrund dadurch möglicher günstigerer Preise deutsche Biobauern aus dem Markt in Deutschland verdrängen. Den deutschen Biobauern geht es deshalb so schlecht, weil Sie ein sehr schlechtes Biosiegel auf den Weg gebracht haben. ({3}) Das Fazit ist - auch wenn es wehtut -: Das Biosiegel à la Frau Ministerin Künast geht eindeutig zulasten der heimischen Bioproduzenten. ({4}) - Herr Kollege Heinrich, Sie hatten natürlich Recht; denn Sie sind ein Experte. - Das Problem ist, dass es in diesem Bereich zu einer Verarmung kommt. Die Bioagrarwende war eine dicke Bauchlandung. Eine nächste steht in dem Bereich der nationalen Modulation bevor. Man muss sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen: An vielen Stellen diskutieren wir im Hinblick auf die anstehenden Gespräche auf europäischer Ebene über die so genannten Fischler-Vorschläge, aber auch im Hinblick auf die anstehenden WTO-Gespräche sehr engagiert und qualifiziert über Möglichkeiten, wie deutsche Bauern bzw. die europäische Landwirtschaft mit den geplanten Maßnahmen klarkommen können, und darüber, welche Perspektiven wir in diesem Zusammenhang schaffen können. Sie reagieren mit der nationalen Modulation in einer Situation, in der die Europäische Kommission von der Modulation Abstand nimmt und andere Länder, die die nationale Modulation schon getestet haben, sagen: Das bringt jetzt nichts, weil wir europäische Vorstellungen und Richtlinien brauchen. Wenn wir das national machen, haben wir einen enormen bürokratischen Aufwand. Wir könnten an die Länder, die eigentlich davon profitieren sollten, zum Teil nur Mittel vergeben, die geringer sind als die Kosten, die dort aufgrund des bürokratischen Aufwands entstehen würden. In einer Situation, in der alle die Ausweitung der Bürokratie kritisieren, sollte man sich das einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das heißt, hier wird auf nationaler Ebene ein bürokratischer Moloch auf den Weg gebracht, der erstens Diebstahl an den Bauern ist und zweitens keine positive Auswirkung haben wird. Sie aber halten daran fest, und zwar auch dann - es ist völlig unverständlich -, wenn sich Ihre eigenen Ministerpräsidenten dagegen wenden, zum Beispiel der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, der an den Bundeskanzler - wahrscheinlich in Du-Form - geschrieben hat: Gerd, sorge doch dafür, dass wir aus diesem nationalen Mist herauskommen! Selbst dann sagen Sie: Nein, wir bleiben dabei, weil wir sonst überhaupt nichts mehr in diesem Bereich zu bieten hätten. Es gibt eine Gesetzesinitiative aus dem Bundesrat und vielfältige fachliche Bemühungen, Sie auf einen vernünftigen Kurs zu bringen. Sie aber verschließen sich klugen Argumenten. Wir unternehmen heute einen weiteren Versuch mit einem klugen Gesetzentwurf in Begleitung des Gesetzentwurfes aus dem Bundesrat, Sie zur Vernunft zu bringen. Ich setze nach wie vor darauf, dass die Weiterentwicklung des Homo sapiens, die der Präsident vorhin angemahnt hat, auch bei Ihnen angekommen ist. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen die Sache wieder richtig auf die Füße stellen. Die rot-grüne Agrarpolitik stellt, seit Frau Künast Ministerin ist, den Verbraucherschutz und die Lebensmittelsicherheit in den Vordergrund. Denn das alles sind wichtige Elemente, die zur Agrarpolitik gehören. Wir haben hier große Erfolge zu verzeichnen. ({0}) - Herr Goldmann, ich weiß überhaupt nicht, was für eine Wahrnehmung Sie haben. ({1}) Nun aber zu dem Thema, das Sie auf die Tagesordnung gesetzt haben. Seit mehr als zwei Jahren - das möchten wir an dieser Stelle einmal richtig stellen - beschäftigen wir uns hier im Parlament in bestimmten Abständen immer wieder mit der nationalen Modulation. Auch nach dem Beschluss des Bundestages und der Einigung im Vermittlungsausschuss ist es der Opposition - nun mit neuen Mehrheiten im Bundesrat - wieder einmal wichtig, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Waltraud Wolff ({2}) Nicht mit uns, sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition! ({3}) Das Modulationsgesetz ist seit 1. Januar 2003 in Kraft und wird es auch bleiben. Denn wir schauen nach vorn. Wir blicken nach Europa; wir arbeiten auf eine gemeinsame Agrarpolitik hin. ({4}) Dazu gehört unbestritten natürlich auch die Modulation. Die FDP-Fraktion bringt heute diesen Gesetzentwurf ein. ({5}) Das Papier kann ruck, zuck überflogen werden; die immer wiederkehrenden Schlagworte sind sofort im Blick, etwa: Einführung der nationalen Modulation nur für einen kurzen Zeitraum ist nicht verantwortbar; ({6}) hohe Kosten; ({7}) enormer Verwaltungsaufwand. ({8}) Es kommt aber etwas für mich Neues hinzu. Daher zitiere ich aus dem Vorspann Ihres Entwurfs: Die dadurch verursachte Verschwendung von Steuergeldern ist auch gerade angesichts der derzeitigen Haushaltslage von Bund und Ländern nicht akzeptabel. ({9}) Darauf werde ich nachher noch einmal zurückkommen. ({10}) In diese Beratungen ist auch ein Gesetzentwurf des Bundesrates eingebracht worden, der den gleichen Wortlaut wie der Ihrige aufweist. Am 11. April hat der Bundesrat mit Mehrheit beschlossen, dieses Gesetz dem Bundestag zuzuleiten. Ich sagte soeben: gleicher Wortlaut. Auch hier finden wir dieselben Schlagworte. Sie werden sagen: Es sind ja auch dieselben Probleme. Man könnte allerdings auch auf die Idee kommen, dass Sie, nachdem sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat geändert haben, die im Vermittlungsausschuss erzielten Kompromisse über den Jordan schicken möchten, nur um damit zu zeigen, dass Sie das Unterste nach oben kehren können. Da frage ich mich natürlich: Was ist denn das für eine Politik? ({11}) Wenn ich ganz böse wäre, könnte ich Sie auch als beratungsresistent bezeichnen, ({12}) aber das mache ich ja gar nicht. ({13}) Ich möchte jetzt zu den Argumenten kommen. Sie sprechen von einem zu kurzen Zeitraum für die Modulation auf nationaler Ebene. Ich weiß nicht, wieso Sie diese abgegriffenen Floskeln immer wieder verwenden; denn wir reden ja nicht das erste Mal darüber. Ich gebe Ihnen gerne noch einmal Nachhilfe. Ich glaube, ich erkläre Ihnen das jetzt zum dritten Mal, aber ich mache es gern. Der EU-Vorschlag über die obligatorische Modulation bezog sich auf den Beginn des Jahres 2006. ({14}) Als wir, auch mithilfe der Opposition, den Kompromiss im Vermittlungsausschuss gefunden haben, war klar, dass die nationale Regelung nur so lange gilt, bis in Europa die entsprechende Regelung obligatorisch eingeführt wird. ({15}) Das haben wir damals alle gewusst. Vielleicht war die Opposition nicht so weitsichtig; das mag sein. ({16}) Aber Fakt ist, dass wir alle über diesen Umstand Bescheid gewusst haben. Der nächste Punkt: die zu hohen Kosten und der enorme Verwaltungsaufwand. Erstens ist ein Vorschlag kein Beschluss. Das heißt, ob die EU die Modulation 2006 einführt, ist noch gar nicht klar. ({17}) - Das ist geplant; ein Vorschlag ist kein Beschluss, Herr Goldmann. ({18}) Es handelt sich um den kurzen Zeitraum von 2003 bis 2006. Über ihn kann man sicherlich sagen: Das ist noch in Ordnung. ({19}) Ich bin ja nicht die Frau mit der Glaskugel; im Kaffeesatz kann ich auch nicht lesen. Deswegen sage ich: Wir bleiben bei der Gesetzeslage, die wir beschlossen haben. Gemeinsam, meine Damen und Herren von der Opposition, haben wir im Vermittlungsausschuss, auf Wunsch Waltraud Wolff ({20}) der Länder, ausdrücklich die Kleinbeihilfen für Hopfen, Stärke, Saatgut und Tabak herausgenommen. Auf diese Weise haben wir es ja erreicht, dass der bürokratische Aufwand vertretbar blieb. Haben Sie auch das schon wieder vergessen? ({21}) Ich sage es noch einmal - für Sie als Erinnerung -, dass nur diejenigen Direktzahlungen der Modulation unterliegen, die im Rahmen des integrierten Verwaltungsund Kontrollsystems abgewickelt werden. Auf gut Deutsch heißt das - falls Sie es nicht wissen -, ({22}) dass es für jeden Landwirt nur eine Zahlstelle gibt. Worin besteht denn das Problem? Die 2 Prozent nationale Modulation werden für die Betriebe direkt berechnet und einbehalten; das ist ein Vorgang. Dabei kann man nicht von einem großartigen Aufwand sprechen. Wenden wir unseren Blick einmal woanders hin: Denken wir darüber nach, was seit dem Beschluss im Lande passiert ist. Die Landesministerien, alle Berufsverbände, jeder einzelne Bauer wusste, dass ab Januar 2003 ein Teil der Betriebe 2 Prozent weniger Direktzahlungen aus Brüssel bekommen wird. ({23}) - Darauf kommen wir noch. - Dieses Geld wird zukünftig zur Stärkung der ländlichen Räume hin zu einer noch umweltgerechteren Landbewirtschaftung und für einen besseren Verbraucherschutz verwandt, um nur einige Verwendungszwecke zu nennen. Die Leute saßen zusammen - viele sogar in ihrer Freizeit ({24}) und haben sich Gedanken darüber gemacht, wie sie die neue Ausrichtung der Agrarpolitik mit eigenen Projekten gestalten können. Alle Berufsverbände haben hier große inhaltliche Zuarbeit geleistet. Auch wenn sie die Modulation nicht wollten, akzeptierten sie den Bundestagsbeschluss ({25}) und gingen an die Arbeit. ({26}) Auch in den Landesministerien war man nicht träge. Man schimpfte zwar über die Entscheidung, doch auch dort wollte man nicht unvorbereitet auf den 1. Januar 2003 zugehen. Es ist nicht nur Papier beschrieben worden. Man hat die Vorschläge und Programme ({27}) und die Beschlüsse des Bundestages ernst genommen, sonst hätte es gar nicht so viel Bewegung in den Bundesländern gegeben. ({28}) Jetzt möchte ich gern auf den Anfang meiner Rede zurückkommen. Die FDP-Kollegen schreiben im Gesetzentwurf, dass es sich hier um eine Verschwendung von Steuergeldern handelt. Außerdem heißt es unter „D. Kosten“, dass keine zusätzlichen Kosten entstehen. ({29}) Oberflächlich betrachtet mögen Sie ja Recht haben, aber ich finde das sehr fadenscheinig. Wir würden hier natürlich nur einen Federstrich machen, aber was ist mit der geleisteten Arbeit in den Ländern? Hat sie nichts gekostet? Geht es nicht um Steuergelder? ({30}) Die Länder mussten Programme erarbeiten, möglicherweise auch die EDV umstellen. Kostet das nicht das Geld der Steuerzahler? ({31}) Zusätzlich haben Sie etwas ganz Schlimmes gemacht: Sie haben nämlich mit der Einbringung des Gesetzentwurfs das gesamte ehrenamtliche Engagement der landwirtschaftlichen Berufsverbände, die nicht nur Zeit geopfert, sondern auch viele Ideen eingebracht haben, infrage gestellt. ({32}) Zum Teil - so war es bei mir in Sachsen-Anhalt - sind die Berufsverbände sogar über ihren Schatten gesprungen und haben dem Ministerium einen gemeinsamen Vorschlag vorgelegt. Hat das alles kein Geld gekostet? Zugegeben, dabei handelt es sich nicht um Steuergeld, aber moralisch betrachtet ist Ihr Entwurf ein Tritt gegen das Schienbein all derer, die sich abgemüht haben. ({33}) Das bitte ich Sie noch einmal zu bedenken. Überlegen Sie, was Sie mit diesem Gesetzentwurf anrichten. Ziehen Sie ihn zurück! Lassen Sie uns die Zeit bis 2006 nutzen! Gestalten wir unsere Programme so, dass sie zukunftsfähig sind, den EU-Normen entsprechen und unsere Landwirtschaft weiterentwickeln! Schönen Dank. ({34})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Bernhard Schulte-Drüggelte, CDU/CSU-Fraktion.

Bernhard Schulte-Drüggelte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003629, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hans Goldmann hat gerade erwähnt, dass in Nordrhein-Westfalen ein Verdachtsfall zur Geflügelpest positiv bestätigt wurde. Ich komme aus NordrheinWestfalen und möchte sagen: Das ist ein sehr trauriger Vorfall. Wir müssen jetzt alle Anstrengungen unternehmen, um die Geflügelpest einzugrenzen, damit wir Klarheit erhalten. Staatssekretär Berninger ist anwesend. Er hat heute Vormittag schon einmal darüber informiert, vielleicht nutzt er die Gelegenheit, um den Abgeordneten hier weitere Informationen zukommen zu lassen. ({0}) Ich möchte zum Thema Modulation überleiten. Europa wird weiter zusammenwachsen. Die Verträge zur Osterweiterung sind Realität. Gemeinsam muss eine europäische Politik gestaltet werden. Das gilt auch für eine gemeinsame europäische Agrarpolitik, die den neuen Herausforderungen gerecht wird. „Gemeinsam gestalten“ sind die Worte von Bedeutung. Nationale Sonderwege führen ins Abseits. Die Regierung erhält nun abermals die Chance, das Gesetz zur Modulation von Direktzahlungen rückgängig zu machen. Hier bietet sich die Chance, fehlerhafte Entscheidungen der jüngsten Vergangenheit zu korrigieren. ({1}) Hier besteht die Chance, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Bauern in Europa nicht noch durch einen weiteren nationalen Sonderweg zu verschlechtern. Es drängt sich ohnehin der Eindruck auf, dass die Regierungsfraktionen das Modulationsgesetz im Mai 2002 wider besseres Wissen verabschiedet haben, obwohl die Schwierigkeiten und Nachteile eines deutschen Sonderweges schon damals bekannt waren. Heute stehen nur noch Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zu diesem Gesetz. Im Bundesrat hielt Staatssekretär Dr. Thalheim seine eigenen Argumente für eine Modulation scheinbar selbst für so wenig überzeugend, dass er es für besser hielt, sie gleich zu Protokoll zu geben. Auch die neuerliche Begründung der Ministerin Künast für die Beibehaltung des Modulationsgesetzes nach dem Agrarministertreffen in Schwerin erscheint mir da etwas dünn. Ich zitiere die Ministerin: Wir werden ein erst vor kurzem beschlossenes Gesetz nicht schon wieder aufheben, noch bevor es umgesetzt ist. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierung, noch haben Sie Gelegenheit, die Notbremse zu ziehen. Ich fordere Sie auf: Machen Sie einfach Gebrauch von dieser Technik! ({2}) Ich möchte Ihnen noch einmal die wichtigsten Gründe nennen, die gegen die Einführung der Modulation sprechen. Erstens. Nach den starken Einkommensrückgängen in der Landwirtschaft im letzten Jahr wird die Modulation nun zu weiteren Kürzungen führen. Die Betriebe in den neuen Ländern wird es besonders treffen. Die landwirtschaftlichen Betriebe erhalten Ausgleichszahlungen für politisch begründete Preissenkungen. Sie sind auf diese Direktzahlungen angewiesen. Nur ökonomisch intakte Betriebe können auch eine ökologisch intakte Landschaft erhalten. Nachhaltigkeit beinhaltet eben nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische und soziale Komponenten. Zudem werden die Einschnitte die deutsche Landwirtschaft in einer Zeit schwächen, in der sie eigentlich gestärkt werden müsste: im Vorfeld wesentlicher Entscheidungen bei den WTO-Verhandlungen und angesichts der Vorschläge der EU-Kommission zur Agrarreform. Das wurde bereits deutlich gesagt. In dieser Lage müssten eigentlich die durch rot-grüne Politik verursachten Wettbewerbsnachteile ausgeglichen und nicht noch verschärft werden. ({3}) Es ist wirklich nicht einzusehen, warum die deutsche Landwirtschaft als Testgebiet für rot-grünen ideologischen Firlefanz herhalten muss. ({4}) Zweitens. Die Bundesregierung erreicht mit der Einführung der Modulation auch keine Stärkung des ländlichen Raumes. Der Bundeshaushalt für 2003 dokumentiert eine Kürzung des Etats für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrar- und Küstenschutz“ um mehr als 100 Millionen Euro. Da die nationale Kofinanzierung der Modulation aus diesem Topf bezahlt werden soll, ohne dass eine Plafonderhöhung erfolgt, bedeutet das doch nichts anderes als neue Lasten für die Landwirtschaft. ({5}) Drittens. Eine Agrarstruktur- und Umweltpolitik kann von den Ländern auch ohne Modulation hervorragend betrieben werden. Das zeigen viele unionsgeführte Länder wie beispielsweise Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen. ({6}) Nordrhein-Westfalen, das immer noch die Einführung der Modulation befürwortet, nimmt bei seinen Zahlungen für Agrar- und Umweltmaßnahmen einen der hinteren Plätze ein. Vielleicht sollte in Nordrhein-Westfalen hier erst einmal ein Anfang gemacht werden. Viertens. Bürokratie und Regulierung im Agrarbereich haben überhand genommen. Das Gesetz wird Steuergelder in Millionenhöhe verschlingen. Die Modulation ist bürokratischer Unsinn und liegt nicht im Interesse der wirtschaftenden Betriebe. Fünftens. Zuletzt möchte ich die europapolitische Argumentation der Bundesregierung zurückweisen, die lautet: Mit der Einführung der Modulation setze Deutschland auch ein positives Signal für die erforderliche Reform der gemeinsamen Agrarpolitik. Das nach Meinung der Bundesregierung vermeintlich positive Signal muss da wohl eher als Warnlicht für einen möglichen Irrweg gedeutet werden. Mit der Einführung der nationalen Modulation schlägt die Bundesregierung nämlich einen Weg ein, den andere EU-Länder wie Frankreich und Portugal aufgrund schlechter Erfahrungen gerade erst verlassen haben. In Europa findet derzeit eine Diskussion über die Modulation in den Mitgliedstaaten statt. EU-Kommissar Fischler hat bereits angekündigt, dass die Einführung der obligatorischen Modulation in Europa auf das Jahr 2006 verschoben werden soll. Ich frage mich, ob es in dieser Situation wirklich sinnvoll ist, mit nationalen Alleingängen zu beginnen. Zudem bestätigen die jüngsten EU-Berechnungen alle Befürchtungen: Bei einer Umsetzung einer europäischen Modulation der Direktbeihilfen müssten die deutschen Landwirte zugunsten ihrer Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten mit Einbußen von 200 Millionen Euro rechnen. ({7}) Die Nettozahlerposition Deutschlands in der EU würde sich weiter verschlechtern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Bernhard Schulte-Drüggelte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003629, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das mache ich. - Ich darf zum Schluss sagen - das Plenum ist ja heute eher leerer -, was genau Modulation eigentlich bedeutet. Dazu darf ich einen Kollegen zitieren, der gesagt hat: Wenn man einem Lehrer 10 Prozent seines Gehaltes wegnimmt und der Staat dann die gleiche Summe dazutut, um die maroden Schulen zu sanieren, dann ist das Modulation. - Ich füge hinzu: Wenn Sie Pech haben, werden von der Summe Verwaltungskosten in Höhe von 30 bis 50 Prozent fällig, und nicht eine Schule wird saniert, sondern der Kiosk, der daneben steht. Schönen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schulte-Drüggelte, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Deutschen Bundestages, die Sie nach manchen Anläufen heute halten konnten und nicht, wie Ihre Reden zuvor, zu Protokoll geben mussten, und wünsche Ihnen für die weitere parlamentarische Arbeit alles Gute. ({0}) Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger das Wort. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin eben gebeten worden, etwas zur Situation angesichts der Geflügelpest zu sagen. Die Situation ist in der Tat sehr ernst. Das wurde heute bereits mit den Berichterstattern und den Obleuten im Landwirtschaftsausschuss besprochen. Wir haben vonseiten unseres Hauses versucht, sie umfassend über den aktuellen Stand zu informieren. In einem Hähnchenmastbetrieb in Nordrhein-Westfalen an der Grenze zu Holland ist eine erste Probe positiv auf Geflügelpest getestet worden. Wir sind nun dabei, all die Maßnahmen, die Bund und Länder gemeinsam zur Gefahrenabwehr und gegen die Ausbreitung der Geflügelpest vereinbart haben, in Nordrhein-Westfalen durchzuführen. Es haben heute bereits mehrere intensive Gespräche zwischen Bund und Ländern stattgefunden, Krisenstäbe tagen. Ich werde den Ausschuss und die entsprechenden Mitarbeiter in den nächsten Tagen ausführlich über den Fortschritt unterrichten. Wenn wir Glück haben, bewahrheitet es sich nicht, dass es bei uns Geflügelpest gibt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist doch groß, dass wir Geflügelpest in Deutschland haben. Es ist uns allen klar, dass deswegen auf uns und vor allem auf die Betriebe Ärger und viele Konflikte, die damit verbunden sind, zukommen werden. Wir kennen die Situation in den Niederlanden, wo inzwischen, weil anfangs nicht hart genug gegen die Geflügelpest vorgegangen wurde, 26 Millionen Tiere geschlachtet werden mussten. Wir versuchen alles, um das in Deutschland zu vermeiden. Die Einigkeit zwischen Bund und Ländern in dieser Frage ist in der Agrarpolitik sehr wohltuend. Ich wünschte mir manchmal, es gäbe diese Einigkeit in der Agrarpolitik auch da, wo es darum geht, fehlerhafte Entscheidungen der Vergangenheit zu korrigieren. Das hat auch ein Kollege vorhin schon gesagt. Wir geben in Europa Unsummen für die Agrarpolitik aus, nämlich den halben Budgetansatz der Europäischen Union. Hinzu kommen Gelder in Deutschland. ({1}) Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten falsche Akzente gesetzt. Es ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, die Agrarförderung so umzustellen, dass wir neue Akzente setzen können. Die geplanten Modulationsmaßnahmen sind inzwischen schon sehr konkret. Hier ist sehr abstrakt über die Umverteilung von Mitteln gesprochen worden. Ich frage mich, was dagegen spricht, in intensiv bewirtschafteten Regionen wie Vechta-Cloppenburg landwirtschaftliche Betriebe dabei zu unterstützen, ihren Viehbesatz zu verringern. Das ist in Holland mit großem Erfolg gemacht worden. Das ist auch gut für die Umwelt; denn dann stinkt die Landwirtschaft in den Regionen nicht mehr zum Himmel. Das ist eine der ganz konkreten Maßnahmen. Parl. Staatssekretär Matthias Berninger ({2}) Was spricht, bitte schön, dagegen, - ({3}) - Aha, das ist die Region mit der geringsten Arbeitslosigkeit. - Soll ich Ihnen mal etwas sagen? Wir haben riesige ökologische Probleme in Vechta-Cloppenburg. In dieser Region gibt es einen Viehbesatz, der bis zum Himmel stinkt. ({4}) Ihre Agrarpolitik hat dazu geführt, dass die Tiere aus den neuen Ländern abtransportiert und nach Vechta-Cloppenburg gebracht wurden. Das und die in den neuen Ländern bestehende hohe Arbeitslosigkeit wollen wir korrigieren, weil die Menschen in den ländlichen Gebieten dort Perspektiven brauchen. ({5}) - Lassen wir Herrn Goldmann am Freitagnachmittag noch ein wenig dazwischenreden. Er kann gerne eine Frage stellen. Ich sage Ihnen aber eines: Nachhaltigkeit bedeutet, ökologische - ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Wortmeldung ist immer für den Kollegen erteilt, der aufgerufen wurde. Wenn das Bedürfnis besteht, irgendetwas klarzustellen oder nachzufragen, so gibt es die Möglichkeit, sich zu einer Zwischenfrage zu melden. Man kann das vernünftigerweise nicht durch ständiges Zwischenrufen kompensieren. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Kollege Goldmann, Nachhaltigkeit bedeutet, ({0}) ökologische, soziale und wirtschaftliche Interessen in Deckung zu bringen und nicht so einseitig vorzugehen, wie Sie das hier wieder zum Ausdruck gebracht haben. ({1}) Meine Damen und Herren, was spricht aufgrund der Erfahrungen mit der Oderflut und dem Elbehochwasser, die in den letzten Jahren für alle Beteiligten ein sehr ernstes Thema waren, dagegen, Anbaumethoden, wie zum Beispiel die Mulchsaat, zu fördern, an deren Ende eine Landwirtschaft steht, die dafür sorgt, dass die Absorptionsfähigkeit der landwirtschaftlichen Flächen - zum Beispiel für Regenwasser - deutlich besser sein wird, als das in der Vergangenheit der Fall war, und so dazu beiträgt, Hochwasser in Zukunft zu vermeiden? ({2}) Was spricht, bitte schön, dagegen, landwirtschaftlichen Betrieben, die ihren Wirtschaftsdünger zielgenauer ausbringen wollen, eine Unterstützung zu geben? Das ist übrigens eine Maßnahme, die man gerade in Bayern besonders favorisiert. Ich kann eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen, die die Länder vereinbart haben - auch solche, die zum Beispiel die Biodiversität und die Fruchtfolge landwirtschaftlicher Flächen erhöhen -, nennen. ({3}) Der entscheidende Punkt ist: Durch diese Maßnahmen werden fehlerhafte Entscheidungen einer Agrarpolitik, die Sie über viele Jahre zu verantworten hatten, korrigiert. ({4}) Weil wir schon mal bei den Arbeitsplätzen sind: Durch diese Fehlentscheidungen in der Agrarpolitik sind Betriebe massenhaft vor die Hunde gegangen. Dem ging ein galoppierender Strukturwandel voraus. Wir wollen der Landwirtschaft eine dauerhafte Zukunft sichern. Dazu gehört es eben auch, das Engagement der Bäuerinnen und Bauern für den Natur- und Tierschutz besonders zu fördern. ({5}) Das wird die Modulation mit einem Gesamtvolumen von 80 Millionen Euro natürlich nicht alleine schaffen. Sie ist aber ein ganz wichtiger Baustein, mit dem wir in diese Richtung gehen. Herr Kollege Goldmann, die Debatten auf der europäischen Ebene sind hier ganz eindeutig. Natürlich wird es so gesehen, dass Fischlers Reformvorschläge in der Agrarpolitik durch diese Maßnahmen in Deutschland unterstützt werden. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb wir daran festhalten. Wir glauben, dass diese Reform der Agrarpolitik den ländlichen Räumen am Ende etwas nutzt. Wir halten überhaupt nichts davon, Ihre, um im Bild von vorhin zu bleiben, steinzeitliche Auffassung von Agrarpolitik fortzusetzen. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die Bürgerinnen und Bürger - das zeigen alle Umfragen - wollen eine umweltfreundlicher ausgerichtete Landwirtschaft, Parl. Staatssekretär Matthias Berninger in der besser mit Tieren umgegangen wird, unterstützen. Es ist die Aufgabe der Modulation, das zu belohnen. Wir werden daran festhalten. Zum Schluss will ich noch eines sagen: Bund und Länder haben sich auf die Modulation geeinigt. Dass die Länder ein paar Monate nach ihrer Zustimmung wieder anfangen, populistisch zu diskutieren und das umkehren zu wollen, ist wirklich ein schlechter Stil. ({6}) Das widerspricht ein wenig den guten Sitten. Ich kenne keinen landwirtschaftlichen Betrieb, bei dem ein solches Gebaren an den Tag gelegt wird, wenn man sich einmal die Hand gegeben und eingeschlagen hat. ({7}) Ich kann Ihnen ganz klar sagen: Auch das ist ein Grund, weshalb wir daran festhalten. Wir wissen, wie hart die Widerstände sind. Wir haben ja gemerkt, wie sehr Sie sich selbst am ruhigen Freitagnachmittag aufregen. Auch gegen diese Widerstände werden wir die Reform der Agrarpolitik vorantreiben. Ich danke den Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag ganz ausdrücklich, dass sie uns dabei unterstützen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Berninger, ich habe Sie hin und wieder gelobt, dass Sie sich manchmal vernünftiger verhalten als Ihre Ministerin. Anscheinend verfallen Sie aber immer mehr in die Sprechweise Ihrer Ministerin. Ich möchte zwei Punkte aufgreifen. Erstens. Sie haben genauso wie Ihre Ministerin erklärt, dass 50 Prozent des EU-Haushaltes für die Landwirtschaft verwendet werden. Es ist eine Ungezogenheit, diese Zahl so darzustellen. Sie ist zwar rechnerisch richtig, aber man muss ergänzen, dass nur wenig über den Brüsseler Haushalt abgerechnet wird. Wenn die gesamten Ausgaben für die Verteidigungspolitik und die Sozialpolitik genauso wie große Teile der Agrarpolitik über Brüssel abgerechnet würden, dann betrüge der Anteil für Landwirtschaft vielleicht 2 Prozent, nicht 50 Prozent. Ich kann es auch andersherum sagen: Wenn die Strukturpolitik nicht in Brüssel gemacht würde, dann betrügen die Ausgaben für die Agrarpolitik 100 Prozent. Das muss man den Bürgern einmal sagen und die Zahlen nicht immer verleumderisch darstellen. ({0}) Zweitens. Man kann die Landwirtschaft doch nicht für das Elbehochwasser verantwortlich machen. Das Wasser stammt aus den Bergen in Tschechien. Dort sind viele Wälder, aber keine moderne Landwirtschaft. Hier einen Zusammenhang mit der modernen Landwirtschaft herzustellen halte ich für ziemlich vermessen. ({1}) Zum Thema der Modulation: Wir machen heute einen weiteren Versuch - die FDP hat einen Gesetzentwurf eingebracht, den die Union unterstützt -, zu erreichen, dass dieses unsinnige Modulationsgesetz zurückgenommen wird. Dabei hoffen wir auf die Vernunft der Regierungsfraktionen. Aber inzwischen ist das Wort Vernunft bei dieser Regierungskoalition anscheinend ein Fremdwort geworden. Wir hatten dieses Thema bereits am 20. Dezember des letzten Jahres diskutiert. Damals ist ein entsprechender Antrag abgelehnt worden. Der Bundesrat hat erneut einen Gesetzentwurf eingebracht. Ich möchte die SPD und die Grünen bitten, dass sie diesem Anliegen Rechnung tragen. Bis auf zwei Bundesländer sind alle Bundesländer für die Abschaffung der Modulation. Diese beiden Bundesländer sind mit Nordrhein-Westfalen und SchleswigHolstein genau diejenigen, die im Agrar- und Umweltbereich das wenigste Geld ausgeben. Anscheinend erhoffen sich diese Bundesländer, über die Modulation das Geld zu bekommen, das in ihrem eigenen Landeshaushalt zur Verfügung zu stellen sie nicht bereit sind. ({2}) Ich habe diese Zahlen hier am Rednerpult schon öfter genannt. Baden-Württemberg, das von der Union und der FDP regiert wird, sowie die drei unionsregierten Länder Bayern, Sachsen und Thüringen geben für Umwelt- und Tierschutzmaßnahmen im Agrarbereich zwischen 54 und 104 Euro pro Hektar aus. In NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein sind es nur 1 bis 11 Euro pro Hektar. Das zeigt doch, wie weit hier Reden und Handeln auseinander klaffen. Wenn ihr euch ein Beispiel an Baden-Württemberg und den anderen unionsregierten Ländern nehmt, dann brauchen wir das Modulationsgesetz nicht. ({3}) Auch dort, wo die FDP zusammen mit der SPD regiert, sieht es besser als dort aus, wo Rot-Grün regiert. Es ist schon interessant, sich einmal die parteipolitischen Konstellationen anzuschauen. Ich bin der Meinung: Dieses Gesetz muss auch deshalb zurückgenommen werden, weil sich die Landwirtschaft in einer äußerst schwierigen Einkommenslage befindet. Der Agrarbericht dieser Bundesregierung hat ausgewiesen, dass die deutsche Landwirtschaft im Wirtschaftsjahr 2001/2002 ein Einkommensminus von fast 7 Prozent zu verkraften hatte. Für das laufende Wirtschaftsjahr hat diese Bundesregierung angekündigt, dass mit einem Einkommensminus von 15 bis 20 Prozent zu rechnen ist. Einen großen Teil dieser Einkommensschwierigkeiten hat nicht Brüssel, sondern diese rotgrüne Bundesregierung zu verantworten. ({4}) Lieber Matthias Weisheit, mir wurde einmal ein Papier der SPD-Arbeitsgruppe Landwirtschaft von vor über zwei Jahren zugespielt. Bezogen auf das Jahr 2004 wurde in diesem Papier festgestellt, dass die Maßnahmen, die diese Bundesregierung plant, für die deutsche Landwirtschaft eine finanzielle Benachteiligung von damals 3 Milliarden DM, also 1,5 Milliarden Euro, bedeuten. Schon im heurigen Jahr wird die deutsche Landwirtschaft diese Benachteiligung in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zu spüren bekommen. Prozentual gesehen ist dies genau die Zahl, die die Bundesregierung im Voraus berechnet hatte. Die Bundesregierung rechnet, wie gesagt, für dieses Jahr mit einem Einkommensminus von 15 bis 20 Prozent. Eine Benachteiligung von 1,5 Milliarden Euro durch die rot-grüne Bundesregierung bedeutet bei etwa 7,5 Milliarden Euro Nettowertschöpfung der deutschen Landwirtschaft einen Einkommensverlust von genau 20 Prozent. Ich bin dafür, dass Rot-Grün noch einmal intensiv darüber nachdenkt, ob man nicht bereit sein sollte, zusammen mit der großen Mehrheit der Bundesländer eine vernünftige Regelung zu finden. ({5}) Unsere Bauern brauchen Luft zum Atmen und haben genug von den rot-grünen Alleingängen der deutschen Bundesregierung. Die größte Benachteiligung der deutschen Bauern ist doch, dass sie hier in Deutschland wirtschaften. Sie sind wesentlich größeren Nachteilen ausgesetzt, als wenn sie ihre Betriebe in anderen Ländern Europas hätten. Es gäbe noch weitere Gründe, mit denen man darauf hinweisen könnte, dass die Modulation abgeschafft werden soll; der Verwaltungaufwand ist heute schon angesprochen worden. Was bedeutet denn „Modulation“? Modulation ist in der Musik das Wechseln von Dur in Moll und umgekehrt. Für die deutsche Landwirtschaft, die wegen der von Rot-Grün verursachten Wirtschaftsund Einkommensmisere ohnehin in Moll gestimmt ist, bringt das Modulationsgesetz als rücksichtsloses Abkassiermodell den letzten Missklang. Dieser Missklang sollte abgeschafft werden. ({6}) Sie arbeiten anscheinend nach dem Prinzip: Entspricht die Wirklichkeit nicht der Ideologie - umso schlimmer für die Wirklichkeit! Wir folgen einer anderen Verhaltensregel: Eine Wahrheit erklärt man einem Erwachsenen einmal, einem Kind zweimal, einem Esel dreimal. Wir haben es jetzt zweimal erklärt und hoffen, es nicht ein drittes Mal erklären zu müssen. Schaffen Sie es ab! ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/754 federführend an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu überweisen. Zusätzlich soll der Gesetzentwurf zur Mitberatung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/948, Zusatzpunkt 17, soll in gleicher Weise überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. ({0}) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. Mai 2003, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende. ({1}) Die Sitzung ist geschlossen.